Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 1- fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1996
({0})
- Drucksache 13/2000 -
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 1995 bis 1999
- Drucksache 13/2001 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige Aussprache insgesamt 8,5 Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zunächst zu den Geschäftsbereichen des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und der Bundesministerien der Verteidigung sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das sind die Einzelpläne 04, 05, 14, 35 und 23.
Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer den Zustand unseres Landes beschreiben will, wird auf Widersprüchlichkeiten stoßen.
({0})
Wir leben in einer gefestigten Demokratie; aber die Erosion ihrer sozialen Grundlagen schreitet fort.
({1})
Gemeinsam verurteilen wir eine der Folgen dieser Entwicklung: Gleichgültig, ob rechtsradikal oder terroristisch motiviert, der Brand in Lübeck ist ein erneutes Zeichen dafür, daß wir uns entschlossen gegen Deutschland als Tummelplatz für terroristische Gewalt und für Rechtsradikalismus engagieren müssen.
({2})
Dennoch ist unser Land im Innern weitgehend friedlich. Das Einvernehmen mit unseren Nachbarn ist groß. Hunger, Umweltzerstörung und Kriege, auf deren Ende wir jedenfalls in Europa nach 1989 hofften, kennzeichnen zugleich ungelöste Probleme in unserer Nachbarschaft und global. In diesem Zusammenhang sind die Wiederaufnahme der Atomwaffentests durch Frankreich und die Fortsetzung der Atomwaffentests durch China substantiell eine Gefahr für Mensch und Umwelt und politisch ein fatales Signal, das wir gemeinsam zurückweisen sollten.
({3})
Wir haben den anderen Fraktionen des Hauses angeboten, sich in dieser Woche in einer gemeinsamen Entschließung zu äußern. Ich rufe das ganze Haus auf, gerade im Interesse einer klaren Politik, gerade im Interesse der deutsch-französischen Freundschaft auch dem französischen Präsidenten zu sagen und damit den öffentlichen Protest zu unterstützen: Wir wollen diese Testserie nicht; brecht sie sofort ab!
({4})
In Bosnien hatten die Grausamkeiten des Krieges, des Terrors gegen die Menschen eine neue Dimension erreicht. Die Antwort der internationalen Staatengemeinschaft ist klar, eindeutig und richtig. Das darf nicht den Blick dafür verstellen, daß wir in diesem schmerzhaften und belastenden Prozeß gemeinRudolf Scharping
sam mit anderen nach politischen Lösungen suchen müssen; denn es bleibt wahr: Eine dauerhafte Lösung wird nur auf friedlichem Wege und nur politisch erreicht werden können.
({5})
Zu den Widersprüchlichkeiten gehört: Wir haben, noch jedenfalls, eine leistungsfähige Wirtschaft. Aber Innovation und umweltbewußte Erneuerung kommen zu kurz. Der soziale Friede ist brüchiger geworden, aber die Bundesregierung sucht nicht nach Wegen, den sozialen Frieden zu festigen - im Gegenteil, sie schädigt fortwährend seine Grundlagen.
({6})
Die ungleiche, ungerechte Teilhabe an den Möglichkeiten unseres Landes nimmt zu. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Jugendliche und Ältere - die Arbeitnehmer vor allem, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren haben - spüren das zuallererst.
Und: Wir haben eine reiche Kultur. Bildung als persönliches Recht und in Verbindung mit Wissenschaft und Forschung als d i e Investition in die Zukunft unseres Landes genießt aber nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit.
({7})
Der Wettbewerb um Arbeitsplätze und Standorte ist international geworden, die Arbeitslosigkeit ebenso. Wer angesichts dieser Entwicklung lediglich die Antwort gibt, man solle auf einem primitiven Wege soziale Schranken und Rechte einreißen, Kosten senken und Menschen entlassen, der gibt die falsche, nach rückwärts gewandte Antwort, der hat kein Konzept mehr für die Zukunft.
({8})
So vielfältig, reich, aber auch zwiespältig und widersprüchlich der Zustand unseres Landes ist, so eindeutig ist der Zustand der Bundesregierung und ihrer Politik: Stillstand im allgemeinen, Vorantreiben der sozialen Erosion im besonderen und Ignoranz gegenüber den Herausforderungen der Zukunft.
({9})
Es ist wahr, Herr Bundeskanzler: Sie haben zur Zeit Grund zum Lächeln.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
Gott sei Dank! - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P]: Das macht er auch!)
Es ist leider auch wahr: Einige wenige von uns haben Ihnen einen außerordentlich bequemen Sommer verschafft.
({0})
Freilich - ich weiß, das wird ja kommen, und es kam ja auch schon -: Gönnerhafte Ratschläge in der Attitüde des Besorgten,
({1})
wahrscheinlich geboren aus der Erinnerung, das würde bei mir dieselbe Wirkung haben wie die Bleichlautenden Ratschläge von Helmut Schmidt an Sie,
({2})
werden uns nicht weiterhelfen, und sie werden vor allen Dingen eines nicht verdecken, nämlich daß diese Bundesregierung die falschen Prioritäten setzt.
({3})
- Mit Ihrem Lachen bestätigen Sie: Es ist ja durchaus nicht als Hilfe gemeint. Wie wollte man das auch erwarten?
Viel wichtiger scheint mir zu sein, daß eine Debatte in Deutschland, wenn sie politisch fruchtbar sein soll, sich auf den Zustand der Politik, auf die Erwartung der Menschen, auf ihre Hoffnungen angesichts schwerer sozialer Bedrängnisse konzentrieren sollte, statt sich in vordergründigen Personalkleinigkeiten zu erschöpfen,
({4})
und das alles in einer Situation, in der ja ohnehin viel zu viele fragen, ob die Bundesregierung oder das Parlament überhaupt noch gestalten kann, was gestaltet werden soll. Und so ganz von der Hand zu weisen ist diese Frage ja nicht.
Die Versenkung der Ölplattform „Brent Spar" ist ja nicht durch kluges politisches Handeln, durch entschlossenes Eingreifen der Regierungen verhindert worden, sondern durch die Entfaltung von Verbrauchermacht durch die vielen verantwortungsbewußten Bürgerinnen und Bürger.
({5})
Die umweltbewußte Erneuerung unseres Landes folgt ja nicht der klugen Zielsetzung der Regierung, sondern ist häufig nichts anderes als das Ergebnis von großem Druck innerhalb der Bevölkerung. Auch insofern ist z. B. die Entscheidung über die Ozongesetzgebung eher eine Niederlage als ein politischer Fortschritt.
({6})
Die Bekämpfung rechtsradikaler Gewalttaten ist politisch entschlossen erst dadurch zustande gekommen, daß viele hunderttausend Bürgerinnen und Bürger in diesem Land sich engagiert haben, bei Lichterketten, in praktischer Solidarität mit den MenRudolf Scharping
schen. Vieles andere, was an Fortschritt in Deutschland durchgesetzt wird, ist nur wegen des konsequenten zivilen Engagements vieler Bürgerinnen und Bürger durchsetzbar.
({7})
Deshalb scheint es mir fruchtbarer zu sein, über die Erwartungen zu reden, die in diesem Engagement stecken, und über die Antworten, die die Bundesregierung verweigert - Antworten auf fünf zentrale Fragen unseres Landes.
({8})
Erstens. Können wir überhaupt noch den Lebensstandort Deutschland mit einer kräftigen Wirtschaft und der Fähigkeit, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sichern? Das ist und bleibt die Priorität Nummer eins sozialdemokratischer Politik.
({9})
Zweitens. Haben wir angesichts des globalisierten Wettbewerbs noch die Chance, wirtschaftliche Kraft so einzusetzen, daß den Schwächeren solidarisch geholfen wird, oder müssen wir unter den Bedingungen des internationalen Wettbewerbs tatsächlich jedes soziale Recht und jede soziale Schranke gefährden?
Drittens. Haben wir noch die Chance, umweltbewußt unser gesamtes Leben, nicht nur unser Wirtschaften, zu gestalten und damit Vorsorge für die Zukunft zu treffen?
Viertens: Welche Möglichkeiten bietet der Staat für Mitbestimmung, Partizipation, für die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die alltäglich beweisen, daß sie an den Belangen des Gemeinwesens stärker interessiert sind, als die modische Rede von der Politikverdrossenheit nahelegt?
({10})
Und nicht zuletzt: Welche Chancen haben wir, sozialen Frieden im Inneren mit Engagement für den Frieden insgesamt zu verbinden?
Eine Politik, die solche Fragen aufgreift, Entwicklungen ermöglicht, Engagement fördert, wäre zukunftsträchtig. Herr Bundeskanzler, Ihre Politik ist nicht mehr zukunftsträchtig, sie ist nach hinten gewandt.
({11})
Wir wissen alle: In diesem Land leben viele Menschen noch sicher mit einer enormen beruflichen Leistung, mit gesicherten Einkommen. Aber angesichts dieser durchaus begrüßenswerten Situation zu vergessen, daß es viele andere gibt, die zunehmend stärker von der gleichberechtigten Teilhabe an dieser Entwicklung ausgeschlossen werden, angesichts dieses Zustandes sogar zu sagen, das sei keine neue Nachricht mehr, das halte ich für einen sozialen Zynismus, den kein verantwortungsbewußter Mensch vertreten kann.
({12})
Die Zahlen sind hier oft genannt worden. Es geht aber nicht um die Zahlen, sondern um die Schicksale von Menschen, die damit verbunden sind. Wie soll eine Wirtschaftspolitik glaubwürdig vermittelt werden, wenn sie keine Antwort mehr darauf geben will, daß 3,7 Millionen Menschen keine Arbeit haben? Welche Perspektive ergibt sich aus den Entscheidungen der Bundesregierung bei der Arbeitslosenhilfe und bei vielen anderen Maßnahmen für die Menschen, die 51, 52 Jahre alt sind und ihren Arbeitsplatz nicht aus persönlichen Gründen verlassen müssen, sondern weil ihr Betrieb oder Teile davon geschlossen werden?
Wer so kaltherzig mit Menschen umgeht, darf sich nicht wundern, wenn daraus Enttäuschung, Resignation, irgendwann Protest und Zorn entstehen.
({13})
Wer hinter den Zahlen noch die Menschen sieht, der wird sich über die Unverfrorenheit wundern, mit der die Koalition und einige ihrer Vertreter sich im Sommer dieses Themas zugewendet haben. Da ist von der Aufweichung des Kündigungsschutzes, von der Kürzung der Lohnfortzahlung, von der Reduzierung sozialer Hilfe, von der alleinigen Belastung der Arbeitnehmer mit den steigenden Kosten in der Krankenversicherung geredet worden. Es ist davon gesprochen worden, die Tarifautonomie, also das Grundgesetz, sei nicht mehr zeitgemäß. Manche haben nach dem Samstag als einem normalen Werktag gerufen.
Ich weiß wohl, diese Regierung, diese Koalition versucht, den Eindruck zu erwecken: Alles, was bei uns debattiert wird, ist zweitrangig; wichtig wird es erst dann, wenn sich der Bundeskanzler damit beschäftigt.
Also fordere ich Sie auf, Herr Kohl, hier in diesem Hause einmal zu sagen - und zwar etwas schneller als beim Schürmann-Bau; da hat es 600 Tage gedauert -:
({14})
Soll das wirklich so weitergehen? Sind Sie dafür, daß der Kündigungsschutz aufgeweicht wird? Sind Sie dafür, daß die Lohnfortzahlung gekürzt wird? Sind Sie für die Reduzierung sozialer Leistungen? Halten Sie die Tarifautonomie nicht mehr für zeitgemäß? Wollen Sie, daß die Arbeitnehmer den Samstag wieder als Werktag erfahren?
Wenn Sie sich den Schuh schnüren, daß nur entscheidend ist, was der Kanzler in dieser Koalition sagt und entscheidet, dann müssen Sie auch Rede
und Antwort dazu stehen, was Sie zu diesen Vorschlägen des sozialen Abbaus sagen.
({15})
Es ist gut und richtig, wenn Sie sich für die europäische Integration engagieren; das respektieren und anerkennen wir. Es ist gut und richtig, wenn Sie sich für den Nahen Osten engagieren und dort eine kluge Politik betreiben. Es ist gut und richtig, wenn Sie den Versuch machen, das deutsch-französische Verhältnis zu verbessern - obwohl nach unserer Auffassung der Versuch nicht sonderlich gut gelingt. Noch besser wäre es, eine transatlantische Agenda zu formulieren.
Aber, Herr Bundeskanzler, nur auf die Position im Ausland - so wichtig sie sein mag - zu setzen, das reicht angesichts der enormen Schwierigkeiten unseres Landes nicht mehr aus. Hier sind Hausaufgaben zu machen.
({16})
Wenn uns gesagt wird, das alles sei notwendig, um die wirtschaftlichen Grundlagen zu befestigen, dann antworten wir Ihnen: Sie bekämpfen nicht mehr die Arbeitslosigkeit, Sie mißbrauchen sie als Rammbock gegen den sozialen Frieden.
({17})
Was haben Sie uns denn alles versprochen: Wenn nur anständig dereguliert werde, dann ginge es schon voran. Die Beispiele dafür sind Legion: Im Mietenrecht müsse man nur zur anständigen Deregulierung kommen;. dann wären mehr Wohnungen zu preiswerten Mieten da. Das Gegenteil ist eingetreten: Wir haben weit über zwei Millionen Wohnungssuchende in Deutschland. In Ballungsräumen ist es für einen Normalverdiener kaum mehr möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden.
({18}) Gleichzeitig kürzen Sie das Wohngeld.
Sie haben uns gesagt: Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt, private Arbeitsvermittlung. Während des Sommers ist ein Bericht dazu gekommen. Was ist denn daraus geworden?
({19}) Nicht einmal Peanuts sind dabei entstanden.
Ihre Deregulierungspolitik zu Lasten der sozialen Sicherheit und zu Lasten des sozialen Friedens hat die Spirale nach unten immer stärker in Gang gesetzt. Sie hat nicht den gemeinsamen Vorteil, die gemeinsame Entwicklung, den gemeinsamen Wohlstand und die gleichberechtigte Teilhabe gefördert, sondern die soziale Erosion und die Spaltung von Lebensmöglichkeiten vorangebracht.
({20})
Früher wurde das einmal andersherum gesagt. Heute muß man den Eindruck haben: Sie wollen die Lebensrisiken der Menschen vollständig privatisieren und die unternehmerischen Risiken immer stärker sozialisieren. Soll das wirklich so weitergehen?
({21})
Wir halten dagegen: Der soziale Friede ist kein bürokratisches Kunstprodukt. Er ist ein stabiler Anker unserer Gesellschaft und ein unverzichtbarer Faktor für wirtschaftlichen Erfolg.
({22})
Ludwig Erhard wußte das, Konrad Adenauer akzeptierte es, Helmut Kohl ignoriert es.
({23})
Herr Rexrodt kann es nicht ignorieren; er hat es nie gewußt.
({24})
Ludwig Erhard schrieb: Maßstab und Richter über Gut und Böse der Wirtschaftspolitik sind nicht Dogmen oder Gruppenstandpunkte; es ist ausschließlich der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.
Wo ist der Segen, wo ist der Nutzen bei gekürzter Lohnfortzahlung? Wo ist der Segen bei der Aufweichung des Kündigungsschutzes, wo der Nutzen bei der Verabschiedung von der Tarifautonomie? Sie haben sich schon lange von der Sozialen Marktwirtschaft, von den Ideen Ludwig Erhards, verabschiedet. Ihre Praxis ist genau entgegengesetzt.
({25})
Täuschen Sie sich nicht: Wenn Ruhe herrscht, dann hat das nichts mit Frieden, sondern eher viel mit Resignation zu tun.
({26})
Es hat viel mit dem Gefühl der Menschen zu tun, daß es bei den Regierenden gar nicht mehr ankommt, daß sie überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen, wie die Wirklichkeit in Deutschland aussieht.
Das hat durchaus seine praktischen Seiten. Wenn in diesem Jahr die Renten um kümmerliche 0,61 % steigen, dann ist das auch die Frucht einer Politik, die die Arbeitslosigkeit nicht mehr bekämpft und die Einkommen der Arbeitnehmer immer stärker mit Steuern und Abgaben belastet hat.
({27})
Wenn die Steuern immer noch und trotz des Jahressteuergesetzes 1996 steigen, dann muß man sich einmal Ihre Debatte über den Solidaritätszuschlag anschauen. Ich schicke eines voraus: Der Transfer in den Osten Deutschlands ist und bleibt auf absehbare Zeit notwendig.
({28})
In den letzten fünf Jahren wurden rund 1 000 Milliarden DM in den Osten Deutschlands transferiert, davon 750 Milliarden DM im Sinne eines sozialen Transfers und nur 250 Milliarden DM für Investitionen bei Unternehmen oder in die Infrastruktur.
({29})
Eine ordnungspolitisch saubere Entscheidung hätte bedeutet, die Investitionen verantwortbar durch Kredite zu finanzieren und damit eine Zukunftsaufgabe zu lösen, den sozialen Transfer jedoch nicht durch Schulden und schon gar nicht durch eine einseitige Belastung der Sozialversicherung zu finanzieren.
({30})
Da hat Ihnen aber der Mut gefehlt. Wir reden ja nicht nur über einen Haushalt für das Jahr 1996, sondern über Fragen einer langfristig angelegten Politik.
Herr Bundeskanzler, wie erklären Sie uns denn die Debatte in Ihrer Koalition über den Solidaritätszuschlag, bei der die einen von 1997 reden, die anderen von 1998, die nächsten meinen: Das geht gar nicht! und der Rest sagt: Vielleicht in zehn Jahren!, während Sie selbst im Deutschen Bundestag eine mittelfristige Finanzplanung vorlegen, in der in bezug auf dieses Thema bis 1999 kein einziges Wort, geschweige denn eine Zahl steht?
({31})
Also erwarten wir von Ihnen hier eine klare Äußerung zu diesem Thema, denn es kann nicht sein, daß jede Gruppe in dieser Koalition vermeintlich die eine oder andere Klientel bedient, der Bundeskanzler sich selbstgefällig zurücklehnt, freundlich lächelt und sagt: Na wartet, irgendwann sage ich euch schon, was gilt. Hier und heute wollen wir wissen, was im Zusammenhang mit dem Solidaritätszuschlag gilt.
({32})
Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf die Antwort zu einer anderen Frage. Es ist wahr: Der Sozialstaat kann auf Dauer nur behauptet werden, wenn er modernisiert wird. Er kann noch besser behauptet werden, wenn das gemeinsam in Europa geschieht. Sind Sie denn bereit, die notwendige Modernisierung voranzubringen, wenigstens dem zu folgen, was auch innerhalb Ihrer Koalition diskutiert wird?
Manches wird ja nicht dadurch zur Nachricht, daß der eine oder andere etwas sagt, sondern dadurch, daß es in seinem „Laden" als etwas scheinbar Neues gilt oder gegen jemand anders gerichtet ist.
Da schreibt der Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm am 31. August 1995 an die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im übrigen sei zu beachten, daß eine auf die Rückführung der Staatsquote gerichtete Politik gefährdet ist, wenn die sozialen Sicherungssysteme zielwidrig genutzt werden. Und etwas später: Gleichermaßen von Wirtschaft und öffentlicher Hand sind intelligentere personalpolitische Strategien gefordert, die nicht die Verschrottung von Humankapital bei Privatisierung, Beförderungsstau, Unternehmenszusammenschlüssen und Rationalisierungsvorhaben als alleinige Lösung vorsehen.
Eine so klare Bestätigung langjährig formulierter sozialdemokratischer Politik habe ich aus den Reihen der Regierung noch selten gehört. Nur: Was tun Sie denn, um diesen Weg zu ändern?
({33})
Ganz am Ende seines Briefes schreibt Norbert Blüm:
Anders sind dagegen die Effekte strukturell sich ändernder Abgabenbelastungen auf Unternehmen und Arbeitnehmer zu bewerten. Dies gilt um so mehr, wenn gesamtgesellschaftliche Aufgaben über Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Dadurch steigen für die Unternehmen die Arbeitskosten. Zunehmend werden die sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer zum Teil unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit belastet.
Wann zieht die Bundesregierung, wann ziehen Sie, Herr Bundeskanzler, endlich den dringend notwendigen Schluß, den wir seit langem vorschlagen? Er lautet: Entlastet endlich die Arbeit von Kosten, die dort nicht hingehören, und beteiligt alle an der gemeinsamen Aufgabe, nicht nur die Arbeitnehmer und die Arbeitsplätze!
({34})
Es ist doch, Herr Bundeskanzler, nicht der Sozialstaat zu teuer. Diesem Land kommt Ihre Unfähigkeit zu teuer, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen.
({35})
Bei aller Notwendigkeit der Modernisierung sozialstaatlicher Strukturen fehlt einem Land, das jeden Tag über 380 Millionen DM aufwendet, um Arbeitslosigkeit zu finanzieren, nicht das Geld; ihm fehlt es auch nicht an Arbeit. Dieser Bundesregierung fehlt es an Mut, Kreativität und Phantasie, das Krebsübel anzugehen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der
Bundeskanzler, der sich nur selbstgefällig und lächelnd zurücklehnt, versäumt seine wichtigste innenpolitische, gesellschaftspolitische Aufgabe, wenn er dazu nicht einen klaren Kurs vorgibt.
({36})
Jawohl, wir reden über lange Linien der Politik, nicht nur über den Haushalt 1996. Ich erinnere Sie, Herr Bundeskanzler, an Ihren eigenen Anspruch, 1982 formuliert, der auf die Gegenwart angewendet bedeutet: Sie sind der Kanzler der 3,5 Millionen Arbeitslosen. Sie sind der Kanzler der 1 Million Kinder, die mit Sozialhilfe großwerden müssen.
({37})
Sie sind der Kanzler der Obdachlosigkeit und vieler anderer Mißstände.
({38})
Wenn Ihr eigener Maßstab gilt, dann wenden Sie ihn nicht nur gegen die Sozialdemokratie!
Die Bundesregierung kommt schon wieder zu spät. Herr Blüm schlägt jetzt vor, das Arbeitsförderungsgesetz zu novellieren. Da ist das Stichwort vom sogenannten Marktwert von Arbeitnehmern in die Debatte gekommen. Ich muß Ihnen sagen: Eine kaltherzigere Formulierung habe ich noch selten gehört.
({39})
Ich will gar nicht nach dem Marktwert der Regierung fragen. Die Umfragewerte, der Schein, sind zur Zeit wesentlich besser als die Substanz.
({40})
- Verehrter Kollege Hörster, Sie wissen doch, daß ich mit solchen Fragen gänzlich unbefangen umgehe.
({41})
Ich weiß schon, daß einige in der SPD Ihren Umfragewert deutlich gesteigert und den unseren deutlich gesenkt haben. Das ändert an den substantiellen Unterschieden zwischen Ihrer und unserer Politik nichts und auch nichts daran, daß sich die Umfragewerte wieder den Marktwerten anpassen werden.
({42})
Wir wären ja durchaus bereit, mit Herrn Blüm beispielsweise über die Frage zu reden, wie denn eine moderne Arbeitsmarktpolitik aussehen könnte. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat ihre Vorschläge auf den Tisch gelegt. Das waren im Januar der Vorschlag für eine breit angelegte Anstrengung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und vor wenigen Wochen der Entwurf eines neuen Arbeitsförderungsgesetzes. Die Regierung verharrt und schaut. Sie wartet ab, wie die Vorschläge der Opposition aussehen könnten und ob sie sich darüber zu streiten beginnt, um dann einen Teil dieser Vorschläge zu übernehmen und sich dafür als erfolgreich feiern zu lassen.
So war das mit dem Jahressteuergesetz.
({43})
Noch im Frühjahr 1995 hat die Regierung jede Erhöhung des Kindergeldes abgelehnt. Es wird jetzt deutlich erhöht. Damit ist ja nicht nur eine Zahl verbunden, sondern auch die Durchsetzung einer Logik, die wir für die gesamte Modernisierung des Sozialstaates durchsetzen wollen: Die Besteuerung richtet sich nach der Leistungsfähigkeit. Die soziale Leistung der Allgemeinheit für jeden einzelnen Bürger wird frei von Vorteilen aus der Steuerprogression; sie ist unabhängig vom Einkommen; sie wird zielgenau und effektiv eingesetzt. Beim Kindergeld haben wir das für 95 % der Bevölkerung durchgesetzt.
Beim Wohnungsbau übernimmt die Bundesregierung nach jahrelanger Debatte die Vorschläge der Sozialdemokratie, nachdem sie vorher beschimpft, verteufelt und als unsachgemäß abqualifiziert worden sind.
({44})
Plötzlich soll es eine einheitliche, progressionsunabhängige Förderung geben. Herr Bundeskanzler, man kann Sie und Ihre Regierung durchaus zu dieser Einsicht beglückwünschen. Ärgerlich bleibt, daß die zukunftsgewandten Einsichten bei Ihnen durch einen jahrelangen Prozeß gemangelt werden müssen und deswegen vieles nicht rechtzeitig und nicht zielbewußt geschieht, sondern zögerlich und verspätet.
({45})
Ich bin übrigens ganz sicher: Der Kollege Rüttgers wird noch häufiger darüber nachdenken, ob es nicht klug wäre, den Vorschlag der Sozialdemokratie zu übernehmen, die Ausbildungsförderung unabhängig vom Einkommen und direkt an jene zu geben, die in ihrer Ausbildung gefördert werden.
({46})
Bei diesem Thema will ich etwas zu den Jüngeren in Deutschland sagen. Sie hatten versprochen, jeder werde einen Ausbildungsplatz bekommen. Sie haben sich mit der Wirtschaft zusammengesetzt und eine Trendumkehr verkündet. Dann haben Sie wirklich im allerletzten Moment, am 1. September, für den Osten Deutschlands ein Notprogramm, ein dringend notwendiges Programm, verkündet. Tatsache ist jedoch, daß eine unverantwortlich große Zahl junger Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz bleibt und daß sich dieses Spiel Jahr für Jahr wiederholt. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, nicht endlich bereit sind, von den schönen Runden der Erörterung mit irgendwelchen wichtigen - das will ich nicht bestreiten - Verbandsfunktionären der deutschen Wirtschaft zur Tat zu schreiten, nicht jedes Jahr dieses Theater zu wiederholen, dann werden junge Menschen enttäuscht und frustriert
bleiben. Wie soll ein junger Mensch dieses Gemeinwesen als den Ort für soziale Sicherheit, der Entfaltung seiner eigenen Leistung, seiner persönlichen Fähigkeiten wahrnehmen, wenn wir zigtausenden Jugendlichen am Ende ihres Schülerdaseins signalisieren: Jetzt müßt ihr 100 Bewerbungen schreiben, und dann habt ihr immer noch keine Gewißheit, daß ihr Ausbildung und Sicherheit für die Zukunft erhaltet? Das ist ein unwürdiges, die Jugend belastendes Spiel.
({47})
Was große Industrieunternehmen tun - nicht alle, beispielsweise nicht die der chemischen Industrie, wo das übrigens tarifvertraglich gesichert worden ist -, mag einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung standhalten, den langfristigen, gemeinsamen Nutzen, den gemeinsamen Fortschritt, den gemeinsamen Wohlstand aus gemeinsam erarbeiteter wirtschaftlicher Kraft hat es nicht im Auge. Wer in dieser Situation das humanitäre Engagement von Jugendlichen übersieht, einen Keil treibt zwischen Wehrpflichtigen, die einen Dienst für die Allgemeinheit tun, und Zivildienstleistenden, die auch einen Dienst für die Allgemeinheit tun, der begeht einen groben Fehler. Das sind keine Egoisten, sondern Menschen, die helfen wollen.
({48})
Also schlagen wir Ihnen vor: ein neues Arbeitsförderungsgesetz, das die Verantwortung der Tarifpartner steigert, Gemeinden und andere mit einbezieht; eine Reform der Sozialhilfe, die die Nachrangigkeit der Sozialhilfe betont und klarmacht, daß sich ein Leben aus Arbeitseinkommen auch finanziell mehr lohnt als das Leben aus einem sozialen Transfer;
({49})
eine Änderung der Ausbildungsförderung, die progressionsabhängige Tatbestände beseitigt und jedem Auszubildenden einen gleichen Förderbetrag zur Verfügung stellt, das andere Notwendige als Darlehen obendrauf.
Also schlagen wir Ihnen vor, für die Zukunft zu beachten, das, was uns im Jahressteuergesetz - uns in der SPD ja übrigens auch - Schwierigkeiten gemacht hat, nämlich das Bund-Länder-Verhältnis, nicht überzustrapazieren und aufzuhören mit einer Politik, die den Ärger und den Frust über den März 1993, den Solidarpakt und das Föderale Konsolidierungskonzept,
({50})
jetzt in immer neuen Volten abzureagieren versucht
zu Lasten der finanziellen Kraft der Länder und Gemeinden. Im übrigen: Verlangen Sie nicht immer Beweglichkeit von den Bürgerinnen und Bürgern, werden Sie selbst einmal etwas beweglicher!
({51})
Das gilt auch für Wirtschaft und ökologische Erneuerung. Die Lohnnebenkosten in Deutschland sind eindeutig zu hoch. Das ist aber nur ein Element einer klaren ordnungspolitischen Entscheidung, die getroffen werden muß. Beim Stichwort Ordnungspolitik fällt mir auf, daß der Kollege Lambsdorff eine klare Ordnungspolitik formuliert - aber eine aus unserer Sicht falsche -,
({52})
während der Bundeswirtschaftsminister nur formuliert, weder klar noch ordnungspolitisch.
({53})
Das erste, was erreicht werden muß, ist diese ordnungspolitische Grundentscheidung: Die Belastung der Arbeitsplätze und der Arbeitseinkommen in Deutschland ist zu hoch. Das schädigt Freiheit und Verantwortungsbewußtsein der betroffenen Menschen. Es ist ganz eindeutig eine zu große Belastung für die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber. Wer die Arbeitskosten durch Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entlastet, entlastet nicht nur die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, die Unternehmen, sondern er entlastet auch die Tarifpolitik. Ich sage Ihnen voraus, daß wir auch diese Entlastung in den nächsten Jahren dringend brauchen werden.
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, alle versicherungsfremden Leistungen aus der Sozialversicherung herauszunehmen und sie allgemein, und zwar auch mit Blick auf die notwendige, umweltbewußte Modernisierung unseres Lebens und Wirtschaftens, zu finanzieren. Diese zusätzliche Antriebskraft für Rationalisierung muß weg. Der Nachteil für lohn- und beschäftigungsintensive Betriebe - namentlich in Handwerk und Mittelstand - muß weg.
Wir stimmen ausdrücklich zu, wenn Herr Blüm davon redet, daß die „Verschrottung von Humankapital" ein Ende haben muß.
({54})
Kluge Manager und Unternehmer wissen: Der größte Standortvorteil Deutschlands liegt in der Qualifikation, dem Können, der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Ingenieure, der Selbständigen. In dieses Kapital haben wir am meisten investiert. Es ist ein grober wirtschaftspolitischer Fehler - übrigens auch eine menschliche Unanständigkeit; so empfinde ich es jedenfalls -, den Jüngeren den Eintritt in das Berufsleben zu erschweren und die Älteren mit 50 oder 52 Jahren entweder über Sozialpläne oder - schlimmer noch - über Arbeitslosigkeit hinauszuwerfen und nicht nach Methoden zu suchen, wie Arbeit in Deutschland wettbewerbsfähiger gemacht werden kann. Das hat die unangenehme Antwort zur Folge, daß der Konsum verteuert werden muß, vor allem dann, wenn er zu Lasten der Umwelt geht.
Sie, Herr Bundeskanzler, waren 1990 nicht in der Lage, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, nämlich daß der Aufbau in Deutschland von allen gemeinsam geleistet werden muß. Sie haben mit den dafür erforderlichen Mitteln die Sozialkassen belastet und die Verschuldung erhöht. Sie sind auch heute nicht in der Lage, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, nämlich daß die Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze nicht die Demontage des Sozialstaates voraussetzt, wohl aber eine gemeinsame Anstrengung, die auch von allen gemeinsam finanziert werden muß.
({55})
Was also, Herr Bundeskanzler, sagen Sie zu den Vorschlägen Ihres Arbeitsministers? Sind Sie bereit, der „Verschrottung von Humankapital" ein Ende zu bereiten? Sind Sie bereit, die Arbeitsplätze von Kosten zu entlasten? Sind Sie bereit - auch im Interesse der Rentnerinnen und Rentner -, die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer zu steigern? Sind Sie bereit, die daraus notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen und für den Verbrauch von Umwelt und Natur endlich den Preis zugrunde zu legen, der der Wahrheit und nicht irgendeiner betriebswirtschaftlichen Fiktion entspricht? Wenn Sie zu dieser klaren ordnungspolitischen Entscheidung fähig sind, dann werden wir Sie loben; Ihre bisherige Haltung war leider - ({56})
- Was haben Sie, Herr Gerhardt, eigentlich dagegen, daß es in den Grundfragen unserer wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen politischen Entwicklung den Versuch der Gemeinsamkeit gibt? Es ist doch nicht so, daß das an unserem guten Willen oder an unseren Vorschlägen scheitert. Sie haben sich mittlerweile ideologisch doch so verrannt, daß Sie nur noch den sozialen Frieden und den Sozialstaat im Auge haben, aber nicht mehr in der Lage sind, sorgfältig und zukunftsweisend zu verknüpfen, was zusammengehört, nämlich wirtschaftliche, soziale und umweltbewußte Entwicklung.
({57})
Wenn Sie bereit sind, auf der Grundlage einer solchen - ordnungspolitisch klaren - Entscheidung eine weitere zu treffen, dann könnten wir auch hier zu gemeinsamen Positionen kommen, obwohl ich da nicht sehr optimistisch bin.
Es ist genauso klar, daß eine ordnungspolitisch und damit auch wirtschaftspolitisch saubere Linie die Senkung und die Umstrukturierung der Steuerbelastung für Unternehmen erfordert. Nominell kann das geschehen, indem viele Einzelregelungen des Steuerrechts beseitigt werden. Das würde jedenfalls ein wichtiges psychologisches Hindernis für ausländische Investoren beseitigen.
Tatsächlich brauchen wir aber die Konzentration auf drei große Zukunftsfelder, Felder, auf denen sich entscheiden wird, ob die deutsche Volkswirtschaft dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben kann: Investitionen als erstes, vor allen Dingen dann, wenn sie einen Umweltnutzen versprechen, Forschung und Entwicklung als zweites und Ausbildung, Weiterbildung und Fortbildung als drittes.
Der Staat kann nicht unternehmerische Initiative ersetzen. Er kann nicht Innovation in den Unternehmen schaffen, aber er kann dafür sorgen, daß für diese Initiative, für diese Innovation ein fester Rahmen da ist, einer, der auch für die Zukunft verläßlich gilt.
({58})
Die Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung, das Hin und Her bei der Körperschaftsteuer, beim Solidaritätszuschlag, bei der Abschaffung des Meister-BAföG und seiner Wiedereinführung, bei der Streichung der Erfindervergütung - für die bisher noch kein Ersatz geschaffen wurde - hat nur eines bewirkt: Die Innovationskraft wird nicht gefördert, die Risikobereitschaft eher gemindert.
In den Unternehmen gibt es reichlich Menschen, kluge, verantwortungsbewußte Unternehmer und Manager, die genau das einklagen, was ich hier gerade eingeklagt habe: Wo ist die klare, wirtschaftspolitische Orientierung, die Verläßlichkeit für unternehmerische Initiative und Innovation bietet?
({59})
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Branchendialoge, wie sie Herr Rexrodt führt, ersetzen diese wirtschaftspolitische Initiative nicht. Das dicke Brett muß auch gebohrt werden, nicht nur die „dünnen Dinger" .
Wenn Sie dann den Druck von den Arbeitsplätzen zwar nicht nehmen, aber mindern und für eine klare Orientierung sorgen, für eine Umstrukturierung und damit für die Chance einer allmählichen Senkung der Unternehmensbesteuerung, dann hätten wir noch eine weitere Sache miteinander zu besprechen: Was sind die Zukunftsfelder wirtschaftlicher Entwicklung? Normalerweise müßte eine Bundesregierung, die 330 Millionen DM zusätzlich für wehrtechnische Erprobungen in den Haushalt einstellt, sofort mit einer Initiative im Deutschen Bundestag sein und sagen: Es darf nicht geschehen, daß der letzte größere Hersteller von Solarzellen dieses Land verläßt und wir damit den Anschluß an eine entscheidende Zukunftstechnik verlieren.
({60})
Herr Bundeskanzler, Sie haben einmal gesagt, Sie fühlten sich wie ein Förster.
({61})
Man müsse heute vieles tun, dessen Ertrag erst in den nächsten 70, 80 Jahren - meinetwegen auch in etwas kürzeren Fristen - zu sehen sei. - Wenn das wahr ist, dann würde ich doch anraten: Legen Sie
einmal diese gefällige, sich selbst bescheinende, sich wohlfühlende Attitüde zur Seite und kümmern Sie sich wieder entschlossen um die Entwicklung, die in Deutschland stattfindet!
({62})
Kümmern Sie sich entschlossen um die Zukunftsfelder der wirtschaftlichen Entwicklung wie den Umstieg in eine Energieversorgung, die umweltverträgliche Energiearten endlich nutzt, die Wachstum ermöglicht, das Probleme löst, statt neue Probleme zu schaffen!
So wie die Sozialstaatlichkeit dem wirtschaftlichen Fortschritt Sinn und Richtung gegeben hat, so wird in Zukunft nur die Verbindung aus sozialer und ökologischer Entwicklung dem Wirtschaften Sinn und Richtung geben.
({63})
Der Generationenvertrag wird ein doppelter. Er hat seine soziale und notwendigerweise auch seine ökologische Seite: klare Ordnungspolitik, Ermunterung von Risikobereitschaft und Leistungswillen, Anschluß an Zukunftsfelder, an Zukunftstechnologien und schließlichaktive Arbeitsmarktpolitik. So wie ich den französischen Präsidenten wegen seiner Entscheidung, Atomwaffentests wiederaufzunehmen, kritisiere, stelle ich genauso fest: In Frankreich beispielsweise hat eine konservative Regierung den Stellenwert aktiver Arbeitsmarktpolitik wesentlich besser begriffen als die Bundesregierung hier in Deutschland.
Wenn Sie schon darüber nachdenken, wie aktive Arbeitspolitik aussehen könnte - wir warten gespannt auf die Vorlage eines neuen Arbeitsförderungsgesetzes -, dann bleibt noch ein Hinweis: Es hat im Sommer eine Debatte über den Ladenschluß gegeben, als sei das die zentrale Frage der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes. Ich will nicht bestreiten: Mit Lebensqualität und anderem mag das hier und da etwas zu tun haben. Dennoch ist sorgfältig zu prüfen: Für wen eigentlich hat das mit Lebensqualität zu tun?
({64})
Manches könnte man viel unbefangener besprechen, wenn sich der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht nur hier hinstellte und monierte - wie häufig geschehen -, wir hingen bei den Teilzeitarbeitsplätzen nach, manches auf dem Arbeitsmarkt könnte besser sein, wenn mehr Teilzeitmöglichkeiten angeboten würden; dann wird der Hinweis auf die Niederlande gegeben und anderes mehr. Herr Bundeskanzler, solange Sie eine Gesetzgebung dulden, die den Unternehmen die Möglichkeit bietet, ganz schmale Stammbelegschaften zu beschäftigen und über 4 Millionen Frauen ohne jede soziale Sicherheit daneben einzusetzen, werden keine Teilzeitarbeitsplätze entstehen, weil gar kein ökonomischer Anreiz dafür da ist, wenn diese Möglichkeit der Ausbeutung so bleibt, wie sie ist. Und es ist Ausbeutung!
({65})
Die Politik der Bundesregierung mehrt den allgemeinen Nutzen nicht. Der Bundesfinanzminister sagt, er wolle sparen und Steuern senken, „symmetrische Finanzpolitik". Das hört sich gut an. Der Haushalt enthält hier - mit Ausnahme der durch das Jahressteuergesetz erzwungenen Möglichkeiten - nichts, die mittelfristige Finanzplanung schon gar nicht.
Die Wirtschaft unseres Landes ist leistungsfähig, aber sie ist in ihrer Leistungsfähigkeit auch gefährdet. Gerade gestern sind von dem Davoser Forum Zahlen dazu veröffentlicht worden, und sie machen wie viele andere Studien deutlich: Das größte Problem unserer wirtschaftlichen Entwicklung ist die Belastung von Arbeitsplätzen mit Kosten, die ihnen nicht zugerechnet werden dürften, und der Unwille im Management, sich auf flexible Lösungen einzulassen. Flexibilität, die von den Arbeitnehmern gefordert wird, wird von diesen längst erbracht. Flexible Arbeitszeitmodelle gibt es reichlich. Man wird den Tarifpartnern Unterstützung signalisieren müssen, wenn sie diesen Weg fortsetzen wollen.
({66})
Dazu gehören Lebensarbeitszeitkonten, dazu gehört variable Wochenarbeitszeit, dazu gehört aber nicht eine Politik, die den Arbeitnehmern signalisiert, daß ihre Bereitschaft zur Flexibilisierung und zum sorgfältigen Umgang mit den eigenen Arbeitsplätzen von der Politik noch dadurch bestraft wird, daß die Lohnnebenkosten zu hoch bleiben und gleichzeitig der soziale Frieden demontiert wird.
({67})
Der Samstag wird kein Werktag, hoffen wir alle. Wenn Politik signalisiert, daß die Bereitschaft zur Verantwortung, zum flexiblen Handeln in den einzelnen Unternehmen nicht flankiert und unterstützt wird, sondern mit Abbau des sozialen Staates, des sozialen Friedens beantwortet wird, dann werden Sie diese Bereitschaft zur Verantwortung hemmen, anstatt sie zu fördern.
({68})
Herr Bundeskanzler, wir erwarten von Ihnen Antwort auf Fragen der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen, der sozialen und der inneren Entwicklung unseres Landes, Antworten, die die Grundlagen des sozialen Friedens, die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sowie eine dauerhafte, nachhaltige und für die Zukunft tragfähige Entwicklung betreffen.
Der Haushalt, den Sie uns vorgelegt haben, ist Ausdruck einer Falle. Er verschärft einen risikoreichen Trend. Es liegt ihm keine klare Ordnungspolitik, schon gar nicht Mut zugrunde. Es fehlt ihm und dieser Bundesregierung folglich damit auch die Fähigkeit, schwierige, im Zweifel auch belastende Einzelentscheidungen zu begründen. Die Falle, in die Sie uns über Jahre hinweg manövriert haben, besteht haushaltspolitisch aus steigender Zinsbelastung, steigenden zwangsweisen Verpflichtungen
und sinkenden Investitionen - allein im Haushalt 1996 um über 5 Milliarden DM, was faktisch bedeutet, zwischen 130 000 und 150 000 Arbeitsplätze zusätzlich aufzugeben.
Der Haushalt, wie er uns für 1996 vorliegt, ist Ergebnis einer längeren Entwicklung. Er ist kein Zeichen der Korrektur,
({69})
weder mit Blick auf den sozialen Frieden noch mit Blick auf eine klare Ordnungspolitik, die zu Innovation, Leistung und Risikobereitschaft ermuntert. Er ist auch keine Korrektur hinsichtlich der Umweltpolitik. Im Gegenteil: Er ist Ergebnis mangelnden Mutes und mangelnder Zukunftsvorsorge.
({70})
Wir rechnen, Herr Bundeskanzler, nicht damit, daß Sie in Ihrer Rede heute in irgendeiner Weise Korrektur andeuten könnten. Wir rechnen auch nicht damit, daß Sie auf die zentralen Fragen, auch auf die inneren Widersprüche Ihrer Koalition, Antwort geben. Wir rechnen damit, daß das - so wie in vielen Fällen - eher eine Debatte wird, die sich an Vordergründigkeiten festhält. ({71})
Wir haben Ihnen dazu durch die Art und Weise, wie manchmal auch in meiner Partei diskutiert wird, das eine oder andere vordergründige Stichwort geliefert. - Was wir allerdings erwarten, ist, daß Sie sich der Auseinandersetzung darüber stellen, daß wirtschaftliche Leistung gefördert und Risikobereitschaft ermuntert wird. Wir erwarten, daß Sie sich der Auseinandersetzung darüber stellen, daß eine klare Ordnungspolitik verfolgt und die Fähigkeit der Bundesregierung zur Begleitung von Initiative sowohl in der Bevölkerung als auch in den Unternehmen wieder gestärkt wird. Sonst führen wir eine Debatte, die sich an den personalpolitischen Aufgeregtheiten und Aufmerksamkeiten orientiert. Wichtiger ist die Debatte über die Zukunft unseres Landes.
({72})
Wir fordern Sie auf, Herr Bundeskanzler, sich endlich wieder der Zukunft dieses Landes und den Grundentscheidungen, die zu treffen sind, zu stellen und wenigstens, wenn Sie schon Ihre Politik in den Grundlinien nicht korrigieren, Klarheit darüber zu schaffen, wie Sie mit den einzelnen Vorschlägen und Widersprüchen in Ihrer Koalition umgehen wollen. Dann hätten die Debatte und Ihr Beitrag einen gewissen Ertrag.
({73})
In der Debatte spricht jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war nicht überraschend, daß Kollege Scharping ein Interesse daran hat, von der Horrorshow, die seine Partei in den letzten Wochen und Monaten geboten hat, abzulenken, und daß er verlangt, man solle das Ganze beenden. Ein bißchen überraschend war, daß er sagt, die Bundesregierung, der Bundeskanzler und die Koalition mögen sich den Fragen der Zukunft zuwenden. Sie haben sich doch in den letzten Monaten nur mit sich selbst beschäftigt und mit niemand anderem.
({0})
Ich will Ihnen ehrlich sagen, Herr Kollege Scharping, ich habe nicht sympathisch gefunden, was der niedersächsische Ministerpräsident Schröder getrieben hat. Das kann auch niemand sympathisch finden. Aber die letzte Dreiviertelstunde hat in mir eher Verständnis geweckt als verringert.
({1})
- Es hilft ja nichts. Man müßte hier einen Spiegel aufstellen, damit Sie sich in Ihre eigenen Gesichter schauen könnten. Ich will das Thema gar nicht vertiefen.
({2})
- Verehrte leidgeprüfte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, je länger Sie Zwischenrufe machen, um so länger bleiben wir bei dem Thema. Es hilft nichts.
Eines, Herr Scharping, geht wirklich nicht. Wenn Sie in der Aussprache zum Bundeshaushalt 1996 beim Einzelplan des Kanzleramtes in der Generalaussprache über deutsche Politik sagen, wir sollten von den Zukunftsfragen unseres Landes reden, Sie aber zum Bereich der Außenpolitik gerade eineinhalb Sätze in sechzig Minuten zustande bringen, dann zeigt das etwas von der Verkommenheit des Denkens über Prioritäten in Ihrer Politik.
({3})
- Doch, das zeigt die Verkommenheit des Denkens über politische Prioritäten in unserem Lande. Wenn man sich einmal vor Augen führt, daß, während Sie ein solches Theater aufgeführt haben, entsetzliche Verbrechen in unserer Nachbarschaft in Europa begangen worden sind, daß der Friede in Europa bedroht ist,
({4})
und Sie dazu keine zwei Sätze in sechzig Minuten zustande bringen, dann zeigt das, daß die Prioritäten in der Politik verkommen sind.
({5})
Wir haben die französische Entscheidung, Atomwaffenversuche wiederaufzunehmen, bedauert und davon abgeraten, dies zu tun.
({6})
- Das ist meine Antwort. Ja, natürlich! Verehrte Frau Kollegin, regen Sie sich ab! Sie haben mich gefragt, und da mußte ich antworten. Ob Ihnen die Antwort gefällt, ist eine andere Frage. Herr Scharping hat, anstatt Antworten zu geben, nur Fragen an den Bundeskanzler gerichtet. Das ist verständlich. Auch ich würde an seiner Stelle die Hoffnung auf den Bundeskanzler setzen.
({7})
Herr Kollege Scharping, ich halte wenig von dem Gedanken, in einer Bundestagsresolution zum Ausdruck zu bringen, was wir alle lange und frühzeitig und klar gesagt haben:
({8})
daß wir der französischen Regierung von dieser Entscheidung abgeraten haben, daß wir aber zugleich die deutsch-französische Freundschaft davon unberührt halten wollen und daß wir im übrigen begrüßen, daß die französische Regierung und der französische Präsident für den Abschluß und für die Beendigung aller Atomwaffenversuche - sobald wie möglich - eintreten und daß Frankreich angeboten hat, im Rahmen der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, wenn wir sie endlich haben - wir müssen sie erst noch schaffen -, auch über den Beitrag der französischen Nuklearstreitmacht für europäische Sicherheit gemeinsam zu reden; auch dies begrüßen wir ausdrücklich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei aller Enttäuschung über die Entwicklung in den letzten Stunden muß ich sagen: Ich kann mir, nachdem ich die Berichte des UNO-Abrüstungsbeauftragten aus dem Irak in den letzten Wochen zur Kenntnis genommen habe, in der Welt, in der wir leben, für die absehbare Zukunft europäische Sicherheit nicht ohne eine nukleare Komponente vorstellen.
({9})
- Ach, lenken Sie doch nicht ab!
({10})
- Jetzt ist der Kollege Fischer wach geworden. Dazu bedurfte es einer besonderen Anstrengung.
({11})
Ich will ein Zweites sagen. Ich glaube, wir sollten gerade in diesen Tagen, in denen die klare und entschiedene Haltung der NATO zum erstenmal die Aussichten für eine politische Lösung des elenden Kriegs in Bosnien und im ehemaligen Jugoslawien zu verbessern scheint, anerkennen, daß gerade Frankreich und der französische Präsident einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, daß die Haltung der NATO so klar und so entschieden geworden ist. Ich will mich dafür bedanken.
({12})
Aber, Herr Kollege Scharping und Herr Kollege Fischer - Sie haben ja einen dreizehnseitigen Brief zu dieser Debatte beigesteuert; das war Dünndruck in jeder Hinsicht -, was ist es denn für eine Haltung, auf der einen Seite jetzt die Entscheidung und die Maßnahmen der NATO zu begrüßen - Sie, Herr Scharping, haben in Ihrer Rede gesagt, die Antwort der NATO sei klar und richtig gewesen; dem ist zuzustimmen -, aber zugleich kein Wort dazu zu sagen, daß Sie in der Debatte und Entscheidung des Deutschen Bundestags am 30. Juni den notwendigen deutschen Beitrag dazu verweigert haben?
({13})
Wir können doch nicht, wie Ihnen, Herr Fischer, aus Ihrer eigenen Fraktion und Partei zu Ihrem Papier vorgehalten worden ist, sagen: Wir kämpfen bis zum letzten Franzosen. So wird der Friede in Europa nicht sicher werden, und so werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht.
({14})
Deswegen, Herr Kollege Scharping, wäre heute die Stunde gewesen, die falsche Verweigerungshaltung Ihrer Partei und Fraktion zum Einsatz und zum Beitrag der Bundeswehr und der deutschen Soldaten zum Frieden in Jugoslawien und in Europa aufzugeben, zu korrigieren und zurückzunehmen.
({15})
Ich will an dieser Stelle den Soldaten der Bundeswehr, den Soldaten der Luftwaffe wie auch denen des Sanitätsverbandes in Split und allen anderen, meinen Dank, den Dank meiner Fraktion und den Respekt für ihren Mut und ihre Besonnenheit zugleich ausdrücken.
({16})
Ich finde, sie haben gerade mit ihrer klaren, ruhigen und besonnenen Haltung zugleich ein Beispiel gegeben. Ich habe mir bei manchen Fernsehinterviews gedacht: Wenn alle Verantwortlichen von großen Verbänden aus Wirtschaft, Politik und sonstwo bei öffentlichen Äußerungen so besonnen und verantwortlich wären, wie sich die Soldaten der Bundeswehr, Herr Bundesverteidigungsminister, in diesen schwierigen Tagen und Wochen gezeigt haben, stünde es besser um die gesellschaftliche Wirklichkeit in unserem Lande.
({17})
Ich will genauso der Bundesregierung, dem Bundeskanzler, dem Bundesverteidigungsminister und dem Bundesaußenminister danken, daß sie in diesen schwierigen Wochen mit Ruhe, Besonnenheit, Zurückhaltung und zugleich Entschiedenheit den uns Deutschen möglichen Beitrag zu einer besseren Entwicklung in diesem Elend von Gewalt und Verbrechen geleistet haben und weiter leisten. Dabei unterstützen wir die Bundesregierung.
({18})
Das ist die Schicksalsfrage unseres Landes; denn wenn der Friede in Europa nicht gesichert bleibt oder wieder gesichert wird, wenn Gewalt und unsägliche Verletzungen von Menschenrechten Schule machen, dann ist alles andere nichts. Herr Kollege Scharping, Sie haben zum 1. September an den Satz von einem Ihrer Vorgänger im Amt, Willy Brandt, erinnert, daß der Friede nicht alles ist, aber daß ohne Frieden alles nichts ist. Das ist wahr. Aber dann dürfen wir Deutschen unseren Beitrag dazu nicht verweigern, sonst werden wir unserer Verantwortung für den Frieden nicht gerecht.
({19})
Sie haben so wundersame Wandlungen gehabt. Ende vergangenen Jahres haben Sie in Ihrem Weihnachtsbrief noch geschrieben, daß ein deutscher Beitrag zwingend notwendig sei. Im Juni haben Sie dann gesagt, daß man mit Luftangriffen den Frieden auf der Erde nicht erreichen könnte. Das war einer dieser Sätze, die anzuhören einem morgens zwischen 9 und 10 Uhr so schwerfällt, wenn sie so aneinandergereiht werden, weil sie so bedeutungsschwer inhaltlos sind. Sie helfen nämlich keinen Schritt weiter. Jetzt haben Sie wieder gesagt, daß genau dieses die klare, richtige und notwendige Antwort war. Nein, wir müssen ohne jeden falschen Eifer unseren Beitrag leisten, weil wir sonst unserer Verantwortung für unsere und unserer Kinder Zukunft nicht gerecht werden. Deswegen ist es im Interesse der Zukunft unseres Landes mindestens genauso wichtig - so schwer das auch sein mag und so groß die Widerstände bleiben mögen -, daß wir in der europäischen Einigung weiter vorankommen. Herr Bundeskanzler, wir setzen wie Herr Scharping alle Hoffnung auf Sie und Ihre Regierung. Wir werden Sie mit allen Kräften dabei unterstützen.
({20})
Wir müssen gegen alle Widerstände, gegen alles, was uns auch im einzelnen nicht gefällt, in dem Prozeß der europäischen Einigung unumkehrbar weiter vorankommen, wenn wir die Verantwortung unserer Generation für eine Zukunft in Frieden und Freiheit nicht versagen wollen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, eine dritte Bemerkung zu dem machen, was wirklich Zukunftsfragen unseres Landes sind. Es ist in diesen Tagen fünf Jahre her, seit wir den Vertrag über die deutsche Einheit unterzeichnet haben. Ich denke, daß wir bei der Vollendung der deutschen Einheit gut vorangekommen sind. Es ist schwieriger geworden, als wir 1990 geglaubt haben. Aber wir sind viel weiter, Herr Kollege Scharping, als wir es alle miteinander 1992 für möglich gehalten hätten. Was ich allerdings schlimm finde, ist, daß es Ihrem Stellvertreter, Herrn Thierse, aus Anlaß der Unterzeichnung des Einigungsvertrags vor fünf Jahren aus der Feder läuft, daß der Einigungsvertrag auch ein Dokument ideologischen Denkens und Resultat erfolgreicher westlicher Lobbyarbeit sei. Wenn man so mit der deutschen Einheit umgeht, dann ist man unfähig, die Einheit in Deutschland zu vollenden.
({21})
Im übrigen, Herr Kollege Scharping, was Sie heute zu dem notwendigen Beitrag aus Westdeutschland für den Aufbau in den neuen Bundesländern gesagt haben, das haben wir schon lange gesagt. Ich begrüße, daß Sie es auch gesagt haben. Aber ich habe die Pressemeldungen noch in Erinnerung, in denen Sie Anfang des Jahres gesagt haben, daß der Solidaritätszuschlag nicht notwendig sei und daß Sie ihn bekämpfen würden.
Ich habe diese Meldungen sogar dabei. Aber wir wollen das nicht vertiefen. Wenn Sie jetzt mit uns gemeinsam die notwendigen Lasten nach vierzig Jahren Teilung sowie sozialistischer Diktatur in einem Teil Deutschlands solidarisch zu tragen bereit sind, ist es gut. Es gilt das, was der Bundesfinanzminister Theo Waigel in seiner so vorzüglichen Rede gestern zum Abbau des Solidaritätszuschlags gesagt hat: So rasch wie möglich wird er abgebaut, aber so lange wie nötig bleibt er erhalten, und er muß solidarisch getragen werden.
({22})
Daß Ihre Partei den „Geschmack" aufgebracht hat, das einjährige Jubiläum der Zusammenarbeit von Sozialdemokraten mit Kommunisten in Sachsen-Anhalt mit Sekt im Landtagshof in Magdeburg zu feiern, das, so finde ich, gehört nun wirklich zu den unglaublichen Dingen.
({23})
Sie feiern das Jubiläum der Zusammenarbeit mit der kommunistischen PDS. Ich finde, eine Schweigeminute der Schande und der Scham wäre eher angebracht gewesen.
({24})
- Herr Kollege Fischer, Sie sind nicht mehr allein. Dank der Großzügigkeit der Sozialdemokraten brauchen Sie nicht mehr allein zu sitzen. Ich habe Ihnen schon gestern gesagt, jetzt brauchen Sie nicht mehr soviel zu schreien.
({25})
- Das machen wir während Ihrer Rede. Dort paßt es auch gut.
({26})
Wenn die so nichtssagend ist wie Ihr Brief, dann ist es auch besser.
Herr Kollege Scharping, ich habe mir den schönen Satz aus Ihrer Rede gemerkt, daß Deutschland nicht zum Tummelplatz von Gewalttätern werden darf. Aber dann hätte ich mir schon gewünscht, daß Sie ein Wort zu den unglaublichen Vorfällen in Hannover gesagt hätten.
({27})
Ob und wie die Bundesratsbank besetzt ist, das wechselt hin und her. Das nehmen wir mit geziemender Demut hin. Aber ich erwarte schon, daß der Ministerpräsident des Landes, der die Verantwortung dafür trägt, daß der Rechtsstaat und der innere Frieden in unserem Lande in einer unerträglichen Weise Schaden gelitten haben, hierherkommt und zu seiner Verantwortung für die Schädigung unseres freiheitlichen Rechtsstaates steht.
({28})
Tagelang wurden im Fernsehen Bilder gezeigt, übrigens rund um die Welt, wie Hunderte von Polizisten auf Geheiß der Verantwortlichen für die innere Sicherheit im Lande Niedersachsen zugesehen haben, wie Ladengeschäfte geplündert worden sind. In Berichten von Polizisten, die aus anderen Ländern angefordert worden sind, wird beschrieben, wie es ihnen ergangen ist: Sie mußten sich während dieser Tage in Sportgeschäften Eishockeyschoner beschaffen, weil die Ausrüstung der Polizei für diese gewalttätige Auseinandersetzung völlig unzureichend gewesen ist.
Meine Damen und Herren, das ist keine Sache von Hannover und von Niedersachsen. Wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, das Gewaltmonopol wahrzunehmen, verkommen der innere Frieden und der freiheitliche Rechtsstaat. Das ist eine Frage von gesamtstaatlicher Bedeutung.
({29})
Wir treiben Schindluder mit den Polizisten, und wir treiben Schindluder mit den Interessen der Bürger, die darauf vertrauen, daß ihr Staat Frieden, Freiheit, Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum schützt, wenn durch die Entscheidung der Verantwortlichen der innere Frieden und die innere Sicherheit nicht mehr gewahrt werden. Das hätten Sie sagen müssen, Herr Scharping. Denn es ist eine Sache, die Sie als Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands betrifft.
({30})
- Wenn irgend etwas schiefgeht, wird sofort nach der Bundesverantwortung gerufen. Herr Bundesgeschäftsführer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, was in Hannover geschehen ist, wirkt weit über das Land Niedersachsen hinaus. Deswegen muß vor dem Forum der Nation, im Deutschen
Bundestag, darüber geredet werden. Es darf sich nicht wiederholen.
({31})
Niemand kann ja von Herrn Schröder sagen, daß er in den letzten Wochen und Monaten nicht hinreichend in allen Medien präsent gewesen sei. Aber daß er tagelang zu diesen unglaublichen Vorkommnissen trotz Handy und Hillu kein Wort gefunden hat, ist ein unglaublicher Skandal.
({32})
Am Ende sagte er nach tagelangem Wegtauchen: Na ja, wenn solche Ereignisse nur durch eine Änderung des geltenden Rechts zu unterbinden sind, muß man das tun. Und ebenfalls erst nach Tagen sagte er, die Menschen in Hannover hätten ein Recht darauf, daß es zu solchen Gewalttätigkeiten nicht kommt, und es sei die Pflicht der Landesregierung, das ihr Mögliche zu tun, diese zu verhindern. Gegen genau diese Pflicht hat sie verstoßen, genau diese Pflicht hat sie sträflich verletzt.
Meine Damen und Herren, daß Niedersachsen den Verfassungsschutz in einer unverantwortlichen Weise abgebaut hat, daß die Bereitschaftspolizei in Niedersachsen kaum noch funktionsfähig ist, daß die Ausrüstung der niedersächsischen Polizei nichts taugt, daß das niedersächsische Polizeigesetz nicht die notwendigen rechtlichen Möglichkeiten aufwies und man diese jetzt erst schaffen will,
({33})
das alles, Herr Kollege Fischer, ist eine Folge rotgrüner Politik, an der Ihre Partei ja großen Anteil hat.
({34})
Da hilft es wenig, hinterher, wenn das Kind im Brunnen liegt, zu sagen, jetzt müßten Korrekturen vorgenommen werden. Herr Kollege Scharping, weil rot-grüne Politik, ob in Niedersachsen oder in Hessen oder wo immer, stets solche katastrophalen Ergebnisse erzielt, ist es ein solches Desaster, daß wir jetzt im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen auch eine rot-grüne Regierung haben.
({35})
- Ja, ich wollte gerade dazu kommen. Wenn wir über Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, soziale Sicherheit reden, meine Damen und Herren, dann ist das Allerwichtigste, daß es uns weiterhin gelingt, unsere Wirtschaft in Ordnung zu halten. Wir sind ja gegenwärtig in einer wirtschaftlich guten Lage. Sie haben wenig zum Haushalt gesagt; es fiele Ihnen ja auch schwer.
({36})
Sie hätten ja vielleicht noch sagen können, was Sie von den Rahmendaten der deutschen Finanzpolitik - das hat ja etwas mit dem Haushalt zu tun - halten. Sie werden ja wohl nicht darüber hinwegsehen können, daß wir die niedrigste Preissteigerungsrate seit Jahren haben, daß wir dank der Finanzpolitik der Bundesregierung, des Finanzministers Theo Waigel und der Koalition die niedrigsten Zinsen seit Jahren haben - das alles trotz der gewaltigen und historisch einmaligen Sonderbelastungen nach 40 Jahren deutscher Teilung -, daß OECD wie Weltbank der Finanzpolitik dieser Bundesregierung Gütezeichen verliehen und sie als vorbildlich für alle Industrieländer bezeichnet haben. Dazu haben Sie natürlich nichts gesagt.
Aber das ist ja das Entscheidende, denn das sind die Rahmendaten, die die Weichen dafür stellen und die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir wirtschaftlich in einer guten Entwicklung sind, daß wir Schwankungen des Dollarkurses verkraften und eine stetige konjunkturelle Aufwärtsentwicklung verzeichnen können.
({37})
Das ist noch nicht alles; aber das ist die Voraussetzung dafür, daß wir überhaupt in der Lage bleiben, weiterhin an der Lösung der vorhandenen Probleme zu arbeiten. Wir hätten nicht die Kraft für die Überwindung der Folgen der deutschen Teilung, für den Aufbau der neuen Bundesländer, wenn wir nicht in einer guten wirtschaftlichen Entwicklung wären. Wir haben nicht die Kraft, in einem weltweit härter werdenden Wettbewerb um Arbeitsplätze und den Standort von Investitionen wettbewerbsfähig und konkurrenzfähig zu bleiben, wenn wir nicht eine gute wirtschaftliche Entwicklung haben.
Aber wir müssen - auch darüber ist zu reden - diese gute wirtschaftliche Entwicklung weiterhin nutzen. Deswegen muß auch die Finanzpolitik genauso fortgesetzt werden, und deswegen unterstützen wir diesen Bundeshaushalt und werden ihn durchsetzen. Wir müssen sie nutzen, um in einer sich so schnell verändernden Welt die Grundlagen für Wohlstand, für soziale Sicherheit und das Ziel „Arbeit für alle" nicht aus den Augen zu verlieren. Daran muß gearbeitet werden.
Herr Kollege Scharping, es geht nicht, daß man auf der einen Seite Ludwig Erhard zitiert - das war übrigens die beste Passage Ihrer Rede; das ist kein Wunder ({38})
und den Wert der Tarifautonomie verteidigt und dann anschließend in derselben Rede für alle Fehlentwicklungen der Tarifpartner die Bundesregierung verantwortlich macht. Entweder wir haben Tarif autonomie, oder wir haben sie nicht.
({39})
Wenn wir Tarifautonomie haben - und wir verteidigen sie -, dann müssen wir allerdings die Tarifpartner auch für das in Anspruch nehmen, wofür sie die Verantwortung tragen. Die Tarifpartner tragen in erster Linie die Verantwortung für Vollbeschäftigung in unserem Lande. Das muß gesagt werden.
({40})
- Nein, ich wehre mich doch nur gegen den Widerspruch. Ich weiß nicht, ob Sie nicht lernfähig sind; wahrscheinlich sind Sie es nicht.
Der schlimmste Fehler, den Bundeskanzler Brandt 1969 insoweit gemacht hat, war die Abgabe einer Vollbeschäftigungsgarantie durch den Staat. Damit hat er nämlich die Tarifpartner von der Verantwortung für die Vollbeschäftigung scheinbar entbunden,
({41})
und mit dem Elend haben wir es seitdem zu tun.
In einem freiheitlichen Staat, in einer Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft mit Tarifautonomie muß der Staat das Seine tun, aber er kann die Tarifpartner nicht von ihrer Verantwortung entbinden. Wer so redet wie Sie, treibt die Entwicklung genau in die falsche Richtung.
({42})
Wie stellt sich die Situation bei den Investitionsentscheidungen dar? Lassen Sie sich die Zahlen doch einmal geben: Wo sind Investitionen in Arbeitsplätze in Deutschland möglich? Wie ist die Gefahr der Abwanderung?
Wir wissen doch, daß angesichts einer nicht befriedigenden Lage auf dem Arbeitsmarkt die Gefahr, daß weitere Arbeitsplätze abwandern, nicht gebannt ist, weil jeder Investor, jeder Betrieb immer wieder neu prüfen muß: Bin ich überhaupt noch wettbewerbsfähig?
Deswegen hilft es doch gar nichts: Wir müssen auch bei den Lohn- und Lohnnebenkosten konkurrenzfähig bleiben oder teilweise erst wieder werden. Auch dafür tragen übrigens in allererster Linie die Tarifpartner Verantwortung.
Wir kommen deshalb nicht darum herum, flexibler zu werden, zu deregulieren und Lohn- und Lohnnebenkosten zu begrenzen und, wo möglich, auch abzubauen.
Dazu haben Sie zwar Fragen gestellt, aber nicht eine einzige Antwort gegeben. Ich bitte Sie herzlich: Wenn man den Anspruch hat, deutsche Politik mitgestalten zu wollen, darf man sich nicht darauf beschränken, nur Fragen zu stellen, sondern man sollte gelegentlich auch die eine oder andere Antwort geben.
({43})
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?
Bitte sehr.
Herr Schäuble, wenn Sie schon den Tarifpartnern die Aufgabe der Vollbeschäftigung zuweisen, wie beurteilen Sie dann die Äußerung des Kanzlers, in der er die Bestrebungen, die 35-Stunden-Woche und damit Vollbeschäftigung zu erreichen, als dumm und töricht bezeichnete? Es paßt ja wohl nicht zusammen, daß die Tarifpartner dann, wenn sie versuchen, Vollbeschäftigung zu erreichen, von der Regierung in solcher Art und Weise begleitet werden.
Herr Kollege, ich habe erstens gesagt, daß der Staat für die Vollbeschäftigung das Seine tun und Rahmenbedingungen schaffen müsse, daß aber die Tarifpartner einen wesentlichen Teil der Verantwortung trügen.
({0})
- Ich will wenigstens richtig zitiert werden, wenn Sie schon nicht zuhören können.
({1})
Zweitens schließt ja Tarifautonomie nicht aus, daß man seine Meinung zu dem, was die Tarifpartner machen oder nicht machen, auch sagt, und das habe ich für mich auch in Anspruch genommen.
({2}) Das gilt auch für den Bundeskanzler.
Allerdings glaube auch ich - manche bei Ihnen haben es ja inzwischen auch begriffen -, daß die Politik der Arbeitszeitverkürzung, der Verkürzung der Wochenarbeitszeit der falsche Weg ist, um mehr Beschäftigung zu erreichen.
Unser Problem ist nicht, daß wir einen Mangel an Arbeit in Deutschland haben - das haben manche immer noch nicht begriffen -, sondern unser Problem ist, daß bei uns Arbeit teilweise so teuer geworden ist, daß die Nachfrage nach Arbeit zu diesen Preisen geringer wird und somit das Problem der Arbeitslosigkeit verschärft wird.
({3})
Die Verringerung der Wochenarbeitszeit verteuert die Arbeit, und damit ist sie kein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern sie verschärft sie.
Ich habe mir ziemlich kopfschüttelnd in den letzten Wochen etwas anderes aus Ihrer Partei angesehen. Man muß ja über alles reden; ich finde, es darf keine Tabus geben. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten - das ist die Aufgabe der kommenden Monate - Schritt für Schritt durch die Reform des Gesundheitswesens den Anteil der Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung begrenzen müssen. Das ist schwierig, aber notwendig.
Wir müssen durch die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes einschließlich der Arbeitslosenhilfe einen weiteren Schritt zur Begrenzung von Lohnnebenkosten leisten. Wir müssen die Sozialhilfereform voran- und zustande bringen. Und wir müssen auch in anderen Fragen ohne Tabus über alles reden, auch mit den Tarifpartnern, was möglich, notwendig und geeignet ist, um Beiträge zur Begrenzung von Lohnnebenkosten und damit zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und zur Schaffung von neuen, zusätzlichen Arbeitsplätzen zu leisten.
Wer aber all dies immer vom Tisch wischt und immer nur sagt, etwas sei unmöglich und komme nicht in Frage, der verweigert sich der Zukunft unseres Landes und leistet keinen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Ich lese Ihnen jetzt vor, was Herr Spöri in diesen Tagen gesagt hat. Er hat gesagt, daß die Hängepartie zwischen Herrn Scharping und Herrn Schröder eine Unentschiedenheit in der Partei überlagert habe, die für die Zukunftschancen der SPD von weit fundamentalerer Bedeutung sei. Die SPD habe aus den Folgen des radikalen wirtschaftlichen Wandels, der Globalisierung von Arbeitsmarkt und Produktion noch nicht die entscheidenden Folgerungen gezogen. Die SPD müsse die Standortattraktivität Deutschlands mit seinen unbestreitbaren Vorzügen wieder an die Attraktivität anderer hochentwickelter Länder angleichen. Wenn Einkommens- und Arbeitsplatzverluste vermieden werden sollten, seien eine Flexibilisierung der Arbeitsorganisation, konkurrenzfähige Unternehmensbesteuerung und eine Senkung der Lohnnebenkosten durch Strukturreform des Sozialstaats dringend notwendig. Wenn Herr Spöri bei dem Interview schon die Rede von Herrn Scharping gekannt hätte, hätte er das wahrscheinlich noch schärfer formuliert.
({4})
Ich will Ihnen einmal vorlesen, was - übrigens überwiegend zu Vorschlägen aus Ihrer eigenen Partei; den Samstag als Regelarbeitstag haben in den letzten Wochen doch Sozialdemokraten gefordert; ich habe die Zitate da ({5})
der dafür zuständige stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Herr Dreßler, gesagt hat. Er hat eine bemerkenswerte Art zu formulieren:
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - schlicht unsinnig, Verlängerung der Lebensarbeitszeit - auch unsinnig, Deregulierung beim Ladenschluß - kurios, geradezu grotesk, Einführung des Samstags als Arbeitstag - ein Hohn,
- das letzte hat er auch als Antwort auf Schröder gesagt, das vorletzte als Antwort auf Lafontaine Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung - ein Irrsinn, Sozialhilfereform - ein Hirngespinst
usw. usw.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir jeden denkbaren Ansatz für ein Stück mehr Beweglichkeit und ein Stück Senkung der Lohnnebenkosten mit einer solchen Sprache blockieren und tabuisieren, werden wir die Zukunft unseres Landes nicht gewinnen.
({6})
Herr Kollege Scharping, Sie haben heute einen Satz gesagt, den ich aufgreifen will, weil er am Ende eines quälenden Verfahrens um das Jahressteuergesetz steht. Sie haben gesagt, Sie hätten es auch manchmal als schmerzlich empfunden, daß das Bund-Länder-Verhältnis etwas überstrapaziert worden sei. Das ist in Ordnung. Auch ich empfinde das - bis zu der Grundgesetzänderung, die leider ein notwendiger Preis für das Vermittlungsergebnis war, gegen die wir alle erhebliche Bedenken haben.
Herr Kollege Scharping, zuerst hatten Sie die Hoffnung, mit den relativ knappen Mehrheitsverhältnissen - wenn man die PDS bei Ihnen mitzählt, ist die Mehrheit der Koalition nicht so groß; das tun Sie, da feiern Sie sogar Jubiläum - hier große Erfolge erzielen zu können. In dieser Hinsicht sind Sie bisher ein bißchen enttäuscht worden. Dann haben Sie, niemand sonst, die Parole ausgegeben, daß die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat zum Instrument gemacht wird, um sozialdemokratische Politik gegen die Bundestagsmehrheit, die Bundesregierung, die Koalition durchzusetzen. Jetzt haben Sie festgestellt, daß das auch nicht funktioniert, und geben es wieder auf. Das ist in Ordnung, aber es muß noch einmal quittiert werden.
({7})
- Herr Kollege Struck, ich bewundere Ihren Mut, diesen Zwischenruf hier zu machen und mich in Versuchung zu führen, zu zitieren, was Ihr Landesvorsitzender von Ihnen hält.
({8})
- Nein, nein.
Jetzt sind wir nicht nur bei Zwischenrufen, sondern bei Zwischendialogen angekommen.
({0})
Frau Präsidentin, dann nehme ich jetzt einmal - man muß ja auswählen bei den vielen Zitaten ({0})
eine Meldung vom 3. März. Dort heißt es:
Gleichzeitig deutete Scharping an, daß die SPD es im Streit um das Jahressteuergesetz '96 notfalls auf eine Blockade der gesamten Steuerpolitik ankommen lassen werde.
Eine Blockade geht nur über den Bundesrat.
Nein, es hilft nichts. Wir sollten alle miteinander wirklich begreifen, daß wir im Bundesstaat darauf angewiesen sind, daß die Organe und Institutionen ihrer Verantwortung gerecht werden und daß eine Mehrheit im Bundesrat nicht dazu angetan ist, die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, die der Wähler in den Bundestagswahlen entschieden hat, und die Zuständigkeitsverteilung zwischen Regierung und Opposition durch Bundesratsobstruktionspolitik zu korrigieren. Das funktioniert nicht.
({1})
Auch wir haben damit unsere schlechten Erfahrungen gemacht. Deswegen habe ich Ihnen schon wiederholt geraten: Tun Sie das nicht, lassen Sie das bleiben. Deswegen begrüße ich jetzt ausdrücklich, daß Sie da ein Stück weitergekommen sind.
Jetzt haben Sie gesagt: Das Zentrum der Auseinandersetzung mit der Regierung ist die Bundestagsfraktion, und das Machtzentrum der Partei sind die gewählten Gremien. Hoffentlich ist es kein Ohnmachtszentrum.
({2})
Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir müssen aber im Deutschen Bundestag und auch mit Vertretern der Bundesländer darüber reden, daß unser Bundesstaat und unser freiheitlicher Rechtsstaat Schaden nimmt, wenn die jeweiligen Positionen mißbraucht werden. Wir haben in den letzten Jahren, Herr Bundesfinanzminister, im Grunde seit dem Jahre 1990, wegen einer unzureichenden Bereitschaft der deutschen Bundesländer, solidarisch ihren Teil an den Lasten zur Überwindung der deutschen Teilung zu tragen, zunehmend eine Verschiebung vom Bund weg zu den Ländern. Das kann niemanden, der für die Bundespolitik Verantwortung trägt, ruhig halten.
Dies wird von einer Entwicklung begleitet - insbesondere, Herr Bundesinnenminister, auf dem Felde der inneren Sicherheit -, wo Länder immer weniger die Bundesgesetze vollziehen, wofür sie nach dem Grundgesetz zuständig sind, und die zuständigen Bundesministerien immer mehr mit dem Instrument der Weisung an Bundesländer - was eigentlich die Ausnahme ist - arbeiten müssen. Der Rechtsstaat verkommt, wenn die Bundesländer in Niedersachsen, in Hessen und anderswo die Praxis fortsetzen, sich nicht mehr an Gesetze des Bundes zu halten, sondern einen ausstiegsorientierten oder sonstwie gearteten Vollzug machen. Nein, so geht das nicht.
({3})
Wir werden bei der inneren Sicherheit unserer Verantwortung nur dann gerecht werden, wenn jeder seinen Teil zur gemeinschaftlichen Verantwortung trägt.
Wenn dies nicht geschieht, wenn die Bürger erleben, daß Bund und Länder ohne Rücksicht auf Verfassung und Recht ihre jeweilige Position gegeneinander überstrapazieren, dann verkommt ein wenig von der notwendigen Einstellung, die wir brauchen, wenn unser demokratischer, freiheitlicher Bundesstaat nicht Schaden nehmen soll.
Ich bekenne: Natürlich haben wir auch Schadenfreude über Ihr Personaltheater in den letzten Wochen und Monaten empfunden; das können Sie auch nicht anders erwarten.
({4})
- Nein, menschliche Regungen sind auch uns nicht fremd. - Aber ich will Ihnen doch sagen: Über die Schadenfreude hinaus macht mich für das Ansehen von Politik und demokratischen Institutionen besorgt, daß durch dieses Theater, das Sie alle miteinander aufgeführt haben, bei den Bürgern in unserem Lande der Eindruck entsteht, daß es Politikern wie Ihnen und Herrn Schröder und anderen nur um ihre eigenen, persönlichen Interessen und sonst um gar nichts geht.
({5})
Auch persönliche Interessen - wer wollte es leugnen - spielen immer eine Rolle. Wenn aber politische Verantwortung nur noch zur Durchsetzung egoistischer, persönlicher Interessen verkommt, dann leidet unsere Demokratie Schaden.
({6})
Deshalb frage ich Sie: Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, Herr Parteivorsitzender Scharping, im Präsidium der SPD zu beschließen und dies dann auch noch zu verkünden, der Parteivorsitzende habe - man achte auf diese Worte - das Recht des ersten Zugriffs auf die Kanzlerkandidatur. Wer so denkt und so redet, ist nicht in der Lage, gesamtstaatliche, demokratische Verantwortung zu übernehmen. Das ist der Punkt.
({7})
Sie brauchen sich doch nicht zu wundern, wenn in Teilen unserer Bevölkerung der Eindruck entsteht - wir leiden alle unter dieser Sorge -, daß als Folge des langanhaltenden Wohlstands, des äußeren und inneren Wohlergehens, Tendenzen zum Egoismus, zur Ellenbogengesellschaft, zum Hedonismus oder wie immer man das nennen mag, um sich greifen.
({8})
- Das wird doch in allen Teilen unserer Öffentlichkeit ernsthaft reflektiert. Man muß, wenn man über die Lage der Nation und die Zukunftsmöglichkeiten Auskunft geben will, darüber nachdenken, ob das nicht vielleicht auch eine Folge des Wohlstands ist.
Dabei muß man ebenfalls danach fragen: Welchen Beitrag leisten eigentlich diejenigen, die eine herausgehobene öffentliche Verantwortung haben und die öffentlich anders wahrgenommen werden als irgendwelche Schulbuben oder Kinder, die im Sandkasten ihre Spiele treiben, wie dies Frau Simonis gesagt hat? Dazu müssen Sie und wir alle unsere Verantwortung ein Stück weit stärker wahrnehmen, weil wir ohne die Einübung von Tugenden und gemeinschaftsverträglichen Verhaltensweisen am Ende unseren freiheitlichen, demokratischen Staat nicht werden bewahren können.
Deswegen finde ich, daß das Personaltheater, das Sie und Ihre Partei in den letzten Wochen und Monaten aufgeführt haben, nicht nur ein Schaden für die SPD war; es hat am Ende uns allen nicht genützt. Ich meine, wir alle sollten mehr daran denken, daß wir über den Tag hinaus eine Verantwortung für die Zukunft unserer Demokratie und für die Zukunft unseres Landes haben.
({9})
Wir werden in den kommenden Wochen, Monaten und auch Jahren in vielen schwierigen Fragen schwierige Auseinandersetzungen haben.
({10})
Die Union, die Koalition und die Regierung - wir werden diese Auseinandersetzungen nicht scheuen.
Es geht eben nicht so einfach, wie Sie, Herr Scharping, das gesagt haben, daß man z. B. die Lohnnebenkosten senken könne, indem man möglichst viele, auch versicherungsfremde Leistungen auf den Bundeshaushalt überträgt. Das klingt abstrakt nicht so ganz falsch. In einer Zeit aber, in der wir eine so hohe Belastung durch Steuern und Abgaben haben und die öffentlichen Haushalte so angespannt sind, sind die Spielräume für solche Umschichtungen geringer, als wir es alle wünschen. Wir müssen vor allen Dingen darauf achten, daß, wenn wir Leistungen auf den Bundeshaushalt, d. h. auf die Allgemeinheit der Steuerzahler, übertragen, die Gefahr besteht, daß dann der Anreiz zur Sparsamkeit und Eigenverantwortung noch geringer wird. Deswegen wird das nicht so einfach sein.
Auch bezüglich der Erhaltung der Umwelt - wir haben oft darüber debattiert und werden das auch weiterhin tun - ist es nicht so einfach, wie man es in manchen Parteitagspapieren oder Resolutionen darstellen kann - ob bei Grün oder Rot. Wir werden jeden möglichen Schritt, auch im Steuerrecht, mitgehen, um Sparsamkeit beim Verbrauch von Ressourcen, Natur und Umwelt zu fördern, und uns dafür einsetzen.
({11})
Wir werden aber alle diese Schritte abklopfen und überprüfen und sie nur dann gehen, wenn sie nicht die Gefahr beinhalten, die Chancen für mehr Arbeitsplätze, mehr Wirtschaftswachstum und mehr soziale Sicherheit zu gefährden. Das ist der Zielkonflikt.
Deswegen ist das Umsteuern nicht so einfach. Deswegen kann man nur Schritt um Schritt und mit großer Eindringlichkeit vorangehen. Wer meint, die einfachen Patentrezepte zu haben und er bräuchte nur an diesem oder jenem Rädchen des staatlichen Dirigismus zu drehen - wenn man aber Ihre Papiere liest, sieht man, daß das nicht so funktioniert - und in ein paar Jahren könne der Benzinpreis auf 5 DM erhöht werden, dem sage ich, was er damit erreicht: nicht einen Funken an Verbesserung für die Umwelt, sondern lediglich eine Zerstörung der wirtschaftlichen Grundlage, eine Verlagerung der Produktion ins Ausland, wo sie zu weniger .umweltfreundlichen Bedingungen erfolgt. Dann haben wir eine größere Luftbelastung und eine größere Schadstoffbelastung von Luft und Wasser. So dienen wir der Umwelt nicht und werden unserer Verantwortung nicht gerecht. Wir müssen Schritt für Schritt gehen.
({12})
Auch werden wir unserer Verantwortung für die Zukunft nicht gerecht und werden wir die Umweltprobleme und die Arbeitsmarktprobleme nicht lösen, wenn wir nicht dafür eintreten, daß die Eigenverantwortung, auch die freiwillige Solidarität der Menschen wichtig ist. Das gilt in der Sozialpolitik wie in der Umweltpolitik. Wir können nicht alles auf das anonyme Kollektiv abschieben, sondern sind alle selbstverantwortlich. Wenn wir nicht dafür eintreten, daß es auch Bescheidenheit, Sparsamkeit, Bereitschaft auch zum Verzicht auf hohem Niveau in unserem Lande gibt - es ist keiner Generation vergleichbar gut gegangen wie uns Deutschen im Jahr 1995 -, wenn wir das Subsidiaritätsprinzip nicht auch in der Sozialpolitik wieder ernstnehmen, wenn wir Familien nicht stärken, wenn alles beliebig werden soll, wenn alles auf den Staat abgeschoben wird, dann werden wir weder der Umwelt noch der sozialen Sicherheit dienen.
Das hat mit der Rolle von führenden Politikern zu tun. Deswegen sage ich in diesem Zusammenhang: Wir müssen uns auch ein wenig darüber im klaren sein, daß wir selbst, wie wir uns verhalten und behandeln, Entwicklungen mit beeinflussen. Deswegen ist es für mich so wichtig. Deswegen bemühen wir uns in unserer Fraktion, ehrenamtliches Engagement zu stärken.
Sie können überall etwas, von Amerika bis Europa, über die Diskussion, wie wir soziales Kapital stärken, wie Netzwerke der freiwilligen Solidarität stärker gemacht werden, lesen. Unsere Gesellschaft wird ärmer, wenn man alles nur auf die großen Institutionen abschiebt und wenn Nachbarschaftshilfe oder freiwillige Solidarität in der Familie auch zwischen Generationen geschwächt wird. Deswegen müssen wir stärker darauf setzen und die Bürger auch ermuntern, daß sie diesen Weg mitgehen, dürfen auch nicht alles kommerzialisieren, sondern müssen darauf setzen, daß freiwillige Solidarität, auch ehrenamtliches Engagement in Vereinen, Verbänden, sozial, sportlich und kulturell wichtige Bausteine sozialen Kapitals und wichtige Bausteine für unsere Zukunft sind.
({13})
- Das ist praktische Politik. Zum Kollegen Scharping noch einmal: Sie können mir nicht zustimmen, aber Sie werden insgeheim gar nicht widersprechen. Die Art, wie sich führende Repräsentanten Ihrer Partei in den letzten Wochen und Monaten aufgeführt haben, ist das genaue Gegenteil von dem, was in diesem Sinne notwendig ist. Es ist das genaue Gegenteil.
({14})
Wer mit dem höchsten Regierungsamt in unserem Lande, mit dem Amt des Chefs der Bundesregierung, des Bundeskanzlers, als Parteipräsidium in einer Sprache umgeht, wo er vom Recht des ersten Zugriffs redet, hat nichts von dem verstanden, wofür ich werben möchte.
({15})
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden in dieser Koalition mit der F.D.P., in der wir gut vorangekommen sind, gute Erfolge erreicht haben - der Haushalt 1996 ist Ausdruck der erreichten Erfolge -, gemeinsam auf diesem Wege vorangehen. Wir werden, Herr Kollege Gerhardt, auch manche schwierige Auseinandersetzung und Diskussion zu bestehen haben, aber wir werden sie in einer fairen und verläßlichen Partnerschaft miteinander betreiben.
Herr Bundeskanzler, wir setzen auf diese Regierung, und wir werden mit dieser und in dieser Koalition Schritt für Schritt die notwendigen Entscheidungen mit durchsetzen und mittragen, für die Zukunft unseres Landes, für einen sicheren Frieden in Freiheit, durch eine Entwicklung der europäischen Einigung, durch die Festigung der atlantischen Allianz, auch durch deutsche Beiträge mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten, für eine Entwicklung der sozialen Sicherheit auch bei dramatischen Veränderungen in der wirtschaftlichen Entwicklung weltweit wie auch im Altersaufbau unserer Bevölkerung - das muß man ja bei dem Thema „soziale Sicherheit" auch einmal erwähnen -, durch Stärkung der Familien und des Subsidiaritätsprinzips, auch der Freiwilligkeit, durch Erhalt der wirtschaftlichen Grundlagen, ohne die soziale Leistungen nicht zu finanzieren sind, durch eine Politik, die sich Schritt für Schritt der Bewahrung der Umwelt verpflichtet fühlt. Wenn man darüber redet, sollte man zwischendurch von seiten der Opposition auch einmal feststellen: Zu keiner Zeit hat eine Regierung mehr für den Erhalt der Umwelt geleistet als die Bundesregierung, seit Helmut Kohl Bundeskanzler ist. Genau auf diesem Weg werden wir fortfahren, miteinander und gemeinsam, um unserer Zukunft willen.
({16})
Dazu wünschen wir uns eine starke Opposition.
({17})
- Glauben Sie es mir, Herr Struck, das Theater, das in den letzten Wochen von Ihrer Partei aufgeführt worden ist,
({18})
hat uns allen am Ende nicht gedient. Aber eines ist ja wohl sicher - dem werden Sie ja wohl nicht widersprechen -: Solange die SPD und die Opposition in einem Zustand, wie eben beschrieben und erlebt, sind, so lange ist sie nicht regierungsfähig.
Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler: Auf die Unterstützung der Fraktion von CDU und CSU für die weitere Fortsetzung der erfolgreichen Arbeit von Regierung und Koalition können Sie sich auch in der Zukunft verlassen.
({19})
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäuble, wenn man Ihnen zugehört hat, dann kann man nur sagen - ich habe es Ihnen vorhin zugerufen -: Krokodil, dein Name sei Wolfgang!
({0})
Ich kann Sie ja verstehen. Ich bekenne ganz offen: Wir würden es im umgekehrten Falle ähnlich halten. Nur, wenn Sie so reden und gleichzeitig die politische Kultur in Gefahr sehen und sagen, daß es hier nur noch um persönliche Rivalitäten und um Machtauseinandersetzung gehe, und dies in einer derartig durchsichtigen Art tun, dann frage ich Sie, worin der Beitrag zur politischen Glaubwürdigkeit von Ihrer Seite tatsächlich liegt.
({1})
Wissen Sie, für Sie ist ja der Bundeskanzler sozusagen in den Zustand des ewigen Lebens aufgerückt, weil es ohne ihn nicht mehr gehen wird. Das entnehme ich auch Ihren Worten. Sie haben vergessen, ihm ein recht, recht langes Leben zu wünschen, damit Sie ja nicht in die Verlegenheit, die Nachfolgefrage beantworten zu müssen, kommen. Denn das würde Ihren Laden ähnlich zerlegen, wie es die SPD in den letzten Wochen leider erlebt hat. Das wissen Sie auch ganz genau.
({2})
Ich darf Sie nur, Herr Kollege Schäuble, an folgendes erinnern - der richtige Adressat steht ja neben Ihnen -: Auf welch solidarische Art und Weise wurde denn die Frage der Nachfolge in der bayerischen Ministerpräsidentschaft geregelt?
({3})
Mit welch üblen Verdächtigungen gegen einen Konkurrenten ist denn da ein anderer vorgegangen, und welche Verdachtsmomente übelster Art wurden damals gestreut, und zwar nicht vom politischen Gegner, sondern vom innerparteilichen Rivalen, der sich dann auch noch durchgesetzt hat? Sie wissen, wovon ich rede.
({4})
Herr Kollege Schäuble, nachdem Sie sich derart engagiert über die Hannoveraner Auseinandersetzungen, über die dortigen Gewalttätigkeiten und den Krawall ausgelassen haben und gleichzeitig die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Politik, der Verletzung des Vertrauens in die Politik und der Störung der inneren Sicherheit gestellt haben, möchte ich erwidern: Ich habe seit zwei Tagen darauf gewartet, daß ein Ereignis des Sommertheaters, das bis in meinen Urlaubsort drang, hier zur Sprache kommt. Ich meine die Auseinandersetzung führender CSU-Politiker mit dem Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
({5})
Man hat dazu nicht einen Ton gehört, nicht ein Mäusepiepsen haben Sie in diesen zwei Tagen von sich gegeben, obwohl das ein regelrechter Aufruf zum Verfassungsbruch war.
({6})
- Das mögen Sie jetzt auf die bayerisch-folkloristische Schulter nehmen und sich sagen: Das darf man schon einmal machen. Ich sehe das völlig anders, mein lieber Herr Waigel. Was da gesagt wurde, war ein Anschlag auf die Gewaltenteilung.
({7})
Sie haben hinterher versucht, das Bundesverfassungsgericht an die Kette zu legen.
Diese Heuchelei - die CSU entdeckt plötzlich das Kruzifix - muß hier einmal offen angesprochen werden. Man kann ja bei diesem Urteil unterschiedlicher
Joseph Fischer ({8})
Meinung sein. Aber wir haben den religiös neutralen Staat. Wer dieses Urteil liest, der wird mitnichten das herauslesen können, was die führenden CSU-Politiker gemacht haben.
({9})
Wenn dann ausgerechnet der Vorsitzende der CSU München das Kreuz wieder als politisches Thema entdeckt - obwohl das eigentlich in die Käseschachtel hineingehört -, wenn sich diese Partei in München ernsthaft vorhalten muß, ob ihre nachrückenden Stadträte nicht besser vorher ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen,
({10})
damit klar ist, daß sie nicht zurücktreten müssen, dann muß man schon einmal die Frage stellen, wie weit diese Partei in der Auseinandersetzung mit der Gewaltenteilung noch gehen will. Wenn das die PDS oder wir gemacht hätten, hätten Sie schon längst nach einer Überwachung durch den Verfassungsschutz gerufen. Das wissen Sie nach dem, was da geäußert wurde, so gut wie ich.
({11})
Da hört meines Erachtens der Spaß auf. Wer Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die nicht passen, mit den Worten kommentiert: „Dann muß eben dieses Gericht geändert werden, denn Mehrheit ist schließlich Mehrheit, und gegen die Mehrheit darf nicht entschieden werden", der legt nicht nur Hand an die Wurzeln der Gewaltenteilung, sondern stellt auch den Kern unserer Verfassung in Frage.
({12})
Denn es gibt unveräußerliche Minderheitenrechte, die auch von einer Mehrheit nicht angegriffen werden können. Daran halten wir fest.
Eine solche Aussage hätte Ihrem Beitrag zur politischen Glaubwürdigkeit in diesem Lande, den Sie, Herr Schäuble, hier mit Krokodilstränen vorgetragen haben, schon gutgetan.
({13})
Es wäre gut gewesen, wenn Sie gesagt hätten, was Sie von diesem CSU-Theater halten. Aber ich habe nicht allen Ernstes erwartet, daß Sie sich dazu äußern.
Sie haben zwei Punkte angesprochen - zu Recht -: Die heutige Debatte wird überschattet durch den Krieg in Bosnien und den ersten Atomversuch Frankreichs im Südpazifik.
({14})
- Ich komme noch zu China und zu dem Besuch des chinesischen Präsidenten hier bei Herrn Kohl. Machen Sie sich keine Sorgen!
Herr Schäuble, es reicht nicht, hier das Bedauern auszudrücken. Unter Freunden muß man sich die Wahrheit sagen können, nötigenfalls auch in aller Schärfe.
({15})
Ich frage Sie, jenseits der Risiken für die betroffene Region, für die Menschen, für die Umwelt - das ist die Kernfrage, die auch Sie gestellt haben -: Wie soll dieses Europa eigentlich zusammenwachsen, wenn wir nach wie vor nationale Abgrenzung, nationale Souveränität ausüben und nicht begreifen, daß wir nicht mehr im Jahre 1965, sondern im Jahre 1995 sind und es hier um einen Vorgang europäischer Innenpolitik geht?
({16})
Demnach hat auch die Bundesregierung die Pflicht, mehr zu tun, als nur - wie Sie, Herr Bundeskanzler, beim Treffen mit Herrn Chirac - verschämt zu hüsteln und hier das Bedauern auszusprechen, während Sie gleichzeitig unsere Anträge ablehnen respektive sie mit Ihrer Mehrheit an die Ausschüsse überweisen, damit sie erst dort unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit irgendwann zur Abstimmung kommen.
({17})
Wenn wir eine europäische Innenpolitik wollen, dann werden wir, wie auch unsere Bündnispartner, unsere Freunde in der Europäischen Union, gemeinsam lernen müssen, daß es so etwas wie die notwendige Auseinandersetzung mit falschen Entscheidungen einer noch nationalen Regierung geben muß, ja, daß dies die europäische Pflicht ist, wenn dieses Europa demokratisch zusammenwachsen soll.
({18})
Wir sind nicht gegen Frankreich. Meine Partei war gegen einen Boykott, weil wir das als europäisch-innenpolitisches Problem ansehen. Aber wir protestieren nachdrücklich gegen diese fatal falsche Entscheidung des französischen Präsidenten. Ich möchte nochmals die Bundesregierung auffordern, endlich ihre Zögerlichkeit aufzugeben und ihre Möglichkeiten zu nutzen. Ich möchte Sie auffordern, endlich eine Protestresolution zu ermöglichen, die wir auch der französischen Nationalversammlung zustellen können.
({19})
Nun hört man in Frankreich allerdings, Herr Kohl habe zwar mit Herrn Chirac darüber geredet; man hätte sich aber gefreut, wenn er das zu dieser Frage auch mit dem chinesischen Staatspräsidenten getan hätte.
({20})
Natürlich werfen uns die Franzosen zu Recht vor:
Nach den Erfahrungen mit dem Besuch von Li Peng,
dem Schlächter vom Tiananmen-Platz - überall in
Joseph Fischer ({21})
Deutschland, in Ost und West, haben wir durch diesen Besuch eine sehr positive und menschenrechtliche Protesterfahrung gemacht; dieser Besuch ist dann an den Protesten gescheitert -, hat die Bundesregierung nichts Besseres gewußt, als den chinesischen Staatspräsidenten dieses Mal von der Bevölkerung und möglichen Menschenrechts- und Antiatomprotestlern weitgehend abzuschirmen und fernzuhalten. Worauf Sie gesetzt haben, ist, daß Sie damit ins Geschäft kommen. Das zeigt die ganze Doppelbödigkeit dieser Argumentation.
({22})
Natürlich wird Herr Chirac Sie fragen: Was haben Sie dem chinesischen Staatspräsidenten denn gesagt? Sie werden wahrheitsgetreu antworten müssen: Nicht viel; wir haben über Geschäfte gesprochen. Das ist die Politik dieser Bundesregierung. Sie machen Geschäfte mit einem Regime, das wir gerade dabei erleben können, wie es mit Gästen der Weltfrauenkonferenz umgeht - ganz zu schweigen davon, wie es mit der inneren demokratischen Opposition umgeht. Das ist die Realität in diesem Lande.
({23})
Kommen Sie mir nicht mit der These: Arbeitsplätze machen diese Kompromisse notwendig. Das sage ich auch in Richtung mancher Sozialdemokraten, die mittlerweile der Meinung sind, Jäger 90 oder anderes müsse gebaut werden können.
Wenn in diesem Land das Tabu bricht, Arbeitsplätze im Rüstungssektor, wenn sie überhaupt vorhanden sind, nur äußerst restriktiv unter dem Gesichtspunkt der Produktion besetzen zu können, dann werden wir erleben, daß das Schwergewicht dieser Argumentation - Arbeitsplätze im Rüstungssektor zu schaffen, statt die Rüstungsproduktion abzubauen - zu einem Aufblähen der Rüstungsproduktion und konsequenterweise zu einer entsprechenden Eskalation deutscher Rüstungsexporte führen wird. Deswegen sind wir entschieden dagegen.
({24})
Ich möchte - Kollege Schäuble hat es angesprochen - hier ganz offen die Frage Bosnien ansprechen. Herr Kollege Schäuble, ich sage es Ihnen ganz offen: Für mich persönlich war Srebrenica ein Wendepunkt. Warum? Wir haben - und zwar gemeinsam - immer darauf gesetzt, daß UN-Schutzzonen - so unzulänglich sie geschützt waren; sie wurden beschossen; das war nicht nur die Granate in Sarajevo; es gab Tuzla, wo viele junge Menschen ebenfalls durch eine solche Granate ermordet wurden - Hunderttausenden von Menschen das Überleben ermöglichen. Wir waren nie gegen die Einrichtung der Schutzzonen; wir waren auch nicht gegen die humanitäre Unterstützung, die die Bundeswehr da geleistet hat. Ich habe Ihnen das alles bereits nach dem Bundestagsbeschluß gesagt.
Das, was Sie hier beschlossen haben, hat die Katastrophe nicht verhindert; das müssen Sie ehrlicherweise sagen. Allein Herr Schwarz-Schilling und Marieluise Beck aus meiner Fraktion haben das hier angesprochen. Aber wenn UN-Schutzzonen, wo die Menschen auf die glaubwürdige Zusicherung vertrauen, Schutz vor der Gewalt zu finden, zur Auslieferungsstätte der dort lebenden Menschen an ihre Mörder werden, dann gerate ich in einen tiefen Grundwertekonflikt. Da mögen Sie noch so höhnen: Nachdem ich Ihnen hier zugehört habe, muß ich Ihnen sagen, daß man sich trotz allem, wenn es notwendig wird - das ist meine persönliche Überzeugung -, entweder für den Schutz der Schutzzonen oder für den Abzug und das Recht der Selbstverteidigung entscheiden muß.
({25})
Ich kann nur davor warnen, gewaltfreie Positionen aufzugeben. Was Sie hier über die französische Nuklearrüstung gesagt haben, läßt mich fragen, lieber Herr Schäuble: Warum gilt es nicht auch für die Ukraine, ein solches Abschreckungspotential vorzuhalten? Was Sie hier letztendlich unter dem Vorwand menschenrechtlicher Betroffenheit, die ich Ihnen sogar an diesem Punkt abnehme, formulieren, bedeutet, daß Sie ganz andere politische Interessen verfolgen. In Bosnien geht es nicht um eine Krise des Pazifismus, sondern um das Wiederauftauchen eines blutigen und aggressiven Nationalismus. Genau dagegen müssen wir uns wenden.
({26})
Ich sage Ihnen noch einmal: Meine Partei tut sich damit sehr schwer - das finde ich auch gut -, und wir diskutieren das öffentlich nachvollziehbar. Die Mehrheit meiner Partei ist auf Grund der deutschen historischen Erfahrungen eindeutig gegen den Einsatz von Gewalt. Wir sind jedoch in einen Grundwertekonflikt geraten, und den werden wir austragen und diskutieren, ohne daß wir uns von Ihnen mit Ihrer Häme irgendwie beeinflussen lassen.
({27})
Herr Schäuble, zu dem, was Sie heute zur Nuklearrüstung ausgeführt haben - da mußte man wirklich spitze Ohren kriegen -, kann ich Ihnen nur sagen: Die Friedensbewegung ist alles andere als unnötig geworden, bedenkt man, wohin das führen würde, was Sie vorgetragen haben.
({28})
Der Friede wird nicht kommen, es sei denn, er wird mit Gewalt herbeigeschossen. Das wäre dann kein Friede, sondern Unterjochung.
Wir müssen aber dann, wenn die Friedensgespräche beginnen, fragen, was Deutschland dazu beitragen kann. Ich frage, Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler: Wird es auf eine Anerkennung der
Joseph Fischer ({29})
ethnischen Säuberung hinauslaufen, und zwar nicht nur in Bosnien? Was wird aus den vertriebenen Serben in der Krajina? Ich glaube, die Frage der Minderheiten ist die entscheidende Frage dieses Konflikts.
({30})
Ich weiß, daß wir uns da einig sind. Deswegen spreche ich das jenseits aller Polemik an; denn die Haltung der Bundesregierung interessiert mich wirklich. Ich argumentiere nicht in polemischer Absicht oder krokodilhaft, wie der Kollege Schäuble das an diesem Punkt getan hat. Sie können die Frage, so wie sie gestellt wurde, ernst nehmen.
Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister: Was wird mit der Unterstützung für die Minderheiten? Gibt es ein Rückkehrrecht? Was tut die Bundesregierung dafür, daß es ein Rückkehrrecht gibt? Eines darf doch nicht wahr sein - dann würde der Bosnien-Krieg Europa und die europäische Einigung in seinem Kern angreifen -: Wenn sich ethnische Säuberungen, wenn sich ein aggressiver, blutiger Nationalismus dort letztendlich mit nackter Gewalt durchsetzen, dann stellt das den europäischen Einigungsprozeß insgesamt in Frage.
({31})
Ich fordere Sie deshalb auf, nichts, aber auch gar nichts zu tun, was in einem solchen Prozeß des Friedens, der Friedenserarbeitung in diese Richtung geht, sondern das ganze Gewicht - dafür werden Sie unsere volle Unterstützung haben - dafür einzusetzen, daß es einen garantierten Minderheitenschutz gibt, daß es im Rahmen dieses garantierten Minderheitenschutzes Rückkehrrechte für alle Vertriebenen gibt, auch und gerade in der Krajina.
({32})
Meine Damen und Herren, die zweite große Frage betrifft die Entwicklung in Deutschland, die Modernisierung unserer Industriegesellschaft. Nun habe ich gelesen, fünf Jahre nach der Einheit hat der Bundeskanzler die blühenden Landschaften gesichtet. Es gibt sie doch.
(
Natürlich!)
- Herr Bundeskanzler, man sieht es Ihnen an, Sie blühen ja auch, eine wahre Blüte.
({0})
- Es ist nett, daß Sie wenigstens mir konzedieren, daß ich blühe. Allen anderen haben Sie es ja abgesprochen. Wie auch immer, warten wir ab, wie die Nachwuchspflänzlein hier blühen. Das ist eine ganz andere Frage.
Sie haben die blühenden Landschaften entdeckt. Auf die Frage, die sich stellt - das wissen Sie -, würde mich die Antwort interessieren. Die entscheidende Schwäche ist, daß es im wesentlichen transferabhängig ist. Der Kollege Scharping hat die Zahlen genannt, auch das Verhältnis von Investitionen und notwendigen sozialen Ausgaben. Ich sage gar nicht, daß sie nicht notwendig sind.
Der entscheidende Punkt ist, daß die neuen Bundesländer beim Selbständigwerden unter Produktivitätsgesichtspunkten hoffnungslos im Hintertreffen sind: maximal ein Drittel eigene Wertschöpfung. Wie - das frage ich Sie, und darauf hätten wir fünf Jahre nach der Einheit gerne eine Antwort - soll dieser Prozeß der Entindustrialisierung dort rückgängig gemacht werden? Meine feste Überzeugung ist, daß ein dauerhafter Transfer, sozusagen das Entstehen eines langjährigen Mezzogiorno-Problems, auf Dauer große Probleme des inneren Zusammenhalts dieses Landes mit sich bringen wird.
Deswegen müssen Sie als entscheidende Figur in dieser Regierung die Antwort darauf geben: Was wollen Sie tun, um die Wertschöpfung in den neuen Bundesländern, sprich: um dort Arbeitsplätze, die sich selbst tragen, Unternehmen, die sich selbst tragen, in einem Ausmaß zu fördern, wie es notwendig ist, und in welchen Zeiträumen?
({1})
In diesem Zusammenhang wäre es, denke ich, sehr wichtig, daß die Bundesregierung nicht mehr wie früher einen „Bericht zur Lage der Nation", sondern - so haben wir es beantragt - einen „Bericht zur Lage der Einheit" vorlegt, damit endlich jenseits der Rhetorik anhand von harten Fakten nachvollziehbar wird, wie die Entwicklung tatsächlich ist, und damit wir uns nicht auf Ergebnissen des Transfers ausruhen. Wir müssen die Kernfrage, nämlich die Wertschöpfung dort zu erhöhen, tatsächlich immer im Auge behalten, weil - ich wiederhole es - alles andere auf mittlere Sicht das Zusammenwachsen gefährden würde.
Meine Damen und Herren, was Sie, Kollege Schäuble, zum Strukturwandel Ost und Strukturwandel West abgeliefert haben, finde ich schon beeindruckend. Sie stehen mit dem Bundeskanzler in einer heftigen Kontroverse. Der Krach bei der SPD hat es überdeckt. Sie als präsumtiver Nachfolger denken ja über die Ära Kohl hinaus. Kohl ist der Meinung, mit seiner schmalen Mehrheit und den Konflikten, die dann aufbrechen, möglichst wenig Bewegung zu zeigen; denn damit wird die nächste Wahl gewonnen. Vielleicht wird er sogar recht haben. Schäuble müßte das dann ausbaden, es sei denn, das ewige Leben kommt über ihn.
({2})
Schäuble weiß: Wenn dieser Strukturwandel verschlafen wird, dann hat er die riesigen Probleme. Genau das ist das Thema.
Wenn man sich den Haushalt 1996 anschaut, wenn man den Nebel, den Theo Waigel gestern um sich herum verbreitet hat, einmal lichtet, dann kann man Rolf Dietrich Schwartz nur zustimmen, der heute in der „Frankfurter Rundschau" schreibt:
Joseph Fischer ({3})
Seine in Zahlen ausgedrückte Regierungserklärung vernebelt allerdings mehr die Kursänderung in Richtung voriges Jahrhundert, als daß sie aufklärt über die Konsequenzen der neuen Ziele. Kürzungen im Sozialetat neben Zulagen für die Rüstungsausgaben; gut eine Milliarde Mark für den Umweltschutz, knapp 50 Milliarden Mark für die Verteidigung; immer mehr Exporthilfen für Kriegsgerät, immer weniger Entwicklungshilfe für die Dritte Welt; Bildungsförderung nach unten, Luftwaffenförderung nach oben; Umschichtungen vom sozialen Wohnungsbau zur künftigen Verkehrsruine der Magnetschwebebahn Transrapid und - nicht zuletzt - Bekämpfung der Arbeitslosen „beim Verweilen im sozialen Netz ({4}) statt der Arbeitslosigkeit.
Das ist die Realität. Da mögen Sie lachen, Herr Waigel, wie Sie wollen, das sagen die Zahlen Ihres Haushaltes, das kann man ihm entnehmen. Aber das ist nur der eine Punkt.
Der zweite, viel entscheidendere Punkt ist: Wie sehr gehen Sie auf den notwendigen Strukturwandel ein? Wenn man mit den führenden Vertretern der deutschen Wirtschaft spricht, dann kommt jedesmal ein wahres Klagelied: In Deutschland werde nicht mehr investiert, es würde sich nicht mehr rentieren, die Lohnnebenkosten seien zu hoch und ähnliches mehr. Ich frage dann jeweils: Aber ihr habt doch alle Kohl gewählt, ihr wolltet doch Kohl, ihr wolltet doch Waigel. Darauf gibt es dann keine Antwort mehr.
Ich werfe der Bundesregierung vor, daß sie die entscheidende Frage nicht beantwortet, nämlich wie wir neue Arbeitsplätze schaffen können, und zwar Arbeitsplätze, die nicht unbedingt nur in HamburgerBratereien oder im Bereich persönlicher Dienstleistungen angesiedelt sind, sondern in Bereichen mit hohem technischen Niveau und mit Zukunft.
Das Stichwort Biotechnologie wird oft genannt. Sie verlieren 4 000 oder 10 000 Arbeitsplätze in der Grundstoffchemie und bekommen in Hessen maximal 400 Arbeitsplätze bei einem Werk in der Biotechnologie.
({5})
- Wir haben überhaupt nichts vertrieben. Das wurde dort genehmigt, Graf Lambsdorff - das sollten Sie sich einmal anschauen -,
({6})
und zwar nicht von Ihnen; das ist der entscheidende Punkt.
Nach der Biotechnologie wird von Ihnen dann die Kommunikationstechnologie genannt. Da frage ich Sie: Ist die Umweltbewegung, ist die Opposition daran schuld, daß deutsche Unternehmen in der Kommunikationstechnologie weltweit kaum eine Rolle spielen? Wer trägt dafür nach zehn, zwölf Jahren Helmut Kohl die Verantwortung in diesem Lande? Sie werden sich täuschen - klinken Sie sich einmal in das Internet ein! - , wenn Sie glauben, daß in diesem Bereich viele Arbeitsplätze entstehen könnten. Das, was da gegenwärtig an Schrott sozusagen über die Datenautobahn fährt, wird teilweise nur noch von dem überboten, was Sie an Regierungserklärungen abgeben.
({7})
Die Arbeitsplätze, die Sie dort suchen, werden Sie nicht finden.
Ein Weiteres: der Transrapid. Gleichzeitig kürzen Sie die Mittel für die notwendigen Ausbaumaßnahmen im Zusammenhang mit dem Personenverkehr und dem Güterverkehr in den Ballungsgebieten. Es ist eine grotesk falsche Verkehrspolitik, die Sie betreiben.
({8})
Meine Damen und Herren, wenn Sie - leider kann ich nicht mehr detailliert darauf eingehen - den Strukturwandel hin zur umweltgerechten Industriegesellschaft verschlafen, wenn Sie mit einer Energiewende nicht Ernst machen, dann werden Sie sich nicht nur an der Umwelt versündigen, sondern dann werden Sie sich auch an der Zukunft dieses Landes als Industriestandort und an den Arbeitsplätzen versündigen. Da wären die Liberalen, Herr Kinkel, wirklich gefragt. Wann kommt denn, Herr Rexrodt - Herrn Rexrodt frage ich lieber gar nicht mehr; er wird nach der Berlin-Wahl bei den Abgeordneten sitzen -,
({9})
die Deregulierung des Stromsektors? Wann werden denn diese Monopole endlich geknackt? Wann gibt es endlich eine ökologische Energiepolitik, die den dezentralen Ansatz - was Liberale ja eigentlich vertreten müßten - tatsächlich umsetzt? Da findet man nichts. Man findet hingegen im Zusammenhang mit dem Haushalt der Bundesumweltministerin, daß an einem abenteuerlichen Projekt wie dem Forschungsreaktor Garching festgehalten wird. Dafür werden dann noch entsprechende Beträge eingestellt. Das ist, was Forschungsförderung betrifft, eine völlig falsche Richtung und zudem hochgefährlich.
Lassen Sie mich noch ein Letztes anfügen. Wir müssen Ernst machen mit der Energiewende. Wir müssen Ernst machen mit der Verkehrswende. Das alles muß aber mit einer ökologischen Steuerreform überwölbt werden. Herr Kollege Schäuble, Sie sagen, Sie würden das mitmachen. Ist das ernst gemeint? Sie sind doch die Mehrheit. Sie sollen nicht mitmachen und diese Bundesregierung hinterherschleifen, sondern Sie sind verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, es zu tun, wenn Sie es für richtig halten.
({10})
Dann müssen Sie sich halt gegen solch einen störrischen Menschen wie den Waigel durchsetzen. Es
sind doch nicht wir, die hier die Mehrheit haben.
Joseph Fischer ({11})
Wenn wir die Mehrheit hätten, wäre er nicht mehr Finanzminister. So einfach ist das.
({12})
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn wir die Strukturen unserer Gesellschaft nicht grundsätzlich erneuern - das kann nur in Richtung umweltverträgliche Industriegesellschaft gehen, weil das weltweit der Gesellschafts- und Produktionstyp von morgen sein wird -, dann werden wir die entscheidenden Herausforderungen verschlafen. Voraussetzung dafür ist, daß noch in diesem Jahr mit einer fundamentalen Änderung unseres Steuersystems hin zu einer ökologischen Steuerreform Ernst gemacht werden muß, meinetwegen Schritt für Schritt und sicherlich kostenneutral.
Der abenteuerliche Unfug, daß wir Arbeit verteuern und gleichzeitig den Umweltverbrauch oder gar die Umweltzerstörung verbilligen, muß ein Ende haben. Denn wenn wir daran festhalten, dann vertun wir die Zukunft. Wir müssen jetzt umkehren. Da sind Sie als Mehrheit mit Ihrem formidablen Bundeskanzler gefragt.
({13})
Auf der Tribüne hat der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1984, der Erzbischof von Kapstadt, seine Exzellenz Desmond Tutu, mit seiner Gattin und seiner Delegation Platz genommen,
({0})
zusammen mit unserem niederländischen Kollegen Nico Scholten.
({1})
Exzellenz Tutu, wir haben mit Bewunderung Ihren jahrzehntelangen Kampf um die Bewahrung der Menschenrechte im südlichen Afrika verfolgt. Ich denke, daß Sie gemeinsam mit Präsident Mandela und dem damaligen Präsidenten Frederik de Klerk Erfolg gehabt haben. Das auf einem friedlichen Wege durchzusetzen gehört zu den großen Ereignissen unseres Jahrhunderts.
({2})
Es ist uns eine Ehre und Freude, Sie in unserem Hause heute begrüßen zu können.
({3})
Ich erteile nun dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede Opposition versucht natürlich, in einer Haushaltsdebatte Bilder eines Landes zu zeichnen. Ich glaube nicht, daß die beiden Sprecher ein zutreffendes Bild unseres Landes mit seinen Problemen, mit seinen Herausforderungen, aber auch mit seinen Chancen gezeichnet haben.
({0})
Wir sind nicht auf dem Weg zu einer Zweidrittelgesellschaft, nicht auf dem Weg zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und auch nicht auf dem Weg zu außen- und verteidigungspolitischen Abenteuern. Wir sind verläßliche Partner im Bündnis mit demokratischen Staaten. Wir haben den größten Erfolg in der Geschichte Deutschlands dieses Jahrhunderts hinter uns. Angesichts der Anwesenheit des Friedensnobelpreisträgers sage ich, daß die Freiheit für 17 Millionen Deutsche mehr wert ist als ein Haushaltsproblem und die Debatte um mehr oder weniger als 5 Millionen DM im Etat eines Einzelplans.
({1})
Ich weise deshalb darauf hin, weil wir eigentlich der größte Gewinner der großen, dramatischen politischen Veränderungen der letzten Jahre sind. In Bautzen sitzen keine politischen Gefangenen mehr. Mittelstreckenwaffen, die früher auf beide Teile des geteilten Landes gerichtet waren, sind weg. Die Soldaten sind ohne einen Schuß abgezogen, und für 17 Millionen Menschen beginnt jetzt die große Chance eines Wiederaufbaus, der nicht nur negative Seiten hat, sondern schon heute erhebliche positive Seiten zeigt. Das ist die Lagebeschreibung in unserem Land.
({2})
Das ist jetzt fünf Jahre her. Das ist nicht ein alleiniges Verdienst der Bundesregierung, aber die Bundesregierung hat in dieser geschichtlichen Situation die Chance am Schopf ergriffen und einen soliden Einigungsvertrag gemacht, der kein Dokument ideologischen Denkens ist, sondern die Chance zu Eigentum, zu Demokratie und Rechtsstaat für 17 Millionen Menschen ist. Das ist eine gewaltige Leistung gewesen, an der wir unverändert festhalten.
({3})
Eines muß auch klargestellt werden angesichts derer, die politisch anders denken als ich. Nicht die Treuhand hat die Wirtschaft der DDR ruiniert, sondern ein System hat diese Wirtschaft auf Grund gefahren.
({4})
Das war auch kein freiheitlicher Staat. Er war nicht so schön zu beschreiben wie eine Gesellschaft im Biedermeier, die sich die Nischen suchte. Schon im Biedermeier hat Metternichs Repression die Menschen erreicht. Auch die Nischen in Dresden waren von der Stasi-Überwachung nie frei.
Die heutige Situation ist doch eine politische Leistung, die wir gemeinsam erreicht haben, die wir gewollt haben - vielleicht einige nicht so schnell. Aber im Grunde ist das eine Leistung, die uns auch einmal wieder Prioritäten vermitteln sollte. In Deutschland hat Freiheit nie eine große Konjunktur gehabt. Herr Kollege Fischer hat dies einmal in der Bosnien-DeDr. Wolfgang Gerhardt
batte in anderem Sinne dargestellt. Wir haken es schon ab. Wir vergessen, daß 17 Millionen Menschen die Freiheit haben und wenden uns sogleich ausschließlich den Alltagsproblemen zu.
Ich finde, es muß bei allen Arbeitslosenproblemen, bei allen Ausbildungsproblemen, die wir haben, und bei allen Notwendigkeiten zur wirtschaftlichen Entwicklung darauf hingewiesen werden, daß das Wertvollste ist, daß Menschen frei ihre Meinung äußern können, daß sie frei reisen können, daß sie überhaupt Alternativen haben, ja daß sie öffentlich frei denken können. Das ist die Leistung der Politik.
({5})
Im übrigen gibt es auch in Deutschland bei allen Problemen ganz gute Entwicklungszahlen in den neuen Ländern. Für 1995 wird ein reales Wachstum von 9,2 % geschätzt. Die Aussage zu den Exporten liegt bei 12,9 % plus reales Wachstum für ostdeutsche Produkte. Es geht doch ein Stück aufwärts. Wer diese Zahlen nennt, beschönigt doch keine Probleme, aber er stellt Wahrheiten dar. Immer muß man Menschen motivieren, daß wir es schaffen können. Man kann nicht ausschließlich die Botschaft vermitteln, es gehe alles schief;
({6})
denn wir wollen in den neuen Ländern ein Stück Mut und Zuversicht vermitteln.
Im übrigen geschieht das alles, Herr Kollege Scharping, ohne daß in diesem Land jemand an den Bettelstab käme. Der Bezug von Sozialhilfe ist nicht schön, aber sie bedeutet mehr als nichts und ist eine gewaltige sozialpolitische Leistung, um Menschen davor zu bewahren, ins Nichts zu verfallen. Sozialhilfe und auch die gewaltigen Summen, die wir ausgeben, können nur bezahlt werden, weil dieses Land mit seinen politischen Rahmenbedingungen, die eine Leistung dieser Koalition sind, Menschen ermuntert, etwas zu tun, sie ermutigt, Risiken einzugehen und dazu veranlaßt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Das jedenfalls veranlassen wir doch durch unsere Politik.
Man kann hinterher über verschiedene Bewertungen sprechen, aber man kann sicherlich sagen: Unser Land ist nicht auf einem Weg in die Armut, in die Umweltzerstörung und in Abenteuer. Unser Land hat eine solide Grundlage, und wir arbeiten zusammen nach dem größten Erfolg der Politik in der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert. Wir haben alle Chancen, das zu bewältigen.
Wir haben ein Arbeitskräftepotential, das gut ausgebildet ist. Wir haben Menschen, die Mut haben, die in den neuen Ländern Verantwortung übernehmen können. Wir haben doch eher den Ärger, daß sie noch nicht die Chancen haben, so viel Verantwortung zu übernehmen, wie sie wollen. Vor uns steht doch ein positiver Abschnitt deutscher Geschichte und nicht ausschließlich Weinen und Wehklagen. Das ist die Haltung, die auch die Koalition einnimmt und die sie befürwortet.
Ich beschreibe das einmal ganz einfach. Natürlich gibt es Arbeitslosigkeit. Es gibt Beschäftigungsprobleme, um deren Lösung wir uns kümmern müssen. Aber in diesem Haushalt ist eine gewaltige Leistung vollbracht worden, indem eine Freistellung des Existenzminimums und ein Familienleistungsausgleich erreicht worden sind. Da geht es um Milliardensummen.
In diesem Haushalt stehen Förderprogramme für die neuen Länder, für den gewerblichen Mittelstand. Das Eigenkapitalhilfeprogramm ist aufgestockt worden. Es ist eine Entscheidung in dem Bereich des mittelständischen Groß- und Einzelhandels getroffen worden. Es gibt die Kombination mit den EU-Programmen. Die KfW sagt, daß sie den neuen § 7 a des Fördergebietsgesetzes, durch den sie nach dem Vorbild der ehemaligen Berlin-Darlehen 500 Millionen DM zur Eigenkapitalstärkung weitergeben kann, für gut hält.
Wir haben in den neuen Ländern 140 neue außeruniversitäre Forschungsinstitute, 10 neue MaxPlanck-Institute, 24 Institute der Blauen Liste, 3 Großforschungseinrichtungen, 27 universitäre Arbeitsgruppen. Das ist doch nicht ein Nichts, das ist doch der Beginn einer Wissenschaftslandschaft! Das ist nicht nur eine verlängerte Werkbank, sondern der Beginn von Forschung und Entwicklung in den neuen Ländern mit allen Chancen, die dahinterstekken, und mit allen Möglichkeiten.
({7})
Wir geben im Jahr 1 Milliarde DM für Projektförderung aus, 1 Milliarde für institutionelle Förderung. Wir haben im übrigen schon hervorragende Ergebnisse: in den Geowissenschaften in Potsdam, in der molekularbiologischen Forschung in Berlin.
Herr Kollege Fischer, an dieser Stelle beginnt meine Kritik an Ihnen. Sie haben, was Forschung und Entwicklung, Biotechnologien betrifft, eher die Haltung der Angst. Wir haben eher die Haltung der Zuversicht. Sie haben den Glauben, Sie könnten wissenschaftliche Neugier untersagen.
({8})
Wir wissen aus der Geschichte: Das wird niemals gelingen. Nur Menschen entscheiden über die Handhabung von Forschungsergebnissen und die Möglichkeit, etwas zu erforschen, niemand anders und keine staatlichen Ge- und Verbote.
({9})
Wenn wir in unserem Land in den Forschungsansätzen freier, entideologisierter und nicht weiter so engstirnig wären, hätten wir viel größere Chancen in der Entwicklung, Industrien bei uns zu erhalten und zum Entstehen zu bringen, die wir für die Zukunftsfähigkeit sicher brauchen.
({10})
Es ist eben ein Unterschied, ob man die Technologie bejaht oder ob man nur vor den Folgen warnt und die Folgen des Verzichts nicht im Auge behält.
Es ist nicht nur eine Frage, ob man große und kleine Anbieter bei der Öffnung des Marktes in der Telekommunikation hat, es ist die Voraussetzung für Beschäftigung in der Zukunft, an Stelle des Monopols der Telekom endlich viele Anbieter regionaler und lokaler Netze auf dem Markt zu haben und nicht nur einige EVUs, die sich aus ihrem Monopolbereich heraus in einen anderen hineinbegeben. Wir wollen die Chancen für mittelständische, für mittlere und kleinere Unternehmen und für Beschäftigung in Deutschland.
({11})
- Sehr schön! Wir können das dann in den politischen Debatten beobachten.
({12})
Seit Jahren trägt meine Partei, die F.D.P., im Deutschen Bundestag, in der Koalition vor, daß wir die Gewerbekapitalsteuer für eine Substanzbesteuerung von Unternehmen halten, daß sie die Schaffung von Arbeitsplätzen behindert, da sie schon gezahlt werden muß, wenn noch überhaupt kein Gewinn gemacht worden ist. Wir tragen seit Jahren unter heftiger Beschimpfung von Sozialdemokraten vor, daß es doch gut wäre, diese Steuer abzuschaffen, wenn man die Beschäftigung in Deutschland stimulieren will.
({13})
In diesem Herbst hat Herr Struck zum erstenmal signalisiert, daß es jetzt wohl gehe. Das heißt, es ist jetzt eine Situation eingetreten, Herr Kollege Scharping, in der wir neue Chancen nutzen und die strukturellen Veränderungen aufnehmen müssen.
Es gibt eigentlich nur ein Land, in dem es politische Gruppierungen gibt, die glauben, daß man durch weniger Arbeit mehr Produktivität erziele. Es gibt kein anderes Land auf der Welt, in dem nicht über flexible Beschäftigungsverhältnisse geredet würde, in dem nicht über Arbeitszeiten geredet würde, in dem nicht Jahresarbeitszeitbudgets diskutiert würden. Namhafte Sozialdemokraten mahnen einen Modernisierungsschub in ihrer eigenen Partei an. Die heutige Debatte zeigt doch, daß Sie mehr Auskünfte geben müssen als wir.
Unsere Politik zielt auf den strukturellen Wandel. Wir wollen mit dem Haushalt diese Bewegung bringen. Wir wollen Märkte öffnen. Wir wollen deregulieren. Wir wollen den Staat verschlanken, das öffentliche Dienstrecht reformieren, Genehmigungsverfahren verkürzen. Auf Ihrer Seite sitzen die Tabuwächter, vor allem in Gestalt von Herrn Dreßler, die mit jedem Totschlagargument kommen, wenn auch nur eine neue Idee präsentiert wird, wie wir bei der Beschäftigung in Deutschland vielleicht weiterkämen.
({14})
Natürlich kann eine Regierung kritisiert werden, wenn sie Haushaltsansätze nicht ausreichend bringt. Eine Regierung ist nicht unangreifbar. Aber Tatsache ist, daß wir in diesem Land nicht ausschließlich sagen dürfen, Tarifverhandlungen sind gut, wenn sie Ergebnisse bringen, die dem sozialen Frieden dienen. Tarifverhandlungen müssen auch Beschäftigung animieren und beschäftigungswirksam sein.
({15})
Nur beides macht den Erfolg aus. Leider kann man sehr offen sagen, daß eine Kette von Tarifverträgen nicht immer beschäftigungswirksam in Deutschland war und daß in der eigenen Verantwortung der Tarifvertragsparteien nicht immer dieses Ziel erreicht wurde. Es gibt Tarifverträge, die jede Produktivität überschritten und die Betriebe überfordert haben. Jeder weiß, daß mittelständische Betriebe den Verbänden davonlaufen, weil sie in den großen Flächen und in den großen Regionen keine Luft zum Atmen mehr haben.
Der Koalition geht es nicht um das Abschneiden von sozialen Sicherungssystemen.
({16})
Uns geht es aber um neue und mobile Wege für mehr Beschäftigung, weil die beste soziale Sicherheit ein Arbeitsplatz ist und nicht Arbeitslosenhilfe und nicht der zweite Arbeitsmarkt. Das ist der klare Unterschied zu all dem, was hier gesagt worden ist.
({17}) Das ist eben die Deregulierung.
Nehmen wir das Beispiel in einer ideologisierten Beschäftigungsdiskussion. Sie wissen wie ich, daß bei Sozialdemokraten und Grünen - einen grünen Verbündeten habe ich ja in Hessen, Herr Kollege Fischer, Ihren Fraktionsvorsitzenden Hertle - eine andere Auffassung besteht. Sie wissen, daß die Lebenswirklichkeit in Deutschland auch darin besteht, daß Menschen mit 580-DM-Verträgen arbeiten. Das sind nicht alles geknechtete Menschen. Da sind viele darunter, die möchten das so. Sie wollen sich auch so etwas dazuverdienen. Sie fragen sogar an, ob das nicht so möglich ist. Ich sage Ihnen, wenn die Lebenswirklichkeit solche Beschäftigungen ermöglicht, bin ich dafür und bin nicht für Abstrafung dieser Beschäftigungen, mit welchem Motto auch immer.
({18})
Ich finde, daß es wichtig ist, daß man nicht den Versuch macht, die Menschen völlig zu ändern. Es fühlen sich auch viele, die etwas dazuverdienen, in diesen Beschäftigungsverhältnissen wohl. Es ist auch verständlich, Herr Fischer - Sie haben es selbst gesagt, Oberkante Unterlippe -, daß bei der Steuerbelastung, die wir haben, jemand so eine Beschäftigung sucht, um einer weiteren Steuerbelastung zu entgehen.
({19})
Mich freut es, wenn die Menschen Beschäftigung haben. Ich ärgere mich nicht darüber, daß man ihnen jetzt nicht steuerlich nachkommen kann. Im übrigen müssen Sie wirklich einmal sehen, daß, wenn die Bundesversicherungsanstalt für einen Rentenanspruch von 6,31 DM pro Jahr einen monatlichen Beitrag von 107 DM berechnet, dies doch absurd ist.
Lassen Sie doch die Menschen, die in diesen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten wollen, auch in ihnen arbeiten. Deshalb wehren wir uns, daß jetzt ganze Landesregierungen mit dem moralischen Zeigefinger kommen und sagen, das müßte man beseitigen. Das gilt auch für das berühmte Dienstmädchenprivileg. Es gibt eben Frauen, die hochclever und klug sind, mit guter Lebenserfahrung ausgestattet, die gerne einen Haushalt führen, die gerne eine Beschäftigung ausführen würden zum Management in einem Haus. Lassen wir sie doch, wenn man solche Beschäftigungen in unserer Gesellschaft anbieten kann, anstatt sie zu beschimpfen und das nicht wahrzunehmen.
({20})
- Ich wußte, daß Sie sich so aufregen. Ich bleibe aber trotzdem dabei. Frau Matthäus-Maier, zwischen Ihnen und mir besteht ein Unterschied: Sie versuchen Macht über das Denken von Menschen zu gewinnen, indem Sie Argumente vortragen, an die Sie selbst nicht glauben, und nur auf Wirkung warten. Ich versuche die wahre Lebenswirklichkeit von Menschen in Deutschland zu beschreiben. Das ist der Unterschied.
({21})
Wir wollen für die F.D.P. sagen: Wir haben so viele Veränderungen. Mit unseren bisherigen Tarifverhandlungen, mit unserem bisherigen Beschäftigungssystem, mit unserer Hinnahme - sehenden Auges - der Entwicklung der Lohnnebenkosten werden wir Arbeitsplätze aus diesem Land eher vertreiben als schaffen. Deshalb ist es das Gebot der Stunde, wie wir es machen wollen: zu deregulieren, zu öffnen, ein Stück mehr Flexibilität zu bekommen, konkurrenzfähige Unternehmensbesteuerung vorzunehmen, niedrigere Lohnnebenkosten zu erreichen. Das wird auf der Seite der Politik und der Tarifvertragsparteien geklärt werden müssen. Nur niedrigere Lohnnebenkosten heißt, eine offene Diskussion zu führen, wer am Entstehen von Lohnnebenkosten beteiligt ist, wer sie zu verantworten hat, wie wir sie zumindest nicht explosionsartig weiter steigen lassen müssen. Denn es gibt zwei Wettbewerber: einmal andere, die billiger als wir produzieren, und dann die junge Generation, die bei uns für die Zukunft Arbeitsplätze nachfragt. Wer glaubt, der jungen Generation ehrlicherweise sagen zu können, es soll so bleiben, wie es ist, nichts soll sich ändern, es soll immer nur kürzere Arbeitszeiten und mehr Lohn geben, der soll das vertreten. Er betrügt die junge Generation in Deutschland um ihre Zukunft.
({22})
Deshalb muß hier die ethische Frage gestellt werden, wer eigentlich die größeren Chancen für die Zukunft anbietet.
Es sind außenpolitische Bemerkungen von Herrn Kollegen Scharping und von Herrn Kollegen Fischer gemacht worden. Ich bin immer froh, wenn heute, nachdem wir am 30. Juni noch streitig diskutiert haben, etwa zwischen den Grünen und mir unstreitiger diskutiert werden kann. Aber eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen: Wir haben damals recht gehabt. Ich glaube, wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Wir haben sie nach heftiger und schwieriger Debatte auch mit Stimmen aus den Reihen der Grünen und der Sozialdemokraten getroffen. Heute müßten Sie eigentlich die Größe haben, zuzugeben, daß Sie sich damals geirrt haben, daß wir wohl richtig entschieden haben. Zumindest müßte die moralische Dimension des Vorwurfs, wir würden in ein außen- und verteidigungspolitisches Abenteuer gehen, heute herausgenommen werden. Ich habe das Gefühl, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben diese Koalition bei der Bundestagswahl zu Recht mit Mehrheit gewählt.
({23})
Bei der Juni-Entscheidung hat sich gezeigt, daß diese Wahl richtig war.
Das ist nun noch nicht zu Ende. Aber die Chance für eine politische Konfliktlösung ist heute eher gegeben als vor unserer Entscheidung und auch vor den Entscheidungen der NATO. Ich erwähne das deshalb, weil wir uns in der Innenpolitik manche Fehler leisten können. Viele sollten wir uns nicht leisten, aber Fehler in der Innenpolitik sind erträglich, wenn wir nach einer Entscheidung sagen: Das war wohl doch nicht so richtig. In der deutschen Außenpolitik darf man sich möglichst keinen Fehler erlauben. Der Bundeskanzler hat es einmal so ausgedrückt: Weil es ein Kernbestand der erfolgreichen Geschichte unseres Landes ist, ist Außen- und Bündnispolitik für Deutschland Staatsräson. Italien mag sich einige Sonderwege leisten können, auch unsere französischen Nachbarn, wie wir sehen, können manche Entscheidungen treffen: Wir können das nicht. Wir sind auf das Vertrauen der internationalen Völkergemeinschaft am stärksten angewiesen: wegen unserer geographischen Lage und wegen unserer Geschichte. Wer das nicht begreift, der sollte in Deutschland keine Regierungsverantwortung haben.
({24})
Das ist der Kern dieser wichtigen Entscheidung. Deshalb sage ich das in Richtung sozialdemokratische Partei. Herr Verheugen wollte im Sommer alles streitig stellen.
({25})
Ein Parteiprogramm erreicht seine Grenze dann, wenn man weiß, daß man Regierungsverantwortung in Deutschland übernehmen will. Dann kann man nicht in Parteiprogramme schreiben und auf ParteiDr. Wolfgang Gerhardt
tagen nicht beschließen, was die internationale Völkergemeinschaft und unsere Verbündeten irritiert.
({26})
- Sie haben schon eine gewaltige Dimension der Nichtfähigkeit zur Übernahme internationaler Pflichten erreicht.
({27})
Ich finde, die großen politischen Gruppierungen haben alle Kraft zusammenzunehmen, den Bürgern unseres Landes beizubringen, daß die Zeiten des Windschattens von Mauer und Stacheldraht bei den gegenwärtigen internationalen Herausforderungen vorbei sind und daß wir uns einigen Problemen nicht durch Wegschauen entziehen können. Sie machen die Leute glauben, sie könnten sich dem durch Wegschauen entziehen. Wer Ihren saarländischen Ministerpräsidenten zum Thema Blauhelme reden hört und abschnittsweise seine Aussageunfähigkeit zu anderen Themen mitbekommt, wo es ernst wird, der muß sagen: Solange dieser Zustand bei Ihnen so bleibt, sollte Sie die Mehrheit der Bürger nicht mit Regierungsverantwortung in Deutschland beauftragen. Wir wollen das mit unserer Beteiligung auch so halten.
({28})
Die Opposition in diesem Hause ist in Kernfragen der deutschen Außenpolitik, in schwierigen Fragen, wenn es ernst wird, wenn man zu etwas stehen muß, nicht auskunftsfähig. Das hat der heutige Vormittag gezeigt.
({29})
Die ökologische Dimension ist vorgetragen worden, Herr Kollege Fischer. Das nehmen wir gerne auf. Wir haben uns verabredet, im Herbst über ökologische Steuerungselemente zu reden. Wir haben auch der SPD das Gespräch angeboten. Sie, Herr Fischer, haben neulich erwähnt, daß Sie zu der Erkenntnis gekommen seien, daß das nicht mit Draufsatteln ginge. Vielmehr müsse man vorher wissen, wo die steuerliche Entlastung herkommen solle. Sie sind allmählich zum echten Minderheitensprecher bei den Grünen geworden.
({30})
Denn Sie haben darauf hingewiesen: Ob das bei allen so sei, sei noch nicht sicher. Ich sage nur eines: Wir sind bereit, über ökologische Steuerungselemente zu reden. Aber wir sind nicht bereit, über diese Elemente zu reden, bevor nicht auch klargeworden ist, wo wir andere Steuern senken.
({31})
Es geht nämlich nicht um Draufsatteln, es geht um Umsteuern, wenn wir etwas unternehmen.
({32})
Deshalb ist das der Weg der Koalition. Es gibt zu diesem Vorgehen bei einer Steuerbelastung Oberkante Unterlippe, wie Sie sich ausdrücken, keine Alternative. Dann bemächtigen Sie sich aber argumentativ soweit Ihrer Bündnisgrünen, Herr Kollege Fischer, daß die nicht nahezu jeden Tag eine neue Steuer erfinden, bevor sie überhaupt gesagt haben, wo die Steuerbelastung heruntergehen soll.
({33})
Diesen Weg können wir nicht beschreiten.
Wir wollen überhaupt nicht bestreiten, daß wir in dieser Koalition Haltungs-, Meinungs- und Bewertungsunterschiede haben. Etwas anderes wäre auch unnatürlich. Drei Parteien bilden die Koalition. Es ist überhaupt keine Frage, daß wir Reibungspunkte und viel Arbeitsbedarf in Bereichen der Innen- und Rechtspolitik haben.
({34})
Wir haben vereinbart, im Jahr 1996 die Gesetze aus der letzten Legislaturperiode zu überprüfen. Wir werden das objektiv tun und werden dann entscheiden, wo Handlungsbedarf besteht.
Es ist auch klar, daß wir im Staatsbürgerschaftsrecht gerne weitergehen würden.
({35})
- Ich komme dazu. - Wir haben immer erklärt, daß wir für die Kinder der dritten Generation einen weiteren Schritt brauchen und daß das eine große Geste dieses Landes wäre. Wir wissen, daß das der Koalitionspartner anders sieht.
({36})
Wir sind weiterhin in Gesprächen.
Es ist auch in einer Koalition viel Reibung, weil sich natürlich ein enormer Arbeitsbedarf ergibt. Es gibt auch Ermüdungserscheinungen,
({37})
weil manche Verhandlungsrunden genauso sind wie im richtigen Leben. Aber eines ist dann auch klar: Wir sind ein Partner, der in dieser Koalition auch seinen Erfolgsteil hat.
Wir sind auch ein Partner, der dann, Herr Kollege Fischer, wenn es um das Thema der weltanschaulichen Neutralität des Staates geht, Stellung nimmt.
Ich habe das Verfassungsgerichtsurteil begrüßt. Dennoch sage ich dazu: Klüger, entschiedener und klarer von Anfang an hätte das Verfassungsgericht das behandeln können.
({38})
Wir werten aber - das füge ich hinzu - jemanden, der christlicher Lebensüberzeugung ist, nicht ab. Ich habe hohen Respekt vor Glaubensintensität und vor Engagement. Nur, ich sage dazu: Dieser Staat hat nun einmal weltanschauliche Neutralität zu vertreten. Meines Erachtens ist das sogar ein Schutzrecht für die Konfessionen; denn die Konfessionen haben dadurch Schutz, daß der Staat sich nicht in ihre Belange einmischt, sondern heraushält.
({39})
Wir sind auch mit Erscheinungsformen konfrontiert, die aus unserer Sicht nicht mehr in die heutige Zeit passen. Die französischen Atomversuche sind ein Stück alter Politik. Sie führen überhaupt nicht weiter. Wir wissen aber auch, daß in den politischen Auseinandersetzungen der heutigen Tage sich Nationen und Nachbarn nicht anders als durch das Wort und durch das Argument ihre Meinung sagen sollten. Das habe ich für meine Fraktion ausgedrückt; zu jeder Stunde wiederhole ich das, und ich teile es jedem, der es hören will, mit. Die Bundesregierung hat die französische Regierung wissen lassen, wie unsere Haltung ist.
Es gibt einen Bewertungsunterschied in der Frage, ob wir hier noch mit einer Resolution nachfassen sollten. Ich finde, man sollte Nachbarn im freien Wort und in freier Debatte seine Auffassung zu diesem Vorgang sagen. Nicht unbedingt müssen Resolutionen beschlossen werden, die dann auch psychologisch bei den Nachbarn und bei befreundeten Nationen und deren Regierungen vielleicht doch nicht so gut wirken.
({40})
Wir haben in der Koalition vor, uns in diesem Herbst über Steuerreduzierungen Gedanken zu machen. Es gibt einen Bewertungsunterschied, was den Solidarzuschlag betrifft. Er ist einer auf Zeit, er ist kein Jahrhundertvertrag. Wir haben vereinbart, ihn jährlich zu überprüfen. Wenn es die wirtschaftliche und finanzielle Lage hergibt - der Finanzminister hat das gestern erklärt -, kann man in einem Zeitrahmen, der nach unserem Wunsch 1997, nach seiner Feststellung 1998 bedeutet, mit der Reduzierung des Solidarzuschlags beginnen. Das können wir ganz objektivierbar in der Koalition machen.
Wir wissen, daß wir jetzt auch noch eine gewaltige Wegstrecke im Spannungsfeld von Freiheit, Verantwortung und Recht vor uns haben. Das ist nicht mit einfachen Lösungen zu bearbeiten. Die zunehmende Gewalt in unserer Gesellschaft ist nicht nur mit neuen Gesetzen zurückzudrängen, und der Schutz des Bürgers durch den und im Staat läßt sich manchmal nicht ohne kontroverse Diskussion bewerkstelligen.
Eines sage ich aber für die Freie Demokratische Partei: Auch bei unterschiedlichen Bewertungen von Fragen einzelner Gesetze gibt es überhaupt keinen Unterschied in der Haltung, Kriminalität zu bekämpfen, alles zu tun, um Gewalt entgegenzutreten und Rechtsbrecher in diesem Land vor Gericht zu bringen. Das ist ganz eindeutig.
({41})
Wir haben viel Arbeit. Es gibt Probleme. Wir haben aber auch große Chancen. Diese Koalition hat bedeutende Herausforderungen großartig gemeistert. Sie hat die deutsche Einheit eingebettet. Sie hat notwendige Entscheidungen getroffen, um ein Zusammenwachsen zwischen Ost und West zu ermöglichen. Sie legt jetzt einen ernsthaften Sparhaushalt vor. Sie will solide finanzwirtschaftliche Bedingungen für die Zukunft haben. Sie hat auch die Sommerpause recht gut hinter sich gebracht. Nach meiner Einschätzung war das die beste Sommerpause, die je eine Regierung in Deutschland hinter sich gebracht hat. Wir haben uns dabei ganz gut erholt, und die Richtung stimmt.
({42})
Wir werden weiter dafür eintreten, daß die deutsche Außenpolitik mit Klaus Kinkel an der Spitze europäisch eingebettet und weltoffen bleibt und daß wir in den internationalen Bündnissen auch unsere Pflichten wahrnehmen.
Wir werden einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs zu produktiven Arbeitsplätzen am ersten Arbeitsmarkt steuern. Wir wollen Belastungen reduzieren, und wir wollen den Weg der ökologischen Verantwortung am Markt statt des Staatsdirigismus gehen.
({43})
Wir wollen in dieser Koalition Forschungs- und Qualifizierungsanstrengungen zum Schutz der Umwelt unternehmen, zur Verbesserung der Produkte und der Produktion, und wir wollen in der Mitfinanzierung für den beruflichen Einstieg der jungen Generation eine erste Chance in der Aufstiegsfortbildung geben.
Wir gehen auch auf dem Weg der Privatisierung und Entbürokratisierung weiter. Wir wollen verkürzte Genehmigungsverfahren, die Reform des öffentlichen Dienstes. Wir wollen aber dann die tatsächliche Privatisierung in den Bereichen Bahn und Post und nicht nur eine organisationsrechtliche.
({44})
Das muß in dieser Legislaturperiode erledigt werden.
Wir setzen im Kern - und das ist unser Unterschied zur versammelten Opposition - eher auf die Verantwortung des einzelnen, weil wir wissen: Für die künftige Freiheit und den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes brauchen wir Tugenden, die eine innere Demokratie stabilisieren. Das sind Selbstvorsorge und Eigenverantwortung, das ist das Leistungsprinzip, das ist die Toleranz.
Solche Verhaltensweisen zu stützen und zu belohnen und zu ihnen zu ermuntern - das ist die Aufgabe von Politik in Deutschland. Das sind notwendige Haltungen in einer Demokratie. Sie müssen gesichert werden, um denen helfen zu können, die sich nicht ausreichend selbst helfen können. Das ist im Kern das tiefe moralische Ziel von Politik, weil wir in Deutschland wissen, daß Demokratie immer gefährdet ist, wenn wir große Verwerfungen haben.
({45})
Die Koalition hat diese Aufgabe bisher mit Erfolg auf ihrem Weg gemeistert. Herr Kollege Schäuble, wir wollen das auch vertrauensvoll in guter Zusammenarbeit fortsetzen. Mich beschleicht das tiefe Gefühl, daß sich erst jetzt, auch in der heutigen Debatte, in dem Zustand der Opposition das, was wir tun, rechtfertigt: Die Bürger haben zu Recht diese Regierung haben wollen,
({46})
und wir wollen diesen Wählerwillen respektieren. Auf gute Zusammenarbeit!
({47})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 3. Oktober 1995 jährt sich zum fünftenmal die staatliche Vereinigung Deutschlands. Zu Recht haben viele Menschen in den neuen Bundesländern immer wieder beklagt, daß ihnen im wahrsten Sinne des Wortes ohne Rücksicht auf Verluste einfach das westliche System übergestülpt wurde, daß es eben keine Vereinigung im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war.
Die Veränderungen, die seit 1990 für die Menschen in den neuen Bundesländern eingetreten sind, sind höchst unterschiedlicher Natur. Sie haben positive und negative Erfahrungen gemacht. Für die Mehrheit der Bevölkerung in den alten Bundesländern hat es seit der Vereinigung dagegen nur nachteilige Entwicklungen gegeben.
Zunächst zu den neuen Bundesländern. Unstrittig ist, daß es dort inzwischen ein Maß an politischen Rechten und Freiheiten gibt, wie es in der DDR bis 1989 nicht vorstellbar war. Allerdings muß der Korrektheit halber hinzugefügt werden, Herr Gerhardt, daß diese zunehmenden politischen Rechte und Freiheiten von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR bereits Ende 1989 erkämpft worden sind und nicht erst durch die Vereinigung am 3. Oktober 1990.
({0})
Aber die Vorzüge lassen sich auch gar nicht auf diese Frage reduzieren. Anerkannt werden muß, daß es inzwischen ein Angebot an Kunst, an Dienstleistungen und an Waren gibt, was ebenfalls bis 1989 so nicht vorstellbar war. Auf der Haben-Seite stehen darüber hinaus Infrastrukturentwicklungen von beachtlichem Ausmaß. Hierbei denke ich nicht nur an die Gestaltung von Stadtzentren, sondern auch an die Entwicklung von Telekommunikation in einem Umfang, wie ihn die DDR auch in Jahrzehnten nicht erreicht hätte.
Das Problem ist nur, daß viele Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR dies alles mit einem von ihnen eben auch nie gekannten Grad an sozialer Unsicherheit bezahlen müssen. Niemand konnte sich real vorstellen, was Massenarbeitslosigkeit bedeutet, und die Bevölkerung ist heute täglich damit konfrontiert. Niemand konnte sich real vorstellen, was es bedeutet, daß selbst ein eingenommener Arbeitsplatz nie sicher ist und welche Art von Druck und Disziplinierung davon ausgeht.
Ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Es ist eine Realität, daß die Bürgerinnen und Bürger in der DDR in ihren Betrieben freier waren als heute, in der Öffentlichkeit allerdings wesentlich unfreier. Sie wollen die Alternative, entweder politische Rechte und Freiheiten und damit auch soziale Unsicherheit oder soziale Sicherheit, dann aber wenig politische Rechte und Freiheiten, nicht akzeptieren.
({1})
Für demokratische Sozialistinnen und Sozialisten ist das auch nicht akzeptabel. Wir werden für eine Gesellschaft kämpfen, in der beides miteinander verbunden ist,
({2})
etwa nach dem Motto: Es genügt nicht nur, in der Kneipe das Maul aufreißen zu können, wir wollen gerne, daß man es auch im Betrieb kann. Das konnte man bei uns früher, dafür nicht in der Kneipe. Dieser Tausch gefällt uns nicht. Wir wollen gerne, daß in beiden Einrichtungen die Meinungsfreiheit realisiert wird.
({3})
- In arbeitsrechtlichen Fragen auf jeden Fall, Herr Poppe, wesentlich mehr. Sie konnten Ihren Chef ohne jedes Risiko einen Armleuchter nennen. Versuchen Sie das mal heute in einem privaten Unternehmen. Dann sind Sie schneller gefeuert, als Sie das ausgesprochen haben.
Auf all diesen Gebieten gibt es sehr nachvollziehbare gemischte Gefühle. Wie gesagt, das Kunstangebot und auch das Literaturangebot sind z. B. wesentlich breiter geworden, aber der Zugang wird immer teurer. Auch hier scheint es wieder nur die eine Alternative zu geben: entweder soziale Chancengleichheit bei Zugang zu Kultur und Bildung, dann aber ideologische Einschränkungen, oder keine ideologischen Einschränkungen, dann aber keine soziale Chancengleichheit. Ich frage mich nur: Weshalb kann man freie Kunst, freie Bildung nicht mit sozialer Chancengleichheit beim Zugang verbinden?
Oder nehmen Sie das Beispiel des Gesundheitswesens: Auf der einen Seite haben Sie eine sehr moderne und zukunftsträchtige Einrichtung wie die Polikliniken zerschlagen - übrigens unter Verletzung des Einigungsvertrages. Auf der anderen Seite haben Sie Krankenhäuser mit technischen Geräten ausgestattet, so daß man von einem Fortschritt sprechen muß. Wiederum werden die Versicherungsbedingungen immer komplizierter, und die Sorge der Menschen nimmt zu, daß irgendwann die soziale Stellung des einzelnen und der einzelnen über die medizinische Behandlung entscheidet und nicht mehr die Art der Erkrankung.
({4})
Vor allem konnte sich niemand vorstellen, daß Sie Industrie, Landwirtschaft und auch kulturelle Einrichtungen in diesem Umfang zerstören würden und daß Sie damit den gesamten Osten in eine ökonomische und finanzielle Abhängigkeit vom Westen bringen würden.
Verstehen Sie denn nicht, daß Sie von vielen als Kolonialisten empfunden werden müssen, wenn Sie z. B. über das Prinzip ,,Rückgabe vor Entschädigung" so viele Enteignungen durchführen, wie Sie sie in den neuen Bundesländern durchgeführt haben und immer noch durchführen? Hat das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" vielleicht - Herr Schäuble, Sie haben das bei Herrn Thierse kritisiert - nichts mit Ideologie zu tun, wenigstens mit Eigentumsideologie, welcher Art auch immer? Kommen Sie mir in diesem Zusammenhang bloß nicht mit Eigentumsgerechtigkeit. Dann müssen wir nämlich prüfen, wie die Alteigentümer irgendwann mal zu ihrem Eigentum gekommen sind.
({5})
Sie wissen so gut wie wir, daß Thurn & Taxis im Mittelalter noch Posträuber waren und nur dadurch ihr Eigentum angehäuft haben. Wie weit wollen wir denn zurückgehen, um Eigentumsgerechtigkeit wieder herzustellen?
Weshalb negieren und mißachten Sie die Erfahrungen der Menschen aus dem Osten? Weshalb die Bestrafung im Rentenrecht, weshalb die vielen politischen Prozesse? Das alles dient nur dem Ziel, die Menschen dort zu demütigen und kleinzureden, ihre Biographien nicht zu akzeptieren.
Übrigens, Herr Schäuble, muß ich Ihnen noch etwas sagen: Wenn Sie hier eine Rede halten, kommt jede Viertelstunde ein polemischer Satz gegen die PDS. Aber besonders glaubwürdig ist das nicht, weil Sie nie eine inhaltliche Auseinandersetzung vornehmen, sondern nur ideologisch tabuisieren. Das reicht aber in der heutigen Gesellschaft nicht mehr aus.
({6})
Außerdem diskreditieren Sie damit 20 % der ostdeutschen Bevölkerung, die die PDS wählen.
({7})
Im übrigen sind Sie nicht einmal mehr in Ihrem Antikommunismus glaubwürdig, nachdem Sie mit Vietnam vereinbart haben, daß Vietnamesinnen und Vietnamesen in dieses Land zurückgeführt werden. Das hätten Sie früher gar nicht gewagt. Heute betrachten Sie plötzlich ein kommunistisch regiertes Land als so demokratisch, daß Sie meinen, die Bürgerinnen und Bürger auch gegen ihren Willen dorthin zurückschicken zu können.
({8})
Noch problematischer wird es, wenn ich von Ihrem Regierenden Bürgermeister aus Berlin, Herrn Diepgen, einen Brief bekomme, der mich um ideelle und materielle Wahlkampfhilfe für die CDU bittet. Das spricht dafür, daß Sie wirklich am Ende sein müssen, wenn Sie diesbezüglich auf meine Hilfe angewiesen sind.
({9})
In meiner grenzenlosen Großzügigkeit habe ich Ihnen eine Mark überwiesen - mehr war einfach nicht drin -, aber mehr aus politischen Gründen.
Sie setzen in bezug auf die PDS den kalten Krieg fort, den wir eigentlich 1989 und 1990 beenden wollten. Damit spalten Sie übrigens auch die Bevölkerung in diesem Lande.
Aus all den Gründen werden viele Menschen den 3. Oktober nicht feiern, ohne sich etwa die DDR zurückzuwünschen. Es ist auch nicht verwunderlich, daß weder jener Anklang findet, der versucht, jeden Fortschritt im Osten Deutschlands zu leugnen, noch jener, der ausschließlich von blühenden Landschaften faselt und in einer Art und Weise schönfärberisch auftritt, daß man sich wirklich an frühere Zeiten erinnert fühlt.
Wir haben einen Antrag eingebracht - Herr Bundeskanzler, Sie sollten ruhig zuhören; es geht ja nicht um mich, sondern es geht um die Tausenden und Millionen Wählerinnen und Wähler, die Sie mißachten, wenn Sie nicht zuhören -, daß die Bundesregierung eine Erklärung zur Lage der Nation abgeben soll. So etwas war in früheren Jahren hier übrigens durchaus üblich und ist heute dringender notwendig denn je. Diese Bundesregierung soll endlich Rechenschaft ablegen über die Situation in Deutschland fünf Jahre nach der Vereinigung. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß Sie dort etwas tun können, was Ihnen gemeinhin als Gabe abgesprochen wird, nämlich selbstkritisch auftreten.
({10})
Aber in dieser Einheit steckten auch viele Chancen, die noch nicht genutzt worden sind. Mit dem 3. Oktober 1990 war nach 40jähriger Zweistaatlichkeit eine ganz wichtige Sorge genommen, nämlich die Sorge, daß es zwischen den beiden deutschen Staaten zu einem Krieg kommen könnte.
Überhaupt war mit dem Ende der Systemkonfrontation die Gefahr eines Kriegs wesentlich reduziert. Es hätte deshalb die Chance bestanden, die Rüstungsausgaben erheblich zu senken, sich Schritt für Schritt von einer Militärpolitik zu verabschieden.
Wenn man sich statt dessen die reale Entwicklung seit dem 3. Oktober 1990 ansieht, dann muß man feststellen, daß in der Bundesrepublik Deutschland Militärpolitik noch nie eine solche Rolle wie gegenwärtig gespielt hat. Was vor dem 3. Oktober 1990 noch undenkbar war, ist heute Realität: Die Bundesrepublik Deutschland ist Kriegspartei im Balkan geworden.
Was ebenfalls kaum jemand am 3. Oktober 1990 geglaubt hätte, ist inzwischen Wahrheit: Die Verteidigungsausgaben steigen schon wieder.
Übrigens muß die Bevölkerung hier einmal über einen Haushaltstrick informiert werden. Die meisten Bürgerinnen und Bürger denken nämlich, daß Kriegsbeteiligungen wie auf dem Balkan aus dem Verteidigungshaushalt bezahlt werden. In Wirklichkeit wurden schon die 16 Milliarden DM für den Golf-Krieg und auch jetzt die Hunderte Millionen für die Beteiligung am Balkankrieg aus dem Einzelplan 60 finanziert, d. h. aus der allgemeinen Finanzverwaltung. Das nenne ich fast schon einen geheimdienstlichen Verschleierungstrick.
({11})
Jetzt kommt etwas Spannendes: 1995 sieht dieser Einzelplan ein Volumen von 24 Milliarden DM vor. In der mittelfristigen Finanzplanung ist für das Jahr 1999 ein Betrag von 44 Milliarden DM vorgesehen. Das ist also fast eine Verdoppelung. Darf man eine Antwort auf die Frage erwarten, welche Kriege Sie für das Jahr 1999 geplant haben?
Entschieden haben wir uns gegen die Atomtests durch Frankreich und China ausgesprochen. Nur, Herr Schäuble, was Sie heute dazu gesagt haben, das sollte die Bevölkerung wirklich wach werden lassen. Sie haben erklärt, Sie könnten sich ein Europa ohne Nuklearwaffen nicht vorstellen. Ist das wirklich nur ein Mangel an Phantasie?
({12})
Oder wollen Sie uns über diese Aussage jetzt schon deutlich machen, daß Deutschland über kurz oder lang über die Europäische Union über Atomwaffen verfügen soll und daß Sie überhaupt nicht die Absicht haben, von Atomwaffen abzulassen. Wenn Sie diese Absicht nicht haben, dann werden Sie auch von Tests nicht ablassen; denn das eine bedingt das andere. Dabei wäre es jetzt höchste Zeit, ein für allemal die Massenvernichtungswaffen, d. h. auch die atomaren, zu vernichten.
({13})
Aber Sie haben die Bundesrepublik nicht nur dadurch verändert, daß Sie die Außenpolitik durch Militärpolitik ersetzt haben. Sie sind darüber hinaus dazu übergegangen, als Waffenexporteur eine große Rolle in dieser Welt zu spielen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte am 3. Oktober 1990 Platz sieben der Weltrangliste bei Waffenexporten und nimmt jetzt Platz zwei ein.
Es bleibt schamlos, weltweit seine Waffen gewinnbringend zu verkaufen und dann die Soldaten angeblich friedenstiftend hinterherzuschicken. Es bleibt auch heuchlerisch, wenn Sie gerade der serbischen Seite einen furchtbaren Krieg vorwerfen, dann aber den Deserteuren gerade dieser Armee kein Asyl in der Bundesrepublik Deutschland gewähren.
({14})
Sie haben überhaupt durch die faktische Abschaffung des Asylrechts die Bundesrepublik Deutschland geistig verändert; das macht mir die größten Sorgen. Es gibt kaum noch Solidaritäts- und Mitleidsgefühle mit Flüchtlingen. Täglich wird nur darüber nachgedacht, wie man sich Flüchtlinge vom Halse halten kann, ohne daß ein Beitrag zum Abbau der Fluchtursachen auf dieser Welt geleistet wird.
Seit der Vereinigung gewöhnen Sie die Westdeutschen Schritt für Schritt an Sozial- und Demokratieabbau, wobei der Haushalt, den Sie für das Jahr 1996 vorlegen, eine neue Qualität besitzt: Es ist der Abschied vom Sozialstaatskompromiß und vom Gründungskonsens der Bundesrepublik in sozialen Fragen. Es ist der Durchbruch der Ellenbogengesellschaft.
Das hat wieder viel mit dem geistigen Klima in unserer Gesellschaft zu tun. Noch nie stimmte das Motto für die Bundesrepublik so sehr wie heute, daß Geld die Welt regiert. Noch nie wurde über Arme in der Gesellschaft so verächtlich gesprochen und so bewußt ein Entsolidarisierungsklima organisiert. Wie bei Flüchtlingen wird auch hier versucht, jedes Mitleid, jedes Solidaritätsgefühl zu ersticken.
Das alles wird noch ideologisch untermauert. Gerade die F.D.P. spricht sehr absichtsvoll immer von „Leistungsträgern", womit suggeriert werden soll, daß hinter Reichtum Leistung steckt. Wie oft, frage ich Sie, steckt dahinter eigentlich nur Erbschaft? Was hat das mit Leistung zu tun?
({15})
Ist es nicht vielleicht doch noch immer so, daß der Gewinn vieler Leute von anderen erarbeitet wird und diese so gut wie gar nicht daran beteiligt werden? Wenn der Gewinn Ausdruck von Leistung ist, dann ist nach dieser ideologischen Logik Armut Ausdruck von fehlender Leistung. Mit einer solchen Ideologie eröffnet man nicht den Kampf gegen die Armut, sondern den Kampf gegen die Armen in dieser Gesellschaft.
Das aber betrifft nicht nur die Obdachlosen, die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger und die Arbeitslosen. In ähnlicher Weise gehen Sie auch mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern um. Ihnen versuchen Sie täglich zu suggerieren, daß sie zuviel verdienen, daß sie zuviel Freizeit haben, daß sie zu häufig krank sind, kurzum: daß es ihnen in jeder Hinsicht zu gut ginge und daß deshalb Reallohnkürzungen und Kürzungen bei Lohnfortzahlungen, Verlängerung der Arbeitszeit und Verkürzung des Urlaubs etc. auf der Tagesordnung stünden. Das Gegenteil erzählen Sie natürlich jenen, die Sie zu Leistungsträgern erklären.
Was ich Ihnen wirklich übelnehme und wofür diese Bundesregierung irgendwann bezahlen muß, das ist die Tatsache, daß Sie den gesamten Sozialabbau im Westen mit dem Osten begründen. Sie haben die deutsche Einheit zu einem gigantischen Sozialabbau für die gesamte Bundesrepublik genutzt und den Westdeutschen eingeredet, daß dies ihr Opfer für die deutsche Einheit sei. Den Ostdeutschen wollten Sie damit ein schlechtes Gewissen machen und sie zusätzlich demütigen; denn von jemandem, der scheinbar begünstigt ist und auf Kosten anderer lebt, erwartet man, daß er wenigstens die Klappe hält.
Mit dieser Politik aber haben Sie schwere Verantwortung auf sich geladen; denn dadurch haben Sie die Bevölkerung in Ost und West künstlich gespalten. Deshalb appelliere ich angesichts des fünften Jahrestages der deutschen Einheit an Sie: Hören Sie damit auf, den Westdeutschen einzureden, daß sie den Sozialabbau den Ostdeutschen verdanken. Wir wissen alle, daß das eine Lüge ist.
Lassen Sie mich, zum Schluß kommend, noch darauf hinweisen, daß Ihre gesamte Wirtschaftspolitik, entgegen Ihrer Darstellung, nicht in geringster Weise davon gekennzeichnet ist, daß Sie Arbeitsplätze schaffen wollen. In Wirklichkeit haben Sie ein Steuersystem aufgebaut, das jedes Finanzgeschäft und jede Spekulation begünstigt und das Wirtschaften im Zusammenhang mit Arbeitskräften immer nur bestraft. In diesem Sinne treten wir übrigens auch für grundsätzliche Steuerreformen ein, die Arbeit und Beschäftigung und eben nicht Spekulationen begünstigen, wie Sie dies mit Ihrer Steuerpolitik permanent tun.
Ein tragisches Moment in unserer Gesellschaft besteht darin, daß die Politik der Bundesregierung scheinbar alternativlos ist. Das allerdings ist im wesentlichen ein „Verdienst" der SPD und, was die Außen- und Militärpolitik betrifft, inzwischen auch ein Verdienst von Joschka Fischer. Das muß man ehrlicherweise hinzufügen.
Dann höre ich, daß es in dieser Gesellschaft angeblich kein Geld gebe und daß keine Möglichkeiten bestünden, an zusätzliche Mittel heranzukommen, um einen sozialen Ausgleich zu gestalten und Arbeitsplätze z. B. im öffentlichen Beschäftigungssektor zu schaffen. Darf ich Sie einmal fragen, warum Sie bei den Billionen Finanzgeschäften, die an unseren Banken und Börsen jährlich stattfinden, keine steuerlichen Erhebungen durchführen? Darf ich Sie fragen, warum das frei vagabundierende Kapital von über 700 Milliarden DM von Ihnen nie angegriffen wird? Da, Herr Waigel, könnten Sie in den Topf greifen und für einen sozialen Ausgleich sorgen, anstatt die Arbeitslosen und die Armen in dieser Gesellschaft zu benachteiligen.
({16})
Übrigens, Herr Gerhardt, wenn Sie vom Wissenschaftsstandort reden, ist das ein typisches Beispiel dafür, wie Sie Ostdeutsche demütigen. Wissen Sie, was Sie vorhin gesagt haben? Sie haben gesagt: Jetzt beginnt im Osten Wissenschaft und Forschung. Damit sagen Sie ganzen Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Forscherinnen und Forschern aus der DDR, daß sie noch nie Wissenschaft und Forschung betrieben haben. Das nenne ich einen Akt der Demütigung, den Sie sich sparen sollten.
({17})
- Das hat er gesagt.
({18})
Er hat gesagt „jetzt beginnt" , als ob es vorher nichts dergleichen gegeben hätte. Das ist das, was ich meine und worauf ich hinweisen wollte.
Sie, Herr Bundeskanzler, sind Historiker und haben einen Hang zur Symbolik. Deshalb muß ich Sie eines wirklich fragen, und ich frage das wirklich mit allem Ernst: Was hat die Bundesregierung eigentlich geritten? Sie kennen meine Gegnerschaft zu den internationalen Militäreinsätzen der Bundeswehr. Darüber will ich jetzt gar nicht reden. Aber wenn Sie schon einen solchen Einsatz starten, darf ich Sie fragen: Was hat Sie denn ernsthaft geritten, gerade den ersten internationalen Einsatz der Bundeswehr am 1. September 1995 durchzuführen, d. h. 56 Jahre nachdem Hitler-Deutschland den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat? Hinsichtlich dieser Symbolik hätte ich gerne eine Antwort von Ihnen in dieser Debatte.
({19})
Das Wort hat nun der Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tradition und Sinn der Generaldebatte bei der Einführung des jeweiligen Jahreshaushaltes ist, daß über alles geredet wird. Das haben wir heute schon kräftig begonnen, und das werden wir sicherlich in diesen Tagen fortsetzen.
Herr Kollege Scharping, ich bin jetzt in einer etwas schwierigen Lage. Spreche ich Sie freundlich an, dann bin ich gönnerhaft; spreche ich Sie nicht freundlich an, dann nutze ich die Lage aus. Ich will weder gönnerhaft sein noch die Lage ausnutzen. Ich will einfach feststellen: Sie haben heute eine schwierige Situation. Da auch ich solche Situationen schon hatte, habe ich ein gewisses Gefühl dafür. Das werden Sie jetzt wiederum als gönnerhaft auslegen, aber so ist es wirklich nicht gemeint.
Wahr ist es schon - auch wenn Sie sich empört haben -, was Wolfgang Schäuble hier gesagt hat. Das Bild, das Sie jetzt bieten, ist jämmerlich, und das wird man in dieser Situation ja noch feststellen dürfen.
({0})
Wahr ist auch - ob Sie das nun akzeptieren oder nicht -, daß wir und vor allem ich gar keine Freude daran haben. Wissen Sie, viele Jahre haben Sie mir vorgehalten, ich würde die Probleme aussitzen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Sitzen Sie sie auch intelligent aus.
({1})
Dann kommen und gehen die Gestalten, und dann hat vielleicht auch der Kollege Fischer irgendwann wieder die Hoffnung - die er heute seiner Mimik nach offensichtlich sinken ließ -, daß er bei Ihnen irgendwann Vizekanzler werden kann.
({2})
Sie sollten, finde ich, jetzt auch nicht solche verfehlten Bilder entwerfen. Daß die Opposition die Regierung kritisiert, ist die normalste Sache der Welt. Wo kämen wir eigentlich hin, wenn die Opposition die Regierung auch noch loben würde? Das wäre wirklich zuviel verlangt!
({3})
- Nein, das besorge ich überhaupt nicht, Herr Verheugen. Aber weil Sie schon einen Zwischenruf machen: Sie müßten doch als jemand, der sich in der Außenpolitik engagiert und der als Bundesgeschäftsführer die Partei auch international vertritt, Ihrem Boß zumindest geraten haben, daß er wenigstens zwei Sätze zur Außenpolitik sagt.
({4})
Was glauben Sie denn, Herr Kollege Scharping, was Ihre Kollegen im Ausland - Sie sind doch Vorsitzender der Sozialisten in Europa - dazu sagen, daß Sie in dieser Situation kein Wort zu den drängenden Problemen Europas gesagt haben? Das ist doch eine Abdankung.
({5})
Sicherlich, meine Damen und Herren, macht die Bundesregierung - und ich natürlich auch - Fehler. Ich werde nachher hier einige selbst ansprechen. Aber wenn Sie hierherkommen und sagen, daß hier der Stillstand der deutschen Politik eingetreten ist und daß die Ignoranz das Land regiert, erwidere ich: Lieber Herr Scharping, Sie müssen doch mit Ihrer Rede wenigstens noch erreichen, daß eine Minderheit Ihrer Fraktion Ihren Thesen glaubt.
({6})
Sie glauben das doch selbst nicht. So können wir doch nicht miteinander umgehen. Daß Sie kritisieren, ist völlig in Ordnung. Aber das Bild von Deutschland, das Sie hier entworfen haben, hat doch mit der Wirklichkeit des Landes überhaupt nichts mehr zu tun.
({7})
Die internationalen Beobachter, übrigens auch die nationalen - daß Sie hier immer nur die gleichen Gazetten zitieren, bedeutet ja nur, daß sich Ihre Basis auch auf diesem Feld verengt und nicht verbreitert -,
({8})
wissen doch, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten, ungeachtet der Fehler, die auch wir machen, versucht haben, einen guten Weg einzuschlagen. Die Bundesrepublik Deutschland steht im September des Jahres 1995 so da, wie wir es vor wenigen Jahren gemeinsam nicht zu träumen gewagt hätten. Das ist die Wahrheit, wenn Sie die internationale Situation betrachten.
({9})
Deswegen will ich, bevor ich zur eigentlichen Rede komme, noch ein paar Fragen, die Sie gestellt haben, aufgreifen.
Zunächst: Entweder wissen Sie es nicht, oder Sie behaupten es wider besseres Wissen: Alles, was Sie hier zur Lehrstellenfrage gesagt haben, ist schlicht falsch, um das klar und deutlich zu sagen. Wie ist die Situation?
({10})
- Sie müssen mir nicht sagen, wer davon eine Ahnung hat. Seit 1983, seit ich Bundeskanzler bin, gibt es wenige Bereiche in der deutschen Politik, in denen ich mich persönlich so engagiert habe wie in diesem Bereich.
({11})
Seit 1983 höre ich die gleichen Untergangsszenarien von Ihrer Seite, und Jahr für Jahr haben wir die Dinge in Ordnung gebracht. Daß das jetzt ein schwieriges Kapitel angesichts des Umbruchs in den neuen Ländern ist, weiß auch ich. Wer einigermaßen objektiv ist, hat aber allen Grund zur Dankbarkeit. Das ist doch nicht meine persönliche Leistung. Es ist die Leistung von vielen Betriebsinhabern, Mittelständlern, Handwerkern, von Betriebsräten und vielen, die in den Betrieben geholfen haben, daß derjenige, der es kann oder will, in Deutschland auch einen Ausbildungsplatz bekommt. Das ist doch ein Grund, dankbar zu sein, und darauf dürfen wir stolz sein.
({12})
Herr Scharping, wie ist nun die Lage, jetzt, an diesem Stichtag? Da möchte ich gleich noch ein Wort zum Thema „Stichtag" sagen. Das wissen doch auch Sie, daß unser System auf Grund der unterschiedlichen Abgangszeiten der Schulabgänger und der Einstellungszeiten in den Betrieben notwendigerweise
dazu führt, daß man erst Anfang September endgültige Zahlen hat.
({13})
Das war zu allen Zeiten so. Das werden Sie auch nicht durch eine Gesetzgebung ändern können, es sei denn, Sie kommen auf Ihren alten sozialistischen Unsinn zurück, per Gesetz neue Abgaben einzuführen und die Handwerker weiter mit Abgaben zu belasten. Es gibt kein Zurück dorthin mit uns.
({14})
Die wirkliche Lage stellt sich wie folgt dar: In den alten Ländern gab es Ende August 85 000 unbesetzte Berufsausbildungsstellen und 75 000 Bewerber. Das heißt, wir haben einen Überhang von immerhin rund 10 000 Stellen. Das Problem ist aber nicht die hier genannte Zahl, sondern die regionale Unterschiedlichkeit. Sie war zu allen Zeiten gegeben; Sie werden sie auch nicht per Gesetz beseitigen können. Es gibt eben in der Bundesrepublik Regionen, in denen die Chance, einen Ausbildungsplatz zu finden, auf Grund der strukturellen Entwicklung viel geringer ist als in den Ballungsräumen. Aber trotzdem ist es wichtig, jungen Leuten auf ihrem Weg zu helfen. Das haben wir all die Jahre über die Bundesanstalt für Arbeit getan; wir werden das auch in Zukunft tun.
In den neuen Ländern haben wir Jahr für Jahr geholfen. In diesem Jahr schaffen Bund und Länder 14 500 zusätzliche Ausbildungsplätze. Diese Zahl ist doch keine Erfindung der Bundesregierung; es handelt sich um die Zahl, die die Landesregierungen in den neuen Bundesländern genannt haben. Auch die Hetzparolen, die bestimmte Repräsentanten der SPD in Landesregierungen in Ostdeutschland - ich denke hier besonders an eine bestimmte Dame, die sich da immer hervortut ({15})
verbreiten - es ist nichts anderes als eine Verhetzung junger Leute -, ändern nichts an der Tatsache, daß wir helfen.
({16})
Sie wissen doch so gut wie ich, daß angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage, der Zerstörung des Mittelstandes durch die kommunistische Diktatur in 40 Jahren, beispielsweise im Handwerksbereich, neue Strukturen erst aufgebaut werden müssen. Wenn die Handwerksbetriebe noch nicht da sind, können sie noch keine Lehrlinge einstellen. Das ist doch eine ganz logische Folge. Das sollten Sie einmal sagen, statt in dieser Weise Miesmacherei zu betreiben.
({17})
Bei allem Ärger gegenüber dem Verhalten mancher deutscher Großbetriebe in Sachen Lehrstellenangebot in diesem Jahr, den ich mit Ihnen, Herr Scharping, teile - manche könnten hier wesentlich mehr tun -: Es ist wahr, daß wir Grund haben, andere lobend zu erwähnen und ihnen zu danken. Wahr ist auch, daß wir jetzt 60 000 zusätzliche betriebliche
Stellen in den alten Ländern anbieten. Das sind 13 000 mehr als im letzten Jahr. Das heißt doch: Die Wirtschaft hat - wenn auch nicht in jedem Fall - im großen und ganzen alles getan, um Zusagen einzuhalten.
In den neuen Ländern wurden rund 31 000 zusätzliche betriebliche Stellen angeboten; das sind 5 500 mehr als vor einem Jahr. Diese Zahlen bezeugen übrigens auch, daß es in den neuen Ländern aufwärtsgeht. Sonst wären diese Lehrstellen gar nicht möglich gewesen.
({18})
Eines hat mich besonders verwundert; offensichtlich denken Sie, daß andere keine Zeitung lesen und an der Wirklichkeit des Landes überhaupt nicht teilhaben: Sie haben mit großer Intensität den Solidaritätszuschlag angesprochen. Zunächst einmal gilt das, was wir in der Koalition abgesprochen haben, nicht mehr und nicht weniger.
({19})
- Sie werden ja noch lesen können. Aber jetzt hören Sie zu, dann haben Sie es wenigstens einmal gehört:
Da der Solidaritätszuschlag zur Finanzierung des Transfers des Bundes für die neuen Länder im Rahmen des Finanzausgleichs dient, muß er bei Rückführung dieser Belastungen oder bei einem dauerhaft stärkeren Anstieg der Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag gegenüber den Annahmen des Finanzplans entsprechend zurückgeführt werden. Die Bundesregierung wird die Höhe der Belastung im Finanzausgleich gemeinsam mit den Bundesländern überprüfen und entsprechende Rückführungsmöglichkeiten jährlich feststellen.
Das ist eine korrekte Auskunft. Sie können in dieser Stunde von niemandem erwarten, das er darüber hinaus sagt: Genau an diesem oder jenem Tag wird der Solidaritätszuschlag abgeschafft. Da ich vorhin von Fehlern gesprochen habe, füge ich hinzu: Den Fehler des Jahres 1991 wiederhole ich nicht.
({20}) Wir bleiben bei dieser Feststellung.
({21})
Da Sie als Parteivorsitzender auch für Ihre Partei in den einzelnen Bundesländern zuständig sind - im Gegensatz zu dem Zwischenrufer, den wir da vorhin hörten -, wissen Sie, daß diese Formel die einzig vernünftige Formel ist, um auch mit den Bundesländern einig zu werden.
Sie waren doch in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident. Ihr Nachfolger ist doch dabei, sich im Wahlkampf zu üben. Daß er ausgerechnet mir das Kompliment gemacht hat, mich könne keiner schlagen, hat mich schon erstaunt.
({22})
Das sind Entwicklungen in der SPD, die ich vor kurzer Zeit noch für unmöglich gehalten hätte.
({23})
Aber, Herr Kollege Scharping, damit das ganz klar ist: Diese Festlegung beinhaltet, daß diese Steuer keine Dauersteuer sein darf
({24})
und daß dabei aber das Interesse der neuen Bundesländer natürlich beachtet werden muß. Ich hätte von Ihnen eigentlich erwartet, daß Sie sich klar distanzieren von der Politik, die Sie draußen im Land betreiben. Sie haben die Landtagswahl in Hessen im Februar ganz wesentlich dazu benutzt, den Leuten zu verkünden, Sie würden dafür eintreten, den Solidaritätszuschlag so schnell wie möglich abzuschaffen.
({25})
Das war schlicht und einfach gelogen.
({26})
- Ich habe keinen Redetext von ihm, aber ich sage das zum Parteivorsitzenden. Frau Fuchs, Sie waren lange genug in der Parteiführung, um zu wissen, daß er sich das anrechnen lassen muß. Sie rechnen mir doch auch alles an.
Also: Sie haben diesen Wahlkampf geführt mit der Wahllüge, daß Sie den Solidaritätszuschlag abschaffen wollen.
({27})
Herr Eichel hat gesagt, schnell solle es passieren und von unten nach oben. Anschließend gehen Sie in die neuen Länder - es sitzen genug Vertreter von dort aus Ihren Reihen hier; Herr Thierse kann sich dazu ja einmal äußern - und verkünden dort: Die im Westen, die in der Bundesregierung tun nicht genug für uns. Das ist eine infame Vorstellung von Politik.
({28})
Deswegen, finde ich, sollten wir uns wenigstens heute darüber im klaren sein - Sie mögen eine andere Position beziehen -: Mit Verantwortungsbewußtsein kann niemand in dieser Frage anders entscheiden, als wir es im Text der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben.
({29})
- Die Freien Demokraten sind der Meinung, daß das noch schneller geht. Die haben die gleiche Freiheit, ihre Meinung zu sagen, wie Sie. Da ich aber 1991 auch auf freidemokratischen Rat hin etwas Falsches
gemacht habe, horche ich jetzt ganz genau hin - um das einmal ganz klar und deutlich zu sagen.
({30})
Sie sehen: Mein alter Freund Otto Graf Lambsdorff freut sich über diese späte Nichtanerkennung.
({31})
Meine Damen und Herren, ich muß das noch einmal sagen - Wolfgang Schäuble war in dem Punkt zu schonend; Sie verdienen aber wirklich, daß man das sagt -: Sie haben hier ein Szenario über die Zukunft der Industriegesellschaft in Deutschland entwickelt und haben jede Diskussion totgeschlagen, weil ja alles angeblich sozialer Kahlschlag, sozialer Abbau usw. sei.
Ich zitiere jetzt niemanden, von denen, die Sie die ganze Zeit über behelligen. Auch glaube ich, daß die Zeit über diese Leute hinweggehen wird. Wissen Sie: Wer Bundeskanzler werden will - ich habe es der Fraktion gesagt -, aber selbst den Einzelhandel in der Innenstadt von Hannover vor Barbaren nicht schützen kann, der hat sein Spiel schon gemacht, und der hat es schon verloren.
({32})
Herr Scharping, da ich weiß, daß Sie und die Mehrheit der Fraktion der SPD genauso denken, nehme ich den Nichtbeifall als Zustimmung.
({33})
Folgendes sollte Sie aber nachdenklich stimmen: Wenn wir in diesem Herbst - Wolfgang Schäuble, Herr Gerhardt und andere haben es heute, Theo Waigel hat es gestern schon gesagt - wichtige Detailfragen in Angriff nehmen werden, wie wir den Standort Deutschland und die soziale Symmetrie sichern, muß es doch möglich sein, ein vernünftiges Gespräch zu führen, ohne von vornherein ins Abseits gedrängt zu werden.
Sie sollten einfach einmal nüchtern nachlesen, was Herr Spöri - das ist keiner, der im Moment die Kanzlerkandidatur oder den Parteivorsitz anstrebt, sondern einer, der eine Wahl gewinnen will - geschrieben hat.
({34})
- Frau Kollegin Fuchs, Sie kennen die Situation besser.
({35})
Seit 1983 hatte ich es mit sechs Söhnen und Enkeln zu tun.
({36})
Es gibt mittlerweile noch einen in Hannover. Nun bringen Sie schon wieder den nächsten. Das wird ja eine zweistellige Zahl.
({37})
Was zuviel ist, ist zuviel.
({38})
Ich hoffe nicht, daß ich dem Mann jetzt schade; denn es ist sehr vernünftig, was er sagt. Sie haben Herrn Spöri in Baden-Württemberg doch nicht ohne Grund zum Spitzenkandidaten ausgerufen.
({39})
Sie müssen dem Mann doch etwas zutrauen, sonst könnte er doch kein Spitzenkandidat sein.
({40})
Herr Spöri hat geschrieben:
Die SPD hat aus den Folgen des radikalen wirtschaftlichen Wandels, der Globalisierung von Arbeitszeiten und Produktion nicht die entscheidenden Folgerungen gezogen.
Weiter heißt es in diesem Text:
Wird die Diskussion ... weitgehend darauf reduziert und werden nicht Kostenfragen des Standorts Deutschland in allen Aspekten schonungslos diskutiert, dann werden wir in der internationalen Konkurrenz um Arbeitsplätze scheitern.
({41}) Schließlich sagt er:
Wenn wir Einkommens-, Wohlstands- und Arbeitsplatzverluste vermeiden wollen, ist eine neue Strategie mit umfassender Nutzung von Flexibilisierungsmöglichkeiten im Bereich der Arbeitsorganisation sowie einer konkurrenzfähigen Unternehmensbesteuerung und einer Senkung der Lohnnebenkosten durch Strukturreformen des Sozialsystems dringend notwendig.
({42})
Was sagen wir eigentlich anderes? Ist das Sozialabbau? Wir sagen doch genau das gleiche, nämlich daß die Dinge auf den Prüfstand müssen.
({43})
Bloß weil wir es sagen, muß es falsch sein? Das ist keine Politik, das ist Engstirnigkeit.
({44})
Es ist unübersehbar, die deutsche Wirtschaft ist im Aufwind. Das Tempo hat sich zwar wegen Wechselkursverschiebungen und mancher Tarifabschlüsse verlangsamt. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, die Konjunktur kaputtzureden, wie das manche Auguren versuchen. Es ist ganz eindeutig, daß die Investitionen trotz der soeben genannten Schwierigkeiten an Schwung gewinnen.
Die jüngste Leitzinssenkung der Bundesbank wirkt sich positiv auf Investitionen und Nachfrage aus. Ich glaube auch jenen, die heute prognostizieren, daß der private Konsum in der vor uns liegenden Zeit wieder einen Auftrieb erhält. Die Steuerentlastungen werden sich 1996 bemerkbar machen. Die lebhafte Weltkonjunktur wirkt sich ebenfalls aus.
Wenn Theo Waigel gestern das Gutachten der OECD und des IWF zitieren konnte, dann ist das doch ein Grund zu Freude. Wenn ich vor fünf Jahren an diesem Pult gestanden und gesagt hätte - ich hätte aber nicht riskiert, das zu sagen -, daß wir nach fünf Jahren von völlig seriösen, unabhängigen Stellen ein solches Testat bekommen, dann hätte es mir niemand geglaubt. Aber so ist es doch gekommen. Das ist der Erfolg einer Regierung, die kontinuierlich solide gearbeitet hat.
({45})
Wenn ich das sage, ist das überhaupt keine Entwarnung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
({46})
Der jetzige Zustand ist absolut nicht akzeptabel, und wir müssen deswegen alles tun - lesen Sie das, was Herr Spöri Ihnen geraten hat -, um Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland zu ermöglichen.
({47})
Für mich ist die Frage der Arbeitslosigkeit keine technische Frage, sondern sie betrifft das Schicksal von vielen Menschen. Herr Scharping, Sie haben an einem Punkt recht: Ich habe nie eine positive Entwicklung darin gesehen und habe es nur mit innerem Sträuben erduldet, daß man 55-, 56- und 57jährige als zu alt nach Hause schickt.
Wir haben hervorragende Daten im ersten Halbjahr bei der deutschen Großchemie. Aber wenn Sie durch die drei Großbetriebe gehen, werden Sie sich schwertun, dort Leute zu finden, die 58 Jahre alt sind.
({48})
Bei der Demographie und der Mentalität der Deutschen halte ich das nicht für eine gute Entwicklung. Deshalb muß man auch darüber reden.
({49})
Aber das ist doch auch im Gefolge von Tarifverträgen geschehen.
({50})
Jetzt sind wir wieder bei diesem Thema. Deswegen ist es doch nicht falsch, wenn man auch bei allem Respekt vor der Tarifautonomie einmal sagt: In diesem Tarif werden Dinge entschieden, die für die Gesamtlage des Landes von enormer, auch negativer Bedeutung sein können.
Das Ziel ist völlig klar: Wir haben jetzt noch fünf Jahre bis zur Jahrhundertwende, und wir treten, wenn wir die internationale Situation betrachten, immer deutlicher in dramatische Entwicklungen ein. Deswegen müssen wir jetzt - das hat etwas mit den Bäumen und dem Förster, den Sie zitiert haben, zu tun - Weichen für die Beschäftigung in der Zukunft stellen und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken.
Wenn ich das will, dann muß ich bei Steuerfragen vernünftig darüber reden können und darf dabei nicht wieder die alten Ladenhüter - „es geht den Reichen zu gut" - hervorziehen. Wenn wir in der Lage sein wollen, Zukunft zu gestalten, dann müssen wir auch fähig sein, Dinge auf den Prüfstand zu stellen und darüber zu diskutieren. Beim Entscheiden können wir ja auseinandergehen, aber es muß doch zumindest möglich sein, in der Sache ein Gespräch zu führen.
({51})
Natürlich haben wir Terrain verloren. Ich betreibe jetzt gar keine Nachlese, wer da jeweils schuld war. Ich glaube nicht, daß irgendeine Partei - ich sage das auch an meine eigene Adresse - von sich sagen kann, daß sie daran völlig unschuldig ist. Es war der Stil unserer Republik in diesen Jahren, zu lange zu glauben, es gehe automatisch so weiter, und wir würden immer besser leben können und immer weniger leisten müssen. Wir stehen jetzt am Scheideweg. Ich plädiere leidenschaftlich dafür, daß wir in den nächsten Monaten, in den nächsten zwei Jahren die notwendigen Entscheidungen diskutieren und treffen und uns nicht gegenseitig herabsetzen, wenn wir an diese Themen herangehen.
({52})
- Herr Fischer, Ihr Beifall erfreut mich deswegen nicht: Sie sind eines der Investitionshemmnisse in Deutschland.
({53})
Sie sind zwar, das gebe ich zu, auf einem interessanten Weg. Ob die Leute Ihnen folgen werden, ist eine andere Frage. Aber warum sollen Sie nicht dazulernen? Das muß jeder von uns. Jetzt sitzen Sie in der ersten Bank und wollen auf die Regierungsbank. Auf diesem Weg müssen Sie noch etwas leisten. Das ist eine ganz einfache Lebenserfahrung.
({54})
Aber reden wir von den Arbeitsplätzen. Es war eben bei dem Kollegen Gerhardt wieder spürbar, als er über Arbeitsplätze im Privathaushalt gesprochen hat: Sobald wir darüber reden, wie wir mehr Arbeitsplätze schaffen, fangen Sie sofort an dazwischenzuschreien. Frau Kollegin Fuchs, ich weiß von Ihnen, daß Sie in dieser Sache genauso denken wie ich. Setzen Sie sich in Ihrer Fraktion doch einmal durch, so daß diese Arbeitsplätze nicht mehr diskriminiert werden!
({55})
Nehmen wir den Bereich der Medien und Telekommunikation. Ich hätte die Privatisierung in diesen Bereichen viel lieber schneller vorangetrieben. Sie wissen so gut wie ich, Herr Scharping, was es für eine unendliche Mühe gekostet hat - viele von Ihnen haben geholfen, das will ich ausdrücklich erwähnen -, daß nicht altes gewerkschaftliches Denken auf die moderne Zeit übertragen wurde. Ich klage nicht darüber; wir haben unser Ziel ja erreicht.
Dies gilt auch für den Bereich der Umwelttechnologie.
Bei der Biotechnik, Herr Fischer, könnten wir viel weiter sein, wenn andere nicht gebremst hätten. Es nützt uns nichts, zurückzublicken und zu sagen: „Wenn ..." Vielmehr geht es mir darum, in dieser Legislaturperiode die notwendigen Entscheidungen, um den Standort Deutschland in der kommenden Zeit wettbewerbsfähig zu machen, durchzusetzen. Ich kann Sie nur einladen, das Notwendige dazu zu tun und vor allem zu helfen, daß die gesellschaftliche Akzeptanz dafür geschaffen wird.
Wer Leistungswillen in Deutschland immer noch diffamiert, wer nicht begreift, daß die Bereitschaft, etwas zu leisten, von der Gesellschaft nicht nur materiell, sondern auch immateriell honoriert werden muß, wer immer noch den Begriff der Elite - ich meine die Leistungselite und nicht die Elite von Geburt - diffamiert, der begräbt ein Stück Zukunft. Dies ist doch eine der geistigen Grundlagen für die zukünftige Entwicklung, über die wir zu reden haben.
({56})
Ein anderes Stichwort lautete wieder Abbau des Sozialstaats". Da schwingen Sie die große Keule. Es geht überhaupt nicht um einen Abbau. Es geht um einen Umbau.
({57})
- Sie hören ja gar nicht zu. Lesen Sie doch einmal nach, was Ihr Kollege Rappe in diesen Tagen seinem Gewerkschaftstag dazu gesagt hat!
({58})
Rappe ist doch ein mindestens so vertrauenswürdiger Sozialdemokrat wie Sie. Wenn es Leute wie ihn nicht gäbe, säßen eine Reihe von Leuten bei Ihnen gar nicht hier im Saal. Darüber müssen Sie sich doch im klaren sein.
({59})
Wir wollen die materiellen und finanziellen Grundlagen des Sozialstaats sichern. Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Bereich klare Vorstellungen. Ich habe mich immer leidenschaftlich gegen die Etikettierung gewehrt, die gelegentlich auch aus der deutschen Wirtschaft kam. Es gab einen Zeitabschnitt, in dem man uns, vor allem mir, geraten hat, „Reagan Economics" zu betreiben. Wohin diese Politik geführt hat, weiß ich. Dann gab es wieder andere, die gemeint haben, Thatcherismus wäre das Richtige. Wohin das geführt hätte, weiß ich auch. Wir haben immer die Idee der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards vertreten.
Es sind zwei wichtige Begriffe und nicht bloße Worte: Marktwirtschaft und soziale Verantwortung. Das ist und bleibt unsere Politik. Sie muß in unserer Zeit - gegenüber Erhards Zeit haben sich die Dinge dramatisch verändert - durch den Begriff Umwelt/ Ökologie ergänzt werden.
Ökonomie und Ökologie gehören zusammen. Wirtschaftlicher Wohlstand, Erhalt und Sicherung der Schöpfung, das ist das Motto, von dem wir uns leiten lassen.
Wenn Sie das Thema „Umbau des Sozialstaates" betrachten, dann stellen Sie fest, daß die Schwerpunkte offenkundig sind. Der eine betrifft die Reform der Sozialhilfe. Reden Sie doch einmal mit irgendeinem SPD-Bürgermeister, SPD-Oberbürgermeister oder SPD-Landrat. Er sagt auf den Punkt genau das gleiche, was ich sage. Nur, Ihre Ideologie verbietet Ihnen, das hier zuzugeben.
({60})
Weitere Stichworte sind: Reform der Arbeitsförderung, flexibler und sozialverträglicher Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand sowie die überfällige Fortschreibung der Reform des Gesundheitswesens.
Aber, meine Damen und Herren, das nur Begriffe. Sie müssen immer wieder neu überdacht, überprüft und ausgefüllt werden. Wir werden das nicht mit mehr staatlichem Dirigismus tun können. Wir müssen mehr Handlungsfreiheit für die Bürger und Selbstverwaltung schaffen. Aber das heißt nicht nur Handlungsfreiheit, sondern auch eigene Verantwortung. Es kann nicht so sein, daß wir Eigenverantwortung vermehren und dort, wo die Dinge schiefgehen, immer nur der Staat einspringt. Auch das muß wieder klargestellt werden. Hilfe zur Selbsthilfe gehört in diesen Bereich. Ich könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen.
Wir sind dabei, das sozialrechtliche Regelwerk zu entrümpeln, transparenter zu machen und mehr Wettbewerb einzuführen. Der Anreiz zur Aufnahme von Erwerbsarbeit gehört dazu. In Deutschland gibt es jetzt 2,5 Millionen Sozialhilfeempfänger. Nach allen Schätzungen wissen wir, daß für ungefähr 500 000 von ihnen eine Beschäftigung durchaus zumutbar ist. Die Bürger fragen sich doch, warum die Arbeitsämter hier nicht eingreifen.
Die Arbeitsämter erteilen jedes Jahr in ca. 800 000 Fällen eine Arbeitserlaubnis an Nicht-EU-Ausländer. Das wird mit der Begründung getan, es gebe keine deutschen Arbeitskräfte. Wenn das so ist und wenn der Deutsche Städtetag - Herr Kollege Scharping, keine Institution der Christlich Demokratischen Union oder der Christlich Sozialen Union - in einer Untersuchung sagt, daß 30 % der befragten Sozialhilfeempfänger, für die eine Beschäftigung zumutbar ist, eine ihnen angebotene Beschäftigung ablehnen, dann muß die Frage, ob man das so akzeptiert, doch einmal auch von uns diskutiert werden. Diese Frage zu stellen hat doch nichts mit Unmenschlichkeit zu tun. Die Ablehnung eines zumutbaren Arbeitsplatzes offenbart die Mentalität des Trittbrettfahrens, die die Menschen in unserem Land nicht mehr verstehen.
({61})
Auch und gerade die traditionelle Arbeitnehmerschaft, die einmal Ihre Stammwählerschaft war, stellt sich diese Frage. Deswegen will ich Sie einladen: Blockieren Sie unsere Politik jetzt nicht, schon gar nicht über die Bundesländer - wohin das führt, haben Sie gerade erlebt -, sondern lassen Sie uns nach Vorlagen in den Ausschüssen vernünftig darüber diskutieren, daß wir den Sozialstaat erhalten, aber den Mißbrauch abbauen!
Ich füge hinzu, damit nicht sogleich wieder eine falsche Schlachtordnung aufzieht: Ich halte es für eine ganz miserable Diskussion, wenn dauernd über Mißbrauch nur in diesem Bereich geredet wird und nicht gleichzeitig über Steuerhinterziehung und Subventionsabbau. Beides gehört dazu.
({62})
- Ich bin eigentlich erstaunt, daß Sie darüber erstaunt sind. Ihre Bildungslücke besteht deshalb, weil Sie nicht in meine Veranstaltungen kommen. Denn wenn Sie das täten, dann würden Sie das alles unentwegt von mir hören.
({63})
Meine Damen und Herren, wir haben den fünften Jahrestag der deutschen Einheit. Der Vorsitzende der PDS-Gruppe, der bekannte Medienstar, ist im Moment nicht da. Ich will nur sagen: An seiner Stelle wäre ich zu diesem Jahrestag völlig ruhig. Wenn es in diesem Haus jemanden gibt, der überhaupt kein Recht hat, uns im Hinblick darauf zu belehren, dann sind es er und die Seinen.
({64})
Nach fünf Jahren ist es an der Zeit, daß man einen Moment innehält und sich die Frage stellt: Was ist gelungen, was ist nicht gelungen? Es ist unübersehbar - ich werde gleich noch etwas zu den dramatischen Herausforderungen für die Menschen sagen -, daß der Strukturwandel und der Aufbau in den
neuen Ländern zügig vorankommen, daß entgegen allen skeptischen Voraussagen die neuen Länder mit einer Zuwachsrate von 10 % die Wachstumsregion Nummer eins in Europa sind, daß die Investitionen dort Motor für Wachstum und Beschäftigung sind und daß die Investitionsquote dort höher als jemals zuvor in den alten Ländern ist - pro Kopf der Bevölkerung übertreffen die Investitionen das westdeutsche Niveau um ein Drittel.
Natürlich haben wir 1989/90 eine Situation angetroffen, von der jeder weiß, daß der ökonomische Zusammenbruch der damaligen DDR unabwendbar war. Auch die strukturellen Fehlentwicklungen von vielen Jahrzehnten zeigen sich natürlich jetzt.
Das Land ist im Umbruch. Es ist die große Leistung der Menschen in Ost und West, die zum Aufbauwerk ihren Beitrag leisten. Deswegen bin ich dagegen, daß man immer wieder aus vordergründigen, aus wahltaktischen Absichten versucht, einen Keil zwischen die Deutschen diesseits und die Deutschen jenseits der früheren Grenze zu treiben. Auch die Westdeutschen haben gewaltige Leistungen erbracht. Der Kapitaltransfer von West nach Ost ist völlig einzigartig in der Welt und wird auch in der ganzen Welt so betrachtet.
({65})
Man stelle sich vor: Allein 50 Milliarden DM sind in diesen fünf Jahren in die Verkehrsinfrastruktur der neuen Länder investiert worden. Natürlich ist vieles im Umbruch, ist vieles zusammengebrochen und muß neu aufgebaut werden. Vorhin war hier in Verelendungsparolen die Rede davon, daß die ganze industrielle Struktur untergegangen sei und in absehbarer Zeit nicht wiederkomme.
Meine Damen und Herren, gehen Sie doch einmal ins Chemie-Dreieck. Wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie nach, was Herr Rappe dieser Tage auf seinem Kongreß der IG Chemie zu Leuna, Buna und der ganzen Region gesagt hat. Natürlich war dies ungeheuer schwer, und natürlich sind wir noch längst nicht am Ziel. Aber wer heute durch die neuen Länder fährt, muß doch ein Brett vorm Kopf haben, wenn er nicht erkennt, daß dort - auch für die Menschen - wirklich etwas passiert ist und passiert.
({66})
Da hier die soziale Komponente mit Recht so hervorgehoben wird, will ich wieder daran erinnern, auch wenn Sie es nicht gerne hören - es war unsere Entscheidung -, daß gerade die Älteren in den neuen Ländern, die Rentner, aus gutem Grund von der Einheit profitieren. Die Eckrente betrug bei 45 Versicherungsjahren am Tag der Wirtschafts- und Währungsunion 1990 600 DM Ost. Heute sind es rund 1 500 DM West. Das sind 80 % der Westrente.
Auch das sage ich in eine Diskussion in Westdeutschland hinein, die mir nicht gefällt: In der Praxis führt es in vielen Fällen dazu, daß die Rentnerehepaare in den neuen Ländern günstiger abschneiden als im Westen, weil die familiäre Situation im
Westen gerade in der älteren Generation die war, daß weitgehend über Jahrzehnte nur einer in der Familie, nur einer der Ehepartner eine Rente erarbeitet hat,
({67})
während in den neuen Ländern oft beide gearbeitet haben und entsprechend jetzt beide diese Rente bekommen. Ich sage gar nichts dagegen. Ich betone das nur im Blick auf manche Neidstimme, die ich im Westen höre.
Die, die neidisch sind, sollen einmal überlegen, was es bedeutet hat, in den letzten 40 Jahren in Frankfurt an der Oder oder in Görlitz zu leben. Die Westdeutschen hatten eine ganz andere Lebensqualität und eine ganz andere Möglichkeit, ihr Leben zu gestalten. Ich gönne den Älteren in den neuen Ländern diese Chance, daß sie sich jetzt auf ihre älteren Tage wesentlich günstiger stellen und im Detail oft ein Rentenniveau erreicht haben, das überall in Europa bewundert wird. Das ist die Realität im sozialen Bereich - auch in den neuen Ländern.
({68})
Ich weiß, meine Damen und Herren, daß die Menschen in den neuen Ländern diesen dramatischen Prozeß nicht nur im Ökonomisch-Sozialen, sondern auch im Psychologischen bewältigen müssen. In vielen Fällen zeigt sich das Problem schon in der Sprache. Wir müssen uns immer fragen, ob wir nicht aneinander vorbeireden und ob wir genügend Verständnis füreinander aufbringen.
Immer wieder - zuletzt vor ein paar Tagen - hatte ich die Gelegenheit, mit jungen Rekruten aus den neuen Ländern zu reden. Man muß sich vorstellen: Der 19jährige, der jetzt beim Bund ist, hat in seiner Schulzeit gehört, daß die NATO ein Werk des Teufels und ein Kriegstreiber sei und daß das alles schrecklich sei. Jetzt ist er Teil dieser Bundeswehr.
({69})
- An Ihrer Stelle würde ich diesen Zwischenruf wirklich nicht machen. Denn wenn ich mir vorstelle, was Sie in diesen Jahrzehnten an sogenannter Wissenschaft betrieben haben, um das Regime zu festigen, würde ich raten, in diesem Haus ganz ruhig zu sein.
({70})
Von Leuten, die den ideologischen Unterbau dieses Terrorregimes geliefert haben, brauchen wir keine Nachhilfe.
({71})
Bei aller Freude über die Fortschritte, die wir gemacht haben, bitte ich Sie, im Rahmen unserer Möglichkeiten, jeder für sich und an seinem Platz - das sage ich auch an die Adresse der Bundesregierung -, immer daran zu denken, daß sich bei allen wirtschaftlichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Fortschritten das Leben der Menschen so draBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
matisch verändert hat, daß es tiefe Wirkung auf ihr Denken und ihr Fühlen haben muß, und daß die, die wie ich und die meisten hier im Saal das Glück hatten, in diesen Jahrzehnten in Freiheit zu leben, den größeren Schritt auf den Freund, Partner und Nachbarn in Deutschland zugehen müssen. Wenn wir das begreifen, werden wir am Ende des nächsten Jahrfünfts einen weiteren großen Fortschritt erreicht haben. Daß die blühenden Landschaften inzwischen da sind, habe ich schon gar nicht mehr erwähnt; das zeigt, daß Ihre diesbezügliche Prognose, wie viele Ihrer Prognosen, nicht zutraf.
Meine Damen und Herren, ich bin zu den französischen Atomwaffenversuchen befragt worden. Die kritische Haltung der Bundesregierung dazu ist bekannt. Der Bundesaußenminister, ich selbst und die Bundesregierung als Ganzes haben sie mehrmals öffentlich geäußert, ich übrigens von dieser Stelle aus vor dem Deutschen Bundestag am 13. Juli.
Es ist ganz unübersehbar, daß die Bundesregierung und die französische Regierung in der Frage von Nukleartests unterschiedliche Ausgangspositionen und auch unterschiedliche Auffassungen in der konkreten Situation haben.
({72})
Ich habe ganz selbstverständlich bei mehreren Gelegenheiten mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac intensiv darüber gesprochen. Er hat diese Tests übrigens vor der Wahl angekündigt.
({73})
Es soll niemand sagen, die Bürger Frankreichs seien hintergangen worden. Das war ein Wahlkampfthema.
Der Präsident und seine Regierung sowie die große Mehrheit des - frei gewählten - französischen Parlaments halten die Testreihe im Interesse der Sicherheit der französischen Nuklearwaffen für notwendig. Sie erklären, erst auf dieser Grundlage könne Frankreich auf die Tests verzichten und zur Simulation übergehen.
Wir sind anderer Meinung. Für mich ist wichtig, daß Präsident Chirac und seine Regierung sich in diesem Zusammenhang festgelegt haben, bei den Verhandlungen über einen Teststoppvertrag so mitzuwirken, daß der Vertrag in einem Jahr abgeschlossen und unterzeichnet wird. Er hat sich gestern noch einmal bereit erklärt, unter diesem Gesichtspunkt die Zahl der Nukleartests zu reduzieren.
Meine Damen und Herren, wir sind in dieser Frage, denke ich, in diesem Haus einig. Wir fordern gemeinsam den Abschluß eines überprüfbaren und weltweit anwendbaren Teststoppvertrags. Das ist ein wichtiges Ziel unserer Außenpolitik, und es ist nicht zuletzt ein wichtiger Auftrag, dem sich unser Kollege Kinkel widmet, dies in Genf bei der Abrüstungskonferenz zu erreichen. Das war unsere Meinung; das bleibt unsere Meinung. Unsere französischen Freunde wissen das.
Denjenigen, die jetzt dieses Thema, das ich für sehr bedeutend halte, hochstilisieren, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was es heißt, zwischen Deutschland und Frankreich eine solche Dissonanz zu erzeugen, will ich sagen, daß sie eine Politik betreiben, die ich nicht mitmache. Alle meine Amtsvorgänger und auch viele aus den verschiedensten Parteien hier im Hause haben an der deutsch-französischen Freundschaft mitgewirkt. Sie ist eine der kostbarsten Errungenschaften der Nachkriegszeit.
({74})
Es gab in diesen Jahrzehnten immer erhebliche Kontroversen in der Sache. Das ist doch ganz normal. Wir haben sie unter Freunden auszutragen versucht. Aber ich bin nicht bereit, an irgendeinem Punkt mitzumachen, der diese Freundschaft in irgendeiner Form beschädigen könnte. Wir brauchen, wie das tägliche Brot, in den nächsten Jahren bei dem Bau des Hauses Europa die deutsch-französische Partnerschaft und Freundschaft. Das ist das Wichtigste, was überhaupt ins Haus steht.
({75})
Wenn das so ist, dann kann man seinen Protest anmelden, kann man seine Kritik, auch herbe Kritik, äußern. Aber man muß doch verstehen, daß man in einer Güterabwägung das richtige Wort trifft. Manches, von dem, was ich an Protestaufrufen in Deutschland lese, ist ziemlich dümmlich. Diejenigen, die das auf ihre Getränke ausdehnen, haben sich, wie ich finde, selbst schon dekuvriert. Dümmer geht es wirklich nicht. Das setzt uns nur dem Spott unserer Umwelt aus.
Ich glaube aber, wir können in dieser Debatte nicht über den Haushalt und die Lage des Landes reden, wenn wir nicht im Bereich der Außenpolitik auch ein Wort zur Lage im ehemaligen Jugoslawien sagen. Das ist ein vorrangiges Thema. Das ist längst kein Thema der Politiker mehr. Das ist ein Thema der Menschen. In einem Land wie Deutschland, in dem gegenwärtig an die 700 000 Menschen leben, die mit einem jugoslawischen Paß hierher gekommen sind, um hier zu arbeiten, und in dem zusätzlich rund 400 000 Bürgerkriegsflüchtlinge leben, spielt dieses Thema eine ganz besondere Rolle. Wenn Sie heute in ein beliebiges Krankenhaus in Deutschland zu einem Besuch gehen, werden Sie sehr rasch feststellen, daß so manche Krankenschwester, die dort arbeitet, aus Kroatien, Serbien oder aus Bosnien-Herzegowina kommt. Viele weinen über das Schicksal ihres Volkes.
Ich denke, wir, die Deutschen, haben doch eigentlich selbstverständlich Grund, diesen Schmerz nachzuempfinden. In diesem Hause sitzen nicht wenige, die wie ich noch als Kinder den Zweiten Weltkrieg, die Flucht und die Vertreibung erlebt haben. Wenn diese Generation, aber auch die Generation der Jungen, die es aus den Erzählungen der Eltern und der Großeltern weiß, diese Bilder von Flüchtlingstrecks auf den Straßen sieht, dann kann uns das nicht gleichgültig sein.
({76})
Ich sage das nicht, um uns zu rühmen, sondern weil ich das für selbstverständlich halte. Wir sind das reichste Land in Europa. Wir haben unsere Geschichte. Als wir 1945 am Ende waren, haben uns andere geholfen, nicht zuletzt die Amerikaner. Denken Sie daran! In diesen Tagen jähren sich Care, HooverSpeisungen und vieles andere. Wenn wir nicht inzwischen für Not stumpf geworden sind, dann müssen wir jetzt im humanitären Bereich tun, was wir tun können. Das sind gewaltige Summen. Es sind allein über 11 Milliarden DM, die wir vor Ort und in den Ländern und Gemeinden in der Bundesrepublik seit 1991 ausgegeben haben.
({77})
- Herr Schäuble ist genau der gleichen Meinung. Wie können Sie denn so einen Zwischenruf machen! Nein, wirklich! Ich meine, es darf nicht so weit kommen, daß die parteipolitische Abneigung einem jeden Sinn für die Menschlichkeit verstellt; übrigens auch untereinander.
({78})
Ich werde das Thema in ein paar Tagen bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs auf Mallorca - auf Einladung von Felipe Gonzales - ansprechen. Wenn ich sage, wir brauchen eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Europa, dann ist das keine Absage für Deutschland. Nur geht es nicht, daß hier über 400 000 Flüchtlinge sind und andere fast nichts tun. Ich bin im übrigen überhaupt der Meinung, daß wir die Politik an diesem Punkt noch einmal sorgfältig betrachten müssen, ob nicht die Europäische Union und natürlich damit auch wir vor Ort mehr tun müssen, um wenigstens in der Nähe der Heimat, wenn es schon nicht in der Heimat selbst möglich ist, beispielsweise im Sprachgebiet der Betroffenen, Auffanglager zu bauen, damit man von dort aus neu aufbauen kann. Es ist eine katastrophale Lage für Kinder, wenn sie über viele Jahre von ihrem Ursprungsgebiet getrennt sind und die Sprache ihrer Heimatländer und das ganze Umfeld nicht mehr begreifen. Das muß uns umtreiben, und so werden wir uns verhalten.
({79})
Aber das vordringlichste Ziel muß die rasche Beendigung von barbarischer Gewalt sein. Die Erkenntnis muß Platz greifen, daß durch kriegerische Taten kein Friede zu gewinnen ist. Wenn ich das sage, so ist das keine Absage an die NATO und das, was sie getan hat. Die NATO-Luftangriffe waren notwendig, insbesondere im Bereich von Sarajevo.
Ich bin nachdrücklich dafür - das habe ich in den letzten Wochen in vielen Gesprächen zum Ausdruck gebracht -, daß wir zur Eile drängen, nicht nur wegen des augenblicklichen Leids der Betroffenen, sondern auch wegen des Winters in wenigen Wochen. Dann wird die Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen dort noch viel katastrophaler sein. Auch hier haben die Deutschen ihre eigene Erfahrung.
Deswegen werden wir zum jetzigen Zeitpunkt praktisch Tag für Tag mit unseren Partnern, Freunden und Kollegen zu reden haben. Ich habe das in meinen Gesprächen mit dem amerikanischen und dem französischen Präsidenten, mit dem britischen Premierminister, mit zwei der Präsidenten im früheren Jugoslawien und am Wochenende mit Präsident Jelzin getan. Wir sind uns einig: Es gibt nur eine politische Lösung. Es gibt jetzt eine Chance - ob sie erfolgreich sein wird, weiß ich nicht -, Ende nächster Woche, wenn die Politischen Direktoren der fünf Länder der Kontaktgruppe mit den drei Außenministern zusammenkommen, ernsthafte Verhandlungen zu eröffnen.
Ich habe Boris Jelzin dringend gebeten, die Chance, die er besser als jeder andere hat, im Umgang mit dem serbischen Präsidenten und mit der serbischen Seite voll auszuschöpfen. Wir selber haben mit der Führung Bosnien-Herzegowinas und mit Präsident Tudjman das uns Mögliche getan. Wir werden es weiterhin tun. Ich füge hinzu: Wenn dieser erste Kontakt noch nicht zum Ziel führt, dann laßt uns möglichst rasch einen zweiten aufnehmen. Wir müssen am Ball bleiben, damit das Ziel, das Jelzin und auch Präsident Clinton genannt haben, vielleicht noch in diesem Herbst zu einer abschließenden Konferenz der Staats- und Regierungschefs für den Bereich Kontaktgruppe plus die drei Länder zu kommen, erreichbar ist.
Ich füge hinzu: Ich werde mich an nichts beteiligen, wenn der Erfolg dieser Konferenz nicht vorher gesichert ist, denn der Mißerfolg einer solchen Konferenz hätte katastrophale Folgen, ich fürchte, auch kriegerische Folgen in weitem Umfang.
({80})
Jetzt geht es um die Frage: Was ist für uns Voraussetzung? Ich denke, darüber sind wir uns einig: Alle Beteiligten müssen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts einhalten. Menschenrechtsverletzungen, Vertreibung, Mord, Plünderung und Zerstörung können nicht akzeptiert werden, von wem auch immer sie begangen werden. Hier darf es keine Einseitigkeit geben.
({81})
Herr Abgeordneter Fischer, um das klar zu sagen: Das, was Sie vorhin als Anmerkung und Frage mit Blick auf die ethnischen Säuberungen an mich richteten, gehört genau dazu. Das ist für mich ein Teil unserer Vorstellung von humanitärem Völkerrecht. Für mich gehört auch der Minderheitenschutz dazu. Wer die Region und die 500 Jahre Geschichte seit der Schlacht auf dem Amselfeld kennt, der muß wissen, daß es dort ohne einen klugen und abwägenden Minderheitenschutz nie Frieden geben wird.
Wenn dies richtig ist, muß unsere Position genau auf dieser Linie liegen, und wir müssen dafür Sorge tragen, daß andere das ebenfalls so akzeptieren. Damit wir unser Wort geben können - auch das sage ich noch einmal ganz offen -, ist es wichtig, daß im Sinne
dessen, was wir hier im Deutschen Bundestag in Übereinstimmung mit unserer Verfassung beschlossen haben, die deutsche Bundeswehr ihren Einsatz leistet - nicht mehr, aber auf gar keinen Fall weniger. Auch das muß klar ausgesprochen werden. Ich finde, wir haben allen Grund, den Soldaten der Bundeswehr zu danken, die dort ihren Dienst tun und in einer besonderen Weise deutlich machen, daß Freiheit nicht zum Nulltarif zu haben ist. Auch das ist eine aufrüttelnde Erfahrung dieser Zeit.
({82})
Ein letztes in diesem Zusammenhang will ich wiederholen, weil es gelegentlich unterschlagen wird, wenn über unsere Meinung diskutiert wird.
Ich bin nicht bereit - ich hoffe, Sie alle auch nicht -, dann, wenn nicht mehr geschossen wird und Friede kommt, territoriale Veränderungen zu akzeptieren, die zuvor auf dem Weg der brutalen Gewalt herbeigeführt worden sind.
({83})
Ich sage mit großer Entschiedenheit und Nachdenklichkeit: Wenn wir in Europa wieder zulassen, daß Gewalt im Leben der Völker honoriert wird, dann werden wir schnell wieder dort sein, wo wir 1938 in Europa standen. Das darf nie wieder deutsche und internationale Politik sein.
({84})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß noch ein kurzes Wort zur Europapolitik. Wir können doch heute nicht über den Haushalt 1996 beraten, ohne uns daran zu erinnern, daß nach dem Maastrichter Vertrag 1996 die Verhandlungen beginnen. Im Vertrag steht nicht ein genaues Datum oder der Monat, aber das Jahr 1996. Deswegen habe ich vor ein paar Tagen bei unseren Gesprächen - zusammen mit dem Bundesaußenminister - mit den italienischen Kollegen in Stresa den Italienern gesagt - sie haben ab 1. Januar 1996 den Vorsitz in der Europäischen Union -, daß wir davon ausgehen, daß die Verhandlungen nach sorgfältigen Vorbereitungen beginnen. Das gilt dann auch für die zweite Präsidentschaft im Jahr 1996, die die Iren innehaben werden.
Warum soll ich hier meine Meinung unterdrücken: Ich glaube, das Jahr 1996 wird für die Verhandlungen nicht ausreichen. Deswegen meine ich, wenn ich von Maastricht II rede, daß wir unter der niederländischen Präsidentschaft, die die erste Maastricht-Verhandlungsrunde vorzüglich geleitet hat, eine zweite Verhandlungsrunde mit dem Abschluß der Vereinbarungen bekommen werden.
Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Was immer man an Kritik an der europäischen Entwicklung vorbringen kann, gerade die schrecklichen Erfahrungen im früheren Jugoslawien zeigen uns, wie notwendig das Haus Europa ist. Diejenigen, die den Europäern Versagen vorwerfen, müssen mir die Frage beantworten: Wie können wir eigentlich ohne das Instrumentarium, das wir nun erst schaffen, jetzt das Notwendige tun? Hätten wir die Entscheidung, die wir jetzt treffen wollen, vor zehn Jahren getroffen, hätten wir ganz andere gemeinsame Handlungsmöglichkeiten gehabt.
Wir müssen in diesen Monaten, in diesen anderthalb Jahren, in den wichtigsten Politikbereichen Europas vorankommen: in den Bereichen der Finanz-, Wirtschafts-, Agrar- und Strukturpolitik. Wir müssen über eine faire Lastenverteilung reden. Nicht alles, was sich hier in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut hat, kann man heute als fair bezeichnen.
Wir haben ferner die wichtige Frage der Heranführung der Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zu sehen. Als Deutsche haben wir ein elementares Interesse daran, daß unsere Nachbarn in Tschechien, in der Slowakei, in Polen und in Ungarn, um einmal die erste Gruppe zu nennen, dieses Ziel bald erreichen. Wir wissen um die Schwierigkeiten im Umdenken, das notwendig ist. Wir brauchen eine enge, gutnachbarschaftliche Beziehung zu Rußland, und aus gutem Grund nenne ich hier vor allem auch die Ukraine.
Das alles setzt voraus, daß deutsche Politik nicht nach dem Motto geschieht: Wir sind die Besten, wir sind die Größten, am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Vielmehr müssen wir fähig sein, uns einzuordnen, Kompromisse zu finden, die tragfähig sind, die auch in der Innenpolitik tragfähig sein müssen. Am Ende dieses Jahrhunderts wollen wir als ein Land und ein Volk hervortreten, das Werke des Friedens tut und dem Frieden und Freiheit ein zentrales Gut sind.
Wir haben in diesem Jahr zurückgeschaut, und es war ja die Erleichterung spürbar, daß die Befürchtungen im Zusammenhang mit den Wochen Ende April/ Anfang Mai nicht eintrafen. Die Befürchtungen waren ja eigentlich verständlich, daß jetzt alles wieder hochkommt und vielleicht viele in unserer Nachbarschaft vergessen, daß es heute das neue Deutschland gibt. Aber wir wollen nicht vergessen - und wir haben es auch nicht vergessen -, was vor über 50 Jahren die Deutschen getan haben und was im deutschen Namen geschehen ist.
Wer in London, in Paris, in Berlin und auch in Moskau dabei war und das Glück hatte zu erleben - ich will das hier als persönliches Glück bezeichnen -, wie die Israelis, wie die Niederländer und wie die Polen uns heute begegnen, der weiß, was für einen großartigen Weg wir zurückgelegt haben.
Dies ist nicht die Sache einer einzigen Partei; ich füge dies ausdrücklich dazu. Es gab auf diesem Weg viele ganz unterschiedliche Positionen.
Heute vor acht Tagen standen wir abends - eine ganze Reihe Kollegen waren ja dabei - noch vor dem alten Schloß in Münster. Dort ist das deutsch-niederländische Korps in Dienst gestellt worden. Man muß sich einmal vorstellen, was das heißt. Der Kommandeur trat vor und hat sein Amt übernommen; er ist ein Niederländer. Sein Nachfolger wird ein Deutscher sein. Wenn man berücksichtigt, daß praktisch
das Gros des niederländischen Heeres in dieses Korps integriert ist, kann man nachempfinden, was es bedeutet, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt der Kommandeur ein Deutscher sein wird.
Wenn man das einen Moment überlegt und innehält, dann, finde ich, hat man allen Anlaß zu sagen: Wir haben Grund zur Dankbarkeit und zur Freude, daß über Gräber und Trümmer hinweg dieser Weg Deutschlands möglich war. Wir wollen nicht vergessen, wo wir herkommen: aus Krieg und Zerstörung und Nazibarbarei. Aber wir wollen über der Geschichte die Zukunft nicht vergessen; wir wollen sie gemeinsam gestalten.
Ein vereintes Europa im Verbund mit unseren amerikanischen Freunden und ein wiedervereintes Deutschland - bei allem Streit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Dafür lohnt es sich zu arbeiten.
({85})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Abgeordneten Heuer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Bundeskanzler, Sie haben mir auf meinen Zwischenruf gesagt, ich hätte als Wissenschaftler dieses System stabilisiert, und deswegen sollte ich den Mund halten.
({0})
- Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat heute erklärt, er suche das Gespräch. Was Sie suchen, sind Leute, die den Mund halten, und das finden Sie in mir nicht.
({1})
Ich habe dieses System, wie es war, als Wissenschaftler stabilisiert und kritisiert. Ich habe dazu eine Menge geschrieben. Herr Bundeskanzler, Sie müssen es lesen; dann können wir darüber diskutieren.
Was ich viel schlimmer finde, ist, daß ein Wissenschaftler, weil er in diesem Staat gearbeitet hat, diskriminiert wird, und das betrifft ja nicht nur Juristen. Das betrifft Archäologen, das betrifft einen weltbekannten Chirurgen wie Professor Klinkmann, der deshalb nicht mehr in Deutschland arbeiten darf, weil er auf einem SED-Parteitag geredet hat. Sie diskriminieren die ostdeutsche Wissenschaft zu erheblichen Teilen. Das ist mir viel wichtiger als das, was Sie über mich sagen.
({2})
Ich möchte ein Zweites sagen. Ich habe einen Zwischenruf zur Frage der NATO gemacht, und dann wurde mir geantwortet: Sie waren ein schlechter
Wissenschaftler. Sie haben ja gar nicht zu dem Stellung genommen, was ich gesagt habe. Was mich bewegt, ist, daß die NATO heute tatsächlich ein Kriegsinstrument ist.
({3})
Hier ist heute vieles dazu gesagt worden, was man alles an schlimmen Bildern im Fernsehen sieht. Was sahen wir denn in den letzten Tagen im Fernsehen? - Wir sahen Bilder von klinisch reinen Luftangriffen, wie im Golfkrieg und wie ich sie in der großdeutschen Wochenschau gesehen habe.
({4})
Davor habe ich Angst. Ich habe diese Bilder damals gesehen. Wenn Herr Schäuble sagt, man wolle nicht, daß der Kampf bis zum letzten Franzosen geführt werde, dann habe ich Angst vor der Außenpolitik dieses Landes.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es macht sich immer ganz gut, Herr Bundeskanzler, wenn man am Beginn einer Rede seine innere Befindlichkeit schildert.
({0})
Sie haben das getan; ich will das auch tun.
Mir geht es nämlich wie Ihnen: Haue ich jetzt richtig drauf, schreibt die Presse vermutlich, wir wollten ablenken. Bin ich sehr zurückhaltend, heißt es, wir hätten unsere Angriffslust verloren.
Ich will es andersherum versuchen und Ihnen bei einer Stelle zustimmen, bei der Sie es vielleicht nicht vermuten. Als Sie in bezug auf eine bestimmte Diskussion in meiner Partei gesagt haben „Was zuviel ist, ist zuviel” , habe ich aus vollem Herzen zugestimmt. Ich sage Ihnen: Deshalb haben wir das auch entschieden. Derjenige von uns, der Sie ablösen wird, heißt Rudolf Scharping, und dort sitzt er.
({1})
- Herr Waigel, wenn Sie mal wieder Opposition machen dürfen, wird Ihnen das Lachen hoffentlich nicht vergehen. Ich hoffe, es wird Ihnen so viel Spaß machen, wie mir jetzt schon nicht mehr, weil es langsam Zeit wird.
Wenn es noch jemanden gibt, der Bundeskanzler werden will, was in Deutschland ja nicht verboten ist,
(
Das ist auch wahr!)
dann ist das nur ein Zeichen dafür, daß die Aussichten so ungünstig nicht eingeschätzt werden. Nach dem, was Ihre beiden Koalitionsstützen Schäuble und Gerhardt heute morgen hier geboten haben, muß ich sagen: Von Dynamik, von Reformgeist, von Schwung ist in Ihrer Koalition aber auch nichts mehr zu spüren.
({0})
Diese wirklich müde Pflichtübung, die die beiden heute morgen hier abgeliefert haben, zeigt mir schon, daß wir mit unserer Kritik an der völlig richtigen Stelle sind. Sie haben keine Vorstellung mehr davon, wie Sie wirklich die Zukunft unseres Landes gestalten können.
({1})
Herr Bundeskanzler, vergegenwärtigen Sie sich noch einmal Ihre eigenen Worte aus Ihrer Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode; ich habe sie noch gut in Erinnerung. Dort kamen dauernd Worte wie „Innovation", „Reform", „Erneuerung", „Dynamik" vor. Aber was haben Sie in der Zwischenzeit getan? Wo sind die Erfolge, wo sind die Ergebnisse einer Politik, die angeblich auf Erneuerung und Modernisierung setzt?
Herr Scharping hat Ihnen dazu heute morgen eine Reihe von Fragen gestellt, die Sie nur zum Teil beantwortet haben. Ich stelle also fest: Der Bundeskanzler beantwortet die Frage nicht, ob seine Koalition das System der gesetzlichen Sozialversicherung grundlegend verändern will oder nicht.
({2})
Sie haben zwar von Umbau gesprochen, aber zu denjenigen in Ihrer Koalition, die alle paar Wochen die Öffentlichkeit damit überraschen - oder inzwischen schon nicht mehr überraschen -, daß sie die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber einfrieren wollen oder Karenztage bei der Lohnfortzahlung einführen wollen oder bei der Pflegeversicherung die zweite Stufe allein durch Urlaubstage der Arbeitnehmer bezahlen wollen, haben Sie nichts gesagt. Ich schließe daraus, daß Sie auch diese Diskussion einfach laufen lassen wollen.
({3})
Aus all dem, was allein im letzten halben Jahr von Ihnen unwidersprochen aus den Reihen Ihrer Koalition zur Veränderung des Sozialstaates gesagt worden ist, ergibt sich eine ganz klare Linie, und niemand kann im Grunde mehr daran zweifeln, was Sie und Ihre Regierung, Ihre Koalition wollen: Sie wollen weiterhin die sozialen Standards in unserem Lande senken, weil Sie das für den Weg halten, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhöhen.
({4})
Dieser Weg hat sich seit zwölf Jahren als Irrweg erwiesen. Herr Schäuble hat es heute morgen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, indem er sagte: Es besteht in Deutschland kein Mangel an Nachfrage nach Arbeit, es besteht ein Mangel an Nachfrage nach Arbeit zu diesem Preis.
({5})
Meine Damen und Herren, glauben Sie denn im Ernst, daß wir den Wettbewerb um die niedrigsten Löhne in Europa jemals gewinnen können? Wollen Sie diesen Wettbewerb gewinnen?
({6})
_ Derjenige Wettbewerb, den wir gewinnen können und den wir gewinnen wollen, ist der Wettbewerb um bessere, um technologisch anspruchsvollere Produkte. Das ist der Wettbewerb, in den wir uns begeben müssen.
({7})
- Ich bin immer ganz froh, wenn ich aus solchen Zwischenrufen höre, daß in Wahrheit die SPD hier regiert und nicht eine CDU/CSU-F.D.P.-Koalition. Das ist manchmal ganz überraschend.
Dann halten Sie uns gerne vor - das haben Sie heute wieder getan -: Das Land sieht nicht so aus, wie die SPD das in ihrer Kritik an der Politik der Regierung schildert. Das ist ein Stereotyp; das kennen wir von Ihnen schon seit einer Reihe von Jahren.
Gibt es wirklich nicht die Arbeitslosen, die mehr und mehr verzweifeln, weil sie keine Politik mehr sehen, die neue Arbeitsplätze schafft? Gibt es wirklich nicht die Wohnungsnot, die drückender und drükkender wird für mehr und mehr Familien in diesem Land, weil bezahlbarer Wohnraum nicht mehr zur Verfügung gestellt wird?
({8})
Gibt es nicht die schrecklichen Folgen der Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern?
Die Wachstumsraten, die uns der Bundeskanzler genannt hat, sind ganz schön. Aber diese Wachstumsraten basieren auf einem so niedrigen Niveau, daß sie nicht ausreichen, um eine anhaltende gesunde Entwicklung in Gang zu bringen.
({9})
Der Bundeskanzler hört im Augenblick nicht mehr zu.
(
Doch, er hört zu!)
- Entschuldigung, ich konnte Sie dort nicht sehen; das ist schon in Ordnung.
Es sind eine Reihe von unbeantworteten Fragen übriggeblieben. Was ist mit den Lohnnebenkosten? Herr Blüm schreibt in seinem Brief an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - ich darf Ihnen auch diesen Satz zitieren, weil er nicht untergehen sollte -:
Aus der Analyse der Entwicklung der Finanzierungsstrukturen
- er meint: der Sozialversicherung läßt sich daher nur der Schluß ziehen, daß der Trend einer verstärkten Belastung der Beitragszahler zugunsten der Steuerfinanzierung geändert werden muß.
Das schlagen wir seit mehr als zwei Jahren vor. Wo sind die Aktivitäten Ihrer Regierung, die Kosten der Arbeit endlich zu senken?
({0})
Was ist mit der Lohnfortzahlung? Akzeptieren Sie das, was die Gewerkschaften erkämpft haben? Akzeptieren Sie die Tarifautonomie auch an diesem Punkt, oder soll das hier so gehen, wie es Herr Schäuble heute morgen angedeutet hat und wie wir es im vergangenen Jahr erlebt haben: Geht es - ich sage: scheinbar - aufwärts, ist es die Regierung gewesen; geht es schlecht, dann waren es die Tarifpartner. Die Tarifautonomie können Sie entweder ganz oder gar nicht haben. Da werden Sie sich entscheiden müssen, meine Damen und Herren.
({1})
Wo ist Ihre Antwort auf die Frage vieler Menschen in unserem Land, vor allen Dingen von Frauen, nach der Möglichkeit familiengerechter Teilzeitarbeit? Geredet haben Sie darüber viel, geschehen ist nicht das geringste - überhaupt nichts! Ich werde Ihnen gleich ein Angebot machen, was wir da vielleicht zusammen tun können. Nichts ist geschehen!
Was die Ausbildungssituation angeht, über die Sie dann gesprochen haben, Herr Bundeskanzler, so will ich Ihnen dazu folgendes sagen: Nach dem Stand vom 1. September dieses Jahres sind 100 000 junge Menschen in unserem Land ohne Ausbildungsplatz, d. h. 100 000 junge Menschen sind ohne berufliche Perspektive, 100 000 Menschen, die in dem Moment, von dem man sagt, daß da der Ernst des Lebens beginnt, mit einer schweren Enttäuschung und Frustration anfangen müssen. Diesen 100 000 hilft es nichts, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, sich auf regionale Unterschiede herausreden. Das hilft gar nichts.
80 % der Ausbildungsplätze in unserem Land werden vom Handwerk und vom Mittelstand zur Verfügung gestellt. Es wäre also die richtige Politik, die Investitionsfähigkeit, die Ertragssituation und damit die Ausbildungskapazität dieses Wirtschaftsbereichs zu stärken.
Was aber haben Sie gewollt - das ist erst ein paar Wochen her und sollte nicht vergessen sein -: Sie haben die Abschreibungsbedingungen gerade für die mittelständische Wirtschaft im Zusammenhang mit der Diskussion über das Jahressteuergesetz und damit die Investitionsbedingungen und die Ausbildungsbefähigung der mittelständischen Wirtschaft verschlechtern wollen.
({2})
Wir sind ja bereit - das, was ich jetzt sage, ist bekannt und daher nichts Neues -, mit Ihnen im Herbst dieses Jahres über die Unternehmensteuerreform zu reden. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn Sie nicht erwähnt haben, daß diese Gespräche vereinbart sind. Eines aber will ich Ihnen an dieser Stelle gleich sagen: Eine Unternehmensteuerreform mit dem Ergebnis, daß die Investitions-, Innovations- und Ausbildungsfähigkeit gerade der mittelständischen Wirtschaft verschlechtert wird, wird es mit uns ganz gewiß nicht geben.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die politische Situation, in der wir uns befinden, ist durch einen ganz einfachen, aber von vielen noch immer nicht durchschauten Tatbestand geprägt, nämlich durch die Tatsache, daß die Bundesregierung wichtige Gesetzgebungsvorhaben nicht mehr allein und die Opposition, die SPD, sie noch nicht allein durchsetzen kann. Das heißt, daß über alle notwendige und klare Opposition hinaus die Suche nach konkreten Verbesserungen nicht aufhören darf, weil sonst Stillstand und gegenseitige Blockade entstünden.
Der Vorwurf, der hier erhoben wurde, ist unzutreffend; ich weise ihn mit Schärfe zurück. Zu keinem Zeitpunkt ist es die Strategie der SPD gewesen, über die sozialdemokratisch geführten Länder im Bundesrat eine Blockade der Gesetzgebung zu erreichen.
({4})
Vielmehr achten und respektieren wir die unterschiedlichen Rollen von Bundestag und Bundesrat. Wir kennen die unterschiedlichen Aufgaben des Bundes und der Länder.
Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit mit der Bitte, ein bißchen darüber nachzudenken, sagen: Ein Teil der Probleme, die meine Partei manchmal hat, hängt auch damit zusammen, daß wir die Konflikte zwischen Bund und Ländern, die von der parteipolitischen Zusammensetzung der Koalitionen im Bund und in den Ländern ganz unabhängig sind, in unseren eigenen Reihen viel stärker austragen müssen als beispielsweise die F.D.P., die auf Länderebene nicht mehr vorhanden ist, und auch stärker als die CDU, die nicht diese führende Position in den Ländern hat. Darüber sollten Sie einmal einen Augenblick nachdenken.
Meine Damen und Herren, Sie müssen auch in Zukunft davon ausgehen, daß die sozialdemokratisch geführten Länder im Bundesrat, die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten und die Bundestagsfraktion der SPD da, wo es um die Grundlinien und die Prinzipien sozialdemokratischer Politik geht, eine gemeinsame Linie vertreten werden. Setzen Sie nicht darauf, daß da etwas auseinanderbricht. Das wird nicht geschehen.
({5})
Diese Politik hat Erfolge gezeitigt. Ein bekannter Kommentator einer bedeutenden Wirtschaftszeitung schrieb in diesen Tagen als Gesamtwürdigung des Jahressteuergesetzes von der Sozialdemokratisierung der Steuerpolitik. Das ist auch richtig. Wenn
man sich in Erinnerung ruft, wie Sie bei diesem Jahressteuergesetz angefangen haben - Sie haben eine jedenfalls nach unserer Auffassung verfassungswidrige Regelung des Existenzminimums geplant; beim Kindergeld wollten Sie gar nichts machen - und was dabei herausgekommen ist, dann finde ich, daß sich das sozialdemokratische Ergebnis hier sehr, sehr gut sehen lassen kann.
({6})
Wir haben aus der Opposition heraus ein wichtiges und wertvolles Stück unseres Regierungsprogramms verwirklichen können. Dasselbe gilt für das Mietenüberleitungsrecht für den Osten Deutschlands, für die Verbesserung der Ausbildungsförderung und die hoffentlich jetzt endgültige Regelung über den Schwangerschaftsabbruch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als Opposition sehen vieles anders als Sie. Das werden Sie nicht anders erwartet haben. Wir begnügen uns aber nicht damit, Ihnen zu sagen, was wir anders sehen, sondern wir verlangen konkrete Korrekturen an Ihrer Politik.
({7})
Ich werde Ihnen jetzt eine ganze Reihe von Korrekturen vorschlagen, die wir gemeinsam umsetzen können. Sie brauchen nur zuzugreifen.
Greifen Sie erstens unseren Vorschlag auf, ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz zu entwickeln - ein Vorschlag von uns liegt vor -, das die Aufgabe des Strukturwandels mit der Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik verbindet und endlich dafür sorgt, daß in unserem Land die Arbeitslosigkeit bekämpft und nicht nur finanziert wird, wie es jetzt geschieht.
({8})
Zweitens. Unterstützen Sie mit uns zusammen eine große Initiative für die Schaffung von vollwertigen Teilzeitarbeitsplätzen, vor allen Dingen für Frauen! Dazu müssen Sie eine einzige Sache mit uns gemeinsam tun - ich fordere Sie dazu auf -: Schaffen Sie endlich diese menschenunwürdige Geringfügigkeitsgrenze bei den Einkommen ab!
({9})
Senken sie mit uns zusammen die Lohnnebenkosten! Begnügen Sie sich nicht damit, darüber zu jammern, hier in Deutschland sei die Arbeit zu teuer, unsere Wettbewerbsposition verschlechtere sich! Wirken Sie daran mit, wie wir vorgeschlagen haben, daß z. B. durch die Herausnahme der Kosten für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus der Bezahlung durch die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sinken! Das tut allen gut. Das tut der Sozialversicherung gut. Das tut den Betrieben gut, das tut den Beschäftigten gut, das tut unserer Wirtschaft insgesamt gut. Meine Damen und Herren, Sie brauchen es nur zu wollen. Das Angebot liegt auf dem Tisch. Es gibt einen Weg, die Arbeitskosten in unserem Land zu senken.
Greifen Sie mit uns endlich das Konzept einer ökologischen Steuerreform auf! Was soll ich mit den sehr vagen Ankündigungen, die Herr Schäuble heute morgen gemacht hat, anfangen? Und was soll ich mit den noch vageren Ankündigungen von Herrn Gerhardt machen? Sie müssen sich schon die Mühe einer eigenständigen Denkleistung machen.
Wir haben nichts dagegen, wenn wir in einen Wettbewerb treten, was die Konzepte zur ökologischen Steuerreform angeht. Aber eines wissen wir ganz genau: Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. Wenn wir die in unserem Steuersystem vorhandenen Elemente zur Steuerung der notwendigen Umweltinvestitionen und zur Verhinderung einer weiteren Ressourcenvergeudung nicht bald anwenden, dann werden uns die Kosten so davonlaufen, daß wir kaum noch eine Chance haben werden, sie einzuholen. Machen Sie mit uns zusammen den entschlossenen Schritt hin zur ökologischen Wende unserer Industriegesellschaft. Machen Sie mit uns zusammen eine ökologische Steuerreform, meine Damen und Herren.
({10})
Verbessern Sie die Bedingungen für Investitionen im privaten und im öffentlichen Bereich zur Verminderung des Energieverbrauchs! Das ist die entscheidende Frage; es geht um die Energie. Sie haben aber das Gegenteil getan. Es geht nicht, den Zustand der Umwelt zu beklagen und gleichzeitig eine Politik zu betreiben, die zwingend dazu führt, daß sich der Zustand der Umwelt verschlechtern muß. Führen Sie die Verbesserungen, die wir vorgeschlagen haben, ein!
({11})
Meine Damen und Herren, bilden Sie - das gilt schon für den Haushalt 1996 - neue Schwerpunkte für den Bereich Forschung, Entwicklung, Bildung und Ausbildung! Ich habe schon darauf hingewiesen und wiederhole es noch einmal: Wir wollen ein Land mit hohen Löhnen und mit hohem Lebensstandard bleiben. Irgendwo ferne klingelt bei mir etwas: War es nicht Ludwig Erhard, war es nicht die CDU, die einmal die Parole hatten: Wohlstand ist für alle da?
Jetzt betreiben Sie eine Politik, die die Einkommensverteilung, die Vermögensverteilung, aber auch die Zuteilung von Chancen in unserem Land immer einseitiger und immer schlechter für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für deren Kinder macht.
({12})
- Es ist die Wahrheit. Es ist keine Polemik. Schauen Sie sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt an, und reden Sie vielleicht einmal mit denjenigen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben, weil das Management ihres Unternehmens nicht innovationsfähig gewesen
ist. Dann fragen sie sich, ob es Polemik ist, wenn man sagt, daß die Chancen für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land schlechter geworden sind.
Greifen Sie unseren Gedanken auf, die Ausbildungsförderung dadurch voranzutreiben und zu sichern, daß es eine einheitliche Grundförderung für alle gibt! Ihre platte Kürzung entspricht Ihren ideologischen Fixierungen und dem, was Sie immer gemacht haben. Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, dann kürzen Sie eben. Wenn es irgendwo einen Bereich gibt, bei dem es falsch ist, zu kürzen, dann dort, wo es um die Bildungs- und Ausbildungschancen der jungen Menschen in unserem Lande geht.
({13})
Ich nehme es dem Bundeskanzler ja ab, was er zu den Zukunftschancen junger Leute gesagt hat, auch was seine persönliche Betroffenheit angeht. Aber ich frage: Warum läßt er dann eine solche Handlungsweise in seiner Koalition zu? Warum wird dann diese brutale Kürzung beim BAföG einfach durchgesetzt?
Meine Damen und Herren, sorgen Sie mit uns dafür, daß ein brauchbares Entsendegesetz zustande kommt! Es ist ein unhaltbarer Zustand, den Sie haben einreißen lassen, nämlich daß es in diesem Land Arbeitsplätze gibt, die weit unter dem Standard deutscher Arbeitsplätze angeboten werden, mit dem Ergebnis, daß qualifizierte einheimische Arbeitnehmer auf dem eigenen Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben. Wenn es im Großraum Berlin 30 000 arbeitslose Bauarbeiter und 45 000 beschäftigte ausländische Bauarbeiter gibt, können Sie das nicht hinnehmen.
({14})
Dieses Entsendegesetz ist überfällig; ein gründliches Entsendegesetz muß schnell kommen.
({15})
Arbeitsplätze in Deutschland können nicht exklusive Arbeitsplätze für Deutsche sein - das wird niemand fordern -, aber eines kann man fordern, nämlich daß die Arbeitsplätze in Deutschland denselben Standards genügen, egal, ob derjenige, der sie besetzt, ein Deutscher oder ein Ausländer ist.
Bekämpfen Sie mit uns aktiv die Steuerhinterziehung! - Ja, da war ich nun wirklich einmal überrascht, Herr Bundeskanzler.
({16})
Wir nehmen Sie schon ernst genug und schicken zu Ihren großen Kundgebungen immer jemanden hin, der aufschreibt, was Sie sagen. Daß Sie die Steuerhinterziehung bekämpfen, ist uns aber bisher nicht aufgefallen. Aber selbst wenn Sie, verehrter Herr Bundeskanzler, es in Ihren Reden immer gesagt haben, dann muß ich Ihnen erwidern: Es reicht doch nicht aus, daß Sie auf Marktplätzen über die Steuerhinterziehung reden; notwendig ist, daß Sie der Justizministerin und dem Finanzminister sagen, daß sie Gesetze auf den Tisch legen müssen, damit die Steuerhinterziehung wirklich bekämpft wird.
({17})
Wenn Sie es mit der Bekämpfung der Steuerhinterziehung wirklich ganz ernst meinen - das fände ich ganz toll -, dann brauchen Sie der Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Lohnsteuer nicht mehr so tief in die Tasche zu greifen, wie das heute der Fall ist.
({18})
Sorgen Sie mit uns gemeinsam dafür, daß die Kommunen endlich entlastet werden. Die Finanzsituation der Kommunen ist auf Grund Ihrer Politik in den letzten Jahren unerträglich geworden.
({19})
Sie setzen diese Politik fort, indem Sie erneut die Arbeitslosenhilfe kürzen wollen, was doch nichts anderes bedeutet, als daß die Sozialhilfeaufwendungen der Kommunen steigen müssen. Das ist doch nichts anderes als ein Verschieben der Kosten vom Bund auf die Gemeinden.
Tun Sie endlich auch etwas bei den Altschulden der Kommunen in Ostdeutschland. Die Investitionsfähigkeit der Kommunen in Ostdeutschland leidet ganz empfindlich darunter, daß eine solche Regelung noch nicht da ist. Jeder weiß, daß hier ein Kompromiß notwendig ist; jeder weiß, daß dies ein Kompromiß sein wird, bei dem es ohne Bundesbeteiligung nicht abgeht. Aber zögern Sie nicht so lange, damit endlich etwas geschieht.
({20})
Das sind die Korrekturen an Ihrer Politik, die wir verlangen, Korrekturen, die dazu führen würden, daß wir wieder Impulse für Wachstum, Erneuerung und Reform bekommen und daß wir wieder Chancen für alle Menschen in unserem Land schaffen. Sie reden davon immer nur: bei Kongressen, bei Veranstaltungen, gelegentlich auch hier im Bundestag. Aber wenn wir Ihre Worte an Ihren Taten messen, dann können wir nur zu einem einzigen Ergebnis kommen: Hinter diesen Worten verbirgt sich eine völlig andere Politik - eine einseitige, eine ungerechte und eine unsolidarische Politik. Ich sage Ihnen: Es baut sich in diesem Land eine klare und starke gesellschaftliche Mehrheit auf, die diese Ihre Politik verändern wird. Nehmen Sie mich beim Wort!
({21})
Lassen Sie mich zum Schluß noch ein paar kurze Bemerkungen zur Außenpolitik machen; es wird ja heute nachmittag noch eine außenpolitische Debatte geben. Ich kann es nicht akzeptieren, daß Herr Schäuble und auch der Bundeskanzler den Fraktionsvorsitzenden der SPD hier kritisiert haben mit dem Hinweis, er hätte sich heute zu kurz zur Außenpolitik geäußert. Rudolf Scharping hat zu Bosnien gesprochen, zu Europa, zu Frankreich und zu globalen Problemen.
Allerdings fällt mir bei dieser Gelegenheit ein, daß der Bundeskanzler in der großen Debatte des Bundestages am 30. Juni, als es um den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien ging, systematisch geschwiegen hat. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen:
({22})
daß Sie uns hier vorschreiben wollen, zu welchen Punkten wir eine Debatte über den Kanzlerhaushalt führen, während Sie selber in einer entscheidenden, großen außenpolitischen Debatte - der wichtigsten der letzten zehn Jahre - nicht ein einziges Wort gesprochen haben.
({23})
Wenn Herr Schäuble das „Verkommenheit der Politik" nennt, kann ich nur sagen: Verkommen ist gelegentlich der Diskussionsstil des Kollegen Schäuble. Das war heute wieder der Fall.
({24})
Ich will Ihnen in der Sache Bosnien, was die politischen Schlußfolgerungen angeht, zustimmen. In der Tat müssen jetzt alle Bemühungen darauf konzentriert werden, die Chancen für eine schnelle Friedensregelung zu nutzen. Ich halte es auch für richtig, daß die Bundesrepublik die amerikanische Friedensinitiative unterstützt. Aber lassen Sie mich hier doch eines sagen: Ich glaube nicht, daß irgendwer in diesem Hause Genugtuung, Stolz oder Freude empfinden könnte angesichts der Tatsache, daß der massive Schlag der NATO um Sarajevo in den letzten Tagen die bosnisch-serbische Führung vielleicht - wir wissen es ja noch nicht - zum Einlenken bewegt.
Es sollte auch niemand den falschen Eindruck erwecken, als sei diese militärische Operation der NATO erst möglich geworden nach einer bestimmten Entscheidung des Deutschen Bundestages. So war und so ist das ja nicht: daß irgendwer hier der internationalen Staatengemeinschaft in den Arm gefallen wäre oder hätte in den Arm fallen wollen. Was wir diskutiert haben und was bis auf den heutigen Tag ein quälendes Thema ist, ist die Frage nach den Grenzen der deutschen Beteiligung an einer solchen Operation.
({25})
Herr Bundeskanzler, ich warte immer noch auf Ihre Antwort auf die Frage, warum das, was Sie selber viele Jahre lang zu diesem Thema gesagt haben, jetzt auf einmal nicht mehr stimmt. Es ist nicht so gewesen, daß irgendeine Entscheidung des Bundestages oder das Verhalten einer Partei des Bundestages die NATO oder die UNO gehindert hätte, das zu tun, was sie jetzt getan hat. Die Hinderungsgründe lagen ganz woanders, und jeder hier weiß das. Jeder hier weiß auch, was für „militärische Voraussetzungen" - man kann auch, um es genauer auszudrücken, sagen: was für militärische Katastrophen - vorliegen mußten, was für politische Entwicklungen, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika, dem vorangehen mußten, ehe das geschah.
Wir verbinden damit die Hoffnung, daß die bosnisch-serbische Führung einlenkt. Sicher sein, daß es geschieht, kann keiner. Ich wünsche und hoffe immer noch - mit hoffentlich allen hier im Haus -, daß der Frieden im ehemaligen Jugoslawien erreicht werden kann, ohne daß Kriegshandlungen weiter eskalieren müssen.
({26})
In diesem Zusammenhang ein Wort an die Bundeswehr: Wir haben uns sehr darum bemüht - ich will das auch heute noch einmal ausdrücklich sagen -, den politischen Streit nicht auf dem Rücken der Bundeswehr auszutragen. Ich würdige hier ausdrücklich die Leistung der Angehörigen der Bundeswehr. Ich tue das vor allen Dingen auch im Hinblick auf die Tatsache, daß die Bundeswehr in diesem Jahr 40 Jahre alt geworden ist und wir nach diesen 40 Jahren eines ganz sicher feststellen können: Besorgnisse, Befürchtungen, Gefahren, die man früher mit dem Aufbau einer deutschen Armee verbunden hat, sind mit der Bundeswehr nicht verbunden gewesen. Die Bundeswehr hat sich als demokratische Armee eines demokratischen Staates bewährt.
({27})
Ich möchte Sie zum Schluß noch einmal eindringlich bitten, die Frage der französischen und chinesischen Atomwaffentests nicht so zu behandeln, wie Sie das heute getan haben. Das reicht nicht aus! Nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern, ich glaube, auch in Frankreich und in ganz Europa, erwarten mehr von den europäischen Regierungen, Herr Bundeskanzler, als eine Kritik, die so leise ist, daß sie auf der anderen Seite des Rheins kaum noch gehört werden kann.
({28})
Ich will keine Belastung des deutsch-französischen Verhältnisses - ganz im Gegenteil. Ich halte es aber für notwendig, daß der Deutsche Bundestag in einer gemeinsamen Erklärung, adressiert an die französische Nationalversammlung, klipp und klar sagt, daß wir im Geiste der deutsch-französischen Freundschaft, im Geiste einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, im Geiste der europäischen Friedensgemeinschaft, die wir haben, eine gemeinsame Politik wollen, die das vollständige Verbot aller Atomwaffentests so schnell und umfassend wie möglich realisiert.
Ich danke Ihnen.
({29})
Das Wort hat jetzt der Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen.
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Blick auf die soeben gemachten außenpolitischen Bemerkungen möchte ich bei dieser Standortbestimmung der Politik der Bundesrepublik Deutschland folgendes sagen:
Wenn wir von den aktuellen Fragen, zu denen hier Stellung genommen worden ist - Atomtests, die Situation im ehemaligen Jugoslawien, die Schwierigkeit, daß wir es am Anfang und am Ende dieses Jahrhunderts mit dem Phänomen Balkan und Sarajevo zu tun hatten bzw. haben; ich möchte dazu jetzt weiter nichts sagen -, einmal absehen, dann ist meiner Meinung nach das Entscheidende an der außenpolitischen Situation mit zwei Ereignissen zu beschreiben, auf die ich hinweisen möchte. Sie klangen in der Rede des Bundeskanzlers an.
Das erste Ereignis war das Ende der Besatzungszeit in der ehemaligen DDR im vergangenen Jahr. Viele werden sich an die - jedenfalls mich sehr bewegenden - Bilder in Treptow erinnern an den Abzug, an das Lied der russischen Truppen. Das zweite Ereignis ist gar nicht so lange her. Es war im Mai, als die ehemaligen Kriegsalliierten in Berlin den Weg der Bundesrepublik in eine gemeinsame Zukunft beschrieben haben. Vor allem der französische Staatspräsident hielt dazu eine bemerkenswerte Rede.
Diese beiden Ereignisse beschrieben für mich viel mehr als viele der außenpolitischen Diskussionen und Einzelthemen, welche Entwicklung und welche Erfolge der Außenpolitik, der Bündnispolitik und der internationalen Politik der Bundesrepublik Deutschland hinter uns liegen.
({1})
Mir geht es bei dieser Debatte natürlich um einen anderen Punkt: Wie ist eigentlich die innere Befindlichkeit der Deutschen? Wie sehen die Entwicklungen im Einigungsprozeß in Deutschland aus? Ich habe den Eindruck - selbst wenn ich von der berechtigten und sozusagen systemimmanenten Kritik einer Opposition ausgehe -, daß hier sehr viele ausgesprochen verzerrte Bilder beschrieben worden sind.
Meine Damen und Herren, ich will alle dazu auffordern - nicht nur die Mitglieder dieses Hauses -, einfach einmal bewußt umherzugehen. Der, der heute offenen Auges durch die neuen Länder fährt, zu den zahlreichen Baukränen hinaufschaut oder in die tiefen Baugruben hinabblickt, der mit den Menschen in den wiederhergestellten Straßen redet und aufgebaute Infrastruktur sieht, der mit Schülern und Lehrern in den Schulen oder mit Kranken und Alten in den sozialen Einrichtungen spricht, weiß, welche Fortschritte es gegeben hat.
Ich finde, es ist in der Debatte auch notwendig, sich über die Frage zu unterhalten: Wie lange ist das eigentlich her, seit wir diese Chance haben?
({2})
Nach meiner Meinung ist schon die Begrifflichkeit - „Es ist schon fünf Jahre her" - falsch. Herrgott noch mal, es ist erst fünf Jahre her; erst seit fünf Jahren haben wir die Möglichkeit, dieses Land mit einer neuen Verwaltung, mit einem neuen Bildungssystem, mit einer neuen Demokratie - ein wiedervereinigtes demokratisches Deutschland - neu aufzubauen.
Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West ist aus meiner Erfahrung in den letzten fünf Jahren weit fortgeschritten. Inzwischen haben wir dabei auch einige gutachterliche Unterstützung in der Beweisführung erhalten. Ich denke z. B. an das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, das bemerkenswerte Zahlen zusammengestellt hat. Ich will Sie jetzt nicht mit den einzelnen Zahlen langweilen, aber beispielsweise doch die Verdoppelung des Arbeitseinkommens und die für uns alle so wichtige Frage der Überschuldung der privaten Haushalte nennen, um die wir uns alle Sorgen gemacht haben, die aber in dieser Breite, obwohl es dort viel Not gibt, nicht eingetreten ist. Vielleicht ist auch der Hinweis erlaubt, daß dieses Institut im Auftrag des „Spiegel" tätig gewesen ist, und der hat sicherlich nicht den Ruf, besonders regierungsfreundlich zu sein und von „blühenden Landschaften" reden zu wollen, nur um den Bundeskanzler in irgendeiner Weise zu unterstützen.
Auch auf einen anderen Punkt kommt es mir an; vielleicht lesen einige von denen, die jetzt hier nicht dabei sind, das im einzelnen einmal nach. Es geht beim Zusammenwachsen von Ost und West nicht nur um finanzielle, nicht nur um wirtschaftliche Fragen, es geht vielmehr auch um emotionale Fragen. Es geht um Fragen der Anerkennung von Lebensläufen, es geht darum, daß man aufeinander zugeht und miteinander redet, und es geht darum, daß man beispielsweise folgendes begreift: Der Lebensentwurf eines ehemaligen Diplomaten - ich gehe in meinem Beispiel so weit, daß ich jemanden nenne, der mit dem alten System völlig verbunden war -, der heute einen guten Job hat, Autos verkauft, ist natürlich für diesen selbst psychologisch zutiefst in Frage gestellt. Das sind die Themen, das ist die notwendige Aufarbeitung, die man ebenfalls machen muß.
Hinzu kommt noch ein anderer Punkt: Es gibt eine ganze Reihe von Themen, bei denen wir, wenn wir heute neu entscheiden würden, im Einigungsvertrag einiges ändern würden - selbstverständlich. Aber auch diese These will ich einfach aufstellen: Angesichts der Fülle von Themen und Projekten finde ich es bemerkenswert, wie wenig Fehler gemacht worden sind.
({3})
Es mag den einen oder anderen überraschen, aber ich bin leidenschaftlich der Auffassung, daß man in einigen Punkten noch einen Nachholbedarf zu befriedigen hat, daß man Veränderungen durchsetzen muß, beispielsweise in Fragen des Rentenüberleitungsrechts. Da bin ich ganz strikt - auch wenn es
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({4})
dem einen oder anderen nicht gefällt, formuliere ich es so - der Auffassung: Rentenrecht eignet sich nicht dazu, im Hinblick auf einzelne Gruppen Vergangenheit pauschal aufzuarbeiten.
({5})
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen zu nennen. Es gibt also eine ganze Reihe von Punkten.
Ich möchte auf einen weiteren, psychologischen Punkt hinweisen: Im System der ehemaligen DDR gab es einen ganz anderen Eigentumsbegriff. Die Frage der Entschädigung und Rückerstattung bei der Vermögensregelung mußte sozusagen auch vom Rechtsbewußtsein zunächst aufgearbeitet werden. Auch das ist eine Sache, die nicht von heute auf morgen geschehen kann.
Mir kommt es darauf an, daß wir uns alle darüber im klaren sind: Es gibt nicht nur die finanziellen Fragen, sondern es gibt auch Themen, die etwas mit inneren Befindlichkeiten, mit Lebenserwartungen zu tun haben; übrigens mit Lebenserwartungen, die in diesem System zu realisieren bewußt unmöglich gemacht wurde und bei denen es einen großen Nachholbedarf gibt. Die Menschen erwarten, daß wir ihnen heute Chancen bieten, die ihnen vorher verbaut waren. Es geht um Lebensentwürfe auch derjenigen, die sich in diesem System - übrigens verfolgt und überwacht bis in die Nischen - um Entwicklung bemüht haben.
Meine Damen und Herren, die Kritiker des Bundeskanzlers im Hinblick auf die schon sprichwörtlichen „blühenden Landschaften" lassen bei ihrer - aus meiner Sicht fast hämischen - Freude über das Ausbleiben eines utopischen Entwicklungssprungs Lebenserfahrung und auch Bodenhaftung vermissen. Übrigens verstehen sie von dem Bild „blühend" - das hat etwas mit Botanik zu tun - überhaupt nichts. Erst kommt das Säen, dann das Jäten und Ackern, dann kommt die Blüte, und die Früchte lassen sich erst danach ernten. Wenn wir uns das vor Augen halten und beschreiben, wie die aktuelle Situation ist, sind wir schon einen erheblichen Schritt weiter.
Fünf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung müssen wir dennoch feststellen, daß wir trotz aller Erfolge, die wir nicht kleinreden dürfen, noch keineswegs am Ziel, sondern mitten im Strom sind und Kurskorrekturen natürlich jederzeit möglich, in einigen Punkten auch notwendig sind. Aber ich will klar sagen: Pferde mitten im Strom wechseln dürfen wir dabei nicht; sonst machen wir zuviel kaputt.
Mir fällt eines auf - wenn ich die Debatte richtig verfolgt habe, hat Kollege Schäuble dazu schon einige Anmerkungen gemacht -: Es gibt Kritiker aus den Oppositionsparteien - Herr Kollege Thierse ist leider nicht da, ich würde ihn gern selber ansprechen -, die den Einigungsvertrag wegen der durchaus vorhandenen Notwendigkeit, neue, zusätzliche Entscheidungen zu treffen, einfach als „Dokument ideologischen Denkens" und als „Resultat erfolgreicher westlicher Lobbyarbeit" kritisieren und deswegen als „kaum wiedergutzumachenden Fehler" bezeichnen.
({6})
Meine Damen und Herren, wer die damals ohne Vorbild und unter Zeitdruck entstandene Grundlage der deutschen Einigung derart abqualifiziert, setzt sich doch einem bestimmten Verdacht aus. Ich möchte den Kollegen Thierse - weil ich ihn viel zu sehr schätze - davor bewahren und ihn auffordern: Seien Sie in Ihren Formulierungen etwas vorsichtiger! Sie kommen sonst in die Nähe von Leuten, die vorhin geredet haben. Was Herr Gysi vorgetragen hat, war doch eine Brüskierung der Menschen. Ich empfand es in einigen Punkten als unverschämt.
({7})
Er ist jetzt leider nicht hier. Ich sage ihm sehr deutlich: Mir als Berliner muß man nicht beschreiben, welchen Charakter ein System mit soviel Mauertoten hatte. Dies hier schönzureden finde ich schlicht eine Unverschämtheit.
({8})
Sich überall hinzustellen und den Eindruck zu erwekken, man habe die Lösung für alle aktuellen Probleme, ist nicht nur unglaubwürdig, sondern - - Ich komme an dieser Stelle immer in die Gefahr, unparlamentarische Formulierungen zu gebrauchen, Frau Präsidentin. Deswegen lasse ich das im Augenblick sein.
({9})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was die machen, ist ein Stück Bauernfängerei. Sie haben erst die Kane in den Dreck gefahren, jetzt analysieren sie einen Teil, vergessen dabei aber ihre eigenen Analysen der Situation des Jahres 1989. Ich könnte sie Ihnen alle im einzelnen vortragen, von wissenschaftlichen Instituten verfaßt, von deren Mitarbeitern einige gegenwärtig im Parlament sitzen. Jetzt wollen sie glauben machen, daß alle Probleme von heute auf morgen beseitigt werden können. Ich kann den Bürgerinnen und Bürgern in allen neuen Ländern nur sagen: Wenn Sie auf die setzen, dann setzen Sie falsch, denn wegen der überhaupt nicht vorhandenen Glaubwürdigkeit der Repräsentanten der Nachfolgepartei der SED nimmt ihnen niemand die Ernsthaftigkeit der Analyse ab, und das gerät zum Nachteil der Menschen.
Ich war bei den Formulierungen des Kollegen Thierse.
({10})
- Ich habe ihn ausdrücklich in Schutz genommen. Ich habe gesagt: Er muß darauf achten, daß er durch diese Art von Formulierung nicht in die Nähe derer gerät, zu denen er sicher nicht gehört.
Aber ich komme noch zu einem anderen Punkt. Es gibt, Herr Kollege, auch hier Parlamentarier und Politiker in Berlin, die der Auffassung sind, daß man mit der PDS durchaus ganz eng zusammenarbeiten
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({11})
könne. Das ist meiner Ansicht nach allerdings ebenfalls ein Skandal. Es ist vor allen Dingen gegen sozialdemokratische Traditionen. Langfristig werden sich die Sozialdemokraten umsehen, wenn sie einen solchen Weg gehen.
({12})
Es ist ja leider so, daß manchmal im Unterbewußtsein - das will ich hier ausdrücklich zugestehen - nicht nur von Vertretern der PDS die Entwicklung des Jahres 1989 als gesellschaftspolitische Niederlage angesehen wird. Aber, meine Damen und Herren: „Das ist ein weites Feld." Damit will ich versuchen, Fontane richtig zu zitieren.
Für viele Diktaturnostalgiker im Kielwasser der alten SED ist der Sozialismus offensichtlich unbesiegt im Felde.
Herr Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({0}): Ja, bitte sehr.
Herr Regierender Bürgermeister, am Montag war in einer großen Berliner Zeitung zu lesen, daß ein Mitglied des Berliner Senats, der Gesundheitssenator Luther, der Ihrer Partei angehört, gesagt hat, eine gute Diktatur sei durchaus das Richtige. Das schlägt, wie Sie wissen, derzeit in Berlin sehr hohe Wellen. Ich möchte fragen, was Sie von einem solchen Satz halten und wie das im Verhältnis zu dem von Ihnen jetzt Gesagten steht angesichts der Tatsache, daß die Ost-CDU durch die CDU damals integriert worden ist und etwas unter der Decke offenbar noch fröhliche Urständ' feiert.
({0})
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({1}): Meine Damen und Herren, dazu will ich eine ganz klare Auskunft geben. Das Zitat, das Sie hier wiedergeben, ist zwar aus der Zeitung richtig zitiert, aber in der Zeitung falsch festgehalten. Der Kollege hat ausdrücklich darauf hingewiesen, in einer Demokratie muß man in Kauf nehmen, daß es längere Diskussionsprozesse gibt. Die gibt es in einer Diktatur weniger. - Das war seine Aussage. Nehmen Sie das so zur Kenntnis!
({2})
Mir geht es hier jetzt darum, darauf hinzuweisen, welche gesellschaftspolitischen Probleme es gibt, übrigens insbesondere, wenn man sich in eine babylonische Gefangenschaft der PDS begibt. Es gibt durchaus Gefahren in Berlin, und es gibt vor allen Dingen Gefährdungen in einzelnen Bundesländern.
Wenn wir auf das zurückblicken, was wir in den letzten Jahren erreicht haben - angefangen mit der Währungs- und Wirtschaftsunion, dem Einigungsvertrag und dem Aufbau demokratischer Verwaltung über die weitgehend positive, größte Privatisierung Europas bis hin zu dem von der OECD geschätzten Wirtschaftswachstum von fast 10 % in den neuen Ländern -, dann kann man, glaube ich, festhalten: Wir haben in einer historischen Situation ohne Vorbild gewonnen, und zwar alle. Ich sage: Vor allen Dingen die Menschen haben gewonnen.
({3})
In der Debatte spielte eine Rolle - der Bundeskanzler hat das zitiert -, welche Entwicklung es im Bereich der Rentner gegeben hat. Mich hat - trotz aller Probleme, die ich sehe - optimistisch gestimmt, daß gerade junge Menschen, nämlich die 16- bis 29jährigen, in den neuen Bundesländern mit der neuen Zeit - so ist es da formuliert worden - keine Probleme haben. Ich halte das für sehr wichtig.
Meine Damen und Herren, wir haben hier in der Bundesrepublik insgesamt - auch quer durch den Bundesrat - den Versuch einer Diskussion über die Reduzierung der westlichen Aufbauhilfen in den neuen Ländern. Ich sage, diese Debatte findet zu einem völlig falschen Zeitpunkt statt.
Sie hat im Grunde zwei Themen. Einmal ist das Ganze eine fiskalische Frage. Zum anderen ist es eine politische Fragestellung. Fiskalisch geht es bei der Diskussion um den Solidaritätszuschlag um die Einnahmeseite und nicht darum, ob den neuen Ländern eine notwendige Hilfestellung vorenthalten bleiben soll.
Ich glaube, es ist wichtig festzuhalten, daß die neuen Länder dringend weiter die Hilfestellung benötigen. Es ist ebenfalls wichtig darauf hinzuweisen, daß es, wenn wir kurzfristig zu erheblichen Reduzierungen kommen, zum Nachteil der Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland führen wird, weil damit eine begonnene Aufbauleistung mitten im Strom unterbrochen wird. Ein erheblicher Schaden würde entstehen. Das würde Lasten für viel längere Zeit mit sich bringen.
Der nächste Punkt ist, wie die Einnahmeseite dabei gedeckt werden kann. Ich bin der Auffassung, daß man eine sachgemäße Diskussion, übrigens auch über den Beginn der Reduzierung des Solidaritätszuschlages, erst dann führen kann, wenn man bereits sowohl die haushaltspolitischen als auch die wirtschaftspolitischen Auswirkungen im einzelnen feststellen kann. Alles andere wäre meiner Ansicht nach schlicht und ergreifend falsch.
Festhalten will ich: Es ist notwendig, daß es diese Hilfestellung gibt. Ich nehme gerne das auf, was der Bundeskanzler hier im Hinblick auf Entscheidungen Anfang der 80er Jahre gesagt hat: Es ist schon einmal der Fehler gemacht worden, zu früh eine Reduzierung, einen Abbau vorzunehmen. Das darf nicht wieder passieren.
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({4})
Damit bin ich bei einem weiteren Punkt im politischen Sektor. Meine Damen und Herren, es ist auch ein falsches Signal, das von dieser Diskussion ausgeht. Das Signal muß sein: Es ist selbstverständlich, daß es weitere Transferleistungen gibt.
({5})
Das zweite Signal ist - darin sind sich im Grunde auch alle Ministerpräsidenten einig; es gibt jedenfalls entsprechende Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz -, daß es eine Überprüfung der einzelnen Sachverhalte gibt, so daß die Förderung in der Zukunft nach der ersten Aufbauphase gezielter angesetzt werden kann.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, Berlin und die neuen Länder wissen die finanzielle Unterstützung aus den alten Ländern genau zu würdigen. Sie setzen sie auch sinnvoll für den eigenen Wirtschaftsaufschwung ein ({6})
übrigens mit der Zielrichtung einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Ich sage ganz bewußt - schade, daß der Bundesfinanzminister nicht da ist; er muß dies immer hören -: Die Politik in Berlin ist darauf ausgerichtet, wirtschaftlich und finanzpolitisch unabhängig zu werden. Wir wollen die eigenen Kräfte mobilisieren.
({7})
Aber dazu braucht es einen gewissen Übergang.
Herr Regierender Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({0}): Ja, bitte.
Herr Bürgermeister, ich bin sehr froh, daß Sie in den letzten zwei Minuten doch noch auf das Haushaltsthema zu sprechen gekommen sind. Meine Frage an Sie ist: Glauben Sie, daß Sie mit dem, was Sie bisher gesagt haben - für den Fall, daß das Fernsehen dabei war; ich weiß es nicht -, den Sozialhilfeempfängern, den Obdachlosen in Berlin auch nur irgendeine Botschaft übermittelt haben?
Ich erinnere daran, daß im Ostteil von Berlin die Hälfte aller Sozialhilfeempfänger unter 25 Jahre alt ist. Im Westteil sind es 42 %. Glauben Sie, daß Sie denen klarmachen können, die PDS habe irgend etwas damit zu tun?
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({0}): Ich kann den Bürgerinnen und Bürgern auch im Ostteil der Stadt sehr genau klarmachen, wo die Ursachen liegen für eine Fülle von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten und für die gesamten ökologischen Probleme, die es in allen neuen Bundesländern gibt. Frau Professor Luft, ich zitiere dann gerne aus den Unterlagen, die Sie bzw. die Institute der SED früher im Jahre 1989 erstellt haben. Genau das werde ich dann tun. Im Hinblick auf die Fernsehzeiten will ich Ihnen nur eines sagen: Die Sorge überlassen Sie mir.
({1})
Meine Damen und Herren, ich will nur darauf hinweisen, daß Berlin selbst die Solidarität, die es jahrzehntelang von Westdeutschland erfahren hat, weitergegeben hat. Die in kürzester Zeit erfolgten Abbaumaßnahmen bei Berlin-Hilfe und Berlin-Förderung hat die Industrie im übrigen zum Teil heute noch nicht ganz verkraftet. Wir haben aber konsequent eine Politik „Aufbau Ost vor Ausbau West" betrieben und damit wie, so glaube ich, keine andere Region einen substantiellen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet.
In dieser Haushaltsdebatte ist im Hinblick auf Berlin natürlich die Frage zu stellen: Wie läuft es eigentlich - auch in bezug auf die finanzielle Absicherung - bei einem weiteren Teil des deutschen Einigungsprozesses, nämlich dem Aufbau der Bundeshauptstadt Berlin? Ich will hier nur darauf hinweisen, daß jedenfalls in der letzten Zeit richtig „getöpfert" wird. Ich glaube, diese Prozesse sind unumkehrbar. Meine Bitte an Sie ist, daß die finanziellen Mittel für die notwendigen Maßnahmen bereitgestellt werden, damit alles „in time" geschieht.
Wir haben uns dabei vor allem um die Menschen zu bemühen, übrigens in Bonn wie in Berlin, auch um alle diejenigen, die von den von der Föderalismuskommission vorgeschlagenen Maßnahmen betroffen sind. Es kommt mir darauf an, daß nicht Menschen wandern sollen, sondern die Funktionen, daß wir also jetzt in großer Gemeinsamkeit der Regionen darangehen, so etwas wie eine Personalbörse zu erstellen, um für die Menschen bei all den Problemen, die ich natürlich sehe und die bei mangelnder Mobilität - das ist jetzt kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung - immer bestehen, wirklich eine Lösung finden zu können.
Meine Damen und Herren, mir kommt es darauf an, hier auf die notwendigen Rahmenbedingungen für den weiteren Aufschwung in den neuen Bundesländern hinzuweisen. Hier ist auch über den Standort Bundesrepublik Deutschland geredet worden. Dabei fällt mir auf, daß es oftmals Verwirrungen in der Geisteshaltung gibt. Ein Teil der Themen im Bereich der inneren Sicherheit ist schon behandelt worden. Ich will noch einen Punkt nennen, aus dem man Schlußfolgerungen ziehen muß.
Im Hinblick auf Wertorientierung geht es nicht nur um den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch darum, daß es Länder gibt, die Religionsunterricht am liebsten aus den Schulen verdrängen wollen. Es geht darum, daß es Diskussionen in einer Reihe von politischen Gruppierungen gibt, die darauf hinauslaufen, jeden, der ins Auto steigt, zu kriminalisieren, aber in dem Fall, wenn jemand im
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({2})
Laden etwas klaut, das weniger als 100 DM wert ist, Straffreiheit zu gewähren.
({3})
Ich finde es auch unglaublich, was im Bereich der Drogenpolitik passiert. Der Begriff Deeskalation ist nicht nur ein Thema von Hannover, sondern ein typisches Beispiel für Verwirrung. Diese Verwirrung führt nicht nur dazu, daß man die Polizei verunsichert,
({4})
sondern auch dazu, daß der Staat beim Schutz des Bürgers ganz offensichtlich versagt und daß unter dem Stichwort Deeskalation neuerdings Plünderungen möglich werden. Das sind unmögliche Sachverhalte.
({5})
Sie zeigen geistige Verwirrungen.
({6})
Ich will nachher noch auf einen anderen Punkt bei den Rahmenbedingungen bezüglich solcher Themen zu sprechen kommen.
Für die neuen Bundesländer sind die Förderung von Forschung und Entwicklung sowie der weitere Ausbau der Industriestandorte von besonderer Bedeutung. Industriekerne sind trotz aller Probleme, die es dabei gab, im wesentlichen erhalten worden.
Es geht mir darum, daß zu den Rahmenbedingungen für den Aufbau in den neuen Ländern auch die Bildung von Vermögen in Arbeitnehmerhand gehört. Es ist nicht einsehbar, daß die Leistungen, die jetzt für den Aufbau erbracht werden, weitgehend bei den Unternehmen bleiben. Vielmehr müssen sie auch unmittelbar an die Arbeitnehmer weitergegeben werden.
({7})
Es geht um die Unterstützung des Mittelstandes. Es geht darum, daß eine Reihe von Instrumenten, die es früher bei der Berlin-Förderung gab - Herr Gerhardt hat vorhin davon gesprochen -, konkret für die Absatzförderung und für den Aufbau von moderner Technik in den neuen Ländern genutzt wird.
Ganz wichtig ist: Wir vertrauen auf die Zusage der Bundesregierung, daß der Verkehrswegeplan Deutsche Einheit als wichtiges Mittel des Zusammenwachsens Deutschlands voll wirksam wird. Hier darf es keine Abstriche geben.
Das sehe ich übrigens auch im Zusammenhang mit einer europäischen Komponente. Mir geht es um die notwendigen Ausgangspositionen für die transeuropäischen Kommunikationsnetze. Mir geht es um die Verbindungslinien aus der Mitte Deutschlands über
Prag, Wien nach Budapest. Mir geht es um die Verbindungslinie von Paris über Berlin, Warschau nach Moskau. Das sind Entwicklungslinien, die jeweils unmittelbar auch davon abhängig sind, daß die Verkehrswegeplanung Deutsche Einheit verwirklicht werden kann. Welche europäische Komponente das hat, brauche ich nicht weiter darzustellen. Auch die ganzen Überlegungen zum Aufbau von Euroregionen, beispielsweise an den Grenzen, an der Oder, sind von erheblicher Bedeutung.
Herr Regierender Bürgermeister, ich bin gehalten, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie schon seit einiger Zeit auf Kosten der Redezeit Ihrer Kollegen sprechen. Ihnen steht dieses Recht natürlich zu, aber es wäre vielleicht freundlich, das zu berücksichtigen.
({0})
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({1}): Ich werde das berücksichtigen. Ich weiß, daß es einen besonderen Wunsch gegeben hat. Ich will mich deswegen kurz fassen.
Der zweite Punkt ist die Ausbildung. Hier will ich ausdrücklich sagen: Das Sonderprogramm für Ausbildungsplätze in den neuen Ländern und seine Finanzierung ist eine der wichtigen Rahmenbedingungen für die Entwicklung.
Das führt mich zu einem anderen Punkt, den ich als letzten nennen möchte. Wir haben viel über den Wirtschaftsstandort Deutschland geredet. Ich habe dazu einige Bemerkungen gemacht. Vor allen Dingen gehören zum Wirtschaftsstandort hochqualifizierte und hochmotivierte Arbeitskräfte. Dazu gehört ein funktionierendes Ausbildungssystem. Gerade im wirtschaftlichen Bereich gilt bekanntlich das Wort: Kompetenz hat man, oder man hat sie nicht. Dabei will ich jetzt nicht auf aktuelle Themen innerhalb der Sozialdemokratie Bezug nehmen, sondern auf das notwendige Klima für Schulen, Ausbildungsstätten, Medien und vor allen Dingen Technikfolgenabschätzung.
Was mir Sorge macht, ist, daß es bei der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland viel zuviel irrationale Ängste vor Änderungen und vor neuen technischen Entwicklungen gibt. Neue Arbeitsplätze werden aber nur durch neue Techniken in unmittelbarer Verbindung mit der Wissenschaft geschaffen. Hier gibt es eine Fülle von Vorbehalten. Ich will nur einige Punkte nennen. Das reicht von der Gentechnik über die Chemie bis zur Kernenergie. Wenn wir uns nicht öffnen, wird das dazu führen, daß wir Arbeitsplätze nicht nur nicht schaffen, sondern zukunftsorientierte Arbeitsplätze ausbürgern und die Probleme der Welt jeweils in der Bundesrepublik Deutschland einbürgern. Das kann nicht der Weg für die Zukunft sein.
({2})
Damit habe ich noch nichts über die Fragen von Lohnnebenkosten und ähnlichem gesagt, auch nichts zu den Fragen der sozialen Situation. Einen
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({3})
Umbau - das ist richtig - des Sozialstaates gibt es. Aber als Bürgermeister der Stadt sage ich Ihnen auch: Es gibt Not und Mißbrauch. Bei allen Diskussionen über den Umbau des Sozialstaates steht die Differenzierung zwischen diesen beiden Punkten im Vordergrund, und zwar vor jeder Form von pauschaler Kürzung.
In diesem Zusammenhang darf man nicht einen Weg gehen, der zu Lasten der Kommunen geht. Wichtig ist also, wenn wir eine Bestandsaufnahme im Blick auf die Bundesrepublik Deutschland vornehmen, daß wir wissen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Es gibt eine Fülle von Themen, an die wir weiter mit moderner Technik herangehen, aber vor allen Dingen mit Zukunftserwartung und nicht mit großer Zukunftsangst. Für letztere besteht überhaupt keine Veranlassung.
Vielen Dank.
({4})
Es spricht jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir vor fünf Jahren begannen, dieses schwierige Thema der deutschen Einigung zu diskutieren, gab es einen anderen ganz dramatischen Umwälzungsprozeß in Europa, nämlich auf dem Balkan. Ich glaube, wir müssen uns im nachhinein sagen, daß wir auch auf Grund der eigenen Probleme damals nicht die Augen für die dramatischen Entwicklungen, die dort begonnen haben, geöffnet haben. Zumindest war das damals kein Hauptthema der offiziellen Politik.
({0})
Ohne das dieser Politik in die Schuhe schieben zu wollen, stehen wir vor der Situation, daß die grausame Entwicklung einen dramatischen Höhepunkt erreicht hat. Es sind faschistische Mörderbanden in Srebrenica und Sepa eingefallen, um dort die Bevölkerung zu massakrieren. Es gibt immer noch Nationalisten auf serbischer Seite, die Sarajevo terrorisieren. Das muß man so beim Namen nennen.
Ich sage ganz deutlich: Emotional stehe ich auf der Seite derer, die sagen: Man muß jetzt irgendwie dazwischenhauen, man muß diesem grausamen Treiben ein Ende setzen. Aber gleichzeitig glaube ich, es muß politische Kräfte geben, die die Frage stellen, ob die Methoden, die heute angewendet werden, über den Tag hinaus nicht mehr Nach- als Vorteile haben werden.
Gewiß, das ist ein folgerichtiger Schritt. Die Bombardierung ist ein Schritt, der auf die Grausamkeit der serbischen Nationalisten zurückzuführen ist. Aber er ist auch ein folgerichtiger Schritt im Rahmen einer von Beginn an falschen und verfehlten Politik des Westens.
({1})
Ich glaube, wenn es die gleiche Entschlossenheit, die jetzt bei der Bombardierung an den Tag gelegt wurde, schon drei Jahre zuvor gegeben hätte, dann wäre es möglich gewesen, diesen Konflikt mit zivilen Methoden, mit Wirtschaftsembargos einzudämmen und auch zu lösen. Das wäre damals möglich gewesen. Es gab auch die entsprechenden Forderungen. Kein Geringerer als Hans-Dietrich Genscher sagt heute: Wenn das Wirtschaftsembargo insbesondere im Bereich Mineralöl wirklich durchgeführt worden wäre, dann wäre der serbischen Kriegsmaschinerie der Sprit ausgegangen, und man hätte die serbische Seite früher an den Verhandlungstisch bekommen als heute.
({2})
Ich glaube, es wäre eine völlig falsche Konsequenz aus dem Bosnien-Krieg, wenn jetzt geschlußfolgert würde, europäische Politik, europäische Sicherheitspolitik und europäische Regionalpolitik, könne im großen und ganzen so weiterbetrieben werden wie bisher. Wenn es denn schiefgeht und wenn jemand gegen Humanität und Menschenrechte verstößt, dann haben wir immer noch die UNO, die bereit ist, die NATO zu Hilfe zu holen. - Wir akzeptieren eine solche Struktur als zukünftigen Konfliktlösungsmechanismus nicht.
({3})
Wir glauben, es ist eine Konsequenz aus dem Bosnien-Krieg, daß über eine völlig neue europäische Sicherheitsarchitektur nachgedacht werden muß. Wir stellen fest, daß die Megasysteme, daß die NATO, daß die Westeuropäische Union gerade nicht in der Lage sind, den Typ von Konflikt zu lösen, der für die Zukunft der wahrscheinlichste ist. Wir registrieren eine Zunahme von ethnischen, von nationalistischen, von tribalistischen Konflikten mit sehr großer Barbarei weltweit. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man mit dem NATO-Instrumentarium, das im Kalten Krieg gegen den Warschauer Pakt entwickelt worden ist, in Zukunft solche Konflikte in den Griff bekommen wird.
Deshalb fordern wir, daß als Konsequenz aus dem Bosnien-Krieg über eine neue moderne europäische Sicherheitsarchitektur nachgedacht wird,
({4})
die auf erheblich anderen Grundlagen fußt als auf dem klassischen Militarismus.
({5})
Wenn man den Nationalismus, wenn man den Militarismus und wenn man den einzelstaatlichen Wirtschaftsegoismus als die Grundlagen des trotz europäischer Einigung immer noch vorhandenen europäischen Übels sieht, dann muß man überlegen, wie man über die klassischen Bündnissysteme hinauskommt, und man muß über ein System kollektiver Sicherheit nachdenken, in das all die Nationalstaaten einbezogen werden. Dann ist es völlig falsch, die NATO als Struktur auszudehnen, die immer einen Gegner voraussetzt oder einen Gegner provoziert.
Wir fordern deshalb, daß Sie über den Ausbau der OSZE nachdenken. Im Unterschied zu all den schönen Worten, die ich hier höre, stelle ich fest: Mittel werden im Haushalt dafür kaum bereitgestellt. Es gibt insgesamt 7 Millionen DM für die OSZE. Aber allein 6,5 Millionen DM wird die nächste Außenministerkonferenz der NATO kosten. Der BundeswehrReservistenverband bekommt 27 Millionen DM. Daran erkennt man die Disparitäten in Ihrer Politik. Was zukunftsträchtig ist, was ein Element neuer Sicherheitsarchitektur beinhalten könnte, wird von Ihnen kaum gefördert, es sei denn verbal. Gefördert wird aber die alte konservative Militärstruktur. Man weigert sich, mit Phantasie und Kreativität, wenn man denn schon am Hause Europa arbeitet, auch die Sicherheitspolitik in den Blick zu nehmen.
Statt dessen höre ich heute von Herrn Schäuble, daß man darüber nachdenken müsse, ob nicht die französischen Atomwaffen einen Schutzschild für ganz Europa bilden könnten.
({6})
Dazu muß ich sagen: Das stößt auf allergrößten Widerstand, nicht nur bei uns, sondern auch bei französischen Oppositionsbewegungen und sonst in Europa.
({7})
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, Herr Schäuble, daß man glaubwürdig gegen den Test von Atomwaffen sein kann, wenn man auf der anderen Seite wiederum glaubwürdig - anders würde der Schutzschild nicht funktionieren - ihren Einsatz androhen will.
Zu dieser gesamten atomgestützten Politik möchte ich Sie mit einem Satz Ihres Vorgängers im Amt des Fraktionsvorsitzenden konfrontieren, der ja wirklich nicht als Pazifist bekannt ist, der aber in einem Anflug von Altersweisheit in der Debatte über den Nichtverbreitungsvertrag etwas Endgültiges über die Atomwaffen gesagt hat. Alfred Dregger sagte am 16. Februar 1995 dazu:
Kein Land kann seine Sicherheit und die seiner Partner auf Waffen gründen, die niemand in seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen einsetzen könnte. In letzter Konsequenz heißt das: Die Atomwaffenstaaten sollten sich fragen, ob die, wie ich meine, fragwürdigen Vorteile des Besitzes von Atomwaffen das Risiko wettmachen, sich und die Welt der atomaren Vernichtung preiszugeben.
Dies war die Antwort von Dregger auf die Frage der Atomwaffen. Wir schließen uns ihr an.
({8})
Ich hoffe, Herr Schäuble, daß Sie und Ihre Fraktion auf die Weisheit Ihres ehemaligen Vorsitzenden hören.
({9})
Für die Bundesregierung erhält jetzt das Wort der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wende mich zunächst an die SPD, insbesondere an Herrn Scharping. Sie müssen sich schon sagen lassen, Herr Scharping - er hört ja vielleicht wenigstens am Fernseh- oder Rundfunkgerät zu -, daß Sie - ich habe heute morgen sehr genau hingehört - als Vorsitzender der SPD und als Fraktionsvorsitzender praktisch nichts zur deutschen Außenpolitik gesagt haben.
({0})
Das wird, lieber Herr Scharping, im In- und Ausland Erstaunen erwecken, und ich sage Ihnen auch, daß es registriert wird. Wenn ich es richtig sehe, kann das im Grunde - das zeigt sich im Augenblick auch an der Besetzung der Oppositionsbank beim Thema Außenpolitik - nur heißen, daß Sie sich entweder von der Außenpolitik abgemeldet haben oder daß Sie außenpolitisch offensichtlich nichts zu sagen haben.
({1})
Ich wende mich auch an Sie, Herr Verheugen. Sie haben kürzlich in Ihrem Artikel im „Vorwärts" angekündigt, die Außenpolitik streitig zu stellen. Auch diesen Artikel habe ich sehr genau durchgelesen und sage dazu: Die Opposition hat das Recht und die Pflicht zur Kritik. Aber bitte nicht immer diese alten Ladenhüter und Pappkameraden! Ich habe wirklich das Gefühl, Sie sollten endlich einmal eine neue Platte auflegen. Sie sagen immer wieder dasselbe: Die Bundesregierung reduziere ihre Außenpolitik auf Bundeswehreinsätze. Oder: Sie gebe ihre Kultur der Zurückhaltung auf. Nehmen Sie wirklich einmal eine neue Platte.
Wenn ich mir ansehe, was Sie heute zur Außenpolitik gesagt haben, dann habe ich wahrhaftig nicht den Eindruck, daß Sie die Außenpolitik streitig stellen; denn Sie haben praktisch nichts zu dem beigetragen, was man eigentlich von einer Opposition erwarten kann, wenn es in der Haushaltsdebatte um Außenpolitik geht.
({2})
Wer soll sich eigentlich dieser schlimmen Barbarei in Europa entgegenstellen, wenn nicht die Mitglieder des Bündnisses und der Europäischen Union? War eigentlich dieses schreckliche Blutbad auf dem Marktplatz von Sarajevo - ich war vor kurzem selber dort an dem Ort, an dem schon einmal ein so schrecklicher Überfall geschehen ist - immer noch nicht genug, um Sie davon zu überzeugen, daß man Menschenrechte eben nicht nur im Munde führen kann, sondern auch handeln muß?
({3})
Wir haben 14 Tornados mit einem klar begrenzten Auftrag entsandt. Sie waren dagegen, und Sie mäkeln heute immer noch kleinkariert in bezug auf die Einsätze daran herum. Schauen Sie sich doch einmal die Beiträge an, die kleinere Partner wie die Niederlande, Belgien und Dänemark seit Jahren im früheren Jugoslawien leisten. Für solche Äußerungen zu Ihren außenpolitischen Vorstellungen, wie Sie sie in den letzten Tagen getan haben und immer noch und immer wieder tun, können Sie im NATO-Kreis nur Kopfschütteln erwarten.
({4}) Zu Europa haben Sie auch nicht viel gesagt.
({5})
Ich erinnere mich daran, wie wichtig dieses Europa für Sie war, daß wir immer aufgefordert worden sind, uns mehr zu bewegen, mehr zu tun, mehr Initiativen zu ergreifen. Ich habe auf Ausführungen von Ihnen dazu gewartet. Dabei liegt Deutschlands Zukunft doch in der Europäischen Union, in der sich unsere Bürger mit ihren Hoffnungen und Sorgen aufgehoben fühlen und zu der Prag oder Warschau genauso selbstverständlich dazugehören wie Den Haag oder Berlin. Das ist unsere Europapolitik, und wir haben sie erfolgreich vorangetrieben und werden das auch bei der weiteren Integration tun.
In unseren Regierungsverhandlungen mit der Tschechischen Republik - etwas, woran Sie zu Recht genauso wie das Hohe Haus sehr interessiert sind - sind wir auf einem guten Weg. Ich bitte um Verständnis, wenn ich das nur so sage. Wir befinden uns in diesen Verhandlungen, und ich habe allen Grund, das zu sagen, was ich eben sagte.
Ich möchte heute in meiner Rede einen Punkt etwas mehr herausstreichen, der sonst üblicherweise hier im Deutschen Bundestag relativ wenig Aufmerksamkeit findet. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir Konsens hinsichtlich der Bedeutung der auswärtigen Kulturpolitik für unser Land hätten.
({6})
Mir liegt gerade in der gegenwärtigen Haushaltslage besonders daran, das Bewußtsein der Öffentlichkeit für den Stellenwert dieser Aufgabe als der großen und wichtigen dritten Säule in unserer Außenpolitik etwas zu schärfen. Für eine Sympathiewerbung als moderne, weltoffene Bürgergesellschaft ist diese auswärtige Kulturpolitik notwendig, ebenso für die Förderung der deutschen Sprache und - das wird leicht vergessen - für die Sicherung des Standortes Deutschland.
Der Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung, der Fall von Mauer und Stacheldraht hat uns in Mittel- und Osteuropa ebenso wie in den früheren GUS-Staaten, eine ganz gewaltige Chance, eine Jahrhundertchance gegeben, insbesondere was unsere Sprache anbelangt. Wir müssen sie nutzen.
({7})
In Polen, liebe Kolleginnen und Kollegen, fehlen uns 4 000 Deutschlehrer, in Ungarn 2 000. Unsere Reaktion war die Aufstellung eines Sonderprogramms zur Förderung der deutschen Sprache. In dieser von mir genannten Region lernen über 13,5 Millionen Menschen im Augenblick Deutsch. In Rußland nimmt die deutsche Sprache den zweiten Platz hinter Englisch ein. Deutsch ist derzeit die führende Fremdsprache an den Grundschulen in Ungarn, in der Tschechischen Republik, in der Slowakei und Kasachstan.
Etwa 25 % des Kulturhaushaltes stehen für den Hochschul- und Wissenschaftsaustausch zur Verfügung, und jährlich erhalten - das wird leicht vergessen und leider Gottes zuwenig betont - rund 30 000 potentielle deutsche Führungskräfte die Chance, sich im Ausland weiterzubilden.
Umgekehrt werden etwa 20 000 Stipendien an Ausländer für eine Ausbildung in Deutschland vergeben. Die Hochbegabtenförderung der Alexandervon-Humboldt-Stiftung finanziert jedes Jahr etwa 500 ausländische Forscher. Aus deren Reihen sind bisher - auch das wird selten gesagt und betont - immerhin 20 Nobelpreisträger hervorgegangen.
({8})
Die Bindungen dieser Führungseliten an Deutschland wirken oft jahrzehntelang nach. Wer sich in diesem Bereich bewegt, weiß, welche Bedeutung das hat.
Leider nimmt die Attraktivität unserer Hochschulen ab, gerade im bildungsbewußten Asien.
({9})
- Dafür gibt es sehr viele Gründe, die ich gerne,
wenn ich Zeit hätte, länger mit Ihnen erörtern würde.
Dagegen müssen wir angehen. Unser Ausbildungssystem an den Hochschulen darf den internationalen Trend nicht verpassen. Das ist sehr weitgehend auch eine Aufgabe der Länder, aber ich will das nicht wegdrücken. Es gibt viele Gründe, über die zu reden, zu diskutieren wert wäre.
Meine Damen und Herren, die Entscheidung der Bundesregierung zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes in Bosnien ist immerhin von einer nicht unwesentlichen Zahl Abgeordneter der Opposition mit unterstützt worden. Seither wächst nicht nur in der SPD - darüber freue ich mich -, sondern auch beim BÜNDNIS 90/DIE. GRÜNEN die Einsicht, daß mit moralischer Betroffenheit allein keinem der geschundenen Menschen im ehemaligen Jugoslawien gedient ist oder geholfen werden kann.
({10})
Ich freue mich natürlich insbesondere, daß der Kollege Fischer eine Wendung vorgenommen hat.
({11})
Auch er hat es nicht nötig, heute in der außenpolitischen Debatte hierzusein. Er dreht immer seine Pirouetten, wenn das Fernsehen angeschaltet ist
({12})
oder andere Dinge sich öffentlichkeitswirksam abspielen.
({13})
- Ja, das darf man doch sagen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt?
Nein, bitte nicht. Ich spreche mit Herrn Fischer, wenn er kommt.
({0})
Ich nehme ihm persönlich ab, daß er sich mit seiner Entscheidung schwertut, und ich nehme ihm auch ab, daß er wirklich prüft und nachdenkt, was die richtige Haltung ist. Aber das, was er in der entscheidenden Debatte das letzte Mal gesagt hat, hat mit dem, was er jetzt in seinem Papier veröffentlicht hat, und mit den Pirouetten, die er dreht, insofern nichts zu tun, als ich sagen muß: Reden ist gar nichts; er muß seine Haltung ändern, und er muß mit uns handeln. Das ist das Entscheidende.
({1})
Wir sollten uns gegenseitig nicht absprechen, daß wir in einer so schwierigen Frage, wo wir verschiedener Meinung sind, auch das Recht haben, verschiedener Meinung zu sein. Aber wir sollten nach außen nicht etwas sagen, was uns in unserer Bündnisfähigkeit belastet - ich habe Grund, das zu sagen - oder was unsere Soldaten verunsichert und dazu führen könnte, daß sie denken, es könnte sich um einen vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung eventuell nicht abgesicherten Einsatz handeln. Ich sage das ganz vorsichtig, mache auch keine Vorwürfe, aber wir sollten uns sehr genau überlegen, in welcher Richtung wir uns äußern.
Bevor es losging, war ich in Lechfeld bei den Piloten. Ich habe sie jetzt mit dem italienischen Außenminister in Piacenza besucht. Alle Achtung vor diesen Soldaten, auch vor denen, die in Split sind! Kollege Rühe war auch an beiden Orten. Ich danke unseren Soldaten in Split und Piacenza von ganzem Herzen für ihren Einsatz und das, was sie für die Völkergemeinschaft tun, nicht nur für Deutschland.
({2})
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß UNO und NATO auf das Blutbad auf dem Marktplatz von Sarajevo richtig reagiert haben. Die Reaktion war notwendig, sie war angemessen. Wir haben uns das alle nicht leicht gemacht und lange gemeinsam darüber nachgedacht. Diese Festigkeit hat im übrigen den Chancen für einen Verhandlungsfrieden genützt.
Ich sage ganz vorsichtig, weil ich in den letzten Jahren auch persönlich zu oft enttäuscht worden bin: Ich sehe ein gewisses Licht am Ende des Tunnels.
Das hat das Kontaktgruppentreffen auf dem Petersberg am vergangenen Samstag gezeigt. Die veränderte militärische Lage hat hoffentlich auch für eine politische Lösung ein neues Momentum geschaffen. Washingtons Initiative hat davon profitiert. Wir unterstützen sie.
Aber wir dürfen uns alle gemeinsam nicht täuschen: Wir stehen erst am Anfang eines sehr, sehr mühevollen Weges. Ich warne vor Euphorie. Dieser Weg beginnt am Freitag in Genf mit dem ersten direkten Treffen der Außenminister Kroatiens, Bosniens und Serbien-Montenegros. Daß Belgrad in den Verhandlungen bei einer 3 :3-Beteiligung von Pale plus Belgrad sozusagen das Letztentscheidungsrecht hat, ist ein ganz wichtiger Punkt, weil der Schlüssel zu einer politischen Lösung eher bei Milosevic liegt.
Die Bundesregierung begrüßt die neue US-Initiative. Sie entspricht in ihrem Kern dem Plan der Kontaktgruppe, der maßgeblich - das dürfen wir noch mal sagen, weil das manchmal untergeht - auf der Juppé/Kinkel-Initiative beruht. Wichtig ist, daß Kroatien einbezogen ist und daß es zu der 3 + 5-Formel kommt.
Unsere Haltung zu dem, was in der Substanz herauskommen muß, ist klar:
Erstens. Es darf nicht an der territorialen Integritat Bosnien-Herzegowinas gerüttelt werden.
({3})
Zweitens. Es mag kleinere Korrekturen am Kontaktgruppenplan geben, der mit dem Aufteilungsverhältnis von 51:49 Basis der Verhandlungen sein wird. Aber diese Abweichungen dürfen nur dann beschlossen und in die Wirklichkeit umgesetzt werden, wenn alle drei Konfliktparteien zugestimmt haben.
({4})
Drittens. Ich sage mit besonderem Nachdruck: Es darf und wird keine Lösung ohne die Zustimmung der mit weitem Abstand schwächsten Konfliktpartei, der Bosniaken, der Moslems, geben. Was kommt, darf nicht auf dem Rücken dieses Volkes, das in den letzten Jahren am meisten gelitten hat, ausgetragen werden. Das muß unsere ganz klare und unverrückbare Haltung sein.
({5})
Wenn die Waffen schweigen - wir wünschen uns, daß das bald der Fall ist -, wird es um die Frage gehen - Silajdzic hat es letzte Woche hier angesprochen -, wie es mit dem Wiederaufbau geht. Wir werden helfen. Wir werden insbesondere Bosnien-Herzegowina, das leider im Augenblick nur noch eine Bevölkerung von etwas über 2 Millionen Menschen hat, mit einer Art Marshallplan helfen müssen.
Ich füge hinzu: Wer heute den Weg der Gewalt einem Kompromiß für den Frieden vorzieht, sollte nicht darauf hoffen, später dafür prämiert zu werden. Das muß klar sein.
({6})
Aber ich füge auch hinzu - und ich weiß, daß das draußen gehört, erwartet und auch verstanden wird - Deutschland war in diesem Konflikt immer nur Partei gegen Aggression und Gewalt, nie Partei gegen das serbische Volk.
({7})
Das ist ganz wichtig.
Deshalb sage ich den Verantwortlichen in Pale und Belgrad: Sie müssen wissen, was Sie selber Ihrem eigenen Volk bisher angetan haben und noch antun können, wenn Sie sich jetzt nicht ohne Bedingungen dem Kontaktgruppenplan und dem Frieden am Verhandlungstisch und nicht auf dem militärischen Feld anschließen.
({8})
Noch etwas, was leider Gottes in sehr starkem Maße vergessen worden ist: Ganz wichtig ist, daß es gegenüber den islamischen Völkern keine Entfremdung gibt, auch im Kontext des Bosnien-Jugoslawien-Konflikts.
Letzte Woche hat auf meine Anregung hin ein Treffen der internationalen Bosnien-Kontaktgruppe erstmals mit der Kontaktgruppe der OIC, der Internationalen Islamischen Weltkonferenz, stattgefunden. Ich werde morgen an einem Treffen auf Ministerebene in Paris teilnehmen, das mit den acht islamischen OIC-Ländern, die in diesem Zusammenhang federführend sind, erstmals abgehalten wird. Auf meinen Vorschlag hin wird während der UNO-Woche ein weiteres Treffen dieser Art stattfinden.
Ich habe für Mitte November die Außenminister von Ägypten, Saudi-Arabien, Indonesien, Iran, Tunesien und der Türkei zu einem Islam-Kolloquium, zu einem Forum hierher nach Bonn eingeladen,
({9})
um der islamischen Welt, die immerhin 26 % der Weltbevölkerung gleich 1,6 Milliarden Menschen umfaßt, das Gefühl zu geben, daß jedenfalls wir in Deutschland nicht dazu beitragen wollen, die islamische Religion prinzipiell mit Terrorismus und Fundamentalismus gleichzusetzen, und daß wir jedenfalls nicht dazu beitragen werden, daß hier neue, absolut falsche Feindbilder aufgebaut werden.
({10})
Zum früheren Jugoslawien und zu dem Gesamtkonflikt gehört auch Makedonien. Ich habe mich im stillen - ich bin ein bißchen stolz darauf - in zahlreichen Gesprächen mit Präsident Gligorow und auch mit der griechischen Seite darum bemüht, bei dieser - milde ausgedrückt - unglückseligen Verkrampfung mit einem Sechspunkteplan voranzukommen, die sich zwischen Griechenland und Makedonien aufgetan hat. Gligorow hat mich gestern morgen angerufen und mir erklärt: Sie sind durch.
Ich habe zu dieser Lösung einen nicht unwesentlichen Teil beigetragen. Ich bin froh darüber, weil die Makedonien-Frage immer wieder vergessen wird, wenn über das frühere Jugoslawien gesprochen wird.
Wir müssen wissen, daß dieses Land aus zweifachen Gründen ganz besonders belastet ist: einmal wegen des griechischen Embargos im Wirtschaftsbereich und zum anderen wegen der Embargomaßnahmen gegen Belgrad. Makedonien hatte doppelt zu leiden.
Die Makedonier haben es nun verdient, daß wir ihnen als Europäer und bilateral helfen, wenn diese Entkrampfung stattgefunden hat. Ich bin nach dem, was ich gehört habe, sicher: Sie wird nach den Gesprächen, die jetzt unter der Federführung von Herrn Vance in New York stattfinden, kommen.
({11})
Ein Punkt, der uns alle bedrücken muß - ich weiß, daß wir uns da einig sind -, sind die Flüchtlingsströme. Im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Krajina habe ich bis eine Stunde vor der Entscheidung der Regierung in Zagreb versucht zu warnen, bisher ohne Erfolg.
Was anschließend mit rund 120 000 Flüchtlingen geschehen ist, ist schlimm. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß dort über 200 000 Kroaten auf grausame Art und Weise vertrieben worden sind.
Das ändert aber nichts daran: Die betroffenen Menschen können nichts dafür. Wir müssen uns um die Flüchtlingsströme kümmern. Wir tun das, und zwar ohne Ansehen der Konfliktpartei. Es ist absolut selbstverständlich, daß wir uns genauso für die serbischen Flüchtlinge einsetzen. Ich sage noch einmal: Die betroffenen Menschen können nichts dafür.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Nein, ich möchte jetzt bitte zum Ende kommen. Herr Duve weiß, daß ich sonst selbstverständlich jederzeit zur Verfügung stehe.
Wir müssen die Menschenrechte und die Minderheiten schützen. Ich habe mich ganz massiv an Herrn Granic gewandt - ich habe das ja auch veröffentlicht - und gesagt: Kroatien muß sich daran messen lassen, wie es mit Minderheiten und mit Menschenrechten umgeht. Kroatien muß sich jetzt in besonderer Weise daran messen lassen, wie es sich bemüht, den Serben zumindest anzubieten, in die Krajina zurückzukommen.
({0})
Ich hoffe, daß das geschieht.
Lassen Sie mich noch eines hinzufügen, weil immer wieder die Frage danach gestellt wird: Natürlich wird trotz all der Belastungen, die wir bisher mit Flüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien hatten, die deutsche Tür offenbleiben, wenn Menschen, die in Elend und Not sind, anklopfen. Das kann überhaupt nicht in Frage stehen.
({1})
Natürlich müssen wir ihnen, soweit es irgendwie geht, vor Ort helfen. Wir müssen Ihnen ebenfalls im europäischen Rahmen helfen. Ich werde am Wochenende in Santander, wo sich die europäischen Außenminister treffen, darauf hinweisen.
Noch etwas: Wir haben nicht nur geredet, sondern auch gehandelt. Nachdem ich in Sarajevo war - das habe ich Ihnen vorgetragen -, haben wir für das Kosovo-Krankenhaus, das dort wichtigste und mit 2 000 Betten größte Krankenhaus, die Patenschaft übernommen. Wir haben gerade noch rechtzeitig eine Neurochirurgie eingerichtet. Ich habe fünf Ärzte in Marsch gesetzt, die dort seit gestern mitoperieren und den völlig überlasteten Chirurgen und Anästhesisten helfen. Zudem haben wir im Namen der Bundesregierung einen Medizinhilfstransport auf den Weg gebracht, von dem ich hoffe, daß er morgen ankommt. Das heißt: Wir reden nicht nur, sondern helfen den Hauptbetroffenen vor Ort.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz auf Europa zurückkommen: Die Regierungskonferenz 1996 wird nicht die letzte, aber doch eine ganz wichtige Etappe der europäischen Einigung sein. Das Wichtigste dabei bleibt, daß das europäische Haus nicht an den Wünschen seiner Bewohner vorbeikonstruiert wird und der Zusammenschluß Europas nicht anderswo neue Gräben aufreißt.
Sicherheit in Europa heißt zunehmend auch Sicherheit durch Kooperation, durch Vernetzung der Interessen. Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist die Prävention; aber diese hat natürlich ihre Grenzen. Ich werde nachher, wenn ich noch kurz etwas zu meiner letzten Reise nach Tansania, Burundi und Ruanda sage - in meiner Delegation waren Abgeordnete aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages -, darauf zurückkommen.
Nun ein Punkt, der Sie alle genauso wie mich betroffen machen muß. Vorgestern war der UNO-Beauftragte Ekeus, der den Auftrag hat, die Situation im Irak zu überwachen, bei mir. Ich kann Ihnen nur sagen: Da ist Konfliktprävention wahrhaftig notwendig. Was er mir auf Grund seiner gerade abgeschlossenen Reise in den Irak und nach Amman, wo er den geflüchteten Schwiegersohn von Saddam Hussein getroffen hat, gesagt hat, ist nicht nur besorgniserregend, sondern schlimmer.
Die irakische Regierung hat uns jahrelang systematisch belogen.
({3}) Es hat sich jetzt herausgestellt
({4})
- nein, wir sind auf keiner falschen Fährte gewesen -: Bagdad hatte bis in das Jahr 1991 durch die bisher zugegebene Abfüllung von 25 Skud-Raketenköpfen, die über 500 Bomben und ca. 170 Artilleriegeschossen die Fähigkeit zu einer umfassenden biologischen Kriegsführung. Dies alles wurde angeblich nach dem Golfkrieg auf Befehl Saddam Husseins zerstört. - Bis zum Frühjahr 1991 gab es durchaus realistische Bemühungen, den ersten Kernsprengsatz zu entwickeln. Es gab eine erfolgreiche Eigenentwicklung von Prototypen eines weitreichenden Raketenmotors auf der Skud-Basis und eine teilweise Fortführung der Geheimprojekte auch nach dem Golfkrieg. Fest steht: Alles war auf Israel, auf Jerusalem, gerichtet.
Hier im Deutschen Bundestag muß man klar und deutlich sagen: Wir müssen absolute Sicherheit haben, daß dies alles tatsächlich vernichtet wurde. Wir müssen alles tun, um die UNO-Delegation zu unterstützen, daß dies sichergestellt ist. Zudem kann auf absehbare Zeit nun wirklich nicht von einer Aufhebung der Sanktionen die Rede sein.
({5})
Es muß glasklar sein: Wer so lügt, trägt leider die Verantwortung dafür, daß das irakische Volk, vor allem aber die Kinder, unter diesen schrecklichen Dingen zu leiden haben. Das ist das, was mich bedrückt.
Noch ein Wort zur Türkei, weil ich mir auch da Sorgen mache. Sie ist ein wichtiger Stabilitätsfaktor in dieser Region. Wir haben der Türkei in der Vergangenheit auf dem Weg nach Europa sehr geholfen und werden es auch als Partner und Freund weiter tun, und zwar nicht nur wegen der großen geostrategischen und politischen Bedeutung auch zur islamischen Welt.
Die Zollunion muß kommen. Wir haben uns nicht umsonst in unserer Präsidentschaft so dafür eingesetzt. Die Türkei hat mit den Ansätzen zur Verfassungsreform, mit den Ansätzen vom 23. Juli ihren guten Willen gezeigt. Das sollte auch honoriert werden. Aber, wenn wir der Türkei helfen wollen, müssen wir mit ihr auch als Partner und Freund deutlich und klar reden können. Dann muß die türkische Regierung die Frage der inhaftierten kurdischen Abgeordneten endlich rechtsstaatlich lösen. Dann muß sie in der Kurdenfrage aufhören, immer nur die militärische Lösung zu befürworten. Sie muß versuchen, mit rechtsstaatlichen Methoden damit fertigzuwerden, so schwer es auch ist.
({6})
Sie muß natürlich auch in der Menschenrechtsfrage Fortschritte zeigen.
Ich möchte aber auch all denen, die in dieser Frage eine übergroße Härte propagieren und Ungeduld an den Tag legen, eines ans Herz legen. Es wäre fatal, wenn wir die Türkei von Europa wegtrieben, wenn wir sie ausgrenzten. Wir sollten sie nicht den Extremisten überlassen. Die fundamentalistische Gefahr ist groß. Bei allen Schwierigkeiten in Deutschland müssen und werden wir der Türkei ein verläßlicher Freund bleiben. Noch etwas: Wenn wir immer kritiBundesminister Dr. Klaus Kinkel
Bieren, dann müssen wir auch darauf hinweisen und beschämt zur Kenntnis nehmen, daß in letzter Zeit, wenn ich richtig unterrichtet bin, wieder 120 türkische Einrichtungen in der Bundesrepublik auf eine nicht vertretbare Art und Weise geschädigt, zum Teil zerstört worden sind. Das ist nicht hinnehmbar. Wir müssen das deutlich und klar sagen.
({7})
Aber wir müssen diejenigen, die hier Gastrecht genießen und die angesehene Mitbürger sind, darauf hinweisen, daß hier die inneren Streitigkeiten, insbesondere der militanten Kurden, nicht ausgetragen werden dürfen und daß wir mit allen rechtsstaatlichen Mitteln auch dagegen vorgehen.
({8})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beer?
Nein. Ich habe es auch vorher nicht getan. Ich bin morgen in den Ausschüssen. Bitte stellen Sie mir morgen die Fragen. Ich bitte Sie herzlich darum. Ich sehe nämlich hier, daß meine Zeit abgelaufen ist. Für mich sind aber, wenn ich es in aller Bescheidenheit sagen darf, 30 Minuten angemeldet worden, so daß ich, wenn ich es richtig sehe, noch ein paar Minuten habe. Vielen Dank.
Ich verstehe sehr gut, wenn sich die Menschen - ich komme jetzt zu dem uns alle berührenden Thema - über die Wiederaufnahme der Kernwaffenversuche empören. Ich bedaure das auch persönlich. Weil immer wieder gefragt wird: Meine erste Reise zu dem neuen französischen Außenminister fand zu diesem Zweck statt, um mit ihm deutlich und klar über diesen Sachverhalt zu sprechen. Vorgestern habe ich es das letzte Mal getan. Diese Tests gehören nicht mehr in unsere Zeit und müssen deshalb ein für allemal weltweit umfassend und verifizierbar unterbunden werden. Dafür habe ich mich in meiner Zehn-Punkte-Abrüstungsinitiative vom Dezember 1993 eingesetzt. Die Ankündigung von Präsident Chirac und Präsident Clinton, Abkommen zum Verbot aller Tests ohne Schlupflöcher zu unterstützen, hat uns diesem Ziel, wie ich meine, einen Schritt nähergebracht. Aber unsere Meinungsunterschiede in dieser Frage werden und dürfen der engen deutschfranzösischen Freundschaft und Partnerschaft keinen Abbruch tun.
({0})
Frankreich stand uns in schwierigsten Zeiten, als es sehr darauf ankam, in Sicherheitsfragen des geteilten Deutschland und des geteilten Berlin absolut und ohne jede Einschränkung auf unserer Seite, übrigens auch durch die atomare Abschreckung. Ich finde es einfach unfair, das zu vergessen. Das ändert nichts daran, daß wir aus diesem partnerschaftlichfreundschaftlichen Verhältnis der französischen Regierung klar und deutlich sagen, daß wir anderer Meinung sind. Das haben wir getan. Das haben wir übrigens nicht nur den Franzosen gegenüber getan, sondern das haben wir auch der chinesischen Regierung gegenüber getan, auch und zuletzt beim Besuch des Staatspräsidenten, und zwar klar und deutlich.
Meine Damen und Herren, Politik für die Menschen und ihre Rechte heißt für mich auch, Afrika nicht abzuschreiben. Ich war, wie ich vorhin andeutete, mit einigen Kollegen aus dem Deutschen Bundestag in Tansania, Ruanda und Burundi. Wir waren zusammen in Benaco, dem Flüchlingslager, und in jener Kirche, in der der schreckliche Genozid mit 2 000 Opfern stattgefunden hat. Wir waren zum Teil im Gefängnis von Kigali. Nach diesem schrecklichen Völkermord, dem 1 Million Menschen zum Opfer gefallen sind, versucht Ruanda im Augenblick, mit der neuen Tutsi-Regierung Versöhnung über Gerechtigkeit zu finden.
Ich habe in den Jahren, in denen ich Außenminister bin und Justizminister bzw. Staatssekretär im Justizministerium war, was Menschenrechtsverletzungen anbelangt, einiges erlebt. Ich persönlich habe so etwas noch nie gesehen. Im Gefängnis von Kigali, das für 900 Menschen angelegt ist, waren, als ich dort war, 10 500 Menschen eingepfercht wie Schafe. Egal, was vorher vorgefallen ist: Es ist zutiefst menschenunwürdig, daß dort sechs Menschen auf einem Quadratmeter leben und monatelang keine Möglichkeit haben, sich hinzusetzen, geschweige denn, sich hinzulegen. Sie stehen wie die Schafe. Ich sage es noch einmal: Dort stehen bis zu sechs Menschen pro Quadratmeter - buchstäblich in ihrem eigenen Dreck.
Nach Rückkehr von der Reise habe ich dann mit Hilfe der Abgeordneten versucht, die Völkergemeinschaft aufzurütteln; ich habe Generalsekretär Boutros-Ghali, den Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes, die Kommissarin Bonino in Brüssel angerufen. Die Völkergemeinschaft muß wissen, was dort abläuft. Wir Deutsche haben versucht zu helfen. Wir haben in der Zwischenzeit Gefangene freibekommen. Unser Afrikabeauftragter war wieder dort unten. Ich mache mir große Sorgen darüber, wie es weitergehen soll, auch nach der Regierungsumbildung.
Wegen folgendem mache ich mir noch größere Sorgen. Ich konnte mit dem großen Flugzeug und meiner Begleitung nicht nach Burundi fliegen. Ich bin mit einem kleinen Flugzeug und kleinster Begleitung in die Hauptstadt Burundis geflogen. Wir müssen befürchten, daß dort in Kürze dasselbe passiert, was in Ruanda passiert ist.
Wir haben in bezug auf die Prävention eine Aufgabe und eine Verpflichtung. Wir können nicht alle Not und alles Elend dieser Welt schultern, weder die deutsche Bundesregierung noch Sie im Bundestag, noch die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem haben wir Verpflichtungen auch und gerade auf dem afrikanischen Kontinent, wo man, weil wir eben keine koloniale Vorbelastung haben, in ganz besonderer Weise auf uns hofft. Ich bitte Sie sehr herzlich, mich in den Ausschüssen, in die ich jetzt gehen werde und in denen ich Sie um das eine
oder andere bitte, zu unterstützen, weil ich glaube, daß es die Menschen dort verdient haben, daß wir sie nicht im Stich lassen, sondern daß wir uns um sie kümmern.
({1})
Dort wurden Schwangere und Kleinkinder zum Teil mehrfach vergewaltigt. Ich sage noch einmal: Ich habe so etwas noch nie erlebt. Sie können sich keine Vorstellung davon machen, was dort los ist. Wir müssen helfen. Unterstützen Sie mich dabei!
Meine Damen und Herren, die täglichen Schrekkensbilder aus allen Teilen der Erde lösen bei unseren Bürgern teils Empörung, teils Resignation und Skepsis gegenüber den internationalen Organisationen aus. Ich verstehe das, gerade was die UNO anbelangt. Aber ich möchte noch einmal gerade hier, in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages, weil es ja auch um die Gelder geht, die wir für die UNO aufwenden, sagen: Ich wende mich gegen diese zum Teil überkritische Beurteilung dessen, was die UNO tut. Nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung sind die Vereinten Nationen total überfordert, personell, organisatorisch und auch sonst. Es hat keinen Sinn, sie pausenlos zu kritisieren; wir müssen sie konstruktiv unterstützen. Ich möchte einmal die Frage stellen: Wer weiß eigentlich etwas Besseres?
({2})
Erst wenn wir etwas Besseres wissen, sollten wir uns über das erheben, was dort geschieht und was man dort zu leisten versucht.
Ich werde am 27. September vor der UNO-Generalversammlung in New York für eine konstruktive Kritik und Hilfe eintreten. Ich werde das ebenfalls bei der 50-Jahr-Feier der UNO tun. Das sind Themen, für die es sich, wie der Bundeskanzler heute morgen gesagt hat, zu arbeiten, auch zu kämpfen und, wo notwendig, zu streiten lohnt.
Ich möchte insbesondere in der Haushaltsdebatte die Opposition einladen, in der Außenpolitik, wo wir ja Gott sei Dank sehr viele Gemeinsamkeiten haben - genauso wie in der Sicherheitspolitik - die Bundesregierung in den Fragen, auf die es besonders ankommt, zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Abgeordneten Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Herr Kinkel, Sie haben sich eben darüber mokiert, daß der Fraktionsvorsitzende der Grünen, der sich in die außenpolitische Debatte öffentlich eingeschaltet hatte, dem Beginn Ihrer Rede nicht gelauscht hat. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß
Joschka Fischer, so wie der größte Teil unserer Fraktion, in der letzten Stunde vor der französischen Botschaft war, um dort gegen die Atomtests zu protestieren.
({0})
Herr Schäuble, ich gehe davon aus, daß sich auch der Teil Ihrer Fraktion, der im Moment nicht im Saal ist, auf dem Weg zur französischen Botschaft befindet.
({1})
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Karsten Voigt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede voller Betroffenheit und Empörung gesagt, daß ihn Saddam Hussein jahrelang belogen hat. Auch ich finde das empörend. Aber noch schlimmer finde ich, daß er ihm jahrelang geglaubt hat.
({0})
Am allerschlimmsten finde ich, daß der Dienst, dem Sie eine Reihe von Jahren vorgestanden haben, nämlich der Bundesnachrichtendienst, zusammen mit anderen Diensten - wofür haben wir sie eigentlich? ({1})
nicht in der Lage war, diese Lügen rechtzeitig zu entlarven.
({2})
Ich möchte mich auf die beiden Kernpunkte konzentrieren, die in der deutschen und internationalen Debatte heute am meisten Aufmerksamkeit gewinnen, nämlich die Entwicklung in Bosnien und die französischen Nukleartests.
In Bosnien steht im Vordergrund der Aufmerksamkeit, daß die NATO im Auftrage der und in Abstimmung mit der UNO Kampfeinsätze geflogen hat. Ich glaube, daß ein Datum, das noch bevorsteht, viel wichtiger ist: Am Freitag dieser Woche beginnt in Genf nämlich die erste Runde der Gespräche - Sie haben darauf hingewiesen: 3 + 5 -, in denen nicht nur die bosnischen Serben in einer Gesamtdelegation unter Leitung der Belgrader Serben über eine Friedenslösung verhandeln, sondern in denen auch aller Voraussicht nach Karadzic und Mladic nicht in der Delegation der bosnischen Serben sein werden.
Karsten D. Voigt ({3})
Wenn dies zutrifft, dann zeigt es, daß die Belgrader Serben, aber auch die bosnischen Serben zu begreifen beginnen, daß ihre bisherige Politik zu einem immer größeren Schaden für die Serben in Belgrad, aber auch für die Serben insgesamt wird.
Dies steht allerdings in einem Zusammenhang mit den Bombenangriffen der NATO. Ich habe sie nicht begrüßt, wir haben sie nicht begrüßt - man kann solche Bombenangriffe nie begrüßen -, aber sie waren unvermeidlich und erforderlich, um der Führung der bosnischen Serben zu zeigen, daß militärische Eingriffe nicht mehr zur Durchsetzung ihrer Ziele führen können. Sie waren nicht etwa deshalb erforderlich, weil es eine militärische Lösung gäbe - es gibt keine militärische Lösung! -, sondern um denjenigen, die bisher auf eine militärische Lösung gesetzt haben, diese militärische Lösung zu verweigern.
({4})
Sie waren nötig, um politische Verhandlungen zu ermöglichen und um dem Schutzzonenkonzept zum Durchbruch zu verhelfen.
({5})
Das heißt: Das ist das Gegenteil von Militarisierung. Die Politik von NATO und UNO ist der Versuch, primär mit politischen Mitteln, aber unter Beimischung militärischer Mittel deutlich zu machen, daß man nur am Verhandlungstisch und nicht durch Gewalt irgendeine Lösung erzwingen kann.
({6})
Trotzdem bleiben Fragen an die Bundesregierung, zuerst in bezug auf die Informationspolitik. Wir haben gestern, mehr oder weniger per Eilbrief, vom Bundesverteidigungsminister eine Reihe von detaillierten Angaben über Ausbildungsflüge, Übungsflüge und Einsatzflüge - eine Differenzierung, die ich so nicht übernehmen kann - bekommen, die sich überwiegend auf Tatbestände beziehen, die bereits vor dem 4. September stattgefunden haben. Es ist schlicht und ergreifend nicht hinnehmbar und ein Skandal, wenn die Bundesregierung das Parlament erst informiert, nachdem im „Spiegel" Details durchgesickert sind, über die sie schon Tage und Wochen zuvor hätten informieren müssen.
({7})
Ich prangere also die mangelnde, fehler- und lückenhafte Informationspolitik der Bundesregierung in den letzten Wochen an.
({8})
Zweitens. Herr Kinkel, es geht nicht um ein Mäkeln an irgendwelchen rechtlichen Grundlagen. Es geht primär um politische Fragen. Es geht nicht um den Beschluß des Bundestags, sondern primär um das, was Sie und Herr Rühe in der Debatte, in der wir den Beschluß gefaßt haben, gesagt haben. Dort haben Sie gesagt, der Einsatz der Bundesluftwaffe wird nur stattfinden, wenn Blauhelme gefährdet oder angegriffen werden, wenn die schnelle Einsatztruppe zu deren Schutz angefordert wird und wenn zu deren Schutz die Bundesluftwaffe als Unterstützung in der Luft angefordert wird. Wir haben das „den Schutz des Schutzes des Schutzes" genannt.
Im Auswärtigen Ausschuß habe ich auf Grund dieser Bemerkung gesagt: Wenn diese nach meiner Meinung restriktiven Einsatzbedingungen, von denen ich nicht weiß, ob sie ausreichen, tatsächlich eingehalten werden, dann ist der Einsatz der Bundesluftwaffe mehr ein Symbol der Solidarität mit den Bündnispartnern als von militärisch-substantieller Bedeutung.
Mein Eindruck ist, daß Sie Ihre Befugnisse, die an diese von Ihnen selbst formulierten restriktiven Bedingungen gebunden sind, überschritten haben, ohne die Ausschüsse des Bundestages und den Bundestag insgesamt vorher darüber zu informieren, nachdem Sie zuvor durch Ihre Stellungnahmen einen anderen Eindruck erweckt hatten. Das ist ein politisches, kein primär rechtliches Problem.
Ich muß Sie fragen, ob das Bündnis inzwischen weitergehende Anforderungen gestellt hat, ob Sie glauben, daß die Bündnisloyalität zusätzliche, darüber hinausgehende Einsätze der Bundeswehr erforderlich macht oder ob Sie der Meinung sind, daß die Bundeswehr in Zukunft in diesem Bosnien-Konflikt militärischer agieren sollte, als Sie es in der Debatte noch für erforderlich gehalten haben.
Herr Kollege Voigt, die Kollegin Lederer würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Liebe Kollegin Lederer, bitte sehr.
Kollege Voigt, was glauben Sie, warum in dem Beschluß, den der Deutsche Bundestag zu diesen Einsätzen gefaßt hat, genau diese restriktiven Ausführungen, die in vielen Reden formuliert wurden, nicht enthalten sind? Glauben Sie nicht, daß Ihre Zustimmung zu genau diesem Vorratsbeschluß, wie wir ihn genannt haben, die Gefahr beinhaltet hat, im nachhinein durch Interpretationen mehr oder weniger alles als zulässig zu erklären, was von der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina mittlerweile auch getan wird?
Kollegin Lederer, darauf eine klare Antwort: Ich habe in meinem Diskussionsbeitrag die Einsätze der Bundesluftwaffe nicht kritisiert. Ich habe auch nicht gesagt, daß ich einem Beschluß nicht zugestimmt hätte, wenn der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister das angekündigt hätten, was sie jetzt tun. Ich habe nur gesagt, daß diese beiden den vollen Umfang der Einsätze meiner Meinung nach damals nicht richtig vorausgesehen haben, der, wie ich meine, aber voraussehbar war, nämlich daß sich die restriktiven Bedingungen, die sie hier im Parlament, um eine breite Mehrheit zu erreichen, angekündigt
Karsten D. Voigt ({0})
haben, im weiteren Verlauf der Ereignisse so nicht einhalten ließen.
Aus diesem Grund habe ich im Auswärtigen Ausschuß gesagt, es handele sich eher um eine politischsymbolische Sache mit militärischer Substanz als um einen militärisch-substantiellen Beitrag der Bundesluftwaffe. Ich vermute, daß schrittweise eine immer größere militärische Substanz angestrebt wird. Dafür möchte ich die politischen Begründungen kennen. Das kann man nämlich nicht einfach ohne eine politische Debatte durchgehen lassen.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben in einem Brief an Herrn Granic zu Recht das Verhalten der Kroaten in bezug auf die Krajina kritisiert. Ich hätte gewünscht, daß Sie die Verbrechen, die von den Kroaten in der Krajina begangen wurden, früher und auch öffentlich kritisiert hätten. Es sind Morde vorgekommen. Es hat dort nicht nur Flucht, sondern auch Vertreibung gegeben. Der Umfang der Morde ist nicht gleichermaßen schwerwiegend wie das, was die Serben wahrscheinlich in Srebrenica gemacht haben. Trotzdem müßten gerade die Deutschen in dieser Frage ein Interesse daran haben, das Verhalten der Kroaten öffentlich vernehmbar und frühzeitig zu verurteilen.
Darüber hinaus halte ich es für sehr wichtig, daß wir in diesen Tagen Druck auf die Kroaten ausüben, um zu erreichen, daß sie in Ostslawonien nicht militärisch agieren und auch nicht in der Umgebung von Dubrovnik.
Es ist auch wichtig - Sie haben das angedeutet -, daß wir den Serben frühzeitig signalisieren, daß wir bei einer Friedenslösung nicht nur zum Wiederaufbau und zur ökonomischen Zusammenarbeit mit den Kroaten und der bosnischen Regierung, sondern auch mit den Serben bereit sind.
Es gibt in diesem Hause hoffentlich keine antiserbischen Emotionen. Wir haben nichts gegen das serbische Volk.
({1})
Ich wäre sehr dafür, wenn alle Parteien dieses Hauses ihre Kontakte nicht nur zu den bosnischen Parteien, nicht nur zu den Kroaten, sondern zu den verschiedenen politischen Gruppierungen und Parteien in Belgrad intensivieren würden.
Obwohl mir der Mann persönlich nicht schmeckt und er einer der Hauptverursacher dieses Krieges war, glaube ich, daß das Milošević nicht ausschließen kann. Ich bin der Meinung, daß die Bonner Politik klug beraten ist, wenn sie die Kontakte zu Milošević nicht nur Holbrooke überläßt, sondern wenn sie im Sinne eines Einwirkens auf eine Friedenslösung auch mit Belgrad Kontakte aufnimmt oder intensiviert.
Mein zweites Thema ist die Wiederaufnahme der französischen Nukleartests. Die deutsch-französische Zusammenarbeit und Aussöhnung ist, wenn es so etwas überhaupt gibt, die Staatsräson, die nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern die auch das vereinigte Deutschland neuer Art binden sollte. Ohne die deutsch-französische Aussöhnung würde Europa in alte Rivalitäten zurückfallen, ohne die deutsch-französische Aussöhnung gibt es keine europäische Einigung.
Aus diesem Grunde ist alles, was zwischen den Franzosen und uns strittig ist, sehr sorgfältig zu behandeln. Es gibt in zunehmendem Maße strittige Punkte. Bei der Welthandelsorganisation gab es ebenso wie bei der Osterweiterung der Europäischen Union und bei bestimmten Aspekten der Balkanpolitik strittige Punkte.
Um so wichtiger wäre es gewesen, daß die Bundesregierung sehr frühzeitig die französische Regierung, auch Herrn Chirac, darauf aufmerksam gemacht hätte, daß die Wiederaufnahme der Nukleartests in Europa insgesamt und in Deutschland insbesondere zu einer Protestwelle gegen die französische Politik führen würde. Herr Chirac hat das offensichtlich völlig falsch eingeschätzt.
({2})
Es gehört zur deutsch-französischen Freundschaft und zur Kultur des Dialogs zwischen diesen beiden Staaten, daß man solche Probleme frühzeitig benennt und nicht verschweigt. Ich werfe der Bundesregierung vor, daß sie das nicht bereits während des Wahlkampfes auf informellen Kanälen und auch nicht, als Chirac das angekündigt hat, gemacht hat.
({3})
Ich fände es sehr gut, wenn sich die Partner in Paris und Bonn hinsichtlich ihrer jeweiligen Politik kritisieren könnten - das sollte völlig normal sein - und das nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten empfunden würde. Ich habe es deshalb als schädlich empfunden, daß der französische Botschafter, François Scheer, im Außenministerium einbestellt wurde, als er zu einer bestimmten Frage der deutschen Innenpolitik Stellung genommen hat. Ich halte das für einen Fehler.
({4}) - Er hat sich seitdem auch nicht wieder geäußert.
Ich glaube, daß umgekehrt eine solche wechselseitige Einmischung in sogenannte innere Angelegenheiten insofern erforderlich ist, als sie in Wahrheit europäische Angelegenheiten sind. Man kann nicht von einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, für die wir sind, reden, ohne daß man solche Fragen wie die französischen Nukleartests europäisch diskutiert und auch im Entscheidungsprozeß letztendlich europäisiert, indem man die französische Regierung frühzeitig auf die europäische Dimension ihrer Entscheidung hinweist.
({5})
Trotzdem sage ich: Es gibt ein Manko - weniger bei der Bevölkerung; die französische Bevölkerung ist in der Mehrheit gegen die Tests - in der sicherheitspolitischen Kultur bei den Leuten, die Außen- und Sicherheitspolitik in Frankreich und Deutschland diskutieren. Die Kollegen Seiters und Duve und
Karsten D. Voigt ({6})
ich werden in der übernächsten Woche in Paris sein, um über diese Frage zu diskutieren. Wir müssen eine gemeinsame deutsch-französische Kultur der Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln; denn ohne eine solche gemeinsame deutsch-französische Kultur in diesem Bereich wird es keine substantiellen Erfolge in der Außen- und Sicherheitspolitik Europas geben, selbst wenn es die Institutionen dafür gibt.
({7})
Abschließend noch drei kurze Bemerkungen. Die erste bezieht sich auf die Frage der transatlantischen Beziehungen. Dort wird sehr viel von einer nordatlantischen Freihandelszone, von neuen Verträgen und Vereinbarungen geredet. Ich empfehle der Bundesregierung, weniger über neue Verträge und Vereinbarungen, sondern mehr über die Substanz zu reden. Die Substanz ist, daß wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die im NATO-Vertrag angelegten zivilen Teile aktivieren müssen.
Wir müssen zusätzlich zu der militärischen NATO nicht nur eine politische, sondern eine zivile NATO entwickeln. So etwas machen wir in der Nordatlantischen Versammlung, das reicht aber nicht aus. Dazu gehört ein wachsender Austausch im kulturellen Bereich. Dazu gehört gemeinsames Agieren im wirtschaftspolitischen Bereich. Auf beiden Seiten gehört der Abbau einiger protektionistischer Vorschriften bei Textil, Stahl und Kohle dazu, was auch uns treffen würde. Auch eine Reform der Landwirtschaftspolitik ist erforderlich. Wir müssen - das ist meine Kernthese - in den transatlantischen Beziehungen einen Neuanfang finden, der besonders den Ausbau der zivilen transatlantischen Beziehungen und nicht primär die militärischen Beziehungen betrifft.
Zweitens. Ende dieses Jahres läuft die Frist aus, in der die Staaten Europas ihre konventionelle Abrüstung umgesetzt haben müssen. Es besteht die Gefahr, daß diese Limits in einigen Gebieten Rußlands nicht eingehalten werden. Ich fordere die Russen auf, diese Limits einzuhalten. Gleichwohl meine ich, daß man auf dem Verhandlungswege darüber reden müßte, ob der eine oder andere Wunsch der Russen nach Veränderung der Limits berechtigt ist.
Aber entscheidend ist, Herr Bundesaußenminister, daß eine Nichteinhaltung des Zeitpunkts Ende November dieses Jahres - es ist nicht mehr lange hin - zu einer Erosion und einer Krise des wichtigsten rüstungskontrollpolitischen Vertrags im konventionellen Bereich, der in Europa verabschiedet worden ist, führen könnte. Deshalb ist es erforderlich, daß wir nicht in eine solche Krise hineinschlittern, sondern frühzeitig vorbeugen und zu Lösungen und Vereinbarungen kommen. Sie haben zu diesem Thema heute nichts gesagt. Ich hoffe, daß das nicht bedeutet, daß Sie sich dafür nicht interessieren.
Zuallerletzt: Der Bundeskanzler hat mit Boris Jelzin über chemische Waffen geredet. Die Russen und die Amerikaner haben den entsprechenden internationalen Abrüstungsvertrag immer noch nicht ratifiziert. Wir haben ein Recht, darauf zu drängen, daß sie es endlich tun. Der Bundeskanzler hat sich gerühmt, daß die Bundesrepublik in Zukunft Mittel bereitstellt, um den Russen bei der chemischen Abrüstung zu helfen. Ich wollte ihm nur sagen, daß das ein alter Hut ist. Der Bundestag hat das mit Unterstützung aller in ihm vertretenen Parteien schon lange bewilligt. Ich finde es zwar gut, daß er Jelzin das zusagt, aber er sollte es in seinen Gesprächen nicht als großes neues Ereignis darstellen.
Vielen Dank.
({8})
Herr Kollege Dr. Klaus Rose, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der „Kölner Stadt-Anzeiger" hat über den gestrigen Beginn der diesjährigen Haushaltsdebatte geschrieben: „Wo bleibt die Opposition?" Nach dem was heute geboten wurde, wird auch morgen wieder in der Zeitung stehen: Wo bleibt die Opposition?
({0})
Ich darf daran erinnern, daß sich die Opposition in diesem Sommer in ganz anderen Gefilden verheddert hat, und darf Herrn Rau zitieren, der sagte, daß dieses Sommertheater die Menschen angewidert hat. Ich kann nur sagen, wir sind inzwischen so weit, daß es nicht mehr eine Politikverdrossenheit, sondern eine Oppositionsverdrossenheit in diesem Lande gibt.
({1})
Ich möchte gerade auch als CSU-Vertreter einiges über die derzeitigen Probleme in der Außen- und Sicherheitspolitik sagen.
Die härtere Gangart der NATO und der UNO in den letzten Tagen war ein unvermeidbarer und notwendiger Schritt. Dies ist das einzig richtige und unmißverständliche Signal an die bosnischen Serben, endlich einzulenken und den Weg für erfolgreiche Verhandlungen frei zu machen. Es bleibt zu hoffen, daß die UNO nun endlich von ihrer häufig allzu zögerlichen Art im Umgang mit den Kriegsverbrechern Karadžić und Mladic abläßt.
Ich möchte das Morgenfernsehen zitieren, wo ein Experte des Südost-Instituts kritisiert hat, daß man zwischendurch mit dem Druckausüben auf die bosnischen Serben wieder etwas aufgehört habe: Das sei ein verkehrtes Zeichen; denn man habe über Jahre hinweg ein falsches Spiel getrieben. Ich schließe mich dem an: Man hätte die NATO-Angriffe nicht unterbrechen sollen.
Wir, die Obleute des Verteidigungsausschusses, hatten gestern den Besuch einer türkischen Delegation, die sich besonders wegen der Menschenrechtsverletzungen in Bosnien-Herzegowina bei uns eingefunden hat. Es ist uns deutlich gesagt worden, daß wir nicht von einem Bürgerkrieg reden sollten, sonDr. Klaus Rose
dern das, was dort stattfindet, beim Namen nennen sollten. Es ist ein Massenmord von Militärs auf der einen Seite an armen, hilflosen Zivilisten auf der anderen Seite.
({2})
Diesem Massenmord muß man begegnen. Deshalb unterstütze ich das, was auf Veranlassung der UNO durch die NATO gemacht wurde.
({3})
Meine Damen und Herren, wer in diesen Tagen des Bosnien-Kriegs wie die Fraktion der Grünen noch immer die trügerische Illusion vom Pazifismus als Friedensretter auf die Fahnen schreibt, der betreibt in Wahrheit eine unverantwortliche Hochrisikopolitik. Das merkt auch der Bürger, der diese Art von Doppelmoral sowieso nicht mehr hinnimmt. Erst läßt man bekanntlich die Bundesregierung das Unangenehme tun, läßt sie die Verantwortung tragen und stimmt mit Nein, und einige Wochen später wird die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert, für militärischen Schutz der bedrohten serbischen Bevölkerung in den UNO-Schutzzonen zu sorgen.
Das haben wir schon im Frühjahr gemerkt, als eine Delegation von Grünen in Sarajevo war und den militärischen Einsatz gefordert hat, aber nicht von den Deutschen, sondern von anderen. In echter grün-nationaler Überheblichkeit wird sofort hinzugefügt: Deutschland muß den Schutz sicherstellen, aber nur mit den Soldaten unserer Verbündeten. Das hat sich Gott sei Dank zwar inzwischen geändert, weil Herr Fischer - ich freue mich, daß er mir gegenübersitzt - die hohen moralischen Ansprüche - auf dem Rücken von Soldaten anderer Nationen zur Beruhigung des eigenen Gewissens - zurückgenommen hat. Aber es ist noch immer nicht ganz rübergekommen, was er für die Zukunft meint.
Herr Fischer hat sich in seinem Leben sowieso verändert. Er hat die Turnschuhe in den Schrank stellen lassen und die Pflastersteine zur Seite gelegt.
({4})
Er ist jetzt der Schützer des Rechtstaats. Er selber und die Vertreter der grünen Partei haben Befreiungsbewegungen früher durchaus das Recht der Gewaltanwendung zugebilligt, nur anderen natürlich nicht. Wie es ihm in seine Politik paßt, so läßt er das auch heute zu. Auf diese Weise ist Herr Fischer der große Wendehals innerhalb der grünen Bewegung geworden. Es wundert mich, daß er in seiner Fraktion nicht stärker angegriffen wird und daß er mit dieser Art von veränderter Politik noch etwas zu bewegen vermag.
({5})
Nachdem heute beklagt wurde, daß in den neuen Bundesländern eine Entindustrialisierung stattfindet - Herr Fischer, Sie haben dieses Wort gebraucht -, frage ich Sie: Haben Sie früher nicht ständig gegen die Industriepolitik gewettert? Jetzt bejammern Sie, daß die Industrie verschwindet. Sie ändern sich ständig. Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn ich mich darüber ärgere.
Meine Damen und Herren, unsere Bürger haben Anspruch auf eine realistische, glaubwürdige und stabile Sicherheitspolitik, die sie wirklich schützt. Unsere Bürger haben Anspruch auf eine Politik, die auch im tiefen Frieden die Risiken nüchtern analysiert und die notwendige Vorsorge trifft. Das beinhaltet, daß wir Parlamentarier uns voll und eindeutig hinter unsere Soldaten und hinter den Auftrag der Bundeswehr stellen.
({6})
Das heißt auch, daß wir im Notfall bereit sein müssen, die Bundeswehr, wie wir es - ich betone: wie wir es - und Gott sei Dank einige vernünftige Leute der anderen Seite mit dem Bosnien-Beschluß getan haben, maßvoll und mit Bedacht im Dienste des Friedens einsetzen.
Ich hatte gestern den Besuch des zweithöchsten amerikanischen Soldaten in Europa, der den Beitrag der deutschen Soldaten als unverzichtbar und als besonders lobenswert herausgestellt hat. Ich betone das deshalb, weil manchmal gesagt wird: Man braucht die Deutschen gar nicht mehr. Man braucht die Tornados nicht. Ganz im Gegenteil: Von dem zweithöchsten amerikanischen Soldaten in Europa ist die Rolle der deutschen Soldaten besonders gewürdigt worden. Ich glaube, wir sollten das dankbar zur Kenntnis nehmen und das auch von unserer Seite aus feststellen.
({7})
Wir müssen nicht zuletzt bereit sein, den Preis zu zahlen, um unsere Bundeswehr modern und für ihren Auftrag leistungsfähig zu halten. Dazu möchte ich ein besonderes Thema ansprechen, das wir im Laufe der Haushaltsberatungen sicherlich entsprechend beurteilen werden.
Die Bundeswehr muß zur Erfüllung ihrer neuen Aufgaben im Rahmen der Krisenbewältigung mobiler und beweglicher werden. Wir sollten deshalb unterstützen, daß die Bundeswehr vier gebrauchte Airbusse A 310 von der Lufthansa erwirbt und sie zu einer Fracht- und Personenkombiversion umrüsten läßt. Dieser Kauf ist sinnvoll, weil dadurch die Transportkapazität erhöht und eine Ablösung der im Betrieb wesentlich teureren, nicht sehr umweltverträglichen Boeing 707 ermöglicht wird.
Ich erinnere mich, daß sich, als einmal der Bundeskanzler aus Washington mit einer alten 707 weggeflogen ist, ausgerechnet der „Spiegel" mokiert hat, daß das Flugzeug so viele umweltschädigende Gase hinterlassen haben soll. Wir müßten eigentlich von allen Seiten Unterstützung haben, wenn es darum geht, auch unter diesem Gesichtspunkt die Modernisierung der Flugzeuge zu gewährleisten.
Aber meine Überlegungen gehen weiter. An den Bundesminister der Verteidigung gerichtet, gebe ich zu bedenken, das Angebot der DASA zu nutzen, diese Flugzeuge beim Umbau zum Kombifrachter in
einem Zug, d. h. sofort auch als Luftbetankungsflugzeuge umzurüsten. Dies würde nicht nur erlauben, den Bedarf der Luftwaffe an Luftbetankung mit der Zeit selbst zu decken und Mietkosten zu sparen, es wäre vor allen Dingen auch ein entscheidender industriepolitischer Impuls, der der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie den weltweiten Markt an Tankerflugzeugen erschließen würde.
Eine schnelle Entscheidung für einen Umbau dieser Flugzeuge in eine Frachter-Tanker-Kombination ist um so dringlicher, als der Hauptkonkurrent Boeing in zwei Jahren sein Konkurrenzmodell auf den Markt bringen wird.
Meine Damen und Herren, der Fall Bosnien zeigt ernüchternd, wie weit wir noch von einer funktionierenden gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik entfernt sind. Noch deutlicher zeigt er die Dringlichkeit, auf dem Weg dorthin zielstrebig voranzuschreiten. Wir haben nur eine Chance, den Frieden Europas auf Dauer zu bewahren: indem wir so schnell wie möglich ein tragfähiges Sicherheitssystem für das wachsende Europa vorantreiben.
Die NATO ist derzeit das einzige einsatzfähige leistungsstarke Sicherheitsinstrument. Sie bleibt daher mit der WEU zusammen als europäischem Pfeiler auch in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur die tragende Stütze.
Einmal mehr ist auch in diesem Punkt die Politik der Grünen enttarnt. Die Forderung nach einer Auflösung der NATO kann im wahrsten Sinne des Wortes nur als mörderische Tollkühnheit verstanden werden, auch wenn sich die Vertreter dieser Idee gerne Pazifisten nennen.
Ebenfalls diejenigen, die zu optimistisch der OSZE eine Ersatzrolle für die NATO zuweisen wollen, liegen falsch. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Die OSZE kann natürlich ein bedeutendes Forum für präventive Diplomatie sein. Es ist ein wichtiges Ziel, sie als Werte- und Handlungsrahmen gesamteuropäischer Außen- und Sicherheitspolitik weiterzuentwickeln. Die OSZE kann wesentlich zu einer gesamteuropäischen Rechtsordnung beitragen. Aber sie ist im besten Fall ein Brandverhüter und ganz sicher keine Feuerwehr.
Meine Damen und Herren, ich hätte noch, wenn mir mehr Zeit gegeben wäre, einiges zum Verhältnis zu Frankreich gesagt. Ich bin nicht der Meinung, daß wir uns in den allgemeinen rot-grünen Chor einklinken sollten, nur weil es momentan modern ist, auch deren Anti-Atompolitik zu vertreten. Vielmehr bin ich der Meinung, daß die deutsch-französische Gemeinsamkeit und Freundschaft mehr wert ist und daß man auch in schwierigen Zeiten zusammenhalten muß, gerade jetzt, wo die Franzosen auch innenpolitisch durch die Terrorismusanschläge und durch verschiedene andere Ereignisse zu leiden haben. Wir sollten uns die Solidarität und die Freundschaft mit den Franzosen mehr auf das Panier schreiben.
({8})
Deshalb appelliere ich an alle, alles zu vermeiden - ich habe mich gefreut, Herr Kollege Duve, daß Sie das einmal so deutlich gemacht haben -, was zur Zerstörung der für die Deutschen überlebensnotwendigen Zusammenarbeit mit den Franzosen beiträgt.
({9})
Ich bin der Überzeugung, daß wir morgen im Verteidigungsausschuß noch genügend Auskünfte bekommen, um meine These, daß das Parlament hinreichend über die Einsätze der Tornados in BosnienHerzegowina informiert wurde, zu untermauern. Ich freue mich auf diese Beratungen. Wir hoffen, daß wir in den Haushaltsberatungen auch zugunsten unserer Soldaten und der Bundeswehr Erfolg haben werden.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Beer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Rose, ich hätte erwartet, daß Sie sich in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses über das standardmäßige Abarbeiten an der Opposition hinaus - wir freuen uns ja, daß Sie uns zuhören, auch wenn Sie das heute wieder verdreht haben - zumindest einmal - bis auf eine Scheindebatte, die von der SPD angeregt worden ist; darauf gehe ich gleich noch ein - zu einem weiteren Umstrukturieren der Bundeswehr, einer weiteren substantiellen Veränderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bekennen, die nämlich zum ersten Mal Militäreinsätze als Mittel der Politik zu manifestieren versucht.
Ich halte die Kritik aus Reihen der SPD an dem Einsatz der Tornados für eine Scheindiskussion und für ein Ablenkungsmanöver. Ich denke, wer A sagt, muß wissen, daß B und C kommt.
Wir haben in der Debatte über den Einsatz der deutschen Bundeswehr in Ex-Jugoslawien kritisiert, daß mit diesem Sechs-Zeilen-Antrag der Bundesregierung ein Vorratsbeschluß gefaßt wird. Die Opposition sollte wenigstens in der Lage sein, diesen Beschluß zu lesen. Sie haben, jedenfalls zum Teil mit Ihren Stimmen, beschlossen,
({0})
daß die Bundeswehr u. a. mit ECR-Tornados zum Schutz und zur Unterstützung der schnellen Eingreiftruppe eingesetzt wird. Genau das hat der Bundesverteidigungsminister in den letzten Wochen umgesetzt. Jetzt noch einmal darüber zu reden, ob dieser Schutz tatsächlich gegeben ist oder nicht, lenkt davon nur ab.
({1})
Wer zu Krieg und zur Kriegsführung ja sagt, der verläßt das Feld von Planspielen, wie wir sie bisher auf dem Papier oder in Manövern geübt haben, der muß wissen, daß Übungsflüge über Kriegsgebiet potentielle Kriegsflüge sind. Dazu haben Sie Ihre politische Zustimmung gegeben. Jetzt sollten Sie dazu auch stehen.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade weil auf den Tag genau 56 Jahre nach dem Einmarsch Hitlers und dem ersten Schuß auf Polen wieder deutsche Truppen im Einsatz sind,
({3})
und zwar in Ex-Jugoslawien, möchte ich einmal auf die strukturelle Planung der Hardthöhe in diesem Bereich der Verteidigung und darauf eingehen, was in dieser Haushaltsplanung ansteht.
({4})
Wir sind dank Volker Rühes und seines Gehilfen, Herrn Naumann, in der Situation, daß die Salami tatsächlich am Ende ist. Herzlichen Glückwunsch! Ich bedaure das zutiefst. Wir sind in einer Situation, wo der Wechsel von einer Verteidigungs- hin zu einer Angriffsarmee stattgefunden hat und im Haushalt festgeschrieben wird.
({5})
Wir sind des weiteren in einer Situation, wo heute mit wunderschönen Worten von Menschenrechten, internationaler Verantwortung, wiedererlangter Souveränität Deutschlands auch von Außenminister Kinkel darüber hinweggespielt wird, daß gerade die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einen wesentlichen Faktor für die 54 Konflikte in der ganzen Welt geschaffen hat.
({6})
Wie kann man sich heute hinstellen und über die Lügen Saddam Husseins empört sein, wenn gerade aus Deutschland substantiell die Materialien für die Entwicklung eines B- und C-Waffen-Programms dorthin gekommen sind? Wie kann man sich hinstellen und bitten, die Türkei nicht auszugrenzen - was wir Grünen überhaupt nicht tun, sondern die Bundesregierung selber, weil sie die Türkei nicht in der EU haben will -, und gleichzeitig die Aufhebung der Waffensperre gegen die Türkei vorbereiten? Da beißt sich doch die Katze in den Schwanz. Das ist nicht mehr Politik, das ist ein Hin und Her eines unentschlossenen Außenministers, der nicht einmal das Format hat, die Grundsätze auch im finanziellen Bereich hier zu nennen - die Grundsätze, warum diese Politik nicht funktionieren kann.
Man kann nicht zivile Strukturen einfordern, wie das verbal gemacht wird, und in der Realität 48,5 Milliarden DM für eine Krisen- und Interventionsarmee vorsehen, während zum gleichen Zeitpunkt 3,5 Milliarden DM für das Auswärtige Amt, 0,6 Milliarden DM für die Vereinten Nationen und ganze bummlige 7 Milliarden DM, glaube ich, für die OSZE bereitgestellt werden.
({7})
Da stimmt etwas nicht. Hier wird die Militarisierung festgeschrieben, und auf der anderen Seite werden genau die Titel, die geeignet wären, eine Zivilisierung vorzubereiten, Konflikte frühzeitig zu erkennen, stranguliert bis zum Gehtnichtmehr.
({8})
Ich möchte im Bereich der sogenannten Weiterentwicklung von Waffen einen Bereich nennen, der, glaube ich, deutlich macht, wie es um diese Verteidigungspolitik, wie es so schön heißt, steht. Trotz internationaler Bekundungen und Bemühungen, die Landminen als Massenvernichtungswaffen zu ächten, werden erneut Millionen für die Weiterentwicklung von Landminen und für deren Einsatz durch unsere Krisenreaktionskräfte in den Haushalt eingestellt. Das hat nichts mit Verteidigung zu tun. Das ist die Perfektionierung einer Waffe zur Zerstückelung von Menschen, zur Zerstückelung der Zivilbevölkerung. Das ist der rote Faden, der sich durch die Militärplanung zieht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auf der anderen Seite werden in ganz wichtigen Bereichen wie beim Eurofighter, wo man sich nicht mehr traut, überhaupt Zahlen zu nennen, Nullen, Leerstellen in diesen Etat eingegeben. Die Bundesregierung verlangt von uns eine Zustimmung zu Leerstellen, zur Null-Option. Wir werden für die Null-Optionen sorgen und dieses wahnsinnige Projekt des Eurofighters zum Scheitern bringen.
Ich finde es komisch - das vielleicht zum Schluß -, daß über eine Äußerung der Wehrbeauftragten heute kaum ein Wort gefallen ist. In einem Land, in dem es ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, in einem Land, in dem Wehrdienstleistende einen unendlich wertvollen Dienst in Deutschland leisten, auch nicht zuletzt, weil sie sich weigern, Kriegsdienst für diese Armee zu leisten, diesen Menschen vorzuwerfen, daß sie so wie früher „Drückeberger" seien, wie es hieß, „Egoisten" - ({9})
- Ich habe das Interview gelesen. Ich finde es entsetzlich, daß eine neu gewählte Wehrbeauftragte eine krasse Parteipolitik betreibt und im Auftrag der Hardthöhe spricht, anstatt sich für die Interessen aller Menschen einzusetzen. Sie haben sich nicht nur
optisch ins Aus gesetzt, sondern auch politisch und haben überhaupt keine Möglichkeit, das Vertrauen zu den Soldaten, aber auch zu den Kriegsdienstverweigerern wieder aufzubauen.
({10})
Die Renationalisierung und Nationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik, die durch Volker Rühe auch in Zahlen im Einzelplan 14 festgeschrieben wird, ist für uns ein Alarmzeichen, nicht weil es heißt: Deutschland allein gegen den Rest der Welt; sondern weil Optionen in Militärbündnissen aufgebaut werden, den militärischen Schlag je nach Bedarf mit irgendeinem Partner durchzuführen.
({11})
Die Äußerung von Herrn Schäuble für eine nukleare Abschreckungspolitik Europas setzt dem, denke ich, die Krone auf. Dagegen werden wir mit aller Macht protestieren.
({12})
Herr Kollege Koppelin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Beer, ich habe den Eindruck - ich weiß nicht, ob er richtig ist -, daß anscheinend die Zensur jetzt in Ihrer Fraktion doch wieder aufgehoben ist. Ich lese nämlich heute in der „taz":
So fühlt sich die Abgeordnete Angelika Beer als Opfer von Zensur, weil ihre Kritik am Nato-Einsatz vergangene Woche nicht auf dem Briefkopf der Fraktion verbreitet wurde.
Ich verstehe inzwischen, warum das nicht verbreitet werden durfte, nachdem man diese Rede hier gehört hat.
Joseph Fischer, jetzt ist es schon zum fünftenmal, daß er zu diesem Thema so gähnt. Ich hatte vorhin fast den Eindruck, er wolle den Kollegen Breuer verspeisen. So hat er bei Ihrer Rede gegähnt.
({0})
Frau Kollegin, vielleicht bewegen Sie sich noch einmal. Wir haben diese Platte, diese Rede von Ihnen schon so oft gehört. Ich meine, Sie müßten sich einmal etwas anderes einfallen lassen.
({1})
- Herr Fischer, Sie werden sicherlich gleich wieder gehen. Ich kann dann vielleicht meine Rede fortsetzen.
Wir kommen zum Haushalt. Da müssen wir doch einiges sagen. Wir meinen als F.D.P., daß wir mit den Beratungen und bei den Beratungen einen Beitrag leisten müssen, daß die Bundeswehr moderner und leistungsfähiger gestaltet wird. Unser Ziel als F.D.P. ist es, daß wir den investiven Anteil in diesem Jahr auf etwa 24 % setzen. Das ist ein ganzes Stück mehr als beim letztenmal. Unser Ziel ist es dann, insgesamt die 30-%-Marke zu erreichen.
Für die Modernisierung und die Ergänzung der Ausrüstung der Bundeswehr sind einige wichtige Neuvorhaben notwendig. Von seiten der F.D.P., Herr Minister, sichere ich Ihnen zu, daß wir diese wichtigen Neuvorhaben in der Beschaffung unterstützen werden. Dieser politische Wille wird die F.D.P. jedoch nicht davon abbringen, jede einzelne Beschaffungsmaßnahme, die uns vor allem im nächsten Jahr finanziell langfristig binden wird, kritisch unter die Lupe zu nehmen.
({2})
Ich will gar nicht verschweigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß ich auf die Beratung zum Einzelplan 14 sehr gespannt bin, gespannt vor allem darauf, wie die Sozialdemokraten mit diesem Haushalt umgehen werden. Frau Matthäus-Maier hat in ihrer Rede zum Haushalt erneut die Höhe des Verteidigungshaushaltes kritisiert. Aber so muß man sich doch fragen - genau das macht sie immer, Herr Kolbow hat natürlich recht -: Kann man diese Kritik überhaupt noch ernst nehmen? Es wurde schon daran erinnert, daß zum Haushalt 1995 kein Sozialdemokrat zur Verteidigungspolitik gesprochen hat. Ich vermute, auch jetzt und heute werden sie nicht zum Verteidigungshaushalt Stellung nehmen. Ich verstehe das, denn sie sind in ihrer Haltung sehr zwiespältig.
Ich will das an einem Beispiel demonstrieren. Die Kollegin Beer hat eben von dem Jagdflugzeug gesprochen. Darüber werden wir in diesem Jahr beraten. Ich meine, das Jagdflugzeug, der Eurofighter, ist vielleicht ein ganz gutes Beispiel.
Herr Kollege Koppelin, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen? Der Kollege Weng bezweifelt die Fähigkeit des Bundesverteidigungsministers, ein Gespräch zu führen und Ihnen trotzdem zuzuhören. Ich bin überzeugt, daß er trotzdem zuhört, genau wie alle anderen Minister im Hause.
Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn die Zweifel des Kollegen Weng nicht von meiner Redezeit abgezogen würden.
Nein. Ich habe die Uhr so lange angehalten.
Die Kollegin MatthäusMaier und andere in der SPD kritisieren die Beschaffung eines modernen Jagdflugzeugs, und das seit vielen Jahren. Das ist ihr gutes Recht. Frau Matthäus-Maier hat bei jeder Haushaltsdebatte dieses Geld schon mehrfach ausgegeben. Das ist die eine Seite der SPD.
Die andere Seite erleben wir in diesen Tagen bei Veranstaltungen z. B. mit Angehörigen der DASA: Da fordern Sozialdemokraten den Eurofighter, Herr Ministerpräsident Gerhard Schröder aus Niedersachsen
({0})
und jetzt auch noch ein anderer Genosse, der badenwürttembergische Wirtschaftsminister Spöri.
({1})
- Natürlich ist es sein gutes Recht. Aber dann sagen Sie uns einmal, was Sie wollen. Sie können nicht draußen vor DASA-Angehörigen so sprechen und hier im Plenum so.
({2})
Das ist eine unehrliche Diskussion. Ich bin gespannt, wie Sie sich am Ende insgesamt dazu verhalten werden.
({3})
- Das ist ein Freund dieser Fraktion.
({4})
Ich sprach von den investiven Maßnahmen. Ich denke, wir sollten aber nicht nur von der Bewaffnung der Bundeswehr reden, wir müssen auch davon sprechen, was wir in diesem Jahr für die Soldaten und vor allem für die Wehrpflichtigen tun wollen. Ich kann für die F.D.P. ankündigen, daß wir eine erhebliche Verbesserung für die Wehrpflichtigen erreichen wollen. Ich nenne zwei Punkte. Wir versuchen eine Entfernungszulage für die Wehrpflichtigen zu bekommen, die nicht heimatnah einberufen werden können. Es ist dringend erforderlich - das wird ein Thema für uns alle -, daß wir darüber nachdenken, ob nicht auch in diesem Jahr der Wehrsold zu erhöhen ist. Wir, die F.D.P., sind jedenfalls dazu bereit.
Bei dieser Gelegenheit eine Anmerkung zu den Zivildienstleistenden. Wir Freien Demokraten haben Veranlassung, den Zivildienstleistenden für ihren wichtigen Beitrag zum Wohle unserer Gemeinschaft zu danken.
({5})
Den von der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages - wohlgemerkt: des Deutschen Bundestages, nicht des Verteidigungsministeriums - gemachten Äußerungen zu den Zivildienstleistenden widersprechen wir eindeutig. Frau Wehrbeauftragte, wir sind schon der Auffassung, Sie sind vom Parlament gewählt; Sie sind die Wehrbeauftragte des Parlaments und nicht des Verteidigungsministeriums.
Vielleicht sollten Sie sich in Ihren Äußerungen danach richten.
({6})
Wir Freien Demokraten stehen zu unserer Bundeswehr. Wir haben gerade in dieser Zeit den Soldaten Dank zu sagen, vor allem den Soldaten, die im Ausland sind. Die Bundeswehr - das muß man in diesen Tagen sagen - hat den Aufbau unserer Demokratie in Deutschland mit gefördert. Daher gibt es von uns ein klares Bekenntnis zur Bundeswehr und ihren Angehörigen. Die Haushaltsberatungen müssen von der Leitlinie geprägt sein, daß unsere Bundeswehr auch zukünftig unentbehrlich ist zum Schutz von Frieden, von Recht und Freiheit und unentbehrlich für unsere Bündnisfähigkeit und für unsere Verantwortung in der internationalen Gemeinschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile dem Grafen Heinrich von Einsiedel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist für einen Parlamentsneuling wie mich schwer, nach diesen endlosen Debatten noch irgend etwas Neues zu sagen und Sie nicht zu langweilen.
({0})
- Dann würde ich eher das wiederholen, was die Kollegin Angelika Beer gesagt hat.
({1})
Das entspricht vollkommen meiner Anschauung. Aber ich will Sie damit nicht langweilen.
Zu Ihren Bedenken gegenüber den Einsätzen, den sogenannten Übungsflügen, Kollege Karsten Voigt. Ich habe mir vorgestellt, die Übungsflieger haben ein „L" aufgemalt, Learner, damit man unterscheiden konnte: Wer ist im Einsatz, und wer fliegt lediglich manövermäßig herum.
({2})
- Es ist ein geschlossenes Weltbild, ja. Wenn ich diese Debatte zusammenfasse, wie sich Opposition und Regierung und Kollegen innerhalb der Regierungskoalition gegenseitig vorwerfen, was jemand gestern, vorgestern, vor zwei Jahren, vor drei Jahren
({3})
in bezug auf Jugoslawien, auf Einsätze in Jugoslawien usw. gesagt hat, dann kann man bloß noch feststellen: Das ist ein solcher Wirrwarr von Widersprüchen, daß man von einer klaren Konzeption gar nicht reden kann. Man kann nur den Hut ziehen vor Herrn
Schwarz-Schilling, der aus der Regierung ausgetreten ist, weil er genau das verlangt hat, was jetzt plötzlich für notwendig erklärt, begrüßt und als Sieg gefeiert wird. Damals haben Sie es alle abgelehnt.
Aber lassen wir das. Diese Diskussion ist ja schon bis zum Ende geführt worden.
Ich möchte etwas Grundsätzliches sagen. Bei der Beurteilung des Rüstungshaushalts dieser Bundesrepublik gibt es für mich ein entscheidendes Kriterium. Die Bundesrepublik ist seit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, den ich aufrichtig begrüßt habe, nur noch von Freunden und Partnern umgeben. Ein Angriff auf ihr Territorium ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Selbst die Bundesregierung wird nicht müde, dies immer wieder zu betonen. Als eine Folge des KSE-Vertrages, aber auch weit darüber hinaus, hat gerade im Osten unseres Kontinents eine erhebliche Rüstungsminderung stattgefunden.
Diese dramatisch veränderte Sicherheitslage - so hat sich der Verteidigungsminister geäußert - hätte meiner und der Ansicht meiner Partei nach eine drastische Senkung der Rüstungsausgaben und der Streitkräfte in der Bundesrepublik gestattet.
({4})
- Nein, keine drastische, und jetzt steigt es ja schon wieder an. Ich habe hier und heute nicht die Zeit, mich mit den einzelnen Posten des Rüstungshaushalts im Detail auseinanderzusetzen. Wir sind aber der Meinung, nachdem wir uns das genau angeschaut haben, daß in den kommenden Jahren jährlich ohne weiteres 5 bis 10 Milliarden DM in diesem Rüstungshaushalt gekürzt werden könnten, ohne daß die Sicherheitslage der Bundesrepublik im geringsten beeinträchtigt würde.
Der Finanzminister hat gestern schon vorsorglich die Frage ironisiert, was man mit dem Geld für einen Eurofighter anfangen könnte, um soziale, kulturelle, wissenschaftliche Probleme dieser Gesellschaft zu lösen. Hier ist Ironie überhaupt nicht am Platz; denn es geht um Milliardenbeträge. Wie wir in der gesamten Haushaltsdiskussion gehört haben, hat die Bundesrepublik eine riesige Verschuldung, deren Verzinsung aus den Steuergeldern der arbeitenden Bevölkerung bedient wird. Diese Zinsen kassieren die Kreditgeber, und das sind sicherlich nicht die Arbeitnehmer, sondern das sind die Banken, die Großunternehmen, das Finanzkapital. Das ist gar keine Erfindung der PDS. Wirtschaftsinstitute, aber auch die Kirchen haben festgestellt, daß eine ungeheure Konzentration des Kapitals in den Händen von 5 bis 10 % erfolgt ist.
({5})
- Die haben so viele Möglichkeiten, den Steuern auszuweichen, daß jeder einzelne, der eine Lohnsteuerkarte in der Hand hat, unendlich mehr Steuern zahlt als jeder Selbständige.
({6})
Der kann genug von seinem persönlichen Konsum in den Geschäftskosten verstecken, und das ist ja nur ein Steuerschlupfloch. Es gibt Hunderte anderer.
({7})
Wir sind der Meinung, der Bundeshaushalt könnte gekürzt werden, ohne die Sicherheitslage der Bundesrepublik zu beeinträchtigen. Stattdessen ist es aber das erklärte Ziel, die Bundeswehr soll eine Interventionsarmee werden, die weltweit als Krisenreaktionskraft eingesetzt werden kann. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien wird erfolgreich instrumentalisiert, um diese Politik kurz- und langfristig zu legitimieren und das deutsche Volk allmählich darauf vorzubereiten, daß wir als Krisenreaktionskraft weltweit eingreifen.
({8})
In den Debatten im Verteidigungsausschuß über eine eventuelle und jetzt Tatsache gewordene deutsche Beteiligung am Eingreifen der NATO in Jugoslawien habe ich einmal gesagt: Wie immer man das beurteilen will, wenn man Krieg führen muß, ist das nicht die Fortsetzung der Politik, sondern der Bankrott der vorhergegangenen Politik. Der IBuK, der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt - ich habe gehört, daß der Verteidigungsminister jetzt so bezeichnet wird und diese Rolle hat -, hat damals geantwortet, die Notwendigkeit, gegen Hitler Krieg zu führen, sei doch ein Beweis dafür, welch eine dumme Geschichtsauffassung ich hätte. Die Situation von 1939 ist selbstverständlich eine Bankrotterklärung der internationalen Politik von vor 1933, der innerdeutschen Politik der Weimarer Demokratie und erst recht ein Bankrott der Nazipolitik.
({9})
Das war wirklich der schlimmste Bankrott der Politik in diesem Jahrhundert.
({10})
Angesichts eines solchen Geschichtsbildes, wie es Herr Rühe dort geäußert hat, ist man natürlich sprachlos.
({11})
Die jetzt angeblich notwendig gewordenen NATO-Luftschläge in Jugoslawien sind doch nun wirklich eine Bankrotterklärung aller vorangegangenen Politik, in deren Verlauf man uns x-mal von seiten der Militärfachleute auseinandergesetzt hat, ein Eingreifen der NATO oder der UNO mit militärischen Mitteln in Jugoslawien sei unmöglich und sinnlos.
({12})
Da gibt es ja unglaubliche Widersprüche. Kollege Fischer bezeichnet den Serbenstaat als einen faschistischen Staat. Das mag zutreffen. Ich meine, das ist
ja auch so ein Schlagwort. Was heißt faschistisch? Ein nationalistischer Staat, aber ist Kroatien einen Deut besser? Wer ist denn Herr Tudjman? - Das ist auf einmal unser Lieblingskind?
Warum hat man überhaupt keinen Druck ausgeübt? Wie ist die Reaktion auf diese Vertreibung der Menschen gewesen? Hier wird bloß von 120 000 Menschen gesprochen; in der Presse habe ich Zahlen von über 200 000 gelesen, 150 000, 160 000. Ich habe sie nicht gezählt, niemand hier hat sie gezählt. 100 000, 50 000 wären zuviel. Man hat das klaglos hingenommen. Warum müssen denn bloß die Serben einlenken, wieso nicht die Kroaten?
Der Herr Außenminister sieht Licht am Ende des Tunnels. Man kann natürlich daran zweifeln, ob solche militärischen Einsätze aus der Luft einen Frieden in Jugoslawien erzwingen können. Die Wehrmacht ist mit Jugoslawien nicht fertig geworden. Selbst Stalin hat, als Tito aus dem Ostblock, aus dem Kominternblock ausschied, es nicht gewagt, dort einzugreifen. Ich frage mich, ob man aus der Luft wirklich Frieden erzwingen kann.
Man sieht ja in Israel und Palästina, daß es dort Friedenserklärungen gibt und immer wieder genügend Terroristen da sind, die diesen Friedenswillen zu unterlaufen versuchen. Wie wollte man Derartiges, selbst wenn es zu Vereinbarungen kommen sollte, in Jugoslawien verhindern?
Wer weiß genau, von wo aus die Granaten, die dort in Sarajevo niedergegangen sind und diese Blutbäder angerichtet haben, abgefeuert worden sind? Sie sind jetzt der Anlaß für das Eingreifen der NATO. Aber solche Angriffe hat es ja vor zwei, vor drei Jahren schon gegeben. Wieso war das damals nicht möglich?
Es wird hier davon gesprochen, der Einsatz der deutschen Tornados sei nur ein symbolischer. Natürlich, die NATO brauchte das sicher nicht, auch wenn dieser Herr General dem Kollegen Rose erklärt hat, daß das absolut notwendig sei.
({13})
Ich bin der Meinung, daß das, obwohl es nur symbolisch ist, ein Schritt, ein Signal ist, das hier gesetzt wird, daß die Bundesrepublik wieder als militärische Großmacht auftreten will.
({14})
Das wäre denkbar, wenn sie in ein wirkliches, echtes Bündnissystem eingebunden wäre, aber die Entwicklung des Jugoslawienkrieges hat ja bewiesen, daß die Großmächte, auch in der UNO die entscheidenden Mächte, auch diese Fünfergruppe, sich in der Behandlung der Jugoslawienfrage überhaupt nicht einig waren. Deshalb ist es ja nie zu entscheidenden Schritten in Jugoslawien gekommen. Diese Einbindung einer militärisch stärker gewordenen Bundesrepublik ist doch eine reine Illusion.
Es ist hier und auch im Verteidigungsausschuß darüber gesprochen worden, wie wir schrittweise in diesen Einsatz einbezogen worden sind. Ich will auf das verweisen, was Kollegin Beer dazu gesagt hat.
({15})
Wir sind schrittweise in diesen Einsatz hineingekommen, und dann haben auch Pazifisten den Stahlhelm bei sich auf den Schreibtisch gelegt oder aufgesetzt.
Herr Kollege, Ihre Zeit ist abgelaufen.
({0})
Es ist klar: Wir sind die einzige Partei in diesem Bundestag, die ohne Wenn und Aber den Einsatz der Deutschen in Jugoslawien ablehnt.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Freimut Duve das Wort.
Frau Kollegin Beer, ich hatte sehr laut zwischengerufen, als Sie eben Ihre Rede gehalten haben. Ich möchte das erläutern, weil man das in einem Zwischenruf nicht tun kann.
Sie haben den 1. September 1939 mit dem 1. September 1995 gleichgesetzt. Ich weiß, daß Sie das so nicht sehen, aber so ist es herübergekommen.
({0})
Ich finde, wir müssen uns alle einig sein, alle Mitglieder des Deutschen Bundestages, daß es zwischen diesen zwei Tagen drei fundamentale Unterschiede gibt, die wir niemals verwechseln dürfen:
Die Armee von 1939 war auf einen Verbrecher vereidigt. Es gab keinerlei parlamentarische Kontrolle oder öffentliche Diskussionen über das, was diese Armee damals tat. Sie war auf Hitler vereidigt. Das ist der erste fundamentale Unterschied. Diese Bundesarmee steht unter der politischen Kontrolle einer zivilen Regierung und des Parlaments. Das ist etwas fundamental anderes.
({1})
Das zweite, was ganz anders ist und unser Land von Grund auf verändert hat: Diese Armee ist in ein internationales Bündnis eingebunden und ist kein internationaler Aggressionsfaktor wie die Armee 1939. Dies ist der zweite fundamentale Unterschied.
({2})
Alle Parteien, alle Gruppen des Parlaments müssen diesen Unterschied auch in die Öffentlichkeit hinein klarmachen.
Der dritte Unterschied: Man hat hier eine Aktion gemacht, die hätte vermieden werden können, wenn der Geiselnehmer von 300 000 Menschen die Art seiner Geiselnahme beendet hätte. Wer über Jahre 300 000 Menschen mit Waffengewalt zu Geiseln nimmt, ihre Wasserversorgung, ihre Ernährung und jede Bewegung militärisch kontrolliert, ist kein militärischer Gegner mehr, sondern das ist eine Gangsterform der Gewaltanwendung einer Zivilbevölkerung gegenüber.
({3})
Der Einsatz am 1. September 1995 war also vermeidbar, aber nur durch den Geiselnehmer vermeidbar und durch niemanden sonst. Deshalb habe ich persönlich dieser Aktion zugestimmt. Bitte laßt uns die anderen Unterschiede für unsere Geschichte nicht vergessen. Für unsere eigene Geschichte ist es außerordentlich wichtig.
({4})
Frau Kollegin Beer zur Erwiderung.
Es mag manche Mißverständnisse geben, aber ich kritisiere, daß Sie dieses Thema benutzen, um eigene Redebeiträge zu machen
({0})
und mir etwas zu unterstellen, was so nicht gesagt wurde.
Ich habe die Debatte, die auch von der SPD zur Zeit über die Rechtmäßigkeit des Tornado-Einsatzes geführt wird, kritisiert. Ich habe gesagt: Eine Partei, die einen solchen Einsatz generell begrüßt, muß auch zu den Folgeschritten ja sagen können.
({1})
Es geht um einen militärischen Einsatz, und ich halte daran fest
({2})
- das ist aus Ihrer Sicht vielleicht schlimmer -, daß ich massiv dagegen eintrete. Deswegen auch das Datum. Den Einsatzbeschluß, den Vorratsbeschluß, den die Bundesregierung hier mit Zustimmung der Opposition erwirkt hat,
({3})
instrumentalisiert aus eigenen militärischen Absichten und Legitimationen eine Sicherheits- und Außenpolitik und benutzt dafür einen Krieg, den wir über vier Jahre lang nicht mit allen nichtmilitärischen Mitteln versucht haben zu stoppen. Ich bin nicht bereit, diese Feststellung zurückzunehmen.
Zum ersten Mal findet ohne jede Not ein Einsatz der deutschen Bundeswehr außerhalb der NATO statt, ein Kriegseinsatz, und zwar 56 Jahre später. Ich bin jemand, der dafür eintritt, daß die deutsche Bundeswehr nie wieder in irgendeinem Land militärisch zum Einsatz zu kommen hat. Das ist für mich die Lehre aus dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg. Das möchte ich hier klarstellen.
({4})
Ich muß den Kollegen, die jetzt gerne noch mal erwidert hätten, sagen: Unsere Geschäftsordnung sieht vor, daß auf eine Kurzintervention der Angesprochene antworten kann, aber auf eine Kurzintervention gibt es keine weitere Kurzintervention.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Beer! Ich bin dankbar, daß der Kollege Duve sicher für die ganz große Mehrheit des deutschen Parlaments klargestellt hat, worum es geht.
({0})
Frau Beer, Sie müssen begreifen, daß es sehr unmoralisch sein kann, Soldaten einzusetzen, daß es aber auch sehr unmoralisch sein kann, Soldaten nicht einzusetzen, und mit dieser Lage haben wir es zu tun.
({1})
Herr Fischer selbst hat deutlich gemacht, was Srebrenica für ihn bedeutet hat. Das waren Massaker, Menschenrechtsverletzungen, wie viele sie nicht mehr für möglich gehalten haben in diesem Jahrhundert, vielleicht nie mehr nach dem, was in diesem Jahrhundert alles geschehen ist.
Wenn Sie nicht begreifen, daß es unmoralisch wäre, Soldaten dort nicht einzusetzen, dann haben Sie nicht verstanden, was Moral unter den konkreten Bedingungen unserer Zeit heißt. Darum geht es.
({2})
Im übrigen muß ich sagen, daß Sie viel nachdenklicher und klüger sind, als Sie leider im Plenum immer wieder erkennen lassen.
Es gibt auch eine relativ große Übereinstimmung. Zunächst darf ich mich für all das bedanken, was an Positivem über die Bundeswehrsoldaten gesagt worden ist. Ich glaube, sie haben jedes Wort verdient.
Es gibt Übereinstimmung auch von seiten der Sozialdemokraten. Scharping, Verheugen und Voigt haben übereinstimmend gesagt: Der Militäreinsatz der NATO ist unvermeidlich und erforderlich.
Der Fraktionsvorstand der Grünen hat gestern erklärt: Die Luftangriffe der NATO sind jedoch die logische und grausame Konsequenz aus den jüngsten Massakern der bosnischen Serben an der moslemischen Zivilbevölkerung. Auch das ist richtig festgestellt.
Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß es weder von Herrn Scharping noch von Herrn Verheugen Kritik an dem Einsatz der Bundeswehr gegeben hat. Ich hätte mir gewünscht, daß sie sich an die Soldaten gewendet hätten. Sie brauchen nämlich die Zuwendung, und sie sind im Einsatz, auch heute; das darf man nie vergessen.
Ich habe nie von Symbolik gesprochen. Wenn ein deutscher Pilot - das habe ich immer geschildert - innerhalb von 15 Sekunden entscheiden muß, ob er eine Rakete auslöst, darin hat das wenig mit Symbolik zu tun. Vielmehr habe ich gesagt: Wir sind seit dem 1. August im Einsatz, und wir haben nie einen Zweifel daran gelassen.
Da der Kollege Voigt zu denen gehört - da habe ich den allergrößten Respekt -, die mit viel Mut am 30. Juni zugestimmt haben und damit, wie ich finde, der eigenen Partei eine Brücke in die Zukunft gebaut haben - das wird noch deutlich werden -, hat er auch einen Anspruch darauf, daß man sachlich auf das eingeht, was er hier an Fragen geäußert hat.
Es ist eine Tatsache, daß unsere Tornados im notwendigen Bezug zur Mandatslage sowie zu den Beschlüssen der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages fliegen. Wir sind davon überhaupt nicht abgewichen.
Das heißt, Aufträge durch den schnellen Einsatzverband allein sind der Bezugspunkt unserer Einsätze. Ebenso dienen die Ergebnisse unserer Einsätze der Handlungsfähigkeit des schnellen Einsatzverbandes.
Die rechtliche Grundlage ist so, daß der schnelle Einsatzverband auf der Grundlage der bekannten UN-Sicherheitsratsresolutionen integraler Bestandteil von UNPROFOR ist und ermächtigt ist, bewaffnete Gewalt zur Unterstützung der UN-Friedenstruppen und zum Schutz der Schutzzonen einzusetzen. Das heißt, der Artilleriebeschuß durch den schnellen Einsatzverband diente dem Schutz der Schutzzone und dem Schutz und der Hilfe für die darin befindlichen Einheiten von UNPROFOR. So war auch die Auskunft der UNO uns gegenüber.
Die Operationen des schnellen Eingreifverbandes stellen damit keine Vergeltung und keine Parteinahme dar, sondern es handelt sich um eine rechtmäßige Wahrnehmung von Befugnissen auf der Grundlage bestehender Mandate.
Die deutschen Tornados unterstützen den im Rahmen seines Mandats handelnden schnellen Einsatzverband nur auf dessen Anforderung gemäß dem Beschluß der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages. Das ist hier korrekt zitiert worden.
Der Einsatz der deutschen Tornados ist und war damit an die Operationen gebunden, einschließlich der dafür militärisch erforderlichen Maßnahmen des schnellen Einsatzverbandes. Die deutschen Tornados sind nicht an der Durchführung von „air strikes" im Rahmen der Operation „Deny Flight" beteiligt. Sie operieren ausschließlich zum Schutz und zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes.
Nun kommt ein bißchen eine Ironie der Geschichte: Die ersten Flüge am 22. August, die von der NATO als Einsätze klassifiziert worden sind, haben die Aufklärungs-Tornados durchgeführt. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß das Flugzeuge sind, deren Einsatz die gesamte SPD-Fraktion zugestimmt hat.
Ich habe noch im Juni mein Befremden geäußert, wie man dem Einsatz von Aufklärungs-Tornados zustimmen kann und ECR-Tornados ablehnen kann.
Den Ausgangspunkt bilden aber die Flugzeuge, deren Einsatz - ich betone: Einsatz; es geht hier nicht um den symbolischen Einsatz - die gesamte SPD-Fraktion zugestimmt hat; das spielt im Augenblick die entscheidende Rolle. Nur zu ihrem Schutz - und ich glaube, den werden Sie wohl nicht verweigern - fliegen die ECR-Tornados mit. Deswegen, glaube ich, haben wir eine ganz klare Grundlage. Das ist das erste.
Die ECR-Tornados sind seit dem 1. August einsatzbereit und haben zahlreiche Ausbildungs- und Übungsflüge durchgeführt. Ich habe mich bei meinem Aufenthalt im Piacenza über manchen Journalisten geärgert, der gesagt hat, es sei hier wegen des schönen Wetters fast wie im Urlaub, obwohl ich sie darauf hingewiesen habe, daß sich die Soldaten seit dem 1. August im Einsatz befinden.
Als ich am 9. August in Piacenza zu Besuch war, habe ich selbst eine Besatzung zehn Minuten nach ihrer Landung, nach der Rückkehr von einem Flug über Bosnien, getroffen und die Bedingungen genau sehen können. Ich habe den Journalisten erzählt, daß die Piloten innerhalb von 15 Sekunden reagieren müssen, wenn sie vom serbischen Radar angestrahlt werden, und daß sie dann keinen Verteidigungsminister mehr fragen können. Sie haben die Schießerlaubnis. - Es sind Übungsflüge, um das Zusammenspiel zwischen dem schnellen Eingreifverband und diesen und anderen Flugzeugen zu üben, die aber innerhalb von 15 Sekunden zu einem scharfen Einsatz führen können. All das ist damals dargestellt worden.
Nun kommt noch eine schöne Geschichte, lieber Karsten Voigt: Wir haben überhaupt nichts verschwiegen. Die Ironie der Geschichte ist, daß in dem Bericht, den wir in der letzten Woche planmäßig an den Bundestag gegeben haben, die Zahlen enthalten waren, die dann der „Spiegel" von denjenigen, die diesen Bericht am letzten Freitag erhalten haben, bekommen hat. Es ist nun wirklich sehr ungewöhnlich,
daß, wenn der „Spiegel" Informationen erhält, die wir zuvor dem Parlament gegeben haben, dann auch noch behauptet wird, wir hätten niemanden informiert. Diese „Spiegel"-Informationen stammen von uns; sie sind lediglich aus dem Parlament weitergegeben worden.
Am letzten Freitag ist auf Grund der NATO-Statistik der Unterschied zwischen Übungsflügen unter Einsatzbedingungen und Einsatzflügen gemacht worden. Das erklärt sich ganz einfach: Fotografieren muß man nicht üben. Deswegen sind die Flüge der Aufklärungstornados, denen alle Sozialdemokraten zugestimmt haben, in der NATO-Statistik seit dem 22. August als Einsätze geführt worden, die Flüge der ECR-Tornados, denen die Sozialdemokraten nur mit 50 Stimmen zugestimmt haben, nur als Übungsflüge unter Einsatzbedingungen - aber mit der Nähe zum scharfen Einsatz, wie ich das gerade klar gesagt habe. Es gibt also keine Ausweitung des Beschlusses. Wir handeln vielmehr glasklar auf der Grundlage des Parlamentsbeschlusses vom 30. Juni.
Das, was wir von den Sozialdemokraten heute erwartet hätten - und zwar insgesamt, nicht nur von den 50 Mitgliedern, die damals den Mut gehabt haben zuzustimmen -, ist: Wenn Sie sagen, die NATO-Operationen seien erforderlich und notwendig, auch um den Friedensprozeß voranzutreiben, dann sollten Sie sich als gesamte Fraktion jetzt endlich auch voll hinter den Einsatz der Bundeswehr stellen. Das ist das, was Sie uns noch immer schulden.
({3})
Herr Minister!
Bitte.
Es besteht die Schwierigkeit, daß sich der Herr Kollege Gansel zu einer Zwischenfrage meldet, Sie aber bereits fast doppelt soviel Redezeit in Anspruch genommen haben, wie angemeldet wurde.
Das waren nur fünf Minuten, was unangemessen war.
({0})
Aber Herr Präsident, ich werde die Frage ganz kurz beantworten.
Bitte.
Herr Kollege Rühe, wir werden die Einzelheiten morgen in den Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses klären. So, wie Sie die Antworten gegeben haben, sind sie nicht befriedigend.
Wir haben uns in Anbetracht der Lage, in der sich unsere Piloten befinden, sehr vorsichtig geäußert. Können Sie aber erklären, wieso der „Spiegel" für eine Ausgabe, die am Montag, den 4. September, erschienen ist, Informationen aus dem Parlament benutzt haben soll, das Parlament diese Informationen des Verteidigungsministeriums aber erst mit Datumsstempel vom 4. September erhalten hat? Erst gestern ist dies auf unsere Schreibtische gekommen;
({0})
bei manchen Kollegen ist es noch immer nicht angekommen. Dies ist also ein vollkommen überflüssiger Ausflug in eine Polemik mit dem „Spiegel", die dem Ernst der Frage, die wir gestellt haben, nicht gerecht wird.
Herr Kollege Gansel, diese Informationen sind am Freitag letzter Woche zugestellt worden. Insofern waren sie noch vor Redaktionsschluß des „Spiegel" da. Im übrigen handelt es sich um exakt die Informationen, die wir turnusmäßig an das Parlament weitergegeben haben. Sehen Sie sich das noch einmal an. Sie sind letzte Woche zugeleitet worden. Ich weiß nicht, wann die Ausschüsse das den einzelnen Abgeordneten zugeleitet haben. Am Freitag letzter Woche ist es zugeleitet worden. Das sind die Tatsachen.
({0})
- Ich kenne es selbst.
({1})
- Nein. Dies ist eine Information, die in dieser Woche gekommen ist. In der letzten Woche haben Sie den üblichen turnusmäßigen Bericht bekommen. Darin war die Statistik mit den Einsätzen, wie ich sie eben geschildert habe, enthalten.
({2})
Wenn Sie die Papiere noch nicht einmal auseinanderhalten können, dann tut mir das herzlich leid. Dies ist eine Information zur Aufklärung der Statistik, die wir in dieser Woche gegeben haben. Die Zahlen sind in der letzten Woche gegeben worden und lagen am Freitag vor. Ich weiß auch etwas mehr darüber, wie das zum „Spiegel" gelangt ist, aber ich muß das doch nicht im einzelnen schildern, oder? Ich will auch niemanden zu scharf ansehen. Das ist auch in Ordnung. Das können Sie auch weitergeben. Nur sagen Sie bitte nicht, wir hätten Sie nicht informiert, wenn wir Ihnen die Zahlen geben, die Sie dann an den „Spiegel" weitergeben.
({3})
Herr Präsident, ein Wort zum Haushalt, wenn es gestattet ist, weil es bei den Sozialdemokraten schon wieder Stimmen gibt, daß zuviel für die Bundeswehr ausgegeben wird. Ich glaube, was Sie der Bundeswehr schulden, ist die Planungssicherheit und die klare finanzielle Grundlage, die wir jetzt bekommen haben. Der Anstieg dient allein der Bewältigung der
Mehrkosten im Personalbereich. Ansonsten haben wir einen Haushalt, der nicht angestiegen ist. Das wird auch im darauffolgenden Jahr der Fall sein. Die notwendigen Spielräume gewinnen wir in der Bundeswehr nur durch einen Abbau des Personals, den wir eingeleitet haben, und durch scharfe Rationalisierungsmaßnahmen.
Deswegen meine herzliche Bitte an die sozialdemokratische Fraktion: Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit Ihrer Unterstützung der Bundeswehr und damit, daß Deutschland eine Rolle international übernehmen muß, dann sollten Sie aufhören zu kritisieren, als ob hier viel Luft und viel Spielraum wäre. Die Bundeswehr muß auch weiter hart sparen, auch mit diesem Haushalt. Aber das, was hier vorliegt, ist das Minimum, was sie braucht. Wenn Sie gegenüber den Soldaten glaubwürdig sein wollen, dann müssen Sie diesem Haushalt so zustimmen und nicht Kürzungen fordern, wie es eine Reihe von Ihren Rednern gemacht haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Walter Kolbow.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht haben heute während dieser Generaldebatte über die Politik der Bundesregierung in unserem Land der Bundeskanzler, der Außenminister, Günter Verheugen und andere unsere Soldaten in Split und Piacenza für ihren gefährlichen militärisch notwendigen Einsatz gewürdigt. Ich glaube, daß gerade diejenigen nicht aus allen aber aus fast allen Fraktionen, die sich im Verteidigungsausschuß mit unseren Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders verbunden fühlen, ihre Besorgnis zum Ausdruck bringen, wünschen und hoffen, daß diese Soldatinnen und Soldaten wieder gesund in die Heimat zurückkehren, und klarmachen, daß sie Anspruch auf all unsere Fürsorge haben.
({0})
Ich kann nicht nachvollziehen, Herr Bundesminister der Verteidigung, daß Sie jetzt auch in diesem Gesamtzusammenhang den Versuch des Spaltens machen. Denn obwohl ich mit der Bundesregierung gestimmt habe und es, ähnlich wie der Kollege Duve dies zum Ausdruck gebracht habe, meine persönliche tiefe Überzeugung ist, hier richtig gehandelt zu haben, sage ich eindeutig, daß ich den Respekt vor der anderen Position, die in der politischen Auffassung der Frau Kollegin Beer zum Ausdruck kam, tief in mir habe und nur raten kann, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier nicht eine Debatte über „bessere und schlechtere Deutsche" zu führen.
({1})
Deswegen ist es auch nicht hinnehmbar, Herr Bundesminister der Verteidigung, daß Sie jetzt einen Vorgang, der sich im übrigen morgen, wie andere Dinge auch, leicht nachvollziehen und aufklären läßt, hernehmen und Kolleginnen und Kollegen die Weitergabe von Informationen an ein Nachrichtenmagazin unterstellen. Denn das Datum auf dem Blatt, das ich Ihnen gerade über Herrn Gansel habe zur Verfügung stellen lassen, ist einfach der 4. September. Wir haben es am 4. September mit all den Zahlen erhalten, von denen Sie nun meinen, daß sie schon am Freitag im Besitz des Verteidungsausschusses gewesen seien. Dem ist nicht so. Deswegen rate ich Ihnen: Kümmern Sie sich um Ihren Laden,
({2})
damit er es uns rechtzeitig zustellen kann und Sie nicht in eine Situation hineinbringt, in die Sie sich eben selbst mit hineinmanövriert haben, weil Sie nicht sorgfältig genug gewesen sind!
({3})
Wir werden morgen auch über den Stand unserer Unterrichtung, wie er war und ist, mit Ihnen reden. Ich mache Ihnen heute keinen konkreten Vorwurf. Wir werden prüfen, ob Sie Ihrer Informationspflicht verantwortlich gerecht geworden sind.
CDU und CSU und auch die F.D.P. - der geschätzte Kollege Koppelin hat das ebenfalls getan - haben sich über kritische Betrachtungen meiner Kollegin Matthäus-Maier zum Verteidigungsetat geäußert und die Krokodilstränen, die alljährlich kommen, ja kommen müssen, vergossen. Nur hat diese Koalition den Verteidigungsetat in den Jahren 1992, 1993 und 1994 selbst kräftig gekürzt
({4})
und konzeptionslos in den Etat hineingeschnitten. Einmal waren es sogar über Nacht 1,25 Milliarden DM. Da haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nur noch staunen können, wie Sie hier hineingeschnitten haben. Wir hielten damals - ich erinnere daran - weit weniger für angebracht.
({5})
- Wir lenken nicht ab, vielmehr nennen wir die Dinge beim Namen, weil Sie sie immer vergessen, wenn Sie uns angreifen.
({6})
Auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen - ich habe es getan -, was meine geschätzte Kollegin Ingrid Matthäus-Maier zum Verteidigungsetat gesagt hat. Sie hat nämlich gesagt: Er ist kein Steinbruch. - Das ist für uns auch eine wichtige Aussage dieser Kollegin.
({7})
Wir führen in unserer Fraktion eine solche Debatte, wie Sie sie eigentlich auch zu allen anderen Haushalten unter Ihrer Verantwortung führen müssen, Herr Kollege Waigel, nämlich so, daß kein Etat bevorzugt oder benachteiligt ist, daß jeder, auch der Verteidigungsetat, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden muß, ob in ihm Luft drin ist oder nicht, wie es Herr Kollege Glos heute morgen im Deutschlandfunk zum Ausdruck gebracht hat.
({8})
Das wird auch in der Zeit zwischen jetzt und der letzten Lesung im November geschehen, nicht mehr und nicht weniger.
Sie, Herr Kollege Rühe, versuchen natürlich, möglichst viel Geld für den Verteidigungsetat zu bekommen. Das ist Ihnen nachzusehen. Wenn Sie das nicht täten, wären Sie am falschen Platz, und wenn ich das nicht täte, wäre ich es im übrigen in meiner Fraktion auch.
({9})
Aber Sie stellen die Lage dramatisch dar.
({10})
- Das werden wir sehen, wenn die Frau MatthäusMaier Finanzministerin ist und ich da oben etwas mitzureden habe.
({11})
- Auch das kann ich nachempfinden, denn manches, was Sie in diesen Tagen anhören mußten, Herr Bundesfinanzminister, macht einem dieses Amt auch nicht besonders erstrebenswert. Aber auf der anderen Seite hört man ja, daß Sie Außenminister werden wollen,
({12})
daß deswegen Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger ihre Position zu wechseln hat und daß somit wieder ein Karussell - Herr Gerhardt muß ja auch untergebracht werden - bei der F.D.P. ins Rollen kommt. Also lenken Sie mich nicht ab, ansonsten erfahren Sie durch mich nicht, was bei Ihnen künftig geschieht.
({13})
Tatsache ist, daß wir erkennen mußten, daß unter Ihrer Verantwortung, Herr Verteidigungsminister, im Rahmen des Vollzuges des Bundeshaushalts bereits im Mai das Dezemberfieber ausbrach. Sie wußten nicht, wie Sie das Geld, das in bestimmten Titeln, auch bei der Beschaffung, eingestellt war, ausgeben sollten. Es wurde über eine halbe Milliarde DM in Ihrem Ressort in den Monaten Mai und Juni verhandelt. Ich erinnere an die „Panorama"-Sendung vom Juli, die das deutlich aufzeigte.
({14})
Im übrigen befindet sich in Ihrem Etat noch Luft. Die Kämpfe zwischen Ihnen, Herr Rühe, und Herrn Waigel sind ja durch die Medien gegangen, auch die 200 Millionen DM für den Bosnien-Einsatz aus dem Verteidigungsetat herauszustreichen. Angesichts eines solchen Sachverhalts der Kollegin MatthäusMaier einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie mit ihrer Einstellung an den Verteidigungsetat herangeht, weil das ja fast die gleiche Summe ist, und dann zu sagen, sie würde ihn nicht kritisch überprüfen, ist nun auch ihrer Aufgabenstellung gegenüber ungerecht.
({15})
Wir unterstützen hier natürlich sparsames Haushalten. Aber wir weisen auch darauf hin, daß es in der Bundeswehr über 2 000 Stabsoffiziere ohne Dienstposten gibt, die somit keine Aufgabe haben und deren Gehalt von der Besoldungsgruppe A 13 aufwärts zu Buche schlägt, und daß gleichzeitig in zunehmendem Maße auch noch Wehrübungen von zur Ruhe gesetzten Berufssoldaten genehmigt werden, die auf Grund der verbesserten finanziellen Regelungen für Reservisten - schauen Sie einmal hinein, Herr Waigel! - erhebliche Kosten verursachen. Man fragt sich dann doch, wofür alles noch Geld da ist. Das paßt alles nicht zusammen. Es spiegelt aber die Konzeptionslosigkeit der ganzen Budgetplanung dieser Bundesregierung wider.
({16})
Meine Damen und Herren, über mögliche Auslandseinsätze wird viel gesprochen - das ist auch richtig so -, über die schwierige Lage der Soldatinnen und Soldaten, der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr weniger.
({17})
Dabei ist es nicht übertrieben, wenn ich hier feststelle - ich habe mich im Sommer bei Truppenbesuchen davon überzeugen müssen -, daß die Stimmung in der Bundeswehr so schlecht ist wie nie zuvor in ihrer Geschichte.
({18})
Ich konnte mich davon überzeugen und gebe Ihnen auch gleich einige Belege, die nachvollziehbar sind.
({19})
- Herr Kollege Wilz war ja ein paar Tage vor mir bei der Panzerbrigade 12 in Amberg. Mir haben die Soldaten erklärt, was sie ihm z. B. zu W 10 Kompakt gesagt haben. Ich komme darauf gleich zurück.
Bei einem so schlechten Betriebsklima müßte sich der Chef des Betriebes zumindest beim Aufsichtsratsvorsitzenden zum besonderen Rapport melden, wenn nicht gar gehen; denn ein Unternehmen könnte in solch einer psychologischen Situation nicht weiterbestehen.
({20})
Wenn Sie nur einen Bruchteil Ihrer Aufmerksamkeit und Ihrer Energie - die unbestreitbar vorhanden ist, Herr Bundesminister -, die Sie insbesondere den außen- und sicherheitspolitischen Interessen widmen, den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern zuteil werden ließen, dann wäre es heute wesentlich besser um die Bundeswehr bestellt. Auch ich mache gerne Besuche im Ausland bei wichtigen internationalen Partnern und weiß, daß das wichtig ist. Wägen Sie das aber künftig besser ab, machen Sie die eine oder andere Reise weniger! Dann haben Sie weniger Streit mit dem Außenminister,
({21})
und die Soldaten werden es Ihnen danken. Denn dann können Sie ein Minister für die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden, was Sie bisher, bis zum heutigen Tage, nach dreijähriger Amtszeit, nicht sind.
Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, Ihre Bilanz in der Verteidigungspolitik ist nach einem Jahr Regierungsverantwortung in der neuen Legislaturperiode mehr als dürftig
({22})
und entlarvt Ihren öffentlichkeitswirksam vertretenen Anspruch auf Reformen in der Bundeswehr als eine Täuschung. Ihre Reformen erschöpfen sich im strukturellen Umbau der Streitkräfte, im Kästchendenken - und das ist zu wenig. Gefragt ist die Reform unserer Streitkräfte.
War die Koalitionsvereinbarung schon Ihr kleinster gemeinsamer Nenner für diesen Umbau der Bundeswehr, so ist ihre Konkretisierung, insbesondere mit dem sogenannten W-10-Kompakt-Wehrdienst, gründlich mißlungen. Die Verkürzung des Grundwehrdienstes auf zehn Monate bringt mehr Nachteile und schafft mehr Probleme, als sie löst - nicht nur weil die Wehrpflichtigen, die im Anschluß an ihren Wehrdienst studieren wollen, lange Wartezeiten haben, da der Beginn des Studiums nicht übereinstimmt mit dem Ende des Grundwehrdienstes, sondern auch weil W 10 bei der Bundeswehr selbst, nämlich in der Truppe, neue und unnötige Schwierigkeiten mit sich bringt. Die quartalsweise Einberufung ist einfacher zu organisieren als ein zweimonatiger Einberufungsrhythmus.
Die Schwierigkeiten werden ja besonders deutlich an der Tatsache, daß selbst der Herr Bundeskanzler nicht hinter diesem Konzept steht, wie man nach seinem Ausflug nach Eggesin hören konnte. Die „Welt", sicherlich kein sozialdemokratisches Kampfblatt
({23})
- bei dem Kruzifix-Urteil hat es Sie allerdings stark enttäuscht -, hat den Bundeskanzler, gefragt nach der Ausgestaltung dieser Wehrform, mit den Worten zitiert: „Wenn Sie mich fragen, ob ich das alles für optimal halte, dann kommt meine klare Antwort: Nein." Deutlicher hätte er seine Meinung nicht ausdrücken können.
Der Kollege Rose, der in seine heutigen grundlegenden Ausführungen zur Verteidigungspolitik einen pflichtgemäßen Oppositionsangriffsaufschwung einbaute, hat sich im „Focus"-Interview auch zu W 10 geäußert. Da hat er wörtlich zum Ausdruck gebracht: „Es besteht Gefahr für die Wehrpflicht." So sehen wir das auch.
Diese Aussagen braucht man nicht zu kommentieren. Sie sprechen für sich. Die Frage muß aber schon erlaubt sein: Warum haben Sie in den Koalitionsverhandlungen - und wer ist da letztlich verantwortlich? - einen solchen Wehrdienst beschlossen und halten unverbrüchlich daran fest?
Sie erheben den Anspruch, die Wehrpflicht zu modernisieren und ihren Stellenwert, der in der Gesellschaft auf einem Tiefpunkt angelangt ist, zu verbessern. Dieser Anspruch hat sich jedoch bereits heute als hohl erwiesen.
Wer nämlich bei den sozial Schwächsten, den Wehrpflichtigen, zum 1. Januar 1996 zusätzlich das Entlassungsgeld und das Weihnachtsgeld weiter kürzen will, wer die wöchentliche Rahmendienstzeit im Wehrdienst auf 46 Stunden verlängern will und wer einen Dienstzeitausgleich erst nach dem siebten Monat finanziell vergüten will, der setzt die Wehrpflicht leichtfertig aufs Spiel.
({24})
Außerdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, Kolleginnen und Kollegen, daß die Bundesregierung und auch Teile der Koalition im Grunde nichts unversucht lassen, die Wehrpflichtigen gegen die Zivildienstleistenden auszuspielen und umgekehrt. Wie anders wäre es sonst zu erklären, daß erst jetzt das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer auf eine „normale" und bei allen Verwaltungen übliche Verfahrensweise gestellt wird, nämlich daß ein Antragsteller nur einmal durch die Behörde aufgefordert werden muß, bestimmte Unterlagen vorzulegen.
Bevor ich die Frau Wehrbeauftragte anspreche, möchte ich eines feststellen: Der jetzige Platz hier im Saal ist kein angemessener für den Wehrbeauftragten oder die Wehrbeauftragte. Es handelt sich doch
um ein Organ des Parlaments, das mitten unter uns Platz finden müßte ({25})
unabhängig davon, was ich jetzt zu sagen habe.
Ich habe die herzliche Bitte, Frau Wehrbeauftragte - wir hatten auch ein persönliches Gespräch -, daß Sie die entstandenen Irritationen - ich formuliere das einmal so - um Ihre Bezeichnung für Zivildienstleistende aus der Welt schaffen. Sie sagen, Sie seien falsch zitiert worden. Ich habe das durch eine entsprechende Äußerung des Chefredakteurs des „Focus", in dem das Interview wohl gestanden hat, auch als relativiert angesehen. Begegnen Sie aber bitte diesem Eindruck; reden Sie mit den jungen Menschen, auch mit den Zivildienstleistenden, selbst wenn Sie „nur" für die Wehrpflichtigen zuständig sind.
({26})
Meine Damen und Herren, meine letzten Bemerkungen möchte ich der inneren Führung widmen. Dabei handelt es sich um ein wichtiges Feld im inneren Gefüge unserer Streitkräfte und in der Sinnstiftung des soldatischen Dienstes. Auch hier habe ich zumindest Zweifel, ob dieses Feld bestellt ist. Ich kann mich nämlich des Eindrucks nicht erwehren, als sei die Zeit nach der sozialliberalen Regierungsverantwortung - das ist zugegebenermaßen leider schon lange her - stehengeblieben oder sogar zurückgedreht worden. Schwerwiegende Defizite sind zu beklagen.
Die Vorfälle mit rechtsradikalem Hintergrund nehmen in alarmierender Weise zu. Schon haben sie die Hochschulen der Bundeswehr ergriffen. Die Mißhandlungen von Wehrpflichtigen durch Wehrpflichtige sind keine Einzelfälle. Die zunehmenden Fälle von Drogenmißbrauch in der Bundeswehr fordern nicht nur den Bundeswehr-Verband zu besorgten Stellungnahmen heraus.
Uns macht es durchaus Sorge, wenn wir bei unseren Besuchen in der Truppe darauf aufmerksam gemacht und aufgefordert werden, uns verstärkt darum zu kümmern, daß die „richtigen Leute" für den Nachwuchs der Bundeswehr gewonnen werden und keine Rambo-Typen; ich zitiere aus Gesprächen.
Leisten Sie der Entwicklung einer sich abzeichnenden Veränderung des geistig-politischen Koordinatensystems des personellen Nachwuchses in unseren Streitkräften nach „rechts", Herr Bundesminister, nicht fahrlässig Vorschub.
Das unterstelle ich Ihnen nicht, aber Sie weigern sich doch wider besseres Wissen, die nationalsozialistisch belasteten Namen der Dietl- und der KüblerKaserne zu ändern. Das ist ein Punkt und ein Symbol dafür, wo Sie im Augenblick in Bewältigung dieser Probleme in den Streitkräften stehen, wenn Sie das nicht schnellstens ändern und diese Namen in den Papierkorb der Geschichte werfen.
({27})
Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen zusammensein und das 40jährige Bestehen der Bundeswehr begehen. Ich weiß, daß wir dann auch zum Ausdruck bringen werden, daß wir im Grundkonsens zur Landes- und Bündnisverteidigung stehen. Bei international notwendigen Einsätzen wird einiges unterschiedlich gesehen werden, aber zu einem sollten wir uns alle zusammenfinden, nämlich anläßlich des 40jährigen Bestehens denjenigen, die in den Streitkräften gedient haben, und denen, die im Augenblick dienen, unseren Dank auszusprechen.
Wir müssen denjenigen, die in unserem Land vor der Frage stehen, ob sie als Wehrpflichtige in die Streitkräfte gehen oder ob sie Ersatzdienst leisten wollen, sagen, daß die Bundeswehr ein konstitutives Element unserer Verfassung ist, die die Soldaten als Staatsbürger in Uniform nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern auch in der Weltbürgergemeinschaft der Vereinten Nationen sieht.
Herzlichen Dank.
({28})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Paul Breuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wehrbeauftragte ist heute mehrmals in der Debatte auf ihre Ausführungen zur Frage, wie sich junge Leute zur allgemeinen Wehrpflicht stellen, angesprochen worden. Ich habe das schon einmal öffentlich gesagt und sage es auch heute: Ich hätte ihr, wenn sie mich gefragt hätte, nicht den Rat gegeben, in bezug auf die junge Generation von Egoisten zu reden. Ich hätte eher von Individualisten gesprochen.
Ich habe in der Unterhaltung mit Claire Marienfeld festgestellt, daß sie das auch gemeint hat. Sie meinte den ausgeprägten Individualismus, der dazu führt,
({0})
- hören Sie es sich doch einmal in aller Ruhe an! -,
({1})
daß man eine eigene Entscheidung, die von jungen Menschen gefordert ist, nicht unbedingt zu einer Gewissensentscheidung macht. Es kann auch eine rein pragmatische Opportunitätsentscheidung sein.
({2})
Das ist die Frage, die man, ohne die eine Gruppe, die Wehrdienstleistenden, gegen die andere Gruppe, die Zivildienstleistenden, ausspielen zu wollen, ganz einfach diskutieren muß. Wir sollten nicht über „Krise der allgemeinen Wehrpflicht" usw. reden. 70 % der jungen Leute gehen zum Wehrdienst. Sorgen wir dafür, daß es mehr werden und daß die allgemeine Wehrpflicht und die Wahrnehmung der allgemeinen Wehrpflicht der Normalfall sind und das andere die Ausnahme bleibt!
Dafür ist es aber notwendig, etwas mehr für die Wehrpflichtigen und die Attraktivität des Wehrdienstes zu tun. Das ist das, was Claire Marienfeld letztlich sagen wollte und was hier noch einmal deutlich gesagt werden mußte. Sie wollte nicht die eine Gruppe gegen die andere ausspielen.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Dietrich Austermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Kolbow zum Verteidigungsetat sind im wesentlichen von dem Versuch geprägt gewesen, den Eindruck zu erwecken, die SPD meine es mit der Bundeswehr - mit den Wehrpflichtigen, den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern - gut.
Dazu muß man natürlich wissen, daß das eine völlig neue Position ist, die Sie heute bekleidet haben, und daß Vertreter Ihrer eigenen Partei in den letzten Wochen und Monaten Positionen vertreten haben, die in diametralen Gegensatz zu dem gestanden haben, was Sie gesagt haben.
({0})
Das gilt für die Frage der Wehrpflicht. Der Kollege Opel - er sitzt gar nicht so weit weg von Ihnen - erzählt jeden zweiten Tag, daß wir eine Berufsarmee ohne Wehrpflicht brauchen, daß 200 000 Mann ausreichen, daß wir aus der NATO austreten sollen und vieles anderes mehr. Das können Sie doch nicht vergessen machen.
({1})
- Herr Opel, damit Sie nicht weiter derartigen Unfug verbreiten, will ich Ihnen folgendes vorhalten. Manfred Opel, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD
- ich weiß nicht, ob er das je gewesen ist -, am 15. März 1994:
Ob man sich im Frieden den Luxus der Wehrpflicht unverändert leisten kann, ist mehr als fraglich. Ausreichend und angemessen wäre eine Freiwilligenarmee von etwa 200 000 Mann.
({2})
- Wir kommen gleich dazu, Herr Opel; das ist überhaupt kein Problem.
Es gibt ähnliche Äußerungen zum Thema Berufsarmee:
Manfred Opel kündigt darüber hinaus für den Fall an, daß die SPD im Herbst 1994, wenn sie an die Macht kommt, die Reduzierung der Wehrund Zivildienste auf höchstens neun Monate anstrebt.
- Einen Moment, Sie haben sich eben gegen W 10 ausgesprochen. Wenn ich richtig informiert bin, ist W 9 weniger als W 10.
An anderer Stelle erscheint in den letzten Tagen die Aussage von Herrn Opel, daß er für eine Berufsarmee ist.
({3})
- Ich werde Ihnen den Beleg dafür liefern, Herr Kollege. Es ist nicht in Ordnung, daß Sie das hier bestreiten, wohl wissend, daß Sie das Gegenteil gesagt haben.
Es gibt andere Aussagen darüber, was die finanzielle Situation der Bundeswehr bedeutet. Wenn ich davon ausgehe, daß ich von 370 000 Soldaten auf 200 000 Soldaten reduzieren will, Sie auf 240 000
({4})
- wir wollen 340 000 auf absehbare Zeit halten -, dann ist doch ganz klar, daß ich auch auf Standorte verzichten und Standorte rasieren muß. Sie sprachen sehr beredt von Ihren vielen Truppenbesuchen. Dann müssen Sie den Soldaten und vor allen Dingen den Kommunalpolitikern, bei denen Sie sich im letzten halben Jahr beliebt machen wollten, auch einmal erklären, was das für die Standorte bedeutet. Sie hätten die Hälfte der Standorte rasiert.
({5})
Meine Damen und Herren, deutlich, glaube ich, ist, daß es nicht angehen kann, eine Position in Anträgen und Beschlüssen zum Verteidigungsetat zu vertreten und dann hier den Eindruck zu erwecken, als wolle man genau das Gegenteil.
({6})
Sie haben sich bei dem Verteidigungsetat 1995 nicht zu Wort gemeldet, am 30. März dieses Jahres hat hier niemand von Ihnen dazu geredet. Sie haben Anträge gestellt, die Mittel des Verteidigungsetats deutlich zu reduzieren. Das war die Position am 30. März dieses Jahres. Viele von Ihnen waren da gar nicht anwesend, weil sie sich, was ich gut verstehen kann, für diese Position Ihrer Partei geschämt haben.
({7})
Herr Abgeordneter - Dietrich Austermann ({0}): Ich habe nur eine kurze Redezeit. Er hat viel länger geredet, als er
hätte reden dürfen. Ich will das kurz im Zusammenhang ausführen.
({1})
- Meinetwegen. Kollege Kolbow, Sie können das geraderücken. Aber seien Sie sicher: Ich habe reichlich Zitate hier, die zeigen, wie Sie sich draußen im Vergleich zu dem verhalten, was Sie uns hier erzählen.
Vorweg danke ich herzlich, daß Sie sich überwinden konnten, mich fragen zu lassen.
Herr Austermann, wenn Sie den Verlauf der finanzpolitischen Auseinandersetzung über den Haushalt des Bundesministers der Verteidigung 1995 korrekt verfolgt hätten: Würden Sie sagen, daß am Ende des Verfahrens auch im Vermittlungsausschuß, wo eine solche Position als sozialdemokratische hätte aufgenommen werden müssen, irgendein Streichungsantrag zum Verteidigungsetat vorgelegt worden ist?
({0})
Ich kann mich erinnern, daß hier am 30. März dieses Jahres ein Streichungsantrag über 675 Millionen DM vorgelegen hat, der zwei Bereiche umfaßte. 400 Millionen DM wollten Sie beim Personal, für das Sie sich hier so vehement eingesetzt haben, kürzen und 275 Millionen DM bei Munition, wehrtechnischer Forschung und vielen anderen Dingen. Es hat also ein Antrag vorgelegen. Wenn Sie nicht einmal Ihre eigenen Anträge kennen, dann lohnt es doch überhaupt nicht, daß man miteinander diskutiert.
({0})
Das Ganze ging weiter - dies ist alles noch eine Antwort auf Ihre Frage -: 1,4 Milliarden DM wollten Sie dann im April im Bundesrat kürzen. Dann haben Sie gemerkt, der Schuß geht nach hinten los, weil das Ressortkonzept noch diskutiert wurde. Dann haben Sie das im Finanzausschuß des Bundesrates beschlossen und bei der Plenumssitzung des Bundesrates klammheimlich fallengelassen. Genauso ist es gewesen. Da kamen Ihnen die Bürgermeister nämlich tatsächlich auf die Schliche und haben gesagt: So geht es aber nicht. Ihr könnt euch nicht in Seth und Plön oder sonstwo hinstellen und sagen: „Wir wollen eine größere Bundeswehr" und gleichzeitig der Bundeswehr das Geld wegnehmen. Das ist einfach unglaubwürdig. Das muß man hier ganz deutlich sagen.
Zum Kollegen Opel will ich auch gleich noch etwas sagen. Herr Opel, wie anders kann man die Aussagen „Ob man sich im Frieden den Luxus der Wehrpflicht unverändert leisten kann, ist mehr als fraglich " und „Angemessen wäre eine Freiwilligenarmee von 200 000" anders verstehen, als daß Sie eine Berufsarmee wollen? Das kann doch gar nicht anders gemeint sein. Wenn ich auf die Wehrpflicht verzichte, muß ich doch Berufssoldaten haben. Wenn ich bloß 200 000 haben will, sind das wesentlich weniger. Sie können nachher gem versuchen, das klarzustellen.
Ich glaube, daß die Fragen damit beantwortet sind und daß deutlich gemacht worden ist, daß Ihre Position nicht sehr schlüssig ist, um es einmal harmlos zu sagen.
Kollege Kolbow will eine weitere Frage stellen.
Bitte.
Da Sie nicht verstehen wollen, was ich bei Ihrer Art, politische Debatten zu führen, zur Kenntnis nehmen muß, frage ich Sie: Sind Sie bereit, mit mir ein öffentliches Streitgespräch über die Positionen Ihrer Partei und die Positionen meiner Partei zum Verteidigungsetat zu führen?
Das können wir gerne machen. Ich bin bereit, an jeder Stelle der Bundesrepublik dieses Streitgespräch zu führen. Ich freue mich darauf. Ich glaube, wenn die Einladung von Ihnen ausgeht, werden nicht viele Soldaten kommen. Wir sollten uns bemühen, daß wir das Ganze unter Umständen gemeinsam machen. Dann werde ich den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern sagen, wer Sachwalter ihrer Position und ihres notwendigen Berufsstandes ist und wer ihnen dauernd den Stuhl unter dem Hintern wegziehen will. Das haben Sie in den letzten Monaten reichlich getan. Das gilt nicht nur für die Frage der Bewaffnung. Sie haben das hier ganz augenfällig gemacht. Das fängt im ganz Kleinen an.
Kollege Kolbow hat soeben gesagt: Der Einsatz in Bosnien ist militärisch notwendig. Scharping hat gesagt, er lobe die Antwort der internationalen Staatengemeinschaft. Er hat sich auf seine Position bezogen. Sie ist in Ordnung. Sie haben am 30. Juni so abgestimmt. Scharping hat anders abgestimmt. Haben Sie jetzt für sich gesprochen, oder haben Sie für die übrigen 50 anwesenden Kollegen der SPD gesprochen? Die SPD steht in der Mehrheit bis heute gegen diesen Einsatz. Das muß man klar sagen. Das kann durch die Position, die Sie soeben erwähnt haben, nicht vernebelt werden.
Herr Kollege Austermann, der Kollege Breuer möchte ebenfalls gerne eine Frage stellen.
Kollege Austermann, sind Sie im Zusammenhang mit dem Streitgespräch, das Sie mit dem Kollegen Kolbow führen werden, bereit, zuzugestehen, daß der Kollege Kolbow zwar ein außerordentlich netter und auch sachkundiger Kollege, aber möglicherweise der falsche Gesprächspartner ist? Um die Geschichte aufzuhellen - ich bitte Sie, das zu bestätigen -: Es war beim Haushalt 1995 meines Erachtens so, daß die SPD-Abgeordneten im
Verteidigungsausschuß zugestimmt haben, aber in der Gesamtfraktion nicht die Mehrheit bekamen. Können Sie das bestätigen?
Nach meiner Information, lieber Kollege, kann ich bestätigen, daß die Verteidigungspolitiker zumindest zum Teil - ob Kollege Opel dabei war, weiß ich nicht - die Kürzungsanträge nicht wollten, aber der Mehrheit der Fraktion unterlegen sind. Herr Kolbow hat hier soeben für die Minderheit gesprochen. Ich bin der Meinung, das muß man den Bürgern, die auf der Tribüne oder sonstwo zuhören, sagen. Herr Kolbow vertritt in der SPD mit dem, was er sagt, eine Minderheitenposition.
Ganz kurz zur Frage des Haushaltes. Die Zahl der Soldaten ist in den letzten Jahren deutlich verringert worden, und der Verteidigungsetat ist um Milliardenbeträge gekürzt worden: von einem Anteil am Bundeshaushalt von 19 % auf 10 %. Das hatte zwangsläufig Folgen für die investiven Ausgaben. Das bedeutet, daß wir im Bereich der investiven Ausgaben in nächster Zeit wieder zu einem Wachstum kommen müssen, ohne dadurch die Gesamtausgaben zu erhöhen. Ich sage das, weil damit natürlich eine Fülle von Projekten verbunden sind, die wie beispielsweise das europäische Jagdflugzeug öffentlich streitig diskutiert werden, die die Ministerpräsidenten fordern, um Arbeitsplätze bei der DASA zu retten, die aber hier in den Ausschüssen und Unterausschüssen meistens bekämpft werden. Dies werden wir deutlich sagen, und dies können wir auf einer derartigen Veranstaltung gerne miteinander austragen.
Ich möchte unterstreichen, was vorhin gesagt wurde: Fünf Jahre Wiedervereinigung und 40 Jahre Bundeswehr bedeuten auch fünf Jahre Armee der Einheit - eine großartige Leistung. 200 000 Wehrpflichtige haben seitdem Dienst getan. Ihnen gebührt selbstverständlich unsere Sympathie. Der Vorrang der Verfassung in Art. 12a gilt dem Wehrdienst, um dies ganz deutlich zu sagen.
Wir werden bei den Beratungen im Haushaltsausschuß in den nächsten Wochen deutlich machen, daß wir für eine Modernisierung der Bewaffnung sind, daß wir gleichzeitig die persönlichen Interessen der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter nicht übersehen wollen und daß wir begrüßen, daß das Ressortkonzept, wie es durchgeführt und nach den Diskussionen mit uns modifiziert worden ist, bis zum Jahre 2000 konsequent weitergeführt wird. Wir werden darauf achten, daß der Armee die Ausgaben und die Mittel zur Verfügung stehen, die moderne Streitkräfte brauchen, moderne Streitkräfte, die auch in Zukunft auf der Wehrpflicht gründen.
Es wird interessant sein, bei der Debatte im Haushaltsausschuß zu beobachten,
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
- es ist mein letzter Satz - wie sich die Opposition bei den Fragen verhält, wie es um die Verteidigungspolitik und auch um Beschaffung für die Bundeswehr steht. Der Haushalt ist nach unserer Meinung eng geschnitten, aber er erlaubt die erforderlichen Maßnahmen für die Bundeswehr. Wir werden hier, wie beim Einsatz in Bosnien und wie bei den Fragen der Wehrpflicht und der Beschaffung, das tun, was getan werden muß, Dies war 1955 das richtige Motto. Sie werden sich daran erinnern. Es wird auch 1995/96 das richtige Motto sein.
Herzlichen Dank.
({0})
In dieser Debatte haben alle zum Teil brutal die Redezeit überschritten, der letzte am brutalsten; aber so ist das manches Mal. Damit wir mit dem gewaltigen Redepensum, das wir haben, zu Rande kommen können, bitte ich, sich an die vorgegebenen Redezeiten zu halten.
Ich habe noch eine Wortmeldung des Kollegen Opel zu einer Kurzintervention. Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Wir erleben jetzt zum zweiten Mal, daß Kollege Austermann persönlich verletzend ist. Ich finde, das ist etwas, was in diese Debatte nicht paßt.
Vielleicht kommen, Herr Präsident, die Äußerung und die Meinungsfindung von Herrn Austermann deswegen so schlicht hier über, weil er keinerlei persönliche Erfahrung mit der Bundeswehr hat. Ich möchte ihn daran erinnern, was die Jacobsen-Kommission gesagt hat. Es war eine Kommission der Bundesregierung, die den Bericht an den Bundeskanzler abgegeben hat. Wenn Herr Austermann dort nachgelesen hätte, hätte er den vielen Unsinn, den er hier gesagt hat, nicht wiederholt.
Eine Berufsarmee besteht aus jungen Menschen, die in eine Armee gehen, um dort bis zur Pensionierung zu dienen. Dies kann keiner wollen. Wir wollen die integrierte Bundeswehr, wir wollen integrierte Streitkräfte. Aber wir wissen alle, daß sowohl die Jacobsen-Kommission wie auch die Wehrstrukturkommission gesagt haben, daß es für die Kampfkraft der Streitkräfte und für die Ausbildung erhebliche Probleme gibt, wenn der Wehrdienst zu kurz wird. Deswegen hat die Koalition für die einsatzorientierten Wehrpflichtigen den W 12 bis W 23 erfunden.
Sie wollen 23 000 Wehrpflichtige haben, die freiwillig fast zwei Jahre dienen. Diese bekommen sie nicht. Das heißt, Ihr Konzept ist heute schon gescheitert. Deswegen muß man überlegen, wie man zu neuen Ufern kommt. Genau dieses hat uns die Jacobsen-Kommission vorgegeben.
Herr Breuer, weil Sie den Kopf schütteln: Der Bundeskanzler hat vor über zwei Jahren noch die Zahl 370 000 genannt. Dann sprach er von 340 000. Alle
hielten hier große Predigten und haben auf 370 000 geschworen, Sie eingeschlossen. Dann wurden es 340 000, und man hat reduzieren müssen. Schwören Sie jetzt nicht wieder auf irgendeine Zahl, zu der Sie sich morgen und übermorgen nicht bekennen können!
Jetzt zu den 200 000. Vielleicht scheint es Ihnen entgangen zu sein, Herr Kollege Austermann -
Herr Kollege Opel, eine Kurzintervention heißt deshalb so, weil sie kurz ist. Nach zwei Minuten ist sie zu Ende, und die sind abgelaufen.
200 000 bzw. 202 000, Herr Präsident, ist die Zahl, die im Haushalt 1996 für Zeit- und Berufsoldaten steht. Das ist die Zahl, die ich zitiert habe.
Herr Kollege Opel, bevor ich dem Kollegen Austermann das Wort zu einer kurzen Replik gebe, erlauben Sie eine Bemerkung des amtierenden Präsidenten.
Sie haben das Wort „persönlich verletzend" benutzt. Hätte er Sie persönlich verletzt, hätte eine Wortwahl vorliegen müssen, die vom Präsidenten gerügt worden wäre. Das war aber nicht der Fall.
Bitte, Herr Kollege Austermann.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Nach dieser Kurzintervention von Ihnen hätte es eigentlich meiner Wortmeldung nicht bedurft. Ich hatte den Eindruck, daß Kollege Opel den Beweis dafür bringen wollte, daß ich zu Unrecht behaupte: Er tritt für eine Berufsarmee ein. Dieser Beweis ist ihm - wenn er ihn versucht haben sollte - jedenfalls nicht gelungen.
Ich zitiere noch einmal: Opel - er nennt sich hier verteidigungspolitischer Sprecher der SPD -, am 15. März 1994:
Ob man sich im Frieden den Luxus der Wehrpflicht unverändert leisten kann, ist mehr als fraglich. Ausreichend und angemessen wäre eine Freiwilligenarmee von etwa 200 000.
Weil ich gerade das Wort habe: Es gibt auch ein Zitat des Herrn Kolbow, der sich eben über die zehn Monate als zu kurz entrüstet hat. Er erklärte am 20. Oktober 1994, die Sozialdemokraten forderten eine Reduzierung der Bundeswehr auf 300 000 Mann und eine Grundwehrdienstzeit von neun Monaten. Ich glaube, das ist deutlich und hat bestätigt, daß meine Aussage korrekt war. Es wäre an der Zeit, daß manch einer einmal überprüft, ob das, was er sagt, mit dem übereinstimmt, was er denkt.
({0})
Ich erteile dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angemessene deutsche Leistungen in der Entwicklungszusammenarbeit sind ein wichtiges Signal dafür, daß Deutschland seine Verantwortung in der Welt erkennt und ihr gerecht werden will. Unsere Entwicklungspolitik genießt weltweit Anerkennung, weil sie auf einer modernen und schlüssigen Konzeption beruht. Als Politik der Zukunftssicherung dient die Entwicklungspolitik nicht nur der Unterstützung unserer Partnerländer, sondern auch unseren eigenen Interessen.
Moderne Entwicklungspolitik ist mehr als Überlebenshilfe für die Schwachen in unserer Welt. Sie darf nicht als Almosen, das der Beruhigung unseres Gewissens dient, mißverstanden werden. Moderne Entwicklungspolitik erhebt den Anspruch, zu globalen Strukturveränderungen beizutragen.
({0})
Auch im Rahmen unserer auswärtigen Beziehungen spielt die Entwicklungspolitik eine zunehmend wichtige Rolle. Vorhaben zum Schutz der Menschenrechte, zur Förderung von politischer Teilhabe, zur Rechtsstaatlichkeit sind Beispiele aktiver deutscher Friedenspolitik.
({1})
Dort, wo sich Demokratie und Soziale Marktwirtschaft nachhaltig festigen, wird die Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen, die in aller Regel auch für uns zu Sicherheitsrisiken und finanziellen Folgelasten führen, geringer. Ich glaube, die zentrale Rolle der Entwicklungspolitik für unsere Zukunft ergibt sich aus dieser Beschreibung sehr deutlich.
Die Kürze der Zeit gibt mir nur die Möglichkeit, einige Anmerkungen zu regionalen und sektoralen Schwerpunkten für den Haushalt 1996 zu machen.
Was die regionale Situation anbelangt, bleibt Afrika südlich der Sahara weiterhin die größte Empfängerregion. Abgesehen von der besonderen humanitären Verpflichtung dürfen wir einen Kontinent, von dem erhebliche globale Risiken ausgehen, nicht vernachlässigen.
Als Schwerpunktbereich schält sich zunehmend auch die Mittelmeerregion und der Nahe Osten heraus. Diese für uns wegen der engen Nachbarschaft zu Europa und der Wanderungsbewegung besonders bedeutsamen Regionen bedürfen auch angesichts der Gefahr des islamischen Extremismus und des Terrorismus, die eine friedliche Entwicklung bedrohen, unserer besonderen Aufmerksamkeit.
Bei meinem Besuch im Nahen Osten vor wenigen Tagen haben alle Gesprächspartner deutlich gemacht, wie wichtig der wirtschaftliche Aufbau und die soziale Absicherung der Menschen für den Friedensprozeß sind. Hier leistet die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wirklich Pionierarbeit. Sie will über konkrete grenzüberschreitende Vorhaben z. B. bei der Wasserversorgung und der Verkehrsinfrastruktur die Partner des Friedensprozesses bei der gemeinsamen Lösung von Existenzfragen für die ganze Region unterstützen. Unsere Zusammenarbeit hier will mithelfen, den Frieden für die Menschen erlebbar zu machen. Das ist auch im Hinblick auf unsere Geschichte ein politisches Werk von großer Symbolkraft.
({2})
Schließlich legen wir besonderen Wert auf die Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel- und Osteuropas und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Mit einem Gesamtvolumen von knapp 400 Millionen DM ist nunmehr der größte Teil der Osthilfe im Haushalt des BMZ verankert und wird wirkungsvoll und rasch, wie alle Partner bestätigen, eingesetzt und umgesetzt.
({3})
Unsere Entwicklungspolitik setzt an den richtigen Stellen an. Das ist an sich seit langem unbestritten. Die Kritik der SPD an der Entwicklungspolitik der Bundesregierung, die im Vorfeld dieser Debatte laut wurde, ist nicht einmal mehr als Selbstzweck verständlich. Ihre Behauptungen, Herr Kollege Hauchler, die Mittel für Armutsbekämpfung und Grundversorgung, Bildung und Bevölkerungspolitik würden 1996 zurückgefahren, sind falsch und leicht widerlegbar.
({4})
Der Anteil der grundbedürfnisorientierten Vorhaben stieg von 42 % 1991 auf 54 % 1996. Die beachtlichste Steigerung wurde gerade in dem konzeptionell besonders schwierigen Teil der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung erreicht, nämlich von 8 % 1991 auf nunmehr 18,5 %. Ich sage ganz offen: Damit dürfte die Grenze des bei der gegenwärtigen Personal- und Mittelausstattung des BMZ Möglichen erreicht sein.
Für Bildung und Ausbildung haben wir die Ansätze von 165 Millionen DM auf 429 Millionen DM erhöht, also ebenfalls mehr als verdoppelt. In der Familienplanung werden inzwischen bilateral und multilateral dreimal so viele Mittel wie 1990 bereitgestellt: Von damals 74 Millionen DM gelang ein Zuwachs auf 207 Millionen DM. Wenn man also die Entwicklungspolitik wirklich voranbringen will, wie ich es auch manchen Äußerungen von Kollege Hauchler entnehme, dann sollte man diese unbestreitbaren Leistungen der Bundesregierung nicht in Abrede stellen, sondern anerkennen.
({5})
Die gesellschaftliche Basis, die diese Politik mitträgt, wird immer breiter. Wann hat es das schon gegeben, daß die deutschen Kirchen, die Gewerkschaften und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen unterschiedlichster politischer Neigung von einem großen Konsens in der deutschen Entwicklungspolitik sprechen und die Entwicklungspolitik der Bundesregierung einmütig unterstützen, wie es auf der von German Watch initiierten Pressekonferenz im August deutlich wurde? Unsere Bemühungen, seit 1991 mit einer überzeugenden Konzeption und einem vertrauensvollen, engen Meinungsaustausch eine neue Qualität des Zusammenwirkens zu schaffen, tragen nun Früchte.
({6})
Die Entwicklungspolitik hat heute eine Lobby, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, an einer langfristigen Politik der globalen Zukunftssicherung lokal, regional, national und international zu arbeiten.
Ich darf Sie, meine Damen und Herren, bitten, sich dieser Lobby anzuschließen. Unterstützen Sie die Bundesregierung in ihrem Bemühen, die finanzielle Basis für diese über unsere Zukunft mitentscheidende Politik zu verstärken!
({7})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Ingomar Hauchler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst auf Gemeinsamkeiten in der Entwicklungspolitik hinweisen und heute auch dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ein gewisses Lob aussprechen.
({0})
Anschließend muß ich aber Kritik üben. Das werden Sie mir nicht übelnehmen. Es ist guter Brauch, daß die Opposition kritisch die Regierungsarbeit beleuchtet.
({1})
- Es ist nötig, Herr Feilcke.
Dann will ich noch eine ganz persönliche Sorge im Zusammenhang mit der Entwicklung der multilateralen Zusammenarbeit äußern.
Herr Minister, die Gemeinsamkeiten zuerst. Ich habe den Erfolg, den Sie im Nahen Osten erzielt haben, respektiert. Ich halte es für respektabel, daß Sie jetzt doch stärker auf regionale Ansätze in der Entwicklungszusammenarbeit setzen. Ich halte es für sehr gut, daß die 140 Millionen DM, die Israel bisher jährlich zur Verfügung standen, für länderübergreifende Projekte zur Verfügung gestellt werden, also für den Friedensprozeß in Palästina, in Jordanien und in Israel. Ich finde auch einige Äußerungen von Ihnen in der letzten Zeit richtig. Sie haben gelernt, daß Entwicklungspolitik nicht nur Projektpolitik ist, sondern zur Strukturpolitik weiterentwickelt werden muß und daß viele die Entwicklungspolitik - da sind
wir uns einig - immer noch mit falschen Augen sehen, nämlich vorwiegend als Sozialhilfepolitik, als Projektpolitik, als Transfer. Dabei ist Entwicklungspolitik tatsächlich Strukturpolitik. Ich bescheinige: Sie haben doch einiges gelernt, auch von uns aus den Debatten. Herzlichen Dank.
Aber nach dem Lob ist jetzt die Zeit für massive Kritik an der Bundesregierung insgesamt. Diese Kritik macht sich heute am Haushalt fest. Die Regierung stellt die ganz leichte Erhöhung des Einzelplans 23 im Haushalt 1996 als eine Wende hin. Sie, Herr Minister, lassen sich bereits in der Öffentlichkeit für diese Wende feiern. Hoffentlich ist es dafür nicht zu früh.
Der Ansatz im Regierungsentwurf 1996 beläuft sich auf 8,23 Milliarden DM. Das sind ganze 200 Millionen DM unter dem Ansatz von 1993.
({2})
- Es sind nominal 200 Millionen DM unter dem Ansatz von 1993 und 900 Millionen DM unter der mittelfristigen Finanzplanung nach der Konferenz von Rio, die Sie selbst vorgelegt haben. So muß man die Dinge ansehen. Kleine Prozentsätze in der kurzfristigen Betrachtung sagen nicht viel. Man muß vielmehr in der Langfristbetrachtung sehen: Wofür gibt diese Bundesregierung Geld aus; welche Prioritäten setzt sie?
Die Entwicklungspolitik gehörte in den letzten Jahren nicht dazu. Und ich sage Ihnen mit Blick auf Ihre eigene neue mittelfristige Finanzplanung bis 1999: Sie gehört auch in Zukunft nicht dazu. Denn was veranschlagt die Regierung in der mittelfristigen Finanzplanung für Entwicklungspolitik?
({3})
Der Gesamthaushalt soll um 2 % bis 2,5 % jährlich bis 1999 steigen. Der Entwicklungshaushalt soll jährlich nur um 0,5 % bzw 1 % steigen. Also soll in Zukunft wieder das gleiche Lied gespielt werden. Die Entwicklungspolitik soll schwächer wachsen als der Gesamthaushalt. In sechs Jahren, von 1993 bis 1999, soll praktisch nichts draufgelegt werden, und das angesichts der Situation, daß wir in diesem Zeitraum 400 bis 500 Millionen mehr Menschen in der Dritten Welt haben, die Umweltverschmutzung global weiter ansteigt, Kriege um uns herum sind, Gewalt, Flucht, Bevölkerungsexplosion, tiefere Armut. Ich finde, die Planung im Bereich Entwicklungspolitik ist kein Ruhmesblatt. Das kann nicht als Wende in der Entwicklungspolitik bezeichnet werden, was Sie jetzt für die Zeit von 1996 bis 1999 vorsehen.
({4})
Ich finde es töricht und kurzsichtig, ja blind, daß diese Bundesregierung nicht endlich begreift, daß gerade im Bereich der Entwicklungspolitik, über den wir heute sprechen, Investitionen in die Zukunft am besten angelegt wären. Lernen Sie einfach, daß wir, wenn wir Kriege vermeiden wollen - wir reden in x Debatten über Bosnien, über Kriege, über Gewalt -, mehr vorbeugende Friedenspolitik betreiben müssen, d. h. letzten Endes auch Entwicklungspolitik.
Mein zweiter Kritikpunkt ist: Sie setzen immer noch falsche Prioritäten, Herr Minister. Ich habe in die Rahmenplanung hineingeschaut und stelle fest, daß die zehn größten Empfängerländer im nächsten Jahr 100 Millionen DM mehr bekommen sollen. Wer ist unter diesen zehn größten? Indonesien, China, Indien, Türkei: nicht gerade die Staaten, die unsere eigenen Kriterien am besten erfüllen. Ich nehme an, daß Sie mir hier beipflichten.
({5})
Sie flunkern hier, Sie streuen den Menschen Sand in die Augen. Seien Sie endlich einmal ehrlich! Wenn Sie etwas für die Türkei, für China tun wollen, dann reden Sie nicht gleichzeitig von Menschenrechten und von Demokratisierung. Das ist unehrlich; das heißt Sand in die Augen der Menschen streuen. Das dürfen Sie nicht tun.
Herr Kollege Hauchler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Bitte, Herr Kollege Pinger.
Herr Kollege Hauchler, ist Ihnen bekannt - das dürfte der Fall sein -, daß die Bundesregierung und der Minister, wenn er das Kriterium Menschenrechte anlegt, nicht auf den jetzigen Zustand, sondern auf die Perspektive abstellen? Wenn Sie auf den Jetzt-Zustand abstellen: Welche Länder würden Sie im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen aus dem Katalog herausnehmen? Wollen Sie keine Entwicklungshilfe mehr an Indonesien, an Vietnam und solche Länder geben? Bitte sagen Sie, welche Länder Sie herausnehmen wollen.
Sie sprechen von Tendenzen. Wir haben gerade eine Frauenkonferenz in China. Ich sehe keine große Tendenz der Chinesen zu mehr Menschenrechten, Herr Kollege Pinger; im Gegenteil. Das bestätigt, was ich sage.
({0})
- Ich habe nie gesagt, daß für mich Menschenrechte und Demokratisierung das wichtigste Kriterium für Entwicklungshilfe ist. Ich habe auch in meiner Fraktion immer gesagt: Entwicklungspolitik ist überfordert, wenn sie zum wichtigsten Instrument von Menschenrechtspolitik gemacht werden soll. Entwicklungspolitik hat viel zu geringe Mittel, wenn die Wirtschaftspolitik und die Diplomatie bei der Menschenrechtspolitik nicht grundlegend mitmachen. Aber Sie, Herr Minister, haben ja die Menschenrechte zu einem der wichtigsten Kriterien erhoben. Und ich messe Sie nun an Ihren eigenen Kriterien.
Das Wichtigste für die Entwicklungspolitik ist, daß die Entwicklungshilfe bei den Menschen direkt ankommt und der breiten Bevölkerung hilft.
({1})
Dann helfe ich eventuell auch in einem Lande, in dem ein Diktator die Menschen unterdrückt, die sich gar nicht mehr äußern können. Da müssen wir auch einmal im Kopf frei werden. Es kommt darauf an, daß die Hilfe ankommt. Auch in Diktaturen muß die Hilfe ankommen, gerade dort, weil dann die Menschen die Chance haben zu partizipieren, aufrecht zu stehen und politisch selbst das Heft in die Hand zu nehmen.
Daß Sie zum Teil die Prioritäten falsch setzen, haben wir immer wieder betont. Aber zumindest eines sollten Sie nicht tun: Sie sollten den Menschen nicht Sand in die Augen streuen. Wenn Sie ein Kriterium propagieren, dann richten Sie sich bitte auch danach.
Zum Schluß möchte ich noch auf eine Sorge zu sprechen kommen, die mich persönlich zunehmend bewegt. Diese Sorge gilt dem Umfang und der Qualität der multilateralen Zusammenarbeit. Meine Sorge beruht ganz konkret darauf, daß in den letzten Jahren eine historische Bewegung zum Stillstand gekommen ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der UNO eingesetzt hat und von großen Hoffnungen auf internationale Zusammenarbeit, auf ein Zusammenwachsen von multilateralen Strukturen, auf internationale Politik-, Steuerungs- und Kontrollfähigkeit begleitet war, und daß wir sogar einen Rückfall in nationalstaatliches Denken erleben.
Die historische Bewegung ist jetzt 50 Jahre alt. In diesem Jahr feiern wir den 50. Jahrestag der Gründung der UNO und anderer Institutionen. In dieser Zeit sind globale Institutionen entstanden; ich nenne die Weltbank, den IWF, die Sonderorganisationen der UNO und regionale Einheiten. Die UNO ist in den siebziger Jahren zu einem Forum des internationalen Dialogs, vor allem des Dialogs zwischen Nord und Süd, ausgebaut worden, und es hat sich beispielsweise mit dem UNDP, aber auch mit anderen Organisationen, ebenso mit der Weltbank - das muß man zugeben, auch wenn man sie kritisch betrachtet - ein Ansatz multilateraler Politik entwickelt.
Dies droht derzeit in Frage gestellt zu werden bzw. zum Stillstand zu kommen. Das muß tatsächlich besorgt machen, weil es dann zu einer neuen historischen Zäsur in der internationalen Politik käme. Die Welt hat sich bisher dahin entwickelt, daß die Nationalstaaten erkannt haben, daß sie nicht mehr alle Probleme selbst bewältigen können, daß sie zusammenarbeiten müssen, aber nicht nur bilateral durch Verträge, sondern eben auch durch Institutionen, die rechtsverbindlich und möglichst mit Sanktionsgewalt vorgehen können. Das ist, denke ich, zum Stillstand gekommen.
Die internationalen Institutionen werden zunehmend von Nichtregierungsorganisationen, aber auch von Regierungen und Parlamenten in Frage gestellt. Ich verweise vor allem darauf, daß es in den
USA eine Absetzbewegung von der UNO, von der Weltbank und von anderen Institutionen gibt.
({2})
- Auch in der Interparlamentarischen Union gibt es Risse.
Die größte Supermacht, die USA, zieht sich mehr und mehr aus multilateralen Engagements zurück. Es drohen noch mehr Einschnitte, als es bisher schon gibt. Wir erwarten, daß von seiten der USA bei der dritten Rate der IDA-Auffüllung verbindliche völkerrechtliche Verträge gebrochen werden, daß Versprechen nicht mehr eingehalten werden.
Die USA sind bei der UNO und ihren Sonderorganisationen gewaltig im Rückstand. Ich frage Sie: Sprechen Sie mit den amerikanischen Freunden darüber? Wie kommen Sie mit dieser Lage zurecht, Herr Minister? Der Herr Außenminister ist jetzt leider nicht mehr da, der mehr dazu sagen könnte.
Dies muß uns sehr besorgt machen. Mich macht auch besorgt, daß es eventuell zu einer Kettenreaktion kommen könnte: Wenn die größte Macht, die politisch dominiert, die wirtschaftlich dominieren will, die immer noch militärisch als Hauptordnungsfaktor eingreifen möchte, bei der Unterstützung der internationalen Institutionen ausfällt, dann könnten wir insgesamt auf eine schiefe Ebene geraten.
Es sind aber nicht nur die USA; auch bei uns, in diesem Parlament, gehen Stimmungen und Stimmen in die Richtung: Eigentlich könnten wir doch selbst alles besser. Herr Minister, auch Sie haben dem heute wieder etwas Vorschub geleistet. Ich empfand es doch als sehr arrogant, wie Sie auftraten: Wir sind die Besten, wir sind vorbildlich in der ganzen Welt! - Ich denke: Andere sind auch ganz gut. Nehmen Sie doch einmal die Holländer, die Skandinavier, auch andere, auch UN-Organisationen, die hervorragende Projekte haben.
({3})
Jetzt soll die Entwicklungswelt wieder am deutschen Wesen genesen - so lese und höre ich das jetzt öfter von Ihnen. Überlegen Sie, ob Ihnen, der Regierung, uns Deutschen das nützt. Man schaut aufmerksam auf uns, wie wir uns in einem vereinten Deutschland international präsentieren. Dieser Stil der Arroganz ist nicht angemessen, glaube ich. Und er kann sich als kontraproduktiv erweisen.
Der Bundeskanzler hat heute ganz anders als Sie, Herr Spranger, gesprochen. Das hat mich gefreut. Er hat gesagt, wir müssen aufpassen, daß wir Deutsche uns in die internationale Gemeinschaft einordnen und nicht denken, wir könnten von unserer Seite her alles bestimmen. Ich betone: Wenn wir das tun, kann das kontraproduktiv werden, denn wer sich zu sehr aufspielt, wird vielleicht von anderen auf die Dauer doch nicht so akzeptiert, wie er es möchte.
Auch der Außenminister hat übrigens heute darauf hingewiesen und gesagt: Wir dürfen auf keinen Fall
die internationalen Institutionen schwächen; wir brauchen sie für eine internationale Politik.
({4})
Meine Damen und Herren, das wollte ich einfach einmal thematisieren und nachdenklich, vielleicht nicht nur als Vorwurf, sondern als Frage an uns alle richten: Wo stehen wir Deutsche heute international? Wie ordnen wir uns ein? Wie glauben wir unseren Einfluß international ausüben zu können, wie am besten helfen zu können?
Ich denke, eine gemeinsame Anstrengung der Deutschen, die multilaterale Politik zu stärken, ist nicht nur notwendig, sondern kann in einem Vakuum, das die Amerikaner international durch ihren Rückzug hinterlassen, unseren Interessen und unserem Einfluß sogar nutzen.
Ich hoffe, daß wir über diese Fragen weiter ins Gespräch kommen und im multilateralen Bereich nicht wild aus Arroganz herumgekürzt wird. - Neben den Gemeinsamkeiten wollte ich Ihnen meine Kritik und ein bißchen Sorge um diesen Bereich vortragen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Uschi Eid, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, eine Reform und Neuordnung der deutschen Entwicklungspolitik ist überfällig. Leider haben Sie zu Beginn dieser Legislaturperiode die Chance dazu nicht genutzt. Der von Ihnen vorgelegte Haushaltsentwurf beweist, daß diese Regierung nicht die Kraft zu Reformen hat, und das ist bedauerlich.
({0})
Wir wissen alle: Die traditionelle Entwicklungspolitik ist gescheitert. Wichtige Reformschritte sind deshalb nötig. Nur einige möchte ich nennen.
Erstens. Die Personalbindung in der Entwicklungszusammenarbeit ist endlich aufzugeben. Es geht nicht an, daß Frauen und Männer aus Afrika, Asien und Lateinamerika seit 30 Jahren an deutschen Fachschulen, an deutschen Universitäten ausgebildet werden und wir immer noch in deutsche Entwicklungsprojekte im Süden deutsche Experten schicken.
({1})
Die Bildungsinvestitionen in Menschen aus dem Süden müssen auch im Süden produktiv umgesetzt werden. Das deutsche Expertenwesen verhindert dies, und damit muß endlich Schluß gemacht werden.
Zweitens. Unsere Zusammenarbeit mit Süd und Ost muß zu einer politischen Querschnittsaufgabe werden. Dies setzt eine Stärkung der Bedeutung der Entwicklungspolitik im Kabinett voraus. Den Willen sehe ich nicht; ich höre zwar überall gute Absichten dazu, aber bisher wurden sie nicht umgesetzt.
Drittens. Kohärenz in allen Politikbereichen ist nötig, damit die Politik aller Ressorts entwicklungsverträglich ist.
Viertens. Die auf verschiedene Ressorts verteilten Aufgaben müssen zusammengefaßt werden und beim BMZ ressortieren.
({2})
Dies setzt natürlich voraus, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das zuständige Fachressort für fachlich-technische Entwicklungsaufgaben ist und auch bleibt.
Selbstverständlich werden die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik durch die Diplomatie mit ihrer Kommunikations- und Vermittlungsfunktion, durch die Verteidigungspolitik, aber auch durch die Kooperation mit ihrer Entwicklungsfunktion getragen.
Die Diplomatie - das ist entscheidend - soll nicht über die anderen Bereiche mitverfügen, sondern den Rahmen setzen, in denen die anderen beiden agieren. Jüngste Äußerungen des Außenministers weisen in eine ganz andere, meines Erachtens falsche Richtung. Ich denke, ich habe das, was der Außenminister im Gastbeitrag in der „Frankfurter Rundschau" vom 19. Juli 1995 geschrieben hat, nicht mißverstanden.
Seit 1961 gibt es die Entwicklungspolitik als eigenen institutionalisierten Politikbereich in der Bundesregierung. Sie hat in dieser Zeit trotz aller Kritik internationales Renommee gewonnen. Dies muß so bleiben bzw. ausgebaut werden. Deswegen, Herr Kinkel: Hände weg vom BMZ!
({3})
Das möchte ich aber auch ins Stammbuch von Herrn Scharping schreiben, Herr Kollege Schuster.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Reformunfähigkeit beweist der Haushaltsentwurf auch, daß diese Bundesregierung trotz vollmundiger Zusagen des Kanzlers bei internationalen Konferenzen - fernab von Bonn - gar nicht den politischen Willen hat, sich den Herausforderungen zu stellen, die durch globale Umwälzungen entstehen. Der von Ihnen, Herr Spranger, vorgelegte Haushaltsentwurf ist ebenso mickrig wie die Etats der letzten Jahre. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, daß der Haushalt gegenüber dem letzten Jahr um 134 Millionen DM erhöht wurde. Berücksichtigt man nämlich, daß diese Erhöhung durch internationale Verpflichtungen bereits gebunden ist, wird verständlich, daß es mir schwerfällt, in dem vorgelegten Haushaltsentwurf eine positive Wende zu sehen.
Die Erhöhung um 1,7 % ist eine Lächerlichkeit gegenüber der Dimension der Probleme, die wir am Ende dieses Jahrhunderts mit zu lösen haben, weil wir sie auch hauptsächlich mit verursacht haben.
Wenn Sie, Herr Minister, behaupten, übergeordnetes Ziel der deutschen Entwicklungspolitik bleibe die Armutsbekämpfung, so müssen Sie sich fragen lassen: Weshalb kommt dann unter den zehn größten Empfängerländern der Finanziellen Zusammenarbeit erst an zehnter Stelle ein schwarzafrikanisches Land, nämlich Tansania? Die Länderliste zeigt, daß Exportinteressen und nicht Armutsbekämpfung im Vordergrund stehen.
({5})
Frau Kollegin Eid, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Pinger?
Ja, wenn es nicht angerechnet wird.
Es wird nicht angerechnet.
Frau Kollegin Eid, Sie haben von einer Lächerlichkeit gesprochen. Sie wissen, daß der Entwicklungshaushalt im Vergleich zum Gesamthaushalt um drei Prozentpunkte mehr steigt. Das sind umgerechnet etwa 250 Millionen DM. Sind aus Ihrer Sicht 250 Millionen DM mehr eine Lächerlichkeit?
({0})
Herr Kollege Pinger, es ist mir klar, daß wir immer in Dialog treten, wenn ich hier vorne stehe und Sie in der ersten Reihe sitzen.
({0})
- Ja, so ist es.
Die Frage ist doch: Wie groß sind die Probleme in dieser Welt? Wir sprechen heute von einer Umweltzerstörung noch nie gekannten Ausmaßes, von Massenarmut und Hunger, von Fluchtbewegungen, von Naturkatastrophen, von internationaler Kriminalität, von diesen Problemen, die wir mit verursacht haben. Ich denke, da muß man nicht die Zahlen sehen, sondern die Größe der Probleme, die wir zum Ende dieses Jahrhunderts zu bewältigen haben. Im Vergleich dazu ist dies in der Tat eine Lächerlichkeit.
({1})
Frau Abgeordnete, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja. Noch ein Verehrer!
({0})
Bitte.
Liebe Frau Kollegin Eid, können Sie vor dem Hintergrund Ihrer Bemerkung, daß die Zahl von deutschen und europäischen Experten in Entwicklungsländern reduziert werden sollte oder diese möglicherweise ganz abgeschafft werden sollten, bestätigen, daß die deutsche Expertin Frau Dr. Ursula Eid in Eritrea hervorragende Arbeit geleistet hat?
({0})
Es ehrt mich, daß Sie das hier öffentlich so sagen. Aber ich habe keine Arbeit geleistet, die ich einem anderen weggenommen hätte. Vielmehr bestand meine Aufgabe genau darin, eritreische Fachkräfte, die nach einer Zeit des Exils aus Deutschland zurückgekehrt sind und in ihrem Heimatland eine neue Existenz gründen konnten, vor Ort zu beraten und ihnen die Möglichkeiten aufzuzeigen, die dank Ihres Hauses für sie dort bestehen.
Herr Staatssekretär, ich wünschte mir, daß der Titel für genau dieses Programm erhöht wird.
({0})
Wir mußten aber im letzten Jahr im Haushaltsausschuß dafür kämpfen, daß zusätzliche 500 000 DM für das Gehaltszuschußprogramm eingestellt wurden. Sie haben ja gute Titel im Haushalt.
({1}): Schlechter Minister, gute
Titel!)
Aber die Gelder sind falsch verteilt, die Prioritäten sind falsch gesetzt. Deswegen nehme ich von meiner eingangs genannten Forderung überhaupt nichts zurück.
({2})
Da der Kollege Hauchler schon auf die Probleme eingegangen ist, die sich durch das Kriterium Menschenrechte im Zusammenhang mit China, der Türkei und Indonesien ergeben, möchte ich, da ich nur noch eine Minute habe, zum Schluß kurz meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß ansprechen.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, reisen auch in den Süden. Das ist richtig, und das ist gut so. Sie reisen nach Afrika, Asien und Lateinamerika. In Südafrika sehen Sie in den Townships, wie die MenDr. Uschi Eid
schen leben, wie niedrig ihr Lebensstandard ist. Sie sehen in den Favelas, in den Slums in Lateinamerika, die Kinder, die nichts zu essen und kein Dach über dem Kopf haben. Sie reisen nach Bangladesch, wo die Menschen fliehen müssen, wenn es Naturkatastrophen gibt. Sie reisen in den Maghreb nach Nordafrika, wo die Menschen immer weiter wandern müssen, weil die Verwüstung fortschreitet und die Brunnen austrocknen. Sie kennen also diese Probleme, über die wir hier heute ganz theoretisch reden.
Ich appelliere an Sie ganz speziell: Wenn Sie über den Einzelplan 23 beraten, dann erinnern Sie sich an das, was Sie dort vor Ort gesehen haben, wenn Sie im Neuen Hochhaus nachts im Neonlicht tagen! Ich bitte inständig: Fleddern Sie diesen Einzelplan 23 nicht noch mehr; da ist nichts mehr zu kürzen!
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Kohn, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich heute drei Punkte vortragen, die aus der Sicht der F.D.P. in dieser Debatte wichtig sind.
Erster Punkt: Nachdem in den letzten Jahren, bedingt durch die Finanzierungsprobleme der deutschen Einheit, der Einzelplan 23 des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung immer weiter zurückgefahren wurde, haben wir in diesem Haushaltsentwurf zum erstenmal wieder ein Wachstum. Dies ist positiv, und ich halte überhaupt nichts davon, diese positive Entwicklung zu zerreden.
Daß allerdings nicht alle Blütenträume reifen können, ist ebenfalls klar. Ich will auch ganz deutlich sagen: Ich bekenne mich auch als Entwicklungspolitiker zu meiner Gesamtverantwortung für den Haushalt dieses Landes insgesamt. Es kann nicht so sein, daß einzelne Fachabgeordnete nur ihren eigenen Bereich im Auge haben, ohne die finanziellen, volkswirtschaftlichen und Verschuldungsprobleme des Gesamthaushalts und damit unseres gesamten Landes zu sehen.
Deswegen sage ich: Es ist richtig, daß uns diesmal eine Trendwende gelungen ist. Es wäre noch vieles zusätzlich wünschenswert. Aber diesem Hause ist die Aufgabe gestellt, dafür zu sorgen, daß diese Entwicklung vorangeht.
Lassen Sie mich allerdings deutlich sagen: Ich halte nichts davon, daß wir eine einzige Meßgröße gleichsam wie eine Monstranz vor uns hertragen, nämlich diese ODA-Quote, also den Anteil der Entwicklungshilfe, gemessen an der Wirtschaftskraft des Landes. Das ist eine Kennziffer. Sie soll ein Ziel anvisieren. Wir wollen, daß das vereinte Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird. Es kann aber nicht so sein, daß dies zum Maßstab der Beurteilung von Politik gemacht wird.
Denn wichtiger als die quantitative Betrachtungsweise ist die inhaltliche Betrachtungsweise, ob eine intelligente Politik gemacht wird. Dazu sage ich allerdings: Diese Regierung macht eine intelligente Entwicklungspolitik.
({0})
Herr Kollege Kohn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Kohn, natürlich ist das keine Monstranz. Sind Sie aber nicht mit mir der Meinung, daß die Entwicklung des Anteils eines ganz bestimmten Etatbereichs am Bruttosozialprodukt oder am Gesamthaushalt signifikant ist? Wenn also dieser Anteil, wie es geschehen ist, im Zeitablauf gewaltig fällt - von 0,48 % auf jetzt 0,31 % -, heißt das dann nicht, daß wir nicht mehr bereit sind, so viel vom Bruttosozialprodukt für diesen Politikbereich einzusetzen? Anders habe ich das nie verstanden. Ich habe das nicht als Monstranz, sondern als Trendzeichen angesehen. Würden Sie mir bestätigen, daß hier unser Engagement zurückgegangen ist?
Herr Kollege Hauchler, ich bestätige Ihnen, daß der Anteil der deutschen Entwicklungshilfe, gemessen am Bruttosozialprodukt, in der Vergangenheit zurückgegangen ist. Ich bestätige Ihnen auch, daß der Anteil des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt zurückgegangen ist. Dies war falsch, aber vor dem Hintergrund der Finanzierungsprobleme der deutschen Einheit erklärlich. Das mußte geändert werden. In dem neuen Haushaltsentwurf vollziehen wir endlich die Wende.
({0})
Damit, lieber Herr Kollege Hauchler, komme ich zum zweiten Punkt. Ich halte nichts davon, daß wir in dem von Ihnen beschriebenen Zusammenhang mit ausgestreckten Fingern ausschließlich auf die Bundesregierung zeigen. Wenn Sie der historischen Wahrheit die Ehre geben, werden Sie zugeben, daß der Etat für den Einzelplan 23 in der Vergangenheit bei den Haushaltsberatungen mit niedrigeren Ansätzen aus dem Bundestag herauskam, als von der Bundesregierung im Entwurf vorgesehen war. Damit sage ich: Es liegt in der Verantwortung dieses Hauses, der Abgeordneten in diesem Saal, in den Fachausschüssen dafür Sorge zu tragen, daß dies in der neuen Runde nicht wieder geschieht.
({1})
Dritter Punkt. Ich habe darauf hingewiesen, daß es noch wichtigere Betrachtungsweisen als die quantitativen gibt, nämlich die inhaltlichen. Nun kann ich dies in der mir zur Verfügung stehenden Redezeit nicht weit ausführen; ich will aber doch einige Stichworte nennen.
Erstens. Für uns Liberale stellt sich die Frage: Was machen wir mit dem Geld, das wir zuvor den Bürgern durch Steuern weggenommen haben? Setzen wir es effektiv, wirksam und wirkungsvoll ein? Meine Zweifel daran beruhen darauf, daß meines Erachtens im Bereich der Entwicklungspolitik zuviel Gelder für konsumtive Zwecke ausgegeben werden.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Niemand wird in Frage stellen, daß in Notsituationen geholfen werden muß. Das sage ich ausdrücklich. Wenn wir aber eine intelligente Entwicklungspolitik betreiben wollen, muß der Grundgedanke sein, daß wir die Strukturen aufbauen, damit in den Ländern der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, in unseren Partnerländern, auf Dauer die Rahmenbedingungen vorliegen, die einen sinnvollen Einsatz unserer Mittel und damit der Mittel der Steuerzahler ermöglichen. Deswegen sage ich: Entscheidend muß das Kriterium der Nachhaltigkeit sein. Darum müssen wir die Strukturen und Rahmenbedingungen verbessern.
({2})
Zweitens. Herr Kollege Hauchler, die sozialdemokratische Fraktion hat, vertreten durch Sie, vor wenigen Tagen einen Gesetzentwurf für die Organisierung dieses Bereiches vorgelegt. Wir werden das sehr sorgfältig diskutieren und beraten. Ich will dem nicht vorgreifen, kann Ihnen aber die Frage nicht ersparen, wie denn der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, mit der Aussage der Sozialdemokratischen Partei im Bundestagswahlkampf zusammenpaßt, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit abzuschaffen. Ich bekomme diese beiden Vorgänge nicht auf einen Nenner. Hier gibt es Erklärungsbedarf. Ich bin gespannt, was Sie im Ausschuß dazu sagen.
Drittens. Ich denke, daß wir in Zukunft einen wichtigen Schwerpunkt im Bereich Osteuropa, der neuen unabhängigen Staaten im Osten, setzen müssen. Hier ergibt sich nicht nur auf Grund der geographischen Nähe für uns eine besondere Verantwortung und Betroffenheit. Ich denke, daß bei den Beratungen hier noch ein Stück weit der Versuch gemacht werden muß, zugunsten dieser Länder umzusteuern.
Meine Damen und Herren, als der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit vor Jahr und Tag sein Amt antrat, ist er nicht überall mit großen Begeisterungsstürmen begrüßt worden. Ich muß heute in Form einer Zwischenbilanz sagen: Er macht seinen Job hervorragend. Deswegen freuen wir Liberale uns darauf, mit ihm und der Bundesregierung in diesem Sinne weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten - für die Menschen in dieser einen Welt, in der wir leben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jacob, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich soll heute das dritte Mal eine kurze Rede halten. Ich möchte aber auf eines aufmerksam machen, nachdem ich heute wiederum erlebt habe, wie Abgeordnete der PDS zum Teil behandelt werden, indem sie da sind und gleichzeitig sozusagen nicht da sind,
({0})
indem sie Fragen stellen und gleichzeitig auf ihre Fragen keine Antworten gegeben werden. Ich möchte nur darauf hinweisen: Dies wirkt zurück in die Wahlkreise.
({1})
- Ja, es ist so, Herr Kollege Feilcke. Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern, und 20,3 % waren mein schlechtestes Wahlergebnis im letzten Jahr. Mich fragt dieses Fünftel der Bevölkerung: Warum werdet ihr so behandelt?
({2})
Wenn mir ein Bonner Taxifahrer, der Rügen sehr gut kennt, sagt, ihr werdet das nächste Mal mit Stimmen überschüttet und gewählt werden, so daß ihr euch nicht wiedererkennt, dann frage ich mich, ob nicht das richtige Gefühl bei einzelnen in der Bevölkerung, aber auch hier, vorhanden ist, daß das so nicht geht. Nehmen Sie mich als Beispiel. Wenn Sie uns überzeugen wollen, dann müssen Sie besser argumentieren.
({3})
Wenn Sie das nicht mehr wollen, dann schreiben Sie ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung im Osten ab.
({4})
Ich möchte versuchen, dies im Zusammenhang mit dem Thema, das hier zur Debatte steht, darzustellen. Vielleicht behagt es Ihnen nicht, wie ich denke oder rede, aber setzen Sie sich damit auseinander, so daß Sie auch Menschen gewinnen und nicht nur ausgrenzen.
Jahrelange Versprechen der Bundesregierung und zentrale Forderungen der Nichtregierungsorganisation werden mit dem Planteil 23, dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, nicht erfüllt.
({5})
Das Verhältnis zu den Entwicklungsländern, wie es sich auch in anderen Planteilen widerspiegelt, sollten wir so nicht wünschen. Es widerspricht allen Erfahrungen von Mitarbeitern in Entwicklungsdiensten, die um Menschen und menschenwürdige Lebensbedingungen besorgt sind.
Erstens. Die öffentliche Entwicklungshilfe geht bis auf 0,33 % des Bruttosozialproduktes zurück. 0,7 % sind versprochen worden, zuletzt auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995.
Zweitens. Aus den ärmsten Ländern kommen Einnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden DM über Tilgungen und Schuldendienst.
Drittens. Wesentliche Ausgaben werden für infrastrukturelle Großprojekte getätigt, wie z.B. die U-Bahn in Shanghai, gegen alle Bitten, Vorschläge und Forderungen von erfahrenen Mitarbeitern und Experten.
Viertens. Förderungen sind an den Interessen der deutschen Wirtschaft ausgerichtet, indem deutsche Unternehmen z. B. in den Stand versetzt werden, einheimische Betriebe aufzukaufen.
Fünftens. Die Subsumierung der Förderung Osteuropas unter „Entwicklungshilfe" ist genau das, was Kenner seit 1989 befürchtet haben: die radikale Kürzung der Mittel für den Süden.
Die Folgen dieser Politik sind wachsende Arbeitslosigkeit auch in den Entwicklungsländern, Ausgrenzung von Millionen von Menschen und eine Zerstörung ihrer kulturellen Identität. Mehr und mehr Menschen begreifen, daß hier im eigenen Land und in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die gleichen ökonomischen Mechanismen wirken: Es entstehen Zonen des Wohlstands in den ökonomischen Zentren und Regionen der Unterentwicklung an den Peripherien. Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft stoßen Menschen in ein Nichts, wie wir es uns kaum vorstellen können. Es ist deshalb nur verständlich, wenn in einer solchen Situation auch konservative Menschen die Notbremse ziehen, weil sie Unterentwicklung und die Zerstörung von kulturellen Identitäten fürchten. Dafür zwei Beispiele:
Erstens. Der Bischof von Honduras und Präsident des lateinamerikanischen Bischofsrates fordert den Erlaß der lateinamerikanischen Auslandsschulden von heute 533 Milliarden Dollar. Einst wurden 96 Milliarden Dollar Kredite aufgenommen.
Zweitens. Der Primas von Polen, Kardinal Glemp, hat bei einem Treffen von 100 000 Jugendlichen in Tschenstochau
Herr Kollege, Ihre Zeit!
- die Republik Polen davor gewarnt, dem westeuropäischen Binnenmarkt beizutreten.
({0})
Wenn ich in meinen Wahlkreis nach MecklenburgVorpommern komme,
({1})
dann sagen mir Frauen in schöner Regelmäßigkeit,
Herr Kollege Jacob, Sie müssen zum Schluß kommen.
Gut.
Sie überziehen deutlich.
- wir sind der letzte Dreck in dieser Gesellschaft und in diesem Staat.
Meine Damen und Herren, weil der Trend dieses Haushalts und besonders des Einzelplans 23 in diese Richtung geht, nämlich daß Menschen nach innen und nach außen gefährdet werden, können wir diesem Einzelplan so nicht zustimmen.
Das muß jetzt Ihr letzter Satz gewesen sein, Herr Kollege Jacob. Sie haben über eine Minute überzogen.
Wir würden uns freuen, wenn eine radikale Neuorientierung der Entwicklungspolitik einsetzen würde.
Danke sehr.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael von Schmude, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei meiner letzten Haushaltsrede hatte ich Ihnen, Herr Minister Spranger, bessere Rahmenbedingungen für den Haushalt 1996 gewünscht.
({0})
Diese Rahmenbedingungen sind da. Daran können auch die notorischen Schwarzmaler und Miesmacher nichts ändern, die immer wieder erfolglos versuchen, ein Zerrbild der wirtschaftlichen Daten in der Öffentlichkeit darzustellen.
Die Bundesbank hat nicht gerade zufällig vor der letzten Haushaltsberatung den Diskontsatz gesenkt; sie hat es diesmal wieder getan und damit die Stabilitätspolitik dieser Bundesregierung honoriert. Es geht nun schon, wie ich meine, eine internationale Signalwirkung davon aus, wenn hier ein Haushalt zur Beratung ansteht, der diesmal in seiner Gesamtheit um 1,3 % abgesenkt wird und in dessen Rahmen gleichzeitig die Ausgaben für die Entwicklungshilfe um
1,7 % angehoben werden. Daß damit der Anteil des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt geringfügig ansteigt, ist ein positives Zeichen. Dennoch ist Euphorie hier nicht angebracht, schon deshalb nicht, um der unrealistischen Erwartungshaltung in vielen Ländern der Welt nicht weiteren Auftrieb zu geben.
Der Anstieg der Entwicklungshilfe im Regierungsentwurf 1996 um 134 Millionen DM zeigt aber sehr deutlich, daß Deutschland auch unter schwierigen Haushaltsbedingungen gewillt und in der Lage ist, einen größeren Beitrag zur Lösung der Probleme der Dritten Welt zu leisten.
Dies ist eine überzeugende Antwort nach fünf Jahren deutscher Einheit. Wir alle sind damals konfrontiert worden mit Fragen und Sorgen aus den Entwicklungsländern, wo man davon ausging, daß Deutschland tiefe Einschnitte bei der Entwicklungshilfe machen würde und machen müßte. Man ging weiter davon aus, daß wir, um die eigenen Probleme lösen zu können, große Summen aufwenden müßten und daß wir, um die Probleme des Ostens mit lösen zu helfen, ähnlich große Summen oder noch größere würden aufwenden müssen. Die Länder im Osten haben wir bedient, und wir haben gleichzeitig die Entwicklungsländer nicht fallengelassen.
({1})
Herr Kollege von Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hauchler.
Herr Kollege Schmude, können Sie meine Aussage bestätigen, daß die Mittel des Einzelplans 23 in der mittelfristigen Finanzplanung der Bundesregierung unter dem Wachstum des Gesamthaushaltes bleiben sollen und daß der Betrag, der für 1999 in dieser mittelfristigen Finanzplanung anvisiert ist, nicht über dem Ist von 1993 liegt?
Herr Dr. Hauchler, diese Zahlen tragen wir wie ein Trauma vor uns her, genau so wie die ODA-Quote.
({0})
Sie sind nicht aussagekräftig und auch nicht aussagefähig.
({1})
Deswegen können Sie das ruhig so oft, wie Sie wollen, wiederholen.
({2})
Nein, diese Planungen müssen in einem Zusammenhang gesehen werden mit den Lasten, die ich gerade eben angesprochen habe.
({3})
Ich werde dazu gleich noch etwas im Zusammenhang mit der ODA-Quote sagen.
({4})
- Ich habe Ihre Frage beantwortet.
({5})
Ich beantworte sie Ihnen gerne noch einmal: Diese Zielvorgaben können, genau wie die ODA-Quote, für uns nicht der alleinige Maßstab sein. Wir müssen Entwicklungshilfe neu definieren.
({6})
Wir müssen auch zu einer neuen Formel bei der ODA-Quote kommen. Wenn wir das nicht wollen und nicht gemeinsam angehen, dann werden wir nie vergleichbare Leistungen der großen Industrieländer gegenüber der Dritten Welt haben.
({7})
Ich sage hier ganz freimütig: Wir mußten einen großen Spagat machen, um unseren Aufgaben gerecht zu werden. Da sind von uns Kraftanstrengungen gefordert worden, die wir uns immer wieder in Zahlen vor Augen halten müssen: Wir sind unserer Rolle als großes Geberland in der Entwicklungshilfe gerecht geworden. Wir gehören weltweit zu den vier Ländern, die in der Entwicklungshilfe die größte Leistung aufbringen. Dennoch hat der Bund in den letzten Jahren für den Ost-West-Transfer 600 Milliarden DM aufgebracht. Wir haben allein an Rußland Hilfe in Höhe von etwa 100 Milliarden DM geleistet und für die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas weitere 46 Milliarden DM aufgebracht.
Es macht deshalb keinen Sinn, immer nur auf den Einzelplan 23 in seiner jetzigen Größenordnung und auf die Zielvorgaben hinzuweisen. Es macht auch keinen Sinn, immer wieder die ODA-Quote zu strapazieren, um zu beklagen: Wir müßten hier noch mehr tun.
({8})
Würden wir die ODA-Quote anders berechnen, kämen wir locker und leicht auf Größenordnungen von 0,5 % und mehr.
Wir sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Hilfe für die Dritte Welt und für die MOE-Staaten nicht kleinreden oder gar abqualifizieren. Das hat der deutsche Steuerzahler, der das nämlich bezahlt, nicht verdient. Das haben erst recht nicht die zigtausend Menschen, die in der Entwicklungshilfe tätig sind, verdient. Sie leisten eine hervorragende
Arbeit, insbesondere bei den NROs, in denen meist junge Menschen unter schwierigsten Bedingungen vor Ort ihre Arbeit in vorbildlicher Weise tun. Wir haben allen Grund, ihnen hier von Herzen zu danken.
({9})
Der politische Gestaltungsspielraum, der Gestaltungsspielraum für uns als deutsches Parlament ist beim Einzelplan 23 deshalb kleiner geworden - das beklage ich im Gegensatz zum Kollegen Hauchler -, weil der Anteil der multilateralen Hilfe steigt. Ich bedauere dies. Denn wer sich den Bericht des Europäischen Rechnungshofes zum EEF ansieht,
({10})
der wird sehr wohl das unterstreichen, was der Minister gesagt hat. Hier stellt sich schon die Frage, wie mit dem Geld besser umgegangen werden kann.
({11})
Wir haben als deutsches Parlament keine Kontrollmöglichkeit bezüglich der Mittelverwendung in Brüssel. Wir haben kaum Einfluß auf die Mittelvergabe. Wir werden uns die multilateralen Titel im Haushaltsausschuß diesmal sehr genau ansehen.
({12})
Wer den Bericht des Europäischen Rechnungshofes aufmerksam liest, der wird erschreckende Fehlleitungen von Geldern feststellen. Dieses Szenario kann uns so nicht befriedigen. Wir werden hier die Sonde anlegen müssen. Wir müssen uns überlegen, wie wir auf bessere Kontrollen im europäischen Bereich hinwirken können.
Herr Kollege Schmude, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dann bleibt mir nur noch, mich ganz herzlich bei Ihrem Haus, Herr Minister, für die guten Vorarbeiten für die Haushaltsberatungen 1996 zu bedanken.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Das Wort hat der Herr Bundesminister Manfred Kanther.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Wir haben ein großes Programm für die Innenpolitik der nächsten Jahre. Ich befasse mich mit zwei ganz herausragenden Aufgaben: Die erste ist die unermüdliche Verbesserung der Bedingungen für die innere Sicherheit, weil der Kampf gegen die Bedrohung von körperlicher Unversehrtheit, Eigentum und Freiheit der Bürger durch Straftaten im Vordergrund unserer
Anstrengungen stehen muß. Die zweite Aufgabe ist der entschlossene Einsatz bei Reformanstrengungen in der Verwaltungspolitik, im öffentlichen Dienst, in der Neustrukturierung von Verwaltungen, Stichwort: schlanker Staat.
Auf beiden Feldern wird die erfolgreiche Arbeit der vergangenen Legislaturperiode sowohl fortgeführt als auch um neue Elemente bereichert werden müssen. In den wenigen Monaten seit der Bundestagswahl sind die Grundlagen hierfür weitgehend geschaffen worden.
Zum Thema innere Sicherheit, innerer Frieden: Die Gefährdungslage bei der Bewahrung der inneren Sicherheit ändert sich leider ständig. Das ist die schwierige Grundbedingung unserer Arbeit. Neue Verbrechensformen, neue Gangstergruppen, immer professionellere technische und Managementmethoden in deren Hand wenden sich gegen Recht und Gesetz. Folglich darf auch das Handwerkszeug des Staates, der seine Sicherheitsbringschuld gegenüber den Bürgern erfüllen muß, nicht statisch sein, sondern bedarf immer wieder der Anpassung an die Lage.
Ich nenne Ihnen Beispiele, bei denen das geschehen muß: Die Geldwäscheproblematik ist mit dem Ziel der Aktualisierung des geltenden Rechts auf Grund in zwei Jahren gewonnener praktischer Erfahrungen aufzugreifen. Die Kronzeugenregelung muß verlängert werden. Sie ist erst vor zehn Monaten in Kraft getreten und konnte von Polizei und Justiz in dieser Zeit beim allerbesten Willen nicht auf den Prüfstand gestellt werden.
({0})
Die Bekämpfung der Korruption in allen Bereichen von Verwaltungs-, Straf- und Wirtschaftsrecht muß verstärkt werden. Das Abhören von Gangsterwohnungen muß ermöglicht werden, um neue Verbrechermilieus zeitgerecht zu treffen.
({1})
Ich begrüße die Bewegung, die in diese Themen gekommen ist. Wir sollten in Ruhe und ohne Aufgeregtheiten über die fachlich beste Lösung sprechen, aber nicht um alte Fixierungen streiten.
In mehrfacher Hinsicht ist das alles eine Gemeinschaftsaufgabe, die nur von Bund und Ländern gemeinsam - ohne engherzigen Partikularismus - gelöst werden kann, weil die Bedrohung der Sicherheit von immer weiteren Grenzziehungen, größerer Mobilität und schwierigeren Aufklärungssituationen geprägt ist und nicht mehr bevorzugt oder gar allein auf regionaler Basis bewältigt werden kann.
Die Gemeinschaftsaufgabe kann nur durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn und schrittweise darüber hinaus mittels Ingangsetzung von Europol und praxisorientierter Anwendung sowie ständiger Verbesserung des Schengener Vertragswerks mit seiner gewaltigen Aufgabe der Grenzsicherung gegen illegale, überwiegend verbrecherisch organisierte Wanderungsbewegungen gelöst werden.
Schließlich ist ein vernünftiges Miteinander von Regierung und Opposition notwendig, weil sich in unserem Lande mit seinen föderalen Strukturen in der Sicherheitspolitik die Grenzen nicht nach dieser billigen und einfachen Formel bestimmen lassen und die Bürger für Parteihickhack kein Verständnis aufbringen, wenn sie verletzt, beraubt oder von Extremisten bedroht werden.
({2})
Es zeigt sich, daß Sicherheitspolitik in unserer Zeit - unter grundlegend veränderten Bedingungen - einen integralen Ansatz braucht, der in viele Felder der Politik und der Gesellschaft hineinreicht, und keinen punktuellen, geradezu klassischen, der auf der Basis eines hundert Jahre alten Rechts beruht.
Dabei ist innere Sicherheit noch nicht alles. Innerer Frieden ist mehr. Er verlangt die Bekämpfung barbarischer Gewalt wie in Hannover, und zwar in einer anderen und verantwortungsbewußteren Form als dort geschehen,
({3})
ebenso wie von politisch getarntem Extremismus, gleichgültig, ob durch Deutsche oder Ausländer.
Hier stellt sich auch die europäische Gemeinschaftsaufgabe besonders klar. Es darf in Westeuropa keine durch nationale Grenzen getrennten Aktionsfelder einerseits und Ruheräume für Extremisten andererseits geben.
({4})
Besonders im Kampf gegen die gewalttätige PKK wird die Bundesregierung nicht nachlassen, alle Mittel des Rechtsstaats massiv einzusetzen, bis jedem klar ist, daß in unserem Land keine auswärtigen Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden dürfen.
({5})
Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, daß die Bundesländer an dieser Aufgabe mit gleicher Entschiedenheit und flächendeckend teilnehmen. Dabei kommt es nicht auf die Einschätzung des kurdischen Konflikts in der Türkei an, sondern es geht um die gemeinsame Abwehr von Verbrechen und Gewalttätigkeit, deren wechselnde politische Mäntelchen insoweit ohne Bedeutung sind.
({6})
Wo es um die Bewahrung des inneren Friedens geht, ist der Konsens, das bürgerschaftliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern von herausragender Bedeutung. Hier hat der Asylkompromiß seinen unentbehrlichen Platz. Wer ihn rechtlich oder tatsächlich in Frage stellt, muß schwerwiegende Folgen bedenken.
({7})
Friedliches und freundschaftliches Zusammenleben von Deutschen und Ausländern ist glücklicherweise jahrzehntelang in Deutschland eine Selbstverständlichkeit gewesen, war kurzzeitig von Irritationen begleitet und entwickelt sich jetzt wieder in guter Tradition. Aber das setzt voraus, daß die Probleme auf der Zeitschiene und quantitativ beherrschbar bleiben und nicht durch ungebremsten, beliebigen Zustrom zunehmen. Deutschland ist kein Einwanderungsland, und seine gesellschaftliche Zukunftsvorstellung wird nicht von der „multikulturellen Gesellschaft" geprägt,
({8})
die gerade in unseren Tagen an so vielen Stellen der Welt schreckliche Zeugnisse ihrer Spannungen ablegt.
Unser Weg ist das Integrationsangebot der deutschen Gesellschaft an Millionen Ausländer in einer weltoffenen Mitbürgergesellschaft.
({9})
In diesem Sinne wird die Bundesregierung auch die hier schon vorgetragenen Grundsätze für ein neues Staatsbürgerschaftsrecht einschließlich der Kinderstaatszugehörigkeit entsprechend der Koalitionsvereinbarung anpacken.
Wo immer man in diesem Feld des inneren Friedens und der inneren Sicherheit hinsieht, stoßen wir auf die Notwendigkeit, über eigene Grenzen hinwegzuschauen und uns der Probleme in Europa gemeinsam anzunehmen. Das ist etwas grundlegend Neues in der Entwicklung der letzten fünf Jahre, seit den großen Grenzöffnungen. Das ist auch noch nicht überall und gleichermaßen bewußt geworden. Das stößt auch auf unterschiedliche nationale Traditionen und Bedenken.
Das stellt Deutschland mit seinen föderativen Strukturen vor ganz eigene Herausforderungen, die nur mit Kreativität, Wachsamkeit und entschlossenem Handeln bei wechselnden Situationen bewältigt werden können. Es kann in der Sicherheitspolitik keine Patentrezepte geben, sondern nur sehr viele wirksame Ansätze. Das ist wirklich ein Feld, in dem die Politik dicke Bretter zu bohren hat.
({10})
Unter dem Arbeitstitel „schlanker Staat" wird von uns in einem anderen Bereich kein Modewort verstanden, sondern ein ernster und bedeutsamer Auftrag. Gleichermaßen verlangen die Ebbe in den öffentlichen Kassen, die Sicherung des wirtschaftlichen Standorts Deutschland und die Bewahrung bürgerschaftlicher Freiheitsräume ein Zupacken in vielen öffentlichen Bereichen: im Genehmigungs- und Verfahrensrecht, im Haushaltswesen und bei der Statistik; aufgerufen sind innerstaatliche und europäische Fragestellungen, traditionelle Strukturen ebenso wie besondere Anlässe, etwa der Berlin-Umzug.
Die Bundesregierung hat sich seit längerem an diese Herkules-Aufgabe herangemacht. Besonderen Fortschritt erwarten wir uns von der Kommission unter dem Vorsitz von Professor Scholz, in der die Fragestellungen und Antworten gebündelt werden sollen.
({11})
Weit voran sind wir in einem Sektor, der in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist: beim öffentlichen Dienstrecht, bei dem wir mit der Verstärkung des Leistungsgedankens, der Verbesserung von Mobilität und der Intensivierung von Führungskraft modernste Maßstäbe setzen wollen.
({12})
Jetzt im Ansatz und im nächsten Jahr auf der Basis eines noch zu erstellenden Versorgungsberichts wird uns die große Problematik der Versorgungslasten im öffentlichen Dienst, die nur ein Teilbereich der Versorgungslasten überhaupt ist, besonders beschäftigen. Ich weiß, daß das Herangehen an die Fragen des öffentlichen Dienstes und an viele Strukturen in den Verwaltungen gewaltig an die Besitzstände herangeht und mancherlei Widersprüche auslöst. Es ist immer ein Unterschied, ob man sich nur über Bürokratie beschwert oder ob man im einzelnen darangeht, sie zu mindern. Deshalb beabsichtigen wir auch nicht, meterdicke neue Gutachten zu fertigen und Verwaltungsbibliotheken damit zu füllen, sondern möglichst viele Einzelpunkte schnellstens in die Praxis umzusetzen.
({13})
Das kann bei dem verhältnismäßig kleinen Anteil, den die Bundesverwaltung an der Gesamtverwaltung hat, und auch bei dem im Verhältnis zu den Bediensteten der Länder und Kommunen sehr kleinen Anteil der Beschäftigten, die im Dienste des Bundes stehen, nur gelingen, wenn auch dieses Feld als eine Gemeinschaftsaufgabe aller staatlichen Ebenen begriffen wird und die angestaubten Fetische in der Besenkammer dem Vergessen überlassen werden.
Es berührt mich gar nicht, wenn es in diesem Zusammenhang Hakeleien gibt und sich aus allen möglichen Landesteilen die verehrten Kollegen Sozialdemokraten
({14})
- Kolleginnen sind dabei auf Zwischenruf besonders dankbar anzunehmen, „meerumschlungen" - mit neuen Programmen und Profilvorstellungen melden. In der Sache ist festzustellen, daß sie im wesentlichen das Konzept der Koalition, das auf meinen Eckpunkten beruhte, abgeschrieben haben.
({15})
Ich freue mich über diese Übereinstimmung, bis auf den Punkt, in dem, wie gesagt, die alten Fetische fröhliche Urständ feiern, nämlich die alte Streitfrage über die Abschaffung des Beamtenrechts, die bar jeglicher Vernunft ist und nur noch mit Reminiszenzen, aber nicht mehr mit Argumenten begründet werden kann.
({16})
- Das steht in dicken Papieren, die von vielen sozialdemokratischen Matadoren dieses Feldes vorgelegt werden. Der Abschaffungsgrad ist unterschiedlich, Herr Kollege. Da mögen am Ende vielleicht die Richter übrigbleiben. Den Problemen wird man auf diese Weise nicht gerecht.
Ich suche hier keinen Schlagabtausch. Wenn der Bund etwa 13 % aller öffentlichen Bediensteten stellt und die Länder, die Kommunen und die Sonderverwaltungen den großen Rest, dann ist selbstverständlich, daß man so etwas nur zusammen tun kann.
({17})
Das, was wir jetzt anpacken, stellt seit Jahrzehnten den größten Reformschritt im öffentlichen Dienstrecht dar. Darauf wird kein Patent ausgestellt; alle sind eingeladen, sich mit Vorschlägen in diesem Feld zu tummeln und das vorgelegte Werk dann zu einem hochbedeutsamen zu machen. Aber wir werden uns nicht von Dogmatismus oder Veränderungswut leiten lassen. Wir werden nicht Bewährtes über Bord werfen, nur um etwas Neues zu tun.
({18})
Die Strukturen der öffentlichen Verwaltung stehen allerdings rundum auf dem Prüfstand.
({19})
Sie müssen sich in der Bewältigung neuer Fragestellungen bewähren, die sich aus dem Wirtschaftsleben, der Öffnung von Grenzen, der Entwicklung der Kommunikationstechnik, aus gesellschaftlichen Veränderungen und aus dem Lebensgefühl der Zeit ergeben.
({20})
Dazu gehört nicht zuletzt, daß Haushalts-, Dienst- und Organisationsrecht zusammengreifen müssen, um die Stellenpläne und die Größe der öffentlichen Verwaltungen zu verringern. ({21})
Ich verstehe, Herr Kollege Fischer, Ihr Defizit an Zwischenrufen. Denn wenn Ihnen jemand sachlich begegnet, fällt Ihnen in aller Regel ohnehin nichts ein. Infolgedessen sind Sie bei diesem Thema natürlich etwas notleidend.
({22})
- Na ja, wir hatten gelegentlich das Vergnügen auch schon bei anderen Gelegenheiten.
Es ist nicht mein Ziel, die Innenpolitik in den Bereich des Schlagabtausches zu führen, sondern in den Bereich effizienter Lösungen, mit denen der Bürger etwas anfangen kann.
({23})
Zu diesen effizienten Lösungen gehört, daß wir die Stellenpläne und die Größe der öffentlichen Verwaltungen verringern müssen. Das ist eine vordringliche Aufgabe. Das ist nicht nur ein Gebot der finanzwirtschaftlichen Vernunft, sondern auch eine besondere Chance für antibürokratischen Erfolg.
({24})
Ich erinnere - nicht vorwurfsvoll - an die Vollmundigkeiten, die wir noch vor zwei, drei Jahren in diesem Zusammenhang von Ihnen, verehrte Kollegen, gehört haben, wenn es darum ging, den öffentlichen Dienst als Arbeitsmarktreservoir zur Aufnahme zusätzlicher Stellen zu verstehen.
({25})
Heute ist völlig unumstritten, daß Bund, Länder, Kommunen und alle Verwaltungen im Interesse der Finanzen und der Effizienz an die Verringerung der Stellenpläne herangehen müssen - eine der schwierigsten Aufgaben, die überhaupt angepackt werden können, weil sie auf die erbittertste Verteidigung von Besitzständen stößt.
Der Haushaltsentwurf für 1996 folgt in der Innenpolitik diesen Leitsätzen. Sein besonderer Schwerpunkt liegt im Bereich der inneren Sicherheit mit einem hohen Wachstum, was angesichts der geringen Verteilungsspielräume, die wir derzeit nutzen können, schwergefallen ist. Aber mit der Einsparung von Personal, neuen Formen seiner Umsetzung und der Fortbildung von Mitarbeitern in Schwerpunktbereichen sowie ersten Schritten zu einem leichtgängigeren Haushaltsrecht gehen wir den richtigen Weg. Er wird zielsicher, entschlossen und schnell weitergegangen werden. Alle sind eingeladen, sich dem im Interesse der Sache anzuschließen.
Danke sehr.
({26})
Das Wort hat der Kollege Schily, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! In einer haushaltspolitischen Debatte ist es eine Selbstverständlichkeit, daß wir Kritik an Kritikwürdigem üben und daß wir mit Lob, wo es Lobenswertes gibt, nicht zurückhalten.
({0})
Deshalb beginne ich bewußt mit einem Kompliment an den Bundesinnenminister. Mit der Berufung von Herrn Geiger zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz haben Sie eine ausgezeichnete
Personalentscheidung getroffen, zu der wir Sie beglückwünschen.
({1})
Das ist keine Nebensächlichkeit; denn angesichts der zunehmenden Bedrohung unserer verfassungsmäßigen Ordnung durch gewalttätige Gruppen und terroristische Aktivitäten unter den verschiedensten Vorzeichen hat sich die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz seit dem Ende des Kalten Krieges zwar verändert, aber an Bedeutung eher noch zugenommen.
Der Schutz unserer Verfassung, unserer verfassungsmäßigen Institutionen, ist zugleich unsere gemeinsame Aufgabe. Sie, Herr Kanther, haben als Innenminister dafür eine besondere Verantwortung. Deshalb, Herr Bundesinnenminister, muß ich Sie noch einmal auf ein Vorkommnis ansprechen, das in dieser Debatte bereits mehrfach erwähnt wurde.
Wir sind uns sicherlich alle darin einig, daß Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht sakrosankt sind und daß abweichende Meinungen zu einer verfassungsrechtlichen Streitfrage innerhalb und außerhalb des Bundesverfassungsgerichts erlaubt sind. Wenn aber, wie es in diesem Sommer geschehen ist, einige Politiker über das Bundesverfassungsgericht herfallen wie eine Meute beißwütiger Hunde, dann ist das ein Angriff auf die Verfassung selbst, den wir nicht hinnehmen können.
({2})
Sie, Herr Kanther, als einer der Verfassungsminister hätten sich in dieser Situation zu Wort melden und vor das Bundesverfassungsgericht stellen müssen. Ihr Schweigen war ein schweres Versäumnis.
({3})
Ich verhehle dabei nicht, daß ich den Streit um das Kruzifix im Klassenzimmer in der Sache selbst nicht für so wichtig halte. Zwar ist es zu begrüßen, daß das Bundesverfassungsgericht das Erziehungswesen von staatlichen Zwängen freihalten will. Auf der anderen Seite - ich denke, das sollte unsere gemeinsame Überzeugung sein - sind christliche Symbole ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Kultur. Keine Schülerin und kein Schüler wird in seiner freien Entwicklung beeinträchtigt, wenn ein Schulzimmer mit christlichen Symbolen ausgeschmückt ist.
({4})
Denjenigen aber, die sich so unendlich aufregen und schon das christliche Abendland in Gefahr sehen, sei gesagt, daß wohl ein beträchtliches Maß an Heuchelei im Spiel ist. Das christliche Gewissen hätte sich besser dadurch bewiesen, wenn Sie auch nur einen Bruchteil Ihres Eifers, den Sie in die PoleOtto Schily
mik gegen das Kruzifixurteil investiert haben, für eine konstruktive Debatte zu dem Kirchenpapier über die soziale Frage in Deutschland genutzt hätten.
({5})
Ich warne im übrigen davor, eine manchem unliebsame Verfassungsgerichtsentscheidung zum Anlaß zu nehmen, an dem Verfahren der inneren Willensbildung des Bundesverfassungsgerichts herumzudoktern. Wer eine Zweidrittelmehrheit für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts fordert, verlangt damit eine Schwächung des Bundesverfassungsgerichts, wie Ernst Benda zu Recht kritisiert. Dazu werden wir uns niemals bereit finden.
({6})
Etwas anderes ist das Verfahren bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter, das korrigiert werden muß. Ich hoffe, daß darüber ein ernsthaftes Gespräch zwischen den Fraktionen in Gang kommt. Ich begrüße es sehr, daß Herr Kollege Eylmann dazu sehr beachtliche Ausführungen gemacht hat. Dabei geht es um die Stärkung der Legitimation des Bundesverfassungsgerichts und nicht um dessen Neutralisierung.
Wir müssen aber auch insgesamt auf eine Stärkung der Legitimation staatlicher Institutionen bedacht sein. Das ist ein Thema, das die Fraktionen dieses Hauses in unterschiedlicher Intensität unter dem Stichwort „Modernisierung der Verwaltung" beschäftigt. Meine Redezeit ist zu kurz, um in allen Einzelheiten darzulegen, wie nach unserer Auffassung die Modernisierung der Verwaltung vonstatten gehen kann. Ich muß mich auf einige grundsätzliche Bemerkungen beschränken.
Wir haben aber hoffentlich bald Gelegenheit, die entsprechenden Fragen in einer eigenständigen Debatte auf der Grundlage des von uns eingebrachten Antrages näher zu behandeln.
({7})
- Das ist vielleicht Ihr Verständnis von Demokratie, Herr Kollege, aber ich finde, wir sollten die Plenardebatte nicht vollkommen verkommen lassen und alles in die Ausschußsitzungen verbannen. - Die Bedeutung dieses Reformprojektes kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wer behauptet, die Modernisierung der Wirtschaft habe absoluten Vorrang und er könne die Modernisierung der Verwaltung vernachlässigen, täuscht sich gewaltig. Eine effiziente, leistungsstarke, bürgernahe Verwaltung gehört zu den wichtigsten Standortfaktoren. Sie ist für das Gedeihen der Wirtschaft unverzichtbar.
Ich darf dazu aus einem jüngst veröffentlichten Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zitieren. Es heißt dort:
Eine Politik, die den Rotstift vor allem an den öffentlichen Investitionen ansetzt, wird langfristig
kaum erfolgreich sein können, da öffentliche Investitionen in die Infrastruktur Voraussetzung für private Investitionen sind.
- Auch das ist ein Urteil gegenüber dem Haushalt, den wir hier diskutieren. Auch eine Politik, die sich darauf konzentriert, die sozialen Leistungen für Problemgruppen - Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger - zu kürzen, verursacht langfristig mehr Schaden denn Nutzen.
Es heißt weiter:
Mehr Erfolg versprechen dürfte eine grundlegende Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, die darauf zielt, Flexibilität und Spielräume von Verwaltungshandeln zu verbreitern, bürokratische Hemmnisse abzubauen, Kosten- wie Verantwortungsbewußtsein zu schärfen, die Produktivität zu erhöhen und mehr Bürgernähe zu schaffen.
Diese Erkenntnisse sollte sich die Bundesregierung hinter die Ohren schreiben. Sie sollte vor allen Dingen bei sich selbst anfangen.
({8})
An Konzepten für eine Reform der öffentlichen Verwaltung fehlt es wahrlich nicht. Die Diskussion währt ja nun schon über einige Jahrzehnte.
({9})
Aber es fehlt an dem Willen der Bundesregierung, die meines Wissens schon über zwölf Jahre im Amt ist,
({10})
diese Konzepte umzusetzen. Mit ein paar Korrekturen und Schönheitsreparaturen ist es nicht getan, erst recht nicht mit der Verlautbarung von allerlei guten Vorsätzen.
Vor allem sollten Sie, Herr Bundesinnenminister, eine gute Gelegenheit, die so schnell nicht wiederkommt, nicht verpassen: Das ist der Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin. Wir wissen aus unseren privaten Erfahrungen: Ein Umzug ist immer eine gute Gelegenheit, altes Gerümpel loszuwerden.
({11})
Nun haben wir nicht die Möglichkeit, die Regierung zu wechseln oder Minister auszutauschen, aber Sie sollten diesen Umzug zur Modernisierung der Bundesverwaltung nutzen.
Wir haben Ihnen dazu in unserem Antrag „Modernisierung der öffentlichen Verwaltung" konkrete Vorschläge unterbreitet. Der Umzug bietet die Möglichkeit zu einer umfassenden Reform der Ministerialverwaltung u. a. durch Verkleinerung der Ministerien, durch ihre Reorganisation, durch Einführung
neuer Steuerungsinstrumente und durch Verselbständigung ausgegliederter Bereiche.
({12})
Ich möchte ausdrücklich auf ein von Professor Jann erstattetes Gutachten, das die Friedrich-Ebert-Stiftung Ende vergangenen Jahres veröffentlicht hat, verweisen. Professor Jann hat ein Konzept entwikkelt, das mit unseren Vorstellungen weitgehend übereinstimmt und das ich Ihnen wirklich zur Lektüre empfehlen möchte.
Ein solches Reformkonzept wäre, wenn es realisiert würde, mit beachtlichen finanziellen, sozialen und organisatorischen Vorteilen verbunden und läge genau in der Zielrichtung, die wir anstreben, nämlich eine modernisierte Verwaltung zu schaffen, die weniger kostet und mehr leistet.
Bisher haben Sie auf dem Gebiet der Modernisierung der Verwaltung nicht viel zuwege gebracht. Auch heute habe ich nicht mehr aus Ihrer Rede entnehmen können, Herr Kanther. Man muß auch kritisieren, daß Sie meinen, mit irgendeiner globalen Kürzung von Beschäftigtenzahlen weiterzukommen. Sie sollten sich vielleicht an einigen Artikeln orientieren, die erkennen lassen, daß Diätpillen zur Abmagerung auch nicht immer zur Gesundheit führen.
Die Einsetzung einer Kommission, Herr Kanther, wird auch kaum weiterhelfen, nicht zuletzt deshalb, weil Sie so wichtige Organisationen wie beispielsweise die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr und Verbraucherverbände nicht beteiligen. Das Reformprojekt „Modernisierung der öffentlichen Verwaltung" hat jedoch nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es mit den Beschäftigten im öffentlichen Dienst und nicht gegen sie vorangetrieben wird.
({13})
Gerade die großartigen Erfolge, die sozialdemokratisch regierte Kommunen bei der Modernisierung der Verwaltungen zu verzeichnen haben - ich nenne als Beispiele die Städte Saarbrücken und Heidelberg und den Main-Kinzig-Landkreis -, sind der Tatsache zu verdanken, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Anfang an in den Reformprozeß einbezogen worden sind. Das hat die Leistungsbereitschaft und Motivation in ungeahntem Maße gefördert und zu höchst erstaunlichen Kostensenkungen und Leistungsverbesserungen geführt. Der Reformwille und der Ideenreichtum unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ist ungeheuer groß. Wenn wir diese Potentiale mobilisieren, können wir sicherlich auch die Widerstände gegen eine Reform der öffentlichen Verwaltung, die es hier und da auch gibt, überwinden.
Wenn wir über die Reform der öffentlichen Verwaltung reden, müssen wir leider noch auf einen Umstand eingehen, der der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen den Zugang zu den richtigen Erkenntnissen erheblich erschwert.
({14})
- Ja, ich kann es Ihnen sagen. Sie brauchen nicht so überrascht zu sein. Ich glaube, es wird Sie auch nicht so überraschen, Frau Kollegin.
Sie sind bedauerlicherweise - das trifft Sie besonders - in dem ideologischen Vorurteil befangen, daß in der Regel ein privatwirtschaftlicher Eigentümer dem staatlichen Entscheidungsträger oder jedenfalls die Organisationsprivatisierung vorzuziehen sei.
({15})
Diese dogmatische Fixierung auf Privatisierung ist gefährlich und verkennt, daß im Wettbewerb eine moderne staatliche Verwaltung oft sehr viel effizienter arbeitet als ein Privatunternehmen. Bekanntlich eignet sich auch nicht jede staatliche Aufgabe dafür, dem marktwirtschaftlichen Kalkül eines Privatunternehmens unterworfen zu werden.
({16})
Wir werden daher sehr sorgfältig zu unterscheiden haben, was der bessere Weg ist: Privatisierung oder Reorganisation der staatlichen Verwaltung. Außerdem lege ich großen Wert auf die Feststellung - da kämen wir vielleicht doch wieder zueinander -,
({17})
daß es eine falsche Alternative ist, wenn behauptet wird, es gäbe nur die Wahl zwischen einem staatlichen und einem privatwirtschaftlichen Entscheidungsträger. Es gibt auch noch etwas Drittes: die freie Trägerschaft, die aus einem freien Impuls gesamtgesellschaftliche Aufgaben wahrnimmt, z. B. durch Stiftungen und gemeinnützige Institutionen. Auch das sollten wir nicht aus dem Auge verlieren.
Ich will in der Kürze der Zeit noch ein weiteres Thema ansprechen. Im Zentrum der Innenpolitik steht die Wahrung des inneren Friedens. Wenn Sie dort den Konsens suchen, Herr Kanther, dann bin ich mit Ihnen einverstanden. Das umfaßt die entschiedene Verbrechensbekämpfung durch Repression und Prävention. Das erfordert aber auch, daß wir der Fremdenfeindlichkeit und anderen Spaltungstendenzen in der Gesellschaft entschlossen entgegenwirken. Ein wichtiges Instrument, den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft zu festigen, wäre ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht, das wir hiermit nochmals anmahnen.
({18})
Von diesem sind wir, wie auch aus Kreisen der F.D.P. zugegeben wird, leider noch sehr, sehr weit entfernt. Da helfen auch nicht kleine Korrekturen, die sie jüngst verkündet haben.
Wenn die F.D.P. in der Bundesregierung noch irgend etwas zu sagen hat, sollte sie sich darum kümmern, daß die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts bald auf den Weg gebracht wird. Leider hat sich wohl bisher nichts an der beklagenswerten Tatsache geändert, daß sich in vielen Fragen Innen- und Justizministerium wechselseitig blockieren.
Was die Kriminalitätsbekämpfung angeht, werden wir ebenfalls an anderer Stelle über bestimmte Streitfragen zu sprechen haben. Ich will an dieser Stelle nur anmerken, daß wir einem offenen Meinungsaustausch darüber, ob es nicht an der Zeit ist, die bundespolizeiliche Komponente effizienter zu gestalten, nicht ausweichen dürfen.
Es freut mich, daß der Bundesinnenminister einer Pressemeldung aus dem Vormonat zufolge inzwischen auch die Bedeutung einer dezentralen Kriminalitätsbekämpfung und vor allem der Prävention erkannt hat. Ob allerdings der Appell von Herrn Kanther, die Eltern sollten ihren Kindern wieder mehr Fleiß, Pünktlichkeit, Arbeitsliebe, Ehrlichkeit und Höflichkeit sowie den Unterschied zwischen Recht und Unrecht beibringen, und die Kinder müßten auch Autoritäten wie ihre Eltern anerkennen, besonders hilfreich sein kann, ist zu bezweifeln.
({19})
- Das mag sein.
In einer Zeit, in der unsere Kinder tagtäglich von einer Bilderwelt überschwemmt werden, in der alle nur erdenklichen Abscheulichkeiten und Brutalitäten zur Steigerung von Einschaltquoten zur Schau gestellt werden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sich in den Gedanken und Gefühlen der Kinder diese Bilder einnisten und an anderer Stelle ihr Handeln beeinflussen. Da müssen wir ansetzen, meine Damen und Herren.
({20})
Ein anderes Beispiel: Wenn wir es über Jahrzehnte hingenommen haben, daß Bestechung steuerlich auch noch belohnt wird, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Kinder es mit der Ehrlichkeit nicht so genau nehmen.
({21})
Wenn steuerliche Ungerechtigkeiten nur halbherzig und zögernd und auf Druck des Bundesverfassungsgerichts korrigiert werden, darf es uns nicht erstaunen, daß die Kinder uns auf Ermahnungen antworten, die Politik sollte sich zuallererst an die eigene Nase fassen und selbst an die traditionellen Werte erinnern und sie beherzigen.
({22})
Wer den Unterschied zwischen Recht und Unrecht nicht einebnen will, der muß sich der unhaltbaren Zustände in der Abschiebehaft annehmen und darf das nicht als Angriff auf den Asylkompromiß abzuwehren versuchen.
({23})
Ist es nicht nur hohles Pathos, wenn die Erziehung zur Arbeitsliebe gefordert wird, aber Jugendliche in großer Anzahl keinen Ausbildungsplatz, geschweige denn einen Arbeitsplatz finden?
Und Autorität der Eltern? Sie kann man nicht einfordern, Herr Kanther.
({24})
- Ich rede über eine Äußerung von Herrn Kanther. - Sie kann man nur durch Einsicht gewinnen. Verbrechensvorbeugung durch Erziehung: Gewiß, das ist ein gemeinsames Anliegen. Das heißt dann aber auch, der Erziehung den Rang zu geben, den sie verdient.
Auch das gehört in den Bereich der Modernisierung der Verwaltung: Es muß einen freiheitlichen Ansatz im Schulwesen geben. Das ist eine Auffassung, die in vielen Ländern der Bundesrepublik an Boden gewinnt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen bemerkenswerten Leitartikel unter dem Titel „Erziehung ohne Erzieher", den die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" in dieser Woche veröffentlichte, aufmerksam machen. Konrad Adam verweist darin zu Recht darauf, daß mit dem Verzicht auf die personale Dimension die Erziehung nicht irgend etwas Beiläufiges einbüßt, sondern gewissermaßen ihre Seele damit verliert.
({25})
Meine Damen und Herren, aus dem europäischen Denken sind uns von Platon über Aristoteles bis zu Thomas von Aquin die vier klassischen Kardinaltugenden überliefert,
({26})
die da heißen: Klugheit - Prudentia -, Gerechtigkeit
- Justitia -, Tapferkeit - Fortitudo - und die Kraft, das rechte Maß einzuhalten - Temperantia.
({27})
- Ich dachte, Sie hätten einmal Strauß kennengelernt. Dann hätten Sie diese Zwischenbemerkung nicht gemacht, Herr Marschewski.
({28})
Ob und in welchem Ausmaß diese vier Kardinaltugenden bei der Bundesregierung anzutreffen sind, will ich nicht weiter vertiefen. Aber es wäre doch den Versuch wert, Herr Kanther, wenn Sie sich wenigstens bei der Modernisierung der Verwaltung diesen vier Kardinaltugenden annähern könnten.
Und ich muß auf die Zeit aufmerksam machen, Herr Kollege Schily.
Wenn Sie klug sein wollen, machen Sie sich unsere Vorschläge zur Modernisierung
der Verwaltung zu eigen. Wenn es gerecht zugehen soll, beziehen Sie die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in das Reformvorhaben ein. Wenn Sie tapfer sein und Ihre Ängstlichkeit abstreifen wollen, versuchen Sie, sich beim Bundeskanzler Gehör zu verschaffen. Wenn Ihnen das gelingt, werden wir wie stets die vierte Kardinaltugend beibehalten und in unserer Kritik das rechte Maß einhalten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Schlauch, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sonne brachte es an den Tag: Auf 15 Seiten hat der Herr Innenminister im Sommer sein Credo zur inneren Sicherheit vorgelegt, das er heute eigentlich nur sehr wolkig umschrieben hat. Die Lektüre dieses Papiers ließ alle Anhänger einer streitbaren Demokratie und eines liberalen Rechtsstaats trotz hochsommerlicher Hitze nachhaltig frösteln. Sie dokumentieren, was Sie unter innerer Sicherheit verstehen, nämlich einen weiteren Abbau von Bürgerrechten und Rechtsstaatlichkeit, so wie er mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz in der letzten Legislaturperiode mit Unterstützung der SPD und der F.D.P. eingeleitet wurde und offensichtlich jetzt von der Regierung Stück um Stück fortgesetzt werden soll.
Erfrischend anders sind da die Töne des neuen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der die Ansicht vertritt, in einer pluralistischen Gesellschaft könne sich auch ein Geheimdienst einer gewissen Offenheit nicht entziehen.
({0})
- Das hört sich gut an, und ich stimme ihm auch zu, wenngleich ich weitergehen würde. Der Schutz der Verfassung - das vertreten wir Grünen schon seit langem - ist besser bei den Bürgern, in der Öffentlichkeit und im öffentlichen demokratischen Diskurs als unter Schlapphüten und hinter hohen Mauern aufgehoben.
({1})
80 % ihrer Informationen sammeln die Verfassungsschützer, wie wir wissen, ohnehin aus öffentlichen Quellen, und es ist zu lesen, daß sie sich in Rheinland-Pfalz in Sachen Rechtsextremismus direkt bei den Grünen informieren.
Sie, Herr Kanther, präsentieren uns in Ihrem Beitrag zum Sommerloch einmal mehr die ganze Palette der Ladenhüter eines Obrigkeitsstaates. Wie sonst könnten Sie entgegen allem Sachverstand und aller Erfahrung der letzten Jahre bei der Drogenbekämplung mit einer Verschärfung von Strafvorschriften argumentieren, nachdem Sie erfahren haben, daß die Verschärfung des Strafrechts bei Drogen nicht den Drogenkonsum einschränkt und nicht das Drogenangebot vermindert, sondern ausweitet.
({2})
Beim Demonstrationsrecht, das Sie verschärfen wollen, geht es Ihnen nicht um die Sache, sondern um eine Demonstration gegen das Verfassungsgericht, mit dem Sie dokumentieren wollen, daß das Urteil bezüglich der Sitzblockaden für Sie offensichtlich nicht akzeptabel ist.
Auch der Lauschangriff darf in Ihrem Sicherheitsbauchladen natürlich nicht fehlen. Warten wir einmal ab, wie das liberale Outsourcing, die Befragung und Belauschung der Basis, ausgeht und wie es mit diesem Thema weitergeht.
({3})
Der Korruptionsbekämpfung will der Innenminister sich endlich annehmen. Jahrelang haben Sie Vorschläge, die Absetzbarkeit von Schmiergeldern zu streichen, ignoriert. Unter dem Druck der Ereignisse soll nun wenigstens im Inland von diesem aberwitzigen Tatbestand abgewichen werden, wobei mir die Logik, daß die Schmiergelder im Ausland weiterhin absetzbar sein sollen, überhaupt nicht eingängig ist.
Was mich in diesem Zusammenhang stört, Herr Kanther, ist der fremdenfeindliche Unterton, mit dem Sie dieses ernste Thema behandeln. Ich zitiere: Es seien „vor allem mafiose Banden" - darunter geht es bei Ihnen gar nicht: mafiose Banden, Gangsterwohnungen usw. - „aus Südeuropa, Südamerika und Staaten des früheren Ostblocks", die angeblich „den Staat durch Korruption unterwandern".
({4})
- Die Tatsachen sprechen eine ganz andere Sprache, Herr Kollege. Bei Siemens in München, der Opel-Affäre in Rüsselsheim, der Gebühreneinzugszentrale waren, glaube ich, Deutsche in den mittleren und oberen Etagen dieser Unternehmen beteiligt.
({5})
Gleichgültig, ob Telekom-Mitarbeiter am Telefonsex verdient haben oder Frankfurter und Berliner Bauunternehmer Beamte bestochen haben - von Ausländern findet sich für meine Begriffe in diesem Bereich keine Spur, soweit ich es übersehe. Herr Kanther, Sie bewegen sich da auf dünnem Eis und sollten dies in Zukunft etwas vorsichtiger behandeln.
Um der Korruption im öffentlichen Dienst etwas entgegenzusetzen, bedarf es nicht Ihres phantasielosen Dauervorschlags der Kronzeugenregelung, sondern Sie müssen Transparenz und strukturelle Vorkehrungen in der Verwaltung schaffen. Die Instrumente sind bekannt: öffentliche Ausschreibung, inRezzo Schlauch
terne Betriebsprüfung, Stärkung der Rechnungshöfe, der Prüfungsämter, Rotation der Mitarbeiter im Beschaffungswesen, Ausschluß der Firmen, die bestochen haben, von öffentlichen Ausschreibungen etc.
({6})
- Dafür ist der Herr Innenminister auch zuständig, Herr Marschewski. Wenn er meint, daß er die Korruption mit der Kronzeugenregelung in den Griff bekommt, dann ist er jedenfalls falsch gewickelt.
({7})
Herr Kollege Marschewski, wie man erfolgreich organisierte Wirtschaftskriminalität aufklärt, haben die Grünen in Nordrhein-Westfalen vorgeführt,
({8})
als sie durch Hartnäckigkeit den Fall Balsam aus den Mühlen einer verschlafenen Justiz- und Steuerverwaltung an den Tag gezogen haben.
({9})
Ein starkes Gemeinwesen, Herr Kanther, braucht eine starke Position der Bürgerinnen und Bürger, eine starke Mitwirkungs- und Rechtsposition gegenüber dem Staat und nicht umgekehrt.
In der Strafprozeßordnung - das hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen gerade erst ins Stammbuch geschrieben - ist das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bis heute, zwölf Jahre nach diesem Urteil, nicht umgesetzt.
In einem anderen Bereich haben der Innenminister und die Politik der Koalition aus unserer Sicht noch offenkundiger versagt.
({10})
Schauen wir ins politische Bayern - da werden Sie mir möglicherweise recht geben -: Dort wüten die politischen Repräsentanten der CSU in unerträglicher Weise gegen ein Urteil des Verfassungsgerichts, in dem es um ein christliches Symbol geht. Wenn es aber um die Umsetzung zutiefst christlicher Werte geht, dann stoßen wir auf totale Fehlanzeige.
({11})
Dieselben politischen Repräsentanten, die sich alle als praktizierende Christen bekennen und dies wie eine Monstranz vor sich hertragen, haben offensichtlich gar kein Problem damit, Brüder und Schwestern ihres Glaubens, nämlich die syrischen Christen, die wegen ihrer Religion von Türken und Kurden verfolgt werden, gnadenlos abzuschieben.
({12})
Das ist Heuchelei pur. Obwohl wir in der ganzen Bundesrepublik höchstrichterliche Rechtsprechung haben, daß die syrischen Christen verfolgt sind, handelt man so, wie gerade dargestellt, und streitet sich dann über ein Urteil des Verfassungsgerichts.
Wir bleiben in Bayern. Ich zitiere:
Ich habe nicht damit gerechnet, daß die Maschinerie so eiskalt läuft, wie ich es jetzt erlebt habe.
So urteilt ein früherer bayerischer Justizminister der CSU jetzt aus Anwaltssicht über die Abschiebepraxis in der Bundesrepublik.
Wir Abgeordneten und die Anwälte in den Kanzleien sind täglich mit Dutzenden von Einzelschicksalen konfrontiert: Bürgerkriegsflüchtlinge werden teilweise nach Kroatien, nach Bosnien, nach Serbien zurückgeschickt, obwohl sie verschiedener ethnischer Herkunft sind und sich dem Waffendienst entzogen haben.
({13})
Ich kann nur sagen: Was sich da an Einzelschicksalen summiert, das ist aus unserer Sicht nicht zu tolerieren. Der Innenminister brüstet sich damit, diese Menschen zurückzuschaffen, statt ein Bleiberecht zu schaffen,
({14})
statt zu ermöglichen, daß die geschundenen Bürgerkriegsflüchtlinge und Deserteure hierbleiben können und nicht in einen Zustand von Ungewißheit und Verfolgung zurückkehren müssen.
Nicht genug damit: Der Bundesinnenminister rügt auch das Bundesverfassungsgericht, es möge den so mühsam ausgehandelten Asylkompromiß nicht gefährden. Die Verfassungskonformität, Herr Innenminister, wird nicht am Grad der Mühe des Aushandelns gemessen.
Herr Innenminister und leider auch meine Damen und Herren Kollegen von der SPD: Ihr Asylkompromiß steht vor dem moralischen Aus und wahrscheinlich auch vor dem rechtlichen Aus. Das werden wir in den nächsten Monaten erwarten.
({15})
Ich hoffe, daß das Bundesverfassungsgericht dem politischen Druck, der auch ein Stück weit im Kalkül aufgebaut worden ist, widersteht und in dieser Frage unabhängig vom politischen Kalkül entscheidet.
Der Bundeskanzler führt neuerdings Gespräche mit den Bürgerrechtlerinnen aus der ehemaligen DDR.
({16})
Mal sehen, ob etwas dabei herauskommt. Ich denke, er sollte auch mit dem Innenminister reden, denn der Innenminister hat im Sommer auch gesagt: „Das Boot ist voll. Wir nehmen keine Flüchtlinge mehr aus
Bosnien auf." Eine solche Position ist beschämend, auch für den Standort Deutschland, dessen allererste Verpflichtung der Humanität und Achtung der Menschenwürde gelten sollte.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Albowitz, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den vielfachen Begehrlichkeiten von Behörden, Institutionen und auch Bürgern an die öffentlichen Kassen steht die Verpflichtung des Gesetzgebers zu strikter Sparsamkeit gegenüber. Es liegt auf der Hand, daß in dieser Konstellation reichlich Konfliktstoff liegt.
Im Vergleich zum Haushaltsjahr 1995 ist der Entwurf für den Einzelplan des Bundesministers des Innern leicht angestiegen. Ein direkter Vergleich fällt schwer, weil der Etat durch die Umsetzung des Haushalts der zivilen Verteidigung die Daten verändert.
Dramatisch ist allerdings nach einer ersten Bewertung des Haushalts des Innenministeriums, daß die Personalausgaben des Bundes und des Bundesministers des Innern im besonderen eine Quote von 42,9 % ausmachen. Die öffentliche Hand gab 1994/ 1995 rund 260 Milliarden DM für Personalkosten aus. Wenn wir dazu noch an Versorgungsleistungen und Pensionszahlungen denken, ist dringender Handlungsbedarf geboten. Insoweit sind die Koalitionsfraktionen und der Bundesminister des Innern aufgefordert, die Verschlankung des bürokratischen Systems zu einem Hauptthema zu machen. Wir laden die Opposition gerne dazu ein, Herr Schily, sich daran zu beteiligen.
({0})
Das öffentliche Dienstrecht muß reformiert werden und zu einem effizienten und effektiven Zweig einer modernen Dienstleistungsgesellschaft weiterentwikkelt werden. Wir wollen einen von alten Zöpfen befreiten, zukunftsfähigen, modernen Staat, und wir sagen jedem den Kampf an, der versucht, nach dem alten bayerischen Grundsatz zu handeln: Es muß etwas geschehen, aber es darf nichts passieren.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon angesprochen, daß gerade der Haushalt des Innenministeriums immer das Ziel vielfacher Begehrlichkeiten aller Seiten ist. Mehr als viele andere Politikbereiche muß die Innenpolitik schwierige gesellschaftliche Probleme bewältigen, und sie muß den Wünschen und Sorgen der Bürger Rechnung tragen. Das Grundbedürfnis nach Freiheit in Sicherheit, nach Geborgenheit in Kultur und nach Entfaltungsmöglichkeiten in der demokratischen Bürgergesellschaft muß politisch gestaltet und auch finanziert werden.
Aber nicht zuletzt bietet die Innenpolitik in jedem Jahr erneut die Chance, das Staatsverständnis der Regierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen zu dokumentieren und zu manifestieren.
Die innere Sicherheit, heute offensichtlich eines der Hauptthemen in dieser Debatte, ist ein besonders wichtiger Bereich. Gerade dort zeigt sich das Demokratieverständnis eines Staates. Nur wenn sich der Bürger darauf verlassen kann, daß seine individuellen Freiheitsrechte vom Staate geschützt und von den Mitmenschen auch geachtet werden, kann er sich frei entfalten.
({2})
Der innere Frieden wird nach liberaler Auffassung aber gerade dadurch gesichert, daß das richtige Maß zwischen der Achtung der Freiheit des einzelnen und der Bekämpfung der ihn bedrohenden Kriminalität gewahrt wird. Für uns Liberale gibt es daran nichts zu rütteln.
({3})
Ich betone diese Grundforderung noch einmal ganz besonders, weil gerade in letzter Zeit so unerträglich oft vom Ende des politischen Liberalismus schwadroniert wurde. Diese Versuche werden fehlschlagen, meine Damen und Herren, denn gerade in Fragen der inneren Sicherheit werden die echten Liberalen - Liberale sind offensichtlich immer alle ein bißchen - dringend gegen konservatives Staatsdenken, sozialistische Bevormundung oder grüne Heilslehren gebraucht.
({4})
- Das paßt schon dazu. Das vertiefe ich gleich noch, Herr Kollege. Es ist ja auch gut, daß wir unterschiedliche Ansätze haben. Daran zeigt sich die Vielfalt dieser Koalition.
Der Haushaltsansatz zeigt das Bemühen der Bundesregierung, angesichts knapper Haushaltsvorgaben Kräfte zu bündeln, Aufgaben zusammenzufassen und einzelbehördliche Effektivität zu steigern, um das richtige Maß zwischen Freiheit und Kriminalitätsbekämpfung zu finden.
Für das BKA wird ein Mehrbedarf gegenüber 1995 in Höhe von knapp 56 Millionen DM eingesetzt. Der größte Teil entfällt auf die Erhöhung der Personalkosten zur Bekämpfung von Rauschgiftkriminalität und organisierter Kriminalität sowie auf Tarif- und Besoldungserhöhungen.
Aber auch die verstärkten Bemühungen, den politischen Extremismus, den Nuklearterrorismus bzw. internationale Bandenkriminalität zu bekämpfen, erfordern eine angemessene Reaktion des Gesetzgebers. Hierauf entfällt ein erheblicher Teil der neuen Planstellen.
Ähnliches gilt für den Bundesgrenzschutz, für den ein Mehrbedarf in Höhe von rund 204 Millionen DM gegenüber 1995 vorgesehen ist. Der Grenzschutz hat
durch Übertragung der Aufgaben von Bahnpolizei und Luftsicherheit sowie die Schwerpunktsetzungen im grenzpolizeilichen Bereich tiefgreifende Änderungen erfahren und erfährt sie weiterhin.
Insbesondere besteht das Erfordernis der größtmöglichen Flexibilität und Mobilität als Reaktion auf hochmobile, grenzüberschreitende Kriminalität. Der BGS hat gerade nach dem Wegfall der inneneuropäischen Grenzen erheblich an Bedeutung gewonnen. Die deutschen Außengrenzen und Flughäfen sind leider immer noch ein beliebter Tummelplatz für Rauschgifthändler, Schlepperbanden und Menschenhändler, und ich befürchte, daß die Aufgaben eher noch größer werden.
Die Polizei des Bundes muß mit einer nahezu unveränderten Stellenplanung eine immer größer werdende Zahl von Aufgaben wahrnehmen. Ich habe schon die warnenden Hinweise vor einer personellen und aufgabenmäßigen Überforderung im Ohr. Wir sollten sie ernst nehmen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, letztes Wochenende konnte man der Presse entnehmen, daß Sie, Herr Bundesminister, die Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts endlich in Angriff nehmen wollen. Wir haben immer wieder die Erfüllung der Koalitionsvereinbarungen beim Staatsbürgerschaftsrecht angemahnt. Ihr Vorschlag, Ausländern schon nach zehn Jahren die Einbürgerung zu ermöglichen, geht in die richtige Richtung. Wir warten deshalb sehr interessiert auf Ihre konkreten Vorschläge.
Dasselbe gilt auch für Johannes Gersters Einlassungen zur Kinderstaatszugehörigkeit. Uns - ich mache überhaupt kein Hehl daraus - ist dieser Vorschlag sympathischer als die Vereinbarung der Koalition, zumal alle Fachleute inzwischen große Schwierigkeiten mit dieser Regelung voraussagen.
({5})
Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, unsere Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen, hat mehrfach auf diese Probleme hingewiesen.
Die Integration von ausländischen Mitbürgern, Herr Innenminister, ist keine Gefälligkeitspolitik, sondern sie dient dem inneren Frieden in diesem Land und betrifft deutsche und nichtdeutsche Mitbürger.
({6})
Unser Staatsbürgerschaftsrecht ist nicht mehr zeitgemäß. Deshalb fordert meine Fraktion den Bundesinnenminister mit Nachdruck zum Handeln auf.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die klassische Kulturförderung sind für 1996 rund 700 Millionen DM etatisiert. Davon sollen 60 Institutionen Zuwendungen erhalten. Damit hat die institutionelle Förderung einen Anteil von rund 90 %. Dieser Anteil ist uns zu hoch.
Eine effektive Kulturpolitik hängt auch davon ab, daß statt Institutionen verstärkt Projekte gefördert werden. Dies gibt auf der einen Seite dem Staat die Möglichkeit relativ spontaner Schwerpunktsetzungen, andererseits ermöglicht es größere Flexibilität auf der Seite der Kulturschaffenden. Daran müssen wir arbeiten.
({8})
Rund 330 Millionen DM des Kulturhaushaltes fließen in die neuen Länder und in die östlichen Stadtbezirke von Berlin. Insgesamt erhält Berlin rund 325 Millionen DM. Dazu kommen noch die Mittel in Höhe von rund 60 Millionen DM für die Kulturförderung im Rahmen des Hauptstadtvertrages.
Auch im Jahre 1996 wird das Leuchtturmprogramm Ost mit 20 Millionen DM gefördert. Hierdurch kann das Fortbestehen einiger herausragender Einrichtungen gesichert werden.
Flankiert wird dies von einem Zuwachs der Förderung im Bereich der Gedenkstätten, wo nunmehr auf rund 42 Millionen DM aufgestockt werden soll.
Meine Damen und Herren, die Kulturförderung des Bundes hat grundlegende Bedeutung für die Akzeptanz der Demokratie in der Bevölkerung. Vor dem Hintergrund, daß der Finanzierungsrahmen durch die Plafondierung eine gewisse Sicherheit bis 1999 gibt, wird der Gesetzgeber auch dieser Aufgabe gerecht. Allerdings ist meine Fraktion der Meinung, daß gerade bei der Kulturförderung viel Raum sein muß für private Initiativen, für Mäzenatentum im positiven Sinne und für Kultursponsoring.
({9})
In diesem Zusammenhang möchte ich den Bundesminister des Innern noch einmal eindringlich an einen Punkt der Koalitionsvereinbarung erinnern: Wir brauchen dringend die Novellierung des Stiftungsrechts,
(Beifall des Abg. Ulrich Irmer ({10})
um die Rahmenbedingungen für die Aktivierung privaten Engagements zu verbessern.
({11})
Meine Damen und Herren, zum Stichwort Sportförderung. Wer in den letzten Wochen die Berichterstattung über die Leichtathletik- und Schwimmeuropameisterschaften verfolgt hat, konnte fast verzweifeln, weniger über die Leistungen unserer Sportler, die übrigens allesamt keine Maschinen sind - daran möchte ich deutlich erinnern -, deren Leistungen aber offensichtlich nur noch nach dem Stand des Medaillenspiegels gewertet werden, als über das Verhalten diverser Funktionäre.
Ich fand es schon unglaublich, wie einige dieser Herren, die immerhin auf Staatskosten reisen, und zwar von dem Geld, das wir ihnen zur Verfügung stellen, ihren Sportlern in den Rücken gefallen sind. Hier müssen wir, glaube ich, mit den Verantwortlichen ein dringendes Gespräch führen, Herr Minister.
Für die im nächsten Jahr stattfindenden Olympischen Spiele wird zugunsten des Nationalen Olympischen Komitees im Haushalt eine zusätzliche Summe von 9,5 Millionen DM eingestellt. Unter der Voraussetzung, daß dies den Sportlern und nicht den Funktionären zugute kommt, halte ich das Geld für gut angelegt. Im übrigen rate ich für den Medaillenspiegel in Atlanta zu etwas mehr Gelassenheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine wichtige Vorgabe der Koalitionsvereinbarung für die 13. Wahlperiode ist die Neukonzeption der zivilen Verteidigung. Ziel der Neustrukturierung waren die Straffung und Konzentration aller Zivilschutzeinrichtungen des Bundes durch Integration des Zivilschutzes in den gewachsenen Katastrophenschutz von Ländern und Kommunen.
Vor dem Hintergrund der Verbesserung der sicherheitspolitischen Lage in Europa ist eine Verringerung der bisherigen Vorkehrungen möglich. Dennoch bleibt die Ausstattung der zivilen Verteidigung als Teil eines einheitlichen staatlichen Vorsorge- und Gefahrenabwehrsystems weiterhin wichtig.
Wir haben gemeinsam mit den Ländern und Kommunen den gesamten Zivil- und Katastrophenschutz zu einem modernen und effektiven Verbundsystem ausgebaut. Dafür danke ich ausdrücklich Ihnen, Herr Minister, und Ihren Mitarbeitern.
Das THW wurde modernisiert und wird für 1996 in das Modellprogramm der flexiblen Budgetierung überführt.
({12})
Mit der Neukonzeptionierung der zivilen Verteidigung wurden auch die Zeichen der Zeit erkannt, der erste Schritt zu einem modernen Recht, Herr Kollege Schily. Die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen wurde reformiert, ohne daß sich der Bund seinen Finanzierungspflichten entzogen hat. Die Finanzierung von Fahrzeugen, die Ausstattung und die Ausbildung für Zivilschutzzwecke im Katastrophenschutz, die Ermöglichung einer gebündelten Ausbildung und eine effektive Anpassung der Personalstruktur an die neuen Institutionen werden weiterhin vom Bund gewährleistet.
Diese erfolgreiche Neuorganisation bestärkt meine Fraktion nachdrücklich in ihrer Forderung nach einem weiteren Bürokratieabbau und der Überprüfung von Aufgaben des Bundes.
({13})
Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bundesministers des Innern zeigt die Notwendigkeit, dringende Reformen aktiv anzugehen und eine klarere und effektivere Staatsorganisation einzuleiten. Der Staat braucht eine Schlankheitskur. Die Zeit für aufgeblasene Personalhaushalte, Füllhornpolitik bei öffentlichen Aufträgen und Reitturniere für Steckenpferde aller Art ist angesichts leerer Kassen und der Kosten der deutschen Einheit vorbei.
Solange aber die F.D.P. als die auf die Vernunft des Bürgers vertrauende politische Partei an der Bundesregierung beteiligt ist - das wird sie beim Zustand der SPD noch außerordentlich lange sein -, wird der Bürger eine Politik erleben, die vom Verantwortungsgefühl gesteuert ist.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Jelpke, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Ich bin nicht sicher, ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben" - so Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Bergen-Belsen.
Er fuhr fort - ich zitiere -: „Immerhin stehen wir an einer Schwelle von größter Bedeutung. Die Generation der Zeitzeugen geht zu Ende ... Was wir jetzt brauchen, ist eine Form des Gedenkens, die zuverlässig in die Zukunft wirkt ... Vor allem geht es darum, eine dauerhafte Form" des Erinnerns zu finden. Dem hat unsere Generation „alles, alles unterzuordnen, was in diesem Zusammenhang gedacht und geplant wird"
Wenn wir nun heute diesen Haushaltsplan diskutieren, den die Bundesregierung vorgelegt hat, dann erkennen wir, welche Art und Weise des Gedenkens an den deutschen Faschismus sie sich vorstellt. Es geht hier um den Punkt der zentralen Gedenkstätten. Um 12 % sollen die Ausgaben für die Trägerstiftung der Gedenkstätten in Sachsenhausen, Brandenburg und Ravensbrück gekürzt werden. „ Weitreichende Umstrukturierungen" - sprich Entlassungen - stehen bereits in den Haushaltskürzungen im Personalplan. Zwölf Angestellte haben bereits ihren Arbeitsplatz verloren. Bei weiteren 24 wurde der Lohn gekürzt.
Aber auch die ehemaligen KZ-Gebäude werden in Mitleidenschaft gezogen: die „Revierbaracke", die „Station Z" - also die Hinrichtungsstätte und das Krematorium - wie auch die Museumsanlagen in Sachsenhausen verrotten.
In dem ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück werden die Kommandatur mit ihrer Sammlung von Archivunterlagen, wie auch das dortige Mahnmal dem Verfall preisgegeben.
Sämtliche Restaurierungsarbeiten sind in den Gedenkstätten eingestellt worden. Die im Haushaltsentwurf veranschlagten 2,7 Millionen DM reichen gerade einmal für den Wiederaufbau der von den Neonazis niedergebrannten jüdischen Baracke. Hier zeigt sich die ganze Scheinheiligkeit der Bundesregierung: Beim Wiederaufbau der jüdischen Baracke, auf dem die Augen der Weltöffentlichkeit ruhen, wird so getan, als bemühe man sich um deren Erhalt.
Die übrigen, eh schon kümmerlichen Gebäudereste dieser faschistischen Gewaltstätten drumherum lassen Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, systematisch verfallen.
Benötigt wird nicht nur eine langfristig gesicherte Finanzplanung zugunsten der Gedenkstätten, also die Zusage über die mittelfristig benötigten 36 Millionen DM, dringend erforderlich ist auch die verbindliche Zusage seitens der Bundesregierung, sich unbefristet, d. h. über das Jahr 2003 hinaus, an der Finanzierung der KZ-Gedenkstätten zu beteiligen.
Die Überreste des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen drohen zu zerfallen, - so der Vorsitzende der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten, Professor Dittberner. Und er berichtet davon, daß sich ehemalige Häftlinge dieser deutschen Konzentrationslager getäuscht fühlen und argwöhnten, daß „die Bundesrepublik das Kapitel Nationalsozialismus mit den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung abgeschlossen" habe.
Während die brandenburgischen KZ-Gedenkstätten 1996 mit 8,8 Millionen DM auskommen sollen, sind für den Bundesverband der Vertriebenen - ich weiß, Sie werden gleich wieder schreien - im Haushaltsentwurf wieder 3,7 Millionen DM veranschlagt. Hierzu zählen noch 20,1 Millionen DM zur Förderung von Projekten der Vertriebenenverbände.
Mit zuletzt 700 000 DM finanzierte die Bundesregierung unter anderem das „Ostpreußenblatt" , die Zeitung der Landsmannschaft Ostpreußen. Darin konnte die Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden in Auschwitz öffentlich in Zweifel gezogen werden.
Funktionäre des Witikobundes, der nationalen Gesinnungsgemeinschaft in der Sudetendeutschen Landsmannschaft, können sich z. B. im „ WitikoBrief " unverhohlen antisemitisch äußern. Dort wurden Personen, die sich für eine deutsch-jüdische Aussöhnung einsetzten, als „Trittbrettfahrer im zeitgenössischen Holocaust-Expreß" bezeichnet. Der stellvertretende Bundesvorsitzende des „Witikobundes" kann das Massaker der SS in Lidice als „völkerrechtlich übliche Sache" und die Politik der tschechischen Regierung als „Raubsicherungspolitik" ungerügt titulieren.
Ungeachtet dieser revanchistischen und antisemitischen Äußerungen führender Funktionäre können die Vertriebenenverbände auch dieses Jahr wieder damit rechnen, von der Bundesregierung augenzwinkernd Millionenbeträge zugeschoben zu bekommen.
({0})
Das Bundesinnenministerium müht sich nach Kräften, meine parlamentarische Aufklärungsarbeit in dieser Angelegenheit zu behindern. Unzählige kleine Anfragen meines Büros und rechtsextremistische und antisemitische Umtriebe in den Vertriebenenverbänden werden mit nichtssagenden, oftmals zynischen und praktisch in jedem Fall mit verharmlosenden Bemerkungen beantwortet. Da wundert es mich praktisch nicht mehr, daß die Haushaltsmittel beispielsweise für die Aufklärungskampagne gegen Fremdenfeindlichkeit in diesem Jahr im Vergleich zum letzten um 740 000 DM gekürzt werden und für die Jahre nach 1996 gar nicht mehr auftauchen.
Zum Schluß komme ich zu einem weiteren dunklen Kapitel im vorliegenden Haushaltsentwurf - das ist hier schon angesprochen worden -, der Flüchtlingspolitik. Da tobt praktisch vor unserer Haustür ein blutiger Bürgerkrieg. Warum öffnet die Bundesregierung nicht bereitwillig die bundesdeutschen Grenzen und bietet den betroffenen Menschen Zuflucht? Herr Kohl hat im Sommer gesagt, das Boot sei nicht voll. Wir haben heute von Außenminister Kinkel wieder hören können, daß diese Menschen bei uns Zuflucht finden könnten. Ich frage mich, in welcher Weise Innenminister Kanther diese Politik praktisch umsetzt. Die jetzigen Einsätze der Blauhelm-Soldaten und der Tornados kosten allein in diesem Jahr 350 Millionen DM an Haushaltsmitteln.
Zudem soll die „Festung Europa" durch zusätzliche Grenzmaßnahmen weiter ausgebaut werden. Ich nenne nur ein paar Beispiele. Für nicht weniger als 35 Millionen DM werden sogenannte Wärmebildkameras angeschafft. Über 1 400 Unterstützungskräfte des BGS sind an den Grenzen zu Polen und der Tschechischen Republik im Einsatz, die entsprechend dem Haushaltsentwurf nunmehr in ordentliche Planstellen überführt werden sollen. Die Ausgaben beim Erwerb für BGS-Schiffe sollen verdreifacht werden. Nicht weniger als 15 Millionen DM sollen für die sogenannte Rückführung mittelloser Ausländer ausgegeben werden.
Doch nicht nur, daß sich dieses Deutschland gegenüber Flüchtlingen einmauert. Hier lebende Ausländerinnen und Ausländer müssen künftig damit rechnen, ohne Ausnahme aus der Bundesrepublik hinausgeschmissen zu werden.
({1})
Das trifft nicht nur die Vietnamesinnen und Vietnamesen.
Es ist ganz offensichtlich, daß die Bundesregierung bzw. Herr Kanther besonders gerne mit Regierungen von Ländern verhandeln, in denen Bürgerkrieg herrscht. Ich will nur an die Türkei und an Algerien erinnern.
Seit Anfang dieser Woche werden auf Grund eines entsprechenden Rückführungsabkommens auch kroatische Flüchtlinge in ihr vom Bürgerkrieg geschütteltes Land zurückgeschickt. Und man ist sich in Bonn nicht zu schade, selbst mit der Regierung in Rest-Jugoslawien über die Rücknahme von mehreren zehntausend Flüchtlingen zu verhandeln.
Ich glaube, es überrascht Sie nicht, daß wir diesem Haushalt auf keinen Fall zustimmen werden.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Eylmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Herr Schily einen Vorschlag von mir angesprochen hat, darf ich dazu einige Bemerkungen machen.
Im Gesetz ist jetzt schon vorgesehen, daß das Bundesverfassungsgericht bei bestimmten Entscheidungen mit einem Quorum von 6 : 2 entscheiden muß, z. B. beim Verbot einer Partei oder bei der Amtsenthebung eines Richters. Ich bleibe dabei, daß ernsthaft zu überlegen ist, dieses Quorum auch dann einzuführen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Norm für verfassungswidrig und damit für nichtig erklären will. Dagegen werden zwei Einwendungen erhoben.
Der eine Einwand beinhaltet kein Sachargument. Da wird gesagt: Das fordern immer diejenigen, die verloren haben, und beim nächsten Mal freuen sie sich über eine 5 : 3-Entscheidung. Dieser Vorwurf trifft mich nicht. Ich habe diesen Vorschlag schon vor dem letzten Urteil gemacht. Ich habe mich auch noch nie über eine 5 : 3-Entscheidung gefreut, weil ich nämlich meine, daß alle diese Entscheidungen ihre Schwächen hatten und nicht zum Rechtsfrieden beigetragen haben.
Der zweite Einwand ist der von Herrn Schily. Man sagt: Dann werden dem Bundesverfassungsgericht die Zähne gezogen; es wird entmachtet.
Ein Blick auf die Rechtswirklichkeit ist nützlich. Meine Mitarbeiter haben einmal an Hand der amtlichen Entscheidungssammlung die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der letzten zehn Jahre gezählt. Es waren, wenn sie richtig gezählt haben, 494, davon drei 5 : 3-Entscheidungen. Also werden 99 % der Entscheidungen mit 6 : 2, mit 7 :1 oder mit 8 : 0 gefällt. Und es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die 3 : 5-Entscheidungen eine große Zahl darstellen.
({0})
- Ja, es geht ja jetzt gerade um diese wenigen Entscheidungen, die ihre Schwächen haben.
Im übrigen ist ein anderes Thema - das will ich gerne einräumen - noch wichtiger. Wir müssen hier und mit dem Bundesverfassungsgericht darüber reden, daß es seine Kontrollfunktion nicht verläßt und sich nicht zu einer oligarchisch konstruierten dritten
Kammer für besonders heikle Gesetzgebungsvorhaben entwickelt.
({1})
- Daß wir daran zum Teil selbst schuld sind, ist durchaus richtig. Ich will darauf verweisen, was Herr Böckenförde in seinem Minderheitenvotum zum Einheitswert-Urteil gesagt hat.
Im übrigen, als Schluß: Natürlich gehört zur Wahrung des Ansehens des Bundesverfassungsgerichts, an dem uns allen gelegen sein muß, auch, daß wir nicht zum Boykott einer Entscheidung aufrufen. Diejenigen, die sich jetzt sehr vollmundig dazu geäußert haben, wären allerdings überzeugender gewesen, wenn sie es nach dem Urteil zu § 218 das mit derselben Verve getan hätten;
({2})
denn auch damals hat es Äußerungen gegeben, die die Grenze der Geschmacklosigkeit weit überschritten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Däubler-Gmelin.
Meine Damen und Herren! Wenn wir jetzt über das Bundesverfassungsgericht reden, muß das, zu dem, was Sie sagten, Herr Kollege Eylmann, um einige Argumente ergänzt werden.
Ich denke schon, daß es vernünftig ist, sich dann, wenn man sich über den Inhalt eines Urteils ärgert, möglichst wenig über Verfahren zu streiten. Ich bin deswegen ganz dankbar, daß wir noch später Zeit haben, das zu tun.
Interessant ist in der Tat, was Sie zu den Zahlen sagten. Einen wirklichen Grund zur Beanstandung geben die jetzigen Abstimmungsergebnisse - 5:3 oder 6: 2 - nicht. Das zeigen die Zahlen, die Sie vorgetragen haben. Wenn Sie die Zahlen näher anschauen, werden Sie auch sehen, daß das weitere Probleme mit sich bringt. 5 : 3- oder 6: 2-Entscheidungen können nicht danach beurteilt werden, ob Grund für die Entscheidung ein Normenkontrollverfahren war.
({0})
Maßstab kann also nicht sein, ob z. B. eine Minderheit des Bundestages nach Karlsruhe gegangen ist, um ein Gesetz, das sie politisch nicht verhindern konnte, jetzt zu Fall zu bringen. In genau gleicher
Weise trifft das auf Entscheidungen zu Verfassungsbeschwerden zu.
({1})
- Das ist der Gedanke, auf den ich Sie gern hinweisen möchte, - wenn es mir gelingt, Sie, Herr von Stetten, auch.
Der Wert des Bundesverfassungsgerichts liegt nämlich ohne Zweifel nicht nur darin, den Bundestag, d. h. die jeweilige Mehrheit, an die Einhaltung der Verfassung zu binden. Es nimmt also zum einen eine unglaublich wichtige Kontrollfunktion wahr. Die mag uns das eine oder andere Mal nicht passen. Sie wissen, auch mir paßt das eine oder andere nicht, wenn auch vielleicht nicht immer das, was anderen hier im Haus nicht paßt; aber so ist das Leben.
Daneben liegt seine Bedeutung auch darin, daß das Bundesverfassungsgericht die letzte, wichtigste Instanz, der letzte Rettungsanker für Bürger ist, wenn Grundrechtsverletzungen der staatlichen Gewalt zu besorgen sind.
({2})
Eine Begrenzung auf 6 : 2-Entscheidungen - drei Viertel aller Richter müßten dann zustimmen - würde die Kontrolle in diesem Bereich ganz entscheidend eingrenzen.
({3})
Dies wäre nicht abgrenzbar zu dem, was Sie sagen. Das ist der Grund, weshalb ich Sie, Herr Eylmann, nachzudenken bitte.
Danke schön.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe einen Fehler gemacht. Ich kann zwar mehrere Kurzinterventionen zulassen, aber nicht eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention. Vielmehr muß sich die Kurzintervention auf den Redner beziehen.
Nun habe ich den Fehler gemacht, und bei der Koalition meldet sich noch jemand. - Sie verzichten?
({0})
- So ist es. Beim nächstenmal werde ich darauf achten. Ich bedanke mich für diese Nachsicht.
Wir fahren jetzt fort in der Debatte. Das Wort hat der Kollege Dr. Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Budget des Innenministeriums und auch mit dem Budget des Justizministeriums beraten wir zwei Haushalte, die für die Prägung des inneren Zustandes und der rechtsstaatlichen Sicherheit unseres Landes entscheidend sind. Ebenso wie der gesamte Bundeshaushalt sind auch diese beiden Einzelhaushalte von den notwendigen Einsparungen bekanntlich nicht verschont geblieben. Dabei handelt es sich um Einsparungen, die zur Konsolidierung der Bundesfinanzen, zur Eindämmung der Staatsverschuldung und damit insgesamt zur Senkung der Staatsquote unabdingbar sind. Wir stehen also auch hier vor einer Politik der knappen Kassen. Das ist aber zugleich - wie immer bei notwendigen Beschränkungen - eine Chance für eine Besinnung auf das Wesentliche und das wirklich Wichtige der Innen- und Rechtspolitik aus der Sicht unserer Bürger.
Unser Gemeinwesen hat sich, wie inzwischen nahezu jeder Bürger spürt, vielfältig und buchstäblich übernommen. Wir haben lange Zeit - im Zeichen unseres großen wirtschaftlichen Erfolgs, des großen Wohlstands, den wir uns über Jahrzehnte erwirtschaftet hatten - auch in dem Bewußtsein gelebt, daß der Staat, staatliche Zuständigkeiten, Verteilungsstaatlichkeit und staatliche Transferpolitik nahezu grenzenlos möglich sind. Jedermann weiß heute aber, daß das nicht der Fall ist, daß wir buchstäblich an die Grenzen des Machbaren, namentlich an die des Finanzierbaren gestoßen sind. Deshalb ist heute Besinnung angesagt.
In diesem Sinne birgt das Datum der so knapp gewordenen Staatshaushalte auch eine besondere Chance zur Wiederbesinnung, zur Erneuerung und zur Reform unseres Gemeinwesens überall dort, wo es notwendig geworden ist. Die auch in vorangegangenen Beiträgen schon deutlich gewordenen Reformen in diesem Sinne heißen vor allem Notwendigkeit und Bekenntnis zum schlankeren Staat.
Der Bundesinnenminister hat bereits darauf hingewiesen, daß wir auf Beschluß der Bundesregierung in den kommenden Tagen den Sachverständigenrat „Schlanker Staat" konstituieren werden. Mitglieder dieses Sachverständigenrates sind angesehene Persönlichkeiten aus der Wissenschaft, den Bundesländern, den Kommunen, der Wirtschaft, auch den Gewerkschaften, Herr Schily, den Parteien und der Bundesregierung. Die Einsetzung des Sachverständigenrates ist Teil der Initiativen der Koalition, um staatliches Handeln im normativen, administrativen und gerichtlichen Bereich auf das notwendige Maß zu beschränken.
Aber darüber hinaus - Herr Schily, das entgegen Ihrer Kritik an der Bundesregierung - hat die Koalition in diesem Jahr bereits eine ganze Reihe von Initiativen ergriffen, um Überreglementierungen und Überbürokratisierungen zu bekämpfen. So wurden z. B. auf der Basis der Schlichter-Kommissionen Vorschläge zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren erarbeitet, die Überprüfung der ca. 230 Bundesstatistiken begonnen und die gesetzespolitischen Eckpunkte zur Reform des öffentlichen Dienstrechts vorgestellt. Alle diese und weitere Initiativen, die sich mit dem Thema „schlanker Staat" befassen, werden durch diesen Sachverständigenrat fachlich und politisch begleitet, gefördert und mit zusätzlichen Impulsen versehen werden.
Eine wirklich effektive Verschlankung des Staates muß - hier erhoffe ich mir wiederum wesentliche Impulse von der Arbeit des Sachverständigenrates - bei einer substantiellen Aufgabenkritik beginnen. Ich freue mich, daß die Aufgabenkritik auch in dem SPD-Papier, auf das Sie Bezug genommen haben, Herr Schily, so zentral genannt wird.
({0})
- Das Papier ist sehr gemischt. Aber wir diskutieren noch darüber; dann werden wir feststellen, was wirklich drinsteht. Das ist ein Punkt, der positiv ist.
({1}) Ich freue mich, auch Sie einmal loben zu können.
({2})
Meine Damen und Herren, eines steht jedenfalls fest: Bund, Länder und Gemeinden müssen sich endlich und ernsthaft fragen, ob alle Aufgaben, die sie in den vergangenen Jahrzehnten in die eigene öffentliche Regie genommen haben, wirklich nur in staatlich-öffentlicher Verantwortung wahrgenommen werden können. Es ist ernsthaft zu fragen, was an Privatisierung möglich ist. Da ist mir z. B. Ihr Ansatz, Herr Schily, in der Abwägung von Privatisierung - ja oder nein - zu eng und methodisch nicht richtig angesetzt.
Wichtig ist bei alledem aber auch eines: Wir brauchen in unserer Bevölkerung das Bewußtsein für eine solche Reduzierung staatlicher Zuständigkeiten. Mancher in unserem Lande ist nämlich im Lichte - ich sage es bewußt ironisch - „allzu gut gemeinter" staatlicher Überregulierungen, auch staatlicher Übervorsorge, bequem geworden. Solche Bequemlichkeit verträgt sich nicht mit der geforderten Rückkehr zu mehr gesellschaftlicher Eigenverantwortung und, verbunden hiermit, mit der Bereitschaft zu mehr eigenverantwortlichem Mut, Wagnis und Innovationsbereitschaft.
({3})
In diesem Sinne ist das Thema „schlanker Staat" nicht nur ein Thema des Staates, sondern ein gesellschaftspolitisches Thema von zentraler Bedeutung.
({4})
Jedermann bei uns bekennt sich - zumindest verbal - inzwischen zum Subsidiaritätsprinzip. Aber wenn es zur Sache geht, wird es meistens nicht mehr sehr ernst genommen.
({5})
Aber wir müssen das Subsidiaritätsprinzip wirklich ernst nehmen. Wir müssen uns besinnen, daß das Subsidiaritätsprinzip fordert: Der Staat hat sich prinzipiell auf die hoheitlichen Kernaufgaben zu konzentrieren.
({6})
Es geht ganz entscheidend erstens um Subsidiarität, zweitens - damit im übrigen verbunden - um Solidarität, nämlich die Solidarität auf der Grundlage gesellschaftlicher Eigenverantwortung, und drittens um Konzentration. In diesem Sinne werden wir uns in den kommenden Jahren in vielfältiger Hinsicht um eine neue Philosophie der Staatstätigkeit bemühen müssen.
Es wird nicht mehr so weitergehen, daß wir dem Grundsatz „möglichst viel staatliche Zuständigkeit" folgen, nein, wir werden den Grundsatz „multum, non multa" verfolgen müssen.
({7})
- Sie, lieber Herr Penner, sehen sich offenkundig schon wieder als Angeklagten. Sie haben das Recht natürlich immer.
Der Bürger fragt sich heute an zentraler Stelle: Wo und wie ist der Staat für mich da? Die Antwort muß lauten, daß der Staat vor allem seine genuinen Staats- und Hoheitsaufgaben kraftvoll wahrnimmt. Das ist ein entscheidender Aufgabenbereich der Innen- und Justizpolitik.
Der Staat muß vor allem seine rechtsstaatliche Verantwortung wirklich und wirksam wahrnehmen. Unsere Bürger sind nicht nur an der Einhaltung der liberalen Freiheitsrechte interessiert, sie sind ebenso an der vom Staat und seinem Gewaltmonopol zu gewährleistenden Rechtssicherheit interessiert. Liberalität ist ohne Rechtssicherheit niemals denkbar. Liberalität verfällt in schlichte und unverantwortliche Libertinage, wenn der Staat seine genuine Verantwortung für die Rechtssicherheit nicht wahrnimmt. Deshalb steht die CDU/CSU-Fraktion mit dem Bundesinnenminister für eine aktive und verantwortliche Rechtsstaatspolitik,
({8})
die die Rechtssicherheit der Bürger ebenso kontinuierlich wie verstärkt in den Vordergrund stellt.
Verbrechensbekämpfung und innere Sicherheit behalten ihren zentralen Rang und sind zu stärken. Da geht es ganz entscheidend darum - heute wurde bereits mehrfach darauf Bezug genommen -, daß das auch in den Ländern geschieht. Vorkommnisse wie die Chaostage in Hannover sind unerträglich und dürfen sich niemals wiederholen.
({9})
Wohlgemerkt: Wenn man schon Hannover zitiert - das ist heute ja ein bleibendes Thema -, erinnere ich daran, daß es nicht nur die Chaostage sind, in denen eine verfehlte Politik unter dem scheinbar legitimierenden Stichwort sogenannter Deeskalation gemacht wird. Ich erinnere auch an den Fall „Castor", wo entgegen klaren gesetzlichen Vorgaben, klaren verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen das Chaos durch
die Landesregierung in Hannover buchstäblich mit befördert und ermutigt wurde.
({10})
Die CDU/CSU-Fraktion und die Koalition werden auch die Politik der SPD und der Grünen zur Entkriminalisierung sogenannter Kleinkriminalität nicht akzeptieren. Was heißt das eigentlich: Entkriminalisierung von Kleinkriminalität? Es bedeutet im Grunde die Förderung von Einstiegskriminalität. Herr Schily, Sie haben auf die Kinder hingewiesen: Ihr Vergleich mit der Bestechung. Sie hätten an etwas ganz anderes denken müssen. Was ist denn mit dem Ladendiebstahl, den Sie „entkriminalisieren" wollen? Das ist Einstiegskriminalität.
({11})
Wir hatten im letzten Jahr im Einzelhandel rund 131 000 Ladendiebstähle mit einem Gesamtschaden von 2,35 Milliarden DM. Das ist nicht erträglich. Wer eine solche kriminelle Einstiegsentwicklung fördert, der vergeht sich am Rechtsbewußtsein und - ganz entscheidend - auch an unseren Kindern, denen rechtzeitig deutlich gemacht werden muß, daß das nicht Recht, sondern Unrecht ist.
({12})
Das gleiche gilt für Ihre Politik bezüglich der Freigabe von Drogen. Wer in Mißdeutung des Bundesverfassungsgerichtsurteils meint, er könne Drogen weitgehend - den sogenannten Eigenverbrauch - entkriminalisieren, vergeht sich vor allem an unserer Jugend, an den jungen Menschen.
({13}) Die Beispiele lassen sich fortsetzen.
Wo sind die entscheidenden Aufgaben? Der Bundesinnenminister hat auf entscheidende und zentrale Aufgaben hingewiesen. Es geht ganz maßgeblich darum, eine verantwortliche Politik der inneren Sicherheit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, und zwar in wachsamer Orientierung am Wandel der tatsächlichen Gefährdungslagen, vor denen wir stehen, wirklich nach vorn zu bringen.
Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität muß sich an ihrer Internationalität orientieren. Sie muß sich an der Nutzung moderner technischer Möglichkeiten und am gesamten Spektrum dessen, was hier heute in der Konfrontation auftritt, orientieren, und zwar durch wirksame Prävention und wirksame, abschreckende Repression. Dazu gehört natürlich die akustische und optische Überwachung von Gangsterwohnungen.
Wir brauchen - darauf hat der Bundesinnenminister weiter hingewiesen; wir werden das in Angriff nehmen - an allererster Stelle eine Bekämpfung der Korruption und müssen sie gesetzlich verankern. 1994 wurden hier über 7 000 Straftaten registriert. Die Dunkelziffer ist, wie ich fürchte, noch sehr, sehr viel höher. Das wird kaum zu bestreiten sein, das wissen wir alle.
Dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht natürlich bei der Kronzeugenregelung.
Vor allem bedarf der Gesamtkomplex der Geldwäsche einer gründlichen gesetzgeberischen Überprüfung. Meine Fraktion hat dazu vor wenigen Tagen eine Expertenanhörung durchgeführt. Angesichts der enormen und ständig zunehmenden Gewinne aus der organisierten Kriminalität brauchen wir eine effektive, für die Betroffenen buchstäblich schmerzhafte Gewinnabschöpfung, um den Lebensnerv der organisierten Kriminalität zu treffen.
({14})
Strafandrohungen allein reichen aber nicht aus. Die Verbrechensgewinne müssen abgeschöpft werden. Der Zugriff auf sogenanntes bemakeltes Vermögen muß im Interesse einer wirksamen Verbrechensbekämpfung erleichtert werden. Hier tut sich allerdings - auch das müssen wir sehr wohl beachten - das geltende Recht im Lichte der Eigentumsgarantie des Art. 14 des Grundgesetzes nicht ganz leicht. Beim Thema der Beweiserleichterungen, die unter den Aspekten der effektiven Verbrechensbekämpfung sicherlich wünschenswert sind, werden wir sehr behutsam vorzugehen haben.
Ein letztes Beispiel, das ich nennen will, ist die Novellierung des Gesetzes über das Bundeskriminalamt. Der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt dem Bundestag inzwischen vor. Der Gesetzentwurf enthält differenzierte Regelungen für die vielfältigen Aufgaben des Bundeskriminalamts als Zentralstelle für die Verbrechensbekämpfung, als Strafverfolgungsbehörde sowie in den Bereichen des Personen- und Zeugenschutzes.
Außerdem wird mit der Aufnahme von bereichsspezifischen Datenschutzregelungen für die Tätigkeit des Bundeskriminalamts dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts - ich sage sehr bewußt: endlich - Rechnung getragen. Die Umsetzung dieser Rechtsprechung ist überfällig, der sogenannte Übergangsbonus läuft allmählich aus oder ist, wie es der Hessische Verwaltungsgerichtshof kürzlich ausgeführt hat, möglicherweise bereits abgelaufen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Rückführung staatlicher Tätigkeitsbereiche kann und muß also, richtig verstanden, eben nicht einen geschwächten Staat, der die Erwartungen und Ansprüche der Bürger nicht erfüllt, bewirken. Im Gegenteil, der Staat ist dort zu stärken, wo es um die zentralen Aufgaben geht, deren Erfüllung der Bürger von uns erwartet, insbesondere in der Rechts- und Sicherheitspolitik.
In diesem Sinne will die Koalition mit dem Haushalt 1996 auch insoweit entscheidende Weichen stellen, um den Bürger einerseits von überflüssiger Bürokratie und Überreglementierung zu entlasten, ihm auf der anderen Seite aber das Vertrauen in die inDr. Rupert Scholz
nere Sicherheit und die Geltung des Rechts wieder stärker zu vermitteln. Die Koalitionsfraktionen werden diese Ziele mit allem Nachdruck anstreben, und wir werden diese Ziele in dieser Legislaturperiode gemeinsam erreichen.
Ich danke Ihnen.
({15})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Fritz Rudolf Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich mit dem Haushalt dieses Ministeriums beschäftigt, kommt nach meinem Dafürhalten an einem Thema, das bisher noch keine Rolle spielte, nicht vorbei, nämlich an dem Thema der Aussiedler. Wir haben eine Vereinbarung: 225 000 Aussiedler plus/minus 10 % können derzeit in unser Land kommen. Mittlerweile müssen wir aber feststellen, daß es Regionen in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die sich durch eine sehr starke Konzentration von Aussiedlern auszeichnen. Es gibt sogar Städte und Gemeinden, in denen jeder dritte bis vierte Einwohner ein Aussiedler ist. Mein Kollege Günter Graf könnte Ihnen beispielsweise bestens berichten, wie sich eine solche Situation in einem Landkreis wie Cloppenburg vor Ort darstellt.
Diese Situation beschäftigt offensichtlich auch CDU-Politiker vor Ort. So erwägt der Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion in Niedersachsen eine Verfassungsklage gegen den Bund. Oder ein CDU-Staatssekretär verkündet im August zur Aussiedlerproblematik, Zuzüge müßten reguliert und Ansprüche gedrosselt werden. Gemeinden in dieser Region erwägen sogar, keine Bauplätze mehr an Aussiedler zu verkaufen. Selbst Ihre eigenen Leute vor Ort können der Politik, wie Sie sie hier in Bonn machen, nicht mehr zustimmen.
({0})
Ob eine Integration gelingt, läßt sich nur, lieber Kollege Waffenschmidt, an einer ausreichenden Zahl von Kindergartenplätzen, Schulplätzen, Arbeitsplätzen und Wohnungen deutlich machen.
Diese Integration ist in vielen Bereichen unserer Republik schon nicht mehr möglich. Um diese Integration geht es, wenn wir hier eine glaubwürdige Politik machen wollen. Aus diesen Gründen will ich deutlich festhalten, daß eine Politik, die eine Integration nicht mehr leisten will und kann und die Randgruppen unserer Gesellschaft schafft, eine Politik ist, wie wir sie uns nicht vorstellen und wie wir sie nicht haben wollen.
({1})
Lieber Bruder Waffenschmidt, einladen und nicht um die Menschen kümmern wird den Betroffenen nicht gerecht und entspricht auch nicht einer christlichen Glaubenshaltung.
({2})
Es werden jährlich über 150 Millionen DM in diesem Haushalt für die Deutschen in den sogenannten Siedlungsgebieten im Ausland zur Verfügung gestellt. Ziel muß es doch sein, die Menschen zu ermutigen, in ihrer neu anvertrauten Heimat zu bleiben. Maßnahmen vor Ort in diesen Siedlungsgebieten, die die Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland vorbereiten, widersprechen meines Erachtens dem gesamten Projekt mit seiner Zielsetzung. Das kann doch wohl nicht gewollt sein.
({3})
Ich will kurz etwas zu einem anderen Thema sagen. In den verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft stellen wir zur Zeit fest, daß die Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt erheblich sinkt. Wir müssen auf der Hut sein und bleiben, was extremistische Einstellungen und Gewalttäter anbelangt. Erschreckend ist jedenfalls für mich der hohe Anteil männlicher Jugendlicher unter 17 und unter 21 Jahren, die an extremistisch orientierten Gewalttaten beteiligt sind, was in der Jugendgeschichte ein bisher einzigartiges Faktum ist.
Es ist richtig, daß in diesem Haus Extremismus und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen auf eine gemeinsame Ablehnungsfront stoßen. Reicht das aber aus? Reicht es aus, die Jugendlichen wegen ihrer undemokratischen Haltung zu verdammen und wegen ihrer Straftaten zu bestrafen? Ich sage, daß das nicht ausreicht. Wir werden die Gewaltbereitschaft nicht herabsetzen, wenn es uns nicht gelingt, die Ursachen in den verschiedensten Lebensumfeldern zu beseitigen.
({4})
Diese Bundesregierung muß sich entgegenhalten lassen, daß ihre praktizierte Politik Mitschuld an einem gesellschaftlichen Klima trägt, in dem Menschen ausgegrenzt und an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werden.
({5})
Deswegen ist es für mich notwendig, sich mit dem Thema Gewalt in den Medien öffentlich auseinanderzusetzen.
({6})
Gerade Sie waren es doch, die eine Privatisierung und Ausdehnung unseres Medienmarktes mit einer stetig wachsenden Konzentration zu Lasten der Pluralität betrieben haben. Sie treten den Fehlentwicklungen nicht energisch genug entgegen.
({7})
- Lieber Erwin Marschewski, es wäre besser, du würdest jetzt weiter zuhören.
Die zunehmende Gewaltbereitschaft von Jugendlichen läßt sich zwar ebenso wenig allein auf das Konto der Medien wie auf das Konto der Erziehung verbuchen. Aber zusammen mit Werteverfall, sozialen Problemen, Orientierungslosigkeit und fehlenden Perspektiven tragen die Gewaltdarstellungen im Fernsehen, auf Videos und anderswo dazu bei, daß Kinder und Jugendliche Gewalt leider zunehmend als Mittel der Konfliktlösung sehen. Wenn Sie gerade heute diese negativen Entwicklungen beklagen, so klingt dies auf Grund ihrer bisherigen politischen Entscheidungen wenig überzeugend.
({8})
Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer schwierigen Aufgabe angesichts der schnellen Veränderungen und politischen Rahmenbedingungen in unserer Politik. Sie muß einerseits die Zukunft gestalten und dafür notwendige Reformen einleiten. Ich nenne nur stichwortartig Reform der öffentlichen Verwaltung, Stärkung der inneren Sicherheit, Kampf gegen das organisierte Verbrechen, sozialverträgliche Regelungen im Asylrecht, sozialverträgliche Steuerung des Ausländerzuzugs, aber auch eine stärkere Kontrolle der Medien, die in einer Zeit ungebremster Medienkonzentration eine überragende Rolle bei der Meinungsbildung erlangt haben und sich in der Verfassungswirklichkeit neben den drei verfassungsgemäßen Gewalten Parlament, Regierung und Rechtsprechung faktisch zu einer vierten Gewalt in unserer Gesellschaft entwickelt haben.
({9})
Diese Reformen können andererseits nur auf der Grundlage der geltenden Prinzipien unserer Verfassung gelingen. Diese gilt es zu bewahren und ständig im Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der Jugend zu verankern.
Ich nenne kurz drei Beispiele. Die beste Abwehr gegen eine Erosion unserer Verfassung sind nicht politische Reden sondern das gelebte Vorbild. Eine agitatorische Beschimpfung des Bundesverfassungsgerichts - das hat ja heute schon eine Rolle gespielt -, die über das normale und zulässige Maß einer Urteilsschelte hinausgeht, beschädigt nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern darüber hinaus unseren gesamten Rechtsstaat. Wenn Rechtsbewußtsein schwindet, sollten Sie die Schuld nicht immer bei den anderen suchen.
({10})
Mit Bekenntnissen zum Rechtsstaat allein ist nichts getan. Die Kriminalitätsentwicklung verletzt das Rechtsbewußtsein mit erheblichen Folgen. Kann der Staat angesichts der vorhandenen Kriminalität und der Aufklärungsquoten den gesetzlichen Strafanspruch nicht mehr ausreichend durchsetzen, sinkt zwangsläufig das Vertrauen in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung und die
Rechtstreue aller Bürger. Die Folgen von Mißtrauen, ja der Mißachtung gegenüber Staat und Recht sind Erscheinungen der Korruption. Die organisierte Kriminalität findet hier ihren Nährboden.
Was macht die Bundesregierung angesichts dieser Gefahren? Ihre bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität, vor allem aber der organisierten Kriminalität, zeigen keinen durchschlagenden Erfolg.
Nach wie vor wird die Bundesrepublik Deutschland als außerordentlich gut geeignete Waschanlage für unrechtmäßig erworbenes Geld angesehen und benutzt. Um diese Geldwäsche wirksam zu bekämpfen, fehlt bisher eine geeignete Gesetzesgrundlage. Hier wie auch hinsichtlich der Möglichkeit eines wirksamen Abhörens im Milieu der organisierten Kriminalität hat die Koalition ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht. Die Zeit ist gekommen, daß dies jetzt erfolgt.
Wir stimmen darin überein, daß das staatliche Gewaltmonopol die Voraussetzung war und ist für die Befriedung unserer Gesellschaft. Seine Beseitigung würde längerfristig das allgemeine Staatsverständnis ebenso wie das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat gravierend verändern.
Schon heute gewährleistet der Staat mit seinen Sicherheitskräften die innere Sicherheit nicht mehr alleine. Das private Sicherheitsgewerbe expandiert. Rechtlich ist das staatliche Gewaltmonopol bisher zwar erhalten geblieben, fraglich ist allerdings, inwieweit seine weitere schrittweise Aushöhlung angesichts der tatsächlichen Entwicklungen und eines öffentlichen Gewöhnungseffektes gestoppt werden kann. Für das private Sicherheitsgewerbe halten wir eine gesetzliche Grundlage für notwendig. Wir werden entsprechende Initiativen einleiten.
Herr Minister, Sie können mit unserer Aufmerksamkeit für Ihre Politik in Ihrem Bereich rechnen - bei Ihren Taten, aber auch bei Ihren Versäumnissen. Und davon gibt es leider doch einige.
Schönen Dank.
({11})
Ich erteile dem Abgeordneten Heinz Dieter Eßmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem demokratischen Rechtsstaat besteht ein nie ganz aufzulösendes Spannungsverhältnis zwischen den Freiheitsrechten des einzelnen und den Erfordernissen der inneren Sicherheit. Unbestritten gehört Deutschland zu den liberalsten Ländern dieser Welt. Die Individualrechte haben bei uns einen breiteren Spielraum - auch das ist unbestritten - als selbst in Frankreich, Amerika oder anderen bewährten Demokratien. Andererseits ist Deutschland gerade wegen seiner Offenheit ein bevorzugter Tummelplatz der organisierten Kriminalität geworden. Aus diesem Zwiespalt ergibt sich die Problematik einer wirkungsvollen Innenpolitik.
Im Gegensatz zu Ihnen, lieber Herr Körper, stelle ich fest: Die Bundesregierung und die Koalition sind dieser Aufgabe in hohem Maße nachgekommen, und das, obwohl in vielen Fällen, in denen die Solidarität aller Deutschen gefordert war, die Opposition ihre Mitwirkung verweigert hat.
({0})
Aber dies wird die CDU/CSU-Fraktion und insbesondere den Bundesinnenminister nicht daran hindern, den eingeschlagenen Weg mit Überzeugung, Selbstbewußtsein und,
({1})
wenn es sein muß, mit der nötigen Härte weiterzugehen,
({2})
und dies, aus der Überzeugung heraus, daß der weitaus größte Teil unserer Bevölkerung in dieser Frage hinter uns steht.
({3})
Dieses Bemühen ist auch im Haushaltsentwurf, von dem wir heute reden, deutlich erkennbar.
({4})
Ich will das an Hand einiger Beispiele ansprechen.
({5})
Wie bereits erwähnt, beträgt die Steigerung im Einzelplan 06 bereinigt rund 2,4 %, während der Gesamthaushalt um 1,3 % absinkt.
({6})
- Das ist das einzige, was Sie heute beigetragen haben; das ist bemerkenswert. Ich werde es mir merken.
({7})
Lassen Sie mich zunächst zu dem Bereich Bundesgrenzschutz kommen. Für den Bundesgrenzschutz sind im Jahre 1996 insgesamt 2,941 Milliarden DM vorgesehen; das sind rund 200 Millionen DM mehr als im Vorjahr und entspricht einer Steigerung von rund 7,5 %. Der Stellenhaushalt des Regierungsentwurfs 1996 enthält insgesamt 33 206 Planstellen und Stellen für den gesamten BGS.
An Schwerpunkten des BGS-Personalhaushaltes sind zu nennen: Für den gehobenen und mittleren Polizeivollzugsdienst werden 1996 1200 Nachwuchskräfte eingestellt. Bei zur Zeit rund 6 400 in der Ausbildung befindlichen Nachwuchskräften wird der
BGS 1996 die heute noch bestehende Personallücke - das muß man so akzeptieren - von rund 1 700 Polizeivollzugsbeamten weiter deutlich abbauen können.
Für die seit 1993 beim BGS beschäftigten Grenzpolizeilichen Unterstützungskräfte, die sogenannten Guks, im Angestelltenverhältnis, die nur befristet für die Dauer von drei Jahren zur Schließung der damaligen erheblichen Personallücke im Polizeivollzugsbereich eingestellt worden sind, enthält der Haushalt 1996 die notwendige Ermächtigung für deren Weiterbeschäftigung.
({8})
In den Jahren 1997 und 1998 werden, durch Haushaltsvermerk abgesichert, dem BGS dafür insgesamt 1 300 Stellen zufließen.
Im Verwaltungsbereich des BGS - auch dies gehört dazu - sind 349 neue Stellen vorgesehen. Mit diesem zusätzlichen Verwaltungspersonal kann ein wesentlicher Teil des Personalbedarfs ausgeglichen werden. In den Folgejahren muß das Verwaltungspersonal aber weiter verstärkt werden. Das Personal selbst soll aus den Behörden im Geschäftsbereich des BMI gewonnen werden, die durch Stellenabbau Personal abgeben können. Dennoch - das sei kritisch angemerkt - beträgt das Verhältnis zwischen Verwaltung und Vollzug nach wie vor 1 : 7 und zu dem wünschenswerten Verhältnis 1 : 5 beträgt die Differenz noch rund 900 Stellen. Hier besteht gegebenenfalls Handlungsbedarf.
Wenn wir den Bereich der Beschaffungsvorhaben für den BGS betrachten, so ist festzustellen, daß alle erforderlichen Anschaffungen laufen und haushaltsmäßig abgesichert sind. Dadurch wird im Haushaltsansatz deutlich, daß sich die Bundesregierung und die CDU-Fraktion der besonderen sicherheitspolitischen Herausforderung mit einer 1 264 km langen Grenze zu Polen und der Tschechischen Republik massiv auch in Zukunft stellen wird. Die CDU-Fraktion hat in den vergangenen Jahren der Verstärkung der Grenzsicherheit und der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität besondere Bedeutung beigemessen. Auch in Zukunft muß der Bundesgrenzschutz durch ein funktionierendes Netzwerk polizeitaktischer, organisatorischer, personeller und ausstattungsmäßiger Maßnahmen zu einem schlagkräftigen Instrument deutscher Sicherheitspolitik weiter ausgebaut werden.
Ich habe vor drei Wochen mit einigen Kollegen die tschechische Grenze im Abschnitt Pirna besucht und selbst erleben können, mit welcher Brutalität organisierte Schleuser andere Menschen aus blankem Gewinnstreben in bittere Not und Hoffnungslosigkeit treiben. Und ich habe erlebt, mit welchem hohen persönlichen Einsatz, unter teilweise schwierigsten Bedingungen, Beamte des Bundesgrenzschutzes ihren Dienst versehen. Wir haben allen Grund, ihnen dafür zu danken, und die Verpflichtung, dies auch durch Handeln im Haushalt zu verdeutlichen.
({9})
Lassen Sie mich zum Bereich des Sports kommen. Der Haushaltsansatz der Sportförderung weist mit 223 Millionen DM im Regierungsentwurf 1996 gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von fast 14 Millionen DM auf. Dieser Mehransatz erstreckt sich z. B. auf die zentralen Maßnahmen des Sports, wo sich der Bund u. a. an den Kosten der Vorbereitung und Entsendung der Mannschaft für die Olympischen Spiele in Atlanta mit einem Zuschuß von 9,5 Millionen DM beteiligt.
Der Ansatz zur Projektförderung in Sporteinrichtungen in den neuen Bundesländern mit insgesamt 12 Millionen DM dient zur Förderung der gemäß Art. 39 des Einigungsvertrages unter Trägerschaft von Sportverbänden fortgeführten sportwissenschaftlichen Einrichtungen: hier das Institut für angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig und das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportstätten in Berlin.
Ein Wort noch zur Errichtung des Deutschen Sportmuseums in Köln. Hier sind im Haushalt 1,5 Millionen DM vorgesehen. Hier fehlt aber noch - das muß angemahnt und deutlich gemacht werden - die Zusage des Trägervereins, die Bundesregierung zumindest von den Folgekosten auszuschließen. Sofern diese nicht vorhanden ist, können wir diese Förderung nicht durchführen. Das muß auch an dieser Stelle sehr deutlich gesagt werden. Wir klagen das einfach vom Trägerverein ein. Hier hapert es wohl im wesentlichen an der Stadt Köln.
Als weiterer Schwerpunkt für Sportförderung sind die Zuschüsse für Errichtung, Erstausstattung und Bauunterhaltung der Bundesleistungszentren für den Hochleistungssport mit einem Haushaltsansatz von 66,5 Millionen DM zu nennen. Diese Mittel werden benötigt, um die Sportstätten für den Hochleistungssport in einem nutzungsfähigen Zustand zu erhalten bzw. diesen Zustand durch Sanierungs- und Ersatzbaumaßnahmen herzustellen. Vor allem in den neuen Bundesländern besteht ein erheblicher Sanierungsbedarf.
Lassen Sie mich feststellen, daß der deutsche Sport mit diesen Haushaltsansätzen mehr als zufrieden sein kann.
({10})
Aber der deutsche Sport muß nun seinerseits zügig die mehrfach angekündigten veränderten Organisationsformen in die Tat umsetzen.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zum Bereich kulturelle Förderung, Vertriebene und Aussiedler sagen. Die Erfahrung mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom 1. Januar 1993 beweist die Notwendigkeit der bewährten Strategie in der Aussiedlerpolitik, die da heißt: Sorgfältiges Aufnahmeverfahren und Hilfe in den Herkunftsgebieten. Bei rund 4 Millionen Deutschen in Osteuropa und jährlich rund 200 000 Aufnahmen in Deutschland bleibt es notwendig, die Integration in Deutschland zu unterstützen und Siedlungsschwerpunkte der Deutschen in Osteuropa zu fördern, wo Deutsche leben, die nicht aussiedeln können oder noch nicht aussiedeln wollen.
Da der Zugang von Spätaussiedlern nun auf etwa 200 000 Deutsche pro Jahr festgeschrieben wurde, ist er für die betroffenen Verwaltungen auch berechenbar geworden. Man muß sich jedoch klar sein, daß jede Veränderung dieser Zahl, aus welchen Gründen auch immer, auch zusätzliche Mittel im Rahmen der Haushaltsdurchführung erfordert.
Operativen Schwerpunkt bilden die Mittel zur Hilfe für die Deutschen in Aussiedlungsgebieten mit 150 Millionen DM. Gegenüber 1995 konnte eine Steigerung von 35 Millionen DM erreicht werden. Durch diese Hilfe im kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich in den Herkunftsländern, hauptsächlich in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, sollten den dortigen Deutschen Perspektiven eröffnet werden, um ihnen eine echte Alternative zur Aussiedlung nach Deutschland zu geben.
In Anbetracht der Zeit ist es mir leider nicht möglich, noch weitere Schwerpunkte des Einzelplans 06 anzusprechen. Insbesondere der Bereich der Kultur hätte eine besonders bewertende Ansprache verdient.
Meine Damen und Herren, der Haushaltsplan des Innenministers ist wohldurchdacht. Er ist gut strukturiert. Ich bitte Sie deshalb, ihm im weiteren Verfahren zuzustimmen.
({11})
Herr Kollege Eßmann, das war - wie wir merken konnten - zwar nicht Ihre erste Rede, aber es war Ihre erste in diesem Hause. Darum möchte ich Ihnen dazu traditionsgemäß unseren Glückwunsch aussprechen.
({0})
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern vor.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Das Wort hat die Bundesministerin Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letzte Legislaturperiode stand rechtspolitisch im Zeichen der Bewältigung des Zusammenbruchs eines Systems, das Millionen Menschen unterdrückt, bevormundet und bespitzelt hat. Einen Großteil der Zeit haben die Arbeiten an den Gesetzen zu den Vermögens- und Eigentumsfragen und zur Rehabilitierung der Opfer des SED-Regimes, also am Sachenrechtsänderungsgesetz und dem Schuldrechtsanpassungsgesetz sowie am Ersten und Zweiten SED-UnrechtsBereinigungsgesetz eingenommen.
Heute können wir sagen: Die auf angemessenen Interessenausgleich ausgerichtete Politik der Bundesregierung bewährt sich. Das SachenrechtsändeBundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
rungsgesetz und das Schuldrechtsanpassungsgesetz gehen den richtigen Weg beim Ausgleich der sehr entgegengesetzten Anliegen der Eigentümer und Nutzer von Wohnungen und Erholungsgrundstükken. Das zeigt auch die Erledigungsquote von inzwischen doch durchschnittlich 50 % der vorliegenden Anträge auf Rückgabe oder auf Investitionen.
Aber um auch künftig Investitionen so wenig Hindernisse wie nur möglich in den Weg zu legen und sie vorrangig bearbeiten zu können, ist auf meinen Vorschlag vom Kabinett die Geltungsdauer des Investitionsvorranggesetzes bis Ende 1998 durch Rechtsverordnung beschlossen worden.
({0})
Umfassende Änderungen des Vermögensgesetzes halte ich dagegen nicht für erforderlich; denn meistens verfolgen sie dann doch den Zweck, einmal getroffene Grundentscheidungen wieder umzukehren.
Wir müssen uns aber genauso überlegen, ob die Ende dieses Jahres auslaufende Antragsfrist bei der Rehabilitierung von SED-Opfern nicht verlängert werden sollte.
({1})
Ich bin offen, mich über diese Frage hier gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen und der Opposition zu unterhalten. Es kann letztendlich nicht jemand bestraft werden, nur weil er bisher vielleicht noch nicht die nötigen Informationen hatte, um nach diesen Gesetzen einen entsprechenden Antrag zur Rehabilitierung zu stellen.
({2})
Die Anpassung des geltenden Rechtes an die soziale Wirklichkeit zum Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt der Arbeiten des Bundesjustizministeriums in dieser Legislaturperiode. Haben wir in der letzten Wahlperiode die notwendigen intensiven Vorarbeiten durch die Hinzuziehung von Praktikern aus den verschiedensten Bereichen geleistet, konnte ich in diesem Jahr vor der Sommerpause den Referentenentwurf an die Länder und an die Interessenverbände verschicken. Diese nehmen jetzt Stellung, so daß ich es als realistisch einschätze, zum Ende dieses Jahres einen Regierungsentwurf vorlegen zu können, für dessen Beratung das Parlament dann ausreichend Zeit hat.
Wir werden diese Zeit auch benötigen; denn es geht um sehr wichtige, sensible gesellschaftliche Fragen. Stichworte: Sorgerecht bei Scheidung, gemeinsames Sorgerecht, orientiert am Kindeswohl. Es ist wichtig und notwendig, hier Änderungen mit dem Ziel zu schaffen, daß mehr als bisher die Partner bereit sind, bei Scheidung auch gemeinsam die Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen.
({3})
Ein Blick in andere Länder zeigt, daß dort sehr gute Erfahrungen gemacht worden sind und daß das gemeinsame Sorgerecht in über 50 % der Fälle sehr wohl dem Kind zugute kommt und nicht zu den Streitigkeiten unter den dann geschiedenen Partnern führt, die hier jetzt vielleicht befürchtet werden. Ich bin offen, mich hier auch mit den Bedenken sehr intensiv auseinanderzusetzen, die gegen diese Vorschläge erhoben werden. Seien Sie nur von einem überzeugt: Hier wird den Eltern nichts zwangsweise vorgeschrieben oder verordnet; denn das diente letztlich nicht dem Wohl der Kinder. Aber es ist ein Angebot, im Interesse der Kinder zu besseren Regelungen zu kommen.
({4})
Um auch im Bereich der nichtehelichen Kinder Benachteiligung zu beseitigen - das ist ja das Hauptziel der Reform -, werden wir das gemeinsame Sorgerecht für nicht verheiratete Partner schaffen. Das ist eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Aber natürlich ist es auch in der Sache berechtigt, wenn beide Partner es wollen. Was kann besser für die Kinder sein, als wenn die Partner das Sorgerecht gemeinsam beantragen? Auch das entspricht sehr liberalen und zugleich verantwortungsbewußten Vorstellungen gegenüber den Kindern.
({5})
Wir werden das Umgangsrecht erweitern. Gerade unverheiratete Väter müssen hier eine bessere Stellung bekommen. Das sind Benachteiligungen, die wir im Interesse der Kinder und auch der Väter nicht länger hinnehmen sollten.
Die gesetzliche Amtspflegschaft wird aufgehoben - der Entwurf ist ja schon in den Beratungen -, und wir werden uns auch wieder mit der Beseitigung der erbrechtlichen Benachteiligungen von nichtehelichen gegenüber ehelichen Kindern beschäftigen. Ich hoffe, daß wir einen Grundkonsens finden werden, um auch dieses Vorhaben in dieser Legislaturperiode verabschieden zu können.
Ein weiteres Thema - nur wenige Worte dazu - ist ja immer die Belastung der Justiz. Sie hat uns in der letzten Legislaturperiode beschäftigt, und ich habe in diesem Jahr schon zwei Gesetzentwürfe zur Abstimmung mit den Ländern und zur Abstimmung in den Ressorts auf den Weg gebracht. Einmal geht es dabei um das Ordnungswidrigkeitenrecht, wo bei Bagatellverfahren die Justiz teilweise wirklich in übermäßigem Umfang belastet wird, zum anderen um verwaltungsgerichtliche Verfahren, bei denen es sehr wohl noch Handlungsspielräume zur Entlastung der Justiz gibt.
Aber ich möchte eines deutlich machen: Entlastung der Justiz und Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit können letztendlich nicht einseitig zu Lasten des rechtsuchenden Bürgers gehen. Wir kommen hier an Grenzen. Auch im Strafprozeß können wir rechtsstaatliche Garantien nicht allein im Interesse der Entlastung der Justiz aufheben. Daran orientieren sich die Vorstellungen meines Hauses.
({6})
Die Zeit erlaubt leider nicht, alle Vorhaben hier kurz anzusprechen, die wir im Justizministerium beraten und in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen: beim Eheschließungsrecht, im Aktienrecht, bei der Bundesnotarordnung.
Natürlich wird uns gerade auch die innere Sicherheit in der Rechtspolitik intensiv beschäftigen. Beim Geldwäschetatbestand - das sehen wir jetzt schon - müssen wir uns mit dem Vortatenkatalog beschäftigen, der wohl um manche typische Delikte erweitert werden muß. Aber wir sehen auch, daß für das Geldwäschegesetz, was den Schwellenbetrag und die Zweitagesfrist angeht, die Bestätigung aus der Praxis gekommen ist. Wir haben hier immer gegenüber den Vorschlägen auch der Opposition gekämpft, und ich glaube, es zeigt sich jetzt, daß es der richtige Weg war und daß wir hier keine grundsätzlichen Änderungen vornehmen müssen.
({7})
Wir werden uns auch intensiv mit der Bekämpfung der Korruption beschäftigen. Wir werden uns, gerade wenn es um den Strafrahmen geht, auch im Bereich der Angestelltenbestechung nach dem UWG wohl mit der Erhöhung der Strafrahmen auseinandersetzen müssen. Ich glaube, das paßt nicht im Verhältnis zu den Strafrahmen bei Beamtenbestechung, die wir auch unter die Lupe nehmen werden.
({8})
Aber ich möchte doch eines hier deutlich machen: Wir sollten nicht meinen, daß wir mit dem Instrument der Kronzeugenregelung gerade auch im Bereich der Korruption nun vielleicht etwas Gutes schaffen, denn es führt zu Mißtrauen gegenüber dem Kollegen und der Kollegin. Es besteht die Gefahr, daß sich gerade hier doch der eine Kollege gegenüber dem anderen in einer Art und Weise verhält, wie wir es im öffentlichen Dienst nicht wollen.
Wir sollten auch sehen, daß die Kronzeugenregelung dazu führt, daß eben Täter ungleich behandelt werden, und deshalb steht nach meiner Einschätzung eines im Vordergrund. Wir werden die Kronzeugenregelung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität verlängern, denn - das sieht jeder ein - zehn Monate Bewährungszeit sind zu kurz. Das behaupten wir auch zu Recht gegenüber anderen Vorschlägen und sagen, Recht, was wir gesetzt haben, muß sich bewähren, und das gilt natürlich auch in diesem Fall für die befristet geltende Kronzeugenregelung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Meine Zeit ist zu kurz, als daß ich jetzt auch noch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingehen könnte. Ich glaube, daß dazu auch schon vieles Vernünftige in der Vergangenheit gesagt wurde. Ich glaube, wir sollten uns einig sein, die Autorität des Bundesverfassungsgerichts nicht in Frage zu stellen.
Ich meine auch, daß das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidungstexte allein verstanden werden sollte und nicht unbedingt noch immer der Interpretationen und Erklärungen bedürfen müßte.
({9})
Ich bin der Meinung, nach der doch intensiven auch öffentlichen Diskussion über dieses Urteil ist es nicht so gut, sich jetzt in unmittelbarem Zusammenhang mit Fragen der Mehrheitsentscheidungen oder der Wahlverfahren schon im Gesetzgebungsverfahren auseinanderzusetzen. Ich glaube, es ist gerade auch im Interesse der Autorität des Bundesverfassungsgerichts ganz gut, hier Zurückhaltung zu wahren.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile nun der Abgeordneten Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gern, bevor ich auf den Justizhaushalt eingehe, noch zwei Punkte aufgreifen, die während der gerade abgelaufenen innenpolitischen Debatte eine Rolle gespielt haben.
Ich weiß nicht, ob Kollege Scholz noch da ist.
({0})
- Gut. Sonst hätte ich Sie einfach gebeten, es ihm weiterzusagen.
Herr Kollege Scholz, Sie haben darüber geredet, welche Ziele und welche Aufgaben die Kommission „Schlanker Staat" haben sollte. Meine Bitte ist, daß Sie Ihre Rede oder das Protokoll noch einmal sehr sorgfältig nachlesen. Dann wird Ihnen das auffallen, was mir auch aufgefallen ist.
Sie sprechen davon, daß der Staat seine Aufgaben einer Kritik unterziehen muß, und ich meine, das ist zweifellos richtig. Sie reden dann davon, daß der Staat zunächst und, wie Sie sagten, vornehmlich hoheitliche Aufgaben wahrnehmen muß, d. h. alle die Aufgaben, die hoheitlich sind.
Nicht in einem einzigen Satz haben Sie erwähnt, daß dieses Staatsmodell vom Grundgesetz mit seiner ganz klaren Aussage für den demokratischen und den sozialen Rechts- und Bundesstaat nicht aufgenommen wurde. Das Grundgesetz in seiner klaren Grundentscheidung hat sich für einen Interventionsstaat entschieden, dessen Aufgaben genauso wie die Herstellung von Rechtssicherheit darin bestehen, den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu sozialen Chancen, zu Bildung, zu Wohnungen und zu Arbeit zu ermöglichen.
Warum sage ich das? Ich sage das nicht deswegen, weil ich meinte, Sie würden es theoretisch nicht wissen. Ich will Sie vielmehr in diesem Zusammenhang auf zweierlei aufmerksam machen. Wir leben in einer Zeit, die ganz ohne Zweifel von Umbruch, von Schwierigkeiten, von Individualismus und von Zerfall von Werten einerseits und andererseits von Orientierungslosigkeit geprägt ist. Wir leben in einer Zeit, in der durch eine starke Privatisierungsdiskussion, manchmal auch falsch verstandene Privatisierungsdiskussion, Ökonomisierungsdiskussion, bisDr. Herta Däubler-Gmelin
weilen auch falsch verstandene Ökonomisierungsdiskussion, eigentlich nur ein Grundwert, der in Wirklichkeit keiner ist, übrigzubleiben scheint. Das ist der kommerzielle Gedanke, daß sich etwas lohnt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Scholz?
Gerne. Aber wenn Sie noch einen Moment warten würden, Herr Scholz, würde ich den Gedanken gerne entwickeln und Sie auf meine zwei Punkte aufmerksam machen.
Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, ist im Augenblick die, daß wir sparen müssen, auch sparen können - das ist gar keine Frage -, daß die Aufgaben des Staates effizienter gelöst werden müssen, daß er auch manches tut, was er nicht müßte. Aber die Grenze zwischen hoheitlich und sozialstaatlich zu ziehen, dies wäre in einer Zeit, die so auf Integrationspolitik angewiesen ist, auf die Werte des sozialen und demokratischen Rechtsstaates angewiesen ist, ein Verbrechen.
Der zweite Punkt, auf den ich Sie hinweisen wollte, ist folgender: Wir haben im Moment ganz offensichtlich eine Diskussion, die es in England und Amerika vor einigen Jahren schon gegeben hat. Ich erinnere die Liberalen an die Äußerungen von Ralf Dahrendorf, andere an Konservative. Das war in der Ökonomie die Chicago-Schule, in anderen verfassungsrechtlichen Bereichen war es Neoliberalismus. Damals wurde unter den Bedingungen von Großbritannien nicht nur verschlankt, sondern diese Aufgabendiskussion in der Tat auf die rein hoheitlichen Aufgaben zurückgeführt.
Heute haben Sie dort eine ganz andere Diskussion, und zwar ganz egal, ob Sie Ralf Dahrendorf, jetzt Lord Ralf Dahrendorf, mit seinem Gutachten für die englischen Liberalen heranziehen oder ob Sie z. B. die große Kommission über Social Justice von Sir Gordon Barries nehmen. Die Frage, was unseren Staat eigentlich zusammenhält und wie wir es machen, ist eine verdammt ernste. Alle Überlegungen, alle Modelle, die z. B. das Überdenken von Staatsaufgaben, das Verschlanken, wie es in modischem Neudeutsch heißt, mit einem Zurückschneiden des Sozialstaats im Prinzip verwechselt haben, sind gescheitert.
({0})
Meine Bitte ist, daß wir uns diese Erfahrungen zunutze machen und deswegen vielleicht an die Verschlankungsdiskussion so herangehen, daß wir keinen Deut Zweifel daran lassen, welche die Aufgaben des Staates sind. Wenn dann noch die Möglichkeit bestünde, ein bißchen praktische Vernunft insoweit anzuwenden, daß sich eine städtische Verwaltung oder eine andere Verwaltung verdammt schwer tut, wieder etwas Privatisiertes zu machen, wenn sie sieht, daß sie in die Fänge eines privaten Monopols gekommen ist, dann wäre ich geradezu erfreut.
Bitte schön, Herr Scholz.
Ich bedanke mich, Frau Däubler-Gmelin, für die Lektion, die Sie versucht haben, was den Staat angeht. Aber ist Ihnen vielleicht entgangen, daß wir momentan und in meiner Rede insbesondere über den Haushalt des Innenministeriums, über Innenpolitik, diskutiert haben, d. h. über einen Bereich, der in der Tat ganz entscheidend für den Bereich der rechtsstaatlich maßgebenden Komponente der Sicherheitspolitik zuständig ist? Ich fürchte, es ist Ihnen entgangen, daß hier ein Staat am Sozialstaat vorbei sozusagen zu, ich sage einmal: 19.-Jahrhundert-Modellen zurückkehrt. In der Tat, der soziale Rechtsstaat insgesamt ist das Bild des Grundgesetzes. Wenn Sie das nun den interventionistischen Staat nennen wollen, will ich dahingestellt sein lassen, ob das das richtige Bild ist.
Aber ich habe eine Frage zu stellen: Ist Ihnen vielleicht entgangen, daß ich ausschließlich über den Bereich der Innenpolitik gesprochen habe?
Verehrter Herr Kollege Scholz, da Sie mich so nett gefragt haben, sage ich Ihnen ausdrücklich: Nein, es ist mir natürlich nicht entgangen, sondern genau dies hat mich so unglaublich beunruhigt, und zwar einfach deshalb, weil ich schon die Trennung, die Sie vornehmen, daß Sie offensichtlich meinen, Innenpolitik sei etwas, was mit sozialem Rechtsstaat und auch mit dem Staatsmodell und mit seinen Staatsaufgaben nichts zu tun habe, für falsch halte.
({0})
Ich habe Sie nur darum gebeten, daß Sie dieses vielleicht noch einmal überdenken. - Herr Scholz muß stehenbleiben; das ist wirklich schön; deswegen ziehe ich meine Antwort noch ein bißchen hinaus. - Wir werden über diese Fragen in den nächsten Jahren noch reden müssen.
Nur, diejenigen, die an diesem falschen Weg leiden - damit komme ich zu dem zweiten Punkt, der mich in Ihrer Rede sehr gestört hat -, haben dann unglaublich weniger Lebenschancen. Das ist dann nicht nur deren individuelles Problem, sondern wir merken das bei den Werten, und wir merken das auch bei der Organisation unserer Gesellschaft. - Jetzt mache ich weiter.
({1})
- Der Herr Präsident entscheidet darüber, ob Sie sich setzen dürfen oder nicht - wenn Sie sich diese Entscheidung nicht selber zutrauen.
Der zweite Punkt war Kinder- und Jugendkriminalität, die Sie z. B. mit Überlegungen über eine notwendige Entlastung im Bereich der Kleinkriminalität verbunden haben. Mir wäre es schon ganz recht, wir könnten das wieder ein bißchen auseinanderziehen.
Der erste Punkt ist doch der, daß der Umfang der Aufgaben im Justizbereich gerade im Zusammenhang mit der Verbrechensbekämpfung größer geworden ist. Wer das effizient bekämpfen will, darf heute diese unsinnige und schädliche Inanspruchnahme der Ressource Justiz nicht weiter mitmachen.
Warum haben denn bei uns heute Staatsanwaltschaften und Gerichte so furchtbar lange Zeiten, wenn es z. B. um die Verfolgung schwieriger Fälle der Wirtschaftskriminalität geht? Das ist doch einfach deswegen der Fall, weil sie sich mit Kleinkriminalität in einem solchen Umfang herumschlagen müssen, der jedem, dem es wirklich um eine effiziente Sicherung des Rechtsstaates geht, die Überlegung aufnötigen sollte, ob es da nicht Strafmöglichkeiten gibt, die erheblich weniger Ressourcen und erheblich weniger Bürokratie voraussetzen.
Genau diese Frage, die ich jetzt von diesem Pult zum dritten Mal innerhalb der letzten anderthalb Jahren stelle, werden wir aufnehmen müssen, und das werden wir auch tun.
({2})
Wir werden dazu auch ein Anhörungsverfahren machen. Herr Geis, ich rechne da auch mit Ihrer Unterstützung. Wir sind hier heute in einer so kleinen Gruppe zusammen, daß wir das wirklich vernünftig miteinander bereden können.
Der zweite Punkt ist die Einstiegskriminalität Ladendiebstahl. Herr Scholz, mir wäre es schon ganz recht, Sie würden dazu einmal die Zahlen zur Kenntnis nehmen; sie sind nämlich wirklich schrecklich. Ich habe sie mir extra heraussuchen lassen.
Wenn ich mir bei der Jugendkriminalität die Ladendiebstähle bei den 14- bis 18jährigen anschaue, stelle ich fest, daß es im letzten Jahr 50 000 waren. Die Steigerungsrate beträgt etwa 20 %. Das gilt für die 14- bis 18jährigen. Sie gehören schon zum Bereich des Jugendstrafrechts.
({3})
- Herr von Stetten, ich würde mit Ihnen wirklich gerne diskutieren, aber erst nachdem Sie zugehört haben.
Herr Scholz, gucken wir uns doch einmal die Zahlen der noch nicht Strafmündigen an: Das waren im letzten Jahr 30 000. Das heißt, die Zahl ist im Verhältnis erschreckend hoch, und sie steigt in einem Ausmaß, das uns allen nicht nur zu denken geben müßte, sondern dringend Anlaß zum Nachdenken geben müßte. Aber was heißt das jetzt?
Wenn Sie sich dann einmal anschauen, daß 1992 fünfmal so viele Kinder - d. h. die Altersgruppe unter 14 Jahren, nicht strafmündig - und dreimal so viele Jugendliche von Sozialhilfe leben müssen, dann fällt Ihnen doch eine Verbindungslinie in diesem Bereich auf.
Der Punkt, über den wir uns hier unterhalten müssen, ist doch folgender - das hat mir vorher schon nicht gefallen -: Es hat keinen Sinn, die ganzen Schwierigkeiten immer getrennt voneinander zu sehen. Dies bringt keine Verbesserungsmöglichkeiten.
({4})
Vielmehr müssen wir repressiv die Kriminalität bekämpfen, aber bitte gleichzeitig auch die Ursachen. Die Ursachen sind gerade bei unseren Kindern und bei den Jugendlichen doppelt deutlich. Bei denen kann man noch viel mehr machen. Wenn sie keine kriminelle Karriere anstreben, ist das Leid, das sie verursachen, und sind auch die Kosten - wir befinden uns hier in der Haushaltsdebatte - für die Gesellschaft sehr viel besser zu ertragen.
Ich werbe darum, nicht den Sprüchen derer zu folgen, denen, weil die Kriminalziffern im letzten Jahr gesunken sind, offensichtlich nichts Besseres einfällt, als z. B. zu sagen, man solle das Jugendstrafrecht nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen für die 18- bis 21jährigen, also für die Heranwachsenden, anwenden.
Erstens gilt das sowieso nur bei jugendspezifischen Verfehlungen - das weiß jeder, der damit zu tun hat -, und zum zweiten steckt darin noch die gedankliche Verwechslung, als sei Jugendstrafrecht weich und Erwachsenenstrafrecht hart. Das ist aber dummes Zeug.
Wenn man sich einmal die Zahlen anschaut, sieht man, daß ein Jugendstrafrichter, der sein Handwerk versteht und Zeit hat, angemessen, sehr viel präziser und differenzierter, auf den Punkt genau mit Strafe, Erziehungsmaßnahmen oder beidem an die jungen Leute herankommt, als man das im Erwachsenenstrafrecht kennt.
({5})
Wenn wir das gleiche Ziel haben, muß deswegen unsere Forderung sein, daß die Jugendstrafrichter ausreichend Zeit haben und - auch das ist ein Punkt, für den ich werbe - die Differenzierungsmöglichkeiten bei den Strafen, die sich im Jugendstrafrecht bewährt haben, in das Erwachsenenstrafrecht übernommen werden.
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich noch einmal auf die Justizdebatte und das eingehen, was die Frau Bundesministerin gesagt hat. Weil der Justizhaushalt ein Verwaltungshaushalt ist, hätte ich furchtbar gern einmal darüber geredet, was sie im rechtspolitischen Bereich tut und welche Fortschritte das nach sich zieht. Daß da völlige Fehlanzeige herrscht, fällt auf. Was aber stört, ist, daß wir im wesentlichen das ganze letzte Jahr für die Aufgaben der Rechtspolitik verloren haben, wenn wir Rechtspolitik als das begreifen, was sie sein muß, nämlich zum einen als Stärkung des demokratischen und rechtsstaatlichen Sozialstaats und zum andern als ganz klarer Beitrag für den Schutz und die Stärkung der sozial Schwächeren.
Es kann mir doch keiner sagen, da gäbe es nichts zu tun. Wir wissen doch alle, daß unglaublich viel zu tun bleibt. Sie haben jetzt die Frage des Kindschaftsrechts angesprochen und wissen ganz genau, daß ich da mit Ihnen ganz ungeheuer sympathisiere. Wenn
man sich aber anschaut, wie tröpfchenweise etwas und dann wieder überhaupt nichts, außer den Ankündigungen, getan wird, kann man schon ungeduldig werden.
Ich will auf das Trauerbeispiel „Vergewaltigung in der Ehe", wo es auch um den Schutz von Schwächeren geht und über das wir jetzt schon x-mal geredet haben, gar nicht ausführlich eingehen, obwohl es sich wirklich lohnen würde.
1988 ist ein Entwurf gescheitert. Danach haben wir immer wieder dafür geworben, unserem Entwurf zuzustimmen. Das war nicht möglich, weil das Gezerre zwischen Union und F.D.P. dies einfach verhindert hat. Wir haben uns dann ungeheuer gefreut, als Anfang 1995 die Bundesregierung im Rahmen einer Äußerung zu einem Bundesratsentwurf gesagt hat, daß der strafrechtliche Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt in der Ehe verbessert werden soll. Da haben wir gedacht: Jetzt endlich haben wir es!
Dann aber hat das Bundesjustizministerium am 13. Februar einen Entwurf vorgelegt, der bis auf einen Punkt mit dem Entwurf identisch ist, der schon 1988 gescheitert ist. In bezug auf das Absehen von Strafe und die Widerspruchsrechte haben Sie unsere Argumentation übernommen; das fand ich gut. Am 11. März dann hat die „Welt" die Anweisung des Bundeskanzleramtes gemeldet, die Beratungen der Regierung über das Vorhaben einzustellen.
Am 14. März meldete Reuter - das fand ich nun wirklich gut -, daß die Bundesjustizministerin einen gemeinsamen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen anstrebt. Frau Nolte hat dann am 17. Juli eine Studie vorgestellt - das war, glaube ich, die 5 382. zu diesem Thema, die im übrigen wieder das gleiche Ergebnis, jedoch mit aktuellen Zahlen hat -, in der stand, daß zwischen 1987 und 1991 ungefähr 350 000 Frauen von den zu diesem Zeitpunkt mit ihnen verheirateten und zusammenlebenden Ehemännern vergewaltigt worden sind. Da haben wir gedacht: Jetzt müßte es doch eigentlich irgendwann einmal schnackeln. Aber wieder nichts, Totenstille.
Wenn man noch die Fälle einbezieht, an die man auch denken muß, bei denen zwei Geschiedene zusammenleben oder Verheiratete, die aber von ihrem Ehepartner getrennt leben, handelt es sich um 510 000 Frauen.
({6})
- Lieber Herr von Stetten, seien Sie bitte so freundlich, in diesem Punkt nicht den Begriff „Horrorzahlen" zu benutzen. Wenn gerade Sie das tun, bin ich versucht, aus Ihrem Brief zu zitieren. Soll ich das machen?
({7})
- Da Herr von Stetten mich gerade dazu ermächtigt hat, will ich das gerne tun.
({8})
- Nein, noch nicht. Das Zitat befindet sich auf meiner zweiten Seite. Ich finde das aber sehr liebenswürdig.
Ich lese Ihnen jetzt einfach aus dem Brief vor, zitiert in der „Frankfurter Rundschau" vom 18. März:
Zum ehelichen Leben gehört auch, die „Unlust" des Partners zu überwinden ... Wenn bei dem „Werben" der anfängliche Wille „heute nicht" von der einen oder anderen Seite überwunden wird, kann dies ja wohl kaum als Vergewaltigung angesehen werden, selbst wenn der eine Teil den Beischlaf „über sich ergehen läßt" oder ihn als Mann „vollzieht", um „endlich seine Ruhe zu haben" .
({9})
- Weil ich Sie sehr schätze, verkneife ich mir Kommentare.
Nicht einmal bei einem so selbstverständlichen Fall ist es bisher gelungen, die Rechtspolitik auf die Ziele unserer Verfassung auszurichten. Dabei werden Sie mit großer Sicherheit niemanden finden, der heute, wenn er den Straftatbestand der Vergewaltigung neu zu definieren hätte, die Trennlinie zwischen strafbar und nicht strafbar ausgerechnet beim Trauschein ziehen würde.
({10})
- Ja, aber der ist so schlecht, daß ich ihn lieber nicht vorlese. Das können sie nachher selber tun.
({11})
- Dann ist es vielleicht der dritte. Ich habe hier noch einen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt aufgreifen, der heute keine große Rolle gespielt hat, der von uns aber auch dringend ins Auge gefaßt werden muß. Wir machen, glaube ich, gerade in der Rechtspolitik noch einen Fehler, der sich auf unseren Rechtsstaat und auch auf unsere Gesellschaft im Augenblick schon schädlich und in den nächsten Jahren noch sehr viel nachteiliger auswirken muß. Ich meine folgendes: Wer sich z. B. mit Richtern unterhält - Richtern übrigens aller Gerichtsbarkeiten, auch der unteren Ebenen -, mit Staatsanwälten unterhält, mit Anwälten unterhält oder wer in die Kriminalstatistiken hineinschaut, wird feststellen, daß heute die Justiz und das, was sie tut, immer weniger national gedacht werden kann.
In der polizeilichen Kriminalstatistik stellen wir nicht nur in den neuen Ländern, sondern auch überall in der Bundesrepublik fest, daß seit der Öffnung der Grenzen die Straftaten mit Grenzberührung Dr. Herta Däubler-Gmelin
ich will es jetzt einmal ganz weit fassen - immer stärker zunehmen, daß übrigens ein Drittel dieser immer so beschworenen organisierten Kriminalität international organisiert ist. Wenn Sie heute einfach einmal fragen, wie viele Verfahren mit Auslandsberührung - nicht unbedingt Strafverfahren, sondern auch in Handelssachen - unsere Richter heute haben, dann stellen Sie fest: Auch hier gibt es einen unheimlich hohen Prozentsatz. Was heißt das? Das heißt, daß wir uns diese internationale Verflechtung in Europa in Richtung EU, aber auch nach Osten sehr viel stärker ins Bewußtsein rufen müssen. Warum? Weil bei uns immer noch, wenn ein Verbrechen passierte, gar nicht geschaut wird, was das für eines ist. Oder wenn irgend etwas ansteht, wird nicht mehr geschaut, was das ist. Vielmehr wird als Reaktion immer der nationale Gesetzgeber aufgerufen.
Ich sage Ihnen, ich habe große Zweifel, daß wir an die organisierte Kriminalität oder an die Geldwäsche ausgerechnet mit der Kronzeugenregelung herankommen. Sie wissen von mir, daß ich diese Form einer Regelung nur dann anwenden will, wenn wirklich nichts anderes hilft, weil mit der Kronzeugenregelung immer eine gewisse Durchbrechung der rechtsstaatlichen Prinzipien verbunden ist.
({12})
Gerade bei dieser Art von Kriminalität wissen wir ganz genau, daß die Antwort national viel weniger gegeben werden kann als durch Zusammenarbeit nicht nur im polizeilichen Bereich, sondern auch im Justizbereich, in der Abstimmung von Grundsätzen, in der Abstimmung von Gesetzen und in der Abstimmungsmöglichkeit im tagtäglichen Justizverhalten. Der Amtsrichter aus Offenburg, den ich ständig zitiere - außerhalb der polizeilichen Nacheile mit Frankreich, die wenigstens mittlerweile einigermaßen geregelt wurde -, hat es immer noch wahnsinnig schwer, wenn er mit seinem Kollegen in Bordeaux gemeinsam versuchen muß, nach dem jeweiligen Gesetz Gerechtigkeit durchzusetzen. Das geht nicht. Was ich damit sagen will, ist: Wenn auf die modernen Herausforderungen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung immer nur nationalstaatlich durch Gesetze regiert wird, hat es zwei Folgen: Erstens nützt es sehr viel weniger, als diejenigen, die es vorschlagen, glauben, und zum zweiten macht es den Rechtsstaat an einer Stelle kaputt, an der wir es eigentlich nicht bräuchten.
Meine Damen und Herren, „Rechtsstaat kaputtmachen" bringt mich zu dem letzten Stichwort Bundesverfassungsgericht. Sie wissen, ich kritisiere gerne, genauso wie Sie. Aber wer glaubt, man könne hier einerseits die Chaostage geißeln und man brauche andererseits nicht demokratisch gewählte Politiker, die zum Boykott eines Urteils aufrufen oder gar auffordern, einen Richter zu entfernen - Sie wissen schon, wen ich meine -, zu tadeln, der ist nicht nur nicht glaubwürdig, sondern der spricht auch seinen eigenen Prinzipien der Glaubwürdigkeit Hohn,
({13})
der ist nicht nur selber kein gutes Vorbild, sondern bei dem müssen wir bezweifeln, daß er es ernst meint, wenn er über Kriminalitätsbekämpfung oder Werte redet.
Ich denke, diese Diskussion werden wir fortsetzen müssen. Meine Bitte an Sie ist, eines zu tun, nämlich immer dann, wenn einem das Urteil nicht gefällt, es durchgehen zu lassen. Auch mir gefällt manches nicht. Aber vergleichen Sie einmal die Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers zur Reaktion aufgebrachter Frauen in Sachen § 218, die nicht gewählte Abgeordnete oder Politikerinnen waren, mit der milden Leisetreterei - so will ich es einmal nennen -, als es eigentlich darum gegangen wäre, daß die für die Verfassung zuständigen Minister in großer Deutlichkeit Kollegen oder ehemalige Kollegen zur Ordnung rufen, die die Grenze ganz eindeutig überschritten haben. Das geht nicht.
Danke schön.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Freiherr von Stetten.
Ich mache es wirklich kurz. Nur kann ich nicht stehenlassen - es ist einfach nur ein Satz zitiert worden -, als sei ich für Gewalt in der Ehe. Wenn ich hier in dem Sinne zitiert wurde, daß es Widerstand in der Ehe gebe, dann meine ich natürlich nicht, daß er mit Gewalt beseitigt werden muß, sondern ich meine, daß er mit dem Liebesspiel beseitigt werden soll, das in einer Ehe nun einmal dazugehört.
({0})
- Langsam, langsam.
Ich habe ausdrücklich geschrieben, daß ich unter Erwachsenen nicht weitergehen will. Ich glaube, das ist auch richtig so. Vielleicht nehmen Sie auch zur Kenntnis, daß ich ausdrücklich eine schärfere Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe gefordert habe, daß ich aber gleichzeitig gefordert habe, daß es ein Widerspruchsrecht und eine Art Verzeihung geben muß.
({1})
Ich glaube, dabei handelt es sich wohl um eine Forderung, die man stellen kann.
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr
komische Formulierung!)
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir nähern uns allmählich einem Thema, das man außerhalb des Plenarsaals viel besser behandeln kann als hier. - Frau Däubler-Gmelin, wollen Sie darauf antworten? - Das ist nicht der Fall.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden zur Vergewaltigung in der Ehe, Frau Kollegin DäublerGmelin, einen Gesetzentwurf vorlegen. Er wird im Augenblick noch abgestimmt. Die Beratungen der Verhandlungsführer innerhalb der Fraktionen der Koalition sind abgeschlossen. Ich denke, daß wir in Kürze auch im Ausschuß darüber beraten können.
Ich glaube auch, daß es richtig ist, daß wir uns in einer solchen Stunde, bei einer solchen Debatte, mit der Kritik beschäftigen sollten, die in den letzten Wochen und Monaten am Bundesverfassungsgericht geübt worden ist, wobei es nicht nur um das Kreuz-Urteil vom 10. August dieses Jahres geht, wenngleich dieses Urteil eine große Empörung hervorgerufen hat. Der Kirchenpräsident von Hessen-Nassau nannte dieses Urteil in Teilen seiner Begründung skandalös. Ich glaube aber nicht, daß wir die Kritik und die Kritik an der Kritik auf dieses Urteil beschränken dürfen. Das würde den Blickwinkel verkürzen. Vielmehr müssen wir einfach wahrnehmen, daß aus der Mitte des Verfassungsgerichtes selbst und vor allen Dingen auch von den Lehrstühlen kritische Anmerkungen kommen. Wir kennen sie alle. Ich glaube, daß man diesen Anmerkungen nachgehen muß.
Wir müssen - das ist Aufgabe der Rechtspolitik - uns mit dieser Frage befassen, gerade weil uns genauso wie Ihnen die Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichtes im Rahmen unseres politischen Systems ungemein wichtig erscheint und weil das Verfassungsgericht diese Kontrollfunktion in den vergangenen 40 Jahren in einer hervorragenden Weise ausgeübt hat und zu Entscheidungen gekommen ist, die hohes Ansehen genießen und große Zustimmung nicht nur bei der Bevölkerung in unserem Land, sondern auch im Ausland gefunden haben. Das Bundesverfassungsgericht und die Richter haben ein hohes Ansehen. Viele der Ostblockländer, die frei geworden sind, suchen den Kontakt zu uns, weil sie eine solche Institution wie das Bundesverfassungsgericht haben wollen. Es muß im Rahmen dieser Kritik erlaubt sein - es ist auch richtig -, daß wir vielleicht mit dafür Sorge tragen, daß das Bundesverfassungsgericht den Rahmen, den es in der Verfassung und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz gesteckt bekommen hat, nicht allmählich überschreitet und also nicht zum Gesetzgeber wird, wie das ja nicht nur von politischer Seite gerügt wird, sondern aus den Reihen des Bundesverfassungsgerichtes selber angemerkt worden ist. Es ist die Befürchtung geäußert worden, es könnte allmählich zu einer „Veränderung unserer Verfassungsstruktur" kommen. Ein Richter am Bundesverfassungsgericht hat dies so geäußert.
Wir müssen in dieser Diskussion mit dafür Sorge tragen, daß diese Kontrollfunktion erhalten bleibt, daß Gesetzgebung und Rechtsprechung getrennt bleiben und daß das Bundesverfassungsgericht eine ganz herausgehobene Stellung hat und nicht zu einer Superrevisionsinstanz der Fachgerichte wird. Ich meine, wir sollten diese Diskussion in aller Ruhe aufnehmen.
({0}): Davon war nicht viel zu spüren in
der letzten Zeit!)
- Sie sollten meine Äußerungen einmal nachlesen. Dann hätten Sie das, was Sie jetzt gesagt haben, vielleicht nicht geäußert. Man muß nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht.
({1})
Sie, Frau Justizministerin, haben einen weiteren wichtigen Punkt angesprochen, das Kindschaftsrecht. Es ist wahr, Frau Däubler-Gmelin, wir müssen mit diesem Gesetzgebungsvorhaben so schnell wie möglich klarkommen. Es ist eine längst fällige Reform; das sehen wir genauso. Aber ich gebe zu: Wir tun uns da ein wenig schwerer, weil uns die Erhaltung der Familie - auch wenn das bei Ihnen sicher auch der Fall ist - in ganz besonderer Weise am Herzen liegt.
Es geht natürlich nicht nur in den rechtlichen Rahmen für die Familie, sondern es geht dabei auch um die finanzielle Unterstützung. Ich weise aber darauf hin, daß in diesem Bundeshaushalt 7 Milliarden DM mehr für die Familien ausgegeben werden, während der Haushalt gleichzeitig um 7 Milliarden DM gekürzt wird. Das darf man bei einer solchen Debatte ja einmal anmerken.
({2})
Bei dem Kindschaftsrecht geht es um die Frage, wie wir die Dinge regeln, die nach einer Scheidung in bezug auf die Kinder entstehen. Zu den Vorstellungen des Bundesjustizministeriums gibt es inzwischen Gegenvorschläge. Ich meine, man muß diejenigen, die jetzt kritisieren, auch darauf hinweisen, daß es zunächst einmal nicht um die Frau geht - die sich natürlich unter Umständen schwertut, in einem Scheidungsverfahren einen entsprechenden Antrag zu stellen, um dann als Störenfried zu erscheinen -, sondern daß es zunächst um die Kinder geht. Ich meine, der Ansatz, den das Justizministerium, den Sie, Frau Ministerin, gefunden haben, ist nicht so falsch. Ich möchte aber einräumen: Man muß dieser Frage im einzelnen nachgehen. Wir wollen die Kritik
nicht beiseiteschieben, sondern wir wollen uns mit ihr auseinandersetzen.
Es geht auch um das gemeinsame Sorgerecht nichtverheirateter Eltern, die zusammenleben. Auch wir meinen, die elterliche Sorge kann auf einen übereinstimmenden Antrag hin gemeinsam erteilt werden.
Und es geht um das Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters mit dem Kind. Hier kommt es uns darauf an, daß nicht in eine bestehende gute Familienbeziehung, in die das Kind vielleicht inzwischen eingebettet ist, von außen her - durch ein Umgangsrecht, das
nur mit Gewalt durchgesetzt wird - eingegriffen wird. Wir müssen versuchen, auch hier eine Lösung zu finden, die vor allen Dingen im Interesse des Kindes liegt.
Es geht um das Erbrecht des nichtehelichen Kindes. Die Frage hier ist, ob die neuen Überlegungen den Betroffenen wirklich Vorteile bringen. Wir wollen dies in aller Ruhe miteinander besprechen und erwägen.
Es geht um die Amtsvormundschaft, die ja auch Teil dieses Gesetzgebungsvorhabens ist. Wir sind der Meinung, man sollte den Betroffenen erst einmal einen Zeitraum zur Verfügung stellen - das kann ein Jahr, das können zwei Jahre sein -, in denen sie ihre Dinge selbst regeln können. Aber wenn dann der Vater nicht feststeht, dann, so meinen wir, soll der Staat im Interesse des Kindes von Amts wegen und auf Grund der verfassungsgerichtlichen Entscheidung einschreiten. Aber auch in diesem Punkt wollen wir miteinander reden.
Ein Wort noch zu einem anderen Thema - weil diese Diskussion nicht im Rahmen dieses Kindschaftsrechtes aufgekommen ist -: Wir wenden uns gegen jede Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit der Ehe. Das hat nichts miteinander zu tun, das ist etwas ganz anderes und gehört auch nicht in diese Debatte.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben uns natürlich auch mit dem Vermögensgesetz, mit dem, was jetzt vom Bundesrat auf uns zukommt, zu beschäftigen; mein Kollege Kolbe wird dies noch ausführlicher betrachten. Wir waren Ende August in Dresden und haben eine Anhörung zum SED-Unrechtsbereinigungsgesetz durchgeführt. Wir haben uns die Kritik zu diesem Gesetz angehört. Ich bin mit Ihnen, Frau Ministerin, der Meinung: Wir sollten zumindest - und das ganz schnell, weil es am Ende des Jahres ausläuft - die Antragsfristen - vielleicht für beide, für das Erste und das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz; sicherlich trifft das auch auf Zustimmung in den Reihen der SPD - verlängern.
Ich möchte noch etwas zur inneren Sicherheit sagen. Sie hat in der heutigen Debatte schon eine ausgiebige Rolle gespielt, auch jetzt in der Justizdebatte.
Wir streben die Verlängerung der Kronzeugenregelung an und fragen uns natürlich, ob es nicht allmählich angezeigt ist, diese Kronzeugenregelung so wie in Italien und anderen Ländern auf Dauer einzurichten. Auf jeden Fall bitten wir darum, vielleicht einen längeren Zeitraum einzuräumen. Bei terroristischen Straftaten haben wir schon jetzt eine vier Jahre lang geltende Kronzeugenregelung. Wir bitten um Verständnis dafür, daß wir fordern, vielleicht einmal einen längeren Zeitraum ins Auge zu fassen.
Wir halten natürlich an der Abhörung von Gangsterwohnungen fest, weil wir meinen, daß dies ein wichtiger Punkt in der Kriminalitätsbekämpfung ist.
({4})
Unsere Hauptstoßrichtung gilt natürlich der Bestechung und der Korruption. Dabei geht es um die Frage, ob wir nicht auch Tatbestände anders formulieren sollten, zumindest was den Strafrahmen angeht. Vielleicht sollten wir dazu übergehen - wenigstens einmal darüber nachdenken -, eine schwere Korruption im Beamtenbereich als Verbrechenstatbestand zu qualifizieren. Das würde nach dem Disziplinarrecht automatisch dazu führen, weil es eine mindestens einjährige Freiheitsstrafe gibt, daß der Täter seine Stellung als Beamter verlieren würde.
Ich sehe den Hinweis, zum Schlußsatz zu kommen. - Wir werden an der Justizentlastung nicht vorbeikommen. Wir sind im Gespräch mit den Ländern. Ich sehe aber das skeptische Gesicht von Herrn Kleinert, und ich weiß, wie schwierig sie ist. Wir werden aber darüber diskutieren müssen.
Frau Kollegin, wir werden die Kleinkriminalität nicht dadurch beseitigen, daß wir sie einfach aus dem Strafgesetzbuch streichen. Wir dürfen sie auch nicht zu Lasten des Arguments beseitigen, wir wollten die Justiz entlasten; denn die Justiz ist für die Sicherung des Rechtsstaates da. Ich kann einen rechtswidrigen Zustand zu Lasten des Rechtsstaates nicht mit dem Argument beseitigen wollen, daß ich die Justiz durch die Entlastung unterstützen würde.
Herr Kollege, das ist ein sehr langer Satz. Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich möchte zum Schluß darauf hingewiesen haben. - Ich nehme die Rüge ernst, Herr Präsident.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun der Herr Abgeordnete Volker Beck.
Meine Damen und Herren! In den letzten Wochen haben wir eine CDU/CSU in Kreuzzugsstimmung erlebt. Die Reaktionen auf das Karlsruher Kruzifix-Urteil haben der Republik deutlich vor Augen geführt, wie viele Unionspolitiker bereit sind, für den rechten Glauben die Rechtsordnung mit Füßen zu treten.
({0})
Meine Damen und Herren, auch uns gefällt so manches Urteil des Bundesverfassungsgerichts ganz und gar nicht. Natürlich darf man auch Karlsruhe kritisieren. Aber was Sie sich geleistet haben, das übersteigt jedes erträgliche Maß.
({1})
Volker Beck ({2})
Kollege Geis bezeichnete die Entscheidung als verfassungswidrig. Ein Bundestagskollege forderte die Enthebung von einzelnen Verfassungsrichtern. Der stellvertretende CSU-Vorsitzende forderte dazu auf, das Urteil des Verfassungsgerichts „nicht zu befolgen" . Bayerns Ministerpräsident Stoiber kündigt an, die Kreuze einfach hängen lassen zu wollen.
Da fragt man sich doch bange: Observieren demnächst Schlapphüte die Münchner Staatskanzlei? Wird die CSU ein Fall für den Verfassungsschutz?
Die Position des Verfassungsgerichts in Frage zu stellen, weil einem ein Urteil nicht paßt, gar zum Boykott gegen seine Entscheidungen aufzurufen - einen solchen Angriff auf die Unabhängigkeit und Autorität unseres obersten Gerichtes hat es bislang noch nicht gegeben.
({3})
Ich behaupte, das geschieht aus eiskaltem Kalkül. So mancher aus der CDU/CSU will schon einmal prophylaktisch das Bundesverfassungsgericht demontieren; denn nicht ohne Grund müssen Sie beim Verbrechensbekämpfungsgesetz wie beim Asylrecht eine Bauchlandung in Karlsruhe befürchten.
({4})
Eine einstweilige Anordnung gegen die Schnüffelei des BND haben Sie ja bereits kassiert.
Meine Damen und Herren von der Union, lassen Sie von einer Nötigung des Bundesverfassungsgerichtes ab! Sie spielen mit dem Feuer und beschwören einen Verfassungskonflikt.
Und Sie, Frau Justizministerin, kommen Sie endlich aus der Versenkung und rufen Sie Ihre Koalitionspartner bei solchen Tönen zur Ordnung! Heute haben Sie die Gelegenheit in dieser Debatte leider versäumt.
Aber nicht nur in der Kruzifix-Debatte fehlt es der Justizpolitik am liberalen Rückgrat. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wo bleibt denn die Umsetzung der Beschlüsse vom Mainzer F.D.P.-Parteitag? Als „Befreiungsschlag" wurden sie damals bezeichnet, als „just for show"-Beschlüsse haben sie sich heute herausgestellt, sie haben sich als reine Schaumschlägerei erwiesen.
Lediglich einen Referentenentwurf zur Reform des Kindschaftsrechts hat das Justizministerium in letzter Minute vor der Haushaltswoche präsentiert. Allerdings ist es Ihnen hierbei gelungen, das Votum nahezu aller Betroffenenverbände souverän zu überhören. Diese fordern nämlich zu Recht, ein gemeinsames Sorgerecht nach einer Scheidung auf Antrag zu ermöglichen. Statt dessen wollen Sie das gemeinsame Sorgerecht als Regelfall verordnen. Damit schwächen Sie die Stellung der betroffenen Mütter massiv. So geht das nicht. Die längst überfällige Reform des Kindschaftsrechts darf nicht zu Lasten der Frauen gehen.
({5})
Wir zumindest machen das nicht mit.
Ansonsten wartet man vergebens auf die Umsetzung Ihrer Mainzer Beschlüsse. Wo bleibt denn Ihr Einsatz für den Abbau der Diskriminierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften? Was ist mit dem Versprechen, die Lebenssituation von Lesben und Schwulen konkret zu verbessern? In welcher Schublade ist der Gesetzentwurf zur Vergewaltigung in der Ehe verschwunden? Die bisherige Debatte hat das immer noch nicht geklärt.
({6})
- Darauf hoffe ich.
Herr Geis, nach Ihren Ausführungen ist mir der Zusammenhang zwischen Familienförderung und Straffreiheit bei der Vergewaltigung in der Ehe immer noch nicht einsichtig, und ich finde, er gehört in diese Debatte nicht hinein.
({7})
Diese Rechtssituation ist keine Familienförderung, sondern es ist familienzerstörend, so etwas hinzunehmen.
({8})
Es ist im Justizministerium verdächtig still geworden. Anscheinend wirft der große Lauschangriff schon seine Schatten voraus. Herr Gerhardt will die Stimmung an der F.D.P.-Basis abhorchen, also Ring frei zur nächsten Runde im Grundrechteabbau. Die Botschaft an Sie, Frau Ministerin, ist leider klar. Sie sind angezählt.
Unterdessen darf Innenminister Kanther weiterhin unter dem Vorwand der sogenannten effektiven Verbrechensbekämpfung immer neue Horrorszenarien mit noch mehr Strafverschärfungen und noch mehr Demontage des Rechtsstaates ausbreiten. Seine Rede heute war wieder ein deutliches Beispiel dafür.
Besinnen Sie von der Koalition sich lieber einmal auf die Grundlagen unserer Verfassung: Grundrechte werden als Freiheits- und Abwehrrechte des einzelnen gegen die Allmacht eines übermächtigen Staates gewährleistet. Wenn in unserem Lande Grundrechte nur so lange Geltung beanspruchen dürfen, wie sie den Staat in seiner vermeintlichen Aufgabenerfüllung nicht tangieren, dann sind sie allerdings das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.
Noch ein letzter Punkt, Frau Justizministerin: Immer wieder hört man aus Ihrem Munde, der TäterOpfer-Ausgleich solle vorangetrieben werden. Heute haben Sie davon allerdings nichts gesagt. Wie verträgt sich das damit, daß im neuen Haushalt 300 000 DM für das Service-Büro der Deutschen Bewährungshilfe e. V. für Täter-Opfer-Ausgleich und Konfliktschlichtung gestrichen werden sollen? Von dieser Streichung betroffen ist eine Einrichtung, die sich maßgeblich mit der Koordination und Entwicklung von Standards für den Täter-Opfer-Ausgleich
Volker Beck ({9})
befaßt. Gerade das ist wegen der unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern unabdingbar. Wir hatten dazu kürzlich in Bonn eine Tagung, die sehr lehrreich war und bei der deren Notwendigkeit wirklich jedem drastisch vor Augen geführt wurde.
Vielleicht ist Ihnen der Widerspruch zwischen offizieller Verlautbarung und Praxis im Haushaltsplan nur schlichtweg nicht aufgefallen. So ganz überraschend fände ich das nicht. Schließlich haben Sie und Ihre Parteikollegen nach eigenem Bekunden erst vor kurzem im Kabinett die Abstimmung über das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz einfach verschlafen
({10})
und entgegen dem Votum Ihrer Partei Herrn Seehofers schäbigem Plan zugestimmt, die Sozialleistungen für Kriegsflüchtlinge zu streichen.
({11})
So versehen Sie Ihr liberales Wächteramt. Da kann man nur konstatieren: Ruhe sanft, liberale Rechtspolitik!
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Verläßliche, prognostizierbare Rechtsprechung in angemessener Zeit - ich mache es jetzt so ähnlich wie Sie, Frau Däubler-Gmelin, gewisse Dinge, um die wir uns weiterhin bemühen müssen möglichst gleich am Anfang immer zu wiederholen, - bedeutet u. a., daß dieses Parlament bei der Gesetzgebung, wenn nicht äußerste Dringlichkeit gegeben ist, sorgfältig zu Werke geht, prüft, die Beteiligten anhört, vernünftige Gespräche in angemessener Zeit führt und daraufhin - das spricht am ehesten dafür, daß das dann auch so zustande kommt - anständige Gesetze macht.
Deshalb besteht ein gutes halbes Jahr nach Zusammentreten dieses Bundestages überhaupt keine Veranlassung, angesichts der Vorlagen, die bereits jetzt für jedermann sichtbar geworden sind und für die wir der Bundesjustizministerin danken, etwa von versäumter Zeit zu sprechen.
({0})
Der Druck der vergangenen Legislaturperiode mit den unglaublichen Anforderungen, die sich aus der deutschen Einigung ergeben haben, ist im wesentlichen abgebaut worden. Deshalb müssen wir hier zu einem gediegenen Arbeitsstil zurückfinden. Das gilt für eine Fülle von Vorhaben, die man am besten nur ganz vorsichtig oder gar nicht anfaßt. Ich denke zum Beispiel an die Regelungsfülle - zum allergrößten Teil überflüssig -, die der SPD vorschwebt. Nachdem sie kunstvoll das Phantom der Bankenmacht aufgebaut hat, läßt sie ihrem Regelungsbedürfnis großzügig freien Lauf. Wir prüfen gern mit Ihnen gemeinsam, was davon wohl sein muß. Wir sagen gar nicht, daß da überhaupt nichts wäre, um das man sich kümmern und bei dem vielleicht auch hier und da etwas geregelt werden müßte. Aber alles zu regeln, was irgend geht, geht zu weit.
Dazu gehört im übrigen auch, daß wir möglichst immer weiter - das bedarf offenbar einer langwierigen und gründlichen Überzeugungsarbeit - auf außergerichtliche Einigungen hinarbeiten, daß wir möglichst viele Anreize zu außergerichtlichen Einigungen geben. Wenn heute schon 70 % aller potentiellen Streitfälle mit Hilfe der Anwaltschaft außergerichtlich erledigt werden, ist das der wirksamste Beitrag zur Gerichtsentlastung, den wir uns vorstellen können. Auch dafür muß man dankbar sein.
({1})
Das muß man weiter so betreiben.
Ich könnte mir auch vorstellen, daß gewisse Überlegungen über die Art, wie wir die Richter der obersten Bundesgerichte wählen, mit in diesen Zusammenhang gehören. Wir könnten sowohl den Vertretungen der Richter wie gleichzeitig denen der Anwälte mehr Möglichkeiten geben, ihre Vorstellungen vorzutragen, um damit etwas mehr Transparenz in die Vorgänge zu bringen, so daß sich die Richterschaft in ihrer Stellung und hinsichtlich der Grundsätze, die dazu führen, daß Richter in diese verantwortungsvolle Position der Rechtsentwicklung gebracht werden, sicherer fühlt. Dazu, meine ich, wären vernünftige Gedanken sehr angebracht.
Gleichzeitig finde ich die insbesondere nach kürzlichen sehr heftigen Auseinandersetzungen über ein Verfassungsgerichtsurteil sofort einsetzenden Diskussionen über eine Veränderung der Mehrheiten, mit denen das Gericht entscheidet, oder über ein verändertes Wahlverfahren weniger angemessen, um das einmal so zurückhaltend auszudrücken.
Ich möchte mich zu der nach dem Kruzifix-Urteil entstandenen Diskussion in der gleichen Weise zurückhaltend äußern. Es hat immerhin - soviel darf man sagen; ich glaube, ich bin darin mit Herrn Kollegen Schily im wesentlichen einig - zu einer in vielen Teilen - keineswegs überall - sehr niveauvollen Diskussion geführt. Es hat bei vielen Menschen, bei denen der Umgang mit christlichen Symbolen zur Routine geworden zu sein scheint, dazu geführt, daß sie neu darüber nachgedacht haben, aus welchen Gründen und gar aus welchen Rechtsgründen solche Symbole Verwendung finden. Rechtsgründe dafür sollte es im gegebenen Zusammenhang allerdings nicht geben. Das war der Sinn des Urteils; darum geht es in Ordnung.
Wenn daraufhin die Kreuze - weil die Eltern sie übereinstimmend wünschen oder weil niemand widerspricht - in den Schulen und anderwärts als ein Bestandteil unserer Kulturgeschichte und unserer Einstellung zu diesen Grundwerten weiterhin hängen, dann werden wir das begrüßen.
({2})
Nur: Die staatliche Anordnung ist eine ganz andere Geschichte; sie durfte nicht sein.
Detlef Kleinert ({3})
Wir werden auch über Ihre Vorschläge in bezug auf Änderungen beim Bundesverfassungsgericht gerne diskutieren. Herr Kollege Eylmann, Sie wissen, daß ich neulich bei einer Gelegenheit in Gegenwart unserer argentinischen Kollegen laut über die Möglichkeit nachgedacht habe, dort eine Zweidrittelmehrheit einzuführen, wofür tatsächlich einiges spricht. Bei weiterer Überlegung habe ich mir gedacht, ich könnte zu leicht in die Gefahr kommen, in der sich zur Zeit Herr Beck vielleicht - ich sage das ganz vorsichtig - befindet, daß ich mir nämlich in dem Augenblick, in dem mir etwas nicht so sehr gefällt, sage: „Darauf mußt du so und so reagieren" und nicht das Ende bedenke - respice finem. Man sollte immer im Auge behalten, daß bei einer Änderung der Verhältnisse diese Änderung sehr massiv ins eigene Fleisch schneiden könnte, so daß man es, wenn man den Gedanken zu Ende geführt hat, am liebsten bei dem läßt, was wir schon haben, so wie Frau Däubler-Gmelin die Ehre hatte, das als Berichterstatterin 1990 dem Hause vorzutragen.
({4})
Herr Kollege Kleinert, Sie müssen tatsächlich das Ende bedenken.
Herr Präsident, wegen der historischen Bedeutung des nun folgenden Satzes bitte ich Sie eine Sekunde - nein, eine etwas längere Sekunde - um Nachsicht. Ich möchte nämlich für die weitere Diskussion darauf aufmerksam machen, daß sich in früherer Zeit die Fronten häufig ganz überraschend anders entwickelt haben.
Die Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P. hat 1950 die feste Meinung vertreten, nur das Plenum des Bundestages könne die Verfassungsrichter wählen, alles andere sei verfassungswidrig. Dagegen ist Herr Adolf Arndt zu Felde gezogen und hat durch eindrucksvolle Überzeugungsarbeit dazu beigetragen, daß der Rechtsausschuß des Bundestages schließlich dem Plenum einstimmig empfohlen hat, bei der dortgefundenen Lösung eines Wahlgremiums zu bleiben - ein klassisches Verdienst eines bedeutenden Rechtspolitikers der Sozialdemokratie, an das man bei dieser Gelegenheit gern einmal erinnert, wie überhaupt der Blick in die Geschichte auch für unsere künftigen Beratungen hoffentlich noch viel Gutes hergeben wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute schon mehrfach über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts diskutiert. Das Gericht hat zum drittenmal in kurzer Zeit mit einem Urteil, das die Rechte des einzelnen oder von Minderheiten schützt, heftige Kritik und große Aufregung bei den eher konservativ gesinnten Kreisen der deutschen Politik hervorgerufen. Im jetzigen Fall des sogenannten Kruzifix-Urteils haben in der ersten Aufregung bayerische Politiker sogar mitgeteilt, sie wollten dem Urteil den Gehorsam verweigern. Diese Politiker offenbarten damit den gleichen selektiven Rechtsgehorsam wie jene Steuerpflichtigen und Steuerflüchtigen, die Diebstahl verurteilen, aber nichts dabei finden, Steuern zu hinterziehen und ihr Vermögen am Fiskus vorbei in die Steueroasen zu schleusen.
Herr Geis hat am 21. August 1995 von der Gefahr gesprochen, daß durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der gewaltengeteilte Staat ruiniert wird. Das Bundesverfassungsgericht ist u. a. auch als Notbremse gedacht für den Fall, daß Politiker den Rahmen der Verfassung verlassen oder sich dazu anschicken. Das war von den Konstrukteuren des Grundgesetzes gewollt. Wenn Zweifel auftauchen, ob sich die Politik in den Grenzen der Verfassung hält, sollte darüber ein Gericht entscheiden. Das ist dann notwendigerweise eine Entscheidung über Politik. Insofern gibt es natürlich einen Bereich einer gewissen Vermischung der Gewalten. Die gibt es übrigens auch, wenn Richter von Politikern ernannt oder gewählt und befördert oder nicht befördert werden.
Will man diese gegenseitige Kontrolle von Politik und Rechtsprechung einschränken oder abschaffen? Es gibt keine Ideallösung. Bei aller Problematik, die einer solchen Kontrolle und einer Korrektur parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen durch ein Verfassungsgericht innewohnt - das ist im Zweifel eine Einschränkung des Souveräns -, würde ihre Schwächung doch auch zu einer Schwächung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts und des Rechts allgemein führen.
Ich weise jedenfalls namens der Abgeordnetengruppe der PDS die am Bundesverfassungsgericht geübte Schmähkritik entschieden zurück, die versucht - ich teile in diesem Punkt die Auffassung des Kollegen Beck -, das Gericht einzuschüchtern, um im Interesse einer bestimmten politischen Richtung Einfluß zu nehmen.
Der Vorwurf, das Prinzip der Gewaltenteilung werde verletzt, kommt eigenartigerweise aus dem gleichen politischen Lager, das es mit der Gewaltenteilung bei den Kampfeinsätzen der Bundesluftwaffe über dem ehemaligen Jugoslawien nicht so genau nimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Einsätze für verfassungsgemäß erklärt, wenn und soweit der Bundestag sie genehmigt.
Man kann über diese Entscheidung verschiedener Auffassung sein. Ich habe meine Einwände. Aber wie auch immer: Der Bundestag hat Kampfeinsätze unter der Bedingung genehmigt, daß sie den Friedenstruppen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien die Erfüllung ihres Mandats ermöglichen oder ihren eventuellen Abzug unterstützen.
Ich meine, daß diese einschränkenden Bedingungen nicht erfüllt sind. Es geht bei den jetzigen Einsätzen der Tornados nicht im mindesten um UNO-Truppen. Das Verständnis dieser Regierung von GewalDr. Uwe-Jens Heuer
tenteilung besteht also offenbar darin, daß das Verfassungsgericht und das Parlament beschließen können, was sie wollen, und die Regierung gleichwohl und unabhängig davon tun kann, was sie will.
Herr Scholz - er ist nicht mehr da - hat davon gesprochen, daß wir den kraftvollen schlanken Staat haben wollen. Ich möchte nicht gern, daß das Symbol des kraftvollen schlanken Staates nun der Tornado ist.
Das Kruzifix-Urteil und die bevorstehenden Nachwahlen liefern wieder einmal den Anlaß, grundsätzliche Veränderungen beim Schutz des Grundgesetzes durch Rechtsprechung anzumahnen. Es gibt eine Diskussion darüber, ob es richtig ist, daß Personen, die derart weitreichende Entscheidungen treffen, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Sie werden von einem Konklave gewählt, das seinerseits der Öffentlichkeit ebenfalls unbekannt ist und dessen Verfahren zumindest nicht mit dem übereinstimmt, was der unvoreingenommene Leser Art. 94 Abs. 1 des Grundgesetzes entnimmt.
Auch wenn Adolf Arndt das damals befördert hat, meine ich, man sollte das überdenken. Ich meine nicht, daß es der Demokratie, dem Bundesverfassungsgericht oder den Richtern schadet, wenn der ganze Vorgang etwas öffentlicher wird. Über die Frage einer öffentlichen Anhörung sollte man diskutieren.
Noch ein Gedanke zum Schluß. Unser Kollege Norbert Geis hat am 22. August 1995 - ich zitiere ihn zum zweiten Mal; das zeigt unsere enge Verbundenheit - im WDR bestätigt, daß in der Kruzifix-Sache die Bayerische Staatsregierung nunmehr ein Gesetz vorlegen will, in dem die vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärte Bestimmung erneut enthalten sein soll, damit die Kläger wiederholt diese Bestimmung gerichtlich angreifen müssen.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, was das heißt: Die Regierung eines Bundeslandes legt einen Gesetzentwurf vor im vollen Wissen um seine Verfassungswidrigkeit. Ich bin gespannt, ob bei einem solchen Verfassungsverständnis, das bewußt den Gehorsam gegenüber dem Bundesverfassungsgericht verneint, die Bayerische Staatsregierung und die sie tragende Partei im nächsten Verfassungsschutzbericht als verfassungsfeindliche Organisationen erwähnt werden.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Manfred Kolbe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Vor wenigen Tagen jährte sich zum fünftenmal der Tag der Unterzeichnung des Einigungsvertrages, und in wenigen Wochen feiern wir den fünften Jahrestag der Wiedervereinigung. Frau Bundesministerin, Sie haben deshalb dankenswerterweise die Gelegenheit zu einem kurzen rechtspolitischen Rückblick ergriffen, zumal die
Rechtspolitik der letzten Jahre in der Tat im Zeichen der Wiedervereinigung stand.
Mir ist es deshalb unverständlich, wenn von Ihnen, Frau Herta Däubler-Gmelin, das Fehlen rechtspolitischer Konzepte beklagt wird. Ich glaube, in der Rechtspolitik ist noch nie soviel passiert wie in den letzten Jahren. Noch nie waren die Rechtspolitiker so beschäftigt.
({0})
Die Aufarbeitung des Unrechtsstaats DDR, soweit noch möglich, die Schaffung einer einheitlichen Rechtsordnung in Deutschland und der Aufbau der Justiz im Osten waren in der Tat zentrale Themen und Aufgaben, die ganze Arbeit erforderten.
Am schwierigsten war es, den Menschen zu helfen, deren Lebenschancen vom SED-Regime beeinträchtigt oder gar zerstört worden waren. Soweit noch möglich, haben hier die beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze versucht, einen Ausgleich zu schaffen, wenn auch oft nicht das erreicht werden konnte, was vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich dafür, daß Sie hier weitere Gesprächsbereitschaft in bezug auf die Fristen usw. signalisiert haben. Wenn wir irgendwelche Spielräume in der Politik haben, dann sollten wir versuchen, den Opfern der DDR noch zu helfen.
Bei der Rechtsangleichung haben wir das Werk des Einigungsvertrages fortgesetzt und einen weitgehenden Abschluß erreicht. Während der Ausgangsgrundsatz des Vermögensgesetzes Rückgabe vor Entschädigung im Osten nach wie vor - ich drücke es einmal vorsichtig, parlamentarisch aus - umstritten bleibt, werden die nachfolgenden Gesetze wie z. B. das Sachenrechtsbereinigungsgesetz, das Schuldrechtsanpassungsgesetz und das Entschädigungsgesetz in der Bundesratsfassung überwiegend als sachgerechter Interessenausgleich empfunden. Wenn man bedenkt, daß es sich um Gesetze von vitalem Interesse für Hunderttausende von Familien handelt, die elementarste Lebensgrundlagen wie die Wohnung betreffen, dann muß man anerkennen, daß es eine großartige Leistung ist, daß diese Gesetze jetzt so unspektakulär vollzogen werden.
({1})
Sie, Frau Ministerin, haben wesentlichen Anteil an diesem sachgerechten Ausgleich.
Schließlich ist auch der Aufbau der Justiz in den östlichen Bundesländern weitgehend abgeschlossen, wozu der Bund eine beachtliche Anschubfinanzierung in Höhe von ungefähr 300 Millionen DM geleistet hat. Besonders erfreulich ist, daß jetzt die Verlagerung zweier oberster Bundesgerichte, des Bundesverwaltungsgerichts nach Leipzig und des Bundesarbeitsgerichts nach Erfurt, in die Gänge kommt und diese beiden Gerichte um das Jahr 2000 ihren Sitz im Osten Deutschlands haben werden.
Gerade der Vergleich mit Osteuropa zeigt, wie wichtig der Rechtsstaat und wie wichtig eine rechtsstaatliche Justiz als Investitionsrahmenbedingung ist.
Es bleibt aber auch für die Rechtspolitik noch manches zu tun. Auf dem Gebiet der Rechtsangleichung haben wir noch einige schmerzhafte Lücken. Ich erwähne hier nur - davon bin ich in meinem Wahlkreis besonders betroffen - das immer noch geteilte Bergrecht im wiedervereinigten Deutschland. Im Osten gehören nach wie vor zahlreiche Bodenschätze wie Sand, Kies und Steine nicht wie im Westen dem Grundeigentümer. Mir ist es nach wie vor unverständlich, Frau Ministerin, warum die Bundesrepublik Deutschland hier erstens das DDR-Volkseigentum perpetuiert, zweitens die ansonsten immer beschworene Eigentumsgarantie des Art. 14 des Grundgesetzes nicht beachtet und drittens auf den elementaren Grundsatz der Rechtsgleichheit verzichtet.
Meine Fraktion hat dazu für diese Woche endlich eine erste Initiative ergriffen, die meiner persönlichen Ansicht nach aber nicht ausreicht. Wichtig wäre es meines Erachtens, daß Sie als Bundesjustizministerin und die Rechtspolitiker sich endlich einmal dieses Themas annähmen, damit es nicht nur im Bundeswirtschaftsministerium behandelt wird, wo wahrscheinlich handfeste Interessen den Gang der Dinge bestimmen.
Besonders beschäftigen muß uns auch die Sorge gerade der Bürger im Osten um die innere Sicherheit. Nach der Arbeitslosigkeit ist die Kriminalität das drängendste Problem. Wir alle können nur mit Sorge eine Allensbach-Umfrage vom Frühjahr registrieren, nach der auf die Frage, ob die Bürger mit dem Schutz durch die Polizei zufrieden seien, im Westen etwa gleich viele mit Ja und mit Nein geantwortet haben - 43 % zu 44 % -, während im Osten nur 13 % zufrieden waren; 76 % waren nicht zufrieden.
Mich bedrückt es immer, wenn mir die Bürger im Wahlkreis sagen: Lieber Herr Kolbe, wir sind durchaus zufrieden mit der Bundesrepublik Deutschland, aber in der DDR waren wir besser vor Kriminalität geschützt. - Es darf nicht so sein, daß nur eine totalitäre Diktatur in der Lage ist, die Bürger vor Kriminalität zu schützen. Das muß auch der demokratische Rechtsstaat leisten. Dazu sind wir alle aufgefordert.
Gerade die 40 Jahre DDR zeigen, glaube ich, mit einer kaum zu überbietenden Deutlichkeit die Bedeutung des Rechtsstaats für uns alle. Der Rechtsstaat verkörpert das Wesen der Bundesrepublik Deutschland und ist Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens und auch unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Der Rechtsstaat kann deshalb für eine freie Gesellschaft nie zu teuer sein. Dennoch sind wir hier in einer Haushaltsdebatte. Wir müssen natürlich dem steuerzahlenden Bürger auch über die Kosten der Justiz Rechenschaft ablegen.
Was mir bei der Befassung mit den Kosten der Justiz in den letzten Wochen aufgefallen ist, ist, daß wir dazu wohl im Augenblick keinen exakten Überblick haben. Wir beraten heute den Haushalt Ihres Hauses, Frau Ministerin, rund 700 Millionen DM. Dort sind aber auch justizfremde Kapitel wie das Bundespatentamt enthalten, während andererseits oberste Gerichte, Bundesgerichte wie das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht, fehlen. Die Justizhaushalte der Länder haben ein Gesamtausgabevolumen von rund 15 Milliarden DM, enthalten aber auch nicht gewisse Kosten, etwa die Gebäudekosten oder die Pensionslasten. Ich glaube, wir sollten einmal versuchen, eine Aufstellung der Kosten der Justiz zu erarbeiten: zum einen, um mehr Transparenz zu erreichen, zum anderen aber auch, um dem steuerzahlenden Bürger Rechenschaft abzulegen.
({2})
- Ja, durchaus. Das kann auch das Ergebnis sein, Herr Kleinert.
Wir müssen uns dabei auch dem internationalen Vergleich stellen; denn eine rechtsstaatliche effiziente Justiz ist auch ein wichtiger Standortfaktor. Wir haben in Deutschland heute rund 75 000 zugelassene Rechtsanwälte, beschäftigen 20 600 Richter, 5 000 Staatsanwälte und 12 500 Rechtspfleger. Ein vergleichbarer Industriestaat wie Japan kommt bei einer Bevölkerungszahl von 120 Millionen Einwohnern mit 14 000 zugelassenen Rechtsanwälten, 2 800 Richtern und 1 200 Staatsanwälten aus. Auch hier wäre einmal eine vergleichende Untersuchung angebracht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Ich möchte nur noch einen Satz sagen.
Der Bundesjustizhaushalt, den Sie, Frau Ministerin, heute im Parlament einbringen, hat, soweit wir das im Entwurf gesehen haben, diesen Geboten der Sparsamkeit bereits Rechnung getragen. Investitionsbereinigt sinken die Ausgaben um 3 %. Nur wegen der großen Investitionen beim Seegerichtshof in Hamburg und beim Bundespatentamt in München haben wir die Ausgabensteigerung von 4,6 %. Wir werden das auch bei den Beratungen im Haushaltsausschuß berücksichtigen.
Danke.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 7. September 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.