Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Im Rahmen der amtlichen Mitteilungen gebe ich Ihnen zunächst bekannt, daß der Abgeordnete Oskar Lafontaine am 17. November 1994 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat.
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Seine Nachfolgerin ist die Abgeordnete Elke Ferner, die am 21. November 1994 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat.
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Ich begrüße die Kollegin, die dem Deutschen Bundestag bereits in der vorigen Wahlperiode angehört hat, sehr herzlich. Herzlich willkommen!
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache nach der Regierungserklärung heute neun Stunden, morgen sieben Stunden und am Freitag vier Stunden vorgesehen. - Ich sehe, daß Sie damit einverstanden sind. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl.
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 16. Oktober haben sich die Wählerinnen und Wähler in Deutschland für die politische Mitte entschieden.
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Freunde und Partner im Ausland haben unseren Wahlsieg einhellig als eine gute Nachricht für Europa begrüßt, und wir nehmen dies dankbar zur Kenntnis.
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Unsere Freunde und Partner wissen, daß wir die Bundesrepublik sicher in die Zukunft führen werden.
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Und so sehen es auch alle jene Wählerinnen und Wähler, die für die Koalition der Mitte aus CDU, CSU und F.D.P. gestimmt haben.
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Wir haben in kürzester Zeit die Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung erfolgreich abgeschlossen. Wir haben dabei zielstrebig und kollegial zusammengearbeitet, und so wird es in den vier Jahren dieser Legislaturperiode auch bleiben.
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Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt im fünften Jahr seit der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit. „Die Bundesrepublik konnte 1989 auf vierzig erfolgreiche Jahre zurückblicken. Die vergangenen fünf Jahre sind sogar noch besser gewesen. " So schrieb es kürzlich die „Financial Times", und sie hat recht.
Die innere Einheit unseres Vaterlandes ist in vielen Bereichen schon gelebte Wirklichkeit. Wir haben gute Grundlagen für den gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft gelegt. Jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, ganz Deutschland fit zu machen für das nächste, das 21. Jahrhundert. Wir haben dabei das Wohl künftiger Generationen stets im Blick zu halten. Deshalb dürfen wir nicht nur für vier Jahre planen.
Verändern und Bewahren stehen nicht im Widerspruch zueinander. Sie bedingen einander. Leistung und Geborgenheit, Selbständigkeit und Hilfsbereitschaft sind keine Gegensätze. Sie sind untrennbare Teile unserer Vision von der Zukunft Deutschlands in einer Welt, die sich, wie wir wissen, dramatisch verändert.
Deutschland wird seine schöpferischen Energien für Werke des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit einsetzen. Es wird ein Ort guter Nachbarschaft sein und in der Völkergemeinschaft als zuverlässiger
Freund auftreten und handeln. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist jeder Anstrengung wert.
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Wir brauchen jetzt in unserem Volk ein Bündnis für die Zukunft. Ich lade alle dazu ein, mit uns die Erneuerung von Staat und Gesellschaft zu wagen und unser Volk als solidarische Gemeinschaft zu stärken.
Ich denke dabei an die vielen ehrenamtlich Tätigen, die sich im sozialen, kirchlichen, pädagogischen und politischen Bereich für ihre Mitmenschen engagieren. Ich denke an die Soldaten der Bundeswehr und an unsere Polizeibeamten, die oft Gefahr für Leib und Leben auf sich nehmen, um den Rechtsstaat und damit unser aller Freiheit zu sichern.
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Ich denke an Handwerksmeister und -meisterinnen ebenso wie an Forscher und Entdecker, die mit ihrer Kreativität und mit ihrem Fleiß die Grundlagen für die Arbeitsplätze von morgen legen. Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen, ebenso wie an die Industriearbeiter im Ruhrgebiet, im ostdeutschen Chemiedreieck, in norddeutschen Werften oder im süddeutschen Maschinenbau, die dafür sorgen, daß „Made in Germany" ein Gütesiegel von Wertarbeit bleibt.
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Ich denke an die Männer und Frauen, die als Entwicklungshelfer in Ländern der Dritten Welt einen unschätzbaren Dienst auch für das weltweite Ansehen Deutschlands leisten. Ich denke vor allem an die Mütter und Väter, die Ja zu Kindern sagen und ihnen Geborgenheit und Zukunft schenken.
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Jeder wird gebraucht. Wir sind auf die Lebenserfahrung der älteren Generation angewiesen. Wir brauchen die Träume und die Dynamik der Jungen. Wir benötigen das Vorbild behinderter Menschen, die mit großem Lebensmut ihr ganz persönliches Schicksal meistern. Ich halte es für unverantwortlich, wenn in unserem Land 55jährigen Arbeitslosen gesagt wird, sie würden nicht mehr gebraucht. Das ist unmenschlich.
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- Es ist Ihre Sache, dabei zu lachen. Das zeigt auch die Lage, in der Sie sich geistig befinden.
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Wahr ist allerdings auch, daß es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die wir als Partner im Bündnis für die Zukunft erst noch werben müssen. Wir müssen manche noch davon überzeugen, daß geistige Unbeweglichkeit und vor allem ideologische Verbohrtheit in die Sackgasse führen.
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- Vielleicht Sie, wenn Sie dazwischenrufen, verehrter Herr Kollege.
({15}) Offensichtlich fühlen Sie sich betroffen. ({16})
Wir müssen deshalb bereit sein, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen und, wenn es not tut, Widerstände zu überwinden.
Wir, die Koalition der Mitte, wollen diese Republik - die Republik des Grundgesetzes - und keine andere.
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Wer im Zusammenspiel mit Extremisten von links oder rechts, mit Kommunisten oder Neonazis, die Achse unserer Republik verschieben oder verbiegen will, dem werden wir entschieden entgegentreten.
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Unsere Gegner sind dabei nicht jene Bürgerinnen und Bürger, die aus mancherlei Ärger und Verdruß Radikalen und Extremisten ihre Stimme gegeben haben; sie wollen wir für die demokratischen Parteien zurückgewinnen! Unser Gegner sind Kader und Funktionäre, die aus der Geschichte dieses Jahrhunderts nichts dazugelernt haben.
({19})
Sie lehnen unsere demokratische Ordnung ab, und viele wollen sie umstürzen.
Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß wir diese Auseinandersetzung gewinnen werden; denn die große Mehrheit aller Deutschen steht auf unserer Seite.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Welt um uns herum hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Dramatische Veränderungen erleben wir nicht nur im internationalen Umfeld, sondern auch in unserer eigenen Gesellschaft. Die neuen Herausforderungen und Chancen, vor denen wir Deutsche an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert stehen, erfordern von uns allen die Bereitschaft zum Umdenken. Zum notwendigen Umdenken gehört, daß wir die Widersprüche offen aus- und ansprechen zwischen dem, was viele Menschen sich wünschen, und dem, was sie dafür selbst zu tun bereit sind.
„Wenn die Freiheit unbegrenzt und beliebig wird", so hat es Bischof Karl Lehmann in seiner Predigt am 10. November im Berliner Dom formuliert, „schlägt sie in eine neue Form der Abhängigkeit um. Wir sind oft im Taumel der Freiheit gefangen und haben zuwenig verstanden, daß zu dieser Freiheit Selbstbeherrschung und Verantwortung gehören." Es ist unbestreitbar, meine Damen und Herren - und wir alle erleben es täglich -, daß es immer schwerer wird, das Gemeinwohl gegenüber Einzel- und Gruppeninteressen durchzusetzen. Viele in unserem Lande erwarBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ten vom Staat zuviel und sind selbst zuwenig bereit, Mitverantwortung zu übernehmen.
Jeder von uns kennt die Beispiele aus seinem persönlichen Lebensbereich. Jeder weiß, daß Kinder unsere Zukunft sind, aber gegen Spielplätze in Wohnvierteln wird gerichtlich vorgegangen, und Kinder zu haben wird immer mehr zum Nachteil bei der Wohnungssuche.
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- Meine Damen und Herren, wenn Sie zustimmen, können Sie doch klatschen. Das ist doch ganz einfach für Sie.
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Wir wissen, daß der Altersdurchschnitt in unserer Gesellschaft rapide steigt und es damit immer mehr pflegebedürftige ältere Menschen gibt. Aber wir führen gleichzeitig eine erregte Diskussion über den notwendigen Ausgleich zur Finanzierung der Pflegeversicherung.
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Es wird über eine wachsende Anonymität und den Verlust von Bindungen in unserer Gesellschaft geklagt, aber zu wenige sind bereit, ihr eigenes Handeln an den oft großartigen Vorbildern gelebter Nachbarschaft und praktizierter Nächstenliebe auszurichten.
Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist als allgemeiner Grundsatz inzwischen unbestritten, aber es wird im Alltag zuwenig dafür getan, Frauen gleiche Chancen zu geben.
Uns alle bedrückt die Arbeitslosigkeit, weil wir wissen, was dies für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet. Aber Möglichkeiten, auch längerfristig Arbeitslosen den Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit zu erleichtern, werden vielerorts noch viel zuwenig genutzt.
Wir alle wissen, daß wir viele neue Arbeitsplätze brauchen. Aber gleichzeitig gibt es zuwenig gesellschaftliche Anerkennung für diejenigen, die das Wagnis der Selbständigkeit einzugehen bereit sind und als Arbeitgeber Beschäftigung für sich und andere schaffen.
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Wir erregen uns darüber, daß teilweise 20 Jahre und mehr zwischen Planung und Baubeginn für Eisenbahnstrecken liegen. Aber wahr ist auch, daß solche Verzögerungen durch zu viele Klagen und Einsprüche verursacht werden.
Der Ministerpräsident eines Bundeslandes hat mir dieser Tage ein besonders anschauliches Beispiel für solche Hemmnisse berichtet: Ein Landkreis, der seit 15 Jahren eine Müllverbrennungsanlage betreibt, muß diese jetzt nachrüsten. Für das Genehmigungsverfahren hatte er dem zuständigen Regierungspräsidenten 23 Aktenordner in 26facher Ausfertigung, also insgesamt fast 600 Ordner, zu übersenden.
Alle diese Beispiele machen deutlich, daß der einzelne und die Gemeinschaft der Bürger stärkere Mitverantwortung und Initiative für das eigene und damit für das Wohl aller übernehmen müssen. Das geht aber nur, meine Damen und Herren, wenn der Staat dafür Freiräume schafft und sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentriert.
Wir wollen weniger Staat, aber wir wollen einen Staat, der seine eigentlichen Aufgaben voll erfüllt. Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit seiner Bürger.
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Wir glauben an die Kraft der Freiheit. Wir wollen eine Gesellschaft, die sich wieder stärker auf ihre eigenen, oft ungenutzten Möglichkeiten besinnt und ihren ganzen Reichtum an Fleiß, Ideen und Hilfsbereitschaft mobilisiert.
Wir wissen, daß die Familie der Ort ist, wo über unsere Zukunft entschieden wird. Wir wissen, daß die überschaubaren Lebenskreise das menschliche Gesicht unseres Landes prägen. Deshalb kann es beispielsweise nicht darum gehen, die Familie an die Arbeitswelt anzupassen, sondern muß es darum gehen, die Arbeitswelt an die Familie anzupassen. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe für Tarifpartner und für den Staat.
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Ein wichtiger Prüfstein für die Menschlichkeit unserer Gesellschaft ist die Art unseres Umgangs mit Ausländern
({27})
und unsere Bereitschaft, sie zu integrieren. Wir wollen Einbürgerung erleichtern
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und für in Deutschland geborene Kinder der dritten Generation eine deutsche Kinderstaatszugehörigkeit einführen.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, jeder weiß, daß wir im internationalen Wettbewerb ohne Erneuerung an Zukunftsfähigkeit verlieren. Wir stehen deshalb vor der großen Herausforderung, Innovationsbereitschaft und Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern.
Wir haben das Glück, daß die deutsche Einheit uns die Chance gibt, die Erneuerung in Frieden und in Gemeinsamkeit zu gestalten. Deutschland hat sich seit der Wiedervereinigung tiefgreifend verändert - im Osten, aber auch im Westen. Unser Volk hat in einer beispiellosen und weltweit anerkannten Gemeinschaftsleistung seine Bereitschaft zur Solidarität und seine Kraft zum Neubeginn unter Beweis gestellt. Wir vertrauen auf diese Bereitschaft und auf diese Kraft auch beim Aufbruch in die Zukunft.
Meine Damen und Herren, wir werden in den kommenden Tagen Gelegenheit haben, ausgiebig über die Einzelheiten des Arbeitsprogramms der Bundesregierung für diese Legislaturperiode zu sprechen. Der Text der Koalitionsvereinbarung ist jedermann
zugänglich; ich brauche ihn hier nicht im einzelnen zu referieren. Ich werde mich deshalb im folgenden auf einige der Fragen beschränken, die aus meiner und unserer Sicht für die Zukunft unseres Landes von herausragender Bedeutung sind.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Staat ist für den Bürger da. Er hat die Rechte der Bürger zu schützen. Er darf ihre Kräfte aber nicht durch ein Übermaß an Reglementierungen und Bürokratie fesseln. Viele sagen - und es ist ja auch so -, sie litten unter einer Flut von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften und fühlten sich durch eine Unzahl von Formularen, Anträgen, Veranlagungen und Erklärungspflichten eingeengt und überfordert. Wir sind in der Tat dabei, uns auf allen Ebenen - im Bund, aber auch in den Ländern und Gemeinden - in einem immer dichter werdenden Gestrüpp von bürokratischen Regelungen zu verfangen. Damit verliert die Gesellschaft die Kraft und die Fähigkeit zu Kreativität und Innovation.
Um es klar zu sagen: Diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten haben wir alle gemeinsam zu verantworten. Es nützt jetzt gar nichts, rückwärtsgewandte Schuldzuweisungen vorzunehmen. Hilfreich ist nur, wenn wir den gemeinsamen Willen aufbringen, den Rechts- und Vorschriftendschungel zu durchforsten und zu lichten.
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Dies ist ebenso eine Aufgabe für den Gesetzgeber auf der Ebene des Bundes und der Länder, wie für Rechtsprechung und die Behörden, die das Recht anwenden. Dabei, meine Damen und Herren, müssen wir auch prüfen, ob nicht ein übertriebenes Streben nach Einzelfallgerechtigkeit die Gesetze letztlich so kompliziert gemacht hat, daß sie undurchschaubar geworden sind.
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Viele dieser Regelungen wirken zukunftsfeindlich, denn sie zielen auf die Verfestigung von Besitzständen. Hierin treffen sich nur allzuoft die Wünsche von Verbänden und Interessenvertretern mit dem Beharrungsvermögen der Bürokratie und auch - das wollen wir offen zugeben - der Neigung in der Politik, solchen Forderungen nachzugehen. Wir haben uns vorgenommen, diese Verkrustungen aufzubrechen.
({32}) Wir wollen einen schlanken Staat.
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Dieser läßt dem einzelnen mehr Freiräume; aber er weist ihm auch mehr Verantwortung zu. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. Das haben doch auch Sie im Wahlkampf gesagt. Jetzt sind Sie eingeladen mitzumachen: hier, im Bundesrat und in den Ländern. Das ist eine einmalige Chance für Sie, sich zu profilieren. Ich kann Sie nur einladen, mitzumachen.
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Wir wollen die Gefahr bannen, daß der Rechtsstaat erst zu einem reinen Rechtsmittelstaat und schließlich - auch das hören wir oft - in den Augen mancher zum Rechtsverweigerungsstaat wird. Deshalb haben wir in der Koalition vereinbart: Die Zahl der Bundesbehörden wird durch Streichung oder Zusammenfassung von Aufgaben verkleinert. Der Personalbestand in den Bundesbehörden wird in den nächsten vier Jahren jährlich um 1 % gesenkt. Im Rahmen der Steuerreform wird das Steuerrecht spürbar vereinfacht. Die Bundesanstalt für Arbeit wird stärker dezentralisiert und ortsnäher organisiert. Die Instrumente der Wirtschaftsförderung werden gestrafft und die Antragsverfahren vereinfacht. Die vom Staat vor allem den Unternehmen abgeforderten statistischen Angaben werden auf das absolut Notwendige reduziert.
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Planungs- und Genehmigungsverfahren sollen kürzer werden. Mit diesem Ziel streben wir Änderungen im Baurecht, bei Normen und Standards und im Umweltrecht an. Verwaltungs- und Gerichtsverfahren müssen für den Bürger wieder zeitlich überschaubar und berechenbar werden. Wir wollen z. B. die überlangen Rechtsschutzverfahren verkürzen. So kann vielfach die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittelverfahrens wegfallen, zumindest zeitlich stark begrenzt werden. Entsprechende Vereinfachungen und Verbesserungen sollen auch in anderen Gerichtszweigen geprüft werden. Es soll auch geprüft werden, ob es möglich ist, Rechtsvorschriften von vornherein zeitlich zu befristen.
Meine Damen und Herren, wir müssen in all diesen Bereichen ansetzen; denn wir sind heute an einem Punkt angelangt, wo in unserem Land zuwenig bewegt und zuviel verhindert werden kann.
({36})
- Ihre Beiträge werden immer bedeutender; das muß ich Ihnen sagen.
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Ich erinnere Sie an Ihre Zwischenrufe im Mai. Dennoch stehe ich hier wieder als Bundeskanzler, meine Damen und Herren.
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Schlanker Staat bedeutet für uns auch die Rückführung des Anteils der Staatsausgaben am Sozialprodukt. Wir wollen diesen Anteil auf 46 % senken, wie wir es schon einmal getan haben.
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Als ich dies 1982 ankündigte, gab es viel Gelächter und Skepsis. 1982 lag der Anteil über 50 %. Wir haben ihn bis 1989 auf 46 % gesenkt. - Dies war eine wesentliche Voraussetzung, um bei der deutschen Einheit die nötigen Finanzmittel aufbringen zu können. ({40})
Der Anstieg der Staatsquote seit 1990 auf jetzt 52 % war unvermeidlich. Er spiegelt im wesentlichen wider, daß wir uns den historisch einmaligen Aufgaben der deutschen Einheit gestellt haben. Wir alle wissen: Diese waren nicht allein durch Sparen oder Umschichten zu bewältigen.
Wir hatten finanzielle Aufgaben zu meistern, die in der Welt ohne jedes Beispiel sind. Das waren und sind weiterhin die Aufwendungen vor allem für den Aufbau in den neuen Bundesländern.
Wir haben mehr als alle anderen Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien bei uns aufgenommen. Wir haben mehr als alle anderen den Reformprozeß in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch Hilfe zur Selbsthilfe unterstützt. Natürlich haben wir das auch aus der Überlegung getan, daß ein Scheitern dieser Reformen uns erneut vor ungeheure Probleme stellen würde. Wir wollen auch deshalb den Erfolg der Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem auch in Rußland!
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Trotz dieser gewaltigen zusätzlichen Aufgaben werden wir unseren strikten Kurs der Haushaltskonsolidierung weiter fortsetzen. Das Haushaltsmoratorium bleibt bestehen. Das heißt: Es kann nur dann an einer Stelle mehr ausgegeben werden, wenn gleichzeitig an anderer Stelle Einsparungen vorgenommen werden.
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Insgesamt dürfen die Staatsausgaben nur deutlich weniger zunehmen als das Sozialprodukt.
Meine Damen und Herren, mit unserer Politik der Privatisierung und Überführung von Aufgaben in privatrechtliche Organisationsformen werden wir unbeirrt fortfahren.
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Die Zukunft Deutschlands kommt nicht aus dem Füllhorn staatlicher Wohltaten. Zukunftsgestaltung beginnt in den Köpfen der Menschen und nicht in der Kasse des Staates. Sparzwänge können allerdings durchaus heilsam sein: Sie nötigen zum Umdenken und zur Neufestsetzung von Prioritäten. Sparsamkeit heute schafft finanziellen Spielraum für morgen. Mit unserer Entschlossenheit, jetzt am eingeschlagenen Sparkurs festzuhalten, nehmen wir auch die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen wahr. So wie wir die Schöpfung für diejenigen zu bewahren haben, die nach uns kommen, so haben wir den nächsten Generationen auch die finanziellen Grundlagen für die Zukunft zu sichern. So verstanden ist Finanzpolitik immer und vor allem auch Zukunftsund Gesellschaftspolitik.
Die beabsichtigte Senkung der Staatsquote auf 46 % ist auch notwendig, um die Steuer- und Abgabenlast für Bürger und Wirtschaft schrittweise senken zu können. Die von mir geführte Bundesregierung hat in den 80er Jahren beides geschafft: Sie hat die Staatsquote verringert und die Steuern gesenkt. Diese
Leistung wollen wir in den kommenden Jahren wiederholen.
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Die Koalition aus CDU, CSU und F.D.P. ist sich darin einig, den Solidaritätszuschlag baldmöglichst abzubauen und entsprechende Rückführungsmöglichkeiten jährlich festzustellen. Hierüber werden wir auch mit den Bundesländern die notwendigen Gespräche führen.
Die Bundesregierung wird ihre wachstumsorientierte, leistungsgerechte, familien- und mittelstandsfreundliche Steuerreform fortsetzen. In diesem Rahmen werden wir auch das Existenzminimum der Bürger ab 1996 steuerlich freistellen.
Meine Damen und Herren, heute schöpft der Staat von jeder D-Mark Wirtschaftsleistung der Bürger und Unternehmen rund 43 Pfennig durch Steuern und Abgaben ab. Diese Abgabenquote ist eindeutig zu hoch. Wir müssen sie senken; denn sie droht den Leistungswillen des einzelnen zu erdrücken und erschwert das Entstehen von mehr Arbeitsplätzen in Deutschland.
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In der Konsequenz heißt das für uns: Im Vordergrund müssen solche steuerpolitischen Maßnahmen stehen, die die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland erleichtern. Deshalb wollen wir unsere Unternehmen vor allem dort entlasten, wo sie im internationalen Vergleich wettbewerbsverzerrende Sonderlasten tragen, insbesondere also bei den substanzverzehrenden Steuern wie der Gewerbekapitalsteuer und der betrieblichen Vermögensteuer sowie bei der Gewerbeertragsteuer.
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Selbstverständlich, meine Damen und Herren, müssen und werden wir über die konkrete Ausgestaltung der Steuerreform und der damit im Zusammenhang stehenden umfassenden Gemeindefinanzreform mit den Ländern, den Gemeinden und der Wirtschaft sprechen und diskutieren. Für mich - das will ich betonen - ist es unverzichtbar, daß die Gemeinden einen fairen Ausgleich erhalten, der das Interesse an der Ansiedlung von Gewerbebetrieben weiterhin gewährleistet und vor allem die kommunale Selbstverwaltung stärkt - eine der entscheidenden Voraussetzungen für die positiven Entwicklungen der letzten 40 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland.
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Die notwendige Rückführung des Staates auf seine originären Aufgaben bedeutet keine Schwächung, sondern in Wahrheit seine Stärkung; denn diese Politik versetzt unseren Staat in die Lage, jene Aufgaben wirksam zu erfüllen, die nur er wahrnehmen kann. Dazu gehört in erster Linie die Gewährleistung innerer Sicherheit. Wir wollen keinen autoritären Staat, aber wir wollen einen Staat mit Autorität.
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Es geht nicht nur um den Schutz des Bürgers vor dem
Staat, sondern immer auch um seinen Schutz durch
den Staat. Die Rechte der Opfer dürfen nicht hinter den Rechten der Täter zurückstehen.
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Die Steuerzahler erwarten zu Recht, daß der Staat seine Einnahmen vor allem für den Schutz von Leben, Freiheit, körperlicher Unversehrtheit und Eigentum seiner Bürger verwendet.
Grund zur Sorge bereiten uns allen die nach wie vor hohe Eigentumskriminalität und die Gewaltbereitschaft in Teilen unserer Gesellschaft. Mit der Öffnung der Grenzen hat - wie in allen anderen europäischen Ländern - auch auf deutschem Boden die grenzüberschreitende internationale Kriminalität, vor allem der Mafia und mafiaähnlichen Organisationen, spürbar zugenommen. Zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität muß die Grenzsicherheit verstärkt, der rasche Aufbau von EUROPOL vorangetrieben und die bilaterale Kooperation insbesondere mit den östlichen Nachbarstaaten intensiviert werden.
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Ich sehe mit großer Genugtuung, daß auch jene Partner, die noch bei Abschluß des Vertrags von Maastricht gegen eine solche Zusammenarbeit in Europa waren, jetzt auf Grund eigener Erfahrungen zunehmend zu der Erkenntnis gelangen, daß unsere damaligen Vorschläge in die richtige Richtung wiesen. Ich denke, wir werden auf diesem Feld jetzt ein wesentliches Stück vorankommen können.
Für die Koalition sind Verhütung und Bekämpfung von Straftaten gleichermaßen wichtig. Eine wirksame Prävention setzt ein Zusammenwirken von Bund und Ländern mit den gesellschaftlichen Kräften in allen Bereichen voraus. Zur Bündelung der erforderlichen Maßnahmen werden wir deshalb das im Jahre 1993 vorgelegte Sicherheitsprogramm von Bund und Ländern zu einem nationalen Kriminalitätsbekämpfungsplan fortentwickeln. Er muß auch die finanziellen und personellen Rahmenbedingungen sowie eine Verbesserung der Arbeit von Polizei und Justiz einbeziehen.
Die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, zur Geldwäsche und zur Verbrechensbekämpfung werden auf der Grundlage von Erfahrungsberichten ausgewertet.
Bevor der Gesetzgeber erneut tätig wird, müssen wir natürlich die bestehenden Möglichkeiten voll ausschöpfen. Sollte sich herausstellen, daß die bestehenden Gesetze nicht ausreichen, sind wir auch zu einer Verschärfung dieser Gesetze bereit.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Schaffung zusätzlicher zukunftsfähiger Arbeitsplätze bleibt die zentrale Aufgabe aller, die für die Beschäftigung Verantwortung tragen. Arbeit für alle muß unser gemeinsames Ziel sein. Die Erreichung dieses Ziels kann keine demokratische Regierung der Welt allein bewirken. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind hier gefordert.
Ich habe deshalb den Spitzenvertretern von Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsame Gespräche zu diesen wichtigen Zukunftsfragen vorgeschlagen. Ich freue mich darüber, daß die Sozialpartner dies ebenfalls als notwendig ansehen. Ich werde sehr bald zu diesen Gesprächen einladen.
Wir müssen jetzt alle Kraft aufwenden, um eine neue Beschäftigungsinitiative zum Erfolg zu führen. Dabei muß es auch gelingen, diejenigen wieder besser in die Arbeitswelt zu integrieren, die im Wettbewerb um Arbeitsplätze oftmals schlechtere Chancen haben. Ich denke beispielsweise an Langzeitarbeitslose. Auch Schwerbeschädigte und Behinderte müssen selbstverständlicher Teil unserer Arbeitswelt sein.
In den Jahren 1983 bis 1992 ist es schon einmal in einer großen Gemeinschaftsleistung gelungen, drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Diesen großen Erfolg gilt es zu wiederholen. Der Weg dazu führt über eine Erneuerung und Zukunftsorientierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft.
Die wirtschaftliche Welt wird sich in den nächsten 20, 25 Jahren - jeder spürt das - stärker verändern als in den letzten 100 Jahren. Darauf müssen wir uns einstellen. Ohne positive Einstellung der Gesellschaft zu wissenschaftlich-technischem Fortschritt kann der Wohlstand in Deutschland nicht dauerhaft gesichert werden.
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Wer z. B. Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie verteufelt, verkennt die großen Chancen einer ethisch verantworteten Nutzung dieser Möglichkeiten.
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Trotz zunehmender Bedeutung des Dienstleistungsbereichs ist für unser Land eine starke industrielle Basis unverzichtbar. Diese Basis kann nur gesichert werden, wenn wir zu ständiger Innovation bereit sind. Wir dürfen uns auch nicht von notorischen Angstmachern beirren lassen, die immer nur von der „Risikogesellschaft" statt von der „Chancengesellschaft" reden. Auf Erneuerung setzen - das muß das Motto unserer Arbeit sein!
Wir wollen dabei eine breite Welle unternehmerischer Initiativen auslösen, um Raum für neue selbständige Existenzgründungen zu schaffen. Der Mittelstand - das ist die Erfahrung von bald 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland - ist der Motor der Sozialen Marktwirtschaft. Kleine und mittlere Betriebe beschäftigen nahezu zwei Drittel aller Arbeitnehmer und bilden vier Fünftel aller Lehrlinge in Deutschland aus.
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Sie spielen damit eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik unseres Landes.
Seit der deutschen Einheit sind in den neuen Bundesländern über 400 000 Selbständige bzw. mittelständische Unternehmen tätig geworden. Hierin liegt ein ganz wesentlicher Grund für die großen Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau Ost.
Neu gegründete Unternehmen in den neuen Bundesländern haben es am Markt, wie wir wissen, oft sehr viel schwerer als die im Westen, weil sie über kein ausreichendes Kapitalpolster verfügen. Bei schwankender Nachfrage oder verspätet bezahlten Rechnungen ihrer Kunden geraten sie daher leicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Wir wollen in solchen Fällen von Kapitalknappheit helfen. Der neue Konsolidierungsfonds sowie die Förderung von langfristig gebundenem Beteiligungskapital sind Beispiele hierfür.
Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Aufholprozeß in den neuen Bundesländern ist eindrucksvoll und kommt ganz unbestritten voran. Dazu hat die Treuhandanstalt einen entscheidenden Beitrag geleistet. Daß dabei auch Fehler gemacht wurden, ist angesichts der Dimension und der Dringlichkeit dieser einmaligen Aufgabe unvermeidlich.
Dies alles ändert nichts daran, daß die Privatisierung und Sanierung von über 10 000 Industriebetrieben zu Recht weltweite Anerkennung erfahren haben. Ich danke ganz besonders der Präsidentin der Treuhandanstalt Birgit Breuel und ihrem ermordeten Vorgänger, dem unvergessenen Detlev Rohwedder, für ihren Dienst an unserem Land.
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Die Arbeit der Treuhandanstalt ist auch eine große Gemeinschaftsleistung. An ihr haben über Parteigrenzen hinweg namhafte Vertreter von Wirtschaft und Gewerkschaften sowie die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer verantwortlich mitgewirkt. Ich danke allen, die sich für diese beispiellose Aufgabe des Aufbaus der ostdeutschen Wirtschaft in den letzten vier Jahren persönlich engagiert haben.
Wachstum und Beschäftigung von morgen können wir nicht mit dem Wissen und den Verfahren von gestern erreichen. Unsere schnellebige Zeit produziert technologische Sprünge in immer kürzeren Zeiträumen. Forschung, Technologie und Innovation sind heute die wichtigsten Wachstumsquellen unserer Wirtschaft. Gerade wir in Deutschland, einem rohstoffarmen Land, müssen uns in besonderer Weise auf den Zugewinn von Wissen und Können stützen. Trotz aller Haushaltszwänge werden wir deshalb den Forschungsetat im Bundeshaushalt überproportional steigern.
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Der Technologietransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft muß verstärkt werden. Die Umsetzung in marktfähige Produkte muß zügiger erfolgen. Diesem Zweck dient auch der „Rat für Forschung, Technologie und Innovation", den ich zur Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ins Leben rufen werde.
Meine Damen und Herren, modernen elektronischen Kommunikationsmitteln kommt für Industrie, Handel, öffentliche Verwaltung und Privathaushalte weltweit eine immer größere Bedeutung zu. Mehr Wettbewerb auf diesem Feld wird auch bei uns die Wachstumsdynamik beschleunigen. Wir werden deshalb die Monopole für den Telefondienst und das
Telekommunikationsnetz zum 1. Januar 1998 aufheben.
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Eine zukunftsgerichtete Standortpolitik für
Deutschland kann dauerhaft nur dann erfolgreich sein, wenn auch ökologische Notwendigkeiten in richtigem Maße berücksichtigt werden. Wir werden daher die wirtschaftlichen Anreize zu einem schonenden Umgang mit der Umwelt und mit unseren natürlichen Ressourcen weiter verstärken. Im Sinne eines umweltgerechten Verkehrssystems wird die Bundesregierung ihre Politik des ökologisch ausgewogenen Aus- und Neubaus des Straßen- und Schienennetzes und der Binnenwasserstraßen fortsetzen.
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Unser Ziel ist es dabei auch, die Umweltbelastung durch eine Weiterentwicklung der Fahrzeugtechnik erheblich zu verringern. Wir sollten unseren Ehrgeiz dareinsetzen, daß Deutschland das erste Land ist, in dem das Fünf-Liter-Auto Standard wird - das heißt, daß der durchschnittliche Kraftstoffverbrauch um etwa ein Drittel gesenkt wird.
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- Ich denke, hier können Sie doch wenigstens einmal klatschen, meine Damen und Herren.
({60})
- Aber wissen Sie, ob Sie klatschen oder nicht, Herr Kollege, das ist eh egal.
Meine Damen und Herren, in der Energiepolitik halten wir am Ziel - und jetzt kommt eine Passage, die Ihnen besonders gefällt - eines ausgewogenen Mixes der verschiedenen Energieträger fest.
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Dies bedeutet konkret, daß auch in Zukunft die Möglichkeit bestehen muß, neue Kernkraftwerke mit den jeweils höchsten Sicherheitsstandards zu bauen.
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Wir werden selbstverständlich ebenso prüfen, wie regenerative Energien und ihre Markteinführung stärker gefördert werden können. Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Planungssicherheit im Energiebereich. Deshalb werden wir trotz aller Erfahrungen der jüngsten Zeit die Energiekonsensgespräche mit allen Beteiligten wieder aufnehmen.
Meine Damen und Herren, Umwelt, Verkehr, Energie und Telekommunikation stehen in engem Zusammenhang mit der Erneuerung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Heute sind wir bei Umwelttechnologien führend in der Welt. Diese Spitzenposition müssen wir ausbauen. Der Einsatz des Transrapid wie des ICE bei uns ist zugleich die beste Werbung für deren Export.
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Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der wirklich drängenden Klimaprobleme wäre es töricht, unseren technologischen Wettbewerbsvorsprung in der Kernenergietechnik und ihrer Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Bei den neuen Kommunikationstechniken geht es um die Wachstumsmärkte der Zukunft, um Hunderttausende neuer Arbeitsplätze.
Wir müssen die Fähigkeiten unserer hochqualifizierten Arbeitnehmerschaft noch besser nutzen und unser bewährtes System der beruflichen Bildung weiterentwickeln, das weltweit als vorbildlich anerkannt wird. Die Berufsausbildung kann nicht allein von Handwerksbetrieben, kleinen und mittleren Unternehmen getragen werden. Ich sehe mit Sorge - das will ich hier einmal aussprechen -, daß sich größere Betriebe und Unternehmen immer mehr aus ihrer Verantwortung für die Lehrlingsausbildung zurückziehen.
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Es geht uns darum, die betriebliche Ausbildung zu sichern und die berufliche Bildung aufzuwerten. Wir wollen eine Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Abschlüsse in der Förderung wie bei den Aufstiegschancen erreichen.
Meine Damen und Herren, wir sind entschlossen, alle Chancen zu unterstützen und zu nutzen, um neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. So wollen wir, Frau Kollegin Fuchs, das große Potential der privaten Haushalte für den regulären Arbeitsmarkt gewinnen.
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Hierzu werden die steuerlichen Abzugsmöglichkeiten, z. B. für Pflege-, Haushalts- und Familienhilfen, erweitert und verbessert.
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Ich habe Sie angesprochen, Frau Kollegin, weil Sie als eine kluge Kollegin seit langem mit mir diese Meinung teilen.
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- Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie in dieser Sache in Ihrer Fraktion werbend wirken.
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Parallel hierzu werden wir unsere Offensive für mehr Flexibilität im Arbeitsleben und mehr Teilzeitbeschäftigung gemeinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften fortsetzen. Ich muß hier allerdings sagen, daß hier Bund, Länder und Gemeinden ein besseres Beispiel geben müssen. Dies wird ein wichtiges Thema der nächsten Monate und Jahre sein.
Teilzeitarbeit ist mehr als Halbtagsbeschäftigung. Wir haben die große Chance, insgesamt mit einer phantasievolleren Ausgestaltung der Arbeitszeiten neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wirtschaft und Gewerkschaften, Unternehmensleitungen und Betriebsräte müssen mehr als bisher Arbeitszeitwünsche der Arbeitnehmer und die bessere Nutzung teurer Maschinen miteinander in Einklang bringen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, an die Zukunft zu denken ist nicht nur ein Erfordernis für Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft und Technik. Zukunftsorientierung zeigt sich vor allem in unserer Einstellung zu Kindern. Ohne Kinder verarmt eine Gesellschaft. Wer sich für Kinder entscheidet und Kinder erzieht, erbringt zugleich eine unverzichtbare Leistung für das ganze Land. Er legt Fundamente für die Gesellschaft von morgen.
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Wir wollen, daß unsere Gesellschaft Familien- und kinderfreundlicher wird. Das ist nicht allein oder in erster Linie immer nur eine Frage des Geldes. Auch hier ist Umdenken angesagt. Jeder ist aufgefordert: Bürger, Vereine, Verbände und selbstverständlich auch die Politik, das Notwendige auf allen Ebenen durchzusetzen.
Es ist doch nicht hinnehmbar, daß starre Öffnungszeiten für Kindergärten und unregelmäßige Schulzeiten das Leben der Familien, nicht zuletzt der Alleinerziehenden, unnötig erschweren, daß die Arbeitswelt für Mütter und Väter zu starr organisiert ist und daß Kinder zu einem erheblichen Nachteil bei der Wohnungssuche geworden sind.
Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstützung und Ermutigung. Wir wollen zum einen die Leistung der Familie auch finanziell stärker anerkennen und zum anderen - das ist mir besonders wichtig - die Wohnungssituation für Familien mit Kindern nachhaltig verbessern.
({70})
Wir wollen Eltern und Alleinerziehende dadurch stärken, daß wir ihnen nicht wegsteuern, was sie für den Unterhalt der Kinder brauchen.
({71})
Damit tragen wir zugleich der Forderung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Wir werden deshalb den Kinderfreibetrag deutlich anheben und ihn stufenweise weiter erhöhen. Das Kindergeld kann dann gleichzeitig stärker auf diejenigen konzentriert werden, die ein niedrigeres Einkommen und mehrere Kinder haben.
Meine Damen und Herren, für Eltern und Alleinerziehende sind familiengerechte Wohnungen und ein kinderfreundliches Wohnumfeld von größter Bedeutung. Vor allem in den Ballungsgebieten besteht Mangel an bezahlbaren Wohnungen.
({72})
Wir brauchen deshalb neben mehr Wohnraum auch eine Verstärkung der Wohneigentumsförderung insbesondere für Familien mit Kindern.
({73})
Bauen ist in Deutschland immer noch zu teuer. Wir
wollen deshalb kostensparendes Bauen fördern und
wohnungspolitische Instrumente stärker als bisher auf
die Erhaltung und die Schaffung bezahlbaren Wohnraums ausrichten.
Wir werden die Reform des sozialen Wohnungsbaus fortsetzen sowie das Wohngeld in Ost und West vereinheitlichen und familienfreundlich an die Einkommens- und Mietentwicklung anpassen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Arbeit und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft sichern die Fundamente unseres Sozialstaats. Er ist eine wichtige Grundlage des sozialen Friedens und unverzichtbarer Teil der Sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen den Sozialstaat durch Umbau festigen. Nur so können wir auch in Zukunft unser im internationalen Maßstab hohes Niveau sozialer Sicherheit erhalten.
Wir wenden in Deutschland heute rund ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen auf. Jeder weiß, daß dieser Anteil nicht weiter erhöht werden kann. Wir müssen deshalb prüfen, wie wir denen stärker helfen können, die der Hilfe am meisten bedürfen. Wir haben uns für den begonnenen Umbau des Sozialstaats vor allem drei Schwerpunkte gesetzt:
Die Arbeitsmarktpolitik muß sich noch stärker benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt widmen und gemeinsam mit Wirtschaft und Sozialpartnern wirksamere Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung entwickeln. Das Arbeitsförderungsgesetz muß vereinfacht und übersichtlicher gestaltet, die Effizienz der Arbeitsämter verbessert werden. Wir wollen bei dieser Reform auf die Erfahrungen von Wirtschaft und Sozialpartnern zurückgreifen und das notwendige Gespräch mit den Ländern führen.
Im Sozialhilferecht bleibt es bei dem Grundsatz: Jeder, der die Solidarität unserer Gesellschaft braucht, muß die erforderliche Hilfe erhalten. Das heißt, es geht nicht um lineare Kürzungen. Wir wollen jedoch, wo immer möglich, Anreize und Eigeninitiative stärken, um Sozialhilfebedürftigkeit zu überwinden.
Sozialhilfeempfängern, denen die Aufnahme einer Arbeit zugemutet werden kann, soll verstärkt Arbeit - auch geringer entlohnte Arbeit - angeboten werden.
({74})
Das ist eine Chance für einen Einstieg in Beschäftigung und zugleich eine Schranke gegen die Ausnutzung von Sozialhilfe. Es ist auch für die Betroffenen wichtig, daß sie nicht in der Abhängigkeit von der Sozialhilfe bleiben.
Ungeachtet unserer verschiedenen politischen Standpunkte muß es uns allen doch zu denken geben, daß nach einer neueren Untersuchung rund ein Drittel der Sozialhilfeempfänger in der alten Bundesrepublik, denen eine zumutbare Arbeit angeboten wurde, diese abgelehnt hat.
({75})
Unsere Auffassung ist, daß dies dann auch eine Senkung der Sozialhilfe für diese Empfänger zur Folge haben muß.
({76})
Auch hier hoffe ich auf ein gutes Gespräch mit den Ländern und den Gemeinden. Ich hoffe, daß all jene Bürgermeister und Landräte, die mir unter vier Augen immer wieder sagen, hier müsse eine Änderung eintreten, auch bereit sind, dies öffentlich zu sagen und mit durchzusetzen.
({77})
Der dritte Schwerpunkt für den Umbau des Sozialstaats ist die Fortsetzung der Gesundheitsreform. Ziel dieser Reform ist es, die Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens zu erhalten. Wir werden die Reform im kommenden Jahr im Gespräch mit allen beteiligten Gruppen und Organisationen erarbeiten und zügig verwirklichen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am 8. Mai des kommenden Jahres wird sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 50. Mal jähren. Wir werden dabei in besonderer und gemäßer Weise der Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft gedenken. Wir werden uns auch dankbar daran erinnern, daß Kriegsgegner von gestern uns die Hand zu Versöhnung und Freundschaft gereicht haben.
Seit 50 Jahren leben wir Deutsche in Frieden. Das ist die längste Friedensperiode in der jüngeren deutschen Geschichte. Und seit dem Ende des SED-Regimes leben alle Deutschen gemeinsam in Freiheit.
({78})
Wir haben heute - und dies zum ersten Mal in unserer Geschichte - gleichzeitig ausgezeichnete Beziehungen zu Washington, Paris, London und Moskau. Wir leben in Eintracht mit allen unseren Nachbarn. Darauf dürfen wir stolz sein.
({79})
An dem bewährten Kurs der deutschen Außnpolitik, vor allem der festen Einbindung Deutschlands in das Atlantische Bündnis und in die Europäische Union, werden wir festhalten. Aber, meine Damen und Herren, auch in der Außenpolitik werden wir uns angesichts der Veränderungen in der Welt neuen Herausforderungen mit Umsicht und Klugheit zu stellen haben.
Zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode wird es sein, die politische Einigung Europas weiter zu festigen und entscheidend voranzubringen. Die deutschfranzösische Freundschaft wird hierbei unverändert herausragende Bedeutung haben. Die politische Einigung Europas ist und bleibt im existentiellen Interesse Deutschlands. Es geht uns nicht darum, einen europäischen Überstaat zu schaffen. Europa hat nur dann eine wirklich gute Zukunft, wenn es sich an dem Prinzip der Einheit in Vielfalt ausrichtet.
Wir alle kennen die zentralen Themen der in Maastricht vereinbarten Regierungskonferenz 1996. Dabei wollen wir die demokratische Verankerung und die Bürgernähe der Union stärken. Dazu gehört insbesondere der Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments.
Die Bürger Europas erwarten von uns eine stärkere Zusammenarbeit bei der Innen- und der Rechtspolitik. Bisherige Initiativen, wie bei EUROPOL und bei der Verwirklichung einer gemeinsamen Asylpolitik,
haben noch nicht den notwendigen Durchbruch erbracht. Wir dürfen hier mit unserem Bemühen nicht nachlassen.
Wir wollen die innere und die äußere Handlungsfähigkeit der Union stärken. Dazu müssen wir die Institutionen straffen und effektiver gestalten. In der Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir, daß Europa in wichtigen Fragen seine gemeinsamen Interessen geschlossen vertritt.
Ein wesentlicher Baustein des Europa von morgen ist für uns die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir wollen sie unter strikter Einhaltung der im Maastricht-Vertrag festgelegten Stabilitätskriterien verwirklichen, und zwar aller Kriterien, meine Damen und Herren.
Es liegt im deutschen wie im wohlverstandenen europäischen Interesse, daß wir bei der Erweiterung der Europäischen Union immer auch unsere östlichen Nachbarn - ich meine hier besonders Polen - im Auge haben. Die Westgrenze Polens darf nicht auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union sein.
({80})
Die Bundesregierung wird sich deshalb mit großer Entschiedenheit dafür einsetzen, daß in den kommenden Jahren entscheidende Schritte zur endgültigen Überwindung der Teilung Europas und damit zur dauerhaften Sicherung von Frieden und Freiheit getan werden. Auf dem in wenigen Wochen stattfindenden Europäischen Rat in Essen wollen wir eine Strategie zur weiteren Heranführung der jungen Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas verabschieden.
Neue Mitglieder - das sei hier betont - müssen jedoch in jedem einzelnen Fall die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen. Darüber hinaus streben wir eine intensive Partnerschaft auf breiter Grundlage mit den Ländern Osteuropas an, insbesondere mit Rußland und der Ukraine, aber auch mit den Nachbarregionen Europas.
Die Atlantische Allianz - hier vor allem die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika - bleibt auch in Zukunft Garant unserer Sicherheit. Wir wollen die deutsch-amerikanischen Beziehungen gerade angesichts veränderter weltpolitischer Rahmenbedingungen weiter vertiefen. Dazu gehören der Ausbau unserer Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und vor allem auch mehr Begegnungen zwischen jungen Menschen beiderseits des Atlantik.
Die Rolle der Allianz, hat sich seit Ende des Kalten Krieges dramatisch gewandelt. Im Interesse von Sicherheit und Stabilität in ganz Europa bündeln Atlantische Allianz und Europäische Union zunehmend ihre Kräfte. In diesem Sinne hat die NATO auf ihrem Gipfel im Januar 1994 den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas enge Partnerschaft angeboten. Zugleich hat sie erklärt, daß sie zu gegebener Zeit neue Mitglieder aufnehmen wird. Die Bundesregierung hat diese Politik von Anfang an maßgeblich mitgestaltet und mitgetragen. Für uns steht die Erweiterung von NATO und Europäischer Union in einem engen inneren Zusammenhang.
Damit in Europa keine neuen Trennlinien entstehen, müssen Integration einerseits und Kooperation andererseits einander ergänzen. Dabei kommt auch der Stärkung der KSZE eine wichtige Rolle zu.
Meine Damen und Herren, wir haben am 31. August, vor wenigen Monaten, die russischen Soldaten in einer bewegenden Zeremonie aus Deutschland verabschiedet. Sie haben uns die Hand zur Freundschaft gereicht. In diesem Geiste wollen wir die Partnerschaft mit Rußland pflegen, das vor schwierigen, ja beispiellosen Reformen steht. Wir wollen alles tun, damit diese Reformen Erfolg haben.
({81})
Weltpolitische Umbrüche, globale Probleme wie Armut und Hunger, Bevölkerungswachstum, Flüchtlingsströme und Umweltzerstörung stellen die deutsche Entwicklungspolitik vor große Aufgaben. Zur Lösung dieser Aufgaben werden wir gemeinsam mit den anderen Industrienationen unseren Beitrag leisten. Ich plädiere in der internationalen Diskussion dafür, daß unsere Leistungen für Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden.
({82})
Es ist für uns auch selbstverständlich, daß wir die Beziehungen zu den Ländern in Asien, Lateinamerika und Afrika weiter ausbauen.
Noch immer steht eine friedliche Lösung für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus. Noch immer beherrschen Leid und Tod die Lage besonders in Bosnien. Die Bilder der jüngsten serbischen Aggression gegen Bihac stehen uns allen vor Augen. Gerade auch jene Deutschen, die noch die eigene Erinnerung an Krieg und Not in sich tragen, wissen, welches Leid den Menschen dort zugefügt wird.
Deutschland war im Rahmen seiner Möglichkeiten mit aller Kraft bei den Verhandlungen und vor allem auch auf humanitärem Gebiet behilflich. Den von den USA, Frankreich, Großbritannien, Rußland und uns erarbeiteten Friedensplan akzeptieren heute - bis auf die bosnischen Serben - alle Kriegsparteien, sogar Belgrad.
Ich richte deshalb auch heute von dieser Stelle aus den eindringlichen Appell an die Führung der bosnischen Serben, im Interesse aller Menschen in Bosnien das Morden zu beenden, humanitäre Hilfe ohne Einschränkung zuzulassen und sich dem Friedensplan anzuschließen. Hieran führt auf Dauer kein Weg vorbei.
({83})
Meine Damen und Herren, die internationale Gemeinschaft erwartet vom vereinten Deutschland die uneingeschränkte Wahrnehmung aller Rechte und Pflichten als Mitglied der Vereinten Nationen. Dies bedeutet, daß wir uns künftig grundsätzlich an Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationaBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
len Sicherheit beteiligen werden. Wir werden dies ausschließlich im Rahmen kollektiver Sicherheitsbündnisse und in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten und Freunden tun. Entsprechende Entscheidungen zur Teilnahme an solchen Aktionen werden wir nur nach gründlicher Prüfung des Einzelfalls und unter Beteiligung des Deutschen Bundestages treffen.
Die grundsätzliche Bereitschaft unseres Landes, in seine internationale Verantwortung hineinzuwachsen, bedeutet in keiner Weise die Abkehr von erprobten Leitlinien der deutschen Außenpolitik. Jedes Gerede von einer „Militarisierung deutscher Außenpolitik" ist deshalb falsch und böswillig, und es diffamiert letztlich alle internationalen Anstrengungen zur Friedenssicherung unter Einsatz von Soldaten.
({84})
Im kommenden Jahr jährt sich die Gründung der Bundeswehr zum 40. Mal. Vierzig Jahre lang haben unsere Soldaten an der Seite der Verbündeten Frieden und Freiheit bewahrt. Dafür schulden wir ihnen Dank.
({85})
Heute dienen junge Wehrpflichtige, ob aus Sachsen oder Bayern, aus Hamburg oder Thüringen, gemeinsam in der Bundeswehr. Als Vater zweier Söhne, die in der Bundeswehr gedient haben, finde ich es unerträglich, wenn unsere Soldaten als „Mörder" diffamiert werden.
({86})
Ich bin sicher: So wie ich empfindet das auch die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Wir brauchen auch in Zukunft gut ausgerüstete und ausgebildete Streitkräfte. Die Bundeswehr muß zur Verteidigung fähig sein. Sie muß aber auch uneingeschränkt am internationalen Krisenmanagement mitwirken können. In diesem Sinne haben wir Eckdaten zur künftigen Struktur der Bundeswehr erarbeitet. Diese Leitlinien geben der Bundeswehr die notwendige Planungssicherheit.
Meine Damen und Herren, das Bewußtsein für die gemeinsame Herkunft und der Wille zur gemeinsamen Zukunft sind die Voraussetzung für die innere Einheit unseres Vaterlandes und für die Einigung Europas. Europa und Nation, das ist kein Widerspruch.
Unsere Fähigkeit, gute Europäer zu sein, hängt auch davon ab, ob wir bereit sind, uns als Deutsche selbst anzunehmen. Dazu gehört die Bereitschaft, Licht und Schatten, Höhen und Tiefen in der Geschichte unseres Volkes zusammen zu sehen und zu der Verantwortung zu stehen, die sich daraus ergibt. Dazu gehört, daß wir sowohl die Geschichte der alten Bundesrepublik als auch jene der früheren DDR als unabtrennbare Teile unserer gemeinsamen Vergangenheit verstehen. Unsere gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte waren in der Zeit der
Teilung Deutschlands eine feste Grundlage für den Zusammenhalt der Nation. Sie sind heute genauso wichtig für die Zukunft unseres Landes.
({87})
Der Bundeshauptstadt Berlin kommt für die kulturelle Ausstrahlung Deutschlands dabei eine besondere Rolle zu. Unsere Bundeshauptstadt muß auch selbst den Erwartungen gerecht werden, die an sie gerichtet sind. Unsere Verantwortung, die des Hohen Hauses, für den Umzug von Parlament und Teilen der Regierung nach Berlin bezieht sich nicht nur auf Fragen der Architektur und der Organisation. Wir tragen Verantwortung auch dafür, daß der Charakter unseres Gemeinwesens als des freiheitlichsten Staates in der deutschen Geschichte auch und gerade in Berlin deutlich sichtbar wird.
({88})
Es scheint mir wichtig zu sein, einmal mehr daran zu erinnern, daß der Umzugsbeschluß zwei Teile hat. Wir stehen auch in der Verpflichtung gegenüber Bonn, das in vierzig Jahren unsere freiheitliche Demokratie wesentlich mitgeprägt hat. Das sollten wir nie vergessen.
({89})
Wir alle haben die epochalen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Europa seit 1989 lebhaft begrüßt. Inzwischen ist in Deutschland immer mehr Menschen bewußt geworden, daß die Wiedervereinigung uns alle zu einer geistigen Standortbestimmung zwingt. Ich denke, dabei sollte es unser gemeinsames Bemühen sein, als Deutsche souveräner und gelassener zu werden, auch im Umgang miteinander. Eine freie, eine tolerante und weltoffene Gesellschaft braucht einen Kern an Gemeinsamkeiten, Grundüberzeugungen und Werten. Das bewahrt uns vor jener Hysterie und aggressiven Aufgeregtheit, die unsere öffentlichen Debatten, auch hier in Bonn, oft heimsuchen und die uns in Wahrheit überhaupt nicht weiterbringen. Wir alle sollten uns stärker anstrengen, daß das Bewußtsein für die unerläßlichen Werte eines zivilisierten Zusammenlebens in unserem Land erhalten bleibt und an kommende Generationen weitergegeben wird.
Wir werden - das ist gut so - in den kommenden Jahren leidenschaftliche Debatten um den richtigen Weg unseres Landes in die Zukunft führen müssen. Aber es gehört auch zur politischen Kultur, daß wir dabei den Respekt vor der Meinung des anderen wahren.
Meine Damen und Herren, das Ansehen und die Stellung des vereinten Deutschlands in der Welt hängen nicht nur von seinem politischen Gewicht, seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ab, sondern nicht zuletzt - ich möchte fast sagen: vor allem - auch von seiner kulturellen Ausstrahlung.
({90})
Wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts unseren Beitrag zu einer menschlicheren Welt leisten wollen, müssen wir zur Partnerschaft ebenso fähig sein wie zum friedlichen Wettbewerb der Ideen und Zukunftsvisionen. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre, Spitzenleistungen in Wissen48
schaft und Kunst stärker zu fördern und auch anzuerkennen. Dies ist wiederum nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch unseres gemeinsamen Willens, etwa den Hochschulen mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb untereinander zu ermöglichen.
({91})
Was uns in Deutschland bisher fehlt, ist, so glaube ich, ein Forum, das die Themen der Zukunft national und international diskutiert. Daher wollen wir eine Deutsche Akademie der Wissenschaften ins Leben rufen. Sie soll in voller Unabhängigkeit eine Stätte des Dialogs von Wissenschaft und Kultur, von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sein. Sie kann Ratgeber sein und Anstöße geben für eine umfassende Debatte über wichtige Zukunftsfragen unseres Landes. Sie kann auch, so hoffe ich, mit dazu beitragen, daß die Erfordernisse der Zukunft in unserem Land breitere Zustimmung finden. Dabei geht es ebenso um Wissenschaftsanregung und -förderung wie um ethische Fragestellungen sowie um Probleme, die uns in Europa und als Teil der Weltgemeinschaft gleichermaßen bewegen.
Ich lade nicht zuletzt die Bundesländer, die Repräsentanten der Wissenschaft und alle, die im Bereich von Gesellschaft und Kultur diesen Dialog wollen und suchen, dazu ein, diese Akademie gemeinsam mit uns aufzubauen.
Meine Damen und Herren, die innere Einheit unseres Landes ist nicht mit Einheitlichkeit gleichzusetzen. Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum 3. Oktober hervorgehoben, daß es auch schon in der Vergangenheit Verschiedenheiten innerhalb Deutschlands gegeben hat. Ich glaube, daß in dieser Vielfalt einer der großen Reichtümer unseres Landes liegt. Die Erhaltung dieser Vielfalt in einem zusammenwachsenden Europa setzt die Bereitschaft zu gemeinsamer Verantwortung im Handeln voraus.
Die vom Grundgesetz festgelegte Mitwirkung der Länder bei Gesetzgebung und Verwaltung durch den Bundesrat vermittelt eben nicht nur Rechte. Sie bedeutet immer auch die Pflicht, das Wohl des Ganzen zu fördern. Diese Pflicht ist für uns Deutsche nach dem Glück der deutschen Einheit, so denke ich, keine Last.
Wir haben allen Grund, mit Zuversicht in die kommenden Jahre zu gehen. Die gemeinsame Verantwortung, die wir tragen, hat einen Namen: Es geht um die Zukunft Deutschlands in einem geeinten Europa. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen stellen sich dieser Aufgabe.
({92})
Es spricht jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon richtig: Dieses Land steht vor großen Aufgaben. Und genauso richtig ist: Es hat eine schwache Regierung mit einer knappen Mehrheit.
({0})
Aber ich füge hinzu: Es ist eine Mehrheit.
({1})
Folgerichtig wünsche ich dieser Regierung im Interesse des Landes und der Menschen, die hier leben und arbeiten, auch eine glückliche Hand.
({2})
Zu diesem Wunsch gehört ein Maß an demokratischer Gelassenheit und ein gewisser Mut - ein gewisser Mut angesichts der bisherigen Ergebnisse Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, und auch angesichts der Koalitionsvereinbarung und dieser Regierungserklärung, die mit vielen Worten im Grunde genommen nur eine Botschaft vermittelt: Es soll so weitergehen wie in den letzten zwölf Jahren.
({3})
Dabei beziehe ich mich nicht auf Ihre Worte; denn wenn es ein Streit um die Worte wäre, dann könnte man vielen einzelnen Formulierungen, mancher Nachdenklichkeit ja durchaus zustimmen. Aber das Entscheidende in der Politik sind nicht die wohlfeilen Absichtserklärungen, sondern die Taten, die geschehen, das Handeln, das organisiert wird, die Entscheidungen, die getroffen werden.
({4})
Ich sage deshalb: Es gehört zu dem Wunsch nach einer glücklichen Hand ein gewisser Mut, weil Sie in den letzten zwölf Jahren den Beweis dafür angetreten haben, daß über Ihre schönen Worte von der Integration arbeitsloser Bürger, von der Förderung der Kinder und der Familien, von der Gleichberechtigung der Frau, von der Verstärkung des sozialen Wohnungsbaus, von der Stärkung der deutschen Wirtschaftskraft, von der Förderung von Investitionen, von der Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten Jüngerer und vielem anderen eines zu sagen ist: Sie haben das in der Vergangenheit mit Ihren Taten immer widerlegt und genau das Gegenteil dessen getan, was Sie mit Ihren schönen Worten beschreiben.
({5})
Deshalb fällt die Prognose, daß das wohl auch für die Zukunft gilt, nicht sonderlich schwer. Denn da, wo Sie konkret geworden sind - auch diese seltenen Ausnahmen haben Sie uns heute gegönnt -, schimmert dasselbe Muster durch: Die angekündigten Taten widersprechen den vielen wohlfeilen Worten.
Gegen diese Politik werden wir uns stemmen - mit aller Kraft, mit aller Vernunft und auch mit aller
Leidenschaft. Wir haben dafür Möglichkeiten, und wir werden sie nutzen.
({6})
Wir werden diese Möglichkeiten hier im Deutschen Bundestag nutzen und die knappe Mehrheit häufiger vor die Frage stellen, ob sie konkrete Entscheidungen im Interesse des Landes und der Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger wirklich ablehnen will.
Wir haben diese Möglichkeit im Bundesrat,
({7})
der nun wahrlich kein parteipolitisches Instrument und schon gar nicht ein Blockadeinstrument ist
({8})
- seien Sie doch froh, daß in dieser Frage Übereinstimmung besteht -,
({9})
in dem aber Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten durch die Führung von oder Beteiligung an 14 Landesregierungen - ich vermute, daß das in wenigen Tagen der Fall sein wird - eine ungewöhnlich starke Stellung haben, von der wir konstruktiven Gebrauch machen werden. Wir haben diese Möglichkeiten auch durch die gemeinsamen Gremien von Bundestag und Bundesrat.
Ich schicke das deshalb voraus, weil ich am Anfang überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen lassen will, daß sich die Sozialdemokratie insgesamt, d. h. selbstverständlich auch ihre Bundestagsfraktion, an dem orientieren wird, was für die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen in Deutschland geeignet ist. Wir werden uns nicht darauf konzentrieren, künstliche Konflikte mit der Regierung herbeizuführen, Konflikt um des Konfliktes, Streit um des Streites, Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung willen zu betreiben, sondern immer den Zielpunkt im Auge behalten, was unser Handeln dazu beitragen kann, die kontrete Situation von Menschen in Deutschland, ihre Lebensbedingungen und ihre Zukunftschancen zu verbessern.
({10})
Ich füge hinzu: Wenn ich auch heute Defizite beschreibe, die mit einer besseren Politik in Deutschland dringend überwunden werden müssen, dann mache ich das nicht, weil ich überall nur Gefahren oder Risiken sehe. Wir haben ein durchaus positives Bild von der Gesellschaft, in der wir gemeinsam leben. Worum es allein gehen wird, sind eine bessere Art des Lebens und des Zusammenlebens. Risiken und Gefahren, Defizite und Ängste, die in der politischen Auseinandersetzung vielleicht hier und da eine sehr stark beherrschende Rolle spielen, finden nur deswegen unsere Aufmerksamkeit, weil wir wissen, daß das
Leben in diesem Land besser und sicherer sein könnte, als es heute ist.
Aus unserer Sicht lohnt es sich - das werden wir auch tun -, für eine Gesellschaft zu arbeiten und darum zu ringen, die ihre Lebensqualität durch eine gesündere Umwelt, durch weniger Angst vor risikoreichen Technologien, durch eine menschliche Arbeitswelt und durch mehr Zeit der Menschen für selbstbestimmte eigene Aktivitäten erreicht. Eine Gesellschaft, in der menschenwürdige Arbeit für alle, die arbeiten wollen und arbeiten können, erreichbar ist, in der Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen gerechter verteilt sind. Eine Gesellschaft, in der sich Leistungsfähigkeit und Mitbestimmung nicht ausschließen. Eine Gesellschaft, in der Einkommen gerechter verteilt sind, soziale Sicherung verläßlich ist und die Arbeitnehmer einen Anteil am wachsenden Produktivvermögen haben.
({11})
Eine Gesellschaft, die Gleichheit und Solidarität zwischen Männern und Frauen, Jüngeren und Älteren sichert.
({12})
Eine Gesellschaft, vor der sich andere nicht fürchten und die ihre Verantwortung für Frieden und Menschlichkeit in der Welt wahrnimmt, auch eine Gesellschaft, in der Bürgerinnen und Bürger, wo immer sie sich betroffen fühlen, an den Entscheidungen mitwirken und das Gemeinwesen als ihre eigene Angelegenheit verstehen können.
Das ist das Leitbild einer sozialen Demokratie, einer Demokratie, die in der sozialen Gerechtigkeit eine stabile Grundlage findet, einer Demokratie, die sich nicht im Wahlgang erschöpft, sondern im alltäglichen Leben der Menschen lebendig und erfahrbar ist,
({13})
einer Demokratie, von der jeder und jede einzelne sich angenommen weiß und sich auch ermutigt fühlen kann, eigene Beiträge zu ihrer Entwicklung zu leisten.
({14})
Dieses Ziel einer lebenswerten, einer von Solidarität und Fortschritt geprägten Gemeinschaft ist es, was unserer Arbeit Richtung, Zusammenhang und Energie geben kann und geben wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich beschreibe das, weil es praktische Konsequenzen nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für unsere Initiativen haben wird. Da wird in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers beispielsweise von der Notwendigkeit gesprochen, mehr zu tun für die wirtschaftliche Kraft des Landes, und dann ist der Satz gefallen, daß sich daran - ich sage das einmal in meinen Worten - die Zukunft auch vieler anderer Bereiche in unserem Land entscheiden wird. Das ist wohl wahr. Aber wenn ich diese Ankündigungen in ihrer schönen Allgemeinheit höre - mit den wenigen
konkreten Ausnahmen -, dann frage ich mich: Wer spricht hier eigentlich?
({15})
Derjenige, der von der Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung redet und sie als eine Chance für den einzelnen Menschen und als eine Notwendigkeit für unsere gemeinsame wirtschaftliche Zukunft begreift, ist der Bundeskanzler, der die Verantwortung dafür trägt, daß es bisher eine Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung nicht gibt, ist der Vorsitzende einer Partei, die jede Anstrengung in den Ländern zur Herbeiführung dieser Gleichwertigkeit bisher heftig bekämpft und diffamiert hat.
({16})
Es ist der Bundeskanzler selbst, der die Verantwortung dafür trägt, daß die Möglichkeiten z. B. der Aufstiegsförderung genauso zerstört worden sind, wie das kreative Potential der Arbeitnehmer durch die Streichung der Erfindervergünstigung beschädigt wurde.
({17})
Damit wir uns richtig verstehen, Herr Bundeskanzler: Ich sage das nicht, um jetzt, wie Sie gesagt haben, die Aufrechnung der Vergangenheit zu betreiben oder den Wahlkampf fortzusetzen. Ich sage es aus einem einzigen Grund: Wieviel Glaubwürdigkeit kann ein Mann beanspruchen, der für zwölf Jahre Politik und nicht nur für seine guten Absichten, wenn sie denn für die Zukunft gut sind, geradezustehen hat?
({18})
Das alles kleiden Sie in das freundliche Bild, das seien nicht nur Ankündigungen. Manches von dem, was getan werden müßte, ist ja wieder einmal zunächst in Expertenkommissionen verbannt worden. Und dann kommt die freundliche Einladung, man solle möglichst viel miteinander reden. So viele Einladungen zum gemeinsamen Gespräch habe ich noch selten gehört: an die Länder, an die Gemeinden, an die Sozialpartner, an die Gewerkschaften und dergleichen mehr.
({19})
Da frage ich mich: Wie will denn eine Regierung, von der die Menschen zu Recht erwarten können, daß sie Vorstellungen von ihrem eigenen Handeln hat, den notwendigen Diskurs mit gesellschaftlichen Gruppen, mit Gemeinden, mit Ländern, mit anderen führen, wenn sie selbst in diesen Dialog nichts, aber
auch gar nichts Konkretes einzuspeisen hat? Wie soll das denn gehen?
({20})
Wieviel Vertrauen kann ein Regierungschef beanspruchen, der sich mit der Tatsache herumschlagen muß, daß sein eigenes Handeln bisher
({21})
genau diesen Dialog, diesen notwendigen gesellschaftlichen Konsens, diese notwendige gemeinsame Anstrengung belastet statt gefördert hat?
({22})
Da gibt es ein hübsches und übrigens auch sehr eklatantes Beispiel. Sie reden davon, wir dürften nicht mehr die Arbeitskraft und die Erfahrung von 55jährigen Arbeitslosen verschleudern.
({23})
Das ist richtig. Genauso richtig ist, Herr Bundeskanzler, daß Sie bisher eine Politik gemacht haben, die genau zu dieser Verschleuderung der Erfahrung und der Arbeitskraft geführt hat.
({24})
Sie sind ganz offenkundig nur an einer einzigen Stelle konkret geworden. Es wird gesagt: Man muß einmal über die Effizienz der Arbeitsverwaltung nachdenken. Tun Sie das, und teilen Sie die Ergebnisse mit!
({25})
Es wird gesagt, man müsse anfangen, über die Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik nachzudenken. Tun Sie das, und sagen Sie einmal, was Sie an den Vorstellungen der Sozialdemokratie zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes konkret auszusetzen haben!
({26})
Es wird gesagt, man wolle - jetzt wird es konkret; das ist die einzige konkrete Ankündigung - die Anreize zur Aufnahme von Arbeit verstärken und im Zweifel die Sozialhilfe kürzen, wenn zumutbare Arbeit nicht aufgenommen werde.
({27})
Wenn das der zentrale Punkt sein soll, dann stelle ich einen anderen daneben, von dem wir überzeugt sind, daß er wesentlich wichtiger ist. Wir werden endlich dazu kommen müssen, die Belastung der Arbeit und der Arbeitsplätze mit Kosten, und zwar insbesondere mit Kosten durch die sozialen Sicherungssysteme, zurückzuführen.
({28})
Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, die deutsche Einheit zu finanzieren.
({29})
Es ist nicht Aufgabe der Beitragszahler, aktive Arbeitsmarktpolitik zu finanzieren. Das ist eine gemeinschaftliche Aufgabe.
({30})
Wer sich einmal anschaut, was der Bundesverband der Deutschen Industrie zu diesem Thema sagt, der stellt sich nur noch die verwunderte Frage, warum nicht wenigstens diese konkreten Vorschläge bei dieser Bundesregierung gefruchtet haben.
({31})
Mich wundert das nicht. Wir haben es ja nicht nur mit dem Bundeskanzler, sondern auch mit einem Kabinett zu tun, in dem jeder Neue oder jeder, der eine neue Aufgabe übernommen hat, eine faire Chance verdient.
({32})
Ich bin allerdings auch fest davon überzeugt: Es wird uns nicht weiterhelfen, wenn wir in diesem Bereich immer nach den Methoden des alten Denkens vorgehen.
Deshalb will ich Ihnen, gerade mit Blick auf den einen oder anderen hier unter uns, einmal mit einem kleinen Zitat dienen:
({33})
Der Rechtsanspruch auf Sozialversicherung ist in Wahrheit der wichtigste Besitztitel in der industriellen Massengesellschaft. Nicht der ist wahrhaft frei, der alle Lebensrisiken selber trägt und am Ende der Gemeinschaft häufig ziemlich rechtlos zur Last fällt, sondern derjenige, dem die Angst vor unverschuldeter Not, unberechenbaren Risiken und vor dem Alter genommen wird. Die Befreiung von der Existenzangst, soweit menschenmöglich, gehört zu den entscheidenden Aufgaben in der Massengesellschaft.
({34})
Ich bedauere es ein bißchen, daß die F.D.P. - das zeigt ja, wohin sie sich entwickelt hat -({35})
da keinen Beifall bekunden kann.
({36})
Denn Karl-Hermann Flach hat 1971 zu Recht von den
Chancen für die Liberalen gesprochen. Das Büchlein
war ja überschrieben mit „Noch eine Chance für die Liberalen" .
({37})
Ich habe den Eindruck, das ist bei Ihnen ebensowenig angekommen wie der Gedanke, daß die größtmögliche Freiheit des lohnabhängigen Bürgers mit einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Effektivität verbunden werden sollte und daß, so sagte Karl-Hermann Flach, es die liberale Aufgabe des 20. und 21. Jahrhunderts sei, Bürgerrechte am Arbeitsplatz zu stärken.
({38})
Meine Damen und Herren, wir werden deshalb die wirtschaftspolitischen Fragen, die Fragen, die mit den Arbeitsplätzen zu tun haben, nicht nur als ein ökonomisches Problem begreifen, sondern weiter das Ziel verfolgen, daß die Kreativität, die Phantasie, die Bereitschaft zur Mitverantwortung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch wirksam werden können, daß sie dafür Regeln zur Verfügung gestellt bekommen, daß das Betriebsverfassungsgesetz entsprechend erweitert wird,
({39})
wenn es um neue Technologien und neue Arbeitsplätze geht, daß Mitbestimmung gesichert bleibt - eine Uridee in der Bundesrepublik Deutschland, von der sich die CDU in der Praxis und die F.D.P. in der Praxis und im Gedankengut verabschiedet hat.
({40})
Herr Scharping, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Burkhard Hirsch?
Wenn es nicht allzuviel wird, gerne.
({0})
- Ich meine, in bezug auf die Zahl der Zwischenfragen.
Verehrter Herr Kollege, da Sie Karl-Hermann Flach zitiert haben, möchte ich Sie fragen: Wären Sie bereit, daran mitzuarbeiten
- und wenn ja, wie Sie sich das vorstellen -, die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers im Betrieb zu stärken und nicht nur die Rechte der Organisationen von Arbeitnehmern?
({0})
Herr Kollege Hirsch, ich will gerne versuchen, das im weiteren Verlauf meiner Ausführungen deutlich zu machen, im Zweifel auch in einem persönlichen Gespräch. Allerdings möchte ich einem Mißverständnis, das bei Ihnen möglicherweise vorhanden sein könnte - Sie wissen, daß ich Sie schätze -, vorbeugen: Zu glauben, daß die Interessenvertretung von Arbeitnehmern durch Betriebsverfassungen, Betriebsräte bzw. Personalräte oder Gewerkschaften die Rechte oder die Chancen des
einzelnen Arbeitnehmers begrenzen könnte, das halte ich für ein grobes Mißverständnis, um es höflich zu formulieren.
({0})
Sie ist die Grundlage dafür, daß der einzelne seine Möglichkeiten überhaupt entfalten kann.
Meine Damen und Herren, ich will zu einem wesentlich wichtigeren Punkt zurück. Wer wirtschaftlichen Fortschritt haben will, der wird nicht nur dafür sorgen müssen, daß es eine aktive Arbeitsmarktpolitik und Möglichkeiten zur Fort- und Weiterbildung gibt und die Lohnnebenkosten dadurch gesenkt werden, daß allgemeine Aufgaben auch von allen gemeinsam finanziert werden, sondern der muß auch dafür sorgen, daß es ein vernünftiges Verhältnis zwischen Leistung, individuellen Möglichkeiten und Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft gibt.
Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren stark beschädigt worden.
({1})
Es ist häufig der Eindruck entstanden, als sei soziale Gerechtigkeit ein wesentliches Prinzip nur für jene, die leider arbeitslos sind, leider keine bezahlbare Wohnung finden, wegen der Zahl ihrer Kinder leider Schwierigkeiten haben usw. Wohlverstanden - spätestens seit der Politik des amerikanischen Präsidenten Roosevelt - ist der Sozialstaat aber mehr. Er ist nicht allein Hilfe für Bedürftige oder Benachteiligte; er ist konstitutives Prinzip einer parlamentarischen Demokratie. Denn vom sozialen Frieden profitiert die gesamte Gesellschaft, und zwar wirtschaftlich und hinsichtlich der Qualität des Zusammenlebens.
({2})
Gesellschaften ohne kulturelle, ohne soziale und ohne wirtschaftliche Chancen für alle sind auf Dauer nicht zukunftsfähig. Alle Erfahrung der Vergangenheit beweist: Wenn die Frage nach der sozialen Gestaltung des Zusammenlebens der Vermutung ausgesetzt wird, die soziale Leistung sei gewissermaßen der Lazarettwagen am Ende einer unvermeidlichen wirtschaftlichen Entwicklung, dann verlieren Gesellschaften ihren Zusammenhalt.
({3})
Sie verlieren das konstitutive Element, das sie erst zu Gesellschaften macht.
Deshalb sind wir der Meinung, daß Massenarbeitslosigkeit überwunden, Wohnungsnot abgebaut und das Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland zügig verringert werden müssen, und zwar nicht, weil wir einäugig auf die Interessen von Gruppen, sondern auf das gemeinschaftliche Interesse an einem solidarischen Zusammenleben hin orientieren wollen.
({4})
Nur dann, wenn sich alle oder fast alle von der Gesellschaft, in der sie leben, angenommen und anerkannt fühlen, gibt es gute Gründe für die Erwartung, daß sie ihrerseits die Gesellschaft, in der sie leben, annehmen und anerkennen können. Das ist keine Einbahnstraße. Das ist nicht mit Worten zu leisten, sondern nur mit Taten.
({5})
Vor diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler, haben Sie zum wirtschaftlichen Bereich davon gesprochen, Sie wollten zunächst die Gewerbekapitalsteuer abschaffen, am Ende auch die Gewerbesteuer selbst.
({6})
Wir reden, wenn das für die Dauer dieser Legislaturperiode gemeint sein sollte, über einen Betrag von mehr als 40 Milliarden DM. Darüber läßt sich mit wolkiger Allgemeinheit nicht hinweggehen, vor allen Dingen nicht wegen der Folgen und weil Sie bisher keine Auskunft darüber geben, wie dieser angesichts einer hohen Verschuldung sowieso unverantwortliche Einnahmeausfall kompensiert werden soll.
Ich lese beispielsweise, daß Kollege Schäuble
({7})
- haben Sie etwas dagegen, wenn man sich auf Ihren eigentlichen Vordenker bezieht? -,
({8})
wenn das „Handelsblatt" zutreffend berichtet, davon gesprochen hat, man könne über einen kommunalen Hebesatz für die Lohn- und Einkommensteuer nachdenken.
({9})
Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Wir hatten in diesem Haus und im Bundesrat schon einmal eine Debatte über die Frage, ob es klüger sei, Steuern im Bereich der Unternehmensbesteuerung, also Spitzensteuersätze, allgemein zu senken, oder ob es gerade wegen der Stärkung des Investitionsstandortes Deutschland und der Schaffung von Arbeitsplätzen nicht vernünftiger sei, dafür zu sorgen, daß Unternehmen, die investieren, forschen, entwickeln und neue Produkte in den Markt bringen, gezielt entlastet werden, daß der Mittelstand gezielt entlastet wird.
({10})
Sie dürfen sich darauf einrichten: Wir werden allem widerstehen, was die kommunale Finanzkraft und die kommunale Finanzhoheit aushöhlt. Wir werden allem widerstehen, was am Ende nur dazu führt, daß ein breiter Steuerregen über alle Unternehmen herniedergeht, während diejenigen, die investieren, die forschen, die entwickeln und die etwas für Arbeitsplätze tun, eben nicht die notwendige Entlastung erfahren. Genau das geschieht aber, wenn Sie Ihr Vorhaben durchsetzen wollen.
({11})
Wir werden nicht dazu die Hand reichen, daß die Gemeinden ein Interesse an der Ansiedlung von Betrieben verlieren. Wir werden nicht dazu die Hand reichen, daß sie ihre Gebühren und Abgaben erhöhen müssen. Es stellt sich hier auch die Frage, wie beiRudolf Scharping
spielsweise der Magistrat der Stadt Frankfurt die Bürger von Kronberg eigentlich heranziehen soll, damit sie die Oper, die kulturellen, die sportlichen und sonstigen Einrichtungen dieser großen Stadt für ihr Umfeld bezahlen können.
({12})
Vor diesem Hintergrund, kulturelle Einrichtungen zu schließen oder teurer zu machen, soziale Einrichtungen, auf die viele Menschen angewiesen sind, öffentliche Einrichtungen, ein Dienstleistungsangebot für die Bürger immer teurer zu machen, indem man die kommunale Finanzbasis immer weiter schwächt, werden wir nicht mitmachen, schon gar nicht, wenn es auf der wirtschaftlichen Seite gegenüber investierenden Unternehmen keine einzige wirksame Verbesserung bedeutet.
({13})
Meine Damen und Herren, damit ist eine Brücke zur sozialen Entwicklung in Deutschland geschlagen. In diesen Tagen ist der Konsultationsprozeß der beiden christlichen Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland eröffnet worden. Wer vorher geglaubt hatte, es sei das Geschrei einer gewerkschaftlich organisierten Interessengruppe oder die besondere Betroffenheit von Wohlfahrtsorganisationen, wenn die soziale Lage in Deutschland beklagt wird, der wird sich hoffentlich gerade in Parteien, die für sich das Christliche beanspruchen, durch diese Debatte in den Kirchen eines Besseren belehren lassen. Was Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland signalisieren, ist zum Beispiel von Hans Küng mit einem guten Satz abgelehnt worden: Lebensstandard alleine ergibt keinen Lebenssinn.
({14})
Materieller Wohlstand alleine ergibt keinen Sinn und übrigens auch keinen Zusammenhalt für das Leben untereinander. Wenn das aber so ist, dann müssen Sie sich fragen lassen, warum Sie in Ihrer praktischen Politik bisher alles ignoriert haben, was von den Gewerkschaften, von den sozialen Wohlfahrtsorganisationen und mittlerweile auch von den Kirchen an besorgten Stimmen und an konkreten Vorschlägen angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Deutschland geäußert worden ist. Ich finde es erstaunlich, daß ein Regierungschef aus den Reihen der Christlich-Demokratischen Union in diesen Tagen eine Regierungserklärung abgeben kann, ohne ein einziges Wort dazu zu sagen, wie die Kirchen und die Wohlfahrtsorganisationen die soziale Lage dieses Landes beurteilen.
({15})
Neben der Arbeit und der Stärkung der wirtschaftlichen Leistungskraft, neben der Stärkung der Investitionen in Deutschland, der Förderung neuer Technologien wird die Frage nach der Befestigung der sozialstaatlichen Grundlage unseres Zusammenlebens die zweite entscheidende Zukunftsfrage sein. Das betrifft Frauen wie Männer, Kinder wie Ältere, stellt die Frage nach der Wirksamkeit des sozialen
Generationenvertrages und stellt die Frage, was diese Regierung denn eigentlich vorhat. Sie wollen den sozialen Wohnungsbau stärken oder den Wohnungsbau insgesamt. Ich höre das gerne und frage mich: Ist da wirklich die Umkehr von der bisherigen Politik oder nur das wortreiche Bemänteln mit dem Ziel, genau die gleiche Politik fortzusetzen? Wie sind Sie denn mit dem Mietrecht umgegangen, wie mit den Mitteln für den sozialen Wohnungsbau, wie mit den Verhältnissen bei Familien und Kindern?
({16})
Es hört sich gut an, daß Kinder ein Armutsrisiko geworden seien und ein Hindernis auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung.
({17})
Auf Grund vieler meiner eigenen Reden in der Vergangenheit kommt es mir sehr bekannt vor, wenn ich höre, daß auf der einen Seite die Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft beschworen wird, dann aber gegen die Spiel- oder Bolzplätze geklagt wird. Wie war es denn, als hier, im Deutschen Bundestag, in solchen Fragen über die konkreten gesetzgeberischen Entscheidungen verhandelt werden mußte? Wie sah das in den Haushalten aus, wie in Ihrer konkreten Politik?
Herr Bundeskanzler, ich bitte sehr um Verständnis: Eines können Sie nicht tun. Sie können nicht sagen, die Bürgerinnen und Bürger hätten die Koalition der Mitte, die in Wahrheit eine Koalition der Schwäche ist, gewählt, gleichzeitig aber sagen: Jetzt betreibe ich selbst höchstpersönlich Opposition gegen die Politik, die ich in den letzten zwölf Jahren gemacht habe.
({18})
Sie können nicht sagen, die Bürgerinnen und Bürger hätten die Kontinuität gewollt. - Ich fürchte, sie werden diese Art von Kontinuität aber bekommen.
Wo ist der konkrete Vorschlag zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus? Wo ist der konkrete Vorschlag, Bauland preiswerter zu machen? Wo sind die konkreten Vorschläge, die Spekulation mit Bauland und sein Horten zu verhindern, zumindest zu erschweren? Welche konkreten Maßnahmen stellen Sie sich vor? Wir haben noch runde zwei Tage Zeit, das hier miteinander zu besprechen. Vielleicht ist es einem Regierungschef nicht möglich, bei den vielen Dingen, die er ansprechen will, ansprechen muß oder meint, ansprechen zu müssen, zu den Fragen des praktischen politischen Entscheidens Stellung zu nehmen.
Nein, wenn Sie ankündigen, daß Sie die Kinderfreibeträge erhöhen wollen, wenn Sie ankündigen, daß Sie in diesem Bereich eine bittere soziale Ungerechtigkeit noch ausbauen wollen, dann rechnen Sie bitte mit dem entschlossenen Widerstand der Sozialdemokratie.
({19})
Sie haben Teile der Wohnungsbauproblematik genauso wie die Frage der Steuerfreiheit des Exi54
stenzminimums zunächst in Expertenkommissionen verbannt. Das hat Ihnen über den 16. Oktober hinweggeholfen. Es wird Ihnen aber in den nächsten vier Jahren, wenn sie es denn werden, nicht weiterhelfen.
Meine Damen und Herren, eine Regierungserklärung von so allgemeiner Wolkigkeit macht es in manchen Bereichen schwer, zu erkennen, was denn wirklich geschehen soll. Deshalb will ich an dieser Stelle lieber sagen, was wir durchsetzen wollen. Wir wollen durchsetzen, daß es einen gerechten und jedes Kind gleichermaßen ernst nehmenden Familienleistungsausgleich gibt.
({20})
Wir wollen durchsetzen, daß es ein einheitliches Kindergeld gibt.
({21})
Wir wollen durchsetzen, daß von den gleichen Chancen der Frauen, daß von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur in öffentlichen Bekundungen geredet wird, sondern daß dieser Deutsche Bundestag entsprechende Rahmengesetze verabschiedet, die den einzelnen Frauen überhaupt eine Chance geben.
({22})
Sie werden spätestens bei der Frage der Reform des § 218 beantworten müssen, wie Sie es denn mit dem Rechtsanspruch auf einen Platz im Kindergarten halten. Wenn hier unterschiedliche Öffnungszeiten beklagt werden oder die Tatsache, daß die Schule mal um 12, mal um 11, mal um 13 Uhr zu Ende geht und es für Mütter und Väter folglich schwierig ist, sich darauf einzurichten, dann ist das alles schön zu hören. Solange aber diese Bundesregierung nicht bereit ist, für die von ihr selbst und von der Koalition gesetzten Rahmenbedingungen denen die Mittel in die Hand zu geben, die das ausführen müssen, bleibt das alles Makulatur.
({23})
Folglich wollen wir auch durchsetzen, daß im Bereich des Wohnungsbaus Vorschläge aufgegriffen werden, daß nicht mehr mit einer unmittelbaren, durch Zuschüsse in barem Geld organisierten Förderung, sondern im Zweifel durch Bürgschaften oder entsprechende Eigenkapitalsurrogate wesentlich besser geholfen wird, als uns das in der Vergangenheit gelungen ist.
Meine Damen und Herren, die dritte große Zukunftsaufgabe ist der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Auch da zeigt sich, daß wirtschaftliche, soziale und ökologische Erfordernisse sinnvoll miteinander verknüpft werden können. So, wie wir einen sozialen Generationenvertrag brauchen und erhalten müssen, brauchen wir auch einen ökologischen Generationenvertrag.
Jede Entscheidung, die wir heute treffen, muß zwei Maßstäben genügen: dem Maßstab der sozialen Verträglichkeit unter den Menschen, die heute leben, und dem Maßstab der Verträglichkeit mit den Lebenschancen künftiger Generationen. Niemand hat heute das Recht, deren Lebenschancen einzuengen.
({24})
Natürlich ist der Schutz von Umwelt, die Produktion umweltverträglicher Güter, auch eine große wirtschaftliche Chance. Natürlich ist die ökologische Orientierung der gesamten Volkswirtschaft, das Denken in mehr produktintegriertem Umweltschutz, weg von diesen End-of-Pipe-Technologien, die am Ende eines Schornsteins, eines Abwasserrohres mit feinziselierten Überwachungsbehörden alles mögliche kontrollieren wollen, hin zu einer in das Produkt verlagerten Idee von Umweltschutz, natürlich ist das Denken in kreislauforientierter Wirtschaft die Grundlage.
Dann fallen eine ganze Reihe von konkreten Entscheidungen.
({25})
- Verehrter Herr Kollege, wenn Sie wüßten, daß wir mit dem Umweltschutz immer noch einen der größten Wachstumsmärkte haben,
({26})
wenn Sie wüßten, daß die Unternehmen in Deutschland mittlerweile vorrechnen, daß ihre Belastungen mit Umweltschutzkosten wesentlich niedriger sind als jene Lasten, die Sie ihnen mit einer unzuverlässigen Währungspolitik, den daraus entstehenden Schwankungen und den Lohnnebenkosten aufgehalst haben,
({27})
wenn Sie das alles einmal beachten würden, dann würden sich Ihnen die Augen öffnen.
Es dürfte Ihnen nicht verborgen sein, daß mittlerweile weltweit so angesehene Institute wie das MIT in Boston und viele andere Institutionen, angeführt von einer Gruppe international tätiger Unternehmen, wo sich 50 Frauen und Männer zusammengeschlossen haben, selbst als Unternehmen die Umkehr hin zu einer ökologisch orientierten Wirtschaft fordern. Die sind doch in den Unternehmen mittlerweile viel weiter als das Denken in der CDU/CSU oder in der F.D.P. oder in dieser Regierung.
({28})
Wenn Sie allerdings immer einen Wirtschaftsminister da hinschicken, bei dem die Gewerkschaften nur noch sagen: „Was soll es?" und bei dem die Arbeitgeber sagen: „Das kann man gleich zur Seite winken" - das wird doch auch auf den Fluren der Unternehmensverbände nicht mehr sonderlich ernst genommen -, dann kommen diese Informationen bei Ihnen nicht an.
({29})
Das will ich gerne verstehen, aber das ist natürlich inakzeptabel für die Politik einer solchen Regierung.
({30})
Frau Kollegin Merkel, ich wünsche Ihnen persönlich viel Erfolg. - Mehr kann ich leider nicht tun.
({31})
So richtig es ist, daß man eine Chance einräumen soll, so richtig ist es leider auch, daß Sie das Amt nicht unbedingt haben wollten.
Wenn man dann in diesem wesentlichen Bereich einen Wirtschaftsminister hat, der es nicht kann, eine Umweltministerin, die es nur muß, und einen Umweltminister von ehedem, der es gerne gewollt hätte, aber nicht durfte,
({32})
dann zeigt das, daß an dieser Schnittstelle der künftigen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung weder inhaltliche Konzeptionen noch personelle Kompetenz eingesetzt wird. Das ist die eklatanteste Schwäche dieser Regierung.
({33})
Auch das kann man ja wieder mit ein paar Beispielen unterlegen: Wie weit ist die Entwicklung der Solartechnik? Welche eigenartige Vorstellung von der weiteren Nutzung der Atomenergie haben Sie?
({34})
Was sind Ihre Bekundungen hinsichtlich der Reduzierung des CO2-Ausstoßes noch wert? Das kommt überhaupt nicht mehr vor. Früher gab es ja einmal eine vollmundige Ankündigung, daß man ihn um 25 % herunterschrauben wolle. Ich frage: Wie sehr ist eine führende Industrienation wie Deutschland mit einer solchen Regierung an der Spitze wirklich engagiert, weltweit ein Vorbild zu sein? Die Antwort darauf läßt sich am besten ablesen, wenn man die Vorbereitungen für die Folgekonferenz des Erdgipfels und die Klimakonferenz, die in Berlin stattfinden soll, genau studiert. Sie hatten auch im Hinblick auf Ihre Präsidentschaft des Europäischen Rates angekündigt, was Sie in dieser Beziehung alles voranbringen wollten. Nichts, Herr Bundeskanzler, ist geschehen. Wo soll dann das Vertrauen herkommen, daß in Zukunft etwas geschehen würde?
({35})
Neben diesen großen Modernisierungsaufgaben in bezug auf den Wirtschaftsstandort, die Grundlagen des Zusammenlebens und die natürlichen Lebensgrundlagen steht Deutschland vor großen Integrationsaufgaben.
Die eine Integrationsaufgabe bezieht sich auf jene Frauen und Männer, die im Osten Deutschlands leben und die, soweit sie es erlebt haben und erleben mußten, in der Zeit von 1933 bis 1989 in Systemen
gelebt haben, die zwar nicht miteinander zu vergleichen sind, aber doch beide Diktaturen gewesen sind. Ihnen Respekt entgegenzubringen und sie mit ihrer Lebenserfahrung zu integrieren, sie nicht auszugrenzen, die Schwierigkeiten eines solchen Lebens zu akzeptieren - das wäre nicht nur ein guter Grundsatz, sondern auch ein wichtiger Maßstab für das, was konkret in Zukunft geschieht. Elemente des Strafrechts haben im Rentenrecht nichts zu suchen,
({36})
und folglich werden wir auch auf diesem Gebiet Initiativen ergreifen.
Das ist aber viel mehr als nur ein wirtschaftlicher Vorgang, Hilfe bei Investitionen, Sicherung von Arbeitsplätzen, Förderung von aktiver Arbeitsmarktpolitik, Förderung der Entwicklung des Handels, Nutzen der großen Kenntnisse und Erfahrungen, gerade was das östliche Mitteleuropa und die damit zusammenhängenden Sprachkenntnisse und beruflichen Erfahrungen angeht; es ist viel mehr. Wenn die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse signalisieren, daß man die Menschen selbst nicht respektiert, dann wird das Zusammenwachsen der Deutschen in emotionaler, in kultureller und menschlicher Hinsicht auf eine unerträgliche Weise beschwert.
({37})
Meine Damen und Herren, das folgende Beispiel will ich nun doch verwenden: Man kann über eine Rede eines Alterspräsidenten das eine oder andere sagen, auch kritisch. Aber wenn man sich nicht der einfachsten Formen der Höflichkeit befleißigen kann,
({38})
ist auch das ein Signal von Mißachtung.
({39})
Ich habe politisch überhaupt keine Nähe zu dem, was der Abgeordnete Heym vertritt,
({40})
überhaupt keine. Ich finde, es ist aber ein schändliches und beschämendes Vorgehen, wenn man eine Rede dort nicht abdruckt, wo sie üblicherweise abgedruckt wird. Auch das ist ein Signal für Mißachtung.
({41})
Wir werden die eine große Integrationsaufgabe zwischen Ost und West nicht bewältigen können, wenn bei aller notwendigen und auch sehr grundsätzlichen politischen Auseinandersetzung der Respekt vor schwierigen Lebenswegen und vor manchen Unzulänglichkeiten nicht wenigstens in den Grundbeständen da ist, die man für menschliches Zusammenleben braucht.
({42})
Die zweite große Integrationsaufgabe wird sein, den Frauen im Beruf, in der Gesellschaft und in der Politik gleiche Chancen einzuräumen. Ich habe in dem sozialen Zusammenhang darüber schon einiges
gesagt und will mich hier deswegen auf eine Bemerkung beschränken. Auch da, Herr Bundeskanzler, habe ich mir Ihre Regierungserklärung erstens aufmerksam durchgelesen und zweitens nach dem Lesen mit - das muß ich einräumen - etwas reduzierter Aufmerksamkeit zugehört und versucht, diese ganzen Worte in mich aufzunehmen. Da fiel mir eigentlich nur ein, daß man das mit Ihrer politischen Praxis, und zwar in Ihrer unmittelbarsten und eigensten Verantwortung, konfrontieren sollte. Ich finde, eine Partei, die mit Hilfe ihrer Fraktion eine Regierung trägt, macht sich bei dem proklamierten Anspruch der Gleichberechtigung von Frauen und Männern ziemlich lächerlich, wenn sie das in ihrem eigenen Verantwortungsbereich noch nicht einmal ansatzweise durchsetzen kann.
({43})
Vorstellungen, die am Ende darauf hinauslaufen, traditionelle Rollenbilder zu verfestigen, haben weder mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch mit ihrer wahrscheinlichen Entwicklung, auch nicht mit ihrer wünschbaren Entwicklung, zu tun.
Die dritte große Integrationsaufgabe ist die gegenüber jenen Menschen, die mit einem anderen Paß unter uns leben. Ich zögere bei dem Wort „Ausländer" schon deshalb, weil es mir nur schwer in den Kopf und über die Lippen kommt, einen Menschen, der hier 20, 30 Jahre lebt, dessen Kinder hier geboren sind, dessen Kinder in den Sportverein, in die Schule gegangen sind usw., noch als Ausländer zu bezeichnen; das ist er nur von seinem Paß her.
({44})
Man erlebt auch als einzelner Mensch auf diesem Gebiet ziemlich viel. Wenn ich mir anschaue, wie bisher mit der Frage der Integration, für die die Staatsbürgerschaft ein Element ist - vielleicht noch nicht einmal das allein entscheidende und wichtigste -, umgegangen wird und was Sie da jetzt vereinbart haben, muß ich ganz offen sagen: Auch die Kalkulation größter Koalitionszwänge und größtmöglicher Rücksichtnahme aufeinander rechtfertigt eine solche Lächerlichkeit wie die „schnuppernde Staatsbürgerschaft" in keiner Weise.
({45})
Wer Integration wirklich will - das ist etwas anderes als multikulturell -, darf die Menschen nicht ausgrenzen, die lange hier leben, die völlig integriert sind - außer mit Blick auf ihre Staatsangehörigkeit -, die zur Finanzierung unserer gemeinschaftlichen Einrichtungen ebenso beitragen wie zur kulturellen Bereicherung unseres Landes. Ich mag nicht einsehen, daß es einem jungen Menschen so geht, wie ich es kürzlich bei einer jungen Frau mit türkischen Eltern in Regensburg erlebt habe: daß sie in dieser Stadt studiert, nachdem sie in dieser Stadt Abitur gemacht hat, voll in das kulturelle und gesellschaftliche Leben integriert ist und dann Hunderten von Menschen öffentlich erklären muß: Ich kann mich in diesem Land nicht
wirklich wohl fühlen, weil ihr mich immer noch als Ausländer bezeichnet. Das sagt sie in breitestem bayerischen Dialekt, den sie wesentlich besser beherrscht als das Türkisch ihrer Eltern. Diese Menschen haben nach unserem Verständnis Anspruch darauf, auch mit der Staatsbürgerschaft das Signal der Integration zu bekommen.
({46})
Meine Damen und Herren, ich wollte mit ein paar Streiflichtern beleuchten, welche drei großen Modernisierungs- und welche drei großen Integrationsaufgaben wir sehen: Modernisierung des Wirtschaftsstandortes, Modernisierung und Befestigung der sozialen Grundlagen unseres Zusammenlebens, Modernisierung und Verbesserung unseres Schutzes und der praktischen Politik zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen; Integration in Deutschland, gleiche Chancen für Frauen und Männer, Integration der Bürgerinnen und Bürger, die wir heute als ausländische Mitbürger bezeichnen. Wir wissen sehr wohl, daß der Staat für diese Aufgaben Gestaltungsspielraum zurückgewinnen muß, daß er seine Tätigkeit modernisieren muß, daß er sich dazu auf Wesentliches konzentrieren muß, und wir wissen auch, daß das mehr als eine finanzielle Aufgabe ist.
Soweit es eine finanzielle Aufgabe ist, will ich Ihnen sagen, daß wir nicht nur Regeln, Genehmigungsverfahren und anderes durchforsten müssen. Ich kenne viele Beispiele, wie das gehen könnte. Ich will das aber mit Rücksicht auf die Zeit nicht näher ausführen.
Eines will ich allerdings sagen: Wer nicht den Mut hat, sich mit dem gewachsenen System der Beamtenbesoldung anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich mit dem gewachsenen System von Aufgabenverteilung, Organisation von Verantwortlichkeiten und dergleichen anzulegen, wer nicht den Mut hat, sich das System der Dienstaltersstufen anzuschauen, der wird weder von der Geschwindigkeit seiner Entscheidung noch von der Modernität staatlichen Handelns und schon gar nicht von den finanziellen Grundlagen her zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können.
({47})
Im übrigen braucht dieses Land mehr als andere vielleicht die Integrität seiner Institutionen. Sie ist für die zivile Konfliktaustragung unverzichtbar. Deshalb ist es so bedenklich, daß diese Koalition völlig unfähig geworden ist. Ein nationaler Plan zur Verbrechensbekämpfung - was soll das denn sein?
Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie sind doch gar nicht mehr in der Lage, eine gemeinsame Substanz von Politik zu formulieren, wenn es um die Bewahrung der inneren Sicherheit in diesem Land geht.
({48})
Da redet der Bundeskanzler hier von mafiaähnlichen Organisationen. Das ist leider eine wachsende
Realität. Da ist zu reden davon, daß der Verdacht der Korruption - ein mittlerweile immer weiter wachsendes Thema - die Integrität demokratischer Institutionen und deren Ansehen in der Bürgerschaft allmählich zu gefährden beginnt. Was geschieht konkret? Sie haben ein absolut lächerliches Geldwäschegesetz vorgelegt, von dem Ihnen mittlerweile jeder bescheinigt, daß es gänzlich unbrauchbar ist.
({49})
Sie sind leider noch nicht einmal in der Lage, sich bei Ihrer Koalitionsvereinbarung auf das zu verständigen, was das Minimum sein sollte. Organisierte Kriminalität darf nicht zu einem lohnenden Geschäft in Deutschland werden. Das darf auch kein Ruhe- oder Rückraum für solche werden, die in anderen Ländern konsequenter verfolgt werden.
({50})
Wir wissen auch, daß zur Modernisierung und zur Rückgewinnung von Gestaltungsspielraum ziviles Engagement der Bürgerinnen und Bürger gehört. Kein Gesetz, keine Polizei, keine Justiz und keine öffentliche Institution kann am Ende schützen, was die Bürger nicht auch selbst schützen wollen. Folglich ist ziviles Engagement eine unverzichtbare Grundlage für demokratische und solidarische Entwicklung.
Ziviles Engagement muß ermutigt werden. Es gibt dieses Engagement Gott sei Dank in unglaublich reichhaltiger Form. Manche, vielleicht auch in diesem Raum, glauben, Politik fände nur in Parteien oder Parlamenten statt. Diese Menschen warne ich vor dem Trugschluß, der sich daraus ergibt, nämlich jene als politikverdrossen zu bezeichnen, die sich weniger für parlamentarische Debatten oder Engagement auf Dauer in Parteien interessieren.
Es gibt viel mehr Menschen, die sich für die öffentlichen, die allgemeinen Angelegenheiten interessieren, als dem einen oder anderen vielleicht bewußt ist. Sie engagieren sich z. B. für Umweltschutz oder Menschenrechte, für humanitäre Hilfe gegenüber Südost- und Mittelosteuropa. Das ist aus meiner Sicht auch die beste Grundlage für eine auf Frieden und Hilfe orientierte Politik dieses Landes.
Wer dieses Engagement im Innern nicht fördert, es eher als Belästigung einer eingefahrenen Routine versteht, der wird am Ende entmutigen, anstatt Menschen ein neuerliches Motiv und eine Ermutigung dafür zu geben, mit diesem Engagement fortzufahren, auf das dieser Staat überhaupt nicht verzichten kann, wenn er menschliches Zusammenleben erhalten will.
({51})
Auch das hat etwas mit Respekt und Toleranz zu tun. Ich bin der Auffassung, daß wir zum Verständnis unseres Landes, zum Verständnis dessen, was wir Nation nennen, nicht nur eine gemeinsame Sicht unserer, nicht nur von Höhen und Tiefen oder Licht und Schatten, Herr Bundeskanzler, sondern von schrecklichsten Grausamkeiten zwar nicht ausschließlich, aber mitgeprägten Geschichte brauchen. Vor allen Dingen werden wir ein einiges Land und
eine gemeinsame Nation ohne Abgrenzung gegenüber anderen nur dann werden, wenn wir Toleranz und Respekt in der Gegenwart fördern und eine gemeinsame Idee davon entwickeln, in welche Zukunft dieses Land eigentlich gehen soll.
({52})
Wir sind eine jedenfalls in weiten Teilen gefestigte Demokratie und auch ein verläßlicher Partner.
Dem, Herr Bundeskanzler, was Sie zur Außenpolitik und zur Europapolitik gesagt haben, stimmen wir ausdrücklich zu. Ich füge allerdings einiges hinzu. Ich habe versucht, sehr genau nachzuempfinden, was Sie im Zusammenhang mit internationalem Engagement ini einzelnen gesagt haben.
Soweit es Europa angeht: Nicht nur mit den Worten, sondern in der praktischen Politik brauchen wir ein dauerhaft gutes, d. h. in der Zukunft verbessertes Verhältnis zu Frankreich. Das ist vermutlich sinnvoller als alle herumgereichten Vorstellungen von einem Europa mit erster und zweiter Klasse und einem möglicherweise größeren Wartesaal.
({53})
Für die kluge Einordnung Deutschlands in Europa ist ein gutes und sich wieder verbesserndes Verhältnis zu Frankreich unverzichtbar.
Wir stimmen zu, wenn Sie sagen, daß bei der Revision des Maastricht-Vertrages die demokratische Verankerung der Gemeinschaft und die völlige Orientierung ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung an dem Kriterium der Stabilität Vorrang haben soll. Hoffentlich geschieht das dann auch. Entscheidungen gegenüber anderen europäischen Partnern, wie sie im Europäischen Rat oder von den Finanzministern getroffen worden sind, verheißen nicht immer Gutes, was diese absolute Orientierung an Stabilität angeht.
Wir stimmen auch zu, wenn Sie in einem klugen Verhältnis der Beachtung der Interessen Rußlands die Integration der mittelosteuropäischen Staaten in die Europäische Gemeinschaft vorantreiben wollen. Das sind europäische Staaten. Warschau, Budapest, Prag und andere sind genauso europäische Städte wie Berlin, Paris, Rom oder London und andere.
Wer diese Integration allerdings will, der sollte sich auch bei dem besonderen Verhältnis, das zwischen Deutschland und Polen besteht, dennoch nicht nur auf Polen beziehen. Auch die Tschechische Republik, auch Ungarn oder andere gehören zu Europa hinzu. Europa bliebe ohne sie unvollständig.
({54})
Es ist uns bewußt, daß hier schwierige, vermutlich in Deutschland, in der Europäischen Union, in der NATO und in anderen Bereichen von uns ja nicht allein zu bestimmende, aber von uns zu fördernde, voranzubringende Entwicklungen und Entscheidungen anstehen. Wir wollen deshalb die Basis festhalten, daß Deutschland ein europäisches Land mit fester europäischer Einbindung und einer starken Freundschaft zu Frankreich ist, weil nur von daher die Kraft entsteht, andere in die Gemeinschaft aufzunehmen.
Dabei sollte uns auch die Erfahrung leiten, daß die Integration Spaniens, Portugals und Griechenlands nicht nur Zeit, Übergangsfristen oder finanzielle Hilfe erfordert hat. Das Wichtigste ist wohl, daß die Integration dieser Staaten in die Europäische Gemeinschaft die Befestigung ihrer Demokratien ermöglicht hat. Das gilt gegenüber dem östlichen Europa genauso.
({55})
Ich füge hinzu, daß wir uns innerhalb der NATO und auf der Grundlage eines ebenso festen und freundschaftlichen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika deutsche Sicherheitspolitik und deutsche Außenpolitik gut - und im Zweifel in den Grundlinien auch im Konsens mit dieser Regierung - vorstellen können, wenn es bei den beschriebenen Grundlinien bleibt. Was die internationale Rolle Deutschlands angeht, bekräftige ich, was ich für die SPD hier in der Aussprache über die Einsätze in der Adria und bezogen auf das ehemalige Jugoslawien und das heutige Bosnien-Herzegowina gesagt habe. Das muß ich hier nicht wiederholen.
Ich will aber deutlich machen, daß eine gemeinsam entwickelte europäische Außenpolitik dann auch Abschied davon nehmen muß, daß wir in Europa
- wie leider in der Vergangenheit - unseren Partnern signalisieren, im Zweifel würden wir nach unseren eigenen Vorstellungen verfahren, ohne die Politik wirklich aufeinander abgestimmt zu haben.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
({56})
- Wenn Sie eingeschlafen sind, stört mich das relativ wenig. Denn daß ich Sie nicht überzeugen kann, das ist mir von vornherein klar. Den Versuch will ich gar nicht machen.
({57})
Wenn meine Fraktion und die Bürgerinnen und Bürger, die eine solche Debatte verfolgen, meine Ausführungen als sinnvoll empfinden, ist das etwas ganz anderes.
({58})
Deshalb halte ich zum Schluß fest: Wir haben von einer Regierung mit denkbar knappster Mehrheit eine dünne Koalitionsvereinbarung und eine weitgehend substanzlose Regierungserklärung.
({59})
Wir hören von dieser Koalition freundliche Absichtserklärungen, aber sie hat nicht den Mut zu konkreten Taten.
({60})
Wir haben auf der Seite der Regierung die ganz schlichte Erkenntnis, daß sie selbst - einschließlich des Regierungschefs - eine Regierung auf Abgang ist.
({61})
Sie ist kaum noch in der Lage, aus eigener Kraft und mit eigenen Möglichkeiten das zu tun, was für die Zukunft unseres Landes, für die Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage, für die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit und den Schutz seiner Lebensgrundlagen getan werden muß.
Unsere Opposition - das ist die Rolle, die uns die Wählerinnen und Wähler am 16. Oktober zugewiesen haben - wird sich daran orientieren, daß wir mit allen unseren politischen Möglichkeiten die Ziele verfolgen, für die wir in den letzten Monaten und Jahren eingetreten sind. Wir werden uns an diesen sachlichen Überzeugungen - an nichts sonst - orientieren, und dabei wird diese Regierung sehen, daß eine Opposition außerordentlich wirksam sein kann. Wie lange Sie im Amt sind - ob jetzt ein Jahr, zwei oder vier Jahre -, ist für uns nicht der erste Punkt. Jeder Tag ist im Prinzip zuviel.
({62})
Richten Sie sich also darauf ein, daß wir orientiert an der Sache eine Opposition betreiben, die das Ziel hat, den Menschen in diesem Land zu helfen, aber ganz sicher nicht zum Ziel haben wird, Sie länger als unbedingt notwendig in dem Amt zu sehen, in das Sie noch einmal gewählt worden sind.
(Langanhaltender Beifall bei der SPD Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS -
Herr Scharping, das verstehe ich!)
Meine Damen und Herren, bevor wir die Aussprache fortsetzen, möchte ich auf der Ehrentribüne im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages ganz herzlich den Präsidenten der Republik Finnland, Herrn Martti Ahtisaari, und seine Begleitung begrüßen.
({0})
Wir freuen uns über Ihren Besuch und möchten Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen, daß der Bundestag mit großer Freude Ihre Beitrittserklärung und die Zustimmung beim Referendum zur Kenntnis genommen hat. Wir sind froh, daß Sie dabei sind. Herzlich willkommen!
({1})
Sie wissen, wie eng unsere bilateralen Beziehungen sind. Auch das soll durch diesen Besuch weiter fortgesetzt werden. Herzlichen Dank.
Nun hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Abgeordneter Dr. Wolfgang Schäuble, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben im Jahre 1994 genügend Wahlkämpfe gehabt. Deswegen ist es vielleicht gut, wenn wir das heute nicht fortsetzen, Herr Kollege Scharping.
({0})
Die Wähler haben uns am 16. Oktober im Rahmen unserer gemeinsamen Verantwortung für diese Demokratie unterschiedliche Aufgaben zugewiesen. Ihre Aufgabe ist es in der Tat nicht, dafür zu sorgen, daß die Regierung möglichst lange im Amt bleibt. Der Regierungsauftrag für die Koalition der Mitte und für Bundeskanzler Helmut Kohl ist klar. Die Unionsfraktion wird Kanzler, Regierung und Koalition unterstützen. Wir werden der F.D.P. verläßliche Partner bleiben.
({1})
Alle anderen Spekulationen oder Hoffnungen sind abwegig und eitel. - Lassen Sie alle Hoffnung fahren, Herr Kollege Fischer.
({2})
Wir werden nichtsdestotrotz, was immer Sie glauben mögen, mit anderen Fraktionen fairen Umgang pflegen, und wir wollen niemanden ausgrenzen.
({3})
Voraussetzung ist, daß die Regeln, die für alle Abgeordneten und Fraktionen in diesem Hause gelten, von allen akzeptiert werden. Das hat sich bei den GRÜNEN gegenüber 1983 geändert.
({4})
- 1983 sind sie mit der Erklärung in den alten Plenarsaal eingezogen, sie würden sich an all die bestehenden Regeln nicht halten. Wir sind auch damit zu Rande gekommen. Diesmal haben sie es anders erklärt. Damit gelten die Regeln auch für sie, positiv und negativ.
({5})
Meine Damen und Herren, ein Zweites kommt hinzu. Es ist auch Voraussetzung, daß man unmißverständlich und unzweifelhaft für die Prinzipien der pluralistischen Demokratie und des freiheitlichen Rechtsstaates eintritt. Weil das bei der PDS zumindest zweifelhaft bleibt, muß die SPD, Herr Kollege Scharping, ihr Verhältnis zu der kommunistischen PDS klären.
({6})
- Wir machen überhaupt keinen Wahlkampf. Das hat mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun,
({7})
sondern mit der Stabilität unserer freiheitlichen Demokratie.
({8})
Die Debatte über die Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und kommunistischer PDS wird weitergehen, solange die Zusammenarbeit der Sozialdemokraten im Landtag von Sachsen-Anhalt mit der kommunistischen PDS weitergeht.
({9})
Da können Sie miteinander schreien, soviel Sie wollen, das hilft gar nichts!
({10})
Ich lese Ihnen eine Agenturmeldung vom heutigen Tag vor, in der es heißt, daß der frühere Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, Jürgen Gramke, SPD - den Sie zum Wirtschaftsminister gemacht haben, nicht wir! -, seinen Rücktritt mit den Einflußmöglichkeiten der SED-Nachfolgepartei PDS auf die Politik in Magdeburg begründet hat.
({11})
Herr Scharping, ich will Sie ja gerne beim Wort nehmen, und Sie sagen ja bei jeder Gelegenheit, Sie wollten keine Zusammenarbeit mit der PDS. Aber Scharping beim Wort nehmen heißt für die Sozialdemokraten, die Zusammenarbeit mit der PDS in Sachsen-Anhalt zu beenden und diese Minderheitsregierung, die ohne die Zustimmung der PDS und die Zusammenarbeit mit ihr nicht im Amt wäre und nicht im Amt bliebe, so rasch wie möglich zu beenden.
({12})
Wenn Sie das nicht möglichst schnell tun, gerät die SPD auf die schiefe Ebene,
({13})
wie man bei Herrn Stolpe, wie man in Mecklenburg-Vorpommern und auch an Ihren Reaktionen hier in dieser Debatte schon wieder feststellen kann.
({14})
-Ja, ja. Schreien Sie ruhig weiter! Getroffene Hunde bellen. Deswegen will ich es noch einmal sagen.
({15})
Integrationsbemühungen um die Wähler, auch um solche Wähler, die gestern oder vorgestern radikale oder extreme Parteien gewählt haben, sind richtig, sind von uns allen zu leisten und werden von uns, Herr Scharping, auch nicht denunziert. Aber man kämpft um die Wähler nicht, indem man mit den extremen Parteien gemeinsame Sache macht. Das ist genau die falsche Art von Integrationsbemühungen.
({16})
Die Wähler in Deutschland, meine Damen und Herren, haben auch entschieden, daß wir im Bundestag und im Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten haben. Das ist so, und das nimmt alle Beteiligten in eine besondere Verantwortung.
Der neue Präsident des Bundesrates, Ministerpräsident Rau,
({17})
hat bei seinem Amtsantritt dieser Tage gesagt, der Bundesrat sei weder Vollzugsinstrument der Bundesregierung - das ist der Bundestag auch nicht - noch Instrument der Opposition im Bundestag. Das ist in beiden Teilen richtig. Aber das Wort vom Machtzentrum der SPD, Herr Ministerpräsident Schröder, ist damit nicht zu vereinbaren. Deswegen sollten Sie es möglichst schnell zurücknehmen!
({18})
Nach Art. 50 unseres Grundgesetzes wirken die Länder durch den Bundesrat bei der Gesetzgebung des Bundes mit. Damit ist nicht ein parteipolitischer Mißbrauch der Mehrheit im Bundesrat gemeint,
({19})
sondern ausdrücklich ausgeschlossen. Auch das muß in der ersten Debatte dieser Legislaturperiode gesagt werden.
({20})
Das Zusammenwirken von Regierung, Bundestag und Bundesrat ist im Grundgesetz geregelt. Die verfassungsmäßigen Institutionen und Verfahren werden übrigens bei unterschiedlichen Mehrheiten nicht durch runde Tische oder Allparteienkoalitionen außer Kraft gesetzt, sondern sie werden sich auch bei unterschiedlichen Mehrheiten zu bewähren haben. Sie werden sich auch bewähren, und sie lassen zu jedem Zeitpunkt genügend Raum für jedes vernünftige Gespräch, zu dem wir immer bereit sein werden.
Meine Damen und Herren, wenn wir im Rahmen unserer gemeinsamen Verantwortung unsere unterschiedlichen Aufgaben so wahrnehmen, dann werden wir unsere Demokratie und unseren freiheitlichen Rechtsstaat stärken und bewahren, den wir ja auch nach außen und innen schützen müssen. Der Erhalt des inneren Friedens bleibt zentrale Herausforderung.
Weil meine Sorge heute nicht in erster Linie ist, daß unser Staat zu allmächtig werden könnte und deshalb die Freiheit gefährdet, sondern weil ich eher die Sorge habe, daß unser Staat zu schwach werden könnte, um die Freiheit noch zu schützen, deswegen müssen wir die Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Korruption und Extremismus entschieden fortsetzen und verstärken.
({21})
Das wird eine gemeinsame, eine gesamtstaatliche Aufgabe von Bund und Ländern und im übrigen auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein.
Ich denke auch, daß wir den Kampf gegen die Geißel der Drogenabhängigkeit mit Entschiedenheit intensivieren müssen:
({22})
durch Vorbeugung, Warnung und Werbung für ein Leben ohne Drogen, durch Therapie für die abhängig Gewordenen und durch Bekämpfung der international operierenden Drogenkriminalität.
Ich füge hinzu: Wenn wir die innere Stabilität unserer freiheitlichen Demokratie ernst nehmen, dann müssen wir angesichts zunehmender Wanderungsbewegungen die Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung möglichst auf europäischer Ebene weiter voranbringen, damit der innere Frieden in unserem Lande erhalten bleibt.
({23})
Das heißt zugleich, daß wir die Integration der auf Dauer hier lebenden ausländischen Mitbürger verbessern müssen.
Herr Kollege Scharping, ich habe überhaupt nicht verstanden, was Sie dazu gesagt haben.
({24})
Es ist völlig unstreitig zwischen uns, daß beispielsweise die von Ihnen genannte Mitbürgerin mit dem bayerischen Akzent und der türkischen Staatsangehörigkeit so, wie Sie das beschrieben haben, einen Rechtsanspruch auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit hat.
({25})
Herr Kollege Scharping, wenn wir die Integration der ausländischen Mitbürger verbessern wollen, dann fängt das damit an, daß wir den Menschen in unserem Lande die Wahrheit sagen und nicht Verunsicherung schüren. Das gilt auch für Reden im Deutschen Bundestag.
({26})
Die Wahrheit ist, daß die hier seit acht und mehr Jahren rechtmäßig lebenden ausländischen Mitbürger einen Rechtsanspruch auf Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit haben. Das muß man sagen. Darüber darf man nicht hinwegtäuschen, weil man sonst Integration nicht fördert, sondern behindert.
({27})
Vielleicht - aber das haben Sie nicht gesagt, sondern sorgfältig verschwiegen; warum wohl? - sind wir in der Frage der doppelten Staatsangehörigkeit unterschiedlicher Meinung.
({28})
Aber in dem Fall sagen Sie, was Sie meinen, und reden Sie nicht davon, daß diese junge Frau mit dem bayerischen Akzent die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erwerben kann. Das ist doch gelogen. Es ist doch gelogen!
({29})
- Aber natürlich hat er das gesagt. Am besten wäre es, Sie ließen schnell das stenographische Protokoll korrigieren, damit wir das nicht nachlesen können.
({30})
Er hat es gesagt. Jeder hat ihn so verstanden, daß diese Dame mit dem bayerischen Akzent nicht Deutsche werden kann und daß sie darunter leidet. Nein, sie kann es, und zwar durch einfache Erklärung.
({31})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin wirklich dafür, daß wir gerade bei einem so schwierigen Thema sorgfältig argumentieren.
({32})
Wir wollen festhalten: Sie kann die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Sie hat einen Rechtsanspruch.
Jetzt lassen Sie uns über die doppelte Staatsangehörigkeit reden.
({33})
- Bitte hören Sie einen Moment zu, Herr Opel. Wir werden das Problem genau beschreiben. Dabei werde ich vielleicht auch an Sie appellieren, daß Sie den Versuch, zwei konkurrierende Gesichtspunkte miteinander zu verbinden, die beide notwendig und richtig sind, wenn wir die Integration unserer ausländischen Mitbürger verbessern wollen, nicht einfach als Lächerlichkeit bezeichnen, sondern vielleicht erst einmal sorgfältig darüber nachdenken.
Worum geht es? Ich bin davon überzeugt, daß die generelle Gewährung doppelter Staatsangehörigkeit - -({34})
- Entschuldigung, dann müssen Sie aber wirklich sorgfältiger argumentieren, als es Herr Scharping getan hat,
({35})
- Frau Matthäus-Maier kann das.
Wir sagen: Wir wollen nicht regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit.
({36})
Wir sind davon überzeugt, daß die Gewährung der doppelten Staatsangehörigkeit, d. h. die regelmäßige Belassung der bisherigen Staatsangehörigkeit bei der Einbürgerung ausländischer Mitbürger in Deutschland - das führt nämlich zur regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit - im Ergebnis die Integration der ausländischen Mitbürger nicht fördert, sondern beschädigt.
({37})
Die Reaktion der Menschen wird nämlich sein, die Betreffenden seien privilegiert. Wir wollen aber nicht benachteiligen, und wir wollen nicht privilegieren. Wir wollen vielmehr gleiche Rechte und Pflichten. Deswegen darf nicht regelmäßig die doppelte Staatsangehörigkeit der Preis der Einbürgerung sein. Sie müssen sich entscheiden, wenn sie sich dauerhaft integrieren wollen. Auch das ist nicht zuviel verlangt.
Viele sagen und schreiben, das Bekenntnis zu den Grundsätzen unserer Verfassung sei das wichtige Element der Staatsbürgerschaft. Darüber kann man ja reden. Aber dann fängt das Bekenntnis doch mit der Entscheidung an, daß man eben die deutsche Staatsangehörigkeit haben möchte und nicht beliebig viele Staatsangehörigkeiten. Deswegen wollen wir die regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit nicht.
Wir wollen aber nicht schon die Kinder vor diese Entscheidung stellen. Man kann darüber streiten, ob es der Weisheit allerletzter Schluß ist, aber ich glaube, wir haben versucht, beide Prinzipien gut miteinander zu verbinden, indem wir erklären: Wir wollen nicht schon die Kinder vor diese Entscheidung stellen, sondern sie sollen ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten, die sie übrigens nach dem Abstammungsprinzip, also dem Jus sanguinis, von ihren Eltern erhalten, und sie sollen eine vorläufige deutsche Staatszugehörigkeit erhalten. Mit dem Eintritt der Volljährigkeit sollen sie sich selbst entscheiden, ob sie auf Dauer die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten wollen.
Das bezeichnen Sie hier als Lächerlichkeit. Ich finde, Herr Scharping, das wird dem Anliegen der Sache und dem Lösungsvorschlag nicht gerecht. Deswegen sollten wir ernsthafter darüber reden.
({38})
- Frau Vollmer, ich sage ja: Wir können doch im einzelnen darüber reden.
Der Nachteil einer uneingeschränkten doppelten Staatsangehörigkeit bis zum 18. Lebensjahr besteht in folgendem. Sie wollen sie ja wahrscheinlich generell, auf Dauer. Das wollen die Sozialdemokraten nicht, wir auch nicht. - An der Reaktion von Herrn Fischer sieht man: Es wechselt dauernd.
({39})
-- Sie sollen ja auch leben. So als Opposition, wie Sie es jetzt sind, ist es recht; mehr wäre schlecht.
({40})
Wenn man die doppelte Staatsangehörigkeit auf Dauer nicht will, dann ist die Frage, ob man sie bis zum 18. Lebensjahr einführen kann oder ob man nicht besser etwas Kindgemäßes macht und damit die Entscheidung bis zum Eintritt der Volljährigkeit offenläßt. Darüber wird man jedenfalls ernsthafter reden können, als Sie, Herr Scharping, diesen Vorschlag in Ihrer Rede kommentiert haben.
({41})
Ich will eine Bemerkung dazu machen, daß unsere Freiheitsordnung auch in Zukunft nach außen geschützt werden muß. Herr Kollege Scharping, wo wir nicht streiten müssen, brauchen wir nicht zu streiten. Deswegen ist es gut, daß Sie gesagt haben, Sie unterstützen das, was der Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung zur Außen- und
Europapolitik gesagt hat. Ich will das unterstreichen; wir unterstützen das auch.
Lassen Sie mich lediglich die Bemerkung hinzufügen, daß jemand, der wie ich seit Jahren sagt, daß das elende Gemetzel auf dem Balkan die Legitimität europäischer Einigung und atlantischer Solidarität, ja der ganzen zivilisierten Völkergemeinschaft gefährden kann, von Woche zu Woche immer grausamer bestätigt wird. Manchmal denke ich bei der Betrachtung der politischen Nachrichten des Tages, ob wir den Film nicht schon einmal gesehen haben. Wollen wir nicht wirklich ernsthafter und entschiedener der Wiederholung, der Wiederaufführung dieses Films, solange noch Zeit dazu ist, entgegentreten?
({42})
Ich finde, daß durchgesetzt werden muß, daß politische oder sonstige Ziele wenigstens in Europa nicht mit Waffengewalt verfolgt werden können. Weil dies kein Land für sich allein sicherstellen kann, muß der Rückfall in nationalstaatliche Auseinandersetzungen unter allen Umständen vermieden und verhindert werden. Deswegen gibt es keine verantwortbare Alternative zur unumkehrbaren europäischen Einheit mit einer wirkungsvolleren und gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und zur atlantischen Solidarität.
Weil wir, meine Damen und Herren, im übrigen nicht wissen, wieviel Zeit uns die Geschichte läßt, brauchen wir die Erweiterung der Europäischen Union und gleichzeitig deren Vertiefung. Deswegen können wir nicht sagen, jetzt wollen wir sie erst einmal fünf Jahre vertiefen, und dann schauen wir, ob wir vielleicht auch unseren Nachbarn in Osteuropa Halt und Stabilität geben.
({43})
Weil dies so ist, werden sich wohl die Integrationsfähigen und -willigen besonders anstrengen müssen. Sie sollen sich auch anstrengen, denn wir brauchen das Vorangehen der Franzosen und der Deutschen, hoffentlich auch der Briten, der Beneluxländer, der Italiener, der Spanier, wer auch immer mag. Es soll ja niemand ausgegrenzt werden. Es sollen ja alle mitmachen, es sind alle gewollt. Wir wollen keinen ausgrenzen. Wir wollen, daß möglichst viele die Europäische Union voranbringen. Wir brauchen sie, weil sonst der Friede in Europa und damit auch der Friede für uns Deutsche nicht sicher bleibt.
({44})
Wir brauchen die Fortschritte der europäischen Einigung auch, um unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Ohne den einheitlichen Binnenmarkt und ohne den Stabilitätsdruck des Maastricht-Prozesses sind unsere Chancen in dem härter gewordenen weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb sehr viel schlechter. Dieser Weg wird auch bei uns selbst große Anstrengungen erfordern. Jedenfalls wird der Erhalt unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der dazu notwendige Umbau unseres Sozialstaats mehr Veränderungen erfordern und erzwingen, als wir das bis 1989 in unserem so zu Besitzstandswahrung neigenden Land noch gewohnt waren. Aber es macht eben keinen Sinn, jeden Besitzstand zu tabuisieren, weil wir so nur Zukunft verweigern.
Für uns, für CDU/CSU und die Koalition der Mitte, wird bei dem, was zu geschehen hat, der weitere Aufbau der neuen Bundesländer auch in den kommenden Jahren Vorrang haben. Nun ist es aber nicht so, daß in den Jahren seit 1990 nicht viel erreicht worden wäre. Angesichts der Tatsache, daß der Kollege Scharping so getan hat, als sei in den letzten zwölf Jahren in diesem Land nur Elend gewachsen,
({45})
muß man leider doch ein wenig daran erinnern, was seit 1982, seit Helmut Kohl Bundeskanzler ist und mit der Koalition der Mitte dieses Land regiert, in diesem Land erreicht worden ist. Ich sage das nur, weil Herr Scharping wirklich so getan hat, als seien das zwölf Jahre wachsenden Elends gewesen. Man fragt sich manchmal, wo Sie gelebt haben.
({46})
- Er hat doch so geredet. Herr Thierse, es tut mir leid: Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender davon redet, daß in dieser Regierungserklärung lediglich die Fortsetzung dieser zwölf Jahre angekündigt sei
({47})
und daß das das Schlimmste von allem sei, dann müssen Sie mir schon erlauben, darauf hinzuweisen, daß in diesen zwölf Jahren nicht nur die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit erreicht worden ist,
({48})
sondern auch die europäische Einigung wesentlich vorangebracht worden ist. In Westdeutschland sind im Saldo drei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden,
({49})
bei Preisstabilität wurde eine ständig wachsende Wirtschaft erreicht,
({50})
die Umweltverhältnisse sind dramatisch verbessert worden.
Es ist übrigens nicht wahr, Herr Scharping, daß in unserer Koalitionsvereinbarung, auf die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung verwiesen hat, die Umweltproblematik, mit der CO2-Reduzierung nicht vorkommt.
({51})
- Doch. Im Gegensatz zu Ihren Kollegen jetzt waren
wir bei Ihrer Rede ziemlich zahlreich anwesend. Wir
haben zugehört, als Sie gesagt haben, das sei mit keinem Wort erwähnt worden.
({52})
- Herr Fischer, da Sie ja nach mir reden, können Sie dann die Koalitionsvereinbarung vorlesen.
({53})
Das ist vielleicht das Beste, was Sie machen können.
({54})
In diesen zwölf Jahren sind - in den 80er Jahren - gegen den Widerstand von Rot-Grün schadstoffarme Autos eingeführt worden.
({55})
- Aber natürlich.
({56})
- Es hilft doch alles nichts; wir haben alle die Auseinandersetzung in Erinnerung. Ich will nicht über die 80er Jahre diskutieren; ich weise nur angesichts der Rede von Herrn Scharping, der so getan hat, als seien das die schlimmsten zwölf Jahre der deutschen Geschichte gewesen,
({57})
darauf hin: Es waren gar keine schlechten Jahre. Wenn wir in den nächsten zwölf Jahren noch einmal so gute Jahre bekommen, dann ist das recht für unser Vaterland.
({58})
Das ist doch das Problem, und darüber muß man doch sprechen können.
({59})
-Jetzt lassen Sie doch mich einmal wieder eine Weile reden, ohne ständige Zwischenrufe.
({60})
Das ist doch wirklich nicht fair.
({61})
- Es ist wirklich nicht fair, daß man durch ständiges Dazwischenreden nicht die Chance hat, zwei Gedanken an einem Stück auszuführen.
({62})
- Jetzt fangen Sie schon wieder an. Dann warte ich noch ein bißchen.
({63})
Herr Thierse, es hilft alles nichts. Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender in seiner ersten Rede in dieser Funktion diese zwölf Jahre, in denen Helmut Kohl Bundeskanzler war, so negativ beschreibt, dann werden Sie ertragen, daß der Vorsitzende der größten Fraktion im Deutschen Bundestag in wenigen Sätzen sagt, was in diesen zwölf Jahren erreicht worden ist.
({64})
Ich will darüber sprechen - daran werden Sie mich nicht hindern -, daß wir trotz dieser großen Erfolge vor ungeheuer großen Aufgaben stehen, weil sich unser Land, Europa und die Welt dramatisch verändert haben. Das ist kein Vorwurf an die Regierung; das ist auch kein Widerspruch. Daß wir trotz aller Erfolge in diesen zwölf Jahren vor großem Veränderungsbedarf stehen und große Aufgaben vor uns haben, ist kein Widerspruch, sondern das Ergebnis der Tatsache, daß sich der Gang der Geschichte beschleunigt hat, und zwar außenpolitisch wie wirtschafts- und sozialpolitisch.
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geißler?
Aber bitte, gern.
Bitte.
Darf ich den Fraktionsvorsitzenden zur Erweiterung und Verbesserung der Beurteilung der vergangenen Jahre darauf hinweisen, daß - ({0}) - Darf ich darauf hinweisen?
({1})
Darf ich darauf hinweisen, daß es ein Buch gibt, in dem folgende Zitate enthalten sind:
Die gesamte innen- wie außenpolitische Lage spricht prima facie für die optimistische Erwartungshaltung über die Zukunft des vereinten Deutschland, und ohne jeden Zweifel sind die historischen Bedingungen für eine friedliche, demokratische und damit erfolgreiche Entwicklung Deutschlands in Europa so günstig wie nie zuvor in der Geschichte dieses Landes.
({2})
... Vielleicht wird die Zeit der „Bonner Republik", aus dem Abstand einiger Jahre betrachtet,
dereinst als die glücklichste ({3})-Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert bezeichnet werden.
Darf ich darauf hinweisen, daß diese Zitate von Herrn Joschka Fischer stammen?
({4})
Herr Präsident, die Antwort auf die Frage meines Freundes Heiner Geißler lautet ganz korrekt: Ja. Ja, du darfst darauf hinweisen.
({0})
Im übrigen habe ich auf diese Weise festgestellt, daß die Vorstellung dieses Buches durch dich doch einen guten Sinn gehabt hat.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der entscheidende Punkt ist, daß wir angesichts der vielen Veränderungen trotz aller Erfolge einen gewaltigen Veränderungsbedarf haben. Es ist ja wahr, daß der Standort Deutschland durch zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten, zu viele Steuern und Abgaben und zu langwierige Genehmigungsverfahren, die in ihrem Ausgang zu schwer kalkulierbar und auch deswegen zu teuer sind, belastet ist und daß wir aus diesem Grund einen schlankeren Staat brauchen und daß wir uns auf technischen und wissenschaftlichen Fortschritt konzentrieren müssen. Dazu ist übrigens die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz von technisch-wissenschaftlichem Fortschritt von entscheidender Bedeutung. Deswegen hoffe ich, daß die Akademie der Wissenschaften einen Beitrag dazu leisten kann, daß unser Land dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt insgesamt verpflichtet bleibt.
Natürlich brauchen wir entscheidend eine Rückführung der zu hoch gewordenen Staatsquote. Aber auch dabei muß man daran erinnern: Die Staatsquote ist heute so hoch, wie sie 1982, beim Amtsantritt der Regierung Kohl, gewesen war, nämlich 52 %. Das ist auf die Dauer zu hoch. Wir haben in den zwölf Jahren, Herr Kollege Scharping, unter der Verantwortung dieser Bundesregierung von 1982 bis 1989 die Staatsquote von 52 % auf unter 46 % zurückgeführt. Sie ist uns durch die besonderen Aufgaben und Belastungen im Gefolge der deutschen Einheit seit 1990 wieder auf 52 % hochgesprungen. Sie muß mittelfristig wieder zurückgeführt werden. Aber eine Regierung, die es in den 80er Jahren schon einmal geschafft hat, bietet die besten Voraussetzungen dafür, daß es auch in den 90er Jahren wieder gelingen wird.
({2})
Ich weise im übrigen darauf hin, daß das neue Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geradezu identisch ist mit den entsprechenden Ankündigungen von Regierung und Koalition, was ja weder gegen den Sachverständigenrat noch gegen Regierung und Koalition spricht.
Wir werden das nur erreichen, wenn wir in allen Bereichen - im Bundeshaushalt wie im übrigen auch bei Ländern und Gemeinden - die Ausgabenzuwächse streng begrenzen. So haben wir es in den 80er Jahren auch erreicht. Ich bin gespannt auf die Haushaltsberatungen im einzelnen, wo wir in den ganzen 12 Jahren niemals Sparvorschläge der SPD erlebt haben, sondern immer nur Kritik an zu hohen Steuern und Kritik an zu hoher Verschuldung, Kritik aller Sparvorschläge, gelegentlich eine Blockade im Bundesrat, und anschließend ist das Mikrofon ausgefallen, wenn es an eigene Sparvorschläge gegangen ist.
({3}) Wir werden unseren Weg fortsetzen.
({4})
- Ja, das mag sein. Herr Schröder hat gesagt, bei ihm würde die Opposition auch ähnliche Kritik üben. Aber so brutal hat noch selten ein Regierungschef Wahlversprechen innerhalb weniger Monate gebrochen, wie Sie es in Niedersachsen gemacht haben.
({5})
Wir haben übrigens seit 1992 Jahr für Jahr im Bundeshaushalt über alle Stellen der Bundesverwaltung jährlich 1 % der Stellen gekürzt, und wir werden das in den nächsten Jahren fortsetzen. Wir haben in Westdeutschland, in den alten Bundesländern, Subventionen in größerem Maße gekürzt, als dies die allermeisten Sachverständigen 1990 überhaupt für möglich gehalten haben. Wir haben seit 1990 insgesamt Subventionen in einer Größenordnung von 70 Milliarden DM jährlich gekürzt. Der Weg muß fortgesetzt werden. Aber das zeigt, wir sind durchaus erfolgreich auf dem richtigen Weg.
Ich will übrigens, Herr Kollege Scharping, Ihre Bemerkung zur Gewerbesteuer aufgreifen. Zunächst einmal muß man richtigstellen: Wenn Sie sagen: die Gewerbesteuer insgesamt, dann redet man von einem Volumen von 40 Milliarden DM. Das ist richtig, aber nicht ganz richtig, denn Sie müssen dazusagen, daß die Gewerbesteuerzahlungen bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer anrechenbar sind. Das heißt: Das Nettoaufkommen beträgt nicht 40 Milliarden DM, sondern irgend etwas in der Größenordnung zwischen 25 und 30 Milliarden DM.
({6})
Wir reden ja von einer gesamtstaatlichen Veranstaltung.
Zweite Bemerkung. Ich glaube nicht, daß man ganz schnell eine Abschaffung der Gewerbesteuer erreichen wird; jedenfalls brauchen wir dazu ein Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen. Genauso haben wir es in unsere Koalitionsvereinbarungen hineingeschrieben. Was Sie dagegen kritisiert
haben, ist, etwas ganz anderes. Darüber haben wir auch in den Koalitionsverhandlungen gesprochen. Ob, Herr Finanzminister, Ihre Pressestelle das weiß, weiß ich nicht, aber in den Koalitionsverhandlungen haben wir darüber ausführlich gesprochen.
({7})
- Die brauchen nicht über alles informiert zu sein.
({8})
Das ist wahr. Wenn man die Gewerbesteuer insgesamt abschafft - und darüber sind sich alle Kommunalpolitiker und die gewerbesteuerzahlende Wirtschaft einig ({9})
- aber natürlich -, braucht man eine originäre Finanzquelle der Gemeinden. Die kann man nur finden, wenn man die Gemeinden entweder an der Mehrwertsteuer oder durch ein eigenes Hebesatzrecht an der Lohn-, Einkommen- und von mir aus auch an der Körperschaftsteuer beteiligt. Darüber muß man vernünftig miteinander reden. Wenn man dies tut, verbreitert man übrigens die Bemessungsgrundlage. Ich weiß gar nicht, warum Sie das hier so streng abgelehnt haben. Ich kann das aus der Logik Ihrer Einlassung gar nicht erkennen.
Wir beseitigen den gewaltigen Nachteil des Standorts Bundesrepublik Deutschland,
({10})
daß wir mit Ausnahme von Luxemburg als einziges Land unternehmerische Erträge zweimal besteuern, nämlich mit Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer. Wir vereinfachen das Steuerrecht gewaltig. Wir stärken die kommunale Selbstverwaltung, indem die Gemeinde selber durch ein Hebesatzrecht über ihre Einnahmen entscheiden kann. Deswegen lade ich Sie herzlich ein: Denken sie erst einmal nach, bevor Sie nein sagen! Lassen Sie uns vernünftig miteinander darüber reden!
({11})
Ich will eine Bemerkung dazu machen, Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß wir bei allem wirtschaftlichem Wachstum nicht allein im industriellen Bereich hinreichend Arbeitsplätze finden werden. Deswegen ist es so wichtig, daß wir im Dienstleistungsbereich zusätzliche Beschäftigungspotentiale erschließen. Das ist keine Alternative zu einer auf Wachstum gerichteten Politik, aber es ist die notwendige Ergänzung; denn bei allem Wachstum in der Industrie werden wir nicht so viel Arbeitsplätze haben, wie wir brauchen, um dem Ziel Arbeit für alle näherzukommen.
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte, gern.
Herr Abgeordneter Dreßen.
Herr Schäuble, würden Sie mir zustimmen, daß bei der Abschaffung der Gewerbesteuer weder der VW noch der Daimler oder ein Anzug um 50 Pfennig billiger würden, wenn Sie als Ersatz vorschlagen, einen Hebesatz bei der Lohn- und Einkommensteuer einzuführen, daß dies nur schlichtweg nur wieder eine Umverteilung von oben nach unten wäre? Deswegen würde mich interessieren, wie Sie die Preisentwicklung sehen, wenn Sie die Gewerbesteuer abschaffen: Was wird da billiger?
Herr Kollege Dreßen, wenn Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden so aufmerksam zugehört haben wie ich, dann werden Sie gehört haben, daß er gesagt hat, es sei seine Meinung, daß man unternehmerische Erträge dort, wo Wachstum entsteht, steuerlich entlasten sollte.
({0})
- Ja, ich sage es doch gerade. Meinen Vorschlag habe ich doch nun lange erläutert.
In der Logik der Überlegung von Herrn Scharping, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, um unternehmerische Erträge entlasten zu können, liegt nun genau der Vorschlag, die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer zu ersetzen. Das wird im Ergebnis wachstumsfördernd sein.
({1})
Sie müßten sich vielleicht einmal sagen lassen, daß einer der schlimmsten Nachteile des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Deutschland die Tatsache ist, daß wir mit Gewerbekapital- und Gewerbeertragsteuer das für Wachstum und Arbeitsplätze eingesetzte Kapital und die daraus entstehenden Erträge besteuern. Das genau ist der Fehler, den wir korrigieren wollen.
({2})
Wir werden - ich sage das noch einmal - im Dienstleistungsbereich, im Bereich von Handel, Handwerk und Dienstleistungen, zusätzliche Arbeitsplätze gewinnen müssen.
Es wird übrigens nicht auf dem Weg gehen, vorhandene Arbeit anders aufzuteilen, Herr Ministerpräsident Schröder. Wenn Sie schon nicht auf Herrn Schiller hören, der das als Arbeitsamtssozialismus bezeichnet hat, dann sollten Sie vielleicht die Beschäftigungsstudie der OECD vom Juli dieses Jahres lesen, wo ausdrücklich ausgeführt ist, daß die erzwungene Aufteilung von Arbeitsplätzen noch in keinem Fall Arbeitslosigkeit signifikant verringert hat.
({3})
Wir brauchen mehr Flexibilität. Wir brauchen mehr Teilzeitarbeit. Wir müssen nicht nur Frau Fuchs dafür gewinnen, sondern die ganze SPD, daß wir reguläre Arbeitsverhältnisse im privaten Bereich steuerlich absetzbar machen, um so mehr Beschäftigung zu bekommen.
({4})
Wenn wir mehr Teilzeitarbeit wollen, müssen wir in der Tat auch das Umfeld, Kindergartenöffnungszeiten, Geschäftszeiten, Verkehrsdienstleistungen, dar66
auf ausrichten, daß auch Frauenerwerbsarbeit und Familienarbeit besser miteinander vereinbar ist.
Im übrigen, Herr Kollege Scharping, weil Sie danach gefragt haben: Wir wollen den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz nicht abschaffen. Wir hatten ihn ausdrücklich in unserem Wahlprogramm; wir haben ihn auch in unserer Koalitionsvereinbarung. Es bleibt bei einem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz.
Ich füge hinzu: Wenn die Kapazitäten in manchen Bundesländern nicht ausreichen, dann bin ich dafür, daß man übergangsweise die Richtlinien über die Ausstattung an Sach- und Personalmitteln für Kindergärten ein Stückweit lockert, damit jedes Kind ab 1996 tatsächlich in jedem Bundesland einen Kindergartenplatz bekommt.
({5})
Wir müssen die Schnittstellen zwischen Arbeitseinkommen, Lohnersatzleistungen und Sozialleistungen überprüfen.
Herr Kollege Scharping, weil Sie die Diskussionsgrundlage für die Konsultationen über ein gemeinsames Wort der Kirchen erwähnt haben, will ich erstens ein Wort des Respektes für diesen Text sagen. Ich will dazu sagen, daß meine Fraktion mit großer Intensität der Einladung beider Kirchen folgen wird und sich an diesem Diskussionsprozeß beteiligen wird.
({6})
- Frau Kollegin Fuchs, es geht jetzt um eine Einladung der Kirchen. Sie können ganz sicher sein, daß das Verhältnis des Bundeskanzlers zu beiden Kirchen und das Verhältnis beider Kirchen zum Bundeskanzler sehr viel besser sind, als es bei vielen Ihrer sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Fall ist. Da können Sie ganz beruhigt sein.
({7})
Aber das ist nicht der Punkt.
Ich möchte ein Wort des Dankes für diesen Text und des Respekts an beide Kirchen sagen. Wir werden uns an diesem Diskussionsprozeß intensiv beteiligen, weil wir für jede Anstrengung dankbar sind, in diesem Lande einen Konsens darüber herbeizuführen, was notwendig ist, um die Zukunft zu gewinnen, soziale Probleme so gut wie möglich zu bewältigen, Wärme in diesem Land zu erhalten und damit alle Menschen - stark oder schwach, behindert oder nichtbehindert - eine möglichst gute Zukunftschance haben.
Aber das ist kein Gegensatz zu unserer Politik. Denn ich finde z. B. in dieser Diskussionsgrundlage auf der Seite 50 in der Ziffer 123 den Satz:
Soziale Gerechtigkeit verlangt, daß niemand, auch keine Gruppe, aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Das heißt, daß diejenigen, die nicht in der Lage sind, eine eigene ausreichende Arbeitsleistung zur Wirtschaft beizusteuern, von der Gesellschaft so viel erhalten, daß sie menschenwürdig leben können. Dabei ist darauf zu achten, daß dadurch nicht eine falsche Bequemlichkeit Platz greift, die das notwendige Arbeitsethos in der Gesellschaft aushöhlt.
Auch dieser Satz ist richtig. Alle Sätze sind richtig.
({8})
Deshalb laden wir auch Sie ein, miteinander über die Schnittstellen zwischen Arbeitseinkommen, Lohnersatzleistungen und Transferleistungen unvoreingenommener zu diskutieren und diese Schnittstellen neu so zu justieren, daß auch geringer bezahlte Arbeit in unserem Lande nicht in Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft abgedrängt wird. Denn es ist besser, zeitlich befristete oder Teilzeit- oder geringer bezahlte Arbeit zu haben, als dauerhaft arbeitslos zu sein. Das ist die schlechteste aller Alternativen.
({9})
Wenn wir für weniger Konsum und für mehr Investitionen in die Zukunft sind, dann heißt das auch eine neue Anstrengung für mehr Vermögensbildung. Wir wollen Kapitalbeteiligungen fördern, auch durch tarifvertragliche Öffnungsklauseln für Betriebsvereinbarungen.
Vor allen Dingen ist mir wichtig, daß wir in den neuen Bundesländern staatliche Maßnahmen und Leistungen der Investitionsförderung endlich mit der Mitarbeiterbeteiligung verbinden, damit wir nicht durch die hohen Transferleistungen in einigen Jahren eine Eigentums- und Vermögensverteilung in den neuen Ländern bekommen, die unverantwortlich ist.
({10})
Deswegen ist dies ein notwendiger Schritt, den wir in diesen Jahren gehen wollen und gehen werden.
Das Subsidiaritätsprinzip stärken - was ja heißt, mit der Idee eines schlanken Staates ernst zu machen - und freiwillige Solidarität zu fördern, die besser als eine staatlich verordnete ist - auch das steht übrigens in dem Diskussionspapier der beiden Kirchen -, das heißt vor allen Dingen auch Familien stärken. Das heißt ebenfalls - das steht auf Seite 29 des Papiers; Frau Matthäus-Maier, hören Sie gut zu-, daß das Steuersystem familiengerecht auszugestalten ist. Das heißt: Ehepaare mit Kindern und Alleinstehende mit Kindern müssen steuerlich spürbar bessergestellt werden als kinderlose Steuerzahler. Auch dieses werden wir in den kommenden vier Jahren weiter verbessern. - Sie sehen, wir haben eine breite Palette von Möglichkeiten.
({11})
- Nein, Sie wollen ein einheitliches Kindergeld, und Sie wollen Kinder steuerlich nicht mehr berücksichtigen.
({12})
Sie wollen, daß bei gleichem Bruttoeinkommen der
Steuerpflichtige mit vier Kindern genausoviel Steuern
zahlt wie der Steuerpflichtige ohne Kinder. Das wolDr. Wolfgang Schäuble
len wir nicht. Darüber sind wir unterschiedlicher Meinung.
({13})
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Frau Matthäus-Maier.
Herr Schäuble, darf ich Sie fragen, ob Ihnen wirklich entgangen ist, daß wir in all den Jahren, in denen wir über das Kindergeld gesprochen haben, und jetzt im Wahlkampf, als wir gefordert haben, daß es vom ersten Kind an 250 DM für alle geben soll, immer hinzugefügt haben, daß dieses Kindergeld sofort von der Lohn- und Einkommensteuer abgezogen werden muß, daß z. B. dann
- hier im Bundestag habe ich x-mal dieses Beispiel genannt -, wenn bei Ford in Köln zwei Arbeitnehmer nebeneinander am Band stehen und der eine drei und der andere keine Kinder hat, derjenige mit den drei Kindern dreimal 250 DM gleich 750 DM weniger Lohnsteuer zahlen soll? Ist Ihnen das entgangen, oder ist es ein Zeichen von Unfairneß, daß Sie das heute wieder einmal überhört haben?
({0})
Frau Matthäus-Maier, ich habe Ihre Wahlplakate gesehen, habe sie mir angeguckt - manche waren so komisch, daß man zweimal hinschauen mußte -, und dabei habe ich gelesen: Einheitliches Kindergeld von 250 DM. Jetzt ergänzen Sie das.
({0})
- Ich glaube, die Plakate habe ich jetzt richtig wiedergegeben.
({1})
- Ja, gut. - Jetzt sagen Sie, das sei ja dasselbe, weil Sie das mit der Lohnsteuer verrechnen wollen.
({2})
- Ich habe es schon verstanden. Ich will ja antworten. - Ich glaube nicht, daß die Verrechnung von Kindergeld mit der Lohnsteuer dem Anliegen ausreichend gerecht wird, daß Familien mit Kindern weniger Steuern zahlen müssen als Familien ohne Kinder.
({3})
Das reicht mir in dieser Verrechnung nicht aus.
({4})
Aber gut, wir werden ja darüber weiter diskutieren. Ich möchte jedenfalls den Satz hinzufügen: Wenn wir die Familie stärken, fördern wir besser als auf jede andere Weise auch die Solidarität zwischen den Generationen. Diese Solidarität zwischen Generationen, zwischen Jung und Alt, ist gerade angesichts einer Entwicklung im demographischen Aufbau unserer Bevölkerung, in dem der Anteil älterer Menschen immer größer wird, um so wichtiger, damit wir keine
Gesellschaft werden, die Teile der Bevölkerung ausgrenzt, damit wir eine Gesellschaft bleiben, die Schwache schützt und die Geborgenheit und Wärme vermittelt. Ohne die Stärkung der Familie ist dies nicht zu erreichen.
({5})
Verantwortung für die Zukunft, verehrte Kolleginnen und Kollegen, heißt auch, daß wir uns den großen ökologischen Fragen stellen müssen. Die Schöpfung bewahren, die natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen erhalten, das erfordert einen schonenden Umgang mit Natur, Umwelt und Ressourcen.
({6})
Schon Immanuel Kant hat davon gesprochen, daß es letztlich eine Frage unserer eigenen Selbstachtung ist, daß es eine Pflicht gegen uns selbst ist, wie wir als Geschöpfe Gottes mit der Geschöpflichkeit der Natur umgehen. Wir, die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union, sind überzeugt, daß auch bei der Bewahrung von Natur und Umwelt Eigeninteresse und freiwillige Überzeugung der Menschen zu besseren Ergebnissen führen als Reglementierung, Bürokratie und Verbote. Deswegen setzen wir eben nicht auf immer mehr Verbote und Reglementierungen, sondern auf marktwirtschaftliche Anreize und technologische Innovation.
({7})
- Herr Kollege Fischer, Sie sind ja in den Jahren seit der deutschen Einheit nicht hier gewesen. Wenn man die Ergebnisse von 40 Jahren real existierendem Sozialismus und 40 Jahren Sozialer Marktwirtschaft in den beiden Teilen des einst geteilten Deutschland wirtschaftlich, sozial und umweltpolitisch vergleicht, ist doch wohl bewiesen, daß freiwillige Initiative, marktwirtschaftliche Anreize und das Setzen auf technologische Innovation die besseren Ergebnisse für Mensch und Umwelt ermöglichen. Deswegen werden wir diesen Weg weitergehen.
({8})
Im übrigen sind auch dabei globale Lösungsansätze das beste. Es gehört auch zu der Bilanz dieser zwölf Jahre, daß es der Bundeskanzler Helmut Kohl gewesen ist, der Umweltpolitik zum Bestandteil europäischer Politik, zur Politik der Europäischen Gemeinschaft wie auch zu einem wesentlichen Auftrag der Bemühungen des Weltwirtschaftsgipfels seit 1985 gemacht hat.
({9})
Wir brauchen in der Umweltpolitik europäische Harmonisierung; denn sonst werden unsere nationalen Alleingänge möglicherweise die Wettbewerbssituation des Standortes Deutschland weiter ver68
schlechtem. Damit dies nicht geschieht, damit Umwelt und Arbeitsplätze nicht gegeneinander ausgespielt werden können, was der Umwelt nicht hilft und den Arbeitsplätzen auch nicht, brauchen wir stärkere Fortschritte in der Harmonisierung der europäischen Umweltpolitik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird zu Recht viel über die grundlegenden Werte für unsere Gemeinschaft nachgedacht und diskutiert. Diese Debatte ist nötig, weil ohne einen Bestand an gemeinsamen Werten jede Freiheitsordnung verkommt. Wenn zu diesen Werten freiwillige Solidarität, Verantwortung für die Zukunft, auch Bescheidenheit, auch, wo nötig, Bereitschaft zum Verzicht gehören, dann wächst aus solchen Grundwerten auch die Chance für mehr globale Verantwortung, ökologische Verantwortung und Verantwortung für die Zukunft. Wir besitzen auch in den großen Überlebensfragen der Menschen die Befähigung zur Freiheit.
Wir wissen nicht alles, und wir wissen auch nicht alles besser. Deshalb sind wir zum Gespräch mit allen und zum Ringen um die bessere Lösung bereit. An der Schwelle zum nächsten Jahrhundert geht es um unsere Zukunft, und das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist unser aller Auftrag. Die Fraktion von CDU und CSU ist dazu bereit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Kollege Fischer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute die Regierungserklärung der Regierung Kohl, die auf der Grundlage einer Koalitionsvereinbarung, geschlossen von CDU/CSU und F.D.P., eine gemeinsame Regierung gebildet hat. Es ist diesmal eine merkwürdige Regierungsbildung gewesen, Herr Bundeskanzler; denn Sie haben ja alles versucht - ({0})
- Ja, es ging sogar sehr schnell. Ich kann Ihnen auch sagen, warum es so schnell ging: Es ging diesmal so schnell, weil Sie in der Tat nicht mehr die Kraft hatten, eine einzige konkrete politische Festlegung außer der, daß Sie gemeinsam eine Koalition bilden wollten, zu machen. Wenn man nämlich diese Regierungsbildung und die Koalitionsvereinbarung gemeinsam betrachtet, stellt man fest, Herr Solms: Diese Regierung mußte diesmal offensichtlich im Sack gekauft werden; denn Sie hatten alles zu vermeiden, was angesichts Ihrer knappen Mehrheit vor der geheimen Wahl des Bundeskanzlers diese schmale Mehrheit noch weiter hätte gefährden können. Und dann erzählen Sie dem deutschen Volk via Deutscher Bundestag, daß ausgerechnet eine Koalition, die mit klappernden Zähnen aus der Angst heraus,
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den Bundeskanzler nicht durchzubekommen - in der Tat war es ja denkbar knapp, und es lag nicht nur daran, daß einer verschlafen hat -, für dieses Land „zukunftsfähig" sei! Diese Koalition der Angst ist nicht in der Lage, inhaltliche Festlegungen klipp und klar zu treffen. Darüber möchte ich heute sprechen.
Gleich am Anfang möchte ich dem Kollegen Scharping widersprechen.
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- Ob Sie jetzt gleich noch weiterklatschen, weiß ich nicht. Ich hoffe, Sie klatschen gleich. Hören Sie den Satz erst einmal ganz an!
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Herr Scharping, ich bin im Gegensatz zu Ihnen der Meinung, daß es für die Opposition in der Tat darauf ankommt und daß es die Pflicht der Opposition ist, alles zu tun, was mit demokratischen Mitteln möglich ist, damit diese Regierung so schnell wie möglich abgelöst werden kann. Denn ich bin der Meinung, meine Damen und Herren - jetzt dürfen Sie Matschen -,
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daß diese Regierung nicht mehr die Kraft zur Zukunftsgestaltung haben wird und daß wir deswegen wertvolle Jahre verlieren werden, die wir für die Erneuerung dieses Landes dringend brauchen.
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Der entscheidende Punkt ist doch völlig klar. Sie von der CDU und von der CSU müssen sich gar nicht so sehr angesprochen fühlen. Ihr großes Problem ist doch, daß die Freien Demokraten von einem politischen Schlaganfall in den letzten Jahren getroffen wurden, von dem sie sich nicht mehr zu erholen drohen.
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Ihr großes Problem ist doch, daß die sogenannte Koalition der Mitte schlicht und einfach daran scheitert, daß die F.D.P. nicht mehr in der Lage ist, ihre historische Funktion als Vertretung des politischen Liberalismus in diesem Lande wahrzunehmen, weil sie diese Position schon längst geräumt hat.
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Das ist doch Ihr Problem, nicht wahr?
Wir Bündnisgrüne hören die neuen Freundlichkeiten vom Kollegen Schäuble gern. Wir sind immer für Freundlichkeit. Ich finde es aber merkwürdig, daß in diesem Land sozusagen immer noch die Ausnahme als Normalität begriffen wird und die Normalität als Ausnahme erwähnenswert ist. Ich finde, daß dort, wo schwerwiegende Grundrechtseingriffe vom Gesetzgeber beschlossen wurden - der Eingriff in das Telefon- und Fernmeldegeheimnis ist schwerwiegend -, alle Fraktionen im Deutschen Bundestag die
Joseph Fischer ({8})
Kontrolle der Exekutive vornehmen müssen und daß dies nicht ein Liebesdienst, Dankbarkeitsgeschenk oder ähnliches sein kann. Es muß eine Selbstverständlichkeit sein, daß alle Fraktionen in diesem Hause daran beteiligt werden. Das gilt auch für andere Dinge.
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Das große Problem ist doch, daß die Position des politischen Liberalismus in einem Ausmaß zu verwaisen droht, daß die F.D.P. in der Tat unter die fünf Prozent gerutscht ist und rutschen wird.
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- Nein, das ist überhaupt nicht mein Problem, denn um die F.D.P. tut es mir überhaupt nicht leid, obwohl ich der Meinung bin, daß wir eine starke liberale Position in diesem Lande brauchen. Aber eine Partei, die sich nur noch als Interessenvertretung von irgendwelchen Maklern oder ähnlichem versteht, hat mit politischem Liberalismus nichts mehr zu tun.
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In der Koalitionsvereinbarung stellt man fest, daß Sie das geworden sind, was in der „FAZ" ein Ihnen wohlmeinender Journalist im Wirtschaftsteil so bezeichnet hat, daß Sie nichts anderes sind als die „Abteilung Liberalismus von Helmut Kohl". Dazu sind Sie geworden. Das ist das Problem dieser Regierung. Daran wird Ihre Mehrheitsfähigkeit letztendlich scheitern. Das wissen Sie auch.
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Sie haben Anspruch darauf - wir, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, wollen unsere Opposition so gestalten -, daß es nicht zu einem Generalverriß durch die Opposition kommt, Herr Schäuble. Ich kenne das von der hessischen Politik. Wenn da jemand von der CDU ans Podium schritt, z. B. der verehrte Kollege Kanther oder sein Nachfolger, dann war alles Mist, was RotGrün gemacht hat. Eine solche Opposition der Dämlichkeit dürfen Sie von uns nicht erwarten.
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Wir gehen davon aus, daß eine Regierung selbstverständlich auch viel Richtiges tut, daß nicht alles, was CDU/CSU und F.D.P. an Überzeugungen vertreten, grundfalsch ist, daß aber die Unterschiede herausgearbeitet werden müssen. Und dort, wo es erhebliche Unterschiede, ja, wo es Gegensätzlichkeiten gibt, respektive dort, wo die Koalition und diese Regierung nicht mehr in der Lage sind, die Zukunft dieses Landes so, wie wir sie uns vorstellen, zu organisieren und die notwendigen Probleme anzupacken, werden wir energisch widersprechen und alles tun, damit diese Regierung möglichst schnell zu einem Endpunkt kommt.
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Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wenn man Ihre Regierungserklärung gehört hat - Herr Kollege Scharping hat darauf hingewiesen ,
dann muß man sich die Frage stellen: Wer hat denn dieses Land zwölf Jahre regiert? Man ist immer wieder baff. Da wird die Ausweitung der Mafia beschworen. Wer hat denn dieses Land zwölf Jahre regiert? Da wird in tränenreicher Erklärung der traurige Zustand der Lage der Familie in Deutschland erklärt. Welche christliche Regierung hat denn zwölf Jahre dafür die Verantwortung zu tragen?
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Da wird von Ihnen ein Übermaß an Bürokratie, gerade auch gegenüber den Umweltschützern und den Umweltverbänden, angeführt, als wenn dies das entscheidende Standorthemmnis wäre. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Wer hat denn noch im letzten halben Jahr der Legislaturperiode ein bürokratisches Monstrum wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz durchgebracht, weil Sie den Mut nicht hatten, endlich ökonomische Steuerungsinstrumente in Form von Ökosteuern und -abgaben durchzusetzen? Das ist doch der entscheidende Punkt.
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Sie reden von Deregulierung, aber Sie haben den Mut nicht, im Umweltbereich daraus die Konsequenzen zu ziehen, indem Sie einfach nur sagen: Wir wollen den Nachtwächterstaat. Ich kann Ihnen für meine Fraktion anbieten: Wir können auf vieles an Regelwerk verzichten - das ist doch kein Selbstzweck -, wenn wirtschaftliches Verhalten umweltverträglich über ökonomische Anreize gesteuert wird.
Deswegen ist es grotesk, daß Sie die zentrale Steuerreform, nämlich die Umweltsteuerreform, den entscheidenden Hebel zum Umbau unserer Industriegesellschaft zu einer umweltverträglichen Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts, nicht angehen oder, wie der Finanzminister, nicht begreifen, auch lapidar nur erklären: Das funktioniert alles nicht.
Meine Damen und Herren, wenn es nicht gelingt, jetzt entscheidende Strukturreformen im Umweltbereich, im Industriebereich vorzunehmen, wenn wir jetzt nicht die umweltverträgliche Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts in der Energiepolitik, mit einer Wende in der Verkehrspolitik, mit einer Ökosteuerreform schaffen, dann, prophezeie ich Ihnen, werden wir die Schlacht um das Schaffen neuer Arbeitsplätze und den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit verlieren, ja verlieren müssen.
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Denn nur in dem Bereich, meine Damen und Herren, liegen in der Tat diejenigen qualitativen Potentiale, die wir brauchen, um neue Arbeitsplätze schaffen zu können.
Da ist das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr Bundeskanzler, ein Dokument der Mutlosigkeit. Sie wollen ein Fünfliterauto. Ich hätte auch gerne geklatscht, nur, ich hätte es gerne konkret. Denn wenn Sie in der Tat das Fünfliterauto zum Ziel haben, wenn Sie sagen: okay, wir wollen das in acht Jahren durchsetzen, dann sage ich Ihnen: Machen Sie es nicht bürokratisch, machen sie es nicht mit Hypnose der Automobilindustriellen, sondern greifen Sie zu dem
Joseph Fischer ({18})
Instrument der kontinuierlichen Erhöhung der Mineralölsteuer!
Denn die Konsequenz wird sein, meine Damen und Herren, daß Verbraucher und Industrie sofort reagieren werden. Diese Mittel werfen wir dann nicht weiter in Waigels Rachen, sondern die werden zweckgebunden, und wir geben sie an die Kommunen für den Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs zurück. Dann hätte das Ganze eine sinnvolle politische Initiative gegeben, bei der unsere Fraktion gerne geklatscht hätte, auch wenn wir dann wieder in schwarz-grünen Verdacht gekommen wären. Aber solche Verdächte würden wir dann in Kauf nehmen, denn dann würden wir eine Strukturreform anstoßen, die in der Tat die Verkehrspolitik ökologisieren und die gleichzeitig den Menschen über verbesserte Verkehrsdienstleistungen im öffentlichen Verkehr die erhöhte Belastung zurückgeben würde. Diese erhöhte Belastung wäre ja keine auf Dauer, weil ich sicher bin, das Fünf- bis Dreiliterauto wird dann sehr schnell Realität werden.
An diesem Beispiel kann man klarmachen, meine Damen und Herren, daß diese Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt Zukunftsfähigkeit ein bißchen was angedacht hat, aber daß sie sich nicht wirklich traut.
Ich komme noch einmal, Herr Schäuble, auf die Deregulierung zurück. Es spricht ja manches dafür. Als Umweltpraktiker bin ich doch der letzte, der darin sozusagen eine besondere Befriedigung findet, wenn Beamte, mehr oder weniger gut bezahlt, sich in Legionsgröße durch irgendwelche Aktenordnerbände hindurcharbeiten müssen, mit Entscheidungen nicht vorankommen und ähnliches. In der Umweltpolitik nennt man das Vollzugsdefizit.
Aber wenn Sie das ernst meinen und wenn Sie nicht den Nachtwächterstaat herbeiführen wollen, der dann bei der nächsten Umweltkatastrophe wieder das Gegenteil von Ihrer Deregulierung machen muß, dann müssen Sie verdammt noch mal doch endlich alles tun, damit umweltgerechtes Verhalten betriebswirtschaftlich zum Tragen kommt. Und das werden Sie nur über die Preise erreichen können.
Nun haben Sie die Alternative, Herr Kollege Schäuble: Warten Sie, bis der Markt wirkt, à la F.D.P., dann, sage ich Ihnen, werden die sozialen Kosten enorm sein, die wir bis zum Eintritt einer Umweltkrise und der entsprechenden Marktreaktion über die Preise zu tragen haben. Nimmt dagegen der Staat seine Verantwortung zum Handeln wahr und setzt darauf, nicht umfängliche Gesetzeswerke zu verabschieden, sondern endlich den Mut zu haben, unser Steuersystem so umzubauen, daß wir nicht zu einer weiteren höheren Belastung von Arbeit und damit zu einem Herausnehmen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem Produktionsprozeß kommen, sondern daß wir endlich Umweltverbrauch, Umweltzerstörung und Umweltbelastung steuerlich höher belasten, dann, bin ich mir sicher, könnten wir uns manches an gesetzlichem Regelwerk schenken.
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Das ist eine Aufgabe, die vor dieser Bundesregierung
liegt. Sie zu bewältigen, werden wir immer wieder
einfordern. Da nützt auch die Flucht in Zukunftsministerien oder ähnliches nichts, denn das wird nichts bringen.
Herr Kollege Schäuble, wir haben seit 1989 - da sind sich ja alle Redner bisher einig gewesen - einen dramatischen Umbruch in dieser Welt. Ich nehme an, daß diejenigen Wissenschaftler, die meinen, daß ein Wandel vor den industriellen Gesellschaften - auch des Westens - liegt, davon ausgehen, daß dies ein ähnlich tiefer sein wird wie der Übergang von der Agrarwirtschaft zur Industriewirtschaft.
Wenn Sie gleichzeitig sehen, daß seit 1989 schockartig eine völlig neue Wirtschaftgeographie global entstanden ist - und damit natürlich auch völlig neue Warenströme sowie völlig neue Konkurrenzbedingungen -, dann wird sich doch nicht die Frage stellen, ob wir uns den Produktionsbedingungen in Vietnam, in Schanghai oder wo auch immer angleichen können, sondern es stellt sich dann die Frage, ob wir den Mut und die Kraft haben, international und national den nächsten Schritt zu tun, nämlich in der Wahrnehmung unserer ökologischen Verantwortung die Industriegesellschaft von morgen als eine umweltverträgliche zu schaffen. Das ist für mich die entscheidende Herausforderung. Dort - ich habe es vorhin schon gesagt - wird auch die Arbeitsplatzfrage entschieden. Und da, Herr Bundeskanzler, sehe ich ein Problem, von dem ich mir - ich möchte es ansprechen, ohne daß ich eine Lösung dafür anbieten kann - ({20})
- Ach, Herr Weng, das ist jetzt wirklich ein Zwischenruf - der ist so etwas von intelligent gewesen.
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- Ich versuche jetzt wirklich einmal einen Punkt anzusprechen, der vermutlich Ihnen genauso wie der Bundesregierung und der Opposition auf den Nägeln brennt, nämlich daß wir seit 1989 in einen Prozeß der Globalisierung hineingeraten sind. Es kommt damit zunehmend zu einem Kompetenzverlust der Entscheidungsebenen: von der nationalstaatlichen Ebene weg hin zu multinationalen Unternehmen, zu globalen Finanzmärkten und ähnlichem.
Die große Frage, die sich da stellt, ist: Was kann man tun, was muß man tun? Ich glaube nicht, daß dieser Prozeß aufhaltbar ist, weil es sich um einen säkularen, um einen historischen Prozeß handelt. Aber mehr und mehr wird es dazu kommen, daß nationalstaatliche Parlamente und Regierungen zwar Adressaten von berechtigten Wünschen und Kritiken von Menschen werden, aber im Grunde genommen die falschen Adressaten sind. Gerade in der Wirtschaftspolitik ist das doch ein ganz entscheidender Punkt.
Wenn man das so sieht, meine Damen und Herren, daß dieser Prozeß der Globalisierung unaufhaltsam ist, dann wird doch die entscheidende Frage sein: Wie können wir den Legitimationsverlust nationalstaatlich/ demokratisch legitimierten Handelns in der Politik auffangen? Diese Frage stellt sich für mich jenseits
Joseph Fischer ({22})
der persönlichen Tragödien, die Massenarbeitslosigkeit immer bedeutet.
Anders als das große Amerika glaube ich nicht, daß wir in Kontinentaleuropa mit unseren nationalen Widersprüchen und Traditionen, die sich hin zu Nationalismus, zu einem aggressiven, kriegerischen Nationalismus und Rassismus entwickeln können, daß wir diese inneren Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft aushalten können und aushalten werden, ohne daß es zu einem Anknüpfen an jene fatale europäische und auch deutschen Tradition des Nationalismus kommen wird.
Wenn man das so sieht, meine Damen und Herren, dann muß ich aber der Bundesregierung vorhalten: Sie springen angesichts dessen, was an Herausforderungen in diesem Lande jetzt vor uns liegt, viel zu kurz. Es wird nichts nützen, daß wir nur ein bißchen deregulieren, sondern dann müssen wir neue Strukturen schaffen.
Die Frage der Atomenergie - ja oder nein - ist doch durch die weltwirtschaftliche Entwicklung schon längst entschieden. Die Perspektive wird weder in der Kohle, bei den fossilen Energieträgern noch in der Atomenergie liegen. Wenn wir als eines der führenden Industrieländer den Durchbruch zur Energiesparwirtschaft nicht anpacken und schaffen, wenn wir als eines der führenden Industrieländer den Durchbruch zu den erneuerbaren Energieträgern im nächsten Jahrtausend nicht schaffen, meine Damen und Herren, dann werden wir mit den heute bekannten Energieerzeugungstechnologien der selbstgestellten globalen Energie- und Umweltfalle nicht entkommen können, und wir werden es gleichzeitig mit massivem Arbeitsplatzverlust zu bezahlen haben.
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In der Verkehrspolitik geht es mir doch nicht um Automobilfeindlichkeit, um Technikfeindlichkeit. Das ist doch nicht die Frage. Unsere Opposition gegen den Transrapid begründet sich darin, daß wir nicht glauben, daß diese Milliardenbeträge jemals rentierlich sein werden. Wir hätten diese Milliardenbeträge lieber in den Ausbau der heute vorhandenen RadSchiene-Systeme und in ihre Erneuerung investiert. Das ist unser entscheidender Kritikpunkt.
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Wenn wir einer Meinung sind, daß wir Schienevorrangpolitik betreiben wollen, Herr Bundeskanzler, dann haben Sie doch den Mut, den jetzigen Bundesverkehrswegeplan zurückzuziehen!
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Man kann ja darüber reden und streiten, welche Verkehrswege „Straße" wir im Ost-West-Bereich brauchen. Aber ich kann Ihnen für Hessen - und ich nehme an, daß Herr Kollege Scharping das für Rheinland-Pfalz ebenfalls kann - aus dem Stand zehn Projekte nennen, bei denen es sich um Planungen der 60er und 70er Jahre im Nord-Süd-Zusammenhang oder um die berühmt-berüchtigten Bürgermeister-
und Landräte-Baudenkmäler handelt, die unbedingt
noch in die Landschaft „gepflastert" werden sollten.
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Ich möchte Ihnen, Herr Bundeskanzler, an diesem Punkt, an dem es um den ökologischen Umbau geht, konstruktive Zusammenarbeit dann anbieten, wenn es energisch in die richtige Richtung geht. Aber genauso kündige ich Ihnen eine in der Sache nicht nachstehende Opposition an, wenn Sie nicht in diese Richtung gehen. Und das, was Sie heute vorgetragen und was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrieben haben, zeigt: Diese Regierung hat nicht mehr die Kraft zum ökologischen Umbau, der zentralen Herausforderung, vor der wir heute stehen.
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Meine Damen und Herren, Sie haben heute auch sehr viel über Solidarität gesagt. Wenn man das einfach so hören würde, ohne das Drumherum zu kennen, könnte man manchem abstrakten Satz sogar zustimmen. Doch gerade Sie als christliche Demokraten müßte es sehr nachdenklich stimmen, daß in den letzten zwölf Jahren in diesem Land die Armut zugenommen hat. Viele Leute sind reich geworden, sind wohlhabend geworden, wir haben eine breite Mittelschicht. Aber wir haben gerade in den großen Städten, Herr Schäuble, das Problem, daß zunehmend Menschen an den sozialen Rand und darüber gedrückt werden - und das in Größenordnungen, die gerade Sie als christliche Demokraten alarmieren müßten.
Es geht nicht um eine neue Klassenkampfposition. Aber was Sie in schönem, altkonservativem Deutsch einklagen - Verzicht, Solidarität -, das muß man doch gerade gegenüber denen einklagen, die in diesem Land stärkere Schultern haben und demnach auch mehr tragen können. Das ist doch der entscheidende Punkt. Es wird auf eine Spaltung dieser Gesellschaft hinauslaufen - das wird nicht eine Zweidrittelgesellschaft, sondern perspektivisch eine Halb-HalbGesellschaft werden -: in Besitzstandswahrer mit guten Einkommen, die weniger Steuern bezahlen wollen, als sie bezahlen müßten, die eine gute Ausbildung haben und hochkreativ sind, und diejenigen, die über den Rand gedrückt werden und teilweise sogar hinunterfallen. Eine solche Gesellschaft halten Sie auch mit mehr Polizei nicht mehr zusammen, Herr Schäuble.
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Wenn man Solidarität neu definieren will, dann gehört Mut dazu. Sie werden es hier bei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN mit einer Opposition zu tun haben, die, wenn Sie Besserverdienenden diese Wahrheit zumuten werden, daraus keinen populistischen Gewinn schlagen wird, weil wir es für nötig halten, daß Solidarität neu definiert wird.
Natürlich ist es nach wie vor so, daß wir eines der reichsten Länder sind, in dem der Kindergartenplatz für jedes Kind eben nicht selbstverständlich ist. Als ehemaliger Landespolitiker weiß ich: Wenn wir vom Kindergartenplatz für jedes Kind reden, dann reden wir im Grunde von einem Alter von vier bis sechs Jahren. Wir wissen aber, wie wichtig es unter dem
Joseph Fischer ({29})
Gesichtspunkt des Zusammenhalts der Familien ist, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf so zu organisieren, daß sie funktioniert. Warum haben wir nicht die Kraft, hier aus diesem Bundestag heraus klarzumachen, daß es einer großen Anstrengung bedarf, die in hohem Maße eine Zukunftsinvestition ist? Und es ist sinnvoll, diejenigen, die mehr belastet werden können, dafür auch mehr zu belasten, meine Damen und Herren. Warum haben wir diese Kraft nicht?
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- Nein, das tut ihr nicht. Wenn ihr das tätet, fände ich das sehr gut. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich sage Ihnen noch etwas zu den Mieten. Herr Bundeskanzler, Sie sollten einmal in Frankfurt freitags ab 12 Uhr vor dem Haus der „Frankfurter Rundschau" sein. Da sehen Sie jeden Freitag eine „realsozialistische" Schlange von Menschen stehen, die verzweifelt preiswerten Wohnraum im Ballungsgebiet suchen. Sie sollten einmal in die Noteinweisungsquartiere der großen Städte gehen. Dort sehen Sie Menschen, die überhaupt nicht Ihrem gängigen Klischee entsprechen, sie bezögen Sozialhilfe und wollten nicht arbeiten, sondern die auf Grund von individuellen Schicksalen - Mieterhöhungen, Arbeitsplatzverlust und ähnlichem - in die Noteinweisung hineingedrängt wurden. Meine Damen und Herren, wenn wir es mit dem Kampf gegen die Wohnungsnot ernst meinen, ist das erste, was zu tun ist, die Zweckentfremdung von Wohnraum in den Ballungsgebieten zu unterbinden. Wir können gar nicht so viel neu bauen, wie wir dadurch verlieren.
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Das zweite: Sie müssen endlich Mietpreise möglich machen, die bezahlbar sind. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn Sie bezahlen können, bekommen Sie heute sofort jede Wohnung. Aber diese Zahlungsfähigkeit haben die wenigsten Menschen in diesem Lande, und das ist die eigentliche Tragödie.
Meine Damen und Herren, die Union hat die Frauengleichstellung entdeckt. Das finde ich hervorragend.
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Das meine ich überhaupt nicht zynisch. Es zeigt: Sie begreifen, daß das traditionelle Geschlechterverständnis in unserer Gesellschaft nicht mehr durchsetzbar ist. Der Wertewandel von 1968, Herr Kollege Schäuble, ist sozusagen unumkehrbar, so leid es mir tut.
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Das haben Sie jetzt begriffen, und das finde ich sehr gut. Ich wünsche Ihnen bei der Durchsetzung der Quote viel Erfolg. Das meine ich nicht zynisch. Denn ich selbst gehöre zu denen, die im Jahre 1982/83, als
sie bei uns eingeführt wurde, überhaupt nicht einverstanden waren.
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Ich kann Ihnen nur sagen: Anders geht es nicht. Rückblickend muß man das feststellen. Diese Erfahrung haben auch Sie gemacht, meine Damen und Herren. Nehmen Sie das nicht als Hohn, sondern sehen Sie den echten Fortschritt. Nur: Der entscheidende Punkt wird sein, den nächsten Schritt zu machen. Wir sind uns einig - wenn Sie so wollen, ist das ein selbstkritisches Eingeständnis eines alten 68ers -, ob Familie oder Lebensgemeinschaft - das sehen wir nicht so ideologisch verengt wie Sie -: Kinder müssen in einem festen emotionalen, elternbezogenen Zusammenhang aufwachsen.
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„Elternbezogen" heißt, daß sie mit den Eltern zusammen aufwachsen. Daß das heute nicht mehr in lebenslangen Ehen allein geschieht, wissen Sie aus eigener Erfahrung in den Reihen Ihrer Fraktion.
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Das finde ich auch völlig okay. Ich finde auch die Erklärung der katholischen Bischöfe völlig okay, daß Sie nicht mehr von den heiligen Sakramenten ausgeschlossen werden, wenn Sie sich wieder verheiraten. Der Papst sieht das noch etwas anders. Aber diesen Streit brauchen wir heute nicht unter uns zu führen. Ich glaube, der ganze Bundestag ist in dieser Frage fortschrittlicher als Kardinal Ratzinger und die Kurie. Das sollte man an anderer Stelle austragen.
Für mich ist der entscheidende Punkt: Wir müssen den nächsten Schritt tun. Wir müssen die Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mann und Frau bei Arbeitsplätzen, bei Schulen, Vorschulen, Kindergärten, im Versicherungsrecht, kurz: überall, schaffen.
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Nur dann wird Frauengleichstellung wirklich konkret.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einiges zur Außenpolitik sagen. Herr Kollege Geißler hat ein Zitat von mir gebracht. Das freut mich. Er hat nur nicht vollständig zitiert.
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- Man soll es nicht übertreiben, aber man sollte immer das Richtige zitieren, und man sollte vollständig zitieren. Denn unvollständige Zitate sind irreführend.
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- Das kann ich Ihnen nur empfehlen. Aber bitte.
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Joseph Fischer ({41})
Der entscheidende Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte, ist: Wird die Berliner Republik, wie sie von einigen bereits genannt wird, einen anderen Weg gehen als die Bonner Republik? Sie sagten: Nein. Sie setzen auf Kontinuität. Das wollen wir untersuchen. Wir wollen nicht sagen: Kohl ist der neue Nationalist. Vielmehr wollen wir untersuchen, ob stimmt, was er sagt. Das ist eine Form von Opposition, die ich intelligent finde, statt, wie ihr das immer macht, zu sagen: Die sind des Teufels. Die entscheidende Frage ist, ob die Kontinuität in dem, was Sie tun, tatsächlich angelegt ist. Ich sehe die große Gefahr, daß es nicht zur europäischen Einigung kommt, und zwar aus einem bestimmten Grund, den ich Ihnen nennen will: weil der entscheidende qualitative Schritt, die Souveränitäts- und Demokratiefrage, bisher ausgespart wurde.
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Das Setzen darauf, Herr Bundeskanzler, wie es auch einige Kommentatoren, wie es auch kluge Analytiker tun, daß sich die EG auf Grund der Notwendigkeiten immer aus dem nächsten praktischen Schritt heraus entwickelt habe, reicht nicht aus. Das haben die Volksbefragungen klargemacht, und das wird der französische Präsidentschaftswahlkampf jetzt wieder klarmachen. Sie müssen doch jeden Abend Rosenkränze beten, damit Ihr Parteifreund, der mit einer antieuropäischen Plattform in Frankreich in die Wahl geht, nicht französischer Präsident wird!
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Der entscheidende Punkt ist: Wenn die Völker nicht eingebunden werden, wenn es nicht zu einer wirklichen Demokratisierung von EG-Europa kommt,
(
Kommt es doch!)
dann werden Sie feststellen, daß es nicht weitergehen, sondern rückwärtsgehen wird, meine Damen und Herren.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir sehen doch gegenwärtig das Drama in Bosnien. Wir erleben das grauenhafte Morden in Bihac. Herr Scharping hat vorhin angefügt: Europa besteht nicht nur aus Westeuropa, sondern auch aus Osteuropa, aus Paris, Prag, Berlin und Budapest; auch aus Sarajevo, muß man hinzufügen.
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Wir sollten alles tun, damit dieser grauenhafte Krieg endlich zu einem Ende kommt. Sie haben hier für eine Politik, die das Morden beendet, die Menschen schützt und ihnen Hilfe gibt, die Unterstützung des ganzen Hauses. Aber, Herr Bundeskanzler, wir würden uns auch wünschen, daß Ihr Innenminister dann aufhört, Menschen in die Kriegsgebiete abzuschieben, daß z. B. Deserteure nicht mehr abgeschoben werden. Dann wäre der Konsens noch wesentlich größer.
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Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt eingehen. Ganz entscheidend wird das Verhalten der Bundesrepublik auf dem Berliner Gipfel zu bewerten
sein. Darauf bezog sich mein Zwischenruf, Herr Kollege Schäuble. Wissen Sie, was in der Koalitionsvereinbarung steht? Darin steht - insofern guter Rechtsanwalt, der Sie sind, ist Ihre Kritik am Kollegen Scharping formal korrekt, aber nur formal - auf Seite 35:
Das bereits verabschiedete nationale CO2-Konzept zur Reduzierung von Kohlendioxid wird umgesetzt und fortentwickelt.
So! Nun wissen Sie so gut wie ich, Herr Schäuble - und Sie lachen; jetzt lassen Sie uns mal schwäbisch schwätze -: Das ist natürlich eine Schlitzohrformulierung; denn in diesem nationalen CO2-Konzept steht nichts Konkretes drin. Das wissen Sie so gut wie ich. Da ist nicht eine konkrete Festlegung drin, meine Damen und Herren!
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Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die neue Umweltministerin und auch Sie, Herr Bundeskanzler, Sie waren ja in Rio; Sie werden gefragt sein. Wenn die Bundesrepublik Deutschland sich international bei ihren CO2-Reduktionsverpflichtungen weiter so hängenläßt, bedeutet das im Klartext, daß sich alle anderen wichtigen Industrienationen ebenfalls werden hängenlassen.
Deswegen wird es auch unter dem Gesichtspunkt der globalen Entwicklung und der Entwicklung der Arbeitsplätze von zentraler Bedeutung sein, daß die Bundesrepublik Deutschland vorangeht, und zwar mit konkreten Zahlen. Sie müssen endlich durchsetzen, daß nicht mehr kleinkarierte, rückwärtsgewandte Wirtschaftsinteressen, wie sie der Wirtschaftsminister gegenüber dem Bundesumweltminister vorgebracht hat, die Oberhand gewinnen, sondern daß die Bundesregierung mit einem konkreten, an Daten und Zahlen festgemachten Konzept nach Berlin geht, daß wir mit unserer globalen Verantwortung endlich Ernst machen und uns davor nicht mehr drücken.
Meine Damen und Herren, das sind für mich die wichtigen Herausforderungen. Diese Herausforderungen stellen sich in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen. Ich halte überhaupt nichts davon zu meinen, im Osten müsse man jetzt die 60er, 70er und 80er Jahre nachholen; irgendwann werde man mit einer beschleunigten Aufholjagd dann schon den Standard des Westteils unseres Landes erreichen. Das würde ein bitteres Erwachen geben. Der Aufbau Ost kann nicht Nachbau West werden,
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sondern die neuen Länder müssen mit ihren Strukturentscheidungen der modernere Teil dieses Deutschlands werden, d. h. auch der umweltverträglichere. Deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein, klarzumachen, daß der Kampf um die Arbeitsplätze, eine ökologische Strukturreform im Energie- und im Verkehrsbereich, eine Steuerreform auch und gerade für Ostdeutschland von zentraler Bedeutung sind, wenn es nicht nur bei Versprechungen in bezug auf die Arbeitsplätze, mehr Arbeit, mehr Investitionen bleiben soll, bei denen letztendlich nichts oder nur sehr wenig herauskommen wird. Das sind die zentralen Herausforderungen, vor denen dieses Land steht
Joseph Fischer ({4})
- innenpolitisch, außenpolitisch, wirtschaftspolitisch und umweltpolitisch.
Ich traue Ihrer Regierung die Kraft, diese Strukturreformen anzupacken, nicht mehr zu, Herr Bundeskanzler. Das zeigt auch Ihre Regierungserklärung. Statt dessen wird Deutschland mit Ihrer Regierung weitere Jahre verlieren. Sie werden in diesen entscheidenden Strukturreformen zu kurz springen, und deswegen wird es von zentraler Bedeutung sein, daß diese Koalition das Ende der Legislaturperiode nicht erreicht.
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Das Wort hat jetzt der Bundesminister des Auswärtigen, unser Kollege Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entgegen dem, was Herr Fischer Ihnen hier gesagt hat - bei dem ganz offensichtlich der Wunsch der Vater des Gedankens ist und worauf ich nachher gern eingehen möchte -, ist die Koalition gemeinsam entschlossen, ihr Bündnis der Mitte fortzuführen. Wir Liberalen werden unseren zuverlässigen Anteil dazu beitragen.
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Auch darin, Herr Fischer, widerspreche ich Ihnen: Entgegen dem, was Sie meinen und gerne hätten, hat diese Koalition - jedenfalls auf Bundesebene - die Kraft, die Kompetenz und im Gegensatz zu Ihnen auch die Erfahrung für weitere vier gute Regierungsjahre.
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Wir werden den Wählerauftrag ernst nehmen, der lautet: das wiedervereinigte Deutschland erneuern.
Ich sage Ihnen mit großer Gelassenheit und Ruhe: SPD und Grüne werden sich für weitere vier Jahre auf den harten Oppositionsbänken einrichten müssen. Das sagen wir Ihnen voraus.
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Dabei haben Sie von der Opposition sich große Mühe gegeben, das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mieszureden. Dem sachlichen Gehalt sowie den ehrgeizigen Zielsetzungen und konkreten Vorhaben, die wir in der Koalitionsvereinbarung festgehalten haben, wird diese Kritik einfach nicht gerecht.
Ich kann verstehen, daß die SPD und insbesondere Herr Scharping frustriert sind. Die ersten Auftritte im Deutschen Bundestag und auch innerhalb der SPD waren ja alles andere als glänzend. Deshalb verstehe ich, daß Sie frustriert sind.
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- Nein, Herr Scharping, hören Sie genau zu! Deutschland hat sich entgegen dem, was Sie gesagt haben, eben nicht auf den Wechsel gefreut. Im Gegenteil, Deutschland hat dem Wechsel eine klare Absage
erteilt und sich für eine erfolgreiche Zukunft entschieden.
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Die Bürger wissen sehr wohl, daß das Schicksal dieses Landes bei dieser Regierung und bei dieser Koalition in guten Händen ist.
Detlev von Larcher [SPD]: Oh Gott, oh
Gott!)
Als deutscher Außenminister füge ich noch hinzu: Das Ausland weiß das erst recht.
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- Warten wir es ab. Mit Ihnen werden wir uns auseinandersetzen. Passen Sie auf.
Nun zu Ihnen, Herr Fischer. Schon zum zweiten Mal muß ich Ihnen sagen: Lautstärke ersetzt nicht Argumente. Ich räume ein, daß sie vielleicht den Unterhaltungswert erhöht. Aber ich frage Sie erneut, warum Sie hier immer so laut in den Saal brüllen.
Daß Sie sich mit dem Liberalismus auseinandersetzen und sich um die Zukunft der F.D.P. sorgen,
({6})
das freut uns; das ehrt Sie auch. Aber - das muß ich noch einmal wiederholen - bei Ihnen scheint der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Diesen Wunsch werden wir Ihnen nicht erfüllen.
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Weil Sie sich mit Wahlergebnissen auseinandergesetzt haben, möchte ich Ihnen sagen: Sie sollten sich mit sich selber beschäftigen.
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- Ja, vor allem in den neuen Ländern. - Wir hatten und haben schweres Fahrwasser und haben auch unsere Sorgen. Sich aber so damit auseinanderzusetzen, wie Sie das versucht haben, ist leicht schäbig. Schauen Sie in Ihren eigenen Bericht und sorgen Sie sich erst um Ihre eigene Partei! Dann können wir uns hier gern wieder treffen.
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Und seien Sie ganz sicher: Was Ihre Themen, Ihr Programm, Ihre Visionen anbelangt, so werden wir uns damit befassen, und zwar sehr genau.
({10})
- Ja, wir werden uns sehr genau damit befassen. - Joschka Fischer kommt plötzlich auf Samtpfoten daher. Da gilt, was bei Arzneimitteln nachzulesen ist: Zur Vermeidung von Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie das Programm der GRÜNEN und von BÜNDNIS 90, dann wissen Sie, wohin die Reise gehen
soll. - Das werden die Bürger tun, und das werden auch wir tun.
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Lieber Herr Fischer, wenn das Wirklichkeit würde, was Sie in der Außen-, in der Sicherheits-, in der Wirtschafts- und in der Technologiepolitik in Ihrem Programm und in Ihren Vorstellungen vorhaben, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland!
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Das ist auch der Grund, warum die Wähler richtig entschieden haben, nämlich Sie auf Bundesebene nicht ranzulassen.
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- Herr Fischer, so wach wie Sie bin ich schon lange.
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Wenn Sie immer wieder den Eindruck erwecken
- wie es ja Ihr Programm ist -, als drehe sich die ganze Welt, als drehe sich die Bundesrepublik allein um ökologische Probleme, dann ist daran richtig, daß das alles außerordentlich wichtige Fragen für uns sind. Aber Sie müssen andererseits doch auch sehen, daß die Zukunft dieses Landes und die Zukunft dieser Welt nicht ausschließlich von diesem Thema abhängig ist, sondern auch noch von ein paar anderen Fragen, und um die will ich mich anschließend kümmern.
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Wenn Sie, Herr Fischer, Solidarität von denen einfordern, die die Besserverdienenden sind, wie Sie das nennen, von denen, die mehr verdienen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie übersehen offensichtlich, daß wir in diesem Land bewußt ein progressives Steuersystem haben und daß beim Füllen der Steuerkörbe der wesentliche Anteil schon jetzt von denen erbracht wird, die mehr leisten und die Körbe mit ihren Leistungen füllen. Dabei wollen wir es dann auch belassen, ohne die sozial Schwächeren auszugrenzen. Darauf will ich nachher gern noch einmal eingehen.
Hier den Eindruck zu erwecken, mit sozialem Neid und bloßer Umverteilung kämen wir in diesem Land und in Europa vorwärts, ist falsch, und das lassen wir auch nicht zu.
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Im übrigen muß ich mein ganzes Konzept umstellen, um mich jetzt mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich halte Ihnen zum Schluß einen Punkt vor, Herr Fischer: Wie lange waren Sie eigentlich in der hessischen Landesregierung?
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Haben Sie sich einmal den Dreck angesehen, den Sie dort hinterlassen haben, als Sie fortgegangen sind?
({18})
- Ja, den Dreck muß man sich ansehen. Jahrelang hatten Sie die Chance, dort Ihre Visionen und Ihr Geschrei in der Praxis zu verwirklichen. Aber es ist bei Visionen und Theorie geblieben, und in der Praxis haben Sie nichts gebracht; denn Hessen hat von sämtlichen Länderregierungen mit am meisten abgewirtschaftet. Daran sind Sie mit schuld.
({19})
Meine Damen und Herren, ich will zu dem zurückkommen, was ich eigentlich sagen wollte. Wir haben - ich sage es noch einmal, weil Sie es so miesgemacht haben - eine gute Koalitionsvereinbarung. Sie ist vom gemeinsamen Willen zum Handeln getragen. Natürlich enthält sie Kompromisse - das sage gerade ich als F.D.P.-Vorsitzender-, aber sie läßt jeder Partei ihre eigene Identität. Die Qualität einer Koalitionsvereinbarung wird nicht durch eilige Vorabkritik der Opposition zu Beginn bestimmt, sondern durch das, was am Ende der Legislaturperiode unter dem Strich herauskommt. Da bin ich sicher: Diese Bilanz wird nach vier Jahren positiv sein.
Sie wollen uns ja aus der Opposition heraus vier Jahre lang jagen. Ich kann Ihnen nur sagen: Dem sehen wir mit großer Gelassenheit und Ruhe entgegen. Schon manches Jägerlatein war relativ früh am Ende, und die Trefferquote bei den ersten Schüssen ging, wenn ich Ihnen das ehrlich sagen darf, gegen Null. Also, wir sehen dem mit großer Gelassenheit entgegen.
({20})
Und weil Sie vorhin von den „wackelnden Zähnen" gesprochen haben, halte ich Ihnen entgegen: Sie - speziell Sie, Herr Fischer - werden sich an uns die Zähne ausbeißen.
({21})
Meine Damen und Herren, Deutschland muß wirtschaftlich, sozial, ökologisch, als liberaler Rechtsstaat und auch in der Außenpolitik Spitze bleiben. Unsere Lösungsvorschläge sind: Wir wollen einen schlanken Staat mit weniger Bürokratie, weniger Vorschriften. Wir wollen die Modernisierung unserer Wirtschaft in den alten und in den neuen Ländern durch konsequente Förderung des Mittelstands und Stärkung der Marktkräfte. Wir stehen gerade als F.D.P. für die Sicherung der Staatsfinanzen und die Fortsetzung der Steuerreform. Und, Herr Fischer, wir setzen uns für den Schutz der Umwelt durch mehr Marktwirtschaft und für die Festigung des Sozialstaats durch
seinen Umbau ein, wohlgemerkt nicht durch den Abbau von Sozialleistungen.
Wir wollen schließlich eine Offensive für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie den Erhalt des inneren Friedens in diesem Land, weil wir eine große Wirtschafts- und Kulturnation sind und bleiben wollen.
({22})
Vor allem wollen wir die Einheit unseres Landes vollenden. Ich meine, daß die Menschen in den neuen Ländern in der praktischen Politik spüren müssen, daß es uns damit ernst ist.
({23})
Meine Damen und Herren, diese Legislaturperiode führt uns an die Schwelle des 21. Jahrhunderts. Nur wenn dieser 13. Deutsche Bundestag seine Kräfte für eine entschlossene Erneuerung unserer Gesellschaft bündelt und nutzt, wird er seiner Verantwortung für die kommenden vier Jahre gerecht werden. Über Parteigrenzen hinweg wird es im Bundestag und im Bundesrat im Interesse unseres Landes und der Menschen notwendig sein, Lösungen bei den wahrhaftig nicht wenigen Sachproblemen zu finden. Dabei mögen wir über die besten Wege zu diesen Lösungen ruhig miteinander streiten und kämpfen.
Wir stehen, wenn ich es richtig sehe, vor einer doppelten Herausforderung: der Modernisierung nach innen und dem globalen Wettbewerb nach außen. Wir werden die Erneuerung nur dann schaffen, wenn wir um uns herum gute Freunde, stabile Nachbarn und offene Märkte haben.
({24})
Beispiel Umwelt: Der Ausstoß von CO2 und FCKW oder die Bekämpfung des Ozonlochs lassen sich doch nicht mehr im nationalen Alleingang bewältigen, Herr Fischer. Beispiel Beschäftigung: Nur wenn die Beschäftigungsinitiative der Europäischen Union insgesamt gelingt und nur wenn wir offenen Zugang zu den asiatischen Wachstumsmärkten erhalten, werden wir zu Hause die notwendigen neuen Arbeitsplätze schaffen können. Jede lohn- oder sozialpolitische Entscheidung hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit, unsere Position im Wettbewerb. Wer diesen Wettbewerb für sich entscheiden will, muß die vorhandenen Kräfte bündeln und versuchen, neue Kräfte freizusetzen:
({25})
in Forschung, in Entwicklung, in Bildung und Ausbildung, bei der Deregulierung und bei der ökologischen Steuerreform.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem Punkt, der für mich sehr wichtig ist. Die klassische Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik gehört der Vergangenheit an.
({26})
Erfolgreiche Innenpolitik, Umweltpolitik, Finanzpolitik ohne ein klares außenpolitisches Konzept wären zum Scheitern verurteilt. Eine große Wirtschafts-, Industrie- und Kulturnation zu sein - ich sage dies noch einmal - ist Anspruch und Verpflichtung. Sie kann es sich nicht erlauben, sich zu sehr mit sich selber zu beschäftigen,
({27})
mit Themen und Problemen, die gar nicht von allererster Bedeutung sind.
({28})
Wir müssen als Land nach außen hin orientiert bleiben und wieder zur Kenntnis nehmen, daß wir uns mit den wirklichen Problemen befassen müssen, daß wir nicht allein auf dieser Welt sind und daß sich nicht alles nur um Deutschland und unsere Probleme dreht. Es gibt ein paar Probleme mehr auf dieser Welt.
({29})
Genauso gilt natürlich: Nur wer zu Hause leistungsfähig ist, kann nach außen handeln und gestalten. In der Entwicklungspolitik und in der humanitären Hilfe können wir nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben. Deshalb ist auch außenpolitisch wichtig, was wir uns in der Koalitionsvereinbarung innenpolitisch vorgenommen haben.
Thema Umweltschutz. Auch hier heißt das Stichwort Innovation. Die wirtschaftlichen Anreize zu einem schonenden Umgang mit Natur und Umwelt müssen wir verstärken. Aber anders als die SPD und DIE GRÜNEN setzen wir beim Umweltschutz auf marktwirtschaftliche Anreize für den Bürger statt auf immer mehr Verbote gegen ihn.
({30})
Die Ratschläge des Sachverständigenrats in seinem jüngsten Gutachten zeigen, daß wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Die marktwirtschaftliche Weichenstellung in der Umweltpolitik wird unsere Unternehmen anspornen, immer bessere Umwelt- und Energiespartechniken zu entwickeln. So wird sich die Wettbewerbssituation auf diesem Sektor, wo wir schon heute Gott sei Dank Weltklasse sind - auch das muß einmal erwähnt werden -, weiter verbessern.
Thema Beschäftigungspolitik. Es ist schon gesagt worden: Wir brauchen Flexibilität und Deregulierung im Arbeitsmarkt, vor allem aber eine konzertierte Offensive in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wer im eigenen Land keine international anerkannten Spitzenkräfte hervorbringt, kann die Hoffnung auf eine Spitzenposition im technologischen Wettbewerb draußen - auf sie sind wir angewiesen - im eigenen Interesse begraben.
({31})
Wir dürfen nicht zulassen, daß die deutsche Hochschullandschaft für ausländische Studenten und Forscher leider immer weniger attraktiv wird. Eine möglichst große Zahl qualifizierter ausländischer Absolventen an unseren Universitäten ist auch eine ganz, ganz wichtige Investition in unsere eigene Zukunft.
({32})
Im Wettbewerb mit Eliteuniversitäten wie Stanford oder Oxford werden wir aber nur dann bestehen können, wenn auch in unsere Hochschullandschaft der frische Wind des Wettbewerbs einzieht.
({33})
Wir müssen unsere Studenten mehr als bisher nach draußen schicken. Es ist ein riesiges Mißverhältnis, daß auf 30 asiatische Studenten in Deutschland nur ein Deutscher kommt, der in Asien studiert. Ich habe das Gefühl, daß uns das wahrhaftig zu denken geben muß.
Thema Mittelstandspolitik.
({34})
Selbständige, Existenzgründer und Freiberufler sind Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Der Mittelstand braucht Erleichterungen und nicht eine zusätzliche Arbeitsmarktabgabe, wie die Opposition sie fordert. Die SPD will dem Mittelstand wie einem Packesel immer neue Belastungen aufbürden, statt dem Mittelstand zu helfen und ihn zu entlasten. Er braucht Entlastung und Hilfe und keine neuen Bürden.
({35})
Wir planen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1996 als erste Stufe zu einer Abschaffung der Gewerbesteuer. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung gerade für den Mittelstand und - das ist ganz wichtig - vor allem für den Mittelstand in den neuen Ländern sehr, sehr viel. Dort hat er nämlich gezeigt, was er in Wirklichkeit zu leisten in der Lage ist. Die weit überwiegende Zahl der Arbeitsplätze, die in den neuen Bundesländern geschaffen worden sind, kommt vom Mittelstand. Das muß man einmal anerkennen und deutlich und klar sagen.
({36})
Im übrigen würde ich gern an die Adresse des einen oder anderen selbsternannten Mittelstandspapstes
({37})
- Sie, Herr Gysi, sind es sicher nicht , der versucht hat, die Leistungen von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt herunterzureden, sagen - das sage ich auch gegenüber Herrn Scharping deutlich und klar -: Lassen Sie diese unfairen und unsachlichen Angriffe! Günter Rexrodt macht gute Wirtschaftspolitik, gerade für den Mittelstand.
({38})
- Sie haben es noch nicht gemerkt. Sie werden das noch merken.
Daß wir der Mittelstandspolitik künftig einen noch stärkeren Impuls geben wollen, weist die Koalitionsvereinbarung, wie ich finde, klipp und klar aus. Wir werden einen Parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium für den Mittelstand einrichten.
({39})
Allen notorischen Nörglern sei ins Stammbuch geschrieben: Eine erfolgreiche Mittelstandspolitik wird das zentrale Thema der nächsten vier Jahre für uns sein.
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Was den Solidaritätszuschlag anbelangt, haben wir vereinbart, daß dieser Solidaritätszuschlag keinen Tag länger aufrechterhalten werden soll als unbedingt notwendig.
({41})
Dies war ein starkes liberales Anliegen. Wir werden uns dafür einsetzen, daß es in der Praxis tatsächlich so kommt.
({42})
Thema Sozialabgaben: Die Koalitionsvereinbarung sieht die Einberufung einer Kommission vor,
({43})
die unter Einschluß unseres Bürgergeldkonzepts Lösungsvorschläge prüfen soll, wie wir künftig die soziale Hilfe zielgenauer leisten können.
Diese Bundesregierung wird die Anreize für reguläre Erwerbsarbeit stärken und Sozialbürokratie abbauen. Wir halten nämlich nichts davon, daß es heute bei den Sozialleistungen 37 Anlaufstellen für 152 verschiedene Hilfearten gibt. Davon profitiert erfahrungsgemäß nicht der, der Hilfe am meisten braucht, sondern derjenige, der sich am besten im Paragraphendschungel auskennt. Das kann nicht richtig sein; denn wir wollen denen helfen, die wirklich hilfsbedürftig sind und Hilfe benötigen.
Ich bleibe dabei, daß mit der notwendigen Sensibilität auf sozialem Gebiet für uns gilt, daß sich ein Rechtsstaat, eine Demokratie dadurch auszeichnet, wie sie mit den Schwächeren, den nicht so Leistungsfähigen, den Ausgegrenzten und den Hilfsbedürftigen umgeht. Das wird für uns mit erstes Motto sein und bleiben.
({44})
Die Anreize zur Schwarzarbeit müssen endlich beseitigt werden. Auch dazu kann das Bürgergeldkonzept einen wichtigen Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, das sind einige Auf gaben der Koalition im Innern. Aber es stehen natürlich auch nach draußen gewaltige Probleme an.
Wer glaubte, mit dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung werde der allgemeine Landfriede in diesem Land oder in Europa einkehren, hat sich leider bitter getäuscht. Richtig ist, daß wir im engeren Europa nicht mehr einer unmittelbaren militärischen
Bedrohung gegenüberstehen. Darin liegt in der Tat ein enormer Gewinn für Frieden und Stabilität und ein besonderes Glück für uns Deutsche.
Aber wir stehen heute vor anderen, neuartigen Herausforderungen und völlig anderen und mindestens so großen Risiken. Allein in den nächsten vier Jahren wird die Menschheit um 400 Millionen wachsen, d. h. um mehr als die gesamte Bevölkerung der erweiterten Europäischen Union. Wichtig ist: Über 90 % dieses Bevölkerungswachstums entfallen auf Entwicklungsländer. In vielen dieser Länder ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, hat aber so gut wie keine Zukunftsaussichten. Kein Wunder, daß Fanatismus, fundamentalistische Strömungen und Gewaltbereitschaft immer mehr Zulauf erhalten.
Es ist uns nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung die zweite große Weltgeißel geblieben: die Nord-Süd-Problematik. Deshalb müssen wir die traditionelle Nord-Süd-Politik zu einer globalen Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft weiter entwikkeln.
Aber alle Entwicklungsbemühungen und Maßnahmen zum Schutz der Umwelt sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht durch eine konsequente Bevölkerungspolitik begleitet werden. Die weiter wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, weltweit für menschenwürdige Arbeitsplätze zu sorgen und gleichzeitig die ökologischen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums unter Kontrolle zu halten, sind die zentralen internationalen Aufgaben, denen wir uns als 80-Millionen-Volk im Herzen Europas und als eines der reichsten Länder dieser Erde stellen müssen.
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Wir brauchen, meine Damen und Herren, Solidarität nach drinnen. Wir brauchen sie aber auch nach draußen. Die Mobilität der Menschen nimmt zu. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen erfolgreichen Industriestaaten und in Not versinkenden Entwicklungsländern verschärfen sich. Wir haben enorme Migrationsbewegungen. Der Wanderungsdruck von Ost nach West und von Süd nach Nord wird gerade Deutschland in den nächsten Jahren noch viel stärker als bisher beschäftigen. Vor allem deshalb brauchen wir eine zukunftsorientierte Ausländerpolitik. In keinem anderen Bereich - das hat sich in den Koalitionsverhandlungen gezeigt - wird die Verknüpfung zwischen äußerer und innerer Entwicklung so deutlich, und in keinem anderen Bereich ist der liberale Rechtsstaat so gefordert.
Unser Ziel war und ist die bessere Integration der vor allem schon länger bei uns lebenden Ausländer, die wir in unseren Kulturkreis, in unser Land aufnehmen wollen und auch verkraften können. Darin ist sich die Koalition einig. Im Ergebnis der Koalitionsverhandlungen haben wir durchaus Schritte getan, die sich sehen lassen können:
({46})
- Hören Sie erst einmal zu!
Das Ausländerrecht wird novelliert. Das Amt der Ausländerbeauftragten wird gesetzlich geregelt - ein besonderes Kompliment an Frau Schmalz-Jacobsen, die diesem wichtigen Amt Profil gegeben hat.
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- Wenn Sie es für notwendig halten, dazu höhnische Bemerkungen zu machen: bitte. Ich finde, daß die Arbeit von Frau Schmalz-Jacobsen wahrhaftig hervorragend war und daß sie sich des Beifalls und der Unterstützung des ganzen Hauses sicher sein kann, die sie verdient.
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Es wird eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts geben. Im Einbürgerungsverfahren werden Ermessensentscheidungen durch Rechtsansprüche ersetzt. Die Möglichkeiten einer Regelung zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung werden wir untersuchen.
Im übrigen rufe ich, wie so oft nach drinnen und draußen,
({49})
Ihnen hier im Deutschen Bundestag erneut zu, daß von diesem Land nie mehr Ausländerfeindlichkeit, Ausländerhaß und Antisemitismus ausgehen dürfen. Sorgen wir gemeinsam dafür, daß das nie mehr möglich ist!
({50})
Auch die Kinderstaatszugehörigkeit ist ein Schritt nach vorne.
({51})
- Hören Sie bitte erst einmal zu.
Wir haben uns sehr ernsthaft mit dem Kinderstaatszugehörigkeitsproblem beschäftigt, das im Zusammenhang mit Art. 16 und Art. 6 nicht unerhebliche Rechtsprobleme aufweist. Unter anderem diese Rechtsprobleme waren es, die in mancher Beziehung nur schwer überwindbar waren und zu der Einrichtung der Kinderstaatszugehörigkeit geführt haben. Ich muß Ihnen deutlich und klar sagen: Ich verwehre mich gegen diejenigen, die gerade diesen Punkt zum Gegenstand billiger Polemik machen wollen. Dafür ist die Sache zu ernst. Dafür haben wir zu sehr darum gerungen! Dafür gab es zu große rechtliche Probleme. Dafür ist zu wichtig, was jetzt für ausländische Kinder in der dritten Generation in Deutschland, erreicht worden ist.
({52})
In diesen Zusammenhang gehört auch die Bekämpfung der nationalen und der internationalen Kriminalität.
({53})
Es ist schon darüber gesprochen worden: Das Organisierte Verbrechen, Drogen- und Menschenhandel, Geldwäsche bedrohen unsere offene Gesellschaft. Stand früher der Schutz der Freiheitsrechte des einzelnen vor dem Zugriff eines übermächtigen Staates im Vordergrund, so geht es heute vielfach darum, unseren Bürgern das Gefühl zu geben, daß der Staat in der Lage ist, ihnen Schutz vor allem dann vor neuen und bisher nicht gekannten Verbrechensformen zu gewähren. Die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats, auf den wir stolz sind, dürfen dabei aber nicht über Bord gehen.
({54})
Gerade in Zeiten, in denen die innere Sicherheit sehr im Vordergrund steht, müssen wir Augenmaß und rechtsstaatliche Sensibilität bewahren.
Aber natürlich kann es nicht richtig sein - da waren und sind wir uns einig -, daß es ausgerechnet die Drogenhändler und Mafiabosse sind, die vom Wegfall der Zollschranken in Europa profitieren sollen. Der Kampf gegen das internationale Verbrechen läßt sich national nicht mehr gewinnen. Deshalb kann EUROPOL, bei dem wir zugegebenermaßen nur sehr langsam vorankommen
({55})
- es liegt aber nicht an uns Deutschen, sondern an anderen hier in Europa - nur ein Anfang sein. Wenn wir ernst machen wollen, brauchen wir eine neuartige weltweite Allianz gegen das Verbrechen.
Meine Damen und Herren, wo sind die Prioritäten für die deutsche Außenpolitik in den nächsten vier Jahren? Ich nenne vier Schwerpunkte.
Erstens. Unser wichtigstes Ziel bleibt die Schaffung einer handlungsfähigen und bürgernahen Europäischen Union. Wir wollen, daß Europa in der Welt mit einer einzigen Stimme auftreten und sich Gehör verschaffen kann. Deshalb brauchen wir weiterhin den engen Schulterschluß mit Frankreich. Ich frage mich tatsächlich, Herr Scharping, wo es da Probleme geben soll. Nun mache ich schon seit über zweieinhalb Jahren Außenpolitik in engstem Schulterschluß mit den Franzosen, doch die Probleme, die Sie - er ist leider nicht da - geisterhaft geschildert haben, sehe ich nicht.
({56})
Ich würde gerne von Ihnen in einem Privatissimum hören, wo es diese Probleme geben soll.
Daß Frankreich mit uns zusammen Achse und Motor dieser europäischen Einigung bleiben muß, darüber sind wir uns Gott sei Dank einig.
Wir wollen den Vertrag von Maastricht in all seinen Teilen einschließlich der Wirtschafts- und Währungsunion umsetzen und unsere mittel- und osteuropäischen Partner mit dem Ziel der Mitgliedschaft immer enger an die Europäische Union heranführen.
Wir wollen vor allem ein Europa der Bürgernähe. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darüber gesprochen, daß gerade in letzter Zeit so unsinnige Dinge wie ein einheitlicher Asbestanzug für sämtliche Feuerwehren in Europa eingeführt worden sind. Als ob das nicht jede Gemeinde selbst regeln könnte!
({57})
Ich füge hinzu: Die Bürger mögen diesen Blödsinn und diese Regelungswut aus Brüssel nicht mehr. Deshalb müssen wir Abhilfe schaffen.
({58})
- Schreien Sie doch nicht so laut!
In zwei Wochen werden wir Bilanz ziehen, was unsere Präsidentschaft anbelangt. Entgegen dem, was Sie vorher geäußert haben - ich verstehe ja, daß Sie all das miesmachen wollen -, werden wir uns mit dieser Bilanz draußen sehen lassen können. Sie werden feststellen, daß wir dafür in Europa und international Anerkennung bekommen werden, und zwar klare Anerkennung!
Herr Minister Kinkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Nein, bitte nicht; ich möchte im Konzept bleiben.
({0})
- Nein, das ist nicht peinlich. Ich bin gern bereit, mich mit Ihnen nachher zu unterhalten.
({1})
Auch künftig werden alle Mitglieder der Union gleichermaßen gebraucht, die kleinen wie die großen, und allen Mitgliedern müssen alle Felder gemeinsamer europäischer Politik gleichermaßen offenstehen.
Zweitens. Wir brauchen ein System europäischer und transatlantischer Sicherheit, das die Vereinigten Staaten weiterhin fest an Europa bindet und andererseits Rußland nicht ausgrenzt. Das europäisch-amerikanische Verhältnis bedarf gerade jetzt aufmerksamer Pflege.
Ich sage nochmals: Das transatlantische Verhältnis ist weit mehr als ein rein militärisches Zweckbündnis. Die Wertegemeinschaft, die uns mit den USA verbindet, ist ein Grundelement unseres außenpolitischen Selbstverständnisses.
Die NATO bleibt unentbehrlich zentrales Fundament unserer Sicherheit. Ihre Kernfunktionen dürfen nicht ausgehöhlt und ihr innerer Zusammenhalt darf nicht geschwächt werden.
Ein Wort zu Jugoslawien. Es ist heute von der NATO im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Bihac-Zone ein zweiter Angriff geflogen worden. Was im früheren Jugoslawien nach wie vor an Schreckli80
chem geschieht, ist und bleibt eine Schande für Europa.
Es bleibt dabei: Es gibt keine Alternative zu dem Friedensplan der Europäischen Union. Militärische Aktionen allein können den Frieden in dieser Region jedenfalls nicht bringen. Wir müssen alles, wirklich alles tun, um den Menschen humanitär zu helfen und den Zusammenhalt der Kontaktgruppe aufrechtzuerhalten.
Ich habe für den 2. Dezember die Außenminister der Kontaktgruppe nach Brüssel eingeladen, und ich werde am Samstag mit dem russischen Außenminister Kosyrew in Bonn zusammentreffen, um diese Fragen vorzubereiten.
Die Aggressoren müssen wissen - ich hoffe, daß dieses Hohe Haus das unterstützt -, daß die NATO bereit und fähig ist, wenn notwendig, militärisch zu handeln. Sie hat das heute erneut gezeigt. Diejenigen, die bei den bosnischen Serben Verantwortung tragen - an der Spitze Herr Karadzić -, müssen wissen, daß es nicht richtig sein kann, daß eine Million Menschen, angeführt von einer verbohrten Führerschaft im militärischen und politischen Bereich, die Welt drangsaliert und in Atem hält. Das kann und darf nicht richtig sein.
({2})
Die Angriffe auf Bihać müssen unverzüglich beendet werden. Auch mein Appell an Karadzić und seine Helfer in Pale ist: Akzeptieren Sie endlich den Friedensplan und stellen Sie sich nicht auf Dauer außerhalb der Staatengemeinschaft!
Die schrittweise Erneuerung der NATO muß in engem Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union und der WEU stehen. Innerhalb der EU darf es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben. Wir können nicht unsere wirtschaftlichen und sozialen Geschicke mit neuen Partnern verflechten, diese aber zugleich sicherheitspolitisch ausgrenzen.
Umgekehrt sind neue Sicherheitsgarantien wenig glaubwürdig, wenn sie nicht durch ein solides Fundament politischer, wirtschaftlicher und kultureller Gemeinsamkeiten untermauert werden.
Auch das neue Rußland muß seinen legitimen Platz in dieser neuen Ordnung finden. Wir müssen dafür sorgen, daß die Staaten, die der NATO nicht beitreten wollen oder können, das Bündnis als Sicherheitspartner und nicht als Gegner betrachten. Denn ohne Rußland wird es keine kooperative Friedensordnung in Europa geben. Im Hinblick auf diese neue Ordnung bleibt für uns die KSZE ein ganz unentbehrlicher Pfeiler,
({3})
den wir weiter verstärken wollen und in bezug auf den wir in Budapest dazu beitragen wollen, daß neue Ideen, die auch von uns kommen, durchschlagen.
Wir brauchen drittens eine funktionsfähige UNO. Wir brauchen Instrumente zur Konfliktprävention, zur
Bewältigung der globalen Herausforderung und zur Friedenserhaltung, ebenso wie zur Sicherung der Menschenrechte. Mit Beginn des kommenden Jahres wird Deutschland für zwei Jahre einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat der UN einnehmen. Wir haben damit die Chance, uns in gewissem Sinne auf einen ständigen Sitz vorzubereiten, den wir ja gemeinsam wollen und bei dem ich sicher bin, daß wir ihn in absehbarer Zeit, allerdings nicht schnell und nicht in den nächsten Jahren, direkt erhalten werden. Schon jetzt wird im UNO-Rahmen weit mehr als bisher von uns erwartet, bei der Förderung demokratischer Strukturen, bei der Konfliktprävention, bei Wahlbeobachtungen, insbesondere bei der humanitären Hilfe. Gerade hier vertraue ich auf die Bereitschaft des Deutschen Bundestages, uns Mittel, die dem ständig weiterwachsenden Bedarf entsprechen, zur Verfügung zu stellen.
Deutschland wird auch künftig gut beraten sein, wenn es dem Erhalt des Friedens weiterhin vor allem mit nichtmilitärischen Mitteln dient. Dabei wird es auch bleiben, schon deshalb, weil man mit Panzern und Raketen keine Schulen errichten und keine Brunnen bohren kann.
({4})
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, mit einer Schönwetteraußenpolitik allein ist es eben nicht getan. Wir können nicht mehr Mitsprache fordern und uns dann verstecken, wenn von uns ein Engagement gefordert wird, wie es unsere Freunde und Partner schon jahrelang auch für uns leisten.
({5})
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat für unsere Soldaten endlich Klarheit geschaffen. Auf unsere Bundeswehr kommen neue Aufgaben und Risiken zu. Nicht nur in Somalia haben unsere Soldaten gezeigt, daß sie sich schnell und gut in neue, wichtige Rollen hineinfinden. Wir sind stolz auf unsere Bundeswehr. Sie war und bleibt Garant von Frieden, Freiheit und Demokratie. Dafür gebührt ihr Dank, und dafür verdient sie Ihre Unterstützung.
({6})
Zu den Menschenrechten: Respekt vor den Menschenrechten ist die notwendige Voraussetzung für Frieden, kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt. Diese gesellschaftliche Vielfalt ist für mich nicht Gefahr, sondern Bereicherung. Ich bin überzeugt: Der Zusammenprall der Kulturen, den einige voraussagen und den man vielleicht ja auch in gewissen Bereichen befürchten muß, ist keineswegs unabwendbar.
({7})
Gerade deshalb brauchen wir das klare Bekenntnis zu universal gültigen Menschenrechten. Das meine ich, wenn ich von „wertorientierter Außenpolitik" spreche.
Die unsäglichen „ethnischen Säuberungen" sind Schandflecke des internationalen Friedens. Deshalb ist es dringend notwendig, daß wir die Instrumente zur
Durchsetzung dieser Menschenrechte schaffen und stärken.
Schließlich brauchen wir ein liberales Weltwirtschaftssystem, das dem Kampf gegen den Protektionismus verpflichtet bleibt. Wenige Länder sind vom Außenhandel derart abhängig wie Deutschland: Unsere Außenhandelsintensität pro Kopf ist fast doppelt so hoch wie die Japans oder der USA. Bei uns wird jede vierte Mark im Export verdient. Als bedeutende Handelsnation brauchen wir offene Weltmärkte wie der Fisch das Wasser. Der Wettbewerb um Absatzmärkte und technologische Innovationen wird härter werden. Wir wollen keine Festung Europa; wir wollen aber auch keine Festung Asien-Pazifik.
Ich komme zum Schluß.
Meine Damen und Herren, in letzter Zeit ist viel über Macht- und Interessenpolitik geschrieben und geredet worden. Natürlich verfolgt Deutschland seine Interessen wie jeder andere Staat. Wir können unsere Interessen aber dann am besten durchsetzen, wenn wir erkennen, daß sie mit denen unserer Nachbarn untrennbar verflochten sind.
({8})
- Ja, daß niemand Angst vor uns hat. - Macht und Einfluß in der Welt beruhen heute nicht mehr primär auf der Fähigkeit, mit militärischer Macht zu drohen, sondern auf den kreativen Ressourcen, auf der Fähigkeit, zur Bewältigung globaler Herausforderungen beizutragen.
Wer über Gewaltmittel verfügt, wird gefürchtet, wer aber Vertrauen erwirbt und Investitionen in die Zukunft erbringt, wird als Partner gesucht und geachtet. Das wollen wir sein. Faire Partnerschaft, gleichberechtigte Kooperation, Vertrauensbildung, Freiheit und die Herrschaft des Rechts und der Demokratie sind die außenpolitischen Leitbilder, denen sich diese Bundesregierung verpflichtet fühlt.
({9})
Im Inneren ist es aber das Gleichgewicht von Liberalität und Gemeinsinn, Leistung und sozialer Verantwortung, das den großen Erfolg unseres Landes nach dem Krieg ausgemacht hat. Diesen Erfolg wollen wir durch einen neuen Aufbruch in eine neue Zeit hineinführen. Dafür sind wir angetreten, und das werden wir auch gemeinsam schaffen.
({10})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der 12. Legislaturperiode zog die PDS auf Grund eines spezifischen Wahlrechts mit 17 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag ein. Alle anderen Parteien haben sich in den letzten vier Jahren reichlich Mühe gegeben und mit allen Mitteln versucht, den Wiedereinzug der PDS in den Deutschen Bundestag nach Wegfall dieser spezifischen Regelung zu verhindern. Dies ist bekanntlich nicht
gelungen. Da samma wieder, und diesmal mit 30 Abgeordneten.
Nun könnte man natürlich davon ausgehen, daß eine Gruppe mit 30 Abgeordneten parlamentarisch mehr Rechte hat als eine mit 17 Abgeordneten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Dafür will ich einige Beispiele nennen.
Pro Parlamentsstunde steht uns eine Redezeit von fünf Minuten zu. Das hat sich nicht geändert. Am Anfang der 12. Legislaturperiode durften wir unsere Redezeit bei längeren Debatten so zusammenziehen, daß ein geschlossener Vortrag von 20 Minuten möglich war. Dies wurde dann geändert, und wir durften bei längeren Debatten nur noch 15 Minuten sprechen - wie gesagt, bei 17 Abgeordneten. Heute ist mir bei einer vorgesehenen neunstündigen Debatte nur noch eine maximale Redezeit von 10 Minuten eingeräumt worden; insofern lohnt es sich ohnehin kaum.
({0})
Bemerkenswert ist, daß diese Initiative im Ältestenrat vom parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, Herrn Struck, ausging und daß der parlamentarische Geschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem stillschweigend zugestimmt hat. Denn sie dürfen ja die Redezeit von über vier Stunden zusammenfassen. Aber gerade er war es, der sich in der letzten Legislaturperiode, als auch die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN davon betroffen war, vehement dafür einsetzte, daß die Gruppen die Möglichkeit erhalten, ihre Redezeiten auch zusammenhängend zu nutzen.
({1})
Er begründete das hier in einer öffentlichen Debatte mit dem Schutz von Minderheitenrechten. Nun stellt sich aber heraus: Es ging doch nur um die eigenen Rechte und nicht um ein generelles Plädoyer für Minderheitenrechte.
({2})
Das Besondere besteht also darin, daß die Initiative von der SPD ausgeht, die GRÜNEN dazu schweigen und CDU/CSU und F.D.P. selbstverständlich begeistert zustimmen.
Diese ganze Kleinkariertheit, diese mangelnde Souveränität und Gelassenheit begleitet uns nun seit dem ersten Tag dieses 13. Bundestages. Es begann mit der Arroganz der Macht gegenüber dem Alterspräsidenten dieses Bundestages, Stefan Heym. Es setzt sich dadurch fort, daß erstmalig im Regierungsbulletin die Rede des Alterspräsidenten nicht veröffentlicht wird. Es zeigt sich darin, daß wir in diesem Saal kleinlich in die zweite Reihe verdammt werden, und darin, wie selbstverständlich entschieden wurde, daß uns entgegen dem bisherigen Rechnungsmodell im Bundestag weder ein Ausschußvorsitz noch ein stellvertretender Vorsitz übertragen wird. Das wird sich fortsetzen, wenn es um die Frage des Fraktionsstatus oder um andere Fragen geht.
Aber, meine Damen und Herren, wir sind an die Beschränkung unserer Rechte gewöhnt und werden auch in Zukunft damit umgehen. Letztlich fallen diese
Methoden immer auf die Verursacher zurück; denn diejenigen, die uns gewählt haben, wissen schon, daß sie damit gemeint sind. Es werden ja die Rechte ihrer Vertreterinnen und Vertreter eingeschränkt.
({3})
Dann wird gesagt, es gehe um Integration. In der Praxis jedoch geht es nur um Ausgrenzung und um nichts anderes.
Da können Sie auch nicht zwischen uns einerseits und unseren Wählerinnen und Wählern andererseits splitten und teilen. Das wird nicht funktionieren.
Zu alledem gehört auch die Zerstörung der politischen Kultur. Das Spiel von Heckelmann und Kanther im Vorgriff auf die Eröffnung des 13. Bundestages war gesetzwidrig und abenteuerlich.
Heute muß sich ein Mann wie Stefan Heym mit seiner Biographie für irgendein imaginäres Telefongespräch aus dem Jahre 1966 rechtfertigen. Aus seinem privaten Tagebuch, das ihm die Staatssicherheit gestohlen hatte und das jetzt wiederum aus seiner Opferakte gestohlen worden ist, wird im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zitiert - so weit sind wir runtergekommen -, und das bei seiner Biographie, die einigen in diesem Saal nicht paßt, weil er nicht bis zum „Endsieg" wie Sie, Herr Dregger, gekämpft hat, sondern weil er die Waffe gegen den deutschen Faschismus in die Hand genommen hat. Das ist die Tatsache.
({4})
Jetzt komme ich zum Thema. Jetzt ist nur noch wenig Zeit für die Regierungserklärung. Aber es war ja auch insgesamt wenig Zeit. Da die Regierungserklärung auch nicht so gewichtig war, kommt es auch nicht darauf an, daß man viel Zeit darauf verwendet.
({5})
Wahr ist schon: Wir stehen vor riesigen Herausforderungen. Sie haben viel von Zukunft gesprochen, Herr Bundeskanzler. Aber ohne Visionen gibt es keine Zukunft.
Ich füge hinzu: Wir stehen vor großen Herausforderungen, die neue Antworten erfordern. Aber im Grunde genommen wollen Sie so weitermachen wie bisher. Das Ganze ist Rumgewurschtel, und so wird es nicht funktionieren. Offensichtlich trägt auch die knappe Mehrheit dazu bei. Wenn man aber so viele Stimmen verliert und nur noch knapp regieren kann, wäre doch die Stunde der Selbstkritik gekommen, in der man sich überlegen muß, was man anders als bisher machen muß. Ich habe davon im wesentlichen nichts festgestellt.
({6})
Da, wo Sie etwas andeuten, sagen Sie, Sie wollen prüfen. Wie lange denn noch? Sie regieren doch schon seit zwölf Jahren.
({7})
Sie hätten doch längst prüfen können, um jetzt die Veränderungen herbeizuführen.
Lassen Sie mich etwas zu Ihren Stichworten sagen: Schlanker Staat - das klingt ja gar nicht schlecht. Entbürokratisierung ist wichtig. Ich komme aus einem Land, wo die Bürokratie wirklich irrsinnige Blüten trieb. Das ist alles wahr. Nun bin ich aber in ein Land gekommen, wo die Bürokratie noch irrsinnigere Blüten treibt. Das hätte ich mir gar nicht vorstellen können.
({8})
- Ja, das ist doch richtig. Der Unterschied wird doch gar nicht geleugnet.
Wissen Sie, was das Problem ist? Wenn Sie sich das genau ansehen, dann geht es tatsächlich gar nicht um Entbürokratisierung, sondern um zwei andere Dinge. Sie wollen den Staat aus seiner Verantwortung entlassen, für ökologische Umgestaltung und soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Das nennen Sie dann einen schlanken Staat.
({9})
Das ist aber ein Staat, der seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Das ist etwas völlig anderes als ein schlanker Staat.
({10})
Sie wollen Bürgerrechte einschränken. Ein Beispiel - und jetzt wird das wahr, was ich vor vier Jahren angekündigt habe -: Sie benutzen den Osten als Testfeld. Dort haben Sie das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz eingeführt, um zu sehen, wie es funktioniert, wenn man Bürgerinnen und Bürgern wesentlich weniger Rechtsmittel gibt. Jetzt sagen Sie, das hat so wunderbar funktioniert, da kann man schon nach sechs Wochen eine Autobahn bauen, das wollen wir auch im Westen haben. Deshalb werden Sie den Rechtsmittelabbau auch im Westen fortsetzen.
({11})
Aber das ist kein schlanker Staat, sondern das ist ein Staat mit weniger Rechten für Bürgerinnen und Bürger und Demokratieabbau. Das ist bestimmt nicht der Ansatz zur Lösung der Probleme, vor denen wir stehen.
({12})
Ein Zweites: Sie sprechen vom Umbau des Sozialstaates. Das ist eine vornehme Formulierung. Wenn man aber genau hinsieht, geht es um den Abbau des Sozialstaates. Soweit Sie Anträge usw. entbürokratisieren wollen, haben wir nichts dagegen. Wo steht denn eigentlich geschrieben, daß ein Antrag auf Sozialhilfe, auf Wohngeld oder Kindergeld derartig kompliziert und umfassend sein muß, daß man zwei Hochschulabschlüsse braucht, um den bloß ausfüllen zu können, und daß man den dann auch noch permanent wiederholen muß, weil ein tiefes Mißtrauen gegen die eigene Bevölkerung besteht?
Da könnten Sie wirklich Bürokratie abbauen. Aber das machen Sie ja nicht. Nein, Sie wollen den SozialDr. Gregor Gysi
staat umbauen. Wenn man sich das genau ansieht, geht es um zunehmende soziale Kälte. Es geht darum, daß Sie z. B. die Arbeitslosen, die Arbeitslosenhilfeempfängerinnen und -empfänger und vor allem die Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger benachteiligen wollen.
Ich sage Ihnen: Ich finde es unerträglich, wie hier immer Polemik gegen die Ärmsten in der Gesellschaft gemacht wird, indem ihnen immer in Nebensätzen vorgeworfen wird, daß sie eigentlich zum Arbeiten zu faul sind und nicht bereit sind, sich an den Leistungen dieser Gesellschaft zu beteiligen, nachdem diese Gesellschaft ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten vorenthält.
({13})
Das ist doch die entscheidende Tatsache.
Sie sagen, Sie wollen straffen. Was heißt denn Leistung straffen? Das heißt doch eigentlich kürzen und nichts anderes. Sprechen Sie das doch wenigstens direkt aus.
({14})
Dann wollen Sie Arbeitszwang für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger einführen und drohen mit Leistungskürzung, wenn dem nicht gefolgt wird. Das alles finde ich in einer Gesellschaft ziemlich schlimm, die so reich ist wie unsere und in der man im Grunde genommen die wirklich Vermögenden, die Reichen und die Besserverdienenden, auch zu mehr Solidarität bewegen könnte, wenn man sich wenigstens die Mühe geben würde, sie an ihre Verantwortung zu erinnern, statt immer Entschuldigungen dafür zu finden, daß sie nicht solidarisch sein müssen, weil angeblich die Armen in dieser Gesellschaft eh faul sind und ihre Solidarität nicht verdient haben. So stellen Sie das immer wieder dar.
Jetzt nenne ich noch ein Beispiel -ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung genau angesehen -: Wohnen und Mieten. Da schlagen Sie vor, daß das Bauen billiger werden muß. Darüber kann man ja reden. Aber das ist doch zunächst nur eine Leistung für den Vermieter. Wo folgt denn dann der Vorschlag, daß Sie auch garantieren, daß bei billigerem Bauen wirklich die Mieten billiger werden? Wo sind überhaupt die Vorschläge für sozialverträgliche Mieten?
({15})
Davon steht in Ihrer Vereinbarung gar nichts drin. Schauen Sie sich die an.
Sie wollen ein einheitliches Wohngeld. Wissen Sie, was drin steht? Sie wollen die Vergleichsmiete im Osten 1995 einführen. Haben Sie auch den Menschen im Osten einmal gesagt, was für eine Miete damit auf sie zukommt, welche Steigerungen damit verbunden sind? Ich sehe doch, wie das heute organisiert wird. Schauen Sie sich einmal den Prenzlauer Berg an: an jeder dritten Ecke eine ganz teure Oase. Das wird dann alles in die Vergleichsmieten einbezogen. Und dann werden die auch heute noch relativ niedrigen
Mieten natürlich drastisch angehoben werden. Das ist die Tatsache.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel sagen, es geht um Massenarbeitslosigkeit. Was tun Sie denn nun wirklich dagegen? Wo sind denn die großen Reformen? Ich will nur vier Dinge nennen, die wir unbedingt ändern müßten. Das wissen Sie auch; kein Wort davon in der Regierungserklärung.
Erstens. Wenn Sie das Verhältnis von Finanz- und Produktionskapital nicht ändern, werden wir kein Investitionsklima erreichen. Solange es sich in erster Linie lohnt, sein Geld und seinen Gewinn zur Bank zu bringen, und dort die höhere Rendite erwirtschaftet wird als in der Wirtschaft, wird niemand in die Wirtschaft investieren. Sie müssen das Finanzkapital entprivilegisieren. So müßte eine Steuerreform aussehen. Nichts davon in Ihren Vorschlägen.
({16})
Zweitens. Sie müßten bereit sein, die Lohnnebenkosten ganz anders zu berechnen, und zwar genau nicht mehr nach der Zahl der Beschäftigten, sondern endlich nach Umsatz und Gewinn, so daß ein Unternehmen mit vielen Beschäftigten belohnt wird im Vergleich zu einem Unternehmen mit hohen Gewinnen, aber wenig Beschäftigten. Jetzt ist es umgekehrt. Sie bestrafen indirekt immer Beschäftigung, weil das die Einnahmen des Unternehmens reduziert. Ändern Sie das Abgabenrecht. Sorgen Sie dafür, daß in die Versicherungssysteme nach Umsatz und Gewinn eingezahlt wird und nicht länger nach den Lohnkosten und nach der Zahl der Beschäftigten, um hier wirklich eine Umgestaltung zu erreichen.
Drittens brauchen wir mehr soziale Gerechtigkeit, um die Kaufkraft zu erhöhen und damit es aufhört, daß die einen, die Reichen nämlich, immer reicher werden und wir uns andererseits an Armut gewöhnen, die Sie dann mit mehr Polizei beherrschen wollen.
Viertens brauchen wir eine tiefgreifende ökologische Umgestaltung. Dazu hat Joschka Fischer gesprochen. Ich sage hier dazu nichts, weil die Zeit dafür nicht reicht.
({17})
- Es tut mir leid. Sie haben Ihren Beitrag mit dazu geleistet, daß wir nur zehn Minuten sprechen dürfen.
Ich sage Ihnen als letztes: Auch was Sie an Integrationsvorschlägen für den Osten gemacht haben, ist völlig unbefriedigend. Keine Aussage, wann die Gehälter und Löhne in Ost und West endlich angeglichen werden sollen. Keine Aussage, wie Sie die Ostdeutschen vor erhöhten Mieten schützen wollen.
Keine Aussage darüber, wie Sie Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen wirklich erhalten oder aufbauen wollen. Sie wollen plötzlich die Industrieforschung wieder entwickeln, nachdem Sie sie im Osten schon fast auf Null gefahren haben.
({18})
Keine Aussage darüber, wie Sie konkret den Mittelstand fördern wollen.
Und keine Aussage darüber, wie Sie das politische Strafrecht im Rentenrecht beseitigen wollen. Alle haben das im Wahlkampf angekündigt. Was steht in der Koalitionsvereinbarung? Wir wollen es prüfen. Alles. Keine Aussage, wann und in welchem Umfang politisches Strafrecht im Rentenrecht abgeschafft wird.
({19})
Herr Gysi, trotzdem ist Ihre Redezeit beendet.
In Ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus und Kulturlosigkeit fällt Ihnen nichts anderes ein als eine lächerliche doppelte Staatsbürgerschaft für Kinder, für eine so begrenzte Gruppe von Menschen, daß Sie sich schämen sollten, das als liberalen Ansatz hier überhaupt zu verkaufen.
({0})
Ich möchte für das Präsidium noch einmal klarstellen: Uns liegt die Information vor, daß die Redezeit unter den parlamentarischen Geschäftsführern vereinbart worden ist.
({0})
- Entschuldigen Sie. Wir sind auch in der Vergangenheit so vorgegangen. Wenn das heute streitig gestellt ist, muß es im Ältestenrat besprochen werden.
Das Wort zur Kurzintervention hat zunächst Herr Schulz.
Kollege Gysi, ich möchte mit aller Deutlichkeit klarstellen, daß wir uns in keinster Weise an einer Diskriminierung Ihrer Bundestagsgruppe beteiligen. Das gilt hinsichtlich der Zusammenlegung der Redezeiten, der Anerkennung des Fraktionsstatus und auch in der Frage, wo und wie Sie sitzen.
({0})
Wenn es nach uns ginge - hören Sie doch wenigstens zu -, dann sollten Sie hier mit vollen parlamentarischen Rechten arbeiten.
Ich lasse aber nicht zu, daß Sie, bevor Sie Ihre eigenen Geschichtslügen geklärt haben, hier bereits neue Legenden in Umlauf bringen.
({1})
Herr Müller, bitte.
Herr Schulz, Sie werden doch wohl bestätigen, daß ich gestern mit meiner Forderung - mindestens 15 Minuten - völlig alleine gestanden habe und mich niemand unterstützt hat. Insofern war das, was heute früh zwischen Herrn
Fischer und mir klar war, gestern im Ältestenrat eben nicht klar.
({0})
Als nächster spricht der Abgeordnete Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich auf den außenpolitischen Teil der Regierungserklärung und der bisherigen Debatte beschränken und zunächst folgendes sagen: Eine außenpolitische Betrachtung an der Schwelle des Jahres 1995 macht sehr schnell deutlich, daß deutsche Außenpolitik unter anderen Voraussetzungen und Bedingungen und vor einem anderen historischen Hintergrund betrieben werden muß als die Außenpolitik anderer Länder.
Ich habe hier allein die Liste der Gedenktage der ersten fünf Monate des Jahres 1995 liegen. Ich will Ihnen ein paar nennen: 5. Januar Julius Leber ermordet; 26. Januar KZ Auschwitz befreit; 2. Februar Carl Friedrich Goerdeler ermordet; 4. Februar Konferenz von Jalta; 13. Februar Zerstörung Dresdens. All dies geschah jeweils vor 50 Jahren. Das geht weiter bis zum 8. Mai, Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima am 6. August 1945.
Wir werden uns ja mit all diesen Daten im nächsten Jahr zu beschäftigen haben. Ich möchte aus gemachter Erfahrung mit einer Bitte beginnen: Unser Umgang mit unserer eigenen Geschichte ist nicht immer von besonderer Sensibilität geprägt gewesen. Es wäre gut, wenn wir uns darauf verständigten, dieses ganz besondere Jahr 1995, gerade auch wegen der hohen außenpolitischen Bedeutung, die diese Gedenktage haben, so zu gestalten, daß sich rechtzeitig Regierung, Parlament, Parteien und gesellschaftliche Gruppen darüber verständigen, wie wir mit diesen Gedenktagen umgehen wollen.
({0})
Es ist eigentlich bedauerlich, daß man eine solche Bitte äußern muß, weil es für selbstverständlich gehalten werden sollte. Aber die Regierung hat es in der Vergangenheit eben zu häufig an der notwendigen Sensibilität im Umgang mit diesen Fragen fehlen lassen.
Der SPD-Vorsitzende hat heute morgen in seiner grundsätzlichen Antwort auf die Regierungserklärung darauf hingewiesen, daß dem außenpolitischen Teil der Regierungserklärung im Grundsatz zugestimmt werden kann. Es ist richtig und notwendig, auch in einer solchen Stunde den Konsens in den Grundfragen der Außenpolitik noch einmal herauszuarbeiten, weil wir fest davon überzeugt sind, daß ein Volk, wenn es in Frieden miteinander und mit den anderen leben will, nicht nur Übereinstimmung über die Grundfragen seiner staatlichen, seiner sozialen, seiner wirtschaftlichen und seiner rechtlichen Ordnung haben muß, sondern daß es auch in ÜbereinstimGünter Verheugen
mung in den Grundfragen seiner außenpolitischen Orientierung leben muß.
Wenn wir heute feststellen können, daß wir gemeinsam sagen, die deutsche Zukunft liegt in Europa, es wird keine deutschen Sonderwege mehr geben, dann waren nicht alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang an auf diesem Weg. Das ist ja auch nicht schlimm.
Wenn wir heute feststellen, daß die Atlantische Partnerschaft, die feste Einbindung in das westliche Verteidigungsbündnis für unser Land unverzichtbar geworden ist, dann waren auch nicht alle von Anfang an auf diesem Weg.
Wenn wir feststellen, daß Entspannungspolitik der Weg gewesen ist, der das herbeigeführt hat, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung so herausgehoben hat - den Zustand, daß wir als ein vereintes Land und Volk in Frieden leben mit allen unseren Nachbarn und mit Freunden und Partnern nah und fern gute Beziehungen haben -, dann ist dieses Ergebnis das Ergebnis einer Politik, der auch nicht alle in diesem Hause von Anfang an zugestimmt haben.
({1})
Was mir leider gefehlt hat - auch bei Ihnen, Herr Kollege Dr. Kinkel -, das ist der Hinweis, daß neben den Fragen Europa, atlantische Partnerschaft und neue Ostpolitik die Nord-Süd-Dimension unserer Außenpolitik mindestens genauso wichtig geworden ist, wenn nicht noch wichtiger.
({2})
Ich habe nicht gerne gehört, was Sie, an den Kollegen Fischer gerichtet, gesagt haben: daß sich nicht alles um die Ökologie dreht. Nicht alles dreht sich um die Ökologie. Aber ohne ökologische Rücksicht können Sie heute auch keine Außenpolitik mehr betreiben.
({3})
Wenn Sie nicht verstehen, daß Friedenssicherung, Kooperation, weltweiter ökologischer Umbau und Konfliktprävention zusammengehören, dann werden wir uns an diesem Punkt nicht verstehen.
Unabhängig davon, daß es in den Grundfragen weitgehende Übereinstimmung gibt, muß und darf es in außenpolitischen Fragen auch Streit geben. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode genug davon gehabt. Ich sehe auf Grund dessen, was uns heute vorgetragen worden ist, daß es auch in den vor uns liegenden Jahren eine Menge Gelegenheit zur außenpolitischen und sicherheitspolitischen Auseinandersetzung geben wird. Wir werden diese Auseinandersetzung mit dem Ziel führen, für unser Land einen Weg zu finden, der das sichert, was wir immer als Grundlage unserer deutschen Außenpolitik empfunden haben: Deutschland als ein Ort, von dem immer wieder neue und starke Initiativen zur Schaffung einer dauerhaften friedlichen Weltordnung ausgehen.
({4})
Deutsche Außenpolitik muß in allen ihren Schritten und in allen ihren einzelnen Aktionen erkennbar dem Ziel der Schaffung, der Sicherung und der Erhaltung des Weltfriedens dienen. Dazu gibt es eine Menge von Fragen zu stellen, die in der Regierungserklärung leider nicht beantwortet worden sind.
Wie geht es denn nun weiter mit der europäischen Sicherheit? Wie stellen Sie sich denn nun wirklich die europäische Sicherheitsarchitektur vor? Vor der Bundestagswahl haben wir erlebt, daß der Widerspruch in Ihrer Regierung kurz aufbrach. Dann hat der Bundeskanzler einen Deckel darauf gemacht und Ihnen, Herr Kinkel, und Herrn Rühe ein Redeverbot erteilt. Aber wir möchten doch nun einmal gerne wissen: Wie ist das denn nun mit der Zukunft der NATO und ihrer Osterweiterung? Soll das denn nun schnell gehen? Wer soll dabeisein? Wo soll die Ostgrenze der NATO sein? Oder soll es nur in Verbindung mit der Osterweiterung der Europäischen Union geschehen? Soll es vielleicht in zehn Jahren angefaßt werden? Wie denken Sie sich das?
Wie stellen Sie sich vor, daß unsere Partner die Ausdehnung der Sicherheitsgarantie der NATO auf osteuropäische Länder gestalten wollen und wir mit ihnen, solange nicht klar ist, wie Rußland in die europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt eingebunden wird? Ich war etwas erstaunt darüber, daß heute morgen in dem außenpolitischen Teil der Reden so wenig von Rußland die Rede war. Man hat fast das Gefühl gehabt, als bestünde hier die Auffassung, daß Rußland gar nicht zu Europa gehört.
({5})
- Ich habe sehr gut zugehört.
So richtig das mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei alles ist: Die entscheidende Frage ist doch die: Gelingt es uns, eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die nicht gegen irgendwen gerichtet ist, die nicht irgendwer als ein Instrument verstehen muß, das ihn bedroht oder das andere vor ihm schützen soll, die also eine neue sicherheitspolitische Spaltung in Europa bedeuten würde, oder gelingt es uns, in Europa ein Sicherheitssystem zu schaffen, das alle einbezieht und ganz besonders auch Rußland?
({6})
Deshalb hätte ich mir gewünscht, daß in der Regierungserklärung etwas mehr Gewicht auf die Möglichkeiten gelegt worden wäre, die die KSZE bietet. Die KSZE - ein Instrument, das bald zwanzig Jahre alt ist; ursprünglich auch umkämpft - hat einen ganz wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß Konflikte in Europa frühzeitig erkannt und friedlich geregelt werden können. Es wurde eine Menge von Instrumenten entwickelt, von denen wenig die Rede ist. Ich will jedoch einmal erwähnen, daß es schon heute eine Anzahl von erfolgreichen und wichtigen KSZE-Missionen gibt.
Ich wünschte mir, daß von unserer Regierung mehr Initiative ausginge, die KSZE in ihren Instrumenten, in ihren Institutionen und in ihren rechtlichen Grundlagen weiter auszubauen. In der KSZE haben wir den sicherheitspolitischen Rahmen, der ganz Europa und
Nordamerika einbezieht. Ich möchte sehr davor warnen, eine Politik zu betreiben, die in einseitiger Fixierung auf die NATO oder auf die Europäische Union und der damit notwendigerweise verbundenen Grenzziehung irgendwo - wo immer diese Ostgrenze sein wird; aber irgendwo wird sie sein - die Möglichkeiten außer acht läßt, die uns die KSZE bietet: am Ende eben doch zu einem ganz Europa umfassenden System gegenseitiger Sicherheit zu kommen.
Ich möchte auch fragen, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, wie die Position der Bundesregierung in den konkreten Fragen der europäischen Zukunft, der Zukunft der Europäischen Union ist.
Herr Verheugen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Nein, ich möchte keine Zwischenfragen zulassen.
Ich höre sehr wohl die deutlichen Bekenntnisse zu Europa. Aber ich war doch schon mehr als irritiert, Herr Dr. Kinkel, daß ausgerechnet Sie, der deutsche Außenminister und Vorsitzende des Rates der Europäischen Union, sich hier hinstellen und Europaverdrossenheit in der Art und Weise fördern, wie ich das sonst nur an deutschen Stammtischen gehört habe. Sie sollten sich nicht hier hinstellen und darüber klagen, daß irgendwo anonym in Brüssel zuviel reglementiert wird, sondern Sie sollten darüber aufklären, wer es in Europa ist, der diese Reglementierungen betreibt.
({0})
Sie haben am allerwenigsten Grund, sich über Reglementierungswut zu beklagen. Denn in Ihrer Hand liegt es, dafür zu sorgen, daß sie nicht stattfindet. Sie sollten die Vermischung von Innen- und Außenpolitik, von der Sie gesprochen haben, nicht so weit treiben, daß Sie wichtige außenpolitische Fragen in den Dienst Ihrer innenpolitischen Bedürfnisse stellen, Herr Außenminister.
({1})
Wenn ich schon bei diesem Thema bin, will ich gleich noch etwas anmerken. Wenn es stimmt, was ich heute in einer großen Tageszeitung gelesen habe, daß Sie die Politik fortsetzen wollen, das Auswärtige Amt als „Entsorgungsanstalt" für ausgediente Politikerinnen Ihrer Partei zu benutzen,
({2})
dann will ich Sie eindringlich davor warnen, das zu tun. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Sie werden Gelegenheit haben, dazu noch Stellung zu nehmen.
({3})
- Dann ist es ja gut. Dann bin ich um so beruhigter.
Dann gehen Sie gar nicht erst auf diesen Weg. Alle
Ihre Vorgänger haben das vermeiden können. Sie sollten nicht damit beginnen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der letzten Jahre und das, was wir heute gehört haben, bestätigen leider etwas, was ich als Vermutung seit langer Zeit habe, als Verdacht seit einiger Zeit und als Gewißheit seit kurzem: daß ein Gesamtkonzept deutscher Außenpolitik unter den völlig veränderten Rahmenbedingungen, den weltpolitisch neuen Bedingungen nicht mehr erkennbar ist. Wir haben eine Außenpolitik, die die Probleme auflistet. Das haben Sie heute wieder getan. Prioritäten haben Sie in Wahrheit nicht gesetzt. Wir haben eine Außenpolitik, die reagiert, bei der ich aber nicht erkennen kann, was sie tut, um vorbeugend zu wirken. Denn es ist ja nicht so, als wüßten wir nicht, welche Fragestellungen, welche Probleme, welche Gefahren, ja welche tödlichen Risiken in der Zukunft auf uns warten. Warum geschieht da nichts? Warum werden die Möglichkeiten der Konfliktvermeidung, der Konfliktprävention, der Früherkennung von Konflikten und der friedlichen Konfliktregelung nicht in den Mittelpunkt der Außenpolitik gestellt?
Ich will ein Beispiel nennen. Sie haben auf den Einsatz der Bundeswehr in Somalia hingewiesen. Auch wir haben der Bundeswehr für das gedankt, was sie in Somalia geleistet hat. Denjenigen, die den Einsatz angeordnet haben, ist allerdings nicht zu danken. Denn sie haben die Bundeswehr in einen Auftrag geschickt, der nicht zu erfüllen war und bei dem auch gar nicht erkennbar war, was er am Ende eigentlich sollte.
({5})
Ich nenne nur die Frage: Wäre es nicht sehr viel klüger, statt, wie im Falle Somalia, alles in allem wohl mehr als 2 Milliarden Dollar auszugeben, um ein in Bürgerkrieg verstricktes Land zu befrieden, rechtzeitig dafür zu sorgen, daß durch eine vernünftige Politik der Entwicklungszusammenarbeit, durch eine vernünftige Politik der internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, durch eine vernünftige Entschuldungsstrategie der Länder der Dritten Welt solche sozialen und ethnischen Konflikte in den Ländern der Dritten Welt gar nicht erst entstehen.
({6})
- Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich beschäftige mich mit diesen Ländern seit vielen Jahren, wahrscheinlich etwas länger als Sie. Und es ist nicht blauäugig, wenn ich Ihnen sage, daß ich vor vier Jahren in diesem Bundestag darauf hingewiesen habe, was in Ruanda und Burundi passieren wird. Es wäre möglich gewesen, etwas zu tun. Heute lesen Sie 'in den Berichten der Agenturen, daß jetzt in Burundi das Massakrieren anfängt. Was hat denn diese Regierung getan? Was hat sie ernsthaft getan, um dafür zu
sorgen, daß dort etwas geschieht, damit es nicht so anfängt?
({7})
Das ist nicht blauäugig, verehrter Kollege, das ist das Erkennen der Tatsachen, mit denen wir es in der Welt zu tun haben.
Wer glaubt, daß das noch viele Jahre so weitergeht, daß wir die Augen vor den Entwicklungen in der Dritten Welt, der Welt, die so zu nennen wir uns angewöhnt haben, fest verschließen, daß wir sie fest vor der Erkenntnis verschließen, was dieses Bevölkerungswachstum, diese Verelendung, diese Zunahme von Menschenrechtsverletzungen und Konflikten bedeutet, wer glaubt, daß wir uns auf eine Wohlstandsinsel zurückziehen könnten, die wir mit neuen Mauern und eines Tages vielleicht mit Stacheldraht gegen die anderen verteidigen, der täuscht sich.
Jetzt müssen wir uns diesen Problemen stellen, meine Damen und Herren, jetzt müssen wir es tun!
({8})
Dazu brauchen wir eine Außenpolitik, die andere Instrumente einsetzt als bisher. Sie haben in Ihrem Auswärtigen Amt den Titel „Demokratisierungshilfe", Herr Kinkel. Dieser Titel ist so lächerlich ausgestattet, und ich weiß, wie wichtig er ist.
({9})
- Nein, nein, wir haben immer mehr verlangt, das können Sie schon glauben.
Diese Demokratisierungshilfe für Länder, die sich in Krisen befinden, ist ganz sicher wichtiger und besser angelegtes Geld - wir sparen am Ende auch noch etwas dabei -, als dann, wenn es zu spät ist, die Bundeswehr oder Verbündete hinzuschicken, die wieder Ordnung schaffen sollen.
({10})
Die internationale Verantwortung unseres Landes, von der in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers die Rede war, ist ein Thema, das uns in der letzten Legislaturperiode vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Einsatz und der Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beschäftigt hat.
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede eine bemerkenswerte Formulierung gebraucht. Er hat gesagt, daß wir uns künftig grundsätzlich an Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit beteiligen werden. Ich wiederhole es noch einmal: daß wir uns grundsätzlich an Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit beteiligen werden. Ich will hier keine Wortklauberei betreiben; aber das Wort Aufrechterhaltung verstehe ich so, daß die Bundesregierung sich dem nähert, was wir schon seit einigen Jahren sagen, daß sich nämlich unsere Mitwirkung darauf beschränken sollte, die Vereinten Nationen bei friedenswahrenden Operationen zu unterstützen. So verstehe ich das Wort „Aufrechterhaltung von Frieden". Wenn Sie etwas anderes
meinen als Aufrechterhaltung von Frieden, dann muß das sehr deutlich gesagt werden. Dann bleibt es dabei, daß an dieser Stelle die Grenze der Konsensbereitschaft liegt.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird in jedem einzelnen Fall, wo Sie die Absicht haben, die Bundeswehr im Rahmen von internationalen Friedensoperationen einzusetzen, prüfen, ob das Mandat politisch so gewertet werden kann, daß die Operation auch zu einem politischen Ziel führt, so daß am Ende wirklich ein stabiler Friede steht.
({11})
Es wird sehr genau geprüft werden, ob deutsche Beteiligung in dem gegebenen Einzelfall zweckmäßig ist. Es kann immer einmal Fälle geben, wo gerade deutsche Beteiligung das genau nicht ist. Und es wird sehr genau geprüft werden müssen, ob auch ein nationales Interesse vorliegt; denn nicht in jedem Fall müssen wir dabeisein, wenn irgendwo in der Welt etwas gemacht werden muß. Das wird zu prüfen sein.
Wir sehen eine unverrückbare Grenze auf jeden Fall dort, wo deutsche Soldaten jenseits der Landesverteidigung oder der Bündnisverteidigung in einen Krieg geschickt werden sollen. Da werden Sie nicht mit der Unterstützung der sozialdemokratischen Partei und Bundestagsfraktion rechnen können, auch in den nächsten Jahren nicht. Wenn Sie das vorhaben - ich hoffe es nicht -, dann werden Sie harte Debatten nicht nur in diesem Parlament, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit erleben.
Ich sage Ihnen noch einmal, was ich schon oft gesagt habe: Es wird von uns auch nicht verlangt, daß wir uns an solchen militärischen Operationen beteiligen. Was der Bundeskanzler gesagt hat, ist richtig: Wir sollen unsere Rechte und Pflichten als Mitglied der Vereinten Nationen erfüllen. Dazu gehört aber nicht, daß wir uns an Kriegen irgendwo in der Welt beteiligen. Das ist weder das Recht noch die Pflicht der Mitglieder der Vereinten Nationen.
({12})
Ich wünschte mir, daß Sie sich etwas mehr mit der Frage beschäftigen würden, wie man die Vereinten Nationen arbeitsfähiger und konfliktlösungsfähiger machen kann, als mit der Frage, wie man die Bundeswehr einsetzen kann. Das ist jahrelang versäumt worden. Die Jahre, in denen die Vereinten Nationen über ihre Reform diskutierten, sind nicht gerade von deutschen Beiträgen bestimmt gewesen. Man kann das nur bedauern.
Die Frage der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat - gegen die ich überhaupt nichts habe; im Gegenteil, ich habe vor Herrn Kinkel schon gesagt, daß es richtig wäre, im Sicherheitsrat vertreten zu sein - haben Sie in den letzten Jahren in den Mittelpunkt Ihrer operativen Außenpolitik gestellt.
({13})
- Aber ja.
Die Grundfragen sind überhaupt noch nicht geklärt. Wie sieht denn die Strukturreform des Sicherheitsrates aus, in dem wir Mitglied sein wollen? Wie wird er regional zusammengesetzt sein? Wie wird das mit den Vetorechten geregelt sein? Wird es Mitglieder erster, zweiter, dritter Klasse in diesem Sicherheitsrat geben oder nicht? Unter welchen Bedingungen wollen Sie eigentlich hinein? Ich rate sehr dazu, diese Frage ein bißchen niedriger zu hängen. Schon heute steht fest, daß die von Ihnen genannten Daten, wann Deutschland ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sein wird, unerreichbar sind. Das wird in diesem Jahrhundert nicht mehr geschehen. Das ist völlig eindeutig.
Besser ist es, wir betreiben eine aktive Politik in den Vereinten Nationen, die sie stärkt und die sicher macht, daß die Vereinten Nationen auch wirklich tätig werden können, daß nicht nur die Probleme vor ihrer Haustür abgeladen werden, aber sie nicht die Mittel und die Instrumente bekommt, um mit diesen Problemen auch umgehen zu können.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Bundeswehr sagen. Die Bundeswehr ist und bleibt für uns nach wie vor das entscheidende Instrument der Landesverteidigung. Die Landesverteidigung ist die ethische und die staatspolitische Begründung für die Existenz der Bundeswehr. Dabei muß es auch bleiben. Es reicht nicht, wenn hinsichtlich der Bundeswehr schöne Lippenbekenntnisse hier abgegeben werden, sondern man muß sich den Zustand der Bundeswehr, insbesondere ihren inneren Zustand, ansehen, um zu begreifen, was hier in den letzten Jahren vernachlässigt worden ist.
Die Angehörigen der Bundeswehr beklagen zu Recht, daß sie keine Planungssicherheit mehr haben. Die Menschen in unserer Bundeswehr - es ist unsere gemeinsame Bundeswehr, nicht die der Regierung -, d. h. die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und deren Familien, haben einen Anspruch darauf, endlich einmal klar von Ihnen zu hören, was eigentlich ihr Auftrag ist, in welcher militärischen Struktur dieser Auftrag erfüllt werden soll, wie sicher ihre Arbeitsplätze, ihre Dienstposten, eigentlich sind, und vor allen Dingen, wann sie endlich für das, was sie tun sollen, angemessen ausgebildet und ausgerüstet werden sollen.
Die Stimmung und die Motivation von Soldaten und zivilen Mitarbeitern in der Bundeswehr ist so schlecht wie noch nie. Deshalb brauchen wir endlich eine Gesamtbestandsaufnahme. Geben wir der Bundeswehr ein konkretes Ziel, und halten wir gemeinsam daran fest. Ich glaube, wir brauchen ein Bundeswehraufgabengesetz, das das regelt.
Ich empfehle Ihnen sehr, meine Damen und Herren von der Koalition: Hören Sie endlich einmal auf den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der seit Jahren mit wachsender Deutlichkeit auf die sozialen Defizite, vor allen Dingen aber auch auf die Führungsmängel innerhalb der Truppe hinweist.
({14})
Wir danken der Bundeswehr für das, was sie für die Integration unseres Landes in den Westen und für die Einheit unseres Landes geleistet hat. Ich möchte aber eines ganz deutlich machen, gerade auch vor dem
Hintergrund des jüngsten Einsatzes der Nato gegen serbische Stellungen: Wir sollen die Soldaten nicht überfordern. Der Frieden ist die Aufgabe der Politik und nicht des Militärs, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({15})
Das letzte Mittel der Politik sind niemals Soldaten, sondern die friedenschaffenden Mittel der Diplomatie, des Miteinander-Redens, des vertrauensvollen Aufeinander-Zugehens.
({16})
Meine Damen und Herren, vollkommen gefehlt haben in den Darstellungen der Regierung Initiativen zum Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle. Es hat gefehlt das Thema Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, es hat gefehlt das Thema Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke.
({17})
Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß dies brennende außenpolitische Fragen sind, mit denen wir uns dringend beschäftigen müssen, nicht zuletzt deshalb, weil wir es doch sicherlich gemeinsam erreichen wollen, endlich dahin zu kommen, daß uns die Veränderung der weltpolitischen Lage, der Abbau der Spannungen, das Ende der Blockkonfrontation auch in die Lage versetzen sollen, unsere schöpferischen Kräfte, unsere technologischen Fähigkeiten, unsere finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen nicht länger für Rüstung und Überrüstung auszugeben, sondern für Werke des Friedens.
Ich danke Ihnen.
({18})
Als nächstes spricht der Bundesminister für Finanzen Dr. Theo Waigel.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das heute von Bundeskanzler Helmut Kohl vorgetragene Regierungsprogramm bietet ein solides Fundament für die politische Arbeit der kommenden vier Jahre.
Interessant ist der Dissens, der sich hier zwischen Herrn Scharping und Herrn Fischer ergeben hat. Während sich Herr Scharping realistischerweise auf vier Jahre Opposition einstellt, glaubt Herr Fischer, das verkürzen zu sollen, aber dann muß er sagen, mit welchem Instrument. Er kann es in den vier Jahren nur mit einem konstruktiven Mißtrauensvotum tun, und dann müßte er auf jeden Fall auf die Stimmen der PDS zählen.
({0})
Dann müssen sich die Herrschaften bei den GRÜNEN/ BÜNDNIS 90 überlegen, ob sie in einer so entscheidenden Frage mit den Kommunisten, ihren schärfsten Feinden von gestern, gemeinsame Sache machen wollen.
({1})
Herr Kollege Verheugen, Sie haben ein ganz wichtiges Thema am Rande angesprochen. Sie haben dem
Außenminister vorgeworfen, er habe nichts zur Sicherheit der osteuropäischen Kernkraftwerke gesagt. Es gibt niemanden in der Welt, der wie Deutschland sich dieses Themas auf allen Konferenzen der Außenminister, der Finanzminister und der Regierungschefs angenommen hat. Wir haben die entscheidenden Initiativen in Tokio, vorher schon in München, über die entsprechenden Programme Europas mit in die Wege geleitet. Wir wären dankbar, wenn auch andere endlich dieses Engagement zeigen würden; denn die anderen sind davon genauso betroffen wie Deutschland und alle anderen Staaten in Europa und in der Welt.
({2})
In den Vereinbarungen zwischen den Koalitionsparteien haben wir die vor uns liegenden Herausforderungen definiert und Lösungswege aufgezeigt, die sich nicht an Versprechungen, sondern am politisch Machbaren orientieren. Mit der Vorstellung des Regierungsprogramms, der Wahl des Bundeskanzlers und der Bildung des neuen Kabinetts haben die Koalitionspartner ihre Handlungsfähigkeit bestätigt und die Entschlossenheit unterstrichen, aufbauend auf der erfolgreichen Arbeit seit 1982 Deutschlands Weg in die Zukunft mit Mut und Augenmaß zu gestalten. Meine Damen und Herren von der Opposition, das haben Sie nicht erwartet, daß innerhalb von vier Wochen alle wichtigen Entscheidungen stattfinden und diese Koalition Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat.
({3})
Einer unter Ihnen, der die Dinge realistisch sieht, ist Ministerpräsident Oskar Lafontaine;
({4})
denn er hat sein Bundestagsmandat zurückgegeben,
({5})
in der rechten Erkenntnis: Hier ist die nächsten vier Jahre für Sie, Herr Lafontaine, und Ihre Freunde kein Blumentopf zu gewinnen. Insofern ist es richtig, sich auf das Saarland zu konzentrieren.
Meine Damen und Herren, wir werden die erfolgreiche Finanzpolitik fortsetzen.
({6})
- Seit wann verstehen Sie, Herr Duve, etwas von Geld?
({7})
Es wundert mich schon, daß Sie von Geld reden. Brecht hat davon mehr verstanden.
In der 12. Legislaturperiode haben wir die Weichen für die Bewältigung der deutschen Einheit und die Überwindung der Rezession gestellt. Jeder, der mit klarem Blick urteilt,
({8})
sieht: Wir haben sie richtig gestellt.
Die sechs Forschungsinstitute, der Sachverständigenrat, aber auch die OECD und der IWF bestätigen den Aufschwung. Die Wachstumswerte werden ständig nach oben korrigiert. Inzwischen können wir für Gesamtdeutschland 1995 real 3 % Wachstum erwarten. Die Rezession ist überwunden. Alle Konjunkturindikatoren zeigen aufwärts, der Arbeitsmarkt wird folgen, und die D-Mark ist stabil geblieben.
Meine Damen und Herren, die heute vorgenommene Steuerschätzung 1995 bestätigt den Aufschwung. Mir liegt zu diesem Zeitpunkt nur die Schätzung für den Bund vor: Durch die bessere Konjunktur erwarten wir für den Bund 3,5 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen, als noch im Mai angenommen. Damit ist der Haushalt 1995 von seiten der Steuereinnahmen abgesichert. Die Mehreinnahmen fließen voll in die Senkung der Nettokreditaufnahme.
({9})
Nur zwei Länder erfüllen bereits 1994 alle Kriterien des Maastrichter Vertrages, nämlich Luxemburg und Deutschland. Neueste, uns jetzt vorliegende Berechnungen zeigen erstmals: Deutschland wird auch im Jahre 1995 alle Kriterien von Maastricht erfüllen.
({10})
- Herr Duve, ich bedanke mich. Sie lernen in Sachen Finanzpolitik dazu.
({11})
Beim Defizitkriterium unterschreiten wir mit 2,5 % die 3-%-Grenze klar.
Auch beim Schuldenstandskriterium bleiben wir trotz der Übernahme der Erblastenschuld in einer Größenordnung von fast 400 Milliarden DM unter der Grenze von 60 %. Dieser große und noch vor kurzem für nicht möglich gehaltene Erfolg ist ein unmittelbares Ergebnis der besseren Konjunktur und unserer Konsolidierungspolitik.
({12})
- Nein, nein, da ist alles enthalten. Das wissen Sie ganz genau. Alle Instrumente der Wiedervereinigung werden ab 1995, dazu noch die Bahnschulden, voll in den Haushalt einbezogen. Sie wissen das ganz genau.
({13})
Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, das zu kritisieren.
Meine Damen und Herren, soeben noch hat die EU-Kommission auch Deutschland einen blauen Brief wegen der im nächsten Jahr erwarteten knappen Überschreitung des Schuldenstandskriteriums geschrieben.
({14})
Dieser Brief ist damit bereits erledigt. Ich bin zuversichtlich, daß das auch der letzte blaue Brief war, den Deutschland bis zum Eintritt in die dritte Stufe erhält. Meine Damen und Herren, wer hätte es für möglich gehalten, daß wir neben Luxemburg der einzige Staat sein werden,
(
Richtig!)
der bereits 1994 und 1995 alle Stabilitätskriterien, die wir in den Vertrag von Maastricht hineingeschrieben haben, erfüllen wird - trotz der Probleme mit der deutschen Einheit und der finanziellen Mehrbelastung, die kein anderes Land in dieser Größenordnung hat, obwohl wir 5 % des Bruttosozialprodukts für den Wiederaufbau des anderen Teils des Vaterlandes zur Verfügung stellen?
({0})
Das ist, wie ich meine, ein beachtlicher Erfolg der deutschen Finanzpolitik.
Auch beim strukturellen Defizit zeigen die neuesten Berechnungen 1994 einen Rückgang um 10 Milliarden DM, 1995 um weitere 8 Milliarden DM an. Damit hat sich unser strukturelles Defizit in nur vier Jahren halbiert. Das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte und unserer Partner in die Stabilitätspolitik Deutschlands wird damit ein weiteres Mal eindrucksvoll bestätigt.
Dabei muß man, liebe Kolleginnen und Kollegen, einmal darauf hinweisen, welche Aufgaben wir in den letzten Jahren zu bewältigen hatten. Die öffentliche Hand hat zwischen 1990 und 1994 Jahr für Jahr für die neuen Länder rund 150 Milliarden DM bereitgestellt. Ein neuer Finanzausgleich zugunsten der neuen Länder ist unter Dach und Fach und kann 1995 wirksam werden. Der Bund hat durch massive Aufstockung der direkten Bundesergänzungszuweisungen und durch die Abgabe von Umsatzsteuerpunkten über 30 Milliarden DM, insbesondere zugunsten der neuen Länder, zur Verfügung gestellt.
Mit dem Erblastentilgungsfonds übernehmen wir ab 1. Januar 1995 die Hinterlassenschaft von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft. Dabei zeichnet sich ab: Die vorsichtigerweise dafür angesetzten 400 Milliarden DM werden wir wohl nicht ganz in Anspruch nehmen. Nur, es war wichtig, bei der Einschätzung und bei der Berechnung auf der sicheren Seite zu kalkulieren. Es ist allzumal besser, am Schluß nicht so viel ausgeben zu müssen, wie wir befürchtet hatten.
({1})
Deutschland hat die finanziellen Belastungen der Einheit verkraftet, ohne die innere und äußere Stabilität zu gefährden. Die D-Mark hat nicht gewackelt, Spekulanten haben sich daran die Zähne ausgebissen. Das Vertrauen der Kapitalmärkte und unserer Partner in Europa ist gestärkt worden.
Horrormeldungen über die Höhe der Staatsverschuldung, meine Damen und Herren, nutzen niemandem. Die Zahlen sind allen bekannt. Von der Staatsverschuldung 1995, die voraussichtlich etwa 2 050 Milliarden DM betragen wird, entfallen etwa 780 Milliarden DM auf den Bund. Davon haben wir 308 Milliarden DM 1982 vorgefunden. Das macht rund 470 Milliarden DM neue Schulden dieser Bundesregierung. Dazu kommen etwa 370 Milliarden DM im Erblastentilgungsfonds, die allein durch das marode SED-Regime entstanden sind.
290 Milliarden DM von den 470 Milliarden DM neuen Bundesschulden entfallen auf den Zeitraum zwischen 1990 und 1995. Allein die Finanztransfers aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder betragen aber in den Jahren 1991 bis 1995 netto über 350 Milliarden DM. Schon daraus ist ersichtlich, daß wir vor allen Dingen durch Sparen und durch Umschichtung den entscheidenden Beitrag dafür geleistet haben, um durch Verzicht im Westen das Notwendige im Osten finanzieren zu können.
({2})
Die Koalition hat die Eckpunkte der Finanzpolitik für die 13. Legislaturperiode festgelegt. In ihnen zeigen sich Kontinuität, Verläßlichkeit, Ehrgeiz und zielbewußte Entschlossenheit. Der Konsolidierungskurs wird ohne Wenn und Aber fortgesetzt. Auf dieser Basis kann dann die für den Standort Deutschland unverzichtbare Rückführung der Steuer- und Abgabenlast angepackt werden.
Wir müssen bei den finanz- und steuerpolitischen Kennziffern mittelfristig wieder die Zahlen erreichen, die wir vor der Wiedervereinigung durch eine konsequente Politik der Defizitbegrenzung erreicht hatten. Die Staatsquote von jetzt knapp 51 % muß bis zum Jahr 2000 wieder auf knapp 46 % gesenkt werden.
Allen Koalitionspartnern ist klar: Nur das unbedingt Notwendige kann seriös finanziert werden. Strikte Konsolidierung bedeutet, das Haushaltsmoratorium gilt weiter für die gesamte Legislaturperiode. Wir begrenzen den Ausgabenanstieg auf einen Wert deutlich unter dem Zuwachs des nominellen Bruttoinlandprodukts.
Bereits Mitte Dezember werden wir den Haushalt 1995 vorlegen. Es wird im wesentlichen der bereits bekannte Entwurf sein, allerdings werden wir die deutlich niedrigere Kreditaufnahme von 1994 auch für 1995 festschreiben. Dies ist allerdings nur möglich, weil 1995 einige einmalige Einnahmen anfallen: Privatisierung Lufthansa, Privatisierung DKB, Fusion der Staatsbank mit der KfW. 1996 stehen diese Einnahmen nicht zur Verfügung. Das heißt, der Konsolidierungskurs muß unbeirrt und klar fortgesetzt werden, auch wenn die Konjunktur heute gewisse Erhellungen zeigt.
({3})
Die finanziellen Spielräume ab 1996 sind außerordentlich eng und müssen vorrangig für die notwendigen steuerlichen Verbesserungen beim Existenzminimum und beim Familienleistungsausgleich genutzt werden. Weitere Spielräume müssen durch die Fortführung des Konsolidierungskurses erst verdient werden. Konjunktur, Wachstum, Investitionen für neue Arbeitsplätze haben unmittelbar mit dem Standort Deutschland zu tun. Den stärken wir nicht, wie manche glauben, mit konsumorientierter Umverteilung, sondern mit investitionsorientierter Wachstumspolitik.
({4})
Darum muß die Unternehmensteuerreform in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt werden.
Unsere exportorientierte Wirtschaft steht in scharfem weltweiten Wettbewerb. Auch bei kleinen Verbesserungen in den letzten Jahren liegen laut einer neuen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft die Lohnstückkosten in Deutschland immer noch weltweit an der Spitze, trotz unserer hohen Produktivität.
Immer noch haben wir international fast einmalig hohe Steuersätze und ertragsunabhängige Belastungen. Für die Betriebe fällt insbesondere die - in Österreich soeben abgeschaffte - Sonderbelastung mit der Gewerbesteuer ins Gewicht. Im Vordergrund muß dabei die Senkung der Gewerbesteuerbelastung stehen. Die ertragsunabhängige Gewerbekapitalsteuer soll abgeschafft werden. Es muß weitere mittelstandsfreundliche Entlastungen bei der Gewerbeertragsteuer geben. Die Gemeinden sollen einen fairen Ausgleich erhalten. Wir werden mit den Ländern, mit den Kommunen und mit der Wirtschaft darüber zu reden haben, welchen Anteil die Kommunen an einer der großen Steuern, wie es der Kollege Schäuble erwogen hat, an der Lohn- und Einkommensteuer, gegebenenfalls an der Körperschaftsteuer oder an der Umsatzsteuer, zu erhalten haben. Das sind die zwei Möglichkeiten, über die zu reden sein wird, und zwar deswegen, weil das Interesse an einer Ansiedlung von Gewerbebetrieben dadurch gewahrt bleibt. Dazu brauchen wir eine Steuerkoalition der Vernunft.
Sie, Herr Kollege Scharping, haben sich vor einiger Zeit für eine grundlegende Reform des Steuersystems ausgesprochen. Ich greife dieses Angebot gerne auf. Wenn Sie und die SPD-regierten Länder bei Vorschlägen der Gutachter, die sehr schwierig und umstritten sind, mitziehen, bin ich zu einer offenen Diskussion jederzeit bereit.
Meine Damen und Herren, wir müssen bei der Unternehmensteuerreform aber auch sehen, daß nur eine für die öffentliche Hand aufkommensneutrale Gestaltung durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei den Unternehmenssteuern möglich ist.
Nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts muß die Bundesregierung bis zum 1. Januar 1996 eine dauerhafte Neuregelung der Steuerfreistellung des Existenzminimums vorlegen. Dazu gibt es Thesen einer vom Finanzministerium eingesetzten Gutachtergruppen, seit letzter Woche auch einen Vorschlag meines nordrhein-westfälischen Kollegen Schleußer. Die Thesen der Gutachter laufen auf eine sehr weitgehende Veränderung unseres gesamten Systems der Einkommensbesteuerung hinaus.
Eine so drastische Umstellung unseres Einkommensteuerrechts ist unter den gegebenen politischen Konstellationen, aber auch bereits wegen der Kürze der Zeit, wie ich meine, nicht zu verwirklichen. Unabhängig davon besteht bei einzelnen Vorschlägen sicherlich Diskussionsbedarf.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskussion bei der großen Steuerreform 1986, 1988 und 1990. Damals hatten bereits vorgeschlagene Gegenfinanzierungen in erheblich geringerem Umfang als jetzt für ein Hauen und Stechen gesorgt. Meine Damen und Herren, ich wundere mich über manche Publikationen: In den letzten Jahren wurde uns, wenn wir nur einen einzigen der über 70 in der Expertengruppe genannten Punkte diskutiert haben, sofort sozialer Kahlschlag vorgeworfen. Jetzt, wo wir das addiert, fünfzig-, sechzigfach, umsetzen sollen, wird dies in den Kommentaren als ein großartiger Wurf der Neuregelung des Steuerrechts bezeichnet. Die Auffassungen sollten in sich konsistent sein, bevor man eine solche Bewertung abgibt, die für den Kenner der Szene sehr problematisch ist.
({5})
Der Vorschlag des Kollegen Schleußer führt allerdings in eine Richtung, die wir nicht einschlagen wollen. Hier feiert die leistungsfeindliche Ergänzungsabgabe der SPD in anderem Gewand fröhliche Urständ: Jeder fünfte Steuerzahler in Deutschland wird zusätzlich belastet. Wir streben einen Tarif an, der ohne Mehrbelastung auskommt.
Ich bleibe dabei: Das Ziel muß eine Lösung sein, die das Existenzminimum bei geringen Einkommen in verfassungskonformer Weise steuerfrei stellt und den geradlinig ansteigenden Steuertarif, den Hauptvorteil der Steuerreform 1990, beibehält. Auch eine leistungsfeindliche Verschärfung der Progression muß vermieden werden.
({6})
- Das kommt bald; eines nach dem andern. Sie müssen sich heute mit so vielem beschäftigen, daß Sie damit überlastet werden.
({7})
Dabei ist eine abnehmende Entlastung bei steigenden Einkommen verfassungsgemäß. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil schwarz auf weiß ausgeführt. Ich zitiere:
Das bedeutet allerdings nicht, daß jeder Steuerpflichtige vorweg in Höhe eines nach dem Existenzminimum bemessenen Freibetrags verschont werden muß.
Die weitere Verbesserung des Familienleistungsausgleichs ist ein wichtiges Element in der Politik der Bundesregierung. Durch den stufenweisen Ausbau des 1983 von dieser Regierung wieder eingeführten Kinderfreibetrags auf jetzt rund 4 100 DM und die Aufstockung des Erstkindergeldes auf 70 DM werden seit 1992 im Ergebnis rund 6 200 DM pro Kind steuerfrei gestellt. Insgesamt haben wir die steuerlichen Entlastungen und Geldleistungen für die Familien in 1994 auf 60 Milliarden DM erhöht. Dies sind 32 Milliarden DM mehr als 1982.
In dieser Legislaturperiode soll der Kinderfreibetrag um weitere 1 000 DM erhöht werden. Langfristig soll das Existenzminimum eines Kindes voll durch den Kinderfreibetrag abgedeckt werden. Kindergeld bekommen dann Familien mit niedrigem Einkommen oder Familien mit mehreren Kindern.
Nun zum Solidarzuschlag. Der Solidarzuschlag muß so schnell wie möglich wieder abgeschafft werden.
({8})
Steuersenkungen aber müssen erst durch Konsolidierung erwirtschaftet werden. Mit dem Jahr 1995 übernehmen wir erhebliche Lasten der Einheit in den Bundeshaushalt. Noch weitere Ansprüche kommen in den nächsten Jahren auf den Haushalt zu, beispielsweise die Neuregelung des Existenzminimums und die Fortsetzung der Bahnreform. Es wäre daher verfrüht, bereits heute einen detaillierten Zeitplan für den Abbau des Solidaritätszuschlags festzulegen. Der Solidarzuschlag wird aber jedes Jahr an Hand objektiver Kriterien überprüft werden. Sollten gegenüber dem Finanzplan die Finanzausgleichsleistungen für die neuen Bundesländer deutlicher als erwartet zurückgehen, sollten die Steuereinnahmen auf Grund der konjunkturellen Entwicklung besser sein als bisher erwartet, dann werden wir dies an den Bürger zurückgeben.
Deshalb wird der Solidaritätszuschlag von 7,5 % zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer nicht in den neuen Steuertarif eingearbeitet. Damit machen wir deutlich: Der Solidaritätszuschlag darf keine Dauerbelastung werden.
({9})
Meine Damen und Herren, unser Steuerrecht mit vielen Ausnahmen, Vergünstigungen und Sonderregeln ist zu kompliziert geworden. Im Interesse der Steuerzahler und der Finanzverwaltung gilt es, das Ruder jetzt herumzuwerfen. Die Steuergesetzgebung muß wieder in ruhigeres Fahrwasser gebracht werden. Das Steuerrecht muß deutlich vereinfacht und transparenter gestaltet werden.
Zur Steuervereinfachung habe ich bereits Anfang September ein Diskussionspaket vorgelegt. Dieser Plan ist in den Koalitionsverhandlungen akzeptiert worden und wird nun umgesetzt.
Um auch mit den kommenden Gesetzgebungsvorhaben die Finanzverwaltungen nicht zu überlasten, werden wir sie in einem Gesetz, nämlich dem Jahressteuergesetz 1996, zusammenfassen.
({10})
Meine Damen und Herren, Kostensenkung, Rationalisierung und Steigerung der Produktivität sind für jedes Unternehmen im Wettbewerb eine Daueraufgabe. Das gilt auch für den Staat. Unter dem Stichwort „schlanker Staat" werden wir daher die kritische Durchleuchtung der Staatstätigkeit weiterführen.
Dabei haben wir bereits einiges erreicht. Nachdem durch die deutsche Einheit der Personalbestand bei den Bundesbehörden zunächst angewachsen war, werden zwischen 1991 und 1995 fast 52 000 Stellen abgebaut. Das bedingt Arbeitsvereinfachungen, Rationalisierung und Dezentralisierung. Bei 70 000 DM pro Stelle im Durchschnitt ist das zugleich eine dauerhafte Entlastung für den Haushalt von etwa 3,5 Milliarden DM pro Jahr. Bis 1998 werden wir weitere 12 000 Stellen abbauen.
Auch an einer Straffung und Vereinfachung der Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren kommen wir nicht vorbei. Wenn bei uns bei Großvorhaben Planungs- und Genehmigungsverfahren bis zu zwei Jahre, vor unserer Haustür in Ungarn, Tschechien oder Polen nur drei bis vier Monate dauern, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn Arbeitsplätze mittelfristig exportiert werden.
Immer dort, wo es sinnvoll ist, muß Staatstätigkeit durch privates Handeln ersetzt werden. Die unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen des Bundes sind von 956 in 1982 auf unter 400 in 1994 zurückgeführt worden. Diesen Weg werden wir konsequent weiterverfolgen.
Der erste Schritt der Privatisierung der Deutschen Telekom AG 1996 wird die bisher größte deutsche Aktienplazierung sein. Die Börseneinführung und die internationale Plazierung der Telekom-Aktien ist auch ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des Finanzplatzes Deutschland.
Auch die Restprivatisierung der Lufthansa und die Umsetzung der Bahnreform werden wir entschlossen weiter betreiben.
Mit den Verträgen von Maastricht haben wir einen konsequenten Prozeß zur weiteren politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas in die Wege geleitet. Nur wenn die europäischen Staaten auf der Grundlage nationaler Selbständigkeit, freiheitlicher Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung ihre Zusammenarbeit intensivieren, wird Europa sein internationales wirtschaftliches und politisches Gewicht auf der Schwelle ins nächste Jahrtausend aufrechterhalten können.
({11})
Der Ausbau der Europäischen Union muß dabei auf zwei Pfeilern aufbauen: Nach innen gilt es, die Union durch institutionelle Reformen zu stärken und die Zusammenarbeit in der Innen-, Rechts- sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik zu verstärken.
Nach außen müssen wir die Gemeinschaft offenhalten für beitrittswillige und beitrittsfähige Staaten. Österreich, Finnland, Schweden und, ich hoffe, auch Norwegen werden hier am 1. Januar 1995 den Anfang machen.
Konsolidierung muß auch für Europa gelten. Sparsamste Haushaltsführung, Konzentration und Bündelung von Aufgaben sind notwendig. Darum müssen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa alle Programme auf den Prüfstand, ob sie noch notwendig sind und ob sie ihren Sinn erfüllen.
({12})
Anläßlich der Revisionskonferenz 1996 wird das Funktionieren des Vertrags von Maastricht einer Prüfung unterzogen und weiterentwickelt. Dabei stehen für uns die harten Kriterien nicht zur Disposition. In jedem Fall wird für den Beginn der dritten Stufe und für die Auswahl der Teilnehmer allein die Erfüllung der im Vertrag niedergelegten Konvergenzkriterien entscheidend sein. Für uns gilt: Strikte Konvergenz
hat Vorrang vor starren Zeitplänen. Ich habe immer auf ein Europa konzentrischer Kreise hingewiesen. Verschiedene Integrationsdichten sind heute bereits europäische Realität. Die Wirtschafts- und Währungsunion sieht eine Integration mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ausdrücklich vor.
Wie die Europäische Union muß sich auch die Nordatlantische Allianz Schritt für Schritt den osteuropäischen Reformstaaten öffnen. Dies läßt sich nur auf der Grundlage einer dauerhaften und verläßlichen Partnerschaft mit Rußland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion verwirklichen. In der jetzigen Zeit des weltweiten Umbruchs und der damit verbundenen Unsicherheit bleibt die NATO das Fundament der äußeren Sicherheit des geeinten Deutschlands.
Die Gewährleistung der inneren Sicherheit muß zu einem Schwerpunkt der politischen Arbeit der kommenden vier Jahre werden. Wir brauchen ein gemeinsames nationales Sicherheitsprogramm gegen die sich immer stärker ausbreitende internationale Kriminalität von Rauschgift- und Waffenhändlern genauso wie gegen die besorgniserregende Massenkriminalität, vom Autodiebstahl angefangen bis hin zu den Wohnungseinbrüchen.
({13})
Wir haben in der zurückliegenden Legislaturperiode wichtige Maßnahmen zur besseren Verbrechensbekämpfung auf den Weg gebracht. Wir werden in den vor uns liegenden Monaten die Effizienz dieser Maßnahmen gegen die Geldwäsche und die organisierte Kriminalität überprüfen. Wir werden das gesetzliche Instrumentarium verbessern, wo es notwendig ist.
Das neue Asylrecht greift. Viele haben das vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten.
({14})
Unsere Änderung war notwendig, sinnvoll und erfolgreich. Die Zahl derjenigen, die ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen bei uns Asylanträge stellen, hat erheblich abgenommen. Wir wollen diese Politik konsequent fortsetzen und den gezielten Kampf gegen das unmenschliche Schlepperwesen verschärfen.
Für die politisch tatsächlich Verfolgten bleibt unser Tor offen. Aber das Asylrecht ist kein wirksames Instrument zum Abbau des Wohlstandsgefälles zwischen Westeuropa und den Ländern der dritten oder der vierten Welt.
({15})
Für unsere Ausländerpolitik muß gelten: weitere Begrenzung der Zuwanderung bei gleichzeitiger echter Integration der rechtmäßig und längerfristig bei uns lebenden ausländischen Mitbürger.
({16})
Mit der Einführung des Instituts der Staatszugehörigkeit für Ausländerkinder der dritten Generation
unternehmen wir einen mutigen Schritt, um diese Einbürgerung zu erleichtern.
({17})
Die Zulassung der Mehrfachstaatsangehörigkeit muß auch in Zukunft die Ausnahme für echte Problemfälle bleiben.
({18})
Gegen ausländerfeindliche Ausschreitungen hilft der
Besitz von zwei oder mehreren Pässen nicht. Hier hilft
nur ein konsequenter Einsatz von Polizei und Justiz.
({19})
Gleiches gilt für jene Ausländer, die sich bei uns schwerkrimineller Vergehen schuldig machen und die entsprechend dem geltenden Ausländerrecht konsequent verfolgt und auch abgeschoben werden müssen.
Meine Damen und Herren, wir haben den politischen Kurs für die kommenden vier Jahre abgesteckt. Das Regierungsprogramm ist eine Plattform, in der sich jeder Koalitionspartner wiederfindet; es ist ein Kompromiß, ein demokratischer Interessenausgleich aller drei Koalitionspartner. Es verdeutlicht den Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen CDU, CSU und der F.D.P. Die CSU steht zur Koalition der Mitte. Wir werden weiterhin eine stabilisierende Kraft dieser Koalition sein.
Nach dem Ende des Kalten Krieges befinden wir uns inmitten einer grundlegenden Zeitenwende. Deutschland ist wiedervereinigt; Europa gibt sich eine neue Struktur.
Meine Damen und Herren, in seiner ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag hat der Abgeordnete Heym darauf hingewiesen, man könne und dürfe die Einheit nicht vordringlich dem Finanzminister überlassen. Das ist richtig. Nur, der Bundesfinanzminister, das Finanzministerium und die Finanzpolitik haben einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet,
({20})
während Herr Heym zur deutschen Einheit nichts, aber auch gar nichts beigetragen hat.
({21})
Deutschland kann in diesem Prozeß seiner politischen und historischen Verantwortung nur gerecht werden, wenn wir den Kurs der politischen Mitte, der Verläßlichkeit nach außen und der Stabilität nach innen beibehalten und allen extremen Positionen, ob von links oder von rechts, eine klare Absage erteilen.
Herr Minister Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Ja, weil er sich vorhin in der Finanzpolitik lernfähig gezeigt hat.
Herr Bundesminister, sind Sie
- auch bei Passagen starker Polemik - bereit, anzuerkennen, daß ein Beitrag zur deutschen Einheit durch einen Literaten, durch einen Autor, der in allen deutschsprechenden Staaten gelesen wird, immer geleistet wird und daß bei Ihrem Urteil über Herrn Heym seine Leistung als Autor nicht berücksichtigt worden ist?
Daß Herr Heym auf deutsch schreibt, ist kein Beitrag zur Wiederherstellung der politischen, sozialen und kulturellen deutschen Einheit.
({0})
- Sie können sich beruhigen, ich komme zum Schluß.
({1})
Deutschland wird in der internationalen Völkergemeinschaft als friedliebender, gleichberechtigter Partner respektiert und geschätzt. Diesen Weg konsequent weiterzugehen, das ist die wichtigste Aufgabe der 13. Legislaturperiode.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Saarlandes Oskar Lafontaine.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst zwei grundsätzliche politische Bemerkungen. In dieser Debatte ist wiederum mehrfach - in moderater Form in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, in etwas polemischerer Form in der Erklärung des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU und auch jetzt wieder in dem Beitrag des Bundesfinanzministers und CSU-Vorsitzenden - die Frage des Umgangs mit der PDS und der DDR-Vergangenheit Gegenstand der Erörterungen gewesen.
Erlauben Sie mir dazu zunächst eine Bemerkung: Ich habe es im Vorfeld dieser Auseinandersetzungen für richtig gehalten, dem spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez eine Frage zu stellen, als ich einmal die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Herr Bundeskanzler, ich duzte ihn schon, bevor Sie ihn kannten.
({1})
- Wenn ich jetzt alle aus Ihren Reihen vorführen würde, die sich bei Honecker angebiedert haben, müßte ich meine Redezeit damit ausschöpfen.
({2})
Die standen auf der Leipziger Messe immer Schlange; deshalb bin ich schon gar nicht mehr dahin gegangen, meine Damen und Herren. Also lassen wir das Thema.
Felipe Gonzalez hat mir damals gesagt, daß es für ein Land wie Spanien natürlich schwierig war, sich mit
der Franco-Zeit auseinanderzusetzen, und daß die demokratischen Parteien vereinbart hatten, nach vorne zu schauen; denn eine allzu hartnäckige und administrative Aufarbeitung der Franco-Zeit hätte zu Ergebnissen geführt, die dem ganzen spanischen Volk nicht zugute gekommen wären. Er hat aber gleich hinzugefügt: Ich weiß, daß das bei euch sicherlich anders ablaufen wird.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir wirklich Veranlassung hätten, bei dieser Auseinandersetzung nicht in unehrliche Polemik zu verfallen. Genau das werfe ich der CDU/CSU hier an erster Stelle vor.
({3})
Ich finde, Ihr Umgang mit dem Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages ist nicht gerade ein Glanzstück der deutschen Parlamentsgeschichte gewesen. Wenn Sie Herrn Heym und seine Rolle in dem System überhaupt würdigen wollen, empfehle ich Ihnen einmal, den „König-David-Bericht" zu lesen - ich bin sicher, daß nicht einmal 5 % Ihrer Fraktion das Buch in der Hand gehabt haben -; dann wüßten Sie, daß er sich hier in Form eines Gleichnisses, einer Parabel eben auch mit diesem System und seinen Denkverboten auseinandergesetzt hat. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Ihre Haltung noch einmal zu überprüfen.
Zweitens. Es ist nun einmal eine Tatsache - das muß klargestellt werden und geht an Ihre Adresse, Herr Dr. Kohl und Herr Dr. Schäuble -, daß Sie auf kommunaler Ebene und auf der Ebene der Landkreise mit der PDS eine Koalition haben.
({4})
Wer angesichts dieses Sachverhalts so redet, wie Sie das immer tun, ist entweder nicht ganz normal oder pharisäerhaft. Ich muß das hier in aller Klarheit sagen.
({5})
Drittens. Ich würde auch gegenüber den Mitgliedern der ehemaligen Blockparteien hier gerne anders argumentieren. Aber durch Ihre unehrliche, pharisäerhafte Vorgehensweise erzwingen Sie eine Auseinandersetzung, die nicht gerade der Integration dienlich ist. Sie mögen es ja für richtig gehalten haben, trotz der Warnung Ihres ehemaligen Generalsekretärs, Herrn Rühe, der damals auf die Integration der Blockparteien angesprochen, noch sagte: Wer sich neben einen solchen stinkenden Haufen stellt, beginnt selber zu stinken. Sie mögen es ja im nachhinein anders gesehen haben, aber dann stehen Sie auch dazu. Versuchen Sie nicht, auf pharisäerhafte Art und Weise unterschiedliche Maßstäbe anzulegen.
({6})
Die Blockparteien haben das System, die Mauer, den Stacheldraht und all die Fehlentwicklungen mitgetragen.
Hören Sie endlich auf mit dieser Diskussion! Sie gewinnen dabei keinen Blumentopf. Sie haben bei
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({7})
uns keine Möglichkeit, diese Diskussion so zu führen, daß wir in irgendeiner Form vor Ihnen zurückweichen müssen.
({8})
Herr Dr. Schäuble hat den Bundesrat angesprochen. Nun komme ich zu dem Anliegen, das ich hier heute vortragen wollte. Er hat wieder gesagt: Der Bundesrat möge keine Obstruktionspolitik betreiben.
Meine Damen und Herren, ich sage jetzt für den Bundesrat: Das ist eine falsche Herangehensweise an die Aufgabe, die wir zu lösen haben. Wir haben die Aufgabe, die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse zu respektieren, zu wissen, daß es unterschiedliche Vorstellungen gibt, und bei unseren Vorschlägen die unterschiedlichen Vorstellungen, die es mm einmal gibt, zu berücksichtigen. Da hat es keinen Sinn, der jeweils anderen Seite vorzuwerfen, sie suche nicht die Kooperation oder sie betreibe Obstruktion. Wenn es um Kooperation und Zusammenarbeit geht, sind Bundesrat und Bundestag gleichwertige Organe. Sie sollten das bei Ihren Formulierungen im Interesse der Zusammenarbeit berücksichtigen und beherzigen.
({9})
Nun komme ich zu dem Gegenstand, zu dem ich heute sprechen wollte, zur Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({10})
- Ach Gott, Herr Dr. Schäuble, Sie haben schon bessere Zwischenrufe gemacht. Sie sind für alles zuständig, insofern sind Sie ein ganz großer Mann.
({11})
- Gucken Sie genau, wer da klatscht; sie sollten von den Hinterbänken aufrücken dürfen.
({12})
Ich komme zunächst einmal zur Haushaltspolitik und möchte sagen, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Ich halte es für richtig, daß der Bundesfinanzminister in den Verhandlungen, auch in den Koalitionsverhandlungen, Überlegungen widerstanden hat, leichtfertig auf öffentliche Einnahmen zu verzichten. Er hat die Situation der öffentlichen Haushalte, hier weniger auf die Maastricht-Kriterien bezogen, relativ positiv dargestellt. Ich werde dazu nachher noch etwas sagen.
Ich habe es aber im Interesse des Ganzen für richtig gehalten, nicht leichtfertig vorzeitige Ankündigungen in die Welt zu setzen, die die öffentlichen Haushalte wiederum in Schwierigkeiten bringen würden.
Zweitens. Ich habe bereits vor der Wahl signalisiert, daß die Herangehensweise an das Existenzminimum unsere Unterstützung findet. Es wäre sicherlich vermessen, wenn wir von einer Größenordnung von über 40 Milliarden DM reden und uns dabei selbst täuschen würden, wenn es darum ginge, solche Einnahmeausfälle zu verkraften, und wenn wir die Schwierigkeiten, die aufkämen, wenn man das anders lösen würde, zu
geringachteten. Auch hier möchte ich Ihre Heransgehensweise ausdrücklich unterstützen.
Einigkeit besteht darin, daß der Ausgabenanstieg des Gesamthaushaltes und der Einzelhaushalte immer unter dem nominalen Anstieg des Bruttosozialproduktes liegen muß. Wir haben sonst keine Chance einer längerfristigen Perspektive für die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.
Ich möchte für die Sozialdemokraten diese Herangehensweise nachdrücklich und ausdrücklich unterstützen. Dabei versteht es sich von selbst, daß wir nicht nur in den Ländern - das sollte hier auch einmal registriert werden; wir sollten uns das nicht gegenseitig, wie vorhin im Fall des Landes Niedersachsen wieder geschehen, um die Ohren schlagen - bei der Konsolidierung der Haushalte die Personalausgaben zurückfahren müssen.
Das gilt für den Bund und für die Länder. Es ist wenig sinnvoll, sich das dann gegenseitig immer wieder um die Ohren zu schlagen.
Wir sollten aber so ehrlich sein, gleich hinzuzufügen, daß dies über kurze Frist - das gilt auch für die mittelbaren Bereiche Post und Bahn - natürlich nicht zu einer Steigerung der Beschäftigung führen wird, sondern nur längerfristig, indem produktivere Investitionen durch sparsame öffentliche Haushalte ermöglicht werden.
Soweit meine Bemerkungen zu Ihrem Herangehen an die bisherigen Probleme. Ich nehme an, daß Sie erkennen, daß es hier nicht um Polemik um ihrer selbstwillen geht.
Natürlich bin ich auch hierhergekommen, um zu erfahren, wie die Fragen, die wir nun seit Monaten und Jahren erörtern, von Ihrer Seite angegangen und gelöst werden sollen. Es ist keine Polemik, wenn ich feststelle, daß die Erklärungen doch bisher reichlich unverbindlich waren. Ich bedauere dies. Die Länder und die Gemeinden warten darauf, daß sie für ihre Planungen der nächsten Jahren wissen, wie es jetzt mit der Steuerpolitik weitergeht, welche Einnahmeausfälle sie zu verkraften haben, welche Umschichtungen eventuell zu erwarten sind. Daher hätten wir uns gewünscht, daß trotz der Schwierigkeiten konkretere Ankündigungen gekommen wären, wie denn die einzelnen Fragen zu lösen seien.
({13})
Ich spreche zunächst das Existenzminimum an. Herr Kollege Waigel, da werden Sie nicht sagen können, wir würden Sie jetzt unnötig unter Zeitdruck setzen. Sie selbst und die Bundesregierung haben bereits mehrfach angekündigt, für den Sommer dieses Jahres entsprechende Vorlagen zu erarbeiten.
({14})
Nun ist das, wie wir vermutet haben, im Hinblick auf den Wahlkampf nicht geschehen. Dann haben wir gedacht, Sie hätten das Expertengutachten zurückgehalten, hätten daraus vielleicht einige Vorschläge realisieren wollen und hätten aus Opportunitäten der Wahlkampfführung heraus bis zum Wahltag verschwiegen, daß Sie solche Pläne haben. Aber auch dies scheint nun ein Irrtum zu sein.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({15})
Nun frage ich aber, nachdem Sie die Vorschläge der Expertenkommission verworfen haben und nachdem Sie hier etwas zu den Vorschlägen des nordrhein-westfälischen Finanzministers gesagt haben: Wo sind denn eigentlich ihre Vorschläge?
({16})
Der Herr Bundesfinanzminister sagt, ich solle noch ein Weilchen warten. Aber wir haben jetzt schon viele Weilchen gewartet.
({17})
- Bis zum Christkind sollen wir warten. Immerhin ist das eine Perspektive, die wir haben.
({18})
Ob dies dann aber wirklich ein Geschenk Gottes zu Weihnachten wird, das weiß ich natürlich nicht.
Aber bitte jetzt ernsthaft: Es ist wirklich ein Vorwurf, den man Ihnen machen muß, daß Sie die Vorlage viel zu lange verzögern. Dies ist für die Planungen des Gesamtstaates und natürlich auch der Gemeinden, der Länder und der Wirtschaft schädlich.
({19})
Ich war gestern auf der Tagung eines Wirtschaftsverbandes und wurde immer wieder gefragt und auch immer wieder auf die unterschiedlichsten Modelle angesprochen. Ich habe dafür plädiert, auch die Vorschläge der Bareis-Kommission nicht in Bausch und Bogen zu verdammen, sondern sie objektiv zu diskutieren, weil sich der wissenschaftliche Sachverstand ja allmählich verarscht, entschuldigen Sie, vorkommen muß, wenn er monatelang in Anspruch genommen wird, aber dann, sobald Vorschläge vorgelegt werden, in Bausch und Bogen verdammt wird. Das ist eine falsche Herangehensweise, meine Damen und Herren.
({20})
In bezug auf das Existenzminimum haben wir also keine Vorlage der Bundesregierung. Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll. Sie haben bei der Ergänzungsabgabe bei den Vorstellungen des Herrn Kollegen Schleußer wieder gegen leistungsfeindliche Besteuerung polemisiert. Erlauben Sie mir hier noch einmal eine Wiederholung, meine Damen und Herren. Die Tatsache, um das einmal ganz klar zu sagen, daß das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß widerrechtlich über 40 Milliarden DM unten weggesteuert werden, ist nicht ein Skandal für die oberen Einkommensschichten und die Leistungsträger, von denen Sie jetzt wieder gesprochen haben. Es ist ein Skandal für die unteren Einkommensschichten. Das ist der entscheidende Unterschied.
({21})
Wenn man dann andere Lösungen als eben die einer Veränderung des Tarifs mit stärkerer Besteuerung der höheren Einkommen hat, dann soll man sie hier vortragen, und dann soll man auch die ökonomische Schlüssigkeit vortragen. Dann sind wir zu einem Gespräch bereit.
Das zweite ist der Familienlastenausgleich. Der Kollege Scharping und der Kollege Fischer haben, wenn ich das richtig mitbekommen habe, ja bereits darauf hingewiesen. Nun hören wir aus dem Papier der Kirchen, wie schlecht es den Familien geht. Das ist ja aus der Sicht der Kirchen auch verständlich. Aber wenn Sie in allen Erklärungen immer wieder sagen, wie schlecht es den Familien geht und daß der Familienlastenausgleich ungerecht ist, und wenn der Bundespräsident, der ja bestimmt unverdächtig ist, sagt, der Familienlastenausgleich in unserem Lande ist ungerecht, und das Steuerrecht ist familienfeindlich, dann sind doch die Fragen aufzuwerfen: Wer ist denn dafür verantwortlich? Wer hat denn zwölf Jahre regiert?
({22})
Sie mögen ja, wie das der Kollege Schäuble wieder getan hat, unsere Vorschläge für falsch halten, aber dann legen Sie doch einmal Ihre Vorschläge auf den Tisch.
({23})
Außer allgemeinen und unverbindlichen Ankündigungen, daß man die Freibeträge wieder erhöhen und natürlich beim Kindergeld etwas tun will, habe ich nichts gelesen und nichts gehört.
({24})
Meine Damen und Herren, wir teilen die Auffassung der Kirchen, daß über die Kinderfreibeträge nun einmal die Kinder wohlhabender Familien über Gebühr vom Staat gefördert werden. Daher halten wir Ihre in Umrissen bekannten Vorschläge für falsch.
({25})
Nun komme ich zur Unternehmensteuerreform. Sie haben gesagt, sie wollen die Gewerbekapitalsteuer abschaffen. Dazu ist allerhand zu sagen. Zunächst einmal ist es interessant, daß man jetzt von unterschiedlichen Modellen hört, wie das denn finanziert werden soll. Auch da lautet mein Vorwurf: Die Ankündigung nützt doch wenig, wenn Sie nicht sagen, wie das finanziert werden soll.
Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß der Herr Kollege Schäuble auf dem Forum des „Handelsblatts" einen bestimmten Vorschlag gemacht hat. Sie haben den jetzt noch in Ihr Manuskript eingebunden. Das ist ja auch in Ordnung. Sie selber, Herr Kollege Waigel, haben hier - da war der Vorschlag von Herrn Schäuble noch nicht enthalten - gesagt: Die Gemeinden sollen einen fairen Ausgleich erhalten, am besten durch einen orts- und wirtschaftsbezogenen Anteil an der Umsatzsteuer.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({26})
Natürlich stellen wir dann die Fragen: Wer soll denn diesen Anteil an der Umsatzsteuer aufbringen? Soll die Umsatzsteuer erhöht werden? Ich habe immer wieder versucht, von Ihnen Klarheit zu erhalten. Das haben dann alle - ob es ihnen heute leid tut, weiß ich nicht - dementiert. Sie müssen sagen, wer etwas abgeben soll, meine Damen und Herren. Es hat doch keinen Sinn, immer wieder solche Geschichten in die Welt zu setzen.
({27})
Weder beim Existenzminimum noch beim Familienlastenausgleich, noch bei der Unternehmenssteuerreform ist also irgendeine Klarheit geschaffen.
Ich will Ihnen zur Gewerbesteuerreform noch etwas sagen, meine Damen und Herren: Manchmal ist es auch gut, wenn hier Leute tätig sind, die über längere Zeit in Gemeinden Verantwortung hatten. Dann wüßten Sie vielleicht - Herr Kollege Kinkel ist - ({28})
- Ich bin dankbar, daß noch einer dabei ist. Ich begrüße Sie herzlich.
({29})
Ich spreche das nur an, weil der Kollege Kinkel hier Ausführungen gemacht hat, daß der Mittelstand nicht genügend gefördert würde und daß insbesondere die Sozialdemokraten da besondere Versäumnisse hätten. Es wäre einmal an der Zeit, daß bei Ihnen bekannt würde, daß die große Mehrheit, und zwar zwei Drittel der Betriebe, überhaupt keine Gewerbesteuer zahlt.
({30})
Es wäre notwendig, daß Sie das einmal klarmachen, wenn Sie von Klein- und Mittelbetrieben reden. Sie können ja nicht diese zwei Drittel der Betriebe als nichtexistent bezeichnen und deren Beitrag für den Arbeitsmarkt ignorieren, meine Damen und Herren.
({31})
Etwas gemeindliche Praxis wäre vonnöten. Dann käme es nicht zu Vorschlägen, die in der Priorität falsch gesetzt sind.
({32})
Viel sinnvoller nämlich wäre es, statt bei der Gewerbesteuer immer wieder irgendwelchen Forderungen entgegenzukommen, dann aber andere Prioritäten nicht setzen zu können, die Lohnnebenkosten endlich zurückzufahren, die an der Grenze nicht hängenbleiben und die in einer Exportnation wie der unsrigen auf dieser Höhe nicht bleiben können und schon gar nicht immer weiter nach oben gefahren werden können.
({33})
Hier ist leider in den letzten Jahren nichts geschehen. Der Kollege Biedenkopf und ich haben bei den Verhandlungen zum Solidarpakt versucht, das Thema einmal einzuspeisen. Aber vielleicht war die Zeit bei diesen schwierigen Verhandlungen nicht reif, das
Thema zu einer Lösung zu führen. Doch es bleibt gleichwohl auf der Tagesordnung.
Statt dessen - ich sage das auch auf Grund der jüngsten Diskussionen - sind Sie dann hingegangen und haben den ordnungspolitischen Sündenfall der letzten Legislaturperiode begangen, indem Sie die Pflegeversicherung beitragsfinanziert gestaltet und damit die Lohnnebenkosten noch weiter in die Höhe getrieben haben. Ich sage das hier einmal in aller Klarheit - auch für viele Kollegen aus dem Bundesrat - : Dies war der ordnungspolitische Sündenfall der letzten Legislaturperiode.
Wenn ich jetzt sehe, daß an dem mühsam erarbeiteten Kompromiß wieder überall - auch von den CDU-Fraktionsvorsitzenden und von einzelnen Bundesländern - herumgefummelt wird, dann stellt sich allmählich die Frage, was Absprachen überhaupt noch wert sind.
({34})
- Herr Kollege Solms, ich schicke Ihnen gerne das Regierungsprogramm zu, für das ich 1990 gestanden habe. Darin stand - richtigerweise, wie ich es sehe -: Steuerfinanzierte Lösung mit Bedürftikgeitsprüfung. Die Lösung für die jetzt auch die F.D.P. gestimmt hat, ist eine Lösung zur Schonung der Vermögenden und der Erben, und diese halte ich ordnungspolitisch für falsch, um das einmal in aller Klarheit zu sagen.
({35})
- Hier haben wir uns ein bißchen auf Sie verlassen, aber da war unser Kalkül leider nicht ganz richtig.
Statt eine Minderheit von Unternehmen zu entlasten, müßten wir in einer Situation, in der wir viel zuwenig Beschäftigung haben, die erste Priorität dort setzen und nicht bei einer Minderheit von Unternehmen. Wenn Sie es sich genauer ansehen, ist es eine verschwindend geringe Zahl von Unternehmen, die den Löwenanteil der Gewerbesteuer aufbringen. Das scheint Ihnen gar nicht klar zu sein. Man darf nicht bei der verschwindenden Minderheit von Unternehmen ansetzen, sondern muß es bei der großen Mehrheit, also bei denen, die Beschäftigung schaffen - das ist auch der kleinste Unternehmer mit einer Halbtagskraft -, und dort muß man die Lohnnebenkosten senken. Das wäre prioritär, würde den Standort nach vorn bringen und der Beschäftigung dienen.
({36})
Dies kann auch gegenfinanziert werden, wenn man denn bereit ist, mutige Schritte zu machen, indem man dies mit der ökologischen Steuerreform verbindet, wie wir oft genug gesagt haben. Daß sich hier die Koalition nicht zu einer klaren Auffassung durchringen kann, daß jetzt selbst Herr Necker für den BDI zumindest verbal einen größeren Reformeifer an den
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({37})
Tag legt als die Koalition, ebenso der Wirtschaftsverband, bei dem ich gestern zu sprechen hatte,
({38})
ist nicht verständlich.
Ich möchte daher wiederholen, was Rudolf Scharping hier bereits angesprochen hat: Diese Koalition ist leider nicht mehr in der Lage, solche entscheidenden Reformschritte auf den Weg zu bringen, die wir eigentlich schon viel früher gebraucht hätten.
({39})
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich hinter der Europäischen Gemeinschaft verstecken, dann werden wir eines Tages feststellen, daß wir dieses Reformvorhaben viel zu spät auf den Weg gebracht haben und daher diesem Standort keinen Dienst erwiesen haben.
Ich sage es noch einmal: Unser Vorsprung auf dem Gebiet der Umwelttechnik und Umweltwirtschaft ist nicht das Ergebnis einer gezielten Politik, sondern das Ergebnis des außerparlamentarischen Engagements vieler Bürgerinnen und Bürger, die in unserer Gesellschaft das Klima dafür bereitet haben, daß wir in Deutschland frühzeitig und rechtzeitig mit dem Umweltschutz begonnen haben.
({40})
Meine Damen und Herren, ich habe hier auch wieder gehört, daß die Steuervereinfachung ein Thema ist. Auch da müßten wir natürlich konkret werden. Das Ziel ist unstreitig. Sie wissen selbst, Herr Kollege Waigel, wie Ihre Vorschläge, auf die Sie Bezug genommen haben, kommentiert worden sind. Ich hatte ja bereits bei der letzten Bundesratsauseinandersetzung darauf hingewiesen, daß allein zu Beginn dieses Jahres - ich wollte es zunächst selbst nicht glauben - über 100 neue Rechtsvorschriften in Kraft getreten sind. Ich will das nicht Ihnen allein vorwerfen; denn das wäre wirklich unfair. Wir sind da ja alle beteiligt. Aber man faßt sich allmählich nur noch ans Hirn, wenn man sieht, in welchem Umfang über Gesetze und Verordnungen das Steuerrecht so kompliziert gemacht worden ist, daß es sozial ungerecht geworden ist.
({41})
Wenn Finanzwissenschaftler sagen, Steuern zahlten nur noch die Dummen - wie wir jetzt wieder lesen konnten -, dann ist das doch ein Alarmsignal und ein Auftrag an uns alle, die Steuervereinfachung jetzt wirklich beherzt und energisch anzugehen. Hierzu erwarten wir nun einmal, Herr Bundesfinanzminister, Vorschläge, die - ich sage das ganz klar - über die Ankündigungen, die Sie vor einigen Monaten oder Wochen vorgelegt haben, hinausgehen. Wir brauchen hier energischere Schritte.
Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen zur Wirtschafts- und Währungsunion. Ich habe mit Interesse dem zugehört, was Sie jetzt vorgetragen haben. Der Bundeskanzler hatte sich hinsichtlich des Zeitplans heute morgen etwas anders geäußert. Ich will ausdrücklich unterstreichen, daß der Zeitplan nicht das erste Kriterium sein darf - wie Sie es hier angeführt haben -, sondern es muß sicher sein, daß diese Währungsunion tatsächlich eine Stabilitätsunion wird und daß die Stabilitätskriterien nicht aufgeweicht werden. Selbst wenn Sie, Herr Kollege Waigel, das in guter Absicht getan haben und wenn es auch Argumente dafür gibt - Sie haben sie ja schon mehrfach vorgetragen -: Die Kritik, die national und international aufgekommen ist, hat sicherlich ihre Berechtigung. Denn der Verdacht, daß allzusehr politisch statt nach objektiven ökonomischen und finanziellen Kriterien entschieden werden könnte, ist ja auf Grund der Geschichte der Europäischen Union nicht von der Hand zu weisen.
({42})
- Ja. Ich sage also: Wir wollen an den Stabilitätskriterien festhalten. Aber ich füge hinzu: Sie allein reichen ökonomisch gesehen nicht aus. Nach diesen Kriterien erfüllt auch Malaysia die Voraussetzungen, in die europäische Wirtschaftsunion aufgenommen zu werden.
({43}) - Das ist nun einmal so.
({44})
Ich will damit nur sagen: Es handelt sich um einen ökonomischen Prozeß, der mit Haushaltskriterien allein nicht zu beschreiben ist. Oder anders ausgedrückt: Bei dem Zusammemschluß verschiedener Volkswirtschaften unter dem Dach einer gemeinsamen Währung spielen die Produktivität und die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften die entscheidende Rolle, nicht die schlichten Haushaltskriterien. Wenn das wieder übersehen wird, kommt es zu Fehlentwicklungen, die wir nicht wollen.
Sie haben wiederum von den zwei Geschwindigkeiten gesprochen. Das ist ein Problem. Als diese Gedanken zum erstenmal vorgetragen wurden, habe ich mich dazu geäußert. Es haben sich auch andere geäußert. Ich will es noch einmal ansprechen. Es gab einmal einen Konsens, daß man zuerst die politische Union anstrebt und dann die Wirtschafts- und Währungsunion. Als der Vertrag von Maastricht auf den Weg gebracht worden ist, hat man den gegenteiligen Weg gewählt. Das wurde damals auch gleich kritisiert. Nun ist man in dem Spannungsverhältnis, daß diejenigen, die sich politisch zur Europäischen Gemeinschaft bekennen, nicht gleichzeitig die strengen Voraussetzungen einer Währungsunion erfüllen. Dieses Dilemma gilt es so zu lösen - hier kommt uns besondere Verantwortung zu -, daß es bei den kleineren und insbesondere bei den schwächeren Staaten in Europa nicht zu Mißtrauen kommt. Das ist die schwierige Aufgabe. Ich sage hier in diesem Parlament noch einmal: Mir wäre der andere Weg
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({45})
lieber gewesen. Die europäischen Staaten sind den Maastrichter Weg gegangen. Wir haben das als Ausgangsposition zu respektieren. Aber wir sollten alles daransetzen, daß es hier nicht zu einer Fehlentwicklung und zu einem Aufweichen der Stabilitätskriterien kommt.
Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Es ist kein polemischer Vorwurf, wenn Ihnen verschiedene Sprecher dieses Hauses vorgeworfen haben, daß Ihre Regierungserklärung und Ihre Koalitionsvereinbarung Dokumente der Schwäche sind. Ich habe ein Angebot gemacht, indem ich Ihnen gesagt habe, Herr Kollege Waigel, wo wir Ihren Ansatz unterstützen. Das gilt auch für den Bundesrat. Ich habe versucht, deutlich zu machen, daß wir zur Lösung der anstehenden Fragen auch gesprächsbereit sind. Aber Sie müssen sich schon der Aufgabe unterziehen, die konkreten Fragen zu beantworten: Wie wollen Sie das Existenzminimum freistellen, und wie wollen Sie das finanzieren?
({46})
Wie wollen Sie den Familienlastenausgleich gestalten, und wie wollen Sie das finanzieren? Wie wollen Sie die Gewerbesteuersenkung gegenfinanzieren? Sie sollten sich nicht mit vagen Ankündigungen des Kollegen Schäuble oder auch Ihren Erklärungen, die ich hinterfragt habe, begnügen. Sie sollten endlich erkennen - Stichworte: Pflegeversicherung und Verdoppelung der gesetzlichen Lohnnebenkosten in den letzten zwanzig Jahren -, daß es sich bei den Lohnnebenkosten um ein vorrangiges Strukturproblem unserer Volkswirtschaft handelt und daß wir hier Prioritäten setzen sollten. Wir bieten an, die ökologische Steuerreform damit zu verbinden.
Meine Damen und Herren, wenn wir den Problemen ausweichen, stabilisieren wir vielleicht für eine Zeitlang eine Koalition. Aber unserem Lande haben wir damit nicht gedient.
({47})
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Hermann Otto Solms.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die einführenden Worte von Herrn Lafontaine bringen mich dazu, von meinem Konzept abzuweichen
({0})
und auf die wirklich höchst unsoliden und unseriösen Bemerkungen
({1})
zur Tätigkeit von Blockparteien und Blockparteimitgliedern einzugehen.
Meine Damen und Herren, wir haben hier im Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" gehabt. Dort ist nachzulesen, wie das geschichtlich zu beurteilen ist. Darauf will ich gar nicht eingehen. Das Entscheidende ist: Es ist völlig unseriös,
({2})
die Mitglieder der Blockparteien, die sich demokratischen Parteien angeschlossen haben, genauso wie die früheren Mitglieder der SED, die jetzt möglicherweise bei Ihnen oder bei anderen Parteien sind, und die SED-Mitglieder, die heute noch in ihrer alten Partei sind und die alte Politik weitermachen, in einem Topf zu werfen.
({3})
Das ist doch ein Unterschied, und deswegen halte ich das für unseriös. Jeder muß doch das Recht haben, sich zum demokratischen Staat zu bekennen und daran mitzuwirken, wie auch immer seine Vergangenheit war.
({4})
Aber das heute in einen Topf zu werfen ist völlig unzulässig.
({5})
Das muß ich hier noch einmal sagen.
Weiter zur Pflegeversicherung, Herr Lafontaine. Das ist nun auch wieder eine Geschichtsklitterung. Hätten Sie in den, weiß Gott, schwierigen Beratungen, die sich über Monate und Jahre hingezogen haben, die Position durchgehalten und vertreten, daß die Pflegeversicherung jedenfalls für die heute Pflegebedürftigen und für die pflegenahen Jahrgänge steuerfinanziert werden müßte und daß für die jüngeren Jahrgänge ein Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut werden kann, dann hätten wir sehr schnell ein viel besseres Modell gefunden.
({6})
Aber Sie sind ja von Ihren Grundüberlegungen abgewichen, haben das beitragsfinanzierte System von Herrn Blüm unterstützt, auch über die Bundesländer, und damit ist diese Pflegeversicherung, wie wir sie heute haben, verabschiedet worden, und zwar im Bundestag genauso wie im Bundesrat. Sie haben zugestimmt, nicht nur wir.
({7})
Sie haben zugestimmt, ganz persönlich.
({8})
Deswegen bitte ich: Machen Sie hier nicht so eine Fehldarstellung. So ist die Sache zustande gekommen.
Meine Damen und Herren, ich hatte eigentlich gedacht, wir sollten heute gejagt werden. Ich habe
von der Jagd noch nicht viel gemerkt, aber vielleicht kommt das noch.
({9})
Das einzig Neue, was heute vorgetragen worden ist, ist dieser so schnell, zügig und sachverständig zustande gekommene Koalitionsvertrag. Das ist es ja, was Sie verwirrt hat: daß wir so schnell einen so weitreichenden Koalitionsvertrag zustande bringen und die Regierungsbildung so problemlos gestalten würden, wie es gelungen ist.
Es ist gut so, daß es gelungen ist. Was mich nur irritiert - ({10})
Wir stehen jetzt vor einer vierjährigen Periode. Alles andere ist Wunschdenken.
({11})
Wir stehen vor einer vierjährigen Periode.
({12})
Sie tragen im Bundesrat große Verantwortung, und es gibt Anlaß, in vielen Bereichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu eruieren.
Wenn ich bei der Finanzpolitik bleibe, so haben wir beispielsweise ein Angebot gemacht und im Koalitionsvertrag ausdrücklich festgeschrieben, daß darüber mit den Ländern, mit den Kommunen und mit der Wirtschaft gesprochen werden soll. Es geht um das Konzept einer durchgreifenden Gemeindefinanzreform mit dem Ziel der Abschaffung der Gewerbesteuer und damit einer erheblichen Steuervereinfachung. Denn die beste Steuervereinfachung ist natürlich die Abschaffung einer Steuerart.
Nun sollte man jetzt nicht polemisieren, Herr Lafontaine, wie das gegenfinanziert wird, sondern sagen: Wir nehmen das Angebot an, setzen uns zusammen und schauen, ob wir dieses Werk zuwege bringen.
({13})
Denn jeder, der sich in irgendeiner Weise mit Wirtschafts- und Finanzpolitik beschäftigt, weiß doch, daß die Gewerbesteuer, wie wir sie in der Bundesrepublik haben, äußerst beschäftigungsfeindlich ist. Sie wirkt sich beschäftigungsfeindlich aus, weil sie die Investitionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft einschränkt. Deswegen muß sie beseitigt werden. Dazu muß man ein neues Konzept finden. Weil dafür voraussichtlich eine Verfassungsänderung notwendig sein wird, bedarf es ohnehin Ihrer Mithilfe auch hier im Bundestag, nicht nur im Bundesrat.
Deswegen wäre es gut und vernünftig, wenn wir zusammenkommen und sagen würden: Wir wollen uns hinsetzen und grundsätzlich und gründlich überlegen, wie wir so eine für die Bundesrepublik dringend notwendige Reform zustande bringen können, übrigens im Interesse der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und der Verwaltung - wegen der Verwaltungsvereinfachung.
({14})
Meine Damen und Herren, zur Steuerpolitik ist noch einiges andere zu sagen, wenn ich an Ihre Klage denke, das Konzept läge nicht vor. Der Bundesfinanzminister hat mir gerade gesagt,
({15})
daß in wenigen Wochen, noch in diesem Jahr oder mindestens im Januar nächsten Jahres, das Konzept vorgelegt wird.
({16})
- Ich sage ja gerade, in den nächsten Wochen. Herr Lafontaine, Sie haben dann wieder Gelegenheit, hierherzukommen und dazu Stellung zu nehmen. Das ist ja für Sie eine Chance und keine Belastung.
({17})
Diese wenigen Wochen können wir abwarten; denn das Gesetz muß ja bis Mitte nächsten Jahres verabschiedet sein, damit es in der Verwaltung rechtzeitig eingearbeitet werden kann.
({18})
Meine Damen und Herren, jetzt stellt sich die Frage, ob Sie die Politik der grundsätzlichen Erneuerung unserer gesellschaftspolitischen Strukturen mitgehen wollen oder nicht. Wollen Sie blockieren, oder wollen Sie mitmachen? Seinerzeit unter Willy Brandt ist die SPD als Reformpartei angetreten, um mehr Demokratie zu wagen. Heute hat sie sich zu dieser Strategie noch nicht durchringen können. Noch beschränkt sie sich auf Ablehnung und Blockade. Das wird aber nicht weit tragen. Das liegt natürlich daran, daß die klaftertiefen Widersprüche in der SPD ausgeklammert werden müssen, weil Sie sich in der eigenen Partei auf eine solche Politik jedenfalls bis jetzt nicht einigen können.
({19})
Das war auch nicht anders zu erwarten.
({20})
Joschka Fischer, der wohl die Absicht hat, die GRÜNEN in einem Schnellzug von der Fundamentalopposition hin zur rechten Machtbeteiligung zu führen, hat sich heute so geäußert, daß er doch neidisch zur F.D.P. schielt und gerne unsere Position übernehmen will.
({21})
Das wird nicht passieren. Das kann ich Ihnen versichern.
Wir haben kein gutes Wahlergebnis erzielt. Es war allerdings kaum schlechter als Ihres, zwei oder drei Zehntel, ich weiß es nicht. Aber wir haben die Lehre verstanden. Wir sind dabei, zu einer grundsätzlichen Erneuerung von Politik, Organisation und Personal des organisierten Liberalismus zu kommen.
({22})
Ich kann Ihnen zusagen, daß Sie mit uns rechnen müssen. Wir werden die Position in der Mitte des Parteienspektrums, in der wir verwurzelt sind, nicht aufgeben.
({23})
Wir werden uns weder nach links noch nach rechts bewegen, wenn schon, dann nur nach vorne in Richtung Modernisierung und Erneuerung. Dazu sind wir bereit, und dazu sind wir fest entschlossen. Deswegen bin ich zuversichtlich, daß wir wieder interessante und positive Entwicklungen in der F.D.P. vor uns haben.
Uns geht es jetzt um eine liberale Erneuerung der Gesellschaft. Wir wollen die Bürgerfreiheiten durch Förderung von Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft, Kreativität und Mitmenschlichkeit sichern. Wir wollen uns vom Gedanken der Subsidiarität leiten lassen und dadurch staatliche Bevormundung zurückdrängen. Kurz gesagt: Wir setzen auf den Menschen als Mittelpunkt unserer Bemühungen, auf seine Vernunft, sein Verantwortungsgefühl, seine schöpferischen Fähigkeiten und seine Leistungsbereitschaft.
In diesem Sinne ist die Koalitionsvereinbarung ein Dokument der Erneuerung Deutschlands für Freiheit, Fortschritt, Leistung und soziale Verantwortung. Gerade in diesen Punkten finden Sie immer wieder die liberale Handschrift. Darauf ist es uns angekommen.
({24})
Ich will nur auf einzelne Gesichtspunkte eingehen: schlanker Staat - ein urliberales Thema.
({25})
Seit langem wird davon geredet. Auch in der letzten Legislaturperiode haben wir einige konkrete Beschlüsse dazu gefaßt; ich erinnere an das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Das reicht nicht aus. Wir müssen hier schneller und energischer vorankommen.
Dies muß in den Köpfen der Menschen, gerade derjenigen in der Verwaltung, beginnen. Die Verwaltung muß lernen, daß sie zur Dienstleistung am Bürger und nicht zur Bevormundung des Bürgers berufen ist.
({26})
Wenn es uns gelingt, dies in die Köpfe einzupflanzen, dann können wir auch eine neue Politik gestalten.
Deswegen bedarf es dieser breiten gesellschaftspolitischen Diskussion. Denn wir machen keinen guten Staat mit immer mehr Staat. Wir brauchen einen effizienten, leistungsfähigen und schlanken Staat, der weiß, daß er eine dienende Funktion zu übernehmen hat.
Bei den Finanzen geht es darum, den Haushalt so zu gestalten, daß wir die Neuverschuldung reduzieren können und die Steuerbelastung der Bürger abbauen können. Beides kann gelingen. Der Finanzminister hat gerade darauf hingewiesen, daß wir auf gutem Wege sind. Das entpricht auch dem, was vor 2000 Jahren Marcus Tullius Cicero schon gesagt hat: Der Staatshaushalt muß ausgeglichen sein, die öffentlichen Schulden müssen verringert, die Arroganz der Behörden muß gemäßigt und kontrolliert werden.
({27})
Recht hat der Mann! Man muß sich eben immer wieder auf alte Lehren besinnen.
({28})
Bei den Ausführungen von Herrn Fischer habe ich - genau wie bei den Ausführungen von Herrn Lafontaine vor einigen Wochen - gemerkt, daß viele das Funktionieren unseres Steuersystems gar nicht richtig verstehen. Wir haben einen progressiven Steuertarif, der die Menschen so belastet, wie es ihrer Leistungsfähigkeit, d. h. ihrer Einkommenssituation, entspricht. Das ist eine Spannbreite zwischen gar keiner Besteuerung bei Geringverdienern über rund 20 % Besteuerung beim Eingangssteuersatz bis hin zu 60 % Besteuerung unter Einschluß des Solidarzuschlages und der Kirchensteuer bei Vielverdienern.
({29})
- Das ist keine Verhöhnung, das ist ein Faktum.
Wer das sieht, weiß eben, daß wir an dieser Steuerschraube nicht weiterdrehen können, wenn wir die Leute nicht dahin bringen wollen, die Leistung zu verweigern oder sich dieser Belastung zu entziehen. Deswegen geht kein Weg daran vorbei, diese Belastung zu senken. Das gilt auch für den Solidarzuschlag, der so schnell wie möglich abgebaut werden muß.
({30})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine durchgreifende Modernisierung unserer Wirtschaft. Die Wettbewerbsverhältnisse haben sich verschlechtert und erschwert, nicht zuletzt durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs. Wir haben es mit einem brutalen Kostenwettbewerb zu tun. Wer unsere Wirtschaft stärken will, muß sie flexibler handeln lassen können. Das gilt insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen, auf die es ja zentral ankommt, weil sie die Beschäftigung werden sicherstellen müssen; die großen werden ja über Rationalisierung weiter Personal entlassen, und das kann nur von den kleinen und mittleren Gesellschaften im Dienstleistungsbereich, bei Handel, Handwerk und Gewerbe sowie bei den freien Berufen aufgefangen werden. Darauf müssen wir uns im Rahmen der Wirtschaftspolitik ganz besonders konzentrieren. Wenn wir sie nämlich nicht besser differenzieren und flexibler handeln lassen, bleiben wir gnadenlos in
diesem Wettbewerb zurück. Das darf auf keinen Fall geschehen.
({31})
Das nächste Thema, um das es mir geht, ist das Thema Umbau des Sozialstaates. Herr Kinkel hatte ja schon darauf hingewiesen, daß wir heute etwa 150 soziale Leistungen durch über 30 Behörden auszahlen lassen. Kein Mensch in der Republik hat noch einen Überblick darüber, was dort wirklich geschieht. Das führt zwingend dazu, daß die Schlauen das System mißbrauchen und ausnützen, während die, die wirklich bedürftig, aber nicht ganz so clever sind, nicht einmal das bekommen, was ihnen zusteht. Das ist nicht mehr erträglich. Dieses System führt eben auch zu sozialer Ungerechtigkeit. Wer mehr soziale Gerechtigkeit im Sozialstaat will, muß sich dieser Reform, dem Umbau des Sozialstaats, stellen,
({32})
damit er effizienter wird, damit er sozial gerechter wird, damit die Bedürftigen das bekommen, was ihnen zusteht, und damit der Übergang aus Lohnersatzleistungen oder aus der Sozialhilfe hin in die Beschäftigung gleitender und mit weniger Widersprüchen gelingen kann, so daß es immer einen Anreiz gibt, eine ordentliche Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt aufzunehmen. Dafür haben wir unser Bürgergeldsystem angeboten; das muß noch einmal genau überprüft werden. Man muß auch einen Stufenplan entwickeln, wie man zu mehr Transparenz und zu mehr Kontrollierbarkeit des Sozialstaates kommt. Das ist ein Angebot, und das ist eine Aufgabe, der wir uns keinesfalls entziehen dürfen.
Ein weiterer Punkt ist die stärkere Betonung von Bildung, Forschung und Kultur in unserem Lande. Das ist ein Thema, das gerade im Bund - weil er hier nur teilweise und begrenzt zuständig ist - häufig unter den Tisch fällt. Wir müssen uns der Bildungspolitik stärker annehmen, denn die Bildung ist Grundlage der Zukunft für unsere jungen Leute. Je besser sie ausgebildet sind - je vielfältiger, je moderner -, desto leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger wird die Gesellschaft in Zukunft sein. Deswegen dürfen wir das auf gar keinen Fall vernachlässigen.
({33})
Dabei geht es uns insbesondere darum, eine Gleichbehandlung von beruflicher, allgemeiner und Hochschulbildung zu erreichen. Die berufliche Bildung wird leider schlechter behandelt und diskriminiert. Sie wird nicht in dem Maße in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt, wie es notwendig wäre.
({34})
In unserer Verfassung ist von Kunst nur einmal die Rede: In Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes ist festgelegt, daß die Kunst frei ist. Das ist auch alles, was ein freiheitlich-demokratischer Staat über das Verhältnis von Staat und Kunst festlegen kann. Jedes Wort mehr wäre von Übel. Aber in einer Demokratie sollte es keine geistige Trennung zwischen Kunst, Staat und Gesellschaft geben, denn dann gibt es keine Kultur.
Sie gehört aber mit zu den wichtigsten Lebensgrundlagen einer Gemeinschaft. Private und öffentliche Förderung der Kunst erfolgt nicht, weil sie unterhaltsame, vergnügliche Dinge zuwege bringt - auch das tut sie und soll sie natürlich tun; man sollte das nicht zu gering schätzen -, die Förderung der Kunst erfolgt, weil die Kreativität des Menschen das Herzstück dessen ist, was wir unter Freiheit verstehen. Die Rahmenbedingungen für diesen liberalen Grundsatz zu verbessern ist unser engagiertes Ziel.
({35})
- Bitte schön.
({36})
Nein, Sie dürfen erst, wenn ich den Redner gefragt habe, ob er eine Zwischenfrage zuläßt.
({0})
Frau Präsidentin, darf ich eine Zwischenfrage stellen? - Herr Kollege, Sie haben eben Kunst und Kultur sehr lobend erwähnt. Darf ich daraus entnehmen, daß sich die F.D.P.-Fraktion, obwohl dieser Bereich in der Regierungserklärung weggefallen ist, in besonderer Weise zur Wiederherstellung der Bundesfinanzierung einsetzen wird?
Sie wissen ja, daß wir die sogenannte Leuchtturmliste beschlossen haben, zugunsten der besonders herausragenden Kulturdenkmäler in den neuen Bundesländern. Darüber hinaus wollen wir uns bemühen, das Stiftungsrecht im Sinne der besseren Kulturförderung zu verbessern, damit auch mehr privates Kapital für die Finanzierung kultureller Dinge bereitgestellt wird.
({0})
Das ist vereinbart, muß aber natürlich konkretisiert werden. Die „Leuchtturmliste" - Sie kennen sie sicher - ist konkret.
({1})
- Nun, das fällt immerhin eigentlich in die Hoheit der Länder. Wir leisten hier Zusätzliches.
({2})
Meine Damen und Herren, Gesetz und Ordnung sind in unserem Staatswesen kein Selbstzweck. Ihren Rang und ihre Würde erhalten sie dadurch, daß sie die Voraussetzung für ein freies geistiges, politisches, soziales und wirtschaftliches Leben schaffen. Denn einer verbreiteten Vorstellung von Freiheit zum Trotz sind Freiheit und Schrankenlosigkeit nicht dasselbe. Sie kann nur in einem Klima gedeihen, das von Toleranz und Verantwortung bestimmt ist. Auch innere Sicherheit und persönliche Freiheit gehören zusammen.
Deshalb wollen wir mit allem Nachdruck die Politik und den Vollzug der Verbrechensbekämpfung verbessern, allerdings ohne die Grundrechte, die Persönlichkeitsrechte in unserer Verfassung einzuschränken. Ich glaube, daß man bis zu dieser Schranke der Einschränkung der Grundrechte noch vieles tun kann und wir zunächst die erheblichen Vollzugsdefizite, die wir bei Polizei und Justiz haben, schließen sollten, bevor man überhaupt über einen solchen Schritt nachdenkt. Das ist die für uns entscheidende Maxime.
In diesem Sinne möchte ich auch etwas zu dem Argument von Herrn Scharping in bezug auf das Geldwäschegesetz sagen: Wenn wir genügend Erfahrungen damit haben - es ist ja erst zwei Jahre in Kraft -, dann werden wir überprüfen, ob das geändert und verbessert werden muß. Das haben wir in der Koalitionsvereinbarung verabredet. Das heißt aber nicht, daß man gleich dazu übergehen muß, Art. 14 zu ändern, die Eigentumsgarantie in Frage zu stellen, und Vermögensbeschlagnahme schon im bloßen Verdachtsfalle durchführen kann. Meine Damen und Herren, wer dazu übergeht, der stellt natürlich unsere verfassungsrechtliche Ordnung auf den Kopf.
({3})
Im bloßen Verdachtsfalle - selbst im Falle eines begründeten Verdachts - zur Vermögensbeschlagnahme zu greifen, bedeutete eine Änderung unserer Grundrechte, ein Angriff auf die Eigentumsgarantie, was ich nicht mittragen könnte. Hier muß man eben immer abwägen, welchen Schritt zu gehen man bereit ist.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dies gilt auch für unsere Mitbürger mit anderen Nationalitäten.
({4})
Wir haben diese Menschen eingeladen, zu uns zu kommen. Sie haben Anteil daran, daß unser Zuhause funktioniert. Sie tragen zu unserem Wohlstand, unserer starken deutschen Wirtschaft, unserem Sozialprodukt bei. Sie zahlen Steuern, sie leisten Sozialabgaben für unser ganzes System. Sie leben also mit ihren Familien mitten unter uns.
Für ihr Lebensgefühl hat es ein elementares Gewicht, wie sich ihre staatsbürgerliche Stellung entwickelt.
({5})
Für sie ist von Bedeutung, eines Tages endlich die Empfindung loszuwerden, nur mitarbeitende Bürger zu sein. Wir müssen uns weiter für ihre Integration und Gleichberechtigung einsetzen. Das haben wir ja auch in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben, auch wenn das, so sage ich freimütig, nicht so weit geht, wie wir uns das gewünscht haben. Aber es geht weiter, als es vorher der Fall war.
({6})
Es ist richtig, was Herr Schäuble gesagt hat: Für lange Zeit und dauerhaft hier wohnende Ausländer muß ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung bestehen.
Sorgen allerdings bereitet unseren Mitbürgern der gewaltige Strom an Zuwanderung in den letzten fünf Jahren; denn jedes Land hat eine gewisse Kapazität für Integration und Aufnahme.
Herr Kollege, Ihre Redezeit geht zu Ende.
Vielen Dank. Ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin.
Hier müssen die Regeln des Asylrechts in aller Strenge angewendet werden. Auch darauf will ich hinweisen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir werden uns nicht, wie zu lesen und zu hören war, zufrieden zurücklehnen, sondern wir haben uns ein sehr ambitioniertes Programm gesetzt. Wir werden in vier Jahren - davon bin ich überzeugt - Rechenschaft über eine Politik der Reformen und des Fortschritts ablegen können, die unserem Volk den Schritt in die Zukunft mit Zuversicht ermöglicht. Wir laden Sie, insbesondere die SPD, ein, bei dieser Politik mitzuwirken; denn Sie haben über Ihre Mehrheit im Bundesrat entsprechende Verantwortung. Wir können viele Dinge nur gemeinsam tun; wir sollten sie aber auch gemeinsam tun.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Interessanteste, Herr Solms, an Ihrer Rede fand ich, daß Sie sich bei der Zitierung der lateinischen Klassiker der „Zizero"- und nicht der „Kikero " -Schule zugeschlagen haben. Das ist ein wichtiger Ansatzpunkt zwischen GRÜNEN und F.D.P., wahrscheinlich aber auch der einzige. Denn die Ausführungen, die Sie zum Liberalismus gemacht haben, teilen wir überhaupt nicht.
({0})
Wir sind mittlerweile die Partei, die die Menschen angesprochen hat, die für Menschenrechte, für Bürgerrechte, für Minderheitenrechte und für Frauenrechte eintritt.
({1})
Diese Menschen haben wir gesammelt, und sie werden wir nicht mehr hergeben. Ihren unsozialen Wirtschaftsliberalismus mögen Sie behalten; da gibt es keine Anknüpfungspunkte. Wir werden uns energisch dagegen einsetzen. Ich kann Ihnen sagen: In dieser Frage werden wir Fundamentalisten bleiben. Wir wollen nach wie vor den Globus und nicht die F.D.P. vor dem Untergang retten.
({2})
Zurück zur Außenpolitik. Wir alle vermuten, daß die Bundesregierung auch Außenpolitik betreiben will. Das entnehmen wir zwar nicht der Koalitionsvereinbarung oder der Regierungserklärung. Ein Indiz dafür könnte aber sein, daß der Bundeskanzler einen Außenminister ernannt hat. Was dieser wirklich will, wissen wir auch nach seiner Rede noch nicht so genau. Aber auf der Grundlage einzelner Versatzstücke, die man in den letzten Monaten vernehmen konnte, könnte man zumindest einige Mutmaßungen anstellen.
Beginnen wir mit der Frage - das ist eine theoretische Frage -: Was müßte eine Regierung tun, um, ohne öffentliches Aufsehen zu erregen, unter dem Deckmantel deutscher Normalisierung eine neue, national orientierte, militärgestützte Außenpolitik durchzusetzen? Sie könnte das nicht mehr als einzelner Nationalstaat tun - diese Zeiten sind vorbei -, wohl aber im Tandem mit einem anderen, der auf nationale Größe Wert legt, am besten mit einem Atomstaat, z. B. mit Frankreich. Neben diesem Land müßte ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat angestrebt werden. Zusammen könnten sie sich zum Kerneuropa erklären, das für den Rest des Kontinents den Takt angibt. Gemeinsam müßten sie die Anker eines eigenen westeuropäischen Militärsystems bilden. Die Streitkräfte müßten so umstrukturiert werden, daß sie nicht nur der Landesverteidigung dienen, sondern weltweit intervenieren können. Um überall operieren zu können, müßten die Luftlandekapazitäten ausgebaut werden. Ein als Flugzeugträger und Landungsschiff verwendbares Mehrzweckschiff könnte der Partner bauen, während man selber die Flugzeuge dazu beisteuert. In den eigenen verteidigungspolitischen Leitlinien müßte als Ziel die Sicherung von Rohstoffen und Handelswegen genannt werden.
Wer nun glaubt, dies alles seien Phantasiegebilde, der irrt. All dies sind Elemente der Koalitionspolitik, so wie sie in einzelnen Äußerungen führender Mitglieder in den letzten Monaten zum Ausdruck kamen. Wenn man genau hinschaut, findet man vieles davon im Koalitionsvertrag wieder, vor allem in seinen Weglassungen. Auf der einen Seite ist er so konkret, daß er ein ganzes Kapitel zu der Selbstverständlichkeit enthält, daß der Bundestag über Entwürfe von Vorschriften der Europäischen Union unterrichtet werden muß. Na bravo! Auf der anderen Seite findet man dort aber nicht ein einziges Wort zur Durchsetzung der Menschenrechte - auch das ist eine Aussage -, kein ernstzunehmendes Wort über die Beseitigung weltweiten Unrechts.
Schauen wir uns die Nord-Süd-Politik an. Das Schlußkapitel des Vertrages enthält dazu Aussagen, wie sie allsonntäglich von bayerischen Kanzeln verkündet werden. Der konkrete Gehalt erschließt sich erst bei einem Blick auf die Handelspolitik. Kein Wort ist dort über eine ökologische und solidarische Umgestaltung der Weltwirtschaft zu finden. Im Gegenteil. Man findet - wenn man das Wortgeklingel wegläßt - den bemerkenswerten Kernsatz - ich zitiere -:
Ein offenes, multilateral geordnetes System des Welthandels bleibt der beste Rahmen zur Wahrung der weltweiten Interessen der deutschen Wirtschaft ... auch im Verhältnis zu den Entwicklungsländern.
Deutsche Interessenwahrung gegenüber den Entwicklungsländern. Das steht im Koalitionsvertrag. Nicht deren Schulden aus der Entwicklungshilfe und den Hermes-Krediten will die Regierung erlassen, nicht Armut will sie bekämpfen, nicht selbsttragende Entwicklungen fordern, nicht den europäischen Markt für Produkte des Südens öffnen, nein, selbst den Ärmsten der Armen gegenüber hat sie nur das Ziel der deutschen Selbstbehauptung. Und auch dafür will sie Europa instrumentalisieren - Zitat aus dem Vertrag -:
Die EU muß als Instrument zur Stärkung einer solchen Ordnung, insbesondere auch über die Welthandelsorganisation ({3}), konsequent eingesetzt werden.
Meine Damen und Herren, früher nannte man so etwas schlicht Imperialismus.
({4})
Wo ausschließlich eigene Interessenvertretung handlungsleitend ist, müssen wir befürchten, daß die Bundesregierung die Menschenrechtsfrage mißbraucht, um einem historisch überholten Militär neuen Sinn zu geben. Man wird den Eindruck nicht los, wenn immer ein regionaler Konflikt entsteht, fragt die Bundesregierung nicht, wie dieser zu lösen sei, sondern wie sich die Bundeswehr beteiligen könne. Mit dieser Haltung aber wird die notwendige Diskussion um eine moderne Sicherheitspolitik zunichte gemacht. So mancher würde sich durchringen können, auch einer deutschen Beteiligung bei friedenserhaltenden Maßnahmen der UNO oder bei der Überwachung von Embargomaßnahmen zuzustimmen, wenn er nicht mit der berechtigten Furcht konfrontiert wäre, dies sei nur der Türöffner für eine militärgestützte deutsche Großmachtpolitik.
({5})
Friedenserhaltende Maßnahmen und Sanktionsüberwachung brauchen extra ausgebildete und in Konfliktvermittlung trainierte Einheiten. Die Bundeswehr taugt dazu nicht.
Statt zu fragen, welche neuen sicherheitspolitischen Instrumente wir angesichts der veränderten globalpolitischen Lage brauchen, wird gefragt, welche Aufgaben wir für die bestehende Militärstruktur erfinden können. Damit wird die einmalige historische Chance, die das Ende der strategischen Zweiteilung der Welt bietet, leichtfertig verspielt. Nach dem Ende der atomaren Vernichtungsdrohung müßten doch alle Kräfte eingesetzt werden, um zu einer umfassenden multilateralen Abrüstung zu gelangen, zu Sofortmaßnahmen wie einem Atomteststopp, einer Verlängerung der Nichtverbreitung von Atomwaffen, der Beseitigung aller biologischen und chemischen Waffen, einer Reduzierung der Truppenstärke, der VerLudger Volmer
nichtung aller taktischen Atomwaffen in Europa. Das fordern wir.
({6})
Es muß nach Sicherheitsmodellen gesucht werden, die nicht neue Blockkonfrontationen heraufbeschwören, sondern die Gegner von einst mit dem Ziel der Nichtangriffsfähigkeit unter einem Dach vereinen. Es muß nach Methoden der Konfliktvorhersage, nach Frühwarnsystemen, nach nichtmilitärischer Konfliktregelung und, wo Zwang denn notwendig werden sollte, nach nichtmilitärischen Formen gesucht werden. Warum wird nicht dieselbe Intelligenz, politische Energie, Finanzkraft und strategische Planung, wie sie eine Militäroperation erfordert, in Wirtschaftssanktionen investiert? Sie wären wahrscheinlich höchst effektiv. Praktisch aber werden Sanktionen so lasch gehandhabt, als wolle man ihr Scheitern geradezu demonstrieren, um endlich wieder Waffen einsetzen, um Waffen so lange in Nichtspannungsgebiete exportieren zu können, bis sie zu Spannungsgebieten werden.
In Deutschland hängen nur noch 140 000 Arbeitsplätze direkt von der Rüstungsproduktion ab. Warum wird diese Branche nicht geschlossen? Weil die Rüstungsfirmen gleichzeitig die vom Staat am meisten geförderten Forschungseinrichtungen sind. Warum legt die Bundesregierung nicht ein umfassendes Konversionsprogramm auf, das die Technologieentwicklung nicht an die Bedürfnisse der Militärs bindet, sondern an die der Umweltschützer und Ökologen? Weil sie immer noch nicht begriffen hat, daß die größten Gefahren, die der Menschheit drohen, aus der negativen Wechselwirkung von Armut und Umweltzerstörung, Hunger und Flucht resultieren. Auch die Kriege der Zukunft, die Kriege in der Dritten Welt werden hier ihre Ursache haben. Wir halten dagegen: Wer heute statt in Rüstung in die natur- und kulturangepaßte Technologieentwicklung investiert, braucht morgen keine Zinksärge für die eigenen Kinder, die er in den Krieg geschickt hat, um die Folgen seiner Fehlentscheidungen zu beseitigen.
({7})
Auch in der wichtigsten strategischen Frage, nämlich der nach der Rolle von NATO und KSZE hat die Bundesregierung keine Antwort. Der Verteidigungsminister drängt auf die Osterweiterung der NATO, bis er sogar von seinem amerikanischen Kollegen gebremst wird. Und der Außenminister schweigt. Wer macht in dieser Regierung eigentlich die Außenpolitik: die Militärs oder die Zivilisten? Wie stark kann eigentlich ein Außenminister sein, der sich als Vorsitzender einer untergehenden Partei nur soeben in eine politische Weiterexistenz retten konnte?
Die Diskussion über die KSZE macht dies deutlich, Herr Kinkel. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben Monate vor der Wahl gefordert, daß die KSZE zum neuen politischen Kern eines Systems kollektiver Sicherheit werden müsse, das die alten Militärstrukturen ablöst. Hohngelächter haben wir geerntet, nicht nur wegen unserer Utopie einer zivilen Außenpolitik, auch weil wir die KSZE überhaupt wieder ins Gespräch brachten. Sie sei doch längst tot, wurde uns
gesagt, eine Angelegenheit für die Geschichtsbücher. Auch Herr Kinkel tönte so. Eine Woche vor der Wahl aus Profilgründen sein Kurswechsel: Plötzlich entdeckte er die KSZE. - Nun steht sie im Koalitionspapier, leider nur an die Idee der NATO-Erweiterung angehängt, den Militärstrategien nachgeordnet. Dennoch sehen wir dies als Bestätigung unserer Auffassung, daß sich eine moderne Sicherheitspolitik über die KSZE verwirklichen muß.
({8})
Statt diese Chancen zu sehen, verkrampft sich die Bundesregierung in dem Versuch, nationale Interessen zu definieren. Als sei nicht die Idee der Nation selbst historisch überholt! Dabei hat ihr Beharren auf der Idee des Nationalen schon so furchtbare Folgen gehabt.
Heute stehen wir fassungslos vor den Geschehnissen in Bihač, wo sich die Barbarei nackter Nationalismen entlädt, in einem Staatsgebiet, das eigentlich multikulturellen Charakter tragen könnte. Wenn aber heute die Serben in ihrem nationalistischen Wahn unfaßbare Greueltaten begehen, dann hat das auch damit zu tun, daß die Nationalstaatsbildung als Lösungsmodell für den Jugoslawienkonflikt von deutscher Seite mit befördert worden ist.
({9})
Das war Wasser auf die Mühlen der ohnehin national denkenden Serben. Wenn heute niemand mehr so recht weiß, was noch zu tun ist, wenn alle Seiten dieses Hauses sich im Entsetzen und im Abscheu einig sind, dann sollten sie sich auch einig sein, die einzig mögliche Lehre zu ziehen, nämlich daß Nationalismus nie eine Lösung ist, sondern immer das Problem.
Danke.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Alfred Dregger.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, daß ich am Beginn einer neuen Legislaturperiode einige Gedanken vortrage, die mir wichtig erscheinen.
Das vereinigte Deutschland ist verläßlicher Verbündeter des Westens und zugleich geschätzter und gesuchter Partner des Ostens. Mit all unseren Nachbarn, auch im Norden und im Süden, unterhalten wir freundschaftliche Beziehungen. Das hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Es ist das Ergebnis deutscher Politik von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl.
({0})
Unsere Nachbarn verbinden mit ihren gutnachbarlichen Beziehungen zu Deutschland zunehmend Hoffnung für sich selbst, Hoffnung in einem Ausmaß, wie es vor Jahren noch nicht zu erwarten war
Deutschland nicht mehr als Bedrohung, sondern als Hoffnungsträger seiner Nachbarn? In gewissem Umfang sind wir es; wir sind es auf Gegenseitigkeit. Auch wir verbinden damit Hoffnungen und Erwartungen an unsere Nachbarn.
Bei dieser außerordentlichen Verflechtung der Beziehungen und Interessen ist es wichtig, daß wir uns in die Lage unserer Nachbarn versetzen können und diese sich in die unsrige. Auch wenn die Entscheidungen auf nationaler Ebene getroffen werden, die Auswirkungen werden auch die anderen mitzutragen haben. Deswegen meine ich: In dieser Lage hat jeder nicht nur mit dem eigenen Kopf, sondern auch mit dem Kopf des Nachbarn zu denken.
Meine Damen und Herren, Grundlage unserer Europapolitik ist und bleibt unser Zusammengehen mit Frankreich. Es schützt uns vor der Gefahr der Isolierung, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts unser Schicksal gewesen ist. Solange Frankreich an unserer Seite steht, kann es eine Gleichgewichtspolitik unseligen Angedenkens gegen Deutschland als dem wirtschaftlich stärksten Staat Europas nicht mehr geben. Die deutsch-französische Sonderbeziehung kann aber nur Bestand haben, wenn sie europabezogen, und zwar auf das ganze Europa bezogen, bleibt. Auch Großbritannien, Italien, Spanien, Polen, Ungarn und die anderen sind selbstverständlich wichtige Partner für uns.
Neben Paris ist Washington unsere wichtigste Adresse. Die USA waren diejenigen, die uns bei der Wiedervereinigung ohne jeden Vorbehalt unterstützt haben. Sie haben sich als stark und verläßlich erwiesen. Einen solchen Verbündeten muß man pflegen; denn er wird nicht zu ersetzen sein. Auch deshalb sage ich: Es kann keine europäische Konstruktion geben, die die Allianz mit den USA ersetzen könnte.
({1})
Unsere Beziehungen zu Moskau sind anderer Art, aber ebenfalls von größter Bedeutung. Wir müssen Rußland helfen, damit es die Chance hat, seine jetzige Krise zu überwinden. Wir Deutsche tun in dieser Hinsicht mehr als alle anderen zusammen.
Aber ebenso klar ist: Wir Deutsche könnten nicht damit einverstanden sein, wenn Rußland den ostmitteleuropäischen und den baltischen Staaten als Hegemonialmacht gegenübertreten wollte. Das widerspräche geschlossenen Verträgen und würde im zusammenwachsenden Europa jedes Vertrauen zerstören.
Rußland ist seit dem nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts europäische Großmacht. Es war als solche an allen gesamteuropäischen Entscheidungen beteiligt. Das wird so bleiben. Wir können und wollen die europäische Friedensordnung daher nicht gegen, sondern mit Rußland bauen.
({2})
In der Demokratie wird politisches Bewußtsein vor allem durch die öffentliche Auseinandersetzung vermittelt. Deshalb brauchen wir eine große öffentliche Debatte über Inhalt, Ziel und Weg der europäischen Integration. Darin muß meines Erachtens für unsere
Bürger erkennbar werden, daß die Europäische Union nicht zu Lasten ihrer Nationalstaaten verwirklicht wird, die ihnen Schutz, Geborgenheit und Identität geben, sondern zu deren Nutzen und Ergänzung.
Meine Damen und Herren, Nationalstaat und Europäische Union widersprechen sich nicht. Zusammen sind sie das Modell der Zukunft. Das sollte unsere Botschaft in der Europadebatte sein.
({3})
Meine Damen und Herren, im Laufe dieser Legislaturperiode werden wichtige Entscheidungen darüber getroffen, ob, wann und wie die Staaten Ostmitteleuropas einschließlich der baltischen Staaten Vollmitglieder der Europäischen Union werden. Es liegt nicht nur im deutschen, sondern auch im europäischen Interesse, daß das geschieht und daß es bald geschieht. Schwebezustände führen zu Instabilität.
Sicherheit wollen und können diese Staaten nur durch ihre Zugehörigkeit zum Westen finden. Die NATO zögert bisher, sie aufzunehmen. Das ist gefährlich, nicht nur für diese Staaten selbst, sondern für ganz Europa. Denn ihre Unsicherheit wäre auch die unsrige.
Deshalb sollte meines Erachtens Europa selbst aktiv werden und diesen Völkern eine konkrete Perspektive bieten, nicht nur für ihren Beitritt zur Europäischen Union, sondern auch zur gemeinsamen Sicherheit des Westens. Die politische Anbindung der Staaten Ostmitteleuropas an die Europäische Union ist meines Erachtens noch wichtiger als die ökonomische Anbindung.
({4})
Im übrigen hängt eines vom anderen ab. Erst wenn die Sicherheit gewährleistet ist, werden die Investoren kommen, vorher nicht.
Meine Damen und Herren, Europa braucht außer einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik. Das jetzt geltende Europäische Währungssystem ({5}) ist meines Erachtens besser als sein Ruf. Es hat den Vorteil, daß unterschiedliche Inflationsraten in Europa durch Auf- und Abwertungen aufgefangen werden können. Die Einführung einer europäischen Einheitswährung setzt meines Erachtens voraus, daß die Produktivitäts- und Stabilitätsunterschiede zwischen den europäischen Volkswirtschaften mehr als bisher einander angeglichen sind.
Auch unsere Partner werden verstehen, daß wir Deutsche nicht bereit sind, auf unsere stabile Währung zu verzichten. Wir sind aber bereit, die DMark-Prinzipien der Geldwertstabilität auf ganz Europa auszudehnen, wenn unsere Partner es wollen und bereit sind, die Konsequenzen zu tragen, die damit verbunden sind. Wie hervorragend diese Prinzipien sind, hat sich in diesen Monaten gezeigt. Unsere D-Mark ist unter der Belastung des Aufbaus Ost nicht weich, sondern noch härter geworden.
({6})
Deshalb werden wir an den im Vertrag von Maastricht vereinbarten Stabilitätskriterien mit aller EntDr. Alfred Dregger
schiedenheit festhalten. Sie aufzuweichen würde nicht nur uns, sondern allen Beteiligten schaden. Ich glaube, mit Herrn Ministerpräsidenten Lafontaine in diesem Punkt einer Meinung zu sein.
Meine Damen und Herren, es gibt neben dem politischen und ökonomischen noch einen dritten Grund, warum gerade wir Deutschen auf Europa angewiesen sind. Meines Erachtens ist er der wichtigste. Frieden für Deutschland gibt es nur - das zeigt die Geschichte - im europäischen Verbund. Deutschland liegt in der Mitte. Es ist wirtschaftlich und sozial stärker als jeder seiner Nachbarn. Es hat mit Ausländern mehr als 80 Millionen Einwohner. In Frankreich sind es mit Ausländern 57,5 Millionen, in Großbritannien 57,8 Millionen. Dieser Größenunterschied macht uns bei unseren Nachbarn nicht beliebter. Hinzu kommen die Lasten der Vergangenheit, die sich unschwer gegen Deutschland instrumentalisieren lassen. Wenn Deutschland nicht im europäischen Verbund lebte, könnte sich wiederholen, was in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts geschehen ist. Daher sage ich: Friede, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand - all das geht nicht ohne Europa. Wäre die Politische Union Europas, die wir jetzt bauen, schon zu Beginn des Jahrhunderts entstanden, dann wären uns - davon bin ich überzeugt die beiden Weltkriege erspart geblieben.
({7}) Europapolitik ist daher vor allem Friedenspolitik.
1995 wird das Ende des Zweiten Weltkrieges 50 Jahre zurückliegen. Der Bundeskanzler hat heute morgen daran erinnert. Ich gehöre zu den letzten in diesem Hause, die diesen Krieg als Frontsoldaten mitgemacht haben. Ich bin Angehöriger des Jahrgangs 1920, eines Jahrgangs, der schon wegen seines damaligen Lebensalters Hitler nicht gewählt hat, der aber von Hitler in den Krieg geschickt wurde. Über die Hälfte dieses Jahrgangs ist gefallen. Als Vertreter der Kriegsgeneration, die auch die Generation war, die Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut hat, möchte ich sagen: Niemand hat das Recht, den deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges pauschal die Ehre abzusprechen.
({8})
Das wäre nicht nur ungerecht, sondern würdelos. Es würde in extremem Gegensatz zu dem stehen, was die Gründer unserer Republik, Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss, dazu gesagt haben. Auch unsere ehemaligen Kriegsgegner sehen das nicht anders.
Anläßlich der „Abmeldung" der letzten russischen Soldaten aus Deutschland, an die der Bundeskanzler ebenfalls erinnert hat, sagte Präsident Jelzin am 31. August dieses Jahres in Berlin, Hitler habe die Sowjetunion zum Krieg gezwungen. Das deutsche Volk sei daran nicht schuld gewesen. Man habe sogar in den Jahren „schwierigster Prüfungen" eine klare Grenze zwischen den Deutschen und der verbrecherischen Führung gezogen, die in Deutschland an die Macht gekommen sei. - Wir sollten Präsident Jelzin für diese noble Geste dankbar sein.
Eine ähnliche Dankesschuld empfinde ich auch gegenüber Joseph Rovan, einem in Berlin aufgewachsenen Franzosen, der als Jude Dachau überlebt hatte und dennoch schon 1945 dazu bereit war, im Auftrag der französischen Regierung ein Hilfsprogramm gegen die schreckliche Not der deutschen Kriegsgefangenen in den Rheinwiesen-Lagern durchzuführen. Dieser Franzose und Europäer, emeritierter Professor für Geschichte an der Sorbonne, war der würdige Festredner auf der zentralen Gedenkfeier am 17. Juni 1993 zum 40. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Rovan hat in seiner Rede, die ich insbesondere Herrn Abgeordneten Heym zur Lektüre empfehlen möchte, die Freiheitskämpfer des 17. Juni in eine Reihe gestellt mit jenen, die 1814 gegen die Despotie Napoleons aufgestanden sind; er hat sie verglichen mit den demokratischen Freiheitskämpfern von 1848 und mit den Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944, die Deutschland von Hitler befreien wollten.
Joseph Rovan schloß seine Rede mit der Feststellung - ich zitiere ihn -:
Die Frauen und Männer des 17. Juni sind damit in die Reihen derer getreten, denen das deutsche Volk es verdankt, daß es in Ehren weiterleben kann.
({9})
Meine Damen und Herren, in Ehren weiterleben zu können, das scheint mir das Wichtigste für den Bestand und die Zukunft der deutschen Nation zu sein.
Die Maximen von Joseph Rovan sollten wir uns zu eigen machen. Mir geht es, wenn ich mich dafür einsetze, nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft unseres Volkes. Denn kein Volk erträgt es, immer nur an den dunklen Seiten seiner Geschichte gemessen zu werden.
({10})
- Sie können das aushalten, Herr Fischer; aber kein Volk würde das aushalten, auch das unsrige nicht.
Deshalb sage ich: Unsere Geschichte hat nicht zwölf, sondern 1 200 Jahre gedauert. Was in diesen 1 200 Jahren auf nahezu allen Gebieten in auf bauender Weise geleistet wurde, darauf können wir Deutsche ebenso stolz sein wie auf das, was wir zur Zeit als freier, demokratischer Staat für Europa und die Welt leisten.
({11})
Zum Schluß ein Wort zum Zusammenwachsen der Nation im vereinten Deutschland. Wir sind in manchen unserer Auffassungen noch sehr verschieden, was kein Wunder sein kann, da wir in vielen Jahrzehnten ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und auch heute die Herausforderungen nicht für alle dieselben sind. Jetzt müssen wir in einem mühsamen und manchmal schmerzlichen Prozeß zusammenwachsen. Da hat es keinen Sinn, die Unterschiede zu verkleistern und auf Harmonie zu machen. Wir müssen miteinander reden, gegebenenfalls auch miteinander streiten. Aber wir sollten es nicht als Ossis
und Wessis tun, sondern als Deutsche, die die Einheit wollen.
Wir wissen in Ost und West noch zuwenig voneinander, zuwenig über die Zeit unserer Trennung und zuwenig auch über unsere gemeinsame Geschichte. Der totale Krieg, die totale Niederlage, die Teilung der Nation und ihr Aufgehen in entgegengesetzten politischen Systemen waren ein ungeheurer Eingriff in die Gefühlswelt der Menschen, insbesondere unserer Landsleute im Osten, die sich jetzt nach der Wiedervereinigung zum Teil, wenn auch unbegründet, als Verlierer betrachten.
In Wahrheit sind alle Deutschen in Ost und West Gewinner der deutschen Einheit. Nur die Träger des alten Gewaltregimes haben einen Teil ihrer Privilegien verloren. Das war auch dringend notwendig. Alle aber haben die Menschenrechte gewonnen, alle sind frei und können sich frei entfalten. Das ist mehr als der materielle Lebensstandard, der sich im Schnitt für alle verbessert hat.
Wir müssen zur inneren Einheit finden. Im politischen Bereich müssen wir allerdings Unterschiede machen. Wir Christlichen Demokraten und ChristlichSozialen sind gegen alle totalitären Systeme, auf der Rechten wie auf der Linken. Wir sind deshalb auch Antikommunisten, und die Menschen in der ehemaligen DDR sind es in ihrer großen Mehrheit auch. Wir müssen diesen Menschen, die ja nicht über alles orientiert waren - das waren wir in der HitlerDiktatur auch nicht -, sagen, daß die neue PDS die alte SED mit neuem Namen ist.
({12})
Es waren SED-Kommunisten - niemand anderes -, die die DDR ruiniert und ausgebeutet haben, die im Auftrag des SED-Staates schreckliche Verbrechen begangen haben, die ihre Bürger an der Grenze erschossen haben wie die Hasen. Auch das Zuchthaus Bautzen und seine Folterer können und dürfen wir nicht vergessen.
Hinzu kommt, daß die SED/PDS aus der Geschichte, auch aus ihrer eigenen, bisher nichts gelernt hat. Wer, wie Sie noch heute, meine Damen und Herren von der PDS, „gesellschaftliche Investitionslenkung" will, wer wie Sie „Wirtschafts- und Sozialräte auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene schaffen" will, wer wie Sie - man höre genau hin - „den außerparlamentarischen Kampf und gesellschaftliche Veränderungen für entscheidend" hält, der steht nicht voll und ganz auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Der will fortführen, was Ulbricht, Honecker und Genossen in Deutschland angerichtet haben.
({13})
Meine Damen und Herren, im Ergebnis wären das wiederum Unterdrückung statt Menschenwürde, Unfreiheit statt Freiheit, Kommandosystem und Kollektivismus statt Sozialer Marktwirtschaft, Verarmung statt Wohlfahrt. Ich füge hinzu: Sagen Sie sich los von Ihrer „kommunistischen Plattform", dem Stoßtrupp der DDR-Vergangenheit,
({14})
dem Sie in Ihrer Partei Heimat und Aktionsrahmen bieten.
Wir brauchen in Deutschland keine „kommunistische Plattform", ebensowenig wie wir nach 1945 eine nationalsozialistische Plattform gebraucht haben.
({15})
Die Kommunisten haben über Deutschland genug Unglück gebracht, in der Weimarer Zeit sogar zeitweise im Bündnis mit den Nationalsozialisten. Nein, wir brauchen keine Plattform dieser Art. Wir brauchen Demokraten.
({16})
Auf Kommunisten sind wir auf Grund der Wahlergebnisse auch nicht angewiesen, Gott sei Dank, weder im Osten noch im Westen; es sei denn, uns sind Posten von Gnaden der Kommunisten wichtiger als unsere demokratischen Grundsätze und Überzeugungen.
In Magdeburg hat die SPD diese Wertung leider nicht vorgenommen.
({17})
- Sie müssen die Wahrheit anhören. - Auch in
Schwerin scheint es ihr schwerzufallen, sich eindeutig
von der kommunistischen SED/PDS zu distanzieren.
({18})
Die SPD schadet sich dadurch zunächst selbst, aber darüber hinaus unserem freiheitlichen System, das wir nicht verraten, sondern ausbauen wollen.
Meine Damen und Herren, unsere Aufgaben werden auch in der jetzt beginnenden Legislaturperiode nicht leicht sein, aber sie sind erfüllbar, und wir werden sie erfüllen. Das bisher Geleistete ist eine Ermutigung für das, was vor uns liegt.
Die bisherigen Ergebnisse, Einheit in Freiheit, stabiles Geld für alle Deutschen, eine unter dem europäischen Durchschnitt liegende Neuverschuldungsrate - und das trotz der ungeheuren finanziellen Anstrengungen für den Aufbau Ost - der begonnene Wirtschaftsaufschwung und die Tatsache, daß diejenigen, die die deutsche Einheit wollten und sie herbeigeführt haben, wiederum vom deutschen Volk den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten haben, sind eine große Ermutigung für uns und für alle, die jetzt in der inneren Einheit Deutschlands die vorrangige Aufgabe sehen.
Die fünfte Regierung Kohl setzt sich aus erfahrenen Ministern und aus jungen Talenten zusammen. Vor allem aber ist es ein Glück für Deutschland, daß Helmut Kohl wieder Bundeskanzler ist.
({19})
Alle unsere Partner in Ost und West haben darauf gehofft. Helmut Kohl verkörpert ein Vertrauenskapital, das uns unsere weitere Arbeit für Deutschland erleichtern wird. Natürlich wird die Opposition opponieren, das ist ihre Aufgabe. Aber sie sollte sich hüten, zu blockieren, wie sie es zum Schaden des deutschen Volkes, zum Schaden unserer Demokratie, letztlich
aber auch zum eigenen Nachteil beim Asyl allzu lange gemacht hat.
({20})
Meine Damen und Herren, auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollten ihre Haltung überprüfen. Sie haben gemerkt, daß wir bereit sind, wenn es vertretbar ist, auch mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Herr Volmer hat mich heute allerdings nicht gerade ermutigt, darauf zu hoffen.
Wir alle aber, Regierung und Opposition, haben den Vorzug, vom deutschen Volk zu seinen Vertretern gewählt worden zu sein. Wir alle sollten uns dessen würdig erweisen.
Glückauf! Es lebe Deutschland, unser Vaterland!
({21})
Das Wort hat nun die Abgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde heute hier den Schwerpunkt Europapolitik mit ansprechen. Vorher möchte ich sagen: Es gäbe hier vieles an die Adresse des letzten Redners zu kommentieren. Was z. B. den Umgang mit der Geschichte angeht, so halte ich es - und ich denke, eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung ebenfalls - mit dem, was Richard von Weizsäcker aus Anlaß des 8. Mai 1945 gesagt hat: Das Geheimnis der Versöhnung .heißt Erinnerung. ({0})
Aus dieser Erinnerung werden wir hoffentlich alle unsere Verantwortung für die Zukunft unseres Landes tragen. So habe ich das immer verstanden.
Das zweite, was ich sagen wollte - deshalb werde ich mich in diesem Deutschen Bundestag jedenfalls nicht mit der CDU/CSU und auch nicht mit der F.D.P. und schon gar nicht mit anderen Parteien in eine Diskussion darüber begeben -: Herr Dr. Dregger, die Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei, die nach dem Ende des Nationalsozialismus ihren ehrlichen Namen nicht hat ändern müssen. Und von Parteien, die das von sich nicht sagen können, lassen wir uns keine Belehrungen in Demokratie und Menschenrechte geben.
({1})
Ich möchte diese Diskussion heute dazu benutzen, um im Vorfeld des europäischen Gipfels am 9. und 10. Dezember das zu tun, was eigentlich eine Notwendigkeit von seiten der Bundesregierung gewesen wäre, nämlich etwas zur Bilanz der europäischen Ratspräsidentschaft zu sagen.
({2})
- „Schriftlich vorlegen! " Herr Dr. Kinkel, haben Sie
immer noch nicht gemerkt, daß der Umgang des
Deutschen Bundestages mit der Europapolitik fürderhin ein anderer ist? Wir sind nämlich zukünftig an der Formulierung von Europapolitik beteiligt. Das ist keine Sache, die Sie uns über die Presse mitteilen können. Insofern ist es vielleicht besser, wenn Sie uns ihre Absichten schriftlich mitteilen. Denn es gab Ankündigungen - und dabei ist es geblieben -, informelle Ratstagungen und Schauveranstaltungen, die in letzter Konsequenz keinerlei praktisches Ergebnis gebracht haben, weder bei der Frage der Harmonisierung der Quellensteuer noch im Wohnungsbau noch in irgendeinem anderen Bereich. Selbst die Würzburg-Tagung der Kulturminister, bei der eigenartigerweise der Außenminister den Vorsitz geführt hat, hat für die Menschen in unserem Lande keine praktischen Ergebnisse gebracht.
Ich will an dieser Stelle verkürzt sagen: Hätten diese 13 informellen Ratstagungen nicht stattgefunden und wäre statt dessen ein wirklich entscheidender Beschluß zur Frage der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gefaßt worden, dann hätte das dem Europäischen Rat und dem Ministerrat zur Ehre gereicht. Das wäre das gewesen, was in dieser Phase notwendig gewesen wäre.
({3})
Wir haben in der Diskussion der letzten Wahlkampfwochen ein Kerneuropa-Papier gehabt, das zu großer Verwirrung bei den europäischen Nachbarstaaten beigetragen hat. Karl Lamers, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, hat sich jetzt noch einmal auf einer Reise in den europäischen Ländern bemüßigt gesehen, zu erklären, was gemeint sei. Ich stelle fest: Das hat, jedenfalls nach Berichten von Kolleginnen und Kollegen, zu mehr Verwirrung geführt als zu mehr Klarheit. Ich frage mich, was eigentlich in den Koalitionsvereinbarungen jetzt aus diesem Konzept Kerneuropa geworden ist. Ist es jetzt wirklich auf diese Art und Weise erledigt? Oder sind da wieder Formelkompromisse gemacht worden, die dann nicht hier im Deutschen Bundestag politisch diskutiert werden, sondern die uns anschließend in einer neuen Form von Regierungskonferenz, Maastricht II, sozusagen durch die Hintertür mit Konzepten, etwa zur europäischen Verteidigungspolitik oder dergleichen, serviert werden?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Nein danke, der Herr Irmer kann sich wieder setzen.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Günther ({0})?
Nein, auch nicht.
Gestatten Sie gar keine Zwischenfragen?
Das kommt drauf an. Vielleicht kommt noch etwas Interessanteres an Rückfragen.
({0})
Ich komme auf das Thema zurück: Was ist aus dem Konzept des Kerneuropa geworden? Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, daß in der Phase der Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik nichts beschlossen worden ist, was real die Situation von Menschen verbessern würde.
Ich sage an die Adresse des Sozialministers: Eine der großen Ankündigungen war, wir bräuchten ein europäisches Gesetz, das Lohn- und Sozialdumping auf den Baustellen in unserem Land und bei Dienstleistungen verhindert. Es ist nicht nur nicht gekommen,
({1})
sondern es findet sich auch in den Koalitionsvereinbarungen überhaupt nicht mehr als Ziel der jetzigen Bundesregierung. Das heißt: Es war offensichtlich lediglich eine Ankündigung im Wahlkampf.
({2})
Selbstverständlich teile ich die Auffassung, wenn gesagt wird, es gehe darum, daß es in europapolitischen Fragen in den Grundlinien Gemeinsamkeiten gibt. Aber auch hier die gleiche Konzeptionslosigkeit: Was jetzt hier vorgelegt worden ist und was heute die Vertreter der Regierung in europapolitischen Fragen dargestellt haben, zeigt, daß „Durchwurschteln" bei Ihnen angesagt ist und daß es Unklarheiten gibt. Der Hauptgrund für diese Unklarheiten ist meines Erachtens, daß die Bundesregierung es immer noch nicht verstanden hat, daß eine zentrale Voraussetzung der bisherigen Europapolitik heute nicht mehr existiert, nämlich die unbestrittene Akzeptanz in der Bevölkerung.
Es liegt noch eine Bitte nach einer Zwischenfrage vor.
Danke. - Es ist alles wahr und richtig, was an dieser Stelle Herr Dregger und auch der Bundeskanzler zur Frage der Friedenssicherung durch die Europäische Union gesagt haben. Das ist alles wahr und richtig.
Aber es ist auch wahr und richtig - und wir wie die Bundesregierung müssen daraus Konsequenzen ziehen -: Für die Mehrzahl der Menschen in Europa rechtfertigt sich die europäische Einigung heute nicht mehr allein aus den schrecklichen Erfahrungen der europäischen Geschichte, und sie rechtfertigt sich noch weniger allein aus dem großen gemeinsamen Markt. In den 50er und 60er Jahren stand Europa für den demokratischen Aufbau und für die Verbesserung von Wohlstand. Heute wird es - und dies muß doch einmal ehrlich zugegeben werden - bestenfalls als Reparaturbetrieb angesehen.
Welche Konsequenzen ziehen die Regierungen daraus? Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung daraus? Ich habe von Waigel heute hier nur ein entschiedenes „Weiter so à la Maastricht" gehört. Das würde das Ansehen Europas endgültig demolieren.
Wäre es nicht besser, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich mit dem Datum 1996 für die Revision des Maastricht-Vertrages nicht selbst unter Zeitdruck zu setzen, die dann wieder die üblichen Konsequenzen produzierte und unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfände,
({0})
und statt dessen in großen Foren sowie in Anhörungen des Deutschen Bundestages und in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland die weitere Entwicklung der Europäischen Union nach der Aufnahme Schwedens, Finnlands, Österreichs und hoffentlich auch Norwegens zu diskutieren und dabei vor allem die Frage der Stärkung der parlamentarischen Demokratie und die Leistungsfähigkeit der Europäischen Union in den Vordergrund zu stellen? Das muß meines Erachtens die Orientierung sein, damit die Akzeptanz in der Bevölkerung überhaupt wieder erreichbar ist.
({1})
Welche Schlußfolgerungen - das ist heute bei Joschka Fischer angeklungen - zieht denn die Mehrzahl konservativer Regierungen in Europa aus der veränderten Lage nach dem Wegfall der Mauer in wirtschaftspolitischen Fragen? Unter dem neuen Druck von Wettbewerb setzen sie auf Lohnsenkungen und Sozialabbau. Das ist ihr Konzept.
Ich meine, es wäre die große Chance für die Westeuropäer, das zu stärken, was in Westeuropa am meisten vorhanden ist, was den Menschen insgesamt am meisten nutzt, nämlich die Qualifikation der Arbeitskraft von Menschen, die Ausbildung von Menschen, ihre Arbeitsmöglichkeit und ihre Berufstätigkeit. Arbeitslosigkeit zerstört jeden Tag aufs neue das Wichtigste, das Menschen besitzen, nämlich ihre berufliche Qualifikation und Fähigkeit.
Von der Bundesregierung ist zu diesem Bereich der Europapolitik überhaupt keine Aussage zu hören gewesen. Wenn es aber nicht gelingt, den 18 bis 20 Millionen arbeitslosen Menschen in Europa wieder Arbeit zu geben, dann brauchen wir uns über die Akzeptanz der europäischen Einigung überhaupt keine Gedanken mehr zu machen, weder mit erster, zweiter oder dritter Geschwindigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Die Diskussion über zwei Geschwindigkeiten oder was auch immer interessiert die Leute nämlich einen feuchten Kehricht.
Ein anderer Punkt bei den Grundfragen, die wir uns stellen müssen, die sich diese Bundesregierung und im übrigen eine - hoffentlich bald kommende -sozialdemokratisch geführte Bundesregierung stellen muß: Die alte Europäische Gemeinschaft konnte noch auf dem ungebrochenen Vertrauen in die Unerschöpflichkeit natürlicher Grundlagen, von Rohstoffen, Umwelt usw. aufbauen. Heute wissen die Menschen,
daß wir auf eine globale Katastrophe zusteuern, wenn dieser Ansatz beibehalten wird. Wenn das knappe Drittel der Menschen, die in Westeuropa, in Japan und in den USA leben, für zwei Drittel der Belastung des Ökosystems verantwortlich ist, dann muß zuallererst hier bei uns etwas geändert werden. Und dann wäre es doch die Aufgabe der Europäischen Union, Initiativen für einen Öko-Gipfel und für Maßnahmen zum Energiesparen und zur ökologischen Modernisierung der Industrie in allen zwölf - und künftig 16 - Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu ergreifen.
({3})
Ein weiterer Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dem die Bundesregierung unehrlich ist: An mehreren Stellen heißt es in den Koalitionsvereinbarungen, es gehe darum - und das ist auch hier wieder gesagt worden -, die Länder Mittel- und Osteuropas in die Europäische Union aufzunehmen. An anderen wieder heißt es, notwendig seien strikte europäische Haushaltsdisziplin - das hat die Abteilung Waigel hier vorgetragen - und die Überprüfung von Programmen. Weiter wird im Agrarkapitel die Fortsetzung der bisherigen Form der EU-Agrarpolitik als Forderung aufgenommen.
({4})
Im Wirtschaftskapitel - und heute wieder in allen Reden - wird überall eine Deregulierungsoffensive und die Verbesserung der Marktkräfte gefordert. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Welcher Bereich ist mehr reguliert und bürokratisiert als die EU-Agrarpolitik?
({5})
Wer es wirklich ernst nimmt, der setzt an dieser Stelle einmal an, weil sich Arbeitnehmer fragen, warum die segensreichen Kräfte des Marktes eigentlich nur bei ihnen und ihrer Situation wirken sollen und warum es Bereiche gibt, die völlig aus dem Markt herausgenommen sind.
({6})
Ich sage also: Keines der vier Ziele, die da formuliert sind, ist mit den anderen drei Zielen in irgendeiner Form zu vereinbaren. Sie werden aber unverbunden in diese Koalitionsvereinbarung übernommen. Entweder ist es also so, wie - in diesem Fall einmal zutreffend - Herr Ministerpräsident Stoiber gesagt hat, daß diese Bundesregierung auch auf Grund der Organisation von Europapolitik überall etwas und im Außenministerium eher die Frühstücksdirektoren stelle - entweder ist sie also wirklich so unkoordiniert -, oder die Bundesregierung erzählt der Bevölkerung in diesen Fragen bewußt nicht die Wahrheit - oder beides. Wir verlangen aber Wahrheit und Klarheit.
Die Bundesregierung weiß - Herr Kollege Dregger, das muß dann auch gesagt werden -, daß die Aufnahme von Tschechien, der Slowakischen Republik, Polen und Ungarn in die Strukturfonds der Europäischen Union 52 Milliarden DM jährlich kostet. Wenn alle Länder in Mittel- und Osteuropa aufgenommen werden, sind es über 100 Milliarden DM. Die Übertragung der EU-Agrarpolitik auf die Länder Mittel- und Osteuropas würde in deren Agrarpolitik unmittelbar eine Katastrophe bewirken. Sie würde längerfristig nochmals zu rund 100 Milliarden DM Kosten führen.
Jetzt müssen Sie Ihre Widersprüche klären und offen auf den Tisch des Hauses legen. Wenn die Bundesregierung also für die Einbeziehung dieser Länder in die wirtschaftliche europäische Integration ist, muß sie entweder der Bevölkerung in Deutschland sagen, daß es teuer wird, daß es mit hohen Transfers verbunden ist, oder sie muß sagen, daß es nicht machbar ist, oder sie muß sich - drittens - dafür einsetzen, daß die EU-Agrarpolitik endlich so reformiert wird, daß die Aufnahme dieser Länder auch in wirtschaftliche Strukturen der Europäischen Union möglich ist.
({7})
- Herr Kollege, die Tatsache, daß in Ihren Reihen offensichtlich immer noch sexistische und machistische Zwischenrufe an der Tagesordnung sind,
({8})
spricht Bände. Sie sollten einmal darüber nachdenken!
({9})
Mehr Frauen in Ihren Reihen wären auch unter solchen Gesichtspunkten gut.
({10})
Es ist im übrigen auch notwendig, klarzumachen, daß dann andere Sprüche, die der Außenminister oder der Finanzminister manchmal bringen, einem Test zu unterziehen sind. - herr Waigel ist jetzt leider nicht da. - Wenn die Agrarreform stattfände und der Anteil der Agrarausgaben von jetzt 50 am EU-Haushalt reduziert würde, wären zum einen die finanziellen Rückflüsse in die Bundesrepublik sehr viel höher. Zweitens wären Betrugsmöglichkeiten, die der Europäische Rechnungshof in den letzten Wochen aufgedeckt hat - die offensichtlich auch in Deutschland praktiziert werden -, auf diese Art und Weise leichter zu verhindern, und man könnte so dazu beitragen, daß keine Finanzmittel verschleudert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir müssen eine Grundentscheidung treffen - davor drückt sich die Bundesregierung in all diesen Diskussionen -, wie stark wir die Ausweitung der Europäischen Union über die jetzt aufzunehmenden Länder Schweden, Finnland und Österreich - und hoffentlich auch Norwegen - hinaus wollen. Wir müssen uns klarmachen, daß es dabei auch Grenzen gibt. Eine Europäische Union, in der sich demokratische Mitwirkung, regionale Eigenständigkeit und sozialer Zusammenhalt nicht mehr organisieren lassen, ist nicht
die Europäische Union, die die Gestaltung Europas und die Entwicklung unseres Kontinents nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ermöglichen würde.
Ich möchte einen praktischen Vorschlag in die Diskussion bringen. Der Maastricht-Vertrag sieht ja nur die Möglichkeit der wirtschaftlichen Assoziierung dritter Staaten vor, also die Integration in die wirtschaftlichen Strukturen. Warum ändern wir den Maastricht-Vertrag nicht so, daß ab 1997 die Assoziierung mittel- und osteuropäischer Lander an die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie an die Innen- und Rechtspolitik möglich wird, damit wir für diese Länder eine europäische Perspektive bieten, die sie brauchen, um ihre Reformen abzusichern?
({11})
Ich füge hinzu: Das hat auch Konsequenzen für Marktöffnungen. Denn absichern und finanziell helfen müssen wir. Aber ich wage zu bezweifeln, daß es diesen Ländern oder der Europäischen Union insgesamt nutzt, wenn sie in eine unreformierte Europäische Union einbezogen würden.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist von einem der GRÜNEN-Diskussionsredner bemängelt oder sozusagen am Rande gesagt worden, es sei überflüssig, daß in der Koalitionsvereinbarung stehe, die Bundesregierung wolle den Bundestag frühzeitig über europäische Regelungen unterrichten, die geplant seien. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Offensichtlich hat die Bundesregierung Art. 23 der Verfassung nicht richtig gelesen. Es geht nicht nur darum, daß sie den Deutschen Bundestag frühestmöglich informiert. Nach dem Grundgesetz ist der Deutsche Bundestag Teil der Willensbildung der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union.
({13})
Wir wollen nicht nur unterrichtet werden, sondern uns an der Willensbildung beteiligen. Wir wollen vor allen Dingen dazu beitragen, daß die Bundesregierung diese Stellungnahmen berücksichtigt. So sagt es nämlich das Grundgesetz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß: Wenn man an der Regierung ist, fällt einem das schwer. Ich sage es in Kenntnis der Tatsache, daß ich dafür streite, daß die Sozialdemokratie in diesem Land so schnell wie möglich die Regierung stellt, damit die verlorene Zeit in europapolitischen wie auch anderen Fragen, die wir heute diskutiert haben, endlich aufgeholt wird, damit Gestaltung und vor allem die ehrliche Beantwortung von Grundfragen angesagt ist.
Es ist bei der Frage der Kosten der deutschen Einheit so viel gelogen worden, und es muß endlich auch mit den Lügen im Bereich der europäischen Einigung Schluß sein.
Ich danke Ihnen sehr.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin in diesen Tagen in Gesprächen mit polnischen und auch tschechischen Gesprächspartnern noch einmal an den deutschpolnischen Asylvertrag, den wir im letzten Jahr abgeschlossen haben, und an den deutsch-tschechischen, Herr Kollege Kanther, den wir in diesem Jahr abgeschlossen haben, erinnert worden. Ich finde, beide Verträge sind Beispiele für eine faire internationale Zusammenarbeit und Lastenteilung, wie auch von unseren polnischen und tschechischen Gesprächspartnern immer wieder unterstrichen wird.
Ich erwähne dies deshalb, weil ich heute sagen möchte: Wohin wir auf unserem Kontinent auch blikken, die Probleme in Europa und die internationalen Herausforderungen sind fast überall mit nationalen Maßnahmen und Programmen allein nicht zu bewältigen, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln und aus gemeinsamer Verantwortung zusammen mit unseren europäischen und amerikanischen Nachbarn: die Wohlstandsgrenze, die mitten durch Europa verläuft, die Konflikte und Krisen in unserer Nachbarschaft, die labile Situation in Rußland und auch die Weiterentwicklung der Europäischen Union.
Wir sollten dabei die Rolle des wieder vereinten Deutschlands nicht überschätzen; aber ohne jeden Zweifel ist unsere Verantwortung größer geworden. Unsere Partner in der Welt erwarten auch, daß wir die Verantwortung wahrnehmen. Und an die Adresse des Kollegen Verheugen will ich doch sagen, weil er die außenpolitische Rolle der Bundesregierung, wie ich finde, heute morgen sehr oberflächlich bemäkelt hat: Ich meine, daß wir in Sachen Verläßlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Solidarität mit unseren Partnern keinen Nachholbedarf haben.
Es ist ein ganz hohes politisches Gut, daß wir heute sagen können: Das Ausland, unsere Nachbarn, sie vertrauen Deutschland, sie vertrauen diesem Kanzler und dieser Bundesregierung.
({0})
Ich finde, das ist eine sehr gute und tragfähige Grundlage für die Außenpolitik der kommenden Jahre.
Als erstes möchte ich auch aus der Sicht unserer Bundestagsfraktion die Bedeutung der Regierungskonferenz 1996 und die Notwendigkeit der Vertiefung der Europäischen Union unterstreichen, weil diese Konferenz zu einer deutlichen Stärkung der Europäischen Union in den politischen Schlüsselbereichen führen, die gemeinsame europäische Verteidigung schaffen und die institutionelle Handlungsfähigkeit der Union deutlich verbessern muß.
Ich stimme Ihnen zu, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul: Die Vorbereitung dieser Regierungskonferenz sollte auch nach unserer Meinung nicht nur eine Angelegenheit der zuständigen Ministerien, der Abgeordneten oder kleiner Kreise in Publizistik und Wissenschaft sein. Denn wir sollten auch aus der Debatte um Maastricht gelernt haben. Wir brauchen eine breite öffentliche Diskussion über die Inhalte und Ziele der Regierungskonferenz, auch darüber, daß wir uns einen Stillstand nicht leisten können. Die Bürger müssen nachvollziehen und akzeptieren können,
warum die Vertiefung der Europäischen Union notwendig ist.
Aber gerade deswegen - ich sehe auch den Kollegen Lamers im Plenum - waren und sind die Überlegungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur europäischen Politik wichtig, weil wir bei der konsequenten Weiterentwicklung der Europäischen Union niemanden von unseren Partnern ausschließen. Doch es gilt auch der Satz des Bundeskanzlers: Wir wollen nicht, daß das langsamste Schiff im Geleitzug das Tempo der europäischen Entwicklung bestimmt.
({1})
Bei der europäischen Währungsunion, Herr Fischer, gilt das gleiche. Unsere Bürger werden die Währungsunion, die zu einem weiteren Souveränitätsverzicht führen wird, akzeptieren, wenn sie auch deren Vorteile und deren Notwendigkeit erkennen, wenn sie also das sichere Gefühl haben, daß ihnen die Währungsunion nützt und daß sie der Stabilität und Prosperität der europäischen und damit der deutschen Wirtschaft dient, und wenn sie die Überzeugung haben, daß die künftige europäische Währung genauso stabil wie die Deutsche Mark sein wird. Theo Waigel hat heute für die Regierung in einer sehr überzeugenden Weise die Erfolge der Stabilitätspolitik der Bundesregierung und auch völlige Klarheit bei den Zielen dargestellt, so daß diese Klarheit von dem Kollegen Lafontaine nicht angemahnt werden mußte.
Unser Ziel bleibt, daß die Wirtschafts- und Währungsunion vertragsgemäß bei strikter Beachtung der im Vertrag festgelegten Kriterien verwirklicht wird. Ich erinnere aber auch an den gemeinsamen Beschluß des Deutschen Bundestages vom 1. Dezember 1992 zu der Frage, wie im Rahmen der Endstufe dauerhaft eine gleichgerichtete Wirtschafts- und Fiskalpolitik in allen Mitgliedsländern erreicht werden kann, und an unsere Forderung, bei der Revisionskonferenz 1996 diesen Teil des Vertrages präziser zu fassen.
Jedenfalls bleibt es dabei: Die angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion ist ein Schlüsselfaktor für wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand in Europa. Aber diese Währungsgemeinschaft ist nur als Stabilitätsgemeinschaft möglich und darf nur jenen Ländern eröffnet werden, die die im Vertrag von Maastricht geforderten Kriterien erfüllen. Anders gesagt, auch mit Blick auf unsere Bevölkerung - das sagen wir auch als Vertreter der eigentlichen deutschen Stabilitätspartei -:
({2})
Wir werden die Stabilität der Währung nicht auf dem Altar der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion opfern.
({3})
Die dritte Bemerkung: Ich habe auch als Innenminister in den vergangenen Jahren auf internationalen Konferenzen und in bilateralen Verhandlungen
erlebt, wie schwierig das Ringen um die dringend notwendige gemeinsame Politik zur Bekämpfung des internationalen Verbrechens und um eine gemeinsame Strategie der Europäischen Union in der Asyl- und Zuwanderungspolitik war und heute noch ist.
Die Entscheidungen für Europol sind im Grundsatz gefallen. Ganz wichtig bleiben der Abschluß der Konvention und der Ausbau von Europol zu einem europäischen Polizeiamt mit den notwendigen Handlungsmöglichkeiten. Das ist eine aktuelle und unverzichtbare Aufgabe und Herausforderung angesichts der Bedrohung von Staaten und Gesellschaften durch das internationale Verbrechen.
Ebenso wichtig ist ein anderes Feld der Zusammenarbeit, auf dem sich die Mitgliedstaaten noch sehr schwer tun und auf dem auch der Gedanke der Lastenteilung und der Solidarität unter den europäischen Staaten noch nicht besonders ausgeprägt ist: ein gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten und - nicht zu vergessen - eine gemeinsame Politik zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern. Denn es bleibt wahr: Das Asylrecht kann frühestens an unseren eigenen Grenzen Wirksamkeit entfalten. Die Ursachen für Wanderung und Flucht aber liegen in den Herkunftsländern. Sie müssen dort mit unserer wirksamen gemeinsamen Hilfe beseitigt oder jedenfalls gemildert werden. Es wäre auch im Hinblick auf die deutschen Interessen kurzsichtig, wollten wir unseren Nachbarn diese Hilfe verweigern.
Die vierte Bemerkung: Der Deutsche Bundestag hat in seinem Entschließungsantrag zur europäischen Integration vom 15. Oktober 1993 von einem dringenden Handlungsbedarf in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen. Es gibt wohl nichts, was klarer für die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens und einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im Kontext zur transatlantischen Zusammenarbeit spricht als die jüngste Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien einschließlich der Frage des Waffenembargos. Ich denke, zur Ehrlichkeit gehört auch die Selbstkritik. Der Eskalation der Konflikte, dem Morden und der Brutalität hätte ganz anders begegnet und Einhalt geboten werden können, wenn die Völkergemeinschaft von Anfang an in der Lage gewesen wäre, entschlossen und geschlossen zu handeln, oder wenn sich, mit Blick auf die Europäer, Europa wenigstens in der Bewertung der Vorgänge einig gewesen wäre.
Es geht uns wahrscheinlich doch allen gemeinsam so: Fassungslosigkeit, daß am Ende dieses Jahrhunderts mitten im zivilisierten Europa so etwas möglich ist, Trauer über die Ereignisse und auch der Zorn, daß es bisher nicht möglich war, den schrecklichen Krieg einzudämmen oder zu beenden.
Natürlich ist es beklagenswert, daß die USA jetzt in der Frage der Überwachung des Waffenembargos einseitig von der gemeinsam vereinbarten Linie abgewichen sind. Es muß alles getan werden, um eine Krise im Bündnis und damit auch in der Europäischen Union zu vermeiden. Aber das kann nicht die einzige Antwort auf die Probleme sein, die sich hier stellen. Es wird jetzt entscheidend darauf ankommen, nicht nur
den internationalen Druck auf die bosnischen Serben zu erhöhen, die den internationalen Friedensplan ablehnen und ständig gegen UNO-Beschlüsse verstoßen, sondern auch, wenn nötig, erneut die notwendigen militärischen Maßnahmen zu ergreifen. Der Bundeskanzler hat mit seiner Forderung recht, die kriegerischen Handlungen endlich zu beenden, die humanitäre Hilfe endlich zuzulassen und den Friedensplan endlich anzuerkennen.
Vorrangiges Ziel deutscher Außenpolitik bleibt die Sicherung von Frieden und Freiheit. Dieses Ziel werden wir nur dann erreichen, wenn wir verläßliche Partner sind, Solidarität mit unseren Nachbarn üben und uns der größer gewordenen Verantwortung Deutschlands in der Welt nicht entziehen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht Klarheit über die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr geschaffen hat, können zu Recht unsere Partner in der NATO von uns Deutschen ein klares Ja zur europäischen Verteidigungspolitik und zur Verteidigung und die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland erwarten, sich im vollen Umfang auf der Grundlage der Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen an Maßnahmen der Staatengemeinschaft zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu beteiligen. Auch die Opposition sollte begreifen - das hat mit Militarisierung der Außenpolitik nichts zu tun -: Wenn es um Frieden und Freiheit in der Welt und Europa sowie um internationale Solidarität geht, darf Deutschland nicht abseits stehen und keine Sonderrolle spielen. Dies wäre für die Zukunft unseres Landes verhängnisvoll.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Häfner.
Verehrte Frau Präsidentin Vollmer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weihnachten naht, und der Finanzminister, der sich selbst laut meiner Tageszeitung in erstaunlicher Verkennung des Realitätsbezugs von Vornamen und übrigens auch der neutestamentlichen Theologie für ein Göttergeschenk hält und dies öffentlich erklärt hat, spricht vom Christkindl und verspricht auch hier heute Wunderbares, nämlich die Gewährleistung solider Staatsfinanzen, die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen und ein größtmögliches Maß an sozialer Gerechtigkeit.
({0})
Als dann der Bundeskanzler heute noch von Erneuerung und Herr Kinkel, man höre, von Gemeinsinn und sogar Herr Schäuble von einer Gesellschaft sprach, die Schwache schützt und Geborgenheit und Wärme vermittelt, da wollte ich es am liebsten selbst schon glauben.
({1})
Denn jeder Mensch, auch der schwärzeste, ist zur Erkenntnis und zur Umkehr fähig.
Ich habe dann noch einmal in die Koalitionsvereinbarungen geschaut, die eher ein Dokument der Ausklammerung und des Stillstandes sind, und fand dort einen Satz, in dem zwar auch von Zukunft die Rede ist, der aber trotzdem schlagartig alle meine aufkeimenden Hoffnungen zerschlug. Es heißt in diesem Satz: „Aus unseren Erfahrungen und Leistungen der vergangenen Jahre leitet sich unser Anspruch ab, die Zukunft weiterhin erfolgreich zu gestalten. " Das ist nicht nur Arroganz, das ist wirklich eine Drohung. Statt Zukunft, Erneuerung, sozialer Gerechtigkeit, sicherer Finanzen, Gemeinsinn und Wärme, die Sie uns hier in schönen Reden versprechen, heißt die Parole genau wie im Wahlkampf: Weiter so, Deutschland! Das ist tatsächlich eine unverhohlene Kampf ansage, nicht nur an zwei Drittel der Menschen in unserem Land, sondern auch an die Umwelt dieses Landes. Sie entzieht allem, was in der Koalitionsvereinbarung dann noch an teilweise sogar Sinnvollem folgt, jede Glaubwürdigkeit.
({2})
Seit Jahren, seit sie an der Macht sind, sprechen die Vertreter der Bundesregierung von der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und von Steuerreformen. Herr Kohl und Herr Waigel, was haben Sie denn eigentlich all die Jahre gemacht? Tatsächlich hat diese Regierung doch die öffentlichen Schulden in eine unvorstellbare Höhe getrieben, und der Finanzminister hat sich rettungslos im Gestrüpp einer konzeptionslosen Steuerpolitik verheddert.
({3})
Die Kosten dieser Politik werden den Schwachen und Wehrlosen dieser Gesellschaft auferlegt, oder sie werden über Schulden einfach in die Zukunft verlagert. Der Finanzminister hat in den Jahren des Wachstums geschludert. Heute, wo wir das Geld dringend bräuchten, fehlt nicht nur das Geld, sondern es fehlt auch jedes Konzept für die Meisterung der Krise.
Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte wird bis zum Jahre 1995 auf sage und schreibe mehr als 2,3 Billionen DM steigen. Das bedeutet eine Verdoppelung in einem Zeitraum von lediglich fünf Jahren. Die Bundesschulden machen dabei den allergrößten Teil der Gesamtverschuldung aus. Mit 800 Milliarden DM im Jahr 1995 werden sie um fast 300 Milliarden DM höher liegen als noch vor fünf Jahren. Hinzu kommen die Schulden aus den Erblastentilgungsfonds und den anderen Nebenhaushalten, so daß die Gesamtschuldenbelastung des Bundes bei etwa 1 400 Milliarden DM liegen wird.
({4})
Damit wird die finanzpolitische Handlungsfähigkeit immer weiter eingeschränkt. Schon heute muß jede fünfte Steuermark für Zinsen aufgewendet werden. 1995 werden die Zinsausgaben sogar ein Viertel des Steueraufkommens absorbieren.
Je nachdrücklicher Sie, Herr Bundesfinanzminister, von einer Konsolidierung der Staatsfinanzen gesprochen haben, desto ungezügelter ist die Neuverschuldung des Bundes angestiegen. So wird es sich auch in
Zukunft verhalten. Die Zahlen, die Sie in der Prognose bis 1998 vorgelegt haben, werden sich schon bald als Makulatur erweisen. In einem Punkt kann man sich, denke ich, tatsächlich auf den Finanzminister verlassen: Seine Zahlen sind mit Sicherheit falsch, sie sind geschönt, sie entsprechen nicht der Wirklichkeit.
({5})
Weder für die Steuerbefreiung des Existenzminimums noch für die Verbesserung des Familienlastenausgleichs noch für die Unternehmensteuersenkungen, die Sie sinnwidrigerweise versprechen, sind in der Planung entsprechende Mindereinnahmen berücksichtigt. Selbst das Bundeskanzleramt, also quasi das Hauptquartier der Bundesregierung, hat jetzt Alarm geschlagen und festgestellt, daß die Zahlen des Finanzministers eine Lücke von 30 Milliarden DM offenbaren.
Ich fordere Sie deshalb auf, endlich ein Finanztableau vorzulegen,
({6})
das glaubwürdige, wahrheitsgemäße Zahlen enthält und alle finanzpolitischen Risiken berücksichtigt.
({7})
Ich denke, nicht nur wir, dieses Parlament, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht auf die Wahrheit.
({8})
Sie sprechen immer noch von Reformen, aber Sie haben in Ihrer Amtszeit noch keine einzige vernünftige Reform zustande gebracht.
({9})
Sie haben, statt mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, die Lasten immer mehr auf den Schwachen dieser Gesellschaft abgeladen und vor den mächtigen Interessengruppen gekuscht. Mit christlich und mit sozial hat das, Herr Waigel, schon lange gar nichts mehr zu tun. Vielmehr haben die Finanz- und Steuerpolitik der letzten Jahre sowie der Kahlschlag bei den Sozialleistungen die Spaltung der Gesellschaft vertieft. Weil Sie und Ihre Parteifreunde sich über die gemeinsame Erklärung der Bischöfe in Deutschland aufgeregt und gefordert haben, die Kirchen sollten sich gefälligst aus dem Wahlkampf und dem Parteienstreit heraushalten,
({10})
muß ich Sie daran erinnern, wie Sie, Herr Waigel, sich immer über das alle vier Jahre rechtzeitig erscheinende Hirtenwort der Bischöfe gefreut haben, als es noch die Wahl Ihrer Partei empfahl. Heute, wo es zwischen den Zeilen zur Wahl von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN aufruft, können Sie sich nicht mehr einkriegen.
({11})
Die steuerliche Freistellung des Existenzminimums wird nach Ihrer sehr niedrig angesetzten Schätzung 15 Milliarden DM kosten. Abgesehen davon, daß Sie noch nicht einmal dafür eine finanzielle Vorsorge getroffen haben, wird eine solche Schmalspurreform kaum ausreichen. Nötig ist eine Gesamtrevision unseres Steuerrechts. Nötig ist es, ungerechte Privilegien abzuschaffen. Sie erinnern sich an das Expertengutachten für die Umweltministerkonferenz, das seinerzeit festgestellt hat, daß Subventionen in Höhe von 10 Milliarden DM einseitig umweltschädliches Verhalten fördern. Hier könnten Sie, angefangen beim Flugbenzin, endlich einmal mit dem Abbau von Subventionen und einer Vereinfachung des Steuerrechts im Sinne der Schaffung von mehr Transparenz und mehr Steuergerechtigkeit Ernst machen.
({12})
Ihre Politik ist nicht nur sozial ungerecht, sie ist in hohem Maße auch wirtschaftspolitisch - das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes - kontraproduktiv. Denn z. B. durch die Verlagerung eines Großteils der Kosten der deutschen Einheit in die Sozialversicherungssysteme hinein haben Sie die vielfach beklagten Lohnnebenkosten in diesem Land nach aktuellen Schätzungen um etwa 100 Milliarden DM angehoben.
Wieder bosseln Sie am Steuerrecht herum. Wieder wollen Sie hier und da etwas ändern. Wieder werden Sie es mit Ihren Plänen nur verschlimmbessern. Wieder gehen Sie die eigentliche Aufgabe nicht an, nämlich eine grundsätzliche Überarbeitung des Steuerrechts mit dem Ziel der Vereinfachung, der Verständlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit.
Vor allem vor der größten Aufgabe, Herr Finanzminister, kneifen Sie vollständig: nämlich vor einer Ökologisierung unseres Steuerrechts. Es ist doch völlig absurd und auch durch nichts gerechtfertigt, daß wir die menschliche Arbeitskraft steuerlich massiv verteuern, während der Verbrauch von Umwelt und Umweltgütern so billig wie nur irgend möglich gehalten wird. Es ist nicht immer nur böser Wille, wenn ein Unternehmer teure Arbeitskräfte entläßt und durch wesentlich billigere Maschinen - Maschinen übrigens, die sehr viel Energie und Rohstoffe verbrauchen - ersetzt, sondern Sie zwingen ihn mit Ihrer Steuerpolitik in vielen Fällen dazu. Immer öfter ist das Folge eines anachronistischen, sozial- und umweltschädlichen Steuerrechts.
Sie predigen doch so gerne Marktwirtschaft. Was aber, Herr Minister, wenn der Markt nicht funktioniert, weil die von Ihnen gesetzten Rahmendaten schon längst nicht mehr stimmen? Marktwirtschaft müßte doch eigentlich bedeuten, daß knappe Güter sehr viel teurer, während Güter, bei denen das Angebot die Nachfrage überwiegt, billiger sind. Aber wie ist es denn nun bei den beiden Produktionsfaktoren Umwelt und Arbeit? Durch die vielen Belastungen, die
auf den Arbeitskosten liegen, sind Arbeitskräfte, obwohl im Übermaß vorhanden, enorm teuer. Umwelt dagegen - heute wahrlich ein knappes Gut - gibt es quasi zum Nulltarif. Die ökologischen Folgekosten tauchen in der unternehmerischen Kalkulation gar nicht auf. Sie werden vielmehr auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt. Das führt zu einem völlig verzerrten Wettbewerb zuungunsten der Umwelt und der Menschen in unserem Land, die Arbeit suchen.
Die Zustimmung zu unserem Konzept einer ökologischen und sozialen Steuerreform geht inzwischen weit über Umweltverbände hinaus. Auch die Gewerkschaften, die Kirchen, der Bundesverband junger Unternehmer, die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer in Deutschland, ja sogar der Sachverständigenrat für Wirtschaftsfragen haben dies aufgegriffen. Nur die Bundesregierung ist alleine, mauert sich ein und hält sich die Ohren zu.
Wir brauchen eine ökologische Steuerreform mit dem Ziel, die Umwelt zu schützen und Arbeitsplätze zu schaffen. Sie, Herr Waigel, tun keines von beiden. Damit aber stehen Sie bald alleine. Im bekanntermaßen nicht sehr umfangreichen Metaphernschatz des Bundeskanzlers spielt der Zug, den man erwischen muß, eine große Rolle, auch wenn der Bundeskanzler meistens mit dem Auto bzw. dem Flugzeug reist. Dieser Zug ist ohne Sie abgefahren. Sie haben ihn verpaßt. Andere sitzen schon längst drin. Sie sollten schauen, daß Sie schleunigst aufspringen. Sie sollten nicht den alten Wein in kaum runderneuerten Schläuchen verkaufen, sondern sich den großen Aufgaben der Zukunft stellen.
Hier bieten wir unsere Zusammenarbeit an. Wir werden unsere Vorstellungen und Konzepte, unsere Alternativen einbringen und zur Diskussion stellen. Wir hoffen als Opposition darauf, in der einen oder anderen Frage hier Mehrheiten zu finden. Denn auch dort, wo es die Vernunft am schwersten hat, nämlich dort, wo Partei- und Fraktionsgrenzen eine Rolle spielen, wollen wir unsere Hoffnung auf Vernunft und auf Reformfähigkeit nicht aufgeben.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Reihe Kollegen der Grünen haben ausweislich des Handbuchs ihre vierjährige Abwesenheit im Parlament zur Fortbildung genutzt. Der Kollege Häfner hat das leider versäumt.
({0})
Denn das, was er hier vorgetragen hat, begann eigentlich nahtlos dort, wo er vor vier Jahren aufgehört hat. Das Interessante, daß es nämlich in der Zwischenzeit in unserem Land eine ganze Reihe von
Veränderungen gegeben hat, ist ihm offensichtlich entgangen.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion, meine Damen und Herren, stellt mit Befriedigung fest, daß die Regierungserklärung des Bundeskanzlers die Durchsetzung der Koalitionsvereinbarungen in vollem Umfang beinhaltet.
({1})
Ein Schwerpunkt für die Freien Demokraten bleibt der Politikbereich, der letztendlich 1982 zum Wechsel der Koalition und zur Neuorientierung der deutschen Politik geführt hat: die Sicherung der Staatsfinanzen. Ein Endpunkt dieser erfolgreichen Politik ist die Erringung der deutschen Wiedervereinigung in Freiheit. Wir stellen uns gerne den daraus resultierenden Aufgaben, die natürlich, Herr Kollege, eine ganze Menge mit Finanzen zu tun haben.
Durch die jahrzehntelange sozialistische Mißwirtschaft in der DDR und durch die Notwendigkeit der Umstrukturierung und der Privatisierung der Staatswirtschaft ist es zu enormen Umwälzungen gekommen, nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutschland. Wir wollen die Bereitschaft der Bürger, den Notwendigkeiten der deutschen Einheit Rechnung zu tragen, auch wenn diese Bereitschaft ab und an mit einigem Murren versehen ist, hier und heute erneut würdigen. Alle unsere Bürger haben aus dem Geschilderten Lasten zu tragen. Sie sind hierzu bereit.
Daß, meine Damen und Herren, der Umbruch einen enormen Leistungstransfer in die neuen Bundesländer bedeuten mußte und daß dies auch die Bürger im Westen an allen Ecken und Enden spüren, muß erwähnt werden. Wir müssen dankbar dafür sein, daß sie es akzeptieren. Es ist selbstverständlich, daß wir diese Leistungen im Sinne der inneren Einheit Deutschlands gern erbringen. Wir wissen auch, daß die Belastungen der Menschen im Osten noch größer sind. Aber die Situation wird von Tag zu Tag besser.
Die Wirtschafts- und Währungsunion bedeutete ein weltweit nie dagewesenes Experiment. Der Mut der Koalition, die Finanzierungsfolgen der deutschen Einheit aus laufenden Mitteln zu versuchen, hat sich gelohnt. Überall geht es aufwärts.
({2})
So begründet der Hinweis von Herrn Scharping, den Herr Häfner gerade wiederholt hat, ist, daß ein Teil der Leistungen aus den Sozialetats geschehen ist, daß also Transfers aus den Sozialetats stattgefunden haben, muß dem doch entgegengehalten werden, daß eine Alternative dazu weder gegeben war noch damals oder heute von Ihnen dargestellt worden wäre. Die Frage, ob all die Leistungen steuerfinanziert aus öffentlichen Haushalten hätten getragen werden können, muß verneint werden.
({3})
Deswegen geht das Klagelied von Herrn Scharping
ins Leere. Frau Kollegin Fuchs, die neben Ihnen
Dr. Wolfgang Weng ({4})
sitzende Kollegin hat über zu viele Ausgaben aus dem öffentlichen Haushalt immer vehement geklagt. Sie hat Finanzierungen für zusätzliche Wünsche nie in genügendem Umfang deutlich gemacht
({5})
Ich bitte Sie wirklich, ganz sorgfältig einmal aufzulisten - nicht an dieser Stelle; das können Sie schriftlich nachreichen -, in welcher Weise die Steuerbelastung der Bürger gestiegen wäre, wenn die Leistungen der Sozialetats in die neuen Bundesländer ausgefallen wären und hier eine totale Haushaltsfinanzierung hätte stattfinden müssen. Das wäre nicht zu leisten gewesen.
({6})
Erfreulich in diesem Zusammenhang sind Meldungen, daß der Zuschußbedarf sinkt
({7})
- nein, Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammenhang sprechen -, weil die beginnende Dynamik der Wirtschaftsentwicklung auch am Arbeitsmarkt Besserung bringt. Die Voraussage, daß die Bundesanstalt für Arbeit im kommenden Jahr einen wesentlich geringeren Zuschuß benötigt, als dies bisher prognostiziert war, signalisiert auch einen Teil Entspannung. Auch hier sehen wir richtige Politik mit guten Ergebnissen.
Es bedeutet Mut, und die Koalition hat diesen Mut, daß trotz knapper Kassenlage steuerliche Entlastung und steuerliche Veränderungen in wichtigen Bereichen in Angriff genommen werden. Das gilt für den Familienlastenausgleich ebenso wie für die geplante Freistellung des Existenzminimums von Steuern.
({8})
Das gilt aber auch für die Ankündigung von Veränderungen bei der Gewerbesteuer. Es ist, meine Damen und Herren, eine Uraltforderung der F.D.P., die Gewerbesteuer durch ein anderes Steuersystem für die Kommunen zu ersetzen.
({9})
Es ist außerordentlich erfreulich, daß nach langen Jahren auch bei vielen Kommunen ein Umdenken stattgefunden hat.
({10})
Die Ankündigungen des Herrn Bundeskanzlers in der Regierungserklärung heute morgen und auch die vom Kollegen Schäuble hierzu gemachten Ausführungen waren so vernünftig, daß ich die sehr harsche Ablehnung durch Herrn Scharping nicht verstehen kann. Ich fordere die SPD-Fraktion dringend auf, zu diesen Vorschlägen nicht ohne Prüfung nein zu sagen, denn diese Vorschläge bedeuten für den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland eine nachhaltige Verbesserung, ja eine Notwendigkeit.
Ich will in diese Aufforderung auch BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ausdrücklich einbeziehen. Hier können Herr Fischer und seine Fraktion deutlich machen, daß sie, wie Sie heute morgen angekündigt haben, Herr Fischer, tatsächlich eine eigenständige Oppositionsrolle spielen, daß sie nicht von vornherein zu allem nein sagen, was von der Seite der Koalition auf den Tisch kommt. Auch im zukünftigen Wettbewerb der politischen Parteien in geänderter Parteienlandschaft wird niemand für Fundamentalopposition dauerhaft Anhänger finden. Der Wettbewerb wird härter, damit aber auch interessanter. Wir sind überzeugt, daß wir ihn bestehen, sosehr Sie hier auch mit Ansprüchen in einer Reihe von Politikbereichen antreten. Wir werden denen entgegentreten und inhaltlich darüber diskutieren.
({11})
- Wir vertrauen auf mündige Bürger, die erneut Liberale in die Parlamente senden werden.
({12})
Die Koalitionsvereinbarung beinhaltet die Fortführung der Privatisierung. Dieses betrifft nicht nur Industrievermögen des Bundes - Sie wissen, daß wir hier in den vergangenen Jahren das Wesentliche getan haben -, sondern ganz nachhaltig auch den Dienstleistungsbereich. Natürlich betrifft es ebenso die Gebietskörperschaften, die Länder und Gemeinden, in denen in viel größerem Umfang als beim Bund Privatisierungen möglich sind. Wir haben in der Endphase der vergangenen Wahlperiode mit der Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes noch einen Versuch gemacht. Hierauf wollen wir zurückkommen; denn es besteht, wie schon gesagt, dringender Handlungsbedarf.
Auch hier möchte ich die SPD gerade wegen ihrer heute mehrfach erwähnten Verantwortung im Bundesrat und wegen ihrer Verantwortung in vielen Städten und Gemeinden unseres Landes auffordern, den gesellschaftlichen und politischen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen. Sie sollten zukunftsgerichtete Politik nicht blockieren.
({13})
Sie könnten, wie schon so oft, zu spät die Kurve kriegen; denn daß weniger Staat, daß mehr Politik mit weniger öffentlichen Geldern die zwangsläufige Entwicklung der kommenden Jahre ist, ist nicht zu bestreiten.
Meine Damen und Herren, die Reduzierung des Personalbestands in den Bundesbehörden ebenso wie die Zusammenlegung und Auflösung von nicht mehr notwendigen öffentlichen Einrichtungen gehören mit zur Politik der Koalition.
({14})
Wir werden im Bereich der Ministerien zusätzlich ein
Augenmerk darauf richten, daß die während des
Einheitsprozesses erforderlichen zahlreichen Stellen
Dr. Wolfgang Weng ({15})
für Spitzenbeamte wieder auf das Normalmaß zurückgeführt werden,
({16})
dies verbunden mit Organisationsstrukturen der künftigen Ministerien, Herr Kollege von Larcher, die effektiv und ohne unnötig aufgeblähten Wasserkopf sein müssen.
({17})
Hierzu erbitte ich schon heute die Flankierung durch den Bundesrechnungshof, der als Beauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung unser natürlicher Partner ist. Natürlich wissen wir, daß es mit der Bundesregierung ein bißchen schwieriger werden wird. Vermutlich ist es auch deswegen nicht gelungen, dies in dem Maße in die Koalitionsvereinbarung zu bringen, wie ich es hier vorgetragen habe.
Meine Damen und Herren, die Vereinfachung des Steuerrechts ist angekündigt. Ich will zusätzlich darauf hinweisen, daß auch Überlegungen bezüglich flexiblerer Haushaltsverfahren und Instrumente einen wichtigen Schritt in die Zukunft bedeuten. Wir wünschen höhere Verantwortung an der Peripherie und werden daher Chancen für eine solche höhere Verantwortung geben. Das heißt, die allzu starre Einengung der handelnden Behörden wird künftig zumindest versuchsweise aufgelockert werden.
Ich sage für die F.D.P.-Fraktion: Wir werden sehr sorgfältig prüfen, ob der neuen Verantwortung entsprechend Rechnung getragen wird; denn wenn wir erreichen, daß das November-/Dezemberfieber wirklich abgeschafft wird, wollen wir damit natürlich keinen allgemeinen Schlendrian oder fehlende Transparenz beim Umgang mit öffentlichen Mitteln und mit dem Geld des Steuerzahlers bekommen.
Mehr Verantwortung bei Angehörigen des öffentlichen Dienstes kann mehr Risiko für diese Angehörigen bedeuten, auch wenn unsere Idee einer Beförderung auf Zeit nicht Teil der Koalitionsvereinbarung wurde.
Das Haushaltsmoratorium, die Ankündigung geringeren Wachstums des Bundesetats gegenüber dem Sozialprodukt, liest sich in der Vereinbarung ganz einfach. Es wird in der Durchführung manches Zähneknirschen bei den Kollegen geben, die die Finanzierung von Wünschen nicht durchsetzen können. Auch hier könnte eine konstruktive Opposition in Zukunft beweisen, daß es ihr wirklich um unser Land und seine Bürger geht und sie nicht mit schlichter Blockadehaltung parteipolitischen Vorteil zu gewinnen sucht.
Herr Kollege Weng, Sie sind schon ein Stück über die Zeit.
Herr Präsident, das ist zu bedauern, weil ich noch so viel zu sagen hätte, was sagenswert ist.
({0})
Ich ende dann, obwohl das nicht gerade nach Zustimmung der Kollegen klingt; aber wahrscheinlich haben
sie nicht genügend aufgepaßt, um das begreifen zu können.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinbarung und die heutige Regierungserklärung sind eine gute Basis für zukunftsgerichtete Arbeit der Koalition aus Union und F.D.P. Wir wissen, daß diese Arbeit bei knapper gewordener Mehrheit nicht leicht wird. Aber wir stellen uns dieser Aufgabe im Bewußtsein, daß die Mehrheit der Wähler unsere zukunftsgerichtete Politik wünscht. Die Freien Demokraten im Deutschen Bundestag werden jeden möglichen Anteil zum Gelingen der Koalition und ihrer Politik leisten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lederer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach acht Stunden halten wir jetzt um 17 Uhr unseren zweiten Redebeitrag. Da die Debatte auch im Vorfeld nicht strukturiert worden ist, komme ich wieder auf die Außenpolitik zurück.
Vorab aber eine Bemerkung zum Redebeitrag des Abgeordneten Dregger: Ich weiß nicht, ob er hier seine verhinderte Alterspräsidentenrede gehalten hat. Sollte das der Fall sein, kann man wirklich nur dankbar sein, daß Stefan Heym Alterspräsident dieses Parlaments geworden ist.
({0})
In ähnlich diffamierender Weise habe ich den Beitrag des Finanzministers Waigel zu Stefan Heym verstanden. Solche Beiträge werden Ihnen knallhart auf die Füße zurückfallen. Das garantiere ich Ihnen.
({1})
Zur Außenpolitik: Der bisherige Kurs der „interessenwahrenden und wertorientierten Außenpolitik" der Bundesregierung soll entschlossen fortgesetzt werden. Diese Kontinuität wird in der Außenpolitik in der Tat zu einer Bedrohung. Deshalb hat es mich erschrocken, feststellen zu müssen, daß der Vorsitzende der SPD-Fraktion nicht eine Nuance anderer Vorstellungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, als sie die Regierung hier vertreten hat, nennen konnte - nicht eine einzige! Das haben die Beiträge des Kollegen Verheugen und von Frau Wieczorek-Zeul ein wenig wiedergutgemacht. Aber nicht einmal zum Thema „Rolle der Bundeswehr" hat er nur eine abweichende Vorstellung geäußert. Man hatte gar den Eindruck, es handele sich in diesem Bereich schon wieder um eine große Koalition.
Zu dieser Koalitionsvereinbarung läßt sich folgendes feststellen: Erstens. Für die Bundesregierung heißt Außenpolitik Europapolitik, vor allem Westeuropa, Westeuropa und nochmals Westeuropa. An die osteuropäischen Staaten werden im wesentlichen schöne Worte gerichet.
Zweitens. Der Rest der Welt wird praktisch unter den Gesichtspunkten „Eindämmung von Flüchtlingsströmen" und „Erschließung neuer Märkte" abgeAndrea Lederer
handelt. Der Absatz zur sogenannten Entwicklungspolitik ist angesichts der globalen Probleme purer Zynismus.
Drittens das mögen Sie noch hundertmal bestreiten -: Das Militärische wird zunehmend Charakteristikum deutscher Außenpolitik, sowohl hinsichtlich der Rolle und der Aufgaben der Bundeswehr als auch in der Schwerpunktsetzung nunmehr in der Europapolitik. Es gibt die Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Auch wenn Sie es, wie gesagt, hundertmal bestreiten, werden wir es immer wieder feststellen.
Bei der Europapolitik sieht es folgendermaßen aus: Die einmal als „zaghafte Überlegungen" titulierten Vorstellungen und Vorschläge des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU zur Europapolitik sind jetzt Regierungsprogramm. Es soll ein Europa der zwei bis fünf Geschwindigkeiten geben, eine Europäische Union, die kaum Rücksicht auf schwächere Staaten nimmt, eine Union, die nicht nur einen Kern hat, sondern einen Kern des Kerns, und diesen bilden Deutschland und Frankreich. Das ist heute wiederholt worden.
In drei zentralen Bereichen soll die Europäische Union, wie Sie es nennen, eine Erneuerung erfahren: Zum einen ist zu befürchten, daß die Währungsunion rücksichtslos, ohne die Folgen für ökonomisch schwächere Länder zu berücksichtigen und ohne Maßnahmen dagegen zu ergreifen, durchgesetzt wird. Die katastrophalen Folgen für solche Länder, die dort nicht mithalten können, sind den Autoren dieser Vereinbarung nicht einmal eine Zeile wert.
Zweitens soll mit der Entwicklung der Westeuropäischen Union zum militärischen Arm der Europäischen Union eine Orientierung auf eine militärische Identität der Union zum Schwerpunkt gemacht werden: Identität Europas durch Soldaten. Ich habe jetzt schon Verteidigungsminister Rühe im Ohr, wie er davon schwärmen wird, wie der europäische Einigungsprozeß in einem Leopard-Panzer vorangebracht werden kann; so, wie er es damals getan hat, als es um die ost-west-deutsche Einigung ging und er uns hier vortrug, wie herrlich sich die beiden deutschen Soldaten aus Ost und West in einem Panzer verstanden hätten.
Die KSZE wird an keiner einzigen Stelle in der Vereinbarung erwähnt; sie ist heute auch in dem Redebeitrag des Kanzlers nicht vorgekommen. Es ist bezeichnend, daß Sie diese Institution, die hier gelobt wurde als eine Institution, die die Kultur des Gewaltverzichtes entwickelt habe, abgeschrieben haben; Sie orientieren sich rein auf Militärbündnisse und die traditionellen Strukturen.
Zum dritten sollen osteuropäische Länder erst dann eingegliedert werden, wenn sich der Kern des Kerns und der Kern Westeuropas hierarchisch gefestigt haben. Die Mahnung des Kanzlers an die osteuropäischen Staaten war mehr als deutlich. Es wird die Erfüllung politischer und ökonomischer Voraussetzungen gefordert. Ansonsten gibt es schöne Worte. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wird es keine Realisierung dieser schönen Worte geben, sondern dann wird man nur bilaterale Abkommen
zum Fernhalten von und Abschotten vor Flüchtlingen abschließen.
Die zwölf Zeilen zur Entwicklungspolitik - ich habe es bereits erwähnt - sind rein zynisch. Anstatt in diesem Bereich, der sich immerhin mit globalen Problemen zu befassen hat, konkrete Vorschläge zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit, zur Sicherung sozialer und anderer Menschenrechte, zur Bewältigung ökologischer Fehlentwicklungen und vor allem zur Konfliktvorbeugung zu unterbreiten, wird auch dieser Bereich unter das „deutsche Interesse" subsumiert. Besorgt stellt man fest, daß wohl mehr Unterstützung verlangt werden wird, aber nicht ein Vorschlag zur Veränderung der Weltwirtschaftsordnung wird unterbreitet.
So, wie Sie im Inneren des Landes Politik betreiben, so betreiben Sie auch Außenpolitik: auf Kosten der Schwächeren und zum Nutzen der Stärkeren. Wenn Sie darauf verweisen, daß Entwicklungshilfe schließlich erwirtschaftet werden muß, so können wir uns eines ausmalen: Der künftige Entwicklungshilfehaushalt wird real sinken, d. h. es gibt nichts, abgesehen von Profiten für einige deutsche Unternehmen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, im Hinblick auf die Revisionskonferenz zum Maastricht-Vertrag alle Anstrengungen darauf zu richten, mehr Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Solidarität gegenüber den anderen Kontinenten und mehr Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens zu erreichen. Wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode konkrete Forderungen einreichen. Wir verlangen, daß sich die Bundesregierung dafür einsetzt, daß Entwicklungsländer reale Chancen auf dem Weltmarkt erhalten, daß eine wirkliche Öffnung der Märkte erfolgt, daß Preis- und Absatzgarantien festgeschrieben werden.
Es jährt sich im nächsten Jahr auch der Tag der Gründung der UNO. Nicht ein Vorschlag ist hier seitens des Außenministers Kinkel erwähnt worden. Er hat wiederum nur darüber palavert, daß der ständige Sitz im UNO-Sicherheitsrat noch nicht erreicht sei und man nunmehr mit dem nichtständigen erst einmal eine Weile vorliebnehmen müßte. Nicht ein Vorschlag zum Thema Reform und Demokratisierung der UNO.
Im Februar 1995 wird der Weltsozialgipfel stattfinden. Die Bundesregierung hat sich geweigert, die von der UNO geforderte nationale Kommission zur Vorbereitung überhaupt einzurichten, obwohl die soziale Situation weltweit unbestritten sehr viel mit der Entstehung von Konflikten, von Kriegen, von Flüchtlingsströmen - wie Sie es nennen - und von Verhältnissen, die dazu führen, daß Menschen ihre Heimat verlassen müssen, zu tun hat.
Das Thema der Verlängerung des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen ist der Koalition nichts wert. Es kann hier nicht nur darum gehen, den Vertrag zu verlängern, sondern es muß ein für allemal im Grundgesetz verankert werden, daß dieses Land auf Nuklearwaffen, auf ABC-Waffen verzichtet. Die Bundesregierung muß sich dafür einsetzen, daß tatsächlich sämtliche Kernwaffen aus Europa abgezogen werden.
Noch ein Thema, das wir ansprechen und zu dem wir Vorschläge einbringen werden: Rüstungsexport. Wenn die Koalition unter der Überschrift „Deutsche Position in der Weltwirtschaft ausbauen" von der Harmonisierung der Exportkontrollregeln spricht, dann ist eben zu befürchten, daß damit wieder einmal alle Regelungen zum Rüstungsexport gemeint sein werden, die auf möglichst niedrigem Niveau nivelliert werden sollen. Sie können sich jeden Verweis auf strenge deutsche Vorschriften ersparen; denn immerhin ist es der BRD trotz dieser Vorschriften gelungen, auf der Liste der Länder mit den meisten Waffenexporten auf Platz 3 zu kommen. Wir fordern, daß die Rüstungsproduktion drastisch eingeschränkt, der Rüstungsexport für dieses Land verboten und das auch im Hinblick auf die Europäische Union angegangen wird.
({2})
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu der vom Kollegen Verheugen geäußerten Illusion, was das Verständnis der Bundesregierung zum Thema „Aufrechterhaltung des Friedens" anbelangt. Ich bin mir sicher - und wer die Koalitionsvereinbarungen genau liest, wird das auch feststellen können -, daß die Bundesregierung leider nicht die Aufrechterhaltung des Friedens mit entsprechenden Blau-HelmEinsätzen meint - davon werden wir bzw. vor allem andere Länder in Zukunft auch betroffen sein -, sondern davon ausgeht, daß die Bundeswehr grundsätzlich bei allen Maßnahmen uneingeschränkt mitmachen kann, d. h. auch im Rahmen von Sicherheitssystemen, wie es das Karlsruher Urteil leider festgeschrieben hat.
Die Zeit, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluß. Es geht dort nicht nur um UNO-Einsätze, sondern es wird um eigenständige Einsätze der NATO und der WEU gehen, und wir werden hier auch konfrontiert sein mit Kampfeinsätzen, an denen sich die Bundeswehr beteiligen soll. Ich stelle die Frage an alle Oppositionsparteien: Was haben Sie vor, um Barrieren dagegen aufzustellen? Wir werden jedenfalls unser antimilitaristisches Engagement so fortsetzen, wie wir es in der letzten Legislaturperiode gemacht haben.
Ich danke.
({0})
Frau Kollegin Lederer, ich glaube nicht, daß der Ausdruck „palavern" ausgesprochen unparlamentarisch wäre.
({0})
Nur kann nach allgemeinem Sprachverständnis ein einzelner nicht palavern; das kann nur eine Gruppe.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe hier das Redemanuskript des Bundesministers für wirtschaftliche
Zusammenarbeit Carl-Dieter Spranger vorliegen, der bittet, es zu Protokoll geben zu dürfen. Besteht Einverständnis des Hauses damit? - Das ist offensichtlich der Fall. *)
Dann erteile ich das Wort dem Bundesminister des Innern, Herrn Manfred Kanther.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Szenenwechsel zu einigen Bemerkungen zur Innenpolitik, die ein wesentliches Feld der kommenden Legislaturperiode sein wird, wobei sie bei ihren vielen Verantwortlichkeiten eine im Vordergrund sehen muß. Das ist die dauerhafte Gewährleistung des inneren Friedens. Ich betrachte das als einen weiteren Kreis um die innere Sicherheit herum. Beides hat wichtige Zusammenhänge.
Natürlich ist die Bewahrung des inneren Friedens eine komplexe Aufgabe für Wirtschafts-, Sozial-, Gesellschafts- und Bildungspolitik; die Innenpolitik leistet aber ihre Beiträge dazu. Sie leistet ihre Beiträge zur Gewährleistung eines verträglichen Zusammenlebens der Gruppen und der einzelnen. Das ist eine entscheidende Aufgabe.
Wir werden nie erreichen, in einer konfliktfreien Gesellschaft zu leben. Die Zurücknahme der Konflikte auf die Basis der Verträglichkeit und der Bereitschaft zum generellen Konsens ist aber schon eine wesentliche Aufgabe. Bei der Komplexität unserer Gesellschaft ist das eine Aufgabe, die viele Gruppen betrifft.
Ganz besonders trifft dies für die Frage des verträglichen Zusammenlebens von deutschen und ausländischen Mitbürgern in Deutschland zu. Wir haben erlebt, wie diese Verträglichkeit im Vorfeld des Asylkompromisses gefährdet war. Wir haben erlebt, wie es in der Bevölkerung Angst gab vor unkontrollierter Zuwanderung, die die Politik der Mitte nicht mehr steuern kann, wie praktische Probleme zugenommen haben und wie schwierig es war, die sehr plötzliche übergroße Zuwanderung im Griff zu behalten.
Das Phänomen dieses Zusammenlebens als einer herausragenden und wichtigen Frage des inneren Friedens wird uns weiter begleiten. Die Vorstellung, eine solche Problematik könne uns in Zukunft verlassen, ist irreal. Das Zusammenleben der Deutschen mit einer großen Zahl von Ausländern wird dauerhaft unsere Zukunft sein. Denn die Bedingungen dafür werden fortbestehen.
Nicht nur die 7 Millionen Ausländer, die im Land leben, sondern auch die vielfältigen Konfliktfelder in der Welt, die magnethafte Anziehungskraft unseres Landes, offene Grenzen, um die wir lange Jahre gestritten haben und die bei aller Notwendigkeit ihrer Sicherung fortbestehen werden, bedeuten, verträgliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern zu gestalten.
*) Anlage 2
Die Aufgabe ist, dies realitätsbewußt zu tun und nicht von irgendwelchem Wunder- und Wunschglauben oder hinter Schimären herjagend geleitet.
({0})
Dazu gehört, daß wir natürlich ein Integrationsangebot, soweit das nach unseren Kräften möglich ist, an jeden machen, der es annehmen will und kann. Ich schiebe jetzt nur ein, ohne es näher auszuführen, daß wir nicht ausschließlich Integration anbieten. Es ist natürlich das Recht von Ausländern, in Deutschland auch nicht integriert zu leben.
Aber bleiben wir bei dem schwierigen Feld der Integration. Das hat etwas mit der Zahl derer zu tun, an die sich das Angebot wendet und die die Forderung erheben. Das hat etwas mit der Zeitschiene zu tun, auf der sie sich abspielen kann. Das hat etwas mit der Gewöhnung der Menschen an das Phänomen in der Zeit zu tun. Damit werden auch die Grenzen der gesellschaftlichen Leistungskraft deutlich, Grenzen, die sich aus Sprache und Bildung, aus Fragen von Arbeit und Nichtarbeit, aus Fragen der Eingewöhnung in die Gesetze des Gastlandes oder ihres Bruchs ergeben.
Deshalb wird diese Koalition alles tun, was praktische Integrationshilfen bedeuten kann. Wir werden alles tun, was das Leben der ausländischen Mitbürger mit ihren deutschen Mitbürgern verbessern kann. Aber wir können nicht glauben, daß bare juristische Schritte an die Stelle wirklicher Integration in die Lebensumstände treten können.
({1})
Wir werden uns deshalb, oft eingefordert, um zusätzliche Chancen für die Integration von jungen Ausländern, von ausländischen Kindern bemühen: auf der EG-Basis, beim Schüleraustausch, bei Schülerreisen, studentischem Leben. Das werden wir mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch während unserer Präsidentschaft leisten können. Das war immer eine wichtige Forderung.
({2})
Bleiben wir bei den menschlichen Dingen, lieber Herr Fischer: daß ausländische Schüler im Bus, wenn sie mit der Klasse nach Österreich fahren wollen, keinen anderen Paß vorzeigen müssen als deutsche Kinder. Das war ein Teil dieser Forderungen. Das werden wir mit der Kinderstaatsangehörigkeit und dem gleichen Paß leisten. Bleiben wir bei den kleinen praktischen Fragen,
({3})
und reiten wir nicht die juristischen Schimären zu Tode.
Doppelte Staatsangehörigkeit als Rechtsanspruch wird es nicht geben, weil sie die Integration behindert und nicht fördert.
({4})
Doppelte Staatsangehörigkeit als Ausnahme ist längst
gängige Praxis in Deutschland, nämlich dort, wo
unzumutbare Härten das verlangen. Überhaupt tritt unsere Rechtsordnung ausländischen Mitbürgern ohne solche Härten entgegen.
({5})
Aber wir werden uns nicht weismachen lassen, daß juristische Schritte Integration ersetzen können.
({6})
Vor kurzem habe ich einen der letzten Beiträge in diesem Zusammenhang gelesen, der da sagt: doppelte Kinderstaatsangehörigkeit für all diejenigen Ausländerkinder, die hier geboren sind. Das ist zum Teil auch Ihre Position. Wenig später las ich das Argument: Abkehr vom Abstammungsrecht und Ersetzung durch das Bekenntnis zur Verfassung und zu den Gesetzen des Gastlandes.
({7})
Meine Damen, meine Herren, Sie müssen sich schon einmal überlegen, welches Argument sie wollen: Abstammung oder Jus soli? Aber wenn Jus soli, dann doch bitte nicht verschnitten mit der Verfassungstreue des hier geborenen Säuglings.
({8})
Man muß sich nur einmal an einem Beispiel überlegen, was die Argumente taugen. Dann kommt man auch zu praktischen Lösungen für dieses schwierige Feld.
({9})
- Sie müssen sich nur die Argumente überlegen, Herr Fischer.
Ich bin für die praktischen Eingliederungshilfen zuständig und nicht für die juristischen Schimären wie den Rechtsanspruch auf doppelte Staatsangehörigkeit. Ausländerwahlrecht per se ohne Integration, Einwanderungsgesetz ohne zu sagen, was man damit will und wie es aussehen soll, und auch die übergroße Zahl noch immer unberechtigter Asylbewerber obendrauf - dies alles trägt nicht zum inneren Frieden bei, sondern bringt ihn eher in Gefahr.
({10})
Deshalb besteht eine wichtige Aufgabe der Innenpolitik - und die kann nur von Bund und Ländern gemeinsam gelöst werden - in der Durchführung des gefundenen Asylkompromisses in allen seinen Komponenten: in der Gewinnung von Grenzsicherheit, in den Verfahren im Inland, in der Notwendigkeit der Abschiebung von nicht zum Aufenthalt berechtigten Ausländern und in der Absicherung dieser Politik in Rückübernahmeabkommen mit unseren Nachbarländern bis hin zu den Herkunftsländern.
Nur wer den Asylkompromiß getreulich erfüllt, kann auf seine friedenstiftende Wirkung rechnen. Wer ihn mit Abschiebestoppabkommen, unterschied122
lieh nach jedem einzelnen sozialdemokratisch regierten Land, unterläuft,
({11})
leistet keinen Beitrag zu diesem inneren Frieden.
({12})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burkhard Hirsch?
Nein.
Dazu gehören europäische Regelungen, die nicht allein von uns erarbeitet werden können. Die überwältigende Mehrzahl der Asylbewerber und Flüchtlinge in Europa hat in Deutschland Unterkunft gefunden.
({0})
Leider ist es so, daß unsere westlichen Nachbarn es nicht schrecklich eilig haben, sich diese Belastung mit uns zu teilen. An dieser Stelle werden wir noch eine wichtige europäische Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Die Komplexität dieser Politik muß offen erklärt und keine ihrer Facetten darf verschwiegen werden. Denn wenn die demokratische Mitte in den Geruch kommt, mit diesen Problemen nicht fertigzuwerden - und in dem Geruch war sie vor dem Asylkompromiß -, dann ist das die Stunde der Rattenfänger von rechts mit ihren vereinfachten Ordnungskonzepten.
({1})
Daß wir sie niedergerungen haben, war eine herausragende Leistung nicht nur der Union, aber auch und ganz besonders der Union. Auf diesem Wege wollen wir fortfahren: die Radikalen von allen Seiten, aber natürlich auch von rechts, in der Bedeutungslosigkeit zu halten, in die sie gehören.
Das ist um so wichtiger, als sich das Thema des verträglichen Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern mit wichtigen Fragen des engeren Kreises der inneren Sicherheit begegnet. Einige Bemerkungen zu diesem unendlich wichtigen Thema der Gewährleistung der inneren Sicherheit, des Schutzes der Bürger vor Verbrechen gegen Leib und Leben, Eigentum und persönliche Bewegungsfreiheit.
Wir wissen, daß dazu zuallererst die Abwehrkräfte der Gesellschaft im ganzen gestärkt werden müssen. Alle Antworten, die mit Polizei und Gericht am Ende der Kette gegeben werden, sind schlechter als diejenigen, die die Gesellschaft präventiv geben kann. Dazu muß sie zusammenrücken. Dazu muß sie Fehlentwicklungen korrigieren. Dazu müssen Politiker viele, viele ihrer Verheißungen der Vergangenheit überprüfen. Ich will das jetzt nicht im einzelnen ausführen, aber dazu gehören die Stärkung von Familie, die Stärkung des Erziehungsgedankens in der
Schule, der zwei Jahrzehnte lang in manchen Bundesländern niedergemacht worden ist,
({2})
die kritische Einstellung zu Medienbeiträgen, die Wiederbelebung einer Wertediskussion, die mit Sekundärtugenden abgewertet worden ist.
({3})
Weil uns die Sekundärtugenden jetzt fehlen, sieht manches in der inneren Sicherheit so schlecht aus. Das alles hat etwas mit den Präventivkräften der Gesellschaft zu tun.
({4})
- Herr Fischer, da ich doch Ihre Zwischenrufe nun seit zehn Jahren von anderer Stelle alle kenne,
({5})
antworte ich Ihnen gerne auf die Frage nach den privaten Medien und ihrem unerfreulichen Gewaltangebot, das sich allerdings nur minimal von dem der öffentlichen Sender unterscheidet, aber es immer noch übertrifft.
({6})
- Herr Fischer, es ist wieder ein Zeichen Ihrer Maschinenstürmerei und Technikabwendung,
({7})
daß Sie nicht unterscheiden können, daß man mit dem Hammer einen Schädel einschlagen oder einen Nagel in die Wand klopfen kann, und so ähnlich ist es mit den privaten Medien.
({8})
Daß sie ihren Unterhaltungsauftrag mit dem Angebot an Gewaltsendungen, das sie heute produzieren, falsch erfüllen, sage ich jeden Tag,
({9})
und wir werden sie dahin bringen, daß sie eine unschädlichere Form von Unterhaltung anbieten.
({10})
Nur, das ist keine Aufgabe, die sich allein an private Medien richtet. Das ist ein Aspekt. Dazu müssen die Kräfte der Wirtschaft, die daran beteiligt sind, diese Werbeecken zu suchen, und die Agenturen, die dort
hinschalten, und die Unternehmungen, die dort ihre höchsten Einschaltquoten für die Konsumgüterwerbung suchen, mitwirken. Ganz am Schluß gibt es eine hohe Einschaltquote nur deshalb, weil irgend jemand den Apparat anschaltet. Dann schließt sich ein Kreis zur schwierigen Erziehungsaufgabe z. B. in der Familie oder in der Schule.
({11})
Natürlich gehört zu den präventiven Kräften in einem engeren Sinne,
({12})
daß wir uns auf das besinnen, was wir auch neu können in der Prävention. Was die Prävention bei weitem noch heute zu wenig bedenkt, ist der ganze Sektor der Ausstattung von Waren und Dienstleistungen mit inhärenter Sicherheit. Das ist nicht nur eine Forderung der Verbrechensbekämpfung, das ist auch eine Chance für Märkte von morgen, wie wir sie etwa in der Umweltpolitik wahrnehmen. Wir können zwar auf den Mond fliegen, aber wir lassen uns 144 000 Autos stehlen. Es werden weniger gestohlen, wenn sie endlich eine elektronische Wegfahrsperre haben werden.
({13})
Deshalb ringen wir um diesen Weg, und Sie wissen, daß wir dazu eine Änderung des EG-Rechts brauchen, von der ich hoffe, daß wir sie bald bekommen. Wir müssen unsere Kräfte in der Wirtschaft anstrengen.
Ein Viertel des Schadens beim Kreditkartenbetrug tritt auf dem Versandwege ein; ich wiederhole: ein Viertel des Schadens auf dem Versandweg. Also müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir Kreditkarten so einrichten, daß sie nicht bereits vor dem Ankommen beim Empfänger mißbraucht werden können.
({14})
Viele Punkte gehören dazu.
In diesen Zusammenhang der Prävention gehört die Bemerkung, daß es falsch ist, Hemmschwellen zu senken, Massendelikte und geringe Mengen oder bestimmte Gruppen von Rauschgiften straffrei zu stellen. Notwendig ist, die Hemmschwelle hochzuhalten
({15})
und die gesellschaftlichen Kräfte so zu stärken, daß die Zahl der Delikte abnimmt, aber nicht vor der Zahl der Delikte durch Stellung von Straffreiheit zu kapitulieren.
({16})
Zu den Neuheiten in unserem Leben gehört bedauerlicherweise, insbesondere nach der Öffnung von Grenzen, eine Vielzahl von Delikten, die wir vor vier bis fünf Jahren in der organisierten Kriminalität kaum oder nur im Ansatz gekannt haben: neue Rauschgiftrouten an den östlichen Landesgrenzen; grenzüberschreitende Kriminalität im Schlepperunwesen; Nuklearkriminalität, Kraftfahrzeugdiebstahl oder organisierter Einbruch; neue Methoden und Techniken sowie neues Management im organisierten Verbrechen, eine grenzüberschreitende Kriminalität, die im Bereich der organisierten Kriminalität überwiegend ist. Zwei Drittel bis drei Viertel aller Delikte der organisierten Kriminalität haben internationale Zusammenhänge. An über der Hälfte der Delikte im Land sind Ausländer beteiligt, deliktorientiert nach bestimmten ethnischen Gruppen.
Es liegt auf der Hand, daß wir neues Handwerkszeug benötigen, um in so abgeschlossene Gruppen von Kriminalität mit neuen Methoden der Bekämpfung hineinzukommen, mit technischen Methoden, mit Kronzeugenregelung und natürlich - das füge ich hinzu - mit dem Abhören von Gangsterwohnungen als für mich unverzichtbare Notwendigkeit der Kriminalitätsbekämpfung.
({17})
- Ich bestreite doch nicht, daß es darüber einen Konflikt in der Koalition gibt, den wir noch nicht haben lösen können.
({18})
Ich habe auch nicht vor, bei den Maßnahmen, die wir ergreifen werden, Ihnen die heile Welt vorzuspiegeln. In einigen Punkten werden wir uns bei der Überprüfung des geltenden Handwerkszeugs zusammenraufen. Aber wir werden das leisten.
Vor allem werden wir die unerfreuliche Entwicklung der Kriminalität im Bereich der organisations-und bandenmäßig begangenen Kriminalität mit neuen Methoden angehen. Wir werden uns dabei nicht von den abgestandenen Vorschlägen der Vergangenheit leiten lassen. Wir werden dabei nicht über die unerfreulichen Aspekte des Themas hinwegsehen, weil das wieder ein Punkt ist, an dem mit den vereinfachten Ordnungskonzepten der Rechten die Menschen eingefangen werden können, wenn das demokratische Zentrum in der Verbrechensbekämpfung vor den Mitbürgern nicht hochleistungsfähig erscheint.
Diese Aufgabe wird die Bundesregierung ganz entschieden und mit den Bundesländern anpacken. Heute morgen hat Herr Scharping zu meinem geringen Vergnügen - wie Sie sich vorstellen können - darauf hingewiesen, daß binnen kurzem in 14 von 16 Bundesländern Sozialdemokraten mitregieren.
({19})
- Sehen wir einmal, ob es so bleibt! Darüber unterhalten wir uns noch einmal!
Das bedeutet eine maßgebliche Mitverantwortung von Sozialdemokraten für die innere Sicherheit in Deutschland.
({20})
Denn Polizei und Gerichte sind ihre Sache, zuvörderst in den Ländern. Das heißt für den Bundesinnenminister natürlich: Zusammenwirken mit den Ländern so gut und so oft und intensiv, wie es geht. Gerade deshalb ist es falsch, die Einheitlichkeit von Innenpolitik durch Länderalleingänge zu unterlaufen. Das sage ich noch einmal. Das gilt nicht nur für den Asylbereich. Davor muß man auch in anderen Sektoren warnen und rechtzeitig die Stimme erheben, um die Kräfte der Verbrechensbekämpfung in einheitlichen Konzepten zusammenzuführen, wie wir uns das in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen haben und wie es eine Ebene der Politik nicht für sich allein kann - nicht nur Bund und Länder zusammenzuführen, sondern weit darüber hinaus, weil die wirklichen Probleme der Verbrechensbekämpfung leider die neuen Facetten ihrer Internationalität sind, auf europäischer und darüber hinausgehender Ebene zusammenzuarbeiten, auch mit unseren östlichen Nachbarstaaten. Es gehört leider zur Realität Europas - der Bundeskanzler hat das heute morgen in Bemerkungen zu Europol oder Schengen angesprochen -, daß unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit deutlich ausgeprägter ist, was vielleicht auch etwas mit unserer zentralen Lage und den vielen offenen Landgrenzen zu tun hat, als die anderer europäischer Partner. So ist dies eine noch keineswegs erfüllte, sondern eine angegangene Aufgabe.
Es gibt Streit um Fragestellungen der europäischen Sicherheitspolitik, den man nur mühsam nachvollziehen kann. Warum man, wenn man Europol will, über die Rechnungsprüfung von Europol zwischen zwölf Regierungen streiten muß, ist mir absolut unerfindlich. Ich lebe mit nahezu jedem Rechnungsprüfungsmodell, das man sich da ausdenken kann. Aber ich möchte gern, daß Europol schnell für die Drogenseite und möglichst weitere Deliktbereiche in Gang gesetzt wird.
({21})
Ich kann aber leider nicht darüber hinwegsehen, daß andere Länder, mit denen wir auskommen wollen und müssen und ohne die wir in der Verbrechensbekämpfung gar nicht können, hier den Kernbereich ihrer nationalen Souveränität angetastet sehen - ob wir das nun für richtig halten oder nicht - und deshalb ein mühsamer Überzeugungsweg gegangen werden muß.
Diese Komplexität der Aufgabe wollte ich Ihnen vorstellen. In diesem Sinne werden sich Koalition und Bundesregierung an die Bewältigung dieser herausragenden, schwierigen und wichtigen Aufgabe der kommenden vier Jahre machen.
Ich danke Ihnen.
({22})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Abgeordneten Dr. KösterLoßack.
Herr Kanther, ich stelle fest, daß Sie gesagt haben, der innere Frieden in dieser Republik sei erst durch die Verabschiedung des Asylkompromisses wiederhergestellt worden. Es ist eine Pervertierung des Begriffs „innerer Frieden", ihn in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Sie haben gesagt, die Rechten seien von Ihnen niedergerungen worden. Das Gegenteil ist der Fall: Sie haben sie mit dem Nachgeben gegenüber diesen menschenfeindlichen Forderungen eingebunden, die heute dazu führen, daß Menschen in Kriegsgebiete oder in Gebiete abgeschoben werden, wo sie der Folter, der Inhaftierung und dem sicheren Tod ausgesetzt werden. Ich kenne sehr viele Fälle. Ich komme aus der Asylarbeit.
({0})
Wenn heute in diesem Hause angesichts der Tatsachen so argumentiert wird, dann müssen Sie sich auch gefallen lassen, daß wir Sie immer wieder darauf hinweisen, wenn Sie von der inneren Sicherheit reden, daß Sie die Verantwortlichkeiten verschieben, indem Sie auch noch mit ethnischen Kategorien operieren und in bezug auf Ausländerkriminalität diese nicht nur als eine Globalkategorie benennen, sondern auch noch bestimmte ethnische Gruppen nebulös irgendwo erwähnen.
({1})
Das erinnert mich durchaus an Argumentationsfiguren, die wir vor fünfzig und vor sechzig Jahren schon einmal hatten.
({2})
Ich bin der Meinung, daß so etwas unterbleiben muß. Jeder, der sich mit Kriminologen und Kriminologinnen unterhält, weiß, daß solche Behauptungen unhaltbar sind. Sie stiften inneren Unfrieden in dieser Republik
({3})
mit solchen Argumentationsfiguren.
({4})
Frau Abgeordnete, Sie sind neu in diesem Parlament. Ich darf Ihnen sagen: Es ist hier eine Tradition, Vergleiche der Art, wie Sie sie soeben gezogen haben, in der Argumentation mit dem politischen Gegner nicht zu ziehen.
({0})
Herr Bundesminister Kanther, wenn Sie wünschen, haben Sie das Wort zu einer Replik.
({1})
- Danke.
Vizepräsident Hans Klein
Ich erteile dem Abgeordneten Otto Schily das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Eine Gesellschaft, in der die Legitimationskraft der staatlichen Institutionen erkennbar dramatisch abnimmt und daraus folgend die Konsensfähigkeit gefährdet wird, befindet sich in der Krise. Darauf müssen wir eine Antwort finden. In der Regierungserklärung finden wir sie nicht.
Die Wirklichkeit hat das Vorstellungsvermögen der Bundesregierung längst überholt. Es hilft dieser Bundesregierung wenig, daß sie ein Zukunftsministerium einrichtet, solange sie so vielen verstaubten Vergangenheiten verhaftet bleibt wie bisher.
({0})
Welchen kläglichen, armseligen Begriff präsentieren Sie uns mit Blick auf die Zukunft! Wenn Herr Hintze mit seinem bekannten ängstlichen MusterschülerLächeln ankündigt, er wolle Deutschland für die Zukunft, für das nächste Jahrhundert fit machen,
({1})
dann wissen wir genau, daß von dieser Regierung nichts mehr zu erwarten ist.
({2})
Du lieber Himmel, eine Regierung als Fitneßcenter: Das ist zu dürftig für dieses große Land, meine Damen und Herren.
({3})
Nein, es ist an der Zeit, daß wir Gesellschaft und Staat erneuern, die Demokratie vertiefen, der Freiheit mehr Raum geben und Solidarität üben. Das ist nämlich aus dem berühmten Dreiklang der Französischen Revolution ein wenig in den Hintergrund gerückt worden. Solidarität gehört auch zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - so hieß es damals, heute würden wir Geschwisterlichkeit sagen -, Solidarität üben übrigens auch ganz im buchstäblichen Sinn.
Den inneren Frieden werden wir nur wahren, wenn es uns gelingt, uns als moderner, weltoffener Staat weiterzuentwickeln. Dazu gehört vor allem, daß wir Zuwanderung als demographische, kulturelle, humanitäre und auch wirtschaftliche Notwendigkeit anerkennen. Auch die Industrie hat das längst erkannt, Herr Bundesminister Kanther.
({4})
Kernstück einer Neubestimmung unserer staatlichen Fundamente muß daher eine grundlegende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sein, das dann dem Niveau der europäischen Zivilisation entspricht und jedenfalls das Abstammungsprinzip um das Jus soli ergänzt. Ich glaube, dann sind wir endlich auf dem Niveau europäischer Zivilisation angelangt.
({5})
Das ist, Herr Kanther, nicht nur eine rechtstechnische Angelegenheit; das verstehen Sie nicht richtig. Das ist eine Frage auch der Bewußtseinsbildung, des geistigen Standortes der Menschen in Deutschland. Das können natürlich Sandkastenspiele mit einer befristeten Staatsangehörigkeit, einer Staatsangehörigkeit mit eingebautem Verfalldatum, nicht leisten.
({6})
So etwas taugt nur zur Verballhornung unserer Verfassung und zu sonst nichts.
Großzügigkeit, meine Damen und Herren Kollegen, ist gefordert, nicht Kleinlichkeit in solchen Fragen. Gewiß ist eine unbeschränkte Zuwanderung in einem dichtbesiedelten Gebiet wie Deutschland in Mitteleuropa nicht möglich.
({7})
Die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes war aus diesem Grunde, so schmerzlich das für viele aus sehr ehrenwerten Gründen gewesen sein mag, unumgänglich. Aber das zweite Teilstück dieser Reform steht noch aus: ein Gesetz zur Regelung der Zuwanderung, die wir nicht allein auf wirtschaftliche Interessen beziehen und reduzieren sollten.
({8})
Sonst landen wir am Ende bei dem in der Schweiz neuerdings diskutierten Modell von Einwand erungszertifikaten, die von der Industrie meistbietend ersteigert werden.
Wir sollten auch darauf Bedacht nehmen, daß sich unsere Bereitschaft zur Asylgewährung für politisch Verfolgte nicht in der kalten und starren Vollstrekkung von Gesetzesvorschriften erschöpfen darf. Die moralische Instanz unseres Gewissens muß an der einzelnen Entscheidung immer noch beteiligt bleiben. Wir sollten deshalb der Ausländerbeauftragten und den Flüchtlingshilfeorganisationen ein stärkeres Mitspracherecht verleihen.
({9})
Warum ist es beispielsweise nicht möglich, der Ausländerbeauftragten ein Vetorecht zuzubilligen, damit Härtefälle vernünftig und menschlich gelöst werden können? Das würde uns als Land im Herzen Europas auszeichnen.
({10})
Die Koalitionsfraktionen loben die Kirchen, aber sie nehmen ihre Mahnungen nicht ernst. Das ist doch das Faktum.
({11})
In diesem Kirchenpapier heißt es wörtlich:
Wie wir mit Flüchtlingen und Asylsuchenden umgehen, ist ein Lern- und Bewährungsfeld dafür, ob wir in der Lage sein werden, uns als offene demokratische und soziale Gesellschaft den dahinterliegenden, weit umfassenderen Herausforderungen zur Überwindung der Flüchtlingsursachen zu stellen.
Wie wahr! Nehmen Sie ernst, was in diesem Papier steht, und handeln Sie danach! Das ist keine Sonntagspredigt, das ist eine Aufforderung zum Handeln, meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktionen.
({12})
Warum sträubt sich der Bundesinnenminister Kanther dagegen, 40 000 Vietnamesen, die seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten in Deutschland leben - wenn auch zunächst einmal im anderen Teil Deutschlands -, auf geräuschlose und anständige Weise in unsere Gesellschaft zu integrieren?
({13})
Das wäre nicht nur eine richtige humanitäre Maßnahme, sondern übrigens auch - hören Sie gut zu! - ein Gebot wirtschaftlicher Klugheit. Bekanntlich blokkiert die starre Haltung des Bundesinnenministers die deutsche Wirtschaft in der Anbahnung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen zu Vietnam, die sehr vielversprechend sind. Eine Milliarde DM geht uns durch die Bockbeinigkeit des Herrn Kanther auf diese Weise verloren.
Wenn sich Herr Kanther als Mitglied der Bundesregierung derart schwerhörig gegenüber humanitären Anliegen gebärdet wie etwa im Fall des 13jährigen türkischen Jungen Muzafer Ucar, dann muß er sich im übrigen nicht wundern, wenn in der Gesellschaft dieselben Verhaltensweisen und dieselbe Hartherzigkeit in anderer und möglicherweise aggressiverer Form wiederkehren.
({14})
Herr Kollege Schily, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhlwein?
Bitte schön.
Herr Kollege Schily, ist Ihnen aufgefallen, daß der Bundesinnenminister, mit dem Sie sich jetzt zu Recht auseinandersetzen wollen, gar nicht mehr im Saal ist und daß er auch nicht hinterlassen hat, warum er den Saal verlassen mußte?
Es fällt manchmal nicht auf, wenn Herr Kanther nicht da ist. Das mag deshalb verzeihlich sein. Ich erinnere mich an ein Wort des Kollegen Fischer, gewandt an den Herrn Bundeskanzler, daß er nur den Bundeskanzler sehe und dahinter nicht sehr viel. Ich denke, das ist der Grund dafür, daß ich
übersehen habe, daß Herr Kanther nicht mehr hier ist. Jetzt ist auch sein Stellvertreter nicht mehr da.
({0})
Gestatten Sie eine kleine Zwischenbemerkung, die das aufklärt?
Bitte sehr.
Der Innenminister, Herr Kanther, hat sich ordnungsgemäß entschuldigt. Sein Staatssekretär ist hier. Herr Kanther mußte zu einer Veranstaltung und ist schon länger hiergeblieben als geplant. Insofern kann man ihm überhaupt kein Versäumnis vorwerfen. Er ist unterwegs und geht seiner Pflicht nach.
({0})
Frau Kollegin Baumeister, ich möchte nur auf folgendes hinweisen: Die Tatsache, daß wir so fahrlässig mit Parlamentsdebatten umgehen, bedeutet auch eine Schwächung der Legitimationsinstrumente für die Politik.
({0})
Wir sollten das Parlament sorgsamer behandeln.
Legitimationsschwächen des Staates lassen sich im übrigen nur aufholen, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger stärker als bisher an Entscheidungen und an deren Vorbereitung beteiligen können. Sie haben sich in der vergangenen Legislaturperiode nicht dazu durchringen können, einen Volksentscheid auf Bundesebene in die Verfassung aufzunehmen.
Herr Kollege Schily, es besteht ein weiterer Fragewunsch. Der Kollege Hirsch würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Hirsch, sehr gerne.
Herr Kollege Schily, ehe Sie sich einem anderen Thema zuwenden und weil der Bundesinnenminister mir vorhin die Zwischenfrage nicht gewährt hat: Empfinden Sie es nicht ebenso wie ich als ein bißchen beschämend, daß zwar die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber, die sich heute in der Bundesrepublik melden, aus dem Gebiet des früheren Jugoslawien kommt, daß es aber Bund und Ländern bisher trotzdem nicht gelungen ist, den im Asylkompromiß vereinbarten gesonderten Bürgerkriegsstatus für Flüchtlinge aus diesen Gebieten herbeizuführen?
({0})
Wäre es nicht wichtig, daß auch die Länder, an deren Regierungen die Sozialdemokraten beteiligt sind, einen Schritt auf uns zu machen, um endlich eine finanzielle Einigung herbeizuführen?
({1})
Ich schäme mich, daß es uns nicht gelungen ist, diesen wichtigen Teil des Asylkompromisses zu verwirklichen.
({2})
Herr Kollege Hirsch, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, daß die Lösung solcher Fragen nun wirklich nicht an finanziellen Engherzigkeiten scheitern darf. Ich möchte Ihnen ausdrücklich zustimmen.
({0})
Sie haben sich in der vergangenen Legislaturperiode - wenn Sie erlauben, daß ich an meinen Gedankengang anknüpfe; ich glaube, daß das auch den Kollegen Hirsch interessiert nicht dazu durchringen können, einen Volksentscheid auf Bundesebene in die Verfassung aufzunehmen. Wer aber Staat und Demokratie festigen will, darf sich nicht scheuen, das Volk unmittelbar an Sachentscheidungen zu beteiligen. Daran werden wir Sie auch im Verlaufe dieser Legislaturperiode im Blick auf die künftige Arbeit erinnern, solange Sie sich nicht zu einer besseren Einsicht bequemen.
({1})
Ein Satz, meine Damen und Herren Kollegen, gilt allgemein - vielleicht für einige Juristen eher überraschend: Alles Recht, das zwischen Menschen besteht und entsteht, verdankt seine Geltung nicht in erster Linie oder wohlmöglich sogar ausschließlich den Zwangsmitteln, die zu seiner Durchsetzung verhängt werden, sondern dem Einverständnis der Menschen untereinander. Geht die Konsensfähigkeit verloren, dann ist es um das Recht geschehen. Da hilft keine Polizei und kein Gerichtsvollzieher.
Gewiß, der Staat darf nicht vor der Gewalt oder vor dem Unrecht zurückweichen. Polizei und Justiz müssen mit den notwendigen Instrumenten ausgerüstet sein, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Wie diese Instrumente auszusehen haben, darüber gibt es bekanntermaßen erheblichen Streit. Dieser Streit kann nur sachgerecht entschieden werden, wenn in aller Ruhe und ohne Hektik nationale und internationale Erfahrungen bei der Bekämpfung der Kriminalität geprüft werden. Die Empfehlung von Heribert Prantl, die Effizienz der letzten gesetzgeberischen Neuerungen zu untersuchen, bevor neue ergriffen werden, sollten wir beherzigen. Keinesfalls kann der Kampf gegen das Verbrechen dadurch gewonnen werden, daß wir bewährte rechtsstaatliche Grundsätze aufgeben. Das gilt in jeder Blickrichtung.
({2})
Wir werden uns aber auf die Frage einlassen müssen, ob die Ausgestaltung der Strafgerichtsbarkeit in den überkommenen Formen Kriminalität so zu begegnen weiß, daß daraus so etwas wie ein gesellschaftlicher Heilungsprozeß entstehen kann. Wenn wir das Wort „richten" in seinem Wortsinn so verstehen, daß dem abirrenden Menschen die Einsicht in seine Schuld und die Notwendigkeit einer Richtungsänderung in seinem Leben vermittelt wird, werden wir nach meiner Überzeugung nach neuen Formen der Strafjustiz suchen müssen. Das gilt insbesondere für die Jugendgerichtsbarkeit. In der Anwendung des Jugendstrafrechts und im Jugendstrafvollzug haben wir in der Vergangenheit nach meiner Überzeugung schwerwiegende Fehler gemacht, deren Aufarbeitung dringlich ist.
({3})
Das setzt stärkere Verantwortung und mehr Phantasie voraus, als wir bisher investiert haben. Den nicht immer einfach durchschaubaren Zusammenhang von gesellschaftlicher Entwicklung und Aufkommen von Kriminalität dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren. Auch die besorgniserregende Ausbreitung der organisierten Kriminalität ist in gewisser Weise das Resultat des Auseinanderbrechens des Wertegefüges unserer Gesellschaft und des Legitimationsverlustes des Staates. Wenn bittere Armut, soziales Elend, Obdachlosigkeit eine Alltäglichkeit werden, die wir achselzuckend hinnehmen, wird das nicht ohne Auswirkungen auf das allgemeine Rechtsempfinden der Menschen bleiben.
({4})
Das gleiche gilt für ein ungerechtes, wirtschaftsfeindliches und innovationshemmendes Steuersystem.
Bei der Kriminalitätsbekämpfung, gerade was die organisierte Kriminalität angeht, sollten wir viel stärker darauf bedacht sein: Wie können wir die Gesellschaft gegen Kriminalität immunisieren? Das ist eine Aufgabe der Erziehung, der Selbsterziehung, der Kultur. Nach einem Bericht der Tageszeitung in dieser Woche hat Palermos oberster Ermittlungsrichter Caselli, der an vorderster Front gegen die Mafia kämpft, erklärt, daß nicht die Staatsanwälte und die Polizei, sondern nur ein kultureller Wandel Erscheinungen wie die Mafia besiegen kann.
({5})
Das kann nur heißen - und das sollten wir ernst nehmen -, daß wir die Maßlosigkeit überwinden und zu einer Kultur des Maßes gelangen müssen, in der der Egoismus nicht das alleinherrschende Leitmotiv unseres Wandeins bleibt.
({6})
Selbstverständlich bedeutet das nicht den Verzicht auf entschiedenes Vorgehen von Justiz und Polizei. Durch gutes Zureden lassen sich weder gewalttätige extremistische Jugendliche noch international organisierte Banden von Gewalttaten und sonstigen Verbrechen abhalten. Aber es sollte uns schon zu denken geben, daß sich jugendliche Gewalttäter vor allem dort zusammenrotten, wo die kulturelle Verarmung am weitesten vorangeschritten ist.
Wenn heute in einer großen Tageszeitung geschildert wird, daß Eltern in den USA gegenüber ihren Kindern in der Regel mit Zeit und Raum knausern, dann trifft diese Kritik auch uns, wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen nicht genügend Raum und Zeit für ihre Entfaltung bieten und sie statt dessen der geistigen Verödung und Verrohung überlassen. Dies betrifft nicht zuletzt das, was wir hier diskutiert haben:
daß in den elektronischen Medien Abend für Abend Bilder über die Mattscheibe ausgestrahlt werden, die sich als Nachbilder in die Tiefen des Bewußtseins von Kindern absenken. Die Gefahren einer solchen Entwicklung sollten wir nicht unterschätzen.
({7})
Kriminalitätsbekämpfung - es scheint so, als würden wir uns in diesem Punkt sogar ein wenig treffen; aber dies ist, so denke ich, in der Tat nur scheinbar der Fall - ist daher auch und vielleicht zuallererst eine Erziehungsaufgabe.
Wenn wir die Legitimationskraft des Staates und seiner Institutionen stärken wollen - lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auch auf diesen Punkt noch eingehen -, müssen wir ein weiteres großes Reformvorhaben auf die Tagesordnung dieser Legislaturperiode setzen: die Neuordnung des öffentlichen Dienstes. Zusammen mit den Ländern und Kommunen wird der Bund die Aufgabenstellung des öffentlichen Dienstes auf der Grundlage folgender Fragestellungen überdenken müssen: Erstens. Welche Aufgaben nehmen der Staat und die Kommunen wahr? Die Überfrachtung des Staates einerseits und die übermäßige Ausdehnung des Staatsapparates andererseits ist eine Fehlentwicklung, die als solche von allen Seiten erkannt wird. Vielleicht empfiehlt es sich, wieder an Überlegungen anzuknüpfen, die Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" zu Papier gebracht hat.
Die zweite Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen: Wie nimmt der Staat seine neu zu bestimmenden Aufgaben wahr, in öffentlich-rechtlicher Verantwortung, durch Umstellung der Behördenstruktur auf privatrechtliche Organisationsabläufe oder in öffentlich-rechtlicher Verantwortung durch Delegation an privatrechtliche Organisationen? Diese Alternativen werden vernünftig und in objektiver Form zu diskutieren sein.
Die dritte Frage: Wer wird diese Aufgaben wahrzunehmen haben? Soll der Beamtenstatus geändert werden, auf hoheitliche Tätigkeiten in engerem Sinne beschränkt werden, und sollen für die übrigen Aufgabenbereiche dann Angestellte und Arbeiter nach den Maßstäben des allgemeinen Tarifrechts tätig sein? Eine solche Übung wäre allerdings dann für die Katz, wenn es dabei bleibt, daß solche Tarifverträge entsprechend der derzeitigen Sachlage inhaltliche Parallelen zum Beamtenrecht haben. Dann würde die Sache nur weitaus teurer, wie sich auch aus einer jüngst veröffentlichten Studie des baden-württembergischen Finanzministeriums ergibt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, zur Reform des öffentlichen Dienstrechtes ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Angesichts der Tatsache, daß genügend Materialien vorliegen, müßte es der Bundesregierung selbst bei schleppender Arbeitsweise möglich sein, ein solches Konzept binnen eines halben Jahres zu erarbeiten. Zu einer konstruktiven Mitwirkung an einem solchen Reformvorhaben sind wir bereit. Bei einer grundsätzlichen Einigung über
die Grundzüge der Reform des öffentlichen Dienstrechtes wird eine Verständigung über die Verfahrensweise bei dessen Verwirklichung keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Ein reformiertes öffentliches Dienstrecht wird die Effizienz staatlichen Handelns steigern, seine Plausibilität erhöhen und die Eigenverantwortung der einzelnen Menschen stärken.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit folgenden Worten schließen: Viele setzen in dieser unsteten, risikoreichen und gefährdeten Welt auf die Restauration überkommener Wertvorstellungen. Das ist eine Illusion. Die Werte werden von den Menschen nicht mehr von außen angenommen, sie werden nicht mehr von außen oktroyiert werden können. Unsere Hoffnung ruht auf dem Menschen selbst, auf dem Menschen, der zu sich „ich" sagt und darin seine Würde und Verantwortlichkeit erkennt. Nirgendwo anders wird mit dem Beginn des nächsten Jahrhunderts und Jahrtausends eine Verankerung des inneren und äußeren Friedens möglich sein.
Ich sage es mit den Worten von Paolo Flores d'Arcais - ich zitiere -:
Das Bewußtsein der endlichen Existenz enthält die Aufgabe, darin so etwas wie einen fragilen provisorischen Sinn zu finden, durch die mit allen geteilte Erfahrung der ernstgenommenen Demokratie.
Das ist eine Botschaft auch an dieses Parlament. Vielen Dank.
({8})
Herr Kollege Struck wünscht das Wort zur Geschäftsordnung. Bitte, Herr Kollege Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da ich es für einen sehr eigenartigen Vorgang halte, daß der Bundesinnenminister hier eine Rede abläßt und sich dann auf Wahlkampfreise oder sonstwohin begibt
({0})
und es nicht nötig hat, in der parlamentarischen Auseinandersetzung die Argumentation der Opposition anzuhören, beantrage ich bis zum Wiedereintreffen des Bundesinnenministers eine Unterbrechung der Sitzung.
({1})
Herr Bundesminister Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist in diesem Hause schon häufiger der Fall gewesen, daß Abgeordnete der Opposition, aber auch
Regierungsmitglieder Verpflichtungen eingegangen sind,
({0})
die von der Gegenseite akzeptiert wurden.
({1})
Es hat dann immer auch Möglichkeiten gegeben, sich darüber zu verständigen.
({2})
Im konkreten Fall ist Herr Bundesminister Kanther vor Monaten eine Verpflichtung eingegangen.
({3})
Er glaubte, daß er sich angemessen entschuldigt hätte.
({4})
- Nun hören Sie doch einmal zu.
({5})
- Aber vielleicht hören Sie sich erst einmal an, was ich Ihnen sage. Dann können Sie anschließend antworten.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist also üblich in diesem Hohen Hause gewesen.
({7})
Meine Damen und Herren, hören Sie sich doch die paar Sätze des Kollegen Bohl bitte an.
Herr Kanther ist davon ausgegangen, daß er sich auch angemessen entschuldigt hat.
Die Bundesregierung - das will ich hier in aller Form tun - bittet um Nachsicht, wenn dieses offensichtlich nicht der Fall war. Es ist selbstverständlich, daß Herr Bundesminister Kanther, wenn die Opposition es wünscht - und diesen Wunsch hat sie deutlich zum Ausdruck gebracht -, an dieser Debatte weiterhin teilnimmt.
Ich habe daraufhin mit Herrn Kollegen Kanther im Auto telefoniert. Er hat selbstverständlich seine Fahrt sofort abgebrochen und wird in wenigen Minuten im Deutschen Bundestag eintreffen. Deshalb liegt es selbstverständlich im Ermessen des Deutschen Bundestages, die Beratung für einige Minuten zu unterbrechen oder meiner Versicherung zu glauben, daß er in schätzungsweise fünf Minuten hier sein wird.
Ich bitte den Bundestag und insbesondere die Oppositionsfraktionen noch einmal um Nachsicht. Es war keine böse Absicht. Es ist selbstverständlich, daß sich die Bundesregierung auch bei der Debatte über die innere Sicherheit und die Regierungserklärung hier im Deutschen Bundestag der Auseinandersetzung stellt.
Herzlichen Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
({0})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte eine Frage an die Kollegin Kerstin Müller. Bezieht sich Ihr Redebeitrag wesentlich auf die Innenpolitik?
({0})
Dann, meine Damen und Herren, schlage ich vor, daß wir dem Antrag folgen und warten, bis der Bundesinnenminister wieder eingetroffen ist.
({1})
({2})
Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen. Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich erteile das Wort der Kollegin Kerstin Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kanther!
({0})
Noch nie hat es wohl eine Regierungskoalition fertiggebracht, eine derart dürftige Koalitionsvereinbarung vorzulegen. 40 Seiten Blindtext, dazwischen einige versteckte Gemeinheiten - wirklich eine reife Leistung. Auch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers sowie die Ausführungen von Herrn Kanther haben uns nicht weitergeführt. Diese Regierung hat meiner Meinung nach nichts anzubieten, was zur Lösung der drängenden Probleme in unserer Gesellschaft taugt. Wo sind Ihre Ideen, wo Ihre Vorschläge für Reformen? Wo ist das Neue in Ihrer Politik? Was Sie uns heute hier gesagt haben, das hören wir von der Bundesregierung schon seit zwölf Jahren.
Mit schwarzen Leihstimmen hat es die F.D.P. noch einmal in den Bundestag geschafft; jetzt kassiert die Union vor allem bei der Innen- und Rechtspolitik die Leihgebühren. Die F.D.P. sucht ihr liberales Heil im Koalitionsvertrag in vagen Formulierungen. Bei ein130
Kerstin Müller ({1})
deutigeren Aussagen wäre Ihnen doch Ihr eigener Laden um die Ohren geflogen. Der politische Deal ist: Für Zugeständnisse an die F.D.P.-Wirtschaftspolitik ist man bereit, den Schutz und den Ausbau von Bürgerrechten abzuschreiben.
({2})
- Ich warte.
Kriminalitätsbekämpfung, Drogenpolitik, Staatsbürgerschaftsrecht - kein Jota des liberalen Programms wurde umgesetzt.
Sehr geehrte Damen und Herren von der F.D.P., dieser Ausverkauf der Ideen des politischen Liberalismus wird Sie aber nicht retten, sondern nur noch schneller in den Abgrund treiben.
({3})
Den Vogel abgeschossen haben Sie allerdings mit der Einführung einer neuen Rechtskategorie, nämlich der der „deutschähnlichen Kinder". Diese Schnupperstaatsbürgerschaft ist juristisch, finde ich, bestenfalls Flickschusterei. Diesen mißratenen Vorschlag präsentieren Sie den Bürgerinnen und Bürgern doch bloß deshalb als Verlegenheitslösung, weil Sie immer noch nicht anerkennen wollen, daß die Bundesrepublik längst ein Einwanderungsland geworden ist.
({4})
6,9 Millionen Ausländer leben in Deutschland. Allein 1993 wurden 100 000 hier geboren. Sie alle sind Inländer. Das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht aber macht sie weiterhin zu Ausländern. Das ist ein Skandal, und an diesem Skandal will die Regierung nichts ändern.
({5})
Statt dessen präsentieren Sie uns eine Staatszugehörigkeit auf Probe, die womöglich nicht einmal vor Abschiebung schützt. Ich garantiere, das wird in Karlsruhe keinen Bestand haben. Dieser Vorschlag ist nicht einmal einer der berühmten ersten Schritte in die richtige Richtung; er ist ein Rohrkrepierer. Mit der neuen Staatszugehörigkeit bleibt alles beim alten. Einwanderer sollen auch weiterhin nicht zu dieser Gesellschaft gehören. Millionen von Menschen zahlen Steuern und haben keine politischen Rechte. Ihre Steuergelder finden im Haushalt Verwendung, aber über die Politik dieses Landes dürfen sie nicht mitbestimmen. Herr Kanther, ich sage: Es muß endlich Schluß sein mit dieser juristischen Apartheid!
({6})
Die politische Aufgabe, die ganz oben auf der Tagesordnung steht, ist die, auch der ersten und zweiten Einwanderergeneration eine Perspektive der Integration zu bieten. Wer hier auf Dauer lebt, muß auch gleiche Rechte haben. Aber genau dagegen sperren Sie sich: keine doppelte Staatsbürgerschaft - wie wir ja heute wieder hören konnten -, keine erleichterte Einbürgerung.
Deshalb fordern wir: Wer in Deutschland geboren ist oder fünf Jahre hier lebt, soll einen Rechtsanspruch auf den deutschen Paß bekommen. Der Maßstab für die Erlangung der Staatsbürgerschaft darf nicht länger das Blut der Ahnen sein. Das ist wilhelminischer Anachronismus.
({7})
Wir wollen die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen, weil sie, Herr Kanther, nicht die Integration verhindert, sondern sie gerade erst möglich macht.
({8})
Schon der Vorschlag der Ausländerbeauftragten, Frau Schmalz-Jacobsen, wäre da ein großer Fortschritt.
Diese Fragen sind für viele Menschen sehr drängend, und, ich finde, es besteht Handlungsbedarf. Deshalb habe ich folgenden Vorschlag: Lassen Sie uns auf der Grundlage des Entwurfs der Ausländerbeauftragten über die Parteigrenzen hinweg mit einer tatsächlichen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts beginnen. Wir sind dazu bereit.
({9})
Herr Schily hat dazu auch schon einiges gesagt.
({10})
Herr Schäuble, meine Damen und Herren von der CDU, verlassen auch Sie endlich die Wagenburg und erkennen Sie an, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist! Nach Hünxe und Mölln, nach Hoyerswerda und Solingen brauchen wir ein klares Signal. Dieses Signal muß lauten, daß die Einwanderer zur Gesellschaft gehören. Ich fordere Sie auf, die Sonntagsreden über die „lieben ausländischen Mitbürger" zu lassen und ihnen statt dessen gleiche Rechte zu geben.
({11})
Während Sie in der Ausländerpolitik mit einem politischen Scherzartikel aufwarten, bieten Sie uns in der Kriminalpolitik, finde ich, nur die alten Kamellen. Wie wir von Herrn Kanther heute auch hören konnten, erhält die F.D.P. in Sachen großer Lauschangriff doch nur eine Gnadenfrist. Jetzt müssen Sie Ihren Offenbarungseid noch nicht leisten, Herr Kinkel, das reicht auch noch während der Wahlperiode; das haben die CSU-Verhandlungsführer gönnerhaft erklärt. Bei der Kriminalitätsbekämpfung setzen Sie weiter auf Repression und Abbau von Grundrechten, statt die Ursachen von Kriminalität anzugehen.
({12})
Krassestes Beispiel hierfür ist die Drogenpolitik der Bundesregierung. Wir haben 1 700 Drogentote jährlich. Jeder zweite Diebstahl, jeder dritte Einbruch,
Kerstin Müller ({13})
mehr als jeder fünfte Raub fällt unter die Beschaffungskriminalität. Damit steht fest: Ihre Drogenpolitik ist gescheitert.
({14})
Sie ist, so könnte man auch sagen, ein einziges Arbeitsbeschaffungsprogramm für organisierte Kriminalität.
({15})
Denn mit der Kriminalisierung des Drogengebrauchs und -erwerbs garantieren Sie dem illegalen Drogenhandel enorme Gewinnspannen. Ohne die Beschaffungskriminalität würde vielen Hehlerinnen und Hehlern die ökonomische Basis entzogen. Was Sie unter dem Stichwort Drogenpolitik vereinbart haben, ist daher nicht mehr als Pfeifen im Walde, eine Aneinanderreihung von frommen Wünschen: Verringerung der Zahl der Drogeneinsteiger, Auseinandersetzung mit den Ursachen, noch entschlossenere Bekämpfung der Drogenkriminalität.
Meine Damen und Herren, würden Sie nun einmal sagen, wie Sie diese Ziele erreichen wollen! Dieses Drogenkonzept ist symptomatisch für die Hilflosigkeit Ihrer Innen- und Rechtspolitik. Mit einem trotzigen „Weiter so" verschärfen Sie die Probleme. Statt den Teufelskreis von Sucht und Kriminalität zu durchbrechen, drehen Sie weiter an der Schraube des Drogenelends. In der Tat muß man höchste Besorgnis haben, was die Entwicklung im Drogenbereich anbelangt.
Auch wir wollen nicht mehr Abhängige. Auch wir wollen, daß weniger Süchtige Autos oder Wohnungen aufbrechen oder zur Prostitution gezwungen werden. Aber das geht nur, wenn Sie endlich anfangen, Lehren aus dem gescheiterten Konzept des Drogenkriegs zu ziehen. Wir brauchen eine Abrüstung im Drogenkrieg. Wir wollen eine grundlegende Wende in der Drogenpolitik. Die Parole vor allem an die Konsumenten muß heißen: Die Waffen nieder! Die Antwort auf Krankheit und Sucht darf nicht länger das Strafrecht sein.
({16})
Die Bundesregierung muß auch den Mut finden, die rechtlichen Ungereimtheiten zu beseitigen, die durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gegeben sind. Nun ist zwar der Besitz kleiner Mengen Hanf de facto straflos, aber nicht der entsprechende Erwerb durch den Konsumenten. Stellen Sie sich das einmal übertragen auf einen anderen, einen legalen Suchtbereich vor: Der Besitz einer Flasche Schnaps wäre straffrei; wenn der Trinker aber den Schnaps kaufen wollte, läge eine Straftat vor. Das ist doch absurd.
({17})
- So ist das.
({18})
Machen Sie endlich Schluß mit Ihrer Obstruktionspolitik gegen städtische Spritzenräume wie in Frankfurt! Die können nämlich helfen, die Ausbreitung von Aids und Hepatitis unter Süchtigen einzudämmen. Geben Sie doch Ihre ideologische Blockadepolitik auf! Und schicken Sie um Gottes willen endlich Ihren Drogenbeauftragten, Herrn Lintner, in den Ruhestand!
Danke schön.
({19})
Ich erteile der Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Frau Müller, Herr Volmer, Ihre Arroganz den Wählerinnen und Wählern gegenüber ist ja sehr bezeichnend.
({0})
Stimmen, die ganz bewußt auf Grund einer Koalitionsaussage, die ganz selbstverständlich war - vielleicht machen Sie ja in vier Jahren auch einmal eine ganz bestimmte Koalitionsaussage ,
({1})
abgegeben worden sind, sind keine Leihstimmen. Außerdem besitzt man die Stimmen von Wählerinnen und Wählern nicht, sondern man muß versuchen, sie durch die eigene Politik bei den nächsten Wahlen zu gewinnen.
({2})
Dazu muß man in einen Wettbewerb eintreten. Genau das werden wir tun.
({3})
- Ich glaube nicht, daß wir allzuviel Gemeinsamkeiten haben und das deshalb gemeinsam tun können, Herr Fischer. Wir werden das deshalb tun, weil wir, und zwar die Liberalen, den organisierten Liberalismus
({4})
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gerade auch in dieser Legislaturperiode und bei den wichtigen Fragen der Rechts- und Innenpolitik deutlich machen werden.
({5}) - Nein, überhaupt nicht.
Wie ich vernommen habe, haben Sie, Frau Müller, anscheinend die Koalitionsvereinbarung gerade zu den Punkten, in denen sie konkret ist, nicht richtig gelesen. Deshalb erlaube ich mir, hier auch ein bißchen Nachhilfeunterricht zu geben.
({6})
Denn die Koaltionsvereinbarung im Bereich der Rechts- und Innenpolitik ist davon getragen, daß wir den liberalen Rechtsstaat stärken, die Bürgerrechte verteidigen und auch die Sicherheit der Bürger gewährleisten wollen. Deshalb ist das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht für uns ein ganz wesentlicher Bereich, weil wir durch konstruktive Politik keine Ängste entstehen lassen wollen oder aber Ängste und Befürchtungen, die entstanden sind, abbauen wollen.
Das geht dadurch, daß man konkrete Vorschläge macht. Das, was hier von Frau Müller an die Adresse der Bundesregierung gefordert wird, steht schon in der Koalitionsvereinbarung, nämlich eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Da wird nicht geprüft, ob wir eine Reform vornehmen wollen. Nein, es wird eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von seiten der Bundesregierung vorgenommen, weil wir Ihnen, dem Parlament, die Vorschläge vorlegen werden.
({7})
- Das steht genau auf Seite 41, zweiter Absatz, erste Zeile. Da steht es ganz konkret.
({8})
Natürlich gibt es sehr viele Einzelpunkte, über die manche vielleicht unterschiedlicher Meinung sein würden. Aber, worum es uns geht, ist - ({9})
- Das wird ganz hervorragend. Sie sollten weiter zuhören, was wir noch alles machen wollen.
({10})
In diesen Zusammenhang gehört auch das hier so geschmähte Institut der Kinderstaatszugehörigkeit. Es ist neu, und von daher muß es nicht gleich von vornherein, ohne daß man sich vielleicht etwas näher damit beschäftigt hat, mit einer polemischen und pauschalen Kritik überzogen werden.
({11})
Wenn Sie sich die Eckpunkte - und die stehen zu diesem Punkt in der Koalitionsvereinbarung auf Seite 41 - ansehen, dann werden Sie sehen, daß hier wirklich der richtige Schritt in die richtige Richtung getan wird.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, wären Sie so freundlich, uns Abgeordneten mitzuteilen, auf wie viele der hunderttausend in Deutschland geborenen Ausländer in jedem Jahr diese Regelung der Kinderstaatsbürgerschaft für die dritte Generation, die ja sehr eingeschränkt ist, indem ein Elternteil in Deutschland geboren sein muß und die Eltern sich mindestens zehn Jahre hier aufhalten, zutreffen würde.
Zunächst einmal darf ich auf die Frage antworten, daß Sie auch wissen, daß da ein sehr dynamisches Element enthalten ist, weil wir sich ständig entwickelnde und im Zweifel steigende Zahlen haben werden.
({0}) Denn es ist keine Ist-Zustandsbeschreibung,
({1})
sondern es sind alle Kinder der dritten Generation.
({2})
Ich kann Ihnen die genaue Zahl nicht sagen. Sie ist fünfstellig. Selbstverständlich, da können Sie nachfragen. Aber ich kann sie Ihnen nicht genau sagen, weil wir auch nicht zu allen diesen Punkten im einzelnen die ganz konkreten Zahlen vorliegen haben.
Aber ich glaube, Herr Beck, es geht doch überhaupt nicht um die absoluten Zahlen. Es geht um das, was dahintersteckt.
({3})
Es geht nämlich darum, daß wir gesagt haben: Wir wollen für Kinder ausländischer Eltern der dritten Generation hier die Möglichkeit eröffnen, mit Geburt einen besseren Status als jetzt zu haben, und ihnen ab dem 18. Lebensjahr die Umwandlung in die deutsche Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen.
({4})
Wenn wir bei diesem Punkt sauber debattieren, dann müssen wir auch trennen: einmal zwischen dem Jus soli, nämlich den Elementen des Territorialprinzips, das wir mit der Kinderstaatszugehörigkeit in einem ersten Ansatzpunkt hier aufnehmen, in Ergänzung zum geltenden Abstammungsrecht und zum anderen der doppelten Staatsangehörigkeit.
({5})
- Nein, das ist genau das, was sich aus diesem aus meiner Sicht richtigen Schritt in die richtige Richtung ergibt. Ich kann offen sagen, wir hätten gerne noch mehr gewollt.
({6})
- Wieso lachen Sie da? Es ist doch richtig, daß man sich auf das verständigt, was im Moment konsens- und einigungsfähig ist. Ich halte es für richtig, wenn wir das tun, gerade zur Stärkung der Integration von Kindern, die hier in Deutschland geboren werden, unter bestimmten Voraussetzungen. Wir werden, wenn wir an die gesetzliche Ausformulierung gehen, uns über die Einzelheiten sehr wohl und in Ruhe unterhalten. Dann wird man sehen, was sinnvoll ist. Aber an konkreten Aussagen ist, glaube ich, gerade dieser Punkt in der Koalitionsvereinbarung nicht zu überbieten.
Frau Ministerin, der Kollege Sperling würde ebenfalls gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Ministerin, ist denn auch ein Kinderwahlrecht vorgesehen, damit sich das, was Sie da vorschlagen, auch positiv auf Ihre Partei auswirken kann?
({0})
Aus Ihrer Frage merke ich, daß es Ihnen nicht ernsthaft um die Kinder geht, mit denen wir uns hier beschäftigen.
({0})
Von daher möchte ich eigentlich gerne fortfahren und noch hinzufügen, was wir denn im Bereich der besseren Integration von Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland weiter tun wollen.
Wir werden die Ermessensentscheidungen, die in vielen Bestimmungen in unserem Ausländergesetz enthalten sind, in Rechtsansprüche, soweit es geht, verändern. Das heißt eine ganz erhebliche Besserstellung. Wir werden die Einbürgerung erleichtern, indem wir die Fristen des Aufenthaltes von derzeit 15 Jahren verkürzen. Das wird weniger sein, das werden möglicherweise zehn Jahre sein, vielleicht ist es auch eine andere Zahl, etwa acht. Aber darüber wird man sich verständigen. Das ist ja nicht der entscheidende Streitpunkt.
({1})
Es geht doch um das Gesamtkonzept, mit dem wir hier nämlich an vielen Punkten ansetzen und tatsächlich etwas zur Verbesserung der Integration - nicht zur Assimilation - der Menschen, die sich hier in Deutschland auch integriert fühlen und hier leben wollen, tun. Von daher halte ich es wirklich für sehr polemisch, diesen Vorschlag hier in Bausch und Bogen abzutun. Sagen Sie ehrlich, Sie hätten sich
etwas anderes, mehr in eine Richtung, vorgestellt, aber verwischen Sie bitte nicht immer zwei Elemente, nämlich Jus soli und die doppelte Staatsangehörigkeit! Das ist zu trennen. Das ist etwas Unterschiedliches.
({2})
Ich bin auch nicht der Meinung, daß wir für jeden, der in Deutschland geboren ist, oder für jeden, der sich hier einige Jahre aufgehalten hat, generell die doppelte Staatsangehörigkeit schaffen sollten. Ich bin zwar schon der Meinung, daß das unter bestimmten Voraussetzungen - gerade auch in Härtefällen - möglich sein muß, und das kann man auch noch weiter fassen, als das bisher der Fall ist, aber ich halte nichts von einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit auf Dauer.
({3})
Das ist die unterschiedliche politische Ansicht, die wir eben zu diesem Punkt haben. Aber da muß man auch sauber argumentieren, das sauber auseinanderhalten und nichts miteinander verwischen.
({4})
Vor allem darf man das auch nicht mit dem Recht der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung verwischen.
({5})
Was heißt das? Auch Sie haben wieder nichts gelesen. Schauen Sie bitte einmal in das Koalitionspapier. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung zu diesem Punkt - ich sage Ihnen auch offen, warum - einen Prüfungsauftrag für Regelungen zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung aufgenommen, weil es, glaube ich, kaum möglich ist, innerhalb kürzester Zeit Kriterien für die Steuerung der Zuwanderung vorzulegen, die sowohl arbeitsmarktpolitischen als auch humanitären Gesichtspunkten Rechnung tragen.
({6})
Das ist schwierig. Wir müssen uns über folgendes unterhalten: Wie ist es mit denjenigen, die einen Rechtsanspruch haben, sich hier aufhalten zu können? Wie bringen wir dies beides zusammen?
Wir ich sage: die Liberalen - wollen das, aber wir können Ihnen auch nicht sofort ein fertiges Konzept auf den Tisch legen.
({7})
Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, daß wir uns gerade mit diesen Fragen mit Hilfe von Experten beschäftigen - vielleicht auch unter Berücksichtigung dessen, was wir in anderen Ländern sehen, die ganz andere Bedingungen haben -, die dann auch Vorschläge machen, die in eine Regelung zur Steue134
rung und Begrenzung der Zuwanderung einfließen können.
({8})
Das ist ehrlich, weil es das ist, was wir im Moment tatsächlich in der Lage sind zu leisten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Ja.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Bundesministerin, bin ich richtig informiert, daß die Türkei, die ja ein starkes Interesse daran hat, daß hier lebende Türken bei uns eingebürgert werden können, durch Änderung ihrer eigenen Gesetzgebung selbst Erhebliches dazu beitragen könnte, daß den Türken dieser Schritt z. B. dadurch erleichtert wird, daß die Türkei in ihrem Erbrecht oder in ihrem Grund- und Bodenrecht Änderungen vornimmt, so daß Türken, die sich hier einbürgern lassen, dann keine Nachteile mehr erleiden, wenn sie ihre eigene angestammte türkische Staatsangehörigkeit aufgeben?
({0})
Wir beschäftigen uns mit der erweiterten Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit, gerade weil es besonders in der Türkei bisher ganz, ganz schwierig ist, die türkische Staatsangehörigkeit aufzugeben, bzw. weil in manchen Fällen solche Nachteile erlitten werden, daß es wirklich nicht zumutbar ist, daß sie aufgegeben wird. Die Türkei selbst könnte natürlich ganz entscheidend durch Änderung ihrer Bestimmungen dazu beitragen,
({0})
den Menschen, die in Deutschland leben, die Entscheidung zu erleichtern.
({1})
Das wäre ein ganz wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Aber solange das nicht der Fall ist, versuchen wir wirklich, mit unseren Möglichkeiten hier eindeutig Verbesserungen zu bekommen.
({2})
Im Zusammenhang mit der Ausländer- und Staatsangehörigkeitspolitik spielt die Ausländerbeauftragte eine ganz entscheidende Rolle;
({3})
denn sie ist ja das Sprachrohr derjenigen, die mit zu den Schwächeren in Deutschland gehören.
({4})
Deshalb steht in der Koalitionsvereinbarung auch ganz klar, daß ihre Rechtsstellung und ihre Funktion gesetzlich geregelt werden soll. Natürlich verbinden wir damit die Auffassung, daß sie eine stärkere Möglichkeit als bisher haben muß, ihre Stimme - auch hier im Parlament - zu erheben, und daß sie auch im Rahmen der Bundesregierung noch mehr Möglichkeiten der Beteiligung bekommen kann.
({5})
Das werden wir im Rahmen der gesetzlichen Regelung, die wir schaffen wollen, erörtern. Aber das zeigt doch, wie wichtig gerade uns diese Fragen insgesamt sind und daß es nicht angebracht ist, hier so pauschal in Bausch und Bogen etwas abzulehnen, was wirklich diese Kritik in der Form bei weitem nicht verdient hat.
Aber ich möchte gern - und das ist bei der Debatte der Innen- und Rechtspolitik notwendig - auch zum Bereich der Kriminalitätsbekämpfung und der inneren Sicherheit etwas sagen. Dazu möchte ich zwei Aussagen machen.
Die erste ist, daß in der Koalitionsvereinbarung entscheidend ist, daß wir die verabschiedeten Gesetze und die, die am 1. Dezember in Kraft treten werden, nämlich das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das wir ja in einem gemeinsamen Kompromiß zustande gebracht haben, sich erst einmal bewähren lassen wollen. Wir wollen Erfahrungen mit den Änderungen sammeln, und es sind ja weitgehende Änderungen, die wir dort im Bereich der Bekämpfung der Kriminalität, der organisierten Kriminalität wie auch der Massenkriminalität der Eigentumsdelikte, vorgenommen haben. Letzteres ist ja gerade der Deliktsbereich, der insbesondere zu Ängsten und Befürchtungen der Bevölkerung führt.
Rechtspolitik und Kriminalitätsbekämpfung heißt auf der einen Seite natürlich wie wir das kennen -: Immer prüfen, ob wir andere Gesetze brauchen, ob wir mehr Gesetze brauchen, ob wir Lücken schließen müssen. Aber allein die gesetzgeberische Aufrüstung ist nicht Ziel von Kriminalitätsbekämpfung, sondern dazu gehört gerade eine moderne Politik der Ursachenbekämpfung, die wirksame internationale Zusammenarbeit und ein funktionierender Vollzug der beschlossenen Gesetze.
({6})
Dieser Punkt ist schon von einigen Rednern heute angesprochen worden. Denn wenn wir Defizite haben, dann beim Vollzug der bestehenden Gesetze, nicht in erster Linie bei den Eingriffsbefugnissen und Eingriffsmöglichkeiten, die man dem Staat geben möchte.
Aber Kriminalitätsbekämpfung kann auch nicht heißen, daß jedes Mittel nur deswegen gewählt werden könnte, weil es möglicherweise nützlich ist. Denn genau wie die innere Sicherheit und der Erhalt der inneren Sicherheit wichtig ist, müssen die Bürger- und Freiheitsrechte beachtet werden und muß ihnen vor allen Dingen das nötige Gewicht beigemessen werden.
Da ist - und das hier zu sagen liegt mir doch am Herzen - in jüngster Zeit eine ganz andere Argumentation entstanden, und zwar die Argumentation, aus unserer Verfassung und aus den Grundrechten herzuleiten, daß der Staat schon nach dem Grundgesetz verpflichtet sei, den Bürger vor Grundrechtseingriffen Dritter zu schützen, und zwar auch um den Preis eines staatlichen Eingriffs in die Grundrechte der Bürger. Den originär als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe konzipierten Grund- und Freiheitsrechten wird auf diese Weise eine Pflicht des Staates entgegengesetzt, dann in diese bürgerlichen Rechte eingreifen zu müssen, wenn dies zum Schutz vor Eingriffen Dritter erforderlich sei.
({7})
- Nein, das ist nicht die Position der Bundesregierung. Wenn Sie die politischen Äußerungen verfolgen - ich denke einmal an das, was der Innenminister des Landes Brandenburg sagt -,
({8})
dann ist das eine Überlegung, die immer stärker um sich greift, um alle Eingriffsmaßnahmen und -möglichkeiten zu legitimieren, die, angeblich begründet aus einer Schutzpflicht des Staates, hergeleitet aus der Verfassung, gegeben seien.
Ich warne davor, diese Verfassungsinterpretation, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil aus dem Jahre 1975 zum § 218 zum Schutz des ungeborenen Lebens entwickelt hat, auszudehnen, überzuinterpretieren und zu weit zu fassen, weil das nämlich dazu führen würde, daß letztendlich über alle politisch zu treffenden Maßnahmen das Bundesverfassungsgericht entscheiden würde, weil jeder klagen würde, weil der Staat aus seiner Sicht nicht alles, was die Verfassung eigentlich hergebe, zum Schutz seiner Rechtsgüter täte.
Deswegen halte ich es für ganz wichtig, daß wir uns gemeinsam darüber einig sind, daß diese Argumentation nicht greifen kann und nicht die richtige ist, wenn es um die wichtige Frage geht: Was darf ein Staat, welche Eingriffsmöglichkeiten geben wir ihm, und wo ziehen wir klar die Grenzen?
({9})
Deshalb mein Appell an alle hier, sich an dieser - ({10})
- Nein, nein, schauen Sie bitte einmal in die Länder. Was wird denn dort teilweise alles gefordert? Ich schaue nach Brandenburg und lese sehr gründlich, was dort gefordert wird,
({11})
und da ist es genau die Argumentation.
Dazu kann ich nur sagen: Wir können nur diejenigen Möglichkeiten und Maßnahmen ernst nehmen, die nicht dazu führen, daß das, was in unserer Verfassung als Wertesystem verankert ist, auf das sich heute viele in dieser Debatte zu Recht berufen haben, auseinanderbricht.
Deshalb, meine Damen und Herren, haben wir aus guten Gründen in unsere Koalitionsvereinbarung nicht einen Strauß von Maßnahmen, von Möglichkeiten aufgenommen.
({12})
Denn wir können das im Moment auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen nicht vertreten und nicht rechtfertigen. Darüber hinaus sind wir ganz klar der Auffassung, daß Vertrauen in den Rechtsstaat, in die Institutionen dieses Staates nicht durch Aktionismus bei der Gesetzgebung gewonnen werden kann, sondern in erster Linie dadurch, daß diese Institutionen funktionieren und ihre Aufgaben wahrnehmen können. Damit wird das Vertrauen in sie verstärkt und verbessert!
({13})
Hier, meine Damen und Herren, müssen wir noch einiges tun. Es reicht nicht, daß wir die Justiz in den neuen Bundesländern funktionsfähig gemacht haben. Es fehlen noch wesentliche Dinge. Ich denke an die Fragen des Jugendstrafvollzugs - Herr Schily, ich glaube, Sie haben das angesprochen, oder Sie, Frau Müller -, an gesetzliche Grundlagen für den Strafvollzug gerade von Jugendlichen - das ist so in die Koalitionsvereinbarung eingegangen und an Regelungen für die Untersuchungshaft von Jugendlichen. Das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns vorgenommen haben, den wir in der letzten Legislaturperiode, in der wir uns mit den rechtlichen Herausforderungen der deutschen Einheit intensiv beschäftigt haben, nicht mehr haben bewältigen können. Das haben wir nicht mehr schaffen können.
Dazu gehört ein weiterer wichtiger Punkt, der sich wiederum an den Gesetzgeber richtet. Wir haben uns bisher in der Debatte mit der Rechtsstellung ausländischer Kinder beschäftigt und suchen nach vernünftigen Lösungen, sie zu verbessern. Es gibt jedoch auch sehr, sehr viel zu tun, um die Rechtsstellung der Kinder, die in Deutschland geboren sind und deutsche Eltern haben, zu verbessern und zu stärken.
({14})
Das betrifft gerade die Situationen, wo sich die Eltern trennen oder nicht miteinander verheiratet sind. Hier muß es im Bereich des Sorgerechts, des Umgangsrechts und des Unterhaltsrechts erhebliche Verbesserungen geben, damit unsere Kinder eine bessere rechtliche Absicherung haben. Denn sie haben einen Anspruch auf ihre Eltern. Sie haben einen Anspruch darauf, daß sich auch der unverheiratete Vater mit seinem Kind treffen kann, daß es Umgangsregelungen gibt, daß die Eltern, die nicht verheiratet sind,
gemeinsam die Sorge für ihr Kind oder ihre Kinder ausüben können, wenn sie es wollen.
({15})
Ich glaube, im Interesse der Kinder sind wir gut beraten, wenn wir in dieser Legislaturperiode hier die Schwerpunkte im Bereich der Familienrechtspolitik und der Kindschaftsrechtspolitik setzen.
({16})
Finanzielle Verbesserungen sind wichtig und notwendig. Wir haben sie in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Aber auch die Stellung der Kinder muß rechtlich abgesichert sein, ihr Recht, besser als bisher mit den Eltern umgehen zu können, wenn diese sich nicht mehr verstehen und auseinandergehen. Das ist ganz wichtig.
({17})
- Sie wissen auch, Herr Schmidt, daß das ein Vorhaben ist, das sich nicht aus ein oder zwei Bestimmungen zusammensetzt. Vielmehr ist es ein ganz wichtiges gesellschaftspolitisches Vorhaben. In der letzten Legislaturperiode sind dazu drei Gesetzentwürfe in die Beratungen eingebracht worden. Sie sind in den Ausschüssen nicht mehr abschließend beraten worden.
({18})
- Das kann ich Ihnen sagen: weil gerade im Rechtsausschuß als dem federführenden Ausschuß die wichtigen Fragen für die neuen Bundesländer beim Bodenrecht, bei den Vermögensfragen oder bei den Eigentumsfragen rechtliche Sicherheit zu schaffen die Zeit in Anspruch genommen hat. Es gab sogar nächtelange Sondersitzungen. Deshalb war es leider nicht mehr möglich, diese Gesetze im Rechtsausschuß abschließend zu beraten.
Das heißt aber, daß wir in dieser Legislaturperiode diese Gesetze wie auch die wichtigen Regelungen zum Sorgerecht und zum Unterhaltsrecht einbringen und beraten werden. Die Vorarbeiten sind geleistet. Die Überlegungen und Vorstellungen, die unter Hinzuziehung von Fachleuten entwickelt worden sind, sind schon sehr weit fortgeschritten. Ich bin sehr zuversichtlich, daß wir hier bald in die parlamentarischen Beratungen und Auseinandersetzungen gehen und dann wirklich in dieser Legislaturperiode die große Chance haben, rechtliche Regelungen aus einem Guß zu verabschieden.
Ich rechne damit und bitte darum, daß alle diejenigen, die sich in der vergangenen Legislaturperiode zu Recht mit diesen Fragen beschäftigt haben, jetzt konstruktiv mitarbeiten, damit wir auch bei diesen wichtigen Punkten zu einem Abschluß der Gesetzgebung kommen können.
Erlauben Sie mir noch ein Wort zu dem Begriff des schlanken Staates, der in vielen Bereichen eine wichtige Rolle spielt. Der schlanke Staat ist mehr als nur Deregulierung, d. h. mehr als Aufhebung rechtlicher Vorschriften.
Ich kann Ihnen zu diesem Punkt nur sagen: Im Justizministerium werden wir auch mit Experten von
außerhalb des Ministeriums prüfen, welche Bestimmungen wir nicht brauchen, wo wir Bestimmungen aufheben können, wo wir sie befristen können. Denn es nützt nichts, einen Begriff zu gebrauchen und ihn dann nicht mit Leben zu füllen. Das müssen wir - ich glaube, Sie alle können das gut beurteilen - mit Experten tun, die Situationen von außen viel krasser, viel deutlicher, viel kritischer beurteilen und bewerten können als diejenigen, die diese Bestimmungen liebevoll in jahrelanger Arbeit geschaffen haben, Bestimmungen, die von Ihnen, den Parlamentariern, in vielen Punkten zu Recht angemahnt und gefordert worden sind. Das ist ein wichtiger Bereich.
({19})
- Die natürlich auch Kommentare und Aufsätze dazu schreiben, über die wir dann hier debattieren können.
Schlanker Staat muß auch die Übertragung von Verantwortung bedeuten, die Übertragung von Kostenverantwortung und die Mobilisierung des Beamtenapparates. Wer dem Staat lebenslänglich dienen will, muß das da tun, wo der Staat ihn für die Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben auch tatsächlich braucht, aber nicht für Aufgaben, die sehr wohl auch von anderen langfristig besser, flexibler, mobiler und effektiver wahrgenommen werden können.
({20})
Damit wir einen funktionsfähigen öffentlichen Dienst haben, den wir alle brauchen und der Vertrauen verdient, müssen wir dort natürlich auch die Leistungsanreize verbessern. Es müssen gute Aussichten bestehen, berufliche Karriere machen zu können; aber das darf keine Automatik sein. Es darf mit dem Eintritt in den Staatsdienst nicht sicher sein, wie die Karriere in 15 Jahren verlaufen sein wird.
Das meinen wir, wenn wir in die Koalitionsvereinbarung die Stärkung der Attraktivität und die Verbesserung der Mobilität aufgenommen haben. Wir werden uns auch mit einigen Entwicklungen beschäftigen müssen, die immer wieder als feste Größe behandelt werden, nämlich mit der Frage: Wie ist jemand flexibler an einem anderen Ort, vielleicht auch bei einem anderen Dienstherrn einsetzbar? Davor werden wir nicht haltmachen. Das wird auch bei den Beratungen zum öffentlichen Dienstrecht und zur Reform des öffentlichen Dienstrechts insgesamt ein wesentlicher Punkt sein.
({21})
Ja, das werden Sie dann, hoffe ich, etwas gründlicher ausgearbeitet als das, was in der Koalitionsvereinbarung enthalten ist, vorfinden und in Ruhe diskutieren und bewerten können.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Bereiche Ausländerstaatsangehörigkeitsrecht, innere Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung, Familienrecht, Stärkung der Institutionen dieses Staates und ihrer Tätigkeiten, Verbesserung der Verfahrensabläufe sehen, dann wird deutlich, daß die Bewertung der Bundesregierung, man solle nicht in erster Linie nur auf mehr und andere Gesetze setzen, richtig ist.
Es ist richtig und wichtig, den liberalen Rechtsstaat zu erhalten, dem Bürger mehr zu vertrauen, gerade den Begriff der Freiheit sehr ernst zu nehmen, die ja, wie schon ganz andere vor vielen Jahren viel besser gesagt haben, wenn, dann scheibchenweise stirbt, was man meist erst merkt, wenn es zu spät ist.
Deshalb stehe ich als Vertreterin liberaler Politik zu denen, die im Staat den Verwalter und den Sachwalter der unterschiedlichen und wandelbaren Wertvorstellungen, Interessen und Lebensentwürfe der Bürger sehen. Nur der Staat der offenen Gesellschaft, der seine Stärke aus der konsequenten Erfüllung der ihm legitim übertragenen Aufgaben bezieht, nicht aber aus einem Zusammensuchen immer neuer Befugnisse zum Eingriff in Grundrechte, kann seine Legitimität aus der Freiheit des einzelnen Bürgers beziehen. Sich dafür einzusetzen lohnt sich. Gerade das ist eine wichtige Aufgabe der F.D.P. in dieser Koalition, in dieser Regierung. Dafür stehen wir. Deshalb, Herr Fischer, scheuen wir auch nicht den Wettbewerb mit den Grünen in diesem Punkt. Ich glaube, da haben wir einiges mehr zu bieten als Sie.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Rupert Scholz.
({0})
Wollen wir den Clown erst abschalten?
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute viel über - zusammengefaßt - unseren Rechtsstaat gesprochen. Ich glaube, er steht mit Recht ganz entscheidend im Zentrum der begonnenen neuen Legislaturperiode. Dieser Rechtsstaat hat sich bewährt; darüber besteht sicherlich Konsens. Er hat Freiheit und Liberalität garantiert, er hat lange Zeit ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet, und er hat ein außerordentlich hohes Maß an Rechtsförmlichkeit, ja Justizförmlichkeit in unsere staatlichen Verfahren gebracht.
Inzwischen häufen sich aber deutlich die kritischen Symptome und die kritischen Entwicklungen. Deshalb bedarf dieser Rechtsstaat wieder der Stärkung auf unterschiedlichen Gebieten und in unterschiedlichen Richtungen. Er bedarf in vielfältiger Hinsicht der Erneuerung, gerade da, wo es um Verkrustungen, den Abbau von Überregulierungen - Punkte, die bereits angesprochen worden sind - his hin zu Fragen des effektiven Rechtsschutzes geht. Er bedarf in vielfältiger Hinsicht auch der Wiederbesinnung auf das, was seinen Grundwert ausmacht: Freiheit in Verantwortung, d. h. Liberalität und nicht Libertinage.
Erstens. Es geht um die Grenzen staatlicher Zuständigkeiten. Es geht um das Verhältnis von staatlichen
Zuständigkeiten und gesellschaftlicher sowie bürgerlicher Eigenverantwortung. Wir sprechen vom schlanken Staat. In der Tat, jetzt ist - nicht nur unter dem Druck der leerer gewordenen öffentlichen Kassen - die Stunde der Besinnung auf die Fragen: Was kann der Staat leisten, was hat er zu leisten, und wo hat er sich im Zeichen richtig verstandener Subsidiarität zurückzunehmen?
Das ist aber eine schwierige Aufgabe. Ich habe mit großer Freude einiges von dem gehört, was Herr Schily gesagt hat. Ich frage mich, ob das vielleicht die sozialdemokratische Politik der Zukunft ist, ob der Glaube der Sozialdemokraten hinsichtlich der Allmacht des Staates selbstkritischer geworden ist.
Das wäre ein gutes Zeichen, meine Damen und Herren. Denn wir müssen kritisch staatliche Zuständigkeiten zurücknehmen. Der grundgesetzliche Rechtsstaat, der liberale Rechtsstaat, ist ganz entscheidend auf Subsidiarität angelegt und nicht auf hypertrophe Verwaltungsstaatlichkeit mit einem für den Bürger immer undurchschaubarer werdenden Verwaltungsmachtanspruch. Das geht nicht mehr.
Das geht aber auch in der Gesetzgebung nicht mehr. Das heißt, wir haben diese Frage auch uns selbst zu stellen. Die Gesetzgebungsmaschinerie läuft bekanntlich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode immer schneller, immer breiter und immer intensiver. Wir müssen uns ganz ehrlich und wiederum selbstkritisch die Frage stellen, ob es wirklich immer richtig ist, jedes Detail gesetzlich zu regeln. Wer über die Gesetzgebung immer mehr Einzelfallgerechtigkeit gewährleisten will, schafft in Wahrheit nämlich immer mehr Undurchschaubarkeit und damit auch mangelnde Gerechtigkeit.
({1})
Wir müssen uns der Frage stellen, ob das Verhältnis von Gesetzgebung und Exekutive nicht grundlegend überdacht werden muß, dann allerdings auch im Sinne einer Stärkung der Eigenverantwortung der Exekutive. Wenn der Gesetzgeber glaubt, daß er berufen ist, mehr oder weniger gar jedes vollzugstechnische Detail selbst zu regeln, dann macht er einen Fehler. Er überfordert sich im Ergebnis selbst, und er entmündigt, er demotiviert die Exekutive.
Die Verwaltung kann und darf nicht demotiviert werden. Wir sprechen mit Recht davon - ich habe mit Freude und Zustimmung gehört, daß auch Sie, Herr Schily, über diese Frage nachdenken -, daß wir das öffentliche Dienstrecht anfassen müssen. Das öffentliche Dienstrecht ist aber ein Feld, das im Grunde ein Instrument unseres Verständnisses von Verwaltung und Exekutive ist. Das heißt, das öffentliche Dienstrecht schwebt nicht in freiem Raum. Wenn ich leistungsbewußte, leistungsbereite öffentliche Bedienstete haben will, dann muß ich auch das Verständnis von Aufgaben und Verantwortung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes entsprechend definieren. Das heißt, die Fragen hängen in ganz entscheidender Weise miteinander zusammen.
Unser Staat muß sich also rückbesinnen, auf Kernverantwortung, auf ein wirklich auch operativ umgesetztes Subsidiaritätsprinzip. Er muß den Schritt der Privatisierung weitergehen. Hier hat die Koalition in der vergangenen Legislaturperiode bereits Wesentliches und Grundlegendes geleistet. Der Ruf nach Deregulierung darf kein Lippenbekenntnis bleiben.
Dies alles formuliert im Ergebnis aber eine buchstäblich fundamentale Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern bis hin zu den Kommunen. Das kann nicht allein in diesem Hause geleistet werden. Heute war sehr häufig mit Recht die Rede davon, daß auch das andere Verfassungsorgan, der Bundesrat, konstruktiv sein und das, was dieses Haus beschließt, aufnehmen muß, daß er eben nicht blockieren darf. Es gibt kaum eine größere Herausforderung, als unseren Staat dort zu modernisieren, und zwar in dem hier bereits vielfältig konsensmäßig konstatierten Sinne, das aufzunehmen, gemeinsam zu erarbeiten und umzusetzen.
Zweitens. Unser Rechtsschutz ist perfekt. Es gibt kein Land in der Welt, das ein so perfektes Rechtsschutzsystem wie die Bundesrepublik Deutschland hat. Trotzdem haben wir auch hier inzwischen Defizite zu beklagen. Der Rechtsschutz ist immer perfektionierter geworden. Er ist damit immer komplizierter geworden. Er ist immer langsamer geworden. Ganz entscheidend ist: Wenn man Recht gibt, und der Bürger hat ein Recht auf Recht, dann muß Recht auch schnell gegeben werden. Wer effektiven Rechtsschutz wirklich will, muß Rechtsschutz und Recht schnell geben.
({2})
Auch hier müssen wir die Wege finden, von mancher Überperfektionierung und Überkomplizierung Abschied zu nehmen.
Drittens. Unser Rechtsstaat muß wieder wehrhafter werden. Das Grundsystem, das Grundbild unseres grundgesetzlichen Rechtsstaates ist das des wehrhaften Rechtsstaates. Das heißt, wir müssen die richtigen Antworten finden auf das Anwachsen der Kriminalität, der organisierten Kriminalität, der internationalen Kriminalität, der Drogenkriminalität, auf all das, was heute vielfältig angesprochen wurde und was ich hier nicht erneut aufnehmen will.
Wir müssen vor allem die Ängste der Bürger ernst nehmen, die heute beginnen, wenn sie ihr Haus verlassen und Angst vor einem Einbruch haben. Die Bürger haben Angst, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, sie haben Angst, nachts mit der U-Bahn zu fahren.
Wer das Vertrauen des Bürgers auf den Rechtsstaat voraussetzt - ich glaube, es ist doch wohl unsere ganz entscheidende Aufgabe, dieses Vertrauen zu stützen und diesem Vertrauen gerecht zu werden -, der muß diese Ängste der Bürger sehr, sehr ernst nehmen. Im Rahmen der Umweltschutzpolitik wird davon gesprochen, die Menschen sollten nicht oder weniger Auto fahren, sie sollten öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Sprechen Sie mit den Menschen auf der Straße! Die sagen Ihnen: Ich kann meine Frau oder meine
Kinder nachts nicht allein in der U-Bahn fahren lassen. So wird es von den Menschen empfunden.
({3})
Wir müssen Signale ernst nehmen, wie etwa jene Umfragen, denenzufolge heute schon rund 40 % der jüngeren Menschen in unserem Land das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen, es für einen nicht mehr verteidigungswürdigen oder sehr akzeptablen Wert bezeichnen. Es gibt keinen wehrhaften Rechtsstaat, der gerade für die Schwächeren und auch für die Minderheiten Sicherheit gewährleisten kann, wenn nicht das Gewaltmonopol des Staates absolut außer Streit steht.
({4})
Viertens. Wir müssen uns um das Rechtsbewußtsein der Bürger kümmern. Ich nehme das Wort von Ihnen, Herr Scharping, auf, das Sie heute früh gebraucht haben. Sie haben zur Ermutigung zivilen Engagements aufgerufen. Ich glaube, daß das durchaus richtig ist. Aber wir dürfen auf der anderen Seite, wenn wir an den Bürger in diese Richtung appellieren, ihn nicht allein lassen. Das heißt, vor allem der Gesetzgeber, aber auch die Exekutive darf den Bürger mit seinen Ängsten, mit seinen Sorgen nicht allein lassen.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode Wesentliches auf den Weg gebracht. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz war ein entscheidender Fortschritt. Aber wie schwer haben Sie sich getan: Hier haben Sie abgelehnt, dann ging die Sache zum Bundesrat, in den Vermittlungsausschuß - hin und her. Das ist wie beim Asylkompromiß gewesen. Sie brauchen immer so unendlich lange, bis Sie zur Vernunft kommen.
({5})
- Ich schlage vor, daß Ihre Zwischenrufe zu Protokoll genommen werden. Ich werte sie gerne als Zwischenfrage, dann geht meine Erwiderung nicht zu Lasten meines Zeitkontos. So, glaube ich, haben wir eine gute Lösung.
({6})
Fünftens. Wir dürfen nicht den Weg der Bagatellisierung von Kriminalität gehen.
({7})
Ich erinnere an das, was der Deutsche Anwaltverein kürzlich gesagt hat. Unter dem sicherlich lobenswerten Vorzeichen, die Justiz zu entlasten, vertrat er die Auffassung, daß etwa Ladendiebstähle künftig erst beim fünftenmal strafbar sein sollen.
({8})
Wer in dieser Weise sozusagen auf mehrfache Wiedervorlage setzt - und auch der Ladendiebstahl ist Diebstahl -,
({9})
bis die Tat als Unrecht geahndet werden soll, der erschüttert das Rechtsbewußtsein in entscheidender Weise.
({10})
Das gilt im übrigen ganz genauso für das, was hier vorhin von einer meiner Vorrednerinnen zur Drogenkriminalität gesagt worden ist.
({11})
Ich nenne das Beispiel der Fixerräume.
({12})
- Herr Fischer, ich weiß, daß Sie während jeder Rede, die hier gehalten wird, 50 % der Redezeit in Anspruch nehmen. Das weiß ich, und deshalb antworte ich auch gerne auf Sie.
({13})
- Lieber Herr Fischer, ich gehe doch auf Sie ein. Darf ich jetzt replizieren?
Sie stellen die Frage völlig falsch. Daß ein Mensch, der drogenabhängig ist, ein schwerkranker Mensch ist, dem man helfen muß, ist wohl unbestritten. Aber wer aus diesem Tatbestand gleichzeitig schließt
- deshalb stelle ich das unter die Überschrift verfehlte Bagatellisierung, ja Banalisierung einer solchen fundamentalen Gefahr für Menschen, vor allem für jüngere Menschen -, man müsse Drogen quasi legalisieren, wie das selbst bei Ihrem dummen Beispiel mit der Schnapsflasche zum Ausdruck kam,
({14})
der kann nicht erwarten, daß junge Menschen begreifen, vor welcher Gefahr sie stehen. Vor dieser Gefahr sind junge Menschen zu schützen!
({15})
Ich komme zu meinem sechsten Punkt, meine Damen und Herren. Wir haben natürlich die Justiz zu stärken, und wir haben es der Justiz leichter zu machen. Dies wiederum ist eine entscheidende Aufgabe auch der Gesetzgebung. Wir haben aber auch für die Polizei ganz Entscheidendes zu tun. Die Polizei ist zwar Ländersache, aber auch wir haben hier, so glaube ich, einen wichtigen, einen zentralen Beitrag zu leisten.
Ich erinnere an das Wort, das Vertreter der Polizei gerade heute, häufig in anklagendem Tone, in den
Mund nehmen und das mir fast verhängnisvoll erscheint: an den Ruf nach Waffengleichheit mit den heute hochtechnisierten internationalen Banden. Wenn die Polizei schon nach Waffengleichheit rufen muß, dann stimmt etwas in unserem Staat nicht mehr.
({16})
Das erinnert mich ein bißchen an jene Argumentation, die immer gegen das Gewaltmonopol des Staates angeführt wurde und mit der nach Gegengewalt gerufen wurde. Das ist das umgekehrte Vorzeichen. Aber eine Polizei, die erst Waffengleichheit einfordern muß, ist keine wirklich leistungsfähige rechtsstaatliche Polizei mehr.
({17})
Auch die Polizisten sind Bürger unseres Landes. Auch sie haben ein Recht darauf, nicht nur in bezug auf die Waffen gleichgestellt zu werden, sondern insgesamt, von der Gesetzgebung bis hin zur Technik, mit dem Instrumentarium ausgerüstet zu werden, daß sie ihren Dienst, den sie übernommen haben und der vielfältig gefahrvoll und hart ist, so leisten können, wie es von ihnen erwartet wird und wie es unsere Bürger von ihnen mit Recht fordern.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Scholz, lassen Sie mich mit dem Satz beginnen, mit dem Sie aufgehört haben, nämlich mit Ihrer Forderung nach Waffengleichheit zwischen Polizeibeamten und Kriminellen. Ich finde, Sie sollten sich schon die Sprache, in der Sie Ihre Forderungen vortragen, genauer überlegen.
({0})
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Scholz: Uns allen geht es um den inneren Frieden. Es besteht auch Einigkeit darüber, daß wir genau überlegen müssen, welche Rolle der Staat spielen und was in den nächsten vier Jahren Ihre Politik zur Sicherung des inneren Friedens sein muß. Nur, eines dürfen wir nicht machen: aus Hilflosigkeit, weil Sie keine vernünftigen Konzepte haben, in militärische Sprache und in falsche Vergleiche abdriften.
({1})
„Waffengleichheit" zwischen jenem, der den Rechtsstaat verteidigt und den inneren Frieden vertritt, und einem Kriminellen, der ihn angreift, darf es nicht geben. Polizei und andere, die den inneren Frieden verteidigen und vertreten, müssen mit unserer Unterstützung die Möglichkeit haben, Rechtsbrecher und Kriminelle zu bekämpfen. Aber seien Sie so freundlich und hören Sie auf, von Waffengleichheit zu
sprechen. Sie setzen nicht vergleichbare Dinge gleich. Den Schaden hat der Rechtsstaat.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scholz?
Aber gern.
Frau Däubler-Gmelin, verzeihen Sie, wenn ich Sie gleich zu Beginn Ihrer Rede mit einer Zwischenfrage störe. Mir geht es darum: Haben Sie bei dem, was ich gesagt habe, zugehört?
({0})
Ich habe mich gegen den Begriff der Waffengleichheit gewandt. Haben Sie das zur Kenntnis genommen? Dieser Begriff ist in der Tat unvergleichbar. Deshalb bitte ich Sie, das zu akzeptieren.
Hervorragend. Ich bin für diese Klarstellung sehr dankbar. Es ist gut, Herr Scholz, wenn Sie das so gemeint haben. Das haben wir alle anders verstanden.
({0})
Aber ich bin froh, daß es dieses Mißverständnis nicht mehr gibt. Eine Waffengleichheit zwischen Menschen, die den inneren Frieden vertreten, und Kriminellen kann es nicht geben. Ich danke Ihnen.
Es gibt noch einen zweiten Punkt, Herr Scholz, von dem ich glaube, daß es sich lohnt, wenn wir uns darüber unterhalten, vielleicht auch streiten. Das ist die Frage nach der Rolle des Staates zur Sicherung des inneren Friedens. Ich stimme vielem, was Sie hier vorgetragen haben, zu. Nur, Herr Scholz, müssen Sie eines bedenken: Sie reden über den Staat. Sie haben unsere Unterstützung darin, daß wir Bürokratie und diese ständig zunehmende Regelungsdichte, die den Menschen das Leben schwerer macht, abbauen und Zurückhaltung in der Gesetzgebung üben müssen. Nur: Es wäre ganz gut, Sie würden damit anfangen. Ich darf Sie daran erinnern: Sie regieren seit zwölf Jahren. Die Gesetze, die Sie uns vorlegen, sind doch immer vom gleichen Typus.
({1})
Ich stimme Ihnen auch darin zu, daß wieder mehr Raum für Entscheidungsfreiheit geschaffen werden muß. Das ist alles richtig. Aber in einem Punkt müssen Sie das, was Sie gesagt haben, nochmals genau überdenken. Der Staat, den wir wollen, ist nicht nur der Rechtsstaat, nicht allein der starke Rechtsstaat, sondern ist der Staat des Grundgesetzes. Dies bedeutet: der demokratische und soziale Rechtsstaat.
({2})
Das ist sehr wichtig, weil ich glaube, daß der Sorge um die innere Sicherheit bei all dem, was man hier an Unterschiedlichkeit zwischen Herrn Kanther, Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Ihnen im einzelnen heraushören konnte, alleine mit einer Rückbesinnung auf den Rechtsstaat, sprich bei Ihnen: Repression, nicht begegnet werden kann. Wir brauchen vielmehr die Rückbesinnung auf die Aufgabe des Staates in einer sozialen Demokratie. Sonst geben wir ja nicht nur das auf, was die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Schaffung des Grundgesetzes als epochale Erneuerung wollten. Wir müßten verrückt sein, das ausgerechnet in einer Zeit zu tun, in der wir uns daran erinnern sollten, daß dieser soziale und demokratische Rechtsstaat die Antwort auf die Erkenntnis war, daß allein der Rechtsstaat, wenn nichts anderes hinzukommt, zu Weimar führt, wenn die Zeiten härter werden.
({3})
Diese Erinnerung, Herr Scholz, bitte ich Sie - ich weiß, daß Sie das wissen - nicht nur im Kopf zu haben, sondern auch tatsächlich darüber zu reden.
Jetzt zur Sorge für den inneren Frieden. Ich habe den Eindruck, daß die Koalition wirklich gut daran tut, ihr Konzept für den inneren Frieden in den nächsten vier Jahren nicht nur zu überdenken, sondern alles das, was da an Überlegungen kam - Bewahren durch Erneuerung und Reform -, ernst zu nehmen. Warum? Einfach deswegen, weil die Anlässe für die Sorge um den inneren Frieden in unserem Land auf der Hand liegen. Es sind doch nicht nur wir, die in den Zeitungen lesen, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten eben nicht so abgenommen hat, wie wir es gerne hätten. Es sagen nicht nur uns Behinderte, daß sich das Klima auf der Straße verändert habe, rauher geworden sei, daß ellbogenmäßig stärker gegen sie vorgegangen werde, daß man sie häufiger diskriminiere und mißachte. Da war natürlich das Theater in der Verfassungskommission um die Nichtdiskriminierung von Behinderten nicht sehr hilfreich. Das hat auch dazu beigetragen.
({4})
Meine Damen und Herren, natürlich ist das Ansteigen der Kriminalität in bestimmten Bereichen eine Bedrohung des inneren Friedens, um die sich diese Koalition mit Sicherheit kümmern muß. Wenn ich mir das alles anschaue, dann kann ich schon verstehen, daß Sie sagen: Ihre bisherige Konzeption war wohl nicht erfolgreich. Ich stimme Ihnen da völlig zu. Die war es wirklich nicht. Deswegen ist der Ruf nach Erneuerung und Reform richtig.
Da freut man sich dann an manchem, was bei Ihnen anklingt. Als Sozialdemokratin lassen Sie mich sagen: Wir alle kennen das Wort, ein sehr überlegtes Wort von Gustav Heinemann, dem ehemaligen Justizminister und Bundespräsidenten, der gesagt hat: In einer sich so schnell verändernden Welt kann nur bewahren, wer zu verändern bereit ist.
({5})
Dafür sind wir auch wenn es um den inneren Frieden geht, gerade wenn es um die Erhaltung des Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat geht. Nur, meine Damen und Herren, was kommt denn dann heraus, wenn man Ihre Rede, wenn man Ihre Koalitionsvereinbarung und wenn man die Regierungserklärung auf das hin
abklopft, was Sie sagen? Ich habe den Eindruck, daß die alten Denkfehler und die nicht gezogenen Konsequenzen doch immer wieder durchscheinen. Ich kann Sie nur auffordern, diese Denkfehler zu beseitigen und die Konsequenzen richtig zu ziehen. Ich will Ihnen einiges dazu sagen.
Denkfehler Nr. 1 ist folgender: Innerer Friede braucht sozialen Frieden. Das heißt: Wer inneren Frieden will, muß sich mit der Politik, die er betreibt, nicht nur um den Rechtsstaat, sondern zugleich auch um den sozialen Frieden kümmern.
({6})
Dies ist eine ganz einfache Grundwahrheit, die in den letzten Jahren leider Gottes nicht genügend berücksichtigt wurde. Dabei haben Sie im auswärtigen Bereich gar keine Schwierigkeiten, das zuzugestehen. Friede ohne Gerechtigkeit ist nicht möglich. Das wissen wir im Bereich des Auswärtigen alle. Aber so ist es auch im Innern. Inneren Frieden ohne Solidarität und eine Politik der Solidarität, d. h. der Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren, eine Politik der Verantwortlichkeit der Stärkeren für die Schwächeren kann es nicht geben.
Heute morgen hat Herr Kinkel in bezug auf die südliche Halbkugel unserer Erde davon geredet, daß es einen klaren Zusammenhang zwischen Chancenlosigkeit, Perspektivlosigkeit, Fanatismus, Extremismus und Kriminalität gebe. Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, das gilt doch nicht nur auf der südlichen Halbkugel. Das gilt auch bei uns im Innern.
({7})
Das heißt, der Grundsatz, daß derjenige, der den inneren Frieden will, mit seiner Gesellschaftspolitik für den sozialen Frieden sorgen muß, ist richtig. Diese Erkenntnis zieht aber eine ganze Reihe von Folgerungen nach sich. Gestern haben der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die deutsche Bischofskonferenz in ihrem gemeinsamen Wort darauf aufmerksam gemacht, was in bezug auf den sozialen Frieden in unserem Land falsch ist. Und wie ist Ihre Reaktion? Sie sagen freundlich ja in der Hoffnung, es werde dann niemand darüber reden, daß es Ihre Politik war, die Spaltung vertieft, Risse vergrößert, sozialen Unfrieden zuläßt und verstärkt.
({8})
Meine Damen und Herren, Sie sind hier mit neuer Politik gefordert, gerade auch den inneren Frieden zu bewahren.
Der zweite Punkt betrifft etwas, was Herr Kanther angesprochen hat. Herr Kanther, ich finde es schön, daß Sie wieder hier sind.
({9})
-Ja, das ist hervorragend. Es reicht nicht aus, daß Sie mit uns die Auswirkungen des Werteverfalls beklagen. Gewaltanwendung durch immer jüngere Täter entspringt nicht dem „Bösen im Menschen" oder dem Bösen in diesen Kindern, sondern hat viel auch mit
dem zu tun, was diese Kinder an Gewalt erfahren haben, in welcher Vereinsamung, in welcher geistigen Verwahrlosung sie haben aufwachsen müssen.
({10})
Das zu wissen heißt natürlich auch, daß man dieses Phänomen nicht nur beschreiben kann, um dann zu sagen: Die Eltern sind schuld, die Lehrer sind schuld. Nein, Ihre Verantwortung als Regierung ist es, dann, wenn Sie diesen Werteverfall feststellen, mit Ihrer Politik nicht nur über diesen Werteverfall zu jammern, sondern politisch die Strukturen zu schaffen, die z. B. Kindern nicht nur mehr Chancen, sondern eben auch Geborgenheit, Förderung und Forderung, soziales Lernen und Verantwortung ermöglichen.
({11})
Da, lieber Herr Kanther, fehlt bei Ihnen eine ganze Menge. Ich weiß, daß vieles in der Kompetenz der Länder liegt; darüber müssen Sie mit mir nicht streiten.
Nehmen wir aber einmal den Bereich der Gewaltbekämpfung. Sie machen es sich da zu einfach, wenn Sie sagen: Ja, ich bin auch der Meinung, daß die privaten Medienanstalten zuviel Gewalt bringen! Richtig ist, die beuten alles, jedes menschliche Gefühl aus und auch sonst alles, was die Einschaltquoten erhöht, denn davon leben sie. Zensur, meine Damen und Herren, wird - abgesehen davon, daß keiner von uns dafür ist - viel zu spät greifen. Das heißt: Wenn Sie nicht wollen, daß mit Gewaltdarstellungen die Einschaltquoten erhöht werden, wenn Sie - mit uns - nicht wollen, daß jedes 18jährige Kind in seinem Leben schon etwa 20 000 Morde gesehen hat, dann müssen wir über die Strukturen nachdenken, die Existenzbedingungen für Privatfernsehen mit dem, was an gesellschaftlichen, grundgesetzlichen Werten in unserer Gesellschaft umgesetzt werden muß, verbinden.
({12})
Klagen über „Libertinage" reichen nicht mehr. Auch ein Zitat von Herrn Bischof Lehmann, so sympathisch es auch ist, reicht nicht. Sie werden in den nächsten vier Jahren von uns und von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes herausgefordert, Politik für die innere Sicherheit, aktive Gesellschaftspolitik zu betreiben.
Lassen Sie mich noch etwas sagen: Wir haben immer bestritten, daß unsere Gesellschaft, unser Staat eine Schönwetterdemokratie sei. Wir alle haben davon geredet, daß sich unsere soziale, rechtsstaatliche Demokratie auch in stürmischen Zeiten bewähren muß und kann. Ich halte das für richtig. Nur, meine Damen und Herren, in Zeiten schweren Wetters, wenn es ökonomisch nicht gut läuft, ist Politik für den inneren Frieden und soziale Gerechtigkeit noch mehr gefordert. Das heißt: Es muß eine Politik her, die Solidarität fördert, sie nicht verhindert. Es muß eine Politik her, die die Verantwortlichkeit von Stärkeren gegenüber Schwächeren fördert, sie nicht verhindert. Es muß eine Politik her, die die Integration von Minderheiten fördert, nicht sie weiter an den Rand schiebt. - Ich war ganz gerührt, als ich Frau Leutheusser-Schnarrenberger zugehört habe, die auch
noch diese „Schnupperzugehörigkeit" für ausländische Kinder hat vertreten müssen. Sie Arme, Sie tun mir wirklich furchtbar leid.
({13})
Meine Damen und Herren, eine Politik, die in Kenntnis der Probleme - fragen Sie doch einmal Ihre Ausländerbeauftragte - die Probleme nicht einmal mehr ordentlich beschreibt, geschweige denn die längst vorhandenen und bekannten Wege zu ihrer Lösung aufzeigt, kann für den inneren Frieden so wenig bewirken, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war.
Lassen Sie mich noch etwas zur Politik gegen Drogen sagen. Herr Scholz, ich muß noch etwas ergänzen, weil Sie das angesprochen haben. Zum ersten: Richtig, Ihre Drogenpolitik ist gescheitert. Unsere Kinder werden nicht mehr geschützt. Jeder, der etwas anderes behauptet, hat unrecht; das wissen auch Sie. Zum zweiten: Den Süchtigen wird nicht geholfen. Ich finde sehr gut, was Sie gesagt haben. Es sind in der Tat Kranke. Zum dritten: Wir haben eine große Begleit- und Beschaffungskriminalität, die Polizeitätigkeit und Gerichte verstopft und vieles von dem, was bei der Bekämpfung schwerer Verbrechen notwendig wäre, nicht mehr zuläßt. Ganz abgesehen davon verdienen natürlich die Mafiabosse und viele andere ihr Geld auch auf Grund dieser verfehlten Politik gegen Drogen. Ich glaube, dies muß man der Ehrlichkeit halber sagen.
({14})
Was ist denn die Folgerung daraus? Herr Scholz, ich stimme Ihnen zu: Es ist völlig unsinnig, daß sich die Justizminister, obwohl sie es heute müssen, darüber streiten, ob jetzt eine, zwei oder drei Portionen des Eigenbesitzes von Cannabis zur Anklage führen sollen. Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtstrategie, die den gesellschaftspolitischen Teil ebenso wie den Teil der Repression - ich bin sehr dafür - wie auch den Teil der Prävention mit einbezieht. Was heißt das?
Erstens. Sie müssen sich dazu durchringen, generell eine Politik gegen die Suchtabhängigkeit zu wollen, meine Damen und Herren von der Koalition.
({15})
Da stockt vielen von Ihnen schon der Atem. Sie waren doch noch nicht einmal in der Lage, mit uns am Ende der letzten Legislaturperiode ein Gesetz durchzusetzen, das für Gaststätten und öffentliche Treffs vorgesehen hätte, daß das billigste Getränk ein alkoholfreies sein muß.
({16})
Wenn es um Alkohol- oder um Zigarettenwerbung geht, dann hören Sie doch schon auf zu denken.
Der zweite Punkt: Wir müssen uns dazu durchringen, Süchtige als Kranke zu behandeln und ihnen eine Abstinenztherapie zu ermöglichen. Das gilt bei Drogensüchtigen genauso wie bei Alkoholkranken; da gibt es keinen Unterschied.
Dann muß natürlich mehr Substitutionstherapie her. Und wenn uns die Mediziner sagen, daß Süchtige im Endstadium von Aids oder HIV-Infektionen geschützt werden müssen, dann brauchen wir auch die kontrollierte Abgabe, um diesen Menschen zu helfen.
Der dritte Punkt - Herr Scholz, jetzt wird es speziell für uns Innen- und Rechtspolitiker interessant -: Ich glaube schon, daß wir uns dazu durchringen müssen, ganz klar zu sagen: Was den Besitz von Drogen zum Eigenverbrauch angeht, gehen wir vom Legalitätsprinzip auf das Opportunitätsprinzip über, und wir stecken alle Ressourcen in die Verfolgung der Mafiabosse und der Dealer.
({17})
Wenn wir dies nicht tun, haben wir keine Chance. Ich werbe deswegen für dieses gesamte Antidrogenkonzept. Ich hoffe, daß Sie sich dazu durchringen können. Wir werden immer wieder darauf zurückkommen.
Jetzt lassen Sie mich noch einmal zur Integration von „ausländischen Mitbürgern", wie es immer so schön heißt, kommen. Im nächsten Jahr jährt sich zum 40. Mal das Datum des ersten Anwerbevertrages der Bundesrepublik Deutschland. Seit dieser Zeit sind die Menschen hier. Seit dieser Zeit befolgen sie unsere Gesetze. - Die ausländische Wohnbevölkerung ist nicht krimineller als die deutsche; das wissen alle. ({18})
Seit dieser Zeit arbeiten sie für unseren Wohlstand, zahlen Steuern wie die Deutschen, sogar den Solidaritätsbeitrag für die deutsche Einheit. Aber seit dieser Zeit haben sie keine aktiven Staatsbürgerschaftsrechte. Das muß geändert werden.
Sie können das begründen, wie Sie es wollen. Ich begründe das aus dem Demokratiegebot: Eine anständige Demokratie kann sich auf Dauer Menschen erster und zweiter Klasse nicht leisten. Sonst ist sie nicht mehr anständig.
({19})
Deswegen bin ich der Meinung, daß es Integrationsgesichtspunkte, Gleichberechtigungsgesichtspunkte sind, die uns dazu veranlassen müssen, unser Staatsangehörigkeitsrecht wieder auf die Höhe der europäischen Zivilisationen zu bringen. Otto Schily hat dazu etwas ausgeführt.
Meine Damen und Herren von der Union, ich weiß ja, daß Sie das nicht wollen. Aber wenn Sie so freundlich wären, einfach einmal nach Frankreich oder in die Schweiz zu gucken: Diese beiden Länder leben mit der Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit, sie leben mit der Ergänzung des Abstammungsprinzips durch das Territorialprinzip seit langen Jahren. Nicht einmal Sie würden der Schweiz oder
rankreich den Charakter eines zivilisierten europäischen Rechtsstaats absprechen. Oder ist es nicht so?
({20})
Das sind die Punkte, auf denen wir bestehen. Ich sage Ihnen: Sie werden sich dazu durchringen müssen, oder Sie entlarven alles das, was Sie zur Demokratie, zur Gleichberechtigung oder zur Integration sagen, als das, was es ist, nämlich Heuchelei.
({21})
Ich sage das ganz abgesehen davon, daß wir hunderttausendfach Doppelstaatler in unserem Land haben; das wissen Sie. Wer heute eine Französin oder einen Italiener heiratet, der wird selbstverständlich Doppelstaatler, wie auch seine Kinder. Das stört überhaupt niemanden.
Bei der Bekämpfung von Kriminalität hätte ich die Bitte, Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarrenberger, daß Sie viel stärker als bisher auf Prävention setzen. Ich glaube, da gibt es eine Menge guter Beispiele. Erst dann, wenn Prävention die Repression ergänzt, wird ein wirklicher Schuh daraus. Dann haben wir eine Chance, mit Kriminalität fertigzuwerden.
Ich bin dankbar, daß Sie sagen, daß würden künftig mehr Gewicht im internationalen Bereich auf Kooperation über die Grenzen legen.
Ich darf jedoch noch einmal sagen - Sie sind seit zwölf Jahren an der Regierung -: Die Tatsache, daß Europol nicht weiter funktioniert, ist nicht unsere Schuld, sondern mit Ihre.
({22})
Die Tatsache, daß heute ein Justizangestellter, ein Richter oder ein Polizist in Baden, wenn er mit seinen Kollegen im Elsaß nicht nur gelegentlich zusammenarbeiten, sondern gemeinsam Verbrechensbekämpfung betreiben will - ich meine jetzt nicht das Problem der Nacheile -, einen irrsinnig langen Weg der Bürokratie über Stuttgart, über Bonn, über Paris und wieder zurück nach Straßburg gehen muß, behindert die Verbrechensbekämpfung über die Grenzen hinweg.
Daß wir z. B. im Waffenrecht oder daß wir bei den Grundsätzen der Bioethikkonvention endlich Übereinstimmung und eine Anpassung der Grundsätze brauchen, das ist eine schlichte Konsequenz aus der Internationalisierung, aus der internationalen Verflechtung, die nicht nur die Wirtschaft, die Umwelt oder die Friedenspolitik, sondern selbstverständlich auch die Bekämpfung des Verbrechens und damit die Sicherung des inneren Friedens umfassen muß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal sagen: Wir halten Ihr bisheriges Konzept zur Sicherung des inneren Friedens für falsch. Sie selber haben das auch dadurch, daß Sie ankündigt haben, Sie müßten Änderungen vornehmen, eingestanden. Wir werden darauf drängen, daß die Bewahrung des inneren Friedens durch die Veränderung der Wege sowohl im Bereich der Gesellschaftspolitik als auch im Bereich der kriminalpolitischen Prävention wie auch bei der Repression gewährleistet wird. Ich glaube, wir können dadurch unserem Land, den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat einen guten Dienst erweisen.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat der Abgeordnete Repnik.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach diesem innen- und rechtspolitischen Schlagabtausch möchte ich Sie noch einmal einladen zu einem Diskurs zu wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen.
({0})
- Für die Regie trage ich keine Verantwortung, Herr Kollege Fischer.
In der vergangenen Woche ist, wie wir alle wissen, Helmut Kohl zum fünften Mal zum Bundeskanzler gewählt worden.
({1})
Das ist gut so. Es kann nicht oft genug gesagt werden, gerade auch nach dem Beitrag von Herrn Kollegen Scharping heute vormittag: Die vergangenen zwölf Jahre unter der Regierung Kohl waren zwölf gute Jahre für Deutschland,
({2})
nicht zuletzt im Bereich der Finanz- und der Wirtschaftspolitik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, auch wenn es weh tut: Ich will Ihnen die Wahrheit nicht ersparen. Die unter SPD-Kanzlerschaft zerrütteten Staatsfinanzen wurden konsolidiert.
({3})
Das bildete erst die Grundlage für den längsten Aufschwung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({4})
Herr Kollege Bindig, das kann doch überhaupt nicht bestritten werden. Vielleicht darf ich hier zwei Zahlen nennen:
({5})
Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen Hand belief sich 1981 auf 76 Milliarden DM und machte damit 4,9 % des Bruttosozialproduktes aus.
({6})
Acht Jahre später, 1989, unter der Kanzlerschaft
Helmut Kohls, betrug das Finanzierungsdefizit der
öffentlichen Hand 26,7 Milliarden DM, ein Anteil von
lediglich noch 1,2 % am Bruttosozialprodukt. Dies, meine Damen und Herren, hat uns doch erst in die Lage versetzt, die großen Herausforderungen, die durch die Wiedervereinigung und die weltweite Rezession an uns gestellt wurden, zu meistern.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich würde gern hier im Zusammenhang vortragen, Herr Präsident.
Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 Bundeskanzler wurde, lag die Staatsquote bei 52 %. Seiner Regierung ist es im Laufe der 80er Jahre gelungen, diese Zahl auf rund 46 % zu senken.
({0})
Entscheidend in diesem Zusammenhang ist: Im Zuge dieses Aufschwungs ist es gelungen, innerhalb von zehn Jahren gut drei Millionen neue, zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen.
({1})
Meine Damen und Herren, weltweite Rezession und deutsche Wiedervereinigung stellten die deutsche Politik und die Gesellschaft als Ganzes dann jedoch in der vergangenen Legislaturperiode vor große Herausforderungen. Wir sind sie beherzt angegangen, und die gegen viel Kritik und Widerstand von seiten der SPD durchgesetzte Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung war und ist erfolgreich. Der konsequente Spar- und Konsolidierungskurs schafft Vertrauen auf seiten der Investoren und trägt Früchte.
({2})
Nach der heute, Herr Kollege Fischer, vorgestellten Steuerschätzung ist der Haushalt 1994 voll abgesichert, und für 1995 werden etwa 3,5 Milliarden DM Mehreinnahmen geschätzt.
({3})
Das ganze Horrorszenarium, das noch kurz vor den Wahlen im September in der ersten Lesung des Bundeshaushalts entwickelt wurde, ist in sich zusammengebrochen, sechs Wochen nach den entsprechenden Wortbeiträgen der SPD.
({4})
Auch hier, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ist doch die Trendwende deutlich spürbar. Mußten
früher die Steuerschätzungen meist nach unten korrigiert werden, so fallen sie jetzt besser aus als prognostiziert.
({5})
Diese Mehreinnahmen fließen - der Bundesfinanzminister hat es heute bereits gesagt - voll in die Senkung der Nettokreditaufnahme. Damit wird das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte und Investoren in den Standort Deutschland erhöht.
Meine Damen und Herren, die steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen wurden in Deutschland mit dem Standortsicherungsgesetz entscheidend verbessert. Unsere fortgesetzte Politik der Deregulierung und Privatisierung hat weitere Freiräume für mehr wirtschaftliche Dynamik geschaffen. Der Aufschwung ist inzwischen doch für jedermann sichtbar.
({6})
- Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen es doch besser, als es Ihr Zwischenruf belegt. - Wer es immer noch nicht glaubt, werfe einen Blick in das in der vergangenen Woche vorgelegte Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dort heißt es - ich will nur wenige Passagen zitieren - u. a. gleich zu Beginn:
Die wirtschaftliche Aktivität in Deutschland hat sich im Jahre 1994 in unerwartet starkem Maße belebt.
„Unerwartet" möglicherweise für Sie. Ich kann nur sagen: Der Bundeskanzler hat zu Beginn des Jahres exakt das prognostiziert.
({7})
- Ja, wir haben nun einmal einen guten Bundeskanzler, und darum muß er auch gelobt werden, Herr Kollege Fischer. ({8})
Ursache dafür sind nach Ansicht der Sachverständigen - und auch hier lohnt sich ein Blick in das Gutachten, verehrte Kollegen von der SPD - eine Expansion der Auslandsnachfrage und eine Expansion der Binnennachfrage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die SPD ständig, wie immer wieder geschehen, nach einer Stärkung der Konsumnachfrage verlangt, dann sei ihr das Sachverständigengutachten auch in diesem Punkt zur Lektüre empfohlen. Auf Seite 3 belegt das Gutachten, daß unsere angebotsorientierte Politik greift. Die Expansion der Binnennachfrage beruht demnach vor allem auf der Wohnungsbaunachfrage und zunehmend auf den Investitionsausgaben der Unternehmen. Statt einer Alimentierung von Konsumenten schaffen wir damit neue Arbeitsplätze.
({9})
Meine Damen und Herren, die Gesamtrechnung der Sachverständigen für Deutschland prognostiziert ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 3,5 % im Jahr 1995. Auch hier sind wir auf dem richtigen Weg. Das Gutachten führt darüber hinaus aus:
Entscheidend ist, daß die Entwicklung stetig nach oben führt.
Auch hier pflichte ich den Gutachtern bei. Unsere Wirtschaftspolitik ist kein Jahrmarkt von Novitäten. Sie ist solide und führt belegbar zum Ziel.
Meine Damen und Herren, so klar, wie die Erfolge der vergangenen Jahre sichtbar sind, so eindeutig sind aber auch die Herausforderungen dieser Legislaturperiode. Ein wesentliches Ziel lautet: Abbau der Sockelarbeitslosigkeit. Wir alle wissen: Es gibt hier kein Patentrezept; es gibt hier nicht den Königsweg.
({10})
- Herr Kollege Fischer, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß in den ersten zehn Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls in Deutschland 3 Millionen Arbeitsplätze netto neu geschaffen wurden. Dies ist seine Bilanz. Genau an diese Erfolge der ersten zehn Jahre Kohl wollen wir auch in Zukunft anknüpfen. Wir haben es bewiesen, und wir werden es ein weiteres Mal beweisen. ({11})
Meine Damen und Herren, der Abbau wird nur durch ein ganzes Bündel von Einzelmaßnahmen gelingen, wie es die CDU/CSU in der vergangenen Legislaturperiode bereits auf den Weg gebracht hat. Es zeigt Wirkung; das kann doch gar nicht bestritten werden.
Bei unserem Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung haben wir die Mittelstandsförderung in das Zentrum gestellt. Unter anderem wird das Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung selbständiger Existenzen auch in den alten Bundesländern wieder eingeführt. Gerade mittelständische Unternehmen, die Märkte für neue Produkte erobern wollen, leiden oft unter besorgniserregender Eigenkapitalknappheit. Diese Unternehmen sind, wie wir wissen, am ehesten geeignet, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb wird ab 1. Januar 1995 die eigenkapitalschonende Ansparförderung im Rahmen des Standortsicherungsgesetzes wirksam. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt, andere werden ihm folgen.
({12})
Ich möchte auf eine Gefahr aufmerksam machen, die bereits schleichend vorhanden ist. Solange die Situation schwierig ist, sind Reformvorhaben in aller Regel für jedermann einsichtig, die Bereitschaft zur Umsetzung von Reformen ist da. Sobald sich aber der Wind dreht und die Konjunktur wieder läuft, wie wir
es jetzt verspüren, erstirbt dieser Reformwille. Genau diesen Fehler dürfen wir in der Politik, darf die Wirtschaft und darf jeder einzelne Bürger in der derzeitigen Aufschwungphase nicht machen.
Wir sollten die Reformbereitschaft dort, wo sie beim Bürger vorhanden ist, nutzen. Wir müssen sie nur abholen. Ich bin sicher, das wird uns gelingen.
({13})
Infolge des Aufbaus Ost sowie der weltweiten Rezession ist die Staatsquote auf ein auf Dauer nicht vertretbares Maß angestiegen. Deshalb ist es zwingend erforderlich, den Staatsanteil auf das Niveau von 1989 zu senken. Auch hier sage ich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Was uns in den 80er Jahren gelungen ist, wird uns auch in der Mitte der 90er Jahre gelingen. Wir sind entschlossen, auch das umzusetzen.
({14})
Die Koalition wird den Anstieg der Staatsausgaben deutlich unter der Zuwachsrate des Sozialproduktes halten, die Defizite zurückführen sowie die Steuer- und Abgabenbelastung schrittweise senken.
Die CDU/CSU-Fraktion wird dafür Sorge tragen, daß der von Theo Waigel eingeschlagene Weg der Haushaltskonsolidierung konsequent fortgesetzt wird. Auch die Tatsache, daß der Aufschwung voll im Gange ist, darf keineswegs zu der irrigen Annahme führen, es sei nunmehr wieder an der Zeit, die Spendierhosen anzuziehen.
({15})
Wir begleiten den Finanzminister und bestärken ihn auf seinem Weg der Solidität und der Konsolidierung.
({16})
Wesentlich, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, ist, daß man von dem verhängnisvollen Gedanken abkommt, mit Steuern alle Politikbereiche steuern zu wollen. Das Haushaltsmoratorium muß und wird bis auf weiteres Bestand haben.
({17})
Vorrang in der kommenden Legislaturperiode haben steuerpolitische Aufgaben. Vereinfachung des Steuerrechts: Auch hierzu hat der Finanzminister heute vormittag schon entsprechende Ausführungen gemacht. Sein Katalog ist in die Koalitionsvereinbarung eingeflossen. Neue Vorschläge treten hinzu. Wir werden diese Vorschläge gemeinsam umsetzen, und wir laden die SPD ein, sich ihrer Verantwortung im Bundesrat zu stellen und nicht in Obstruktion zu verfallen, sondern gemeinsam mit uns an dieses große Reformwerk heranzugehen.
({18})
Sie können Ihre Bereitschaft dazu relativ schnell beweisen. Die Neuregelung des steuerlichen Existenzminimums ist dringend geboten. Wir haben nicht viel Zeit. Sie muß bis Ende 1995 im Bundesgesetzblatt stehen. Da Verwaltung, Steuerberatung und nicht zuletzt Steuerzahler Zeit haben müssen, um sich auf die Änderungen vorzubereiten, sollten wir anstreben, das Gesetzgebungsverfahren bis zur Sommerpause abzuschließen. Auch hier möchte ich die SPD einladen, im Bundesrat konstruktiv mitzuarbeiten. Denken wir an die davon Betroffenen. Wenn Sie beweisen wollen, wie ernst es Ihnen mit der sozialen Ausgestaltung unseres Steuersystems ist, dann bringen Sie sich in das große Reformwerk mit ein.
Eine zweite große Herausforderung ist die Fortsetzung der Reform der Unternehmensbesteuerung, einhergehend mit der Gemeindefinanzreform, in der die Gewerbesteuer - mit dem Ziel der Abschaffung - gesenkt werden soll. In einer ersten Stufe soll zum 1. Januar 1996 die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft und die Gewerbeertragsteuer mittelstandsfreundlich gesenkt werden. Der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble hat hierzu beachtenswerte Vorschläge in die Diskussion eingebracht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte eine Anmerkung zu dem machen, was Ministerpräsident Lafontaine zu diesem Thema heute nachmittag gesagt hat. Mit gespieltem Populismus hat er versucht, einen Gegensatz zwischen den Lohnnebenkosten und der Abschaffung der Gewerbesteuer zu begründen. Diesen Gegensatz vermag ich beim allerbesten Willen nicht zu erkennen.
({19})
Beides ist sinnvoll, und beides ist notwendig. Beides müssen wir anpacken. Wenn nach seinen Angaben auch vielleicht nur ein Drittel der Unternehmen Gewerbesteuer zahlt, so sind gerade dies Betriebe, denen wir Chancengleichheit einräumen müssen.
({20})
- Verehrter Herr Kollege Scharping, als ein Mann, der über Jahre Verantwortung in einem Land getragen hat, das ein Grenzland zu Frankreich ist, müßten Sie ebensogut wie Ihr Kollege Lafontaine um die Schwierigkeiten gerade im Grenzbereich wissen. Ich spreche jetzt von diesem einen Drittel, das in aller Regel zur Gewerbesteuer herangezogen wird. Herr Lafontaine hätte es doch eigentlich besser wissen müssen.
Um es einmal mit der Erfahrung aus meinem eigenen Bundesland Baden-Württemberg aufzuzeigen. Der mittelständische Unternehmer - exportorientiert, Gewinn machend - in Offenburg verliert in aller Regel gegenüber dem französischen Kollegen die Auseinandersetzung in Straßburg, weil der eben gerade keine Gewerbesteuer bezahlt. Und wenn ich meinen eigenen Wahlkreis sehe: Der mittelständische Unternehmer in Konstanz, der mit der Gewerbesteuer belastet wird, verliert in der Konkurrenz mit dem Unternehmen in Winterthur in der Schweiz - Herr Kollege Bindig, Sie können das doch nachvollziehen -, weil der Konstanzer Unternehmer Gewerbesteuer bezahlt, der Winterthurer Unternehmer eben
keine. Deshalb ist es wichtig, daß wir Chancengleichheit einräumen. Deshalb ist es wichtig, daß wir die Gewerbesteuer auch hier absenken oder abschaffen. Das ist die große Herausforderung, vor der wir uns im Sinne des Mittelstandes gestellt sehen.
Meine Damen und Herren, das Bemühen um die Begrenzung der Kosten der Arbeit muß fortgesetzt werden. Hier ist in erster Linie nicht der Staat gefragt. Die Tarifparteien haben in den letzten Jahren eine äußerst vernünftige Lohn- und Gehaltspolitik betrieben. Wir möchten sie ermuntern, in dieser verantwortungsbewußten Politik fortzufahren.
Eines muß uns klar sein: Für einen stetigen realen Einkommenszuwachs ist auch in den kommenden Jahren kein Spielraum vorhanden. Ich finde, wir sollten mit den Bürgern, mit den Arbeitnehmern auch in dieser Frage ehrlich umgehen und ihnen nichts vormachen.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat von Beginn an eine konsequente Privatisierungspolitik betrieben. Seit Ende 1982 konnte die Anzahl der Kapitalbeteiligungen des Bundes und seiner Sondervermögen von 958 auf gegenwärtig unter 400 reduziert werden. Mit der Post- und Bahnreform sowie mit den Fortschritten bei der Privatisierung der Lufthansa sind weitere wichtige Privatisierungsziele erreicht worden. Der Aktienmarktzugang der Telekom im Jahre 1996 wird ein weiterer Meilenstein unserer Privatisierungspolitik sein.
Bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Aufgaben ist aber nicht nur der Bund gefordert. Vor allem Länder, vor allem die Gemeinden verfügen über ein enormes Privatisierungspotential. Auch hier regen wir an, daß sie Beispiel nehmen an dem, was der Bund in den vergangenen Jahren gemacht hat.
({21})
Um die Privatisierung auch auf der Ebene der Länder und der Gemeinden voranzubringen, wollen wir durch das Haushaltsgrundsätzegesetz die in der Bundeshaushaltsordnung bereits normierte Pflicht zur verstärkten Privatisierung verankert sehen. Wir wissen, daß die SPD-Mehrheit im Bundesrat dieser wie auch anderen notwendigen Regelungen ihre Zustimmung verweigert hat.
({22})
Ich würde Sie bitten, Ihre Haltung noch einmal zu überdenken. Denn auch hier wurde einmal mehr deutlich: In alter Gewohnheit wird dort, wo Verantwortung getragen wird, von der SPD eine Lösung verhindert. Man kippt dann anschließend der Bundesregierung die Probleme, die sich aus der Verhinderung ergeben, vor die Tür. Dieses Spiel werden wir nicht mitmachen. Wir nehmen Sie auch hier in die Verantwortung.
({23})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Belastung der Wirtschaft durch ausufernde Rechtsprechung und Bestimmungen muß zurückgeführt werden; insbesondere müssen bürokratische Hindernisse für Investitionen und Innovationen abgebaut werden.
Ich glaube, dieser kurze Abriß hat gezeigt: Wir werden den Herausforderungen dieser neuen Legislaturperiode nur dann begegnen können, wenn Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aufeinander abgestimmt sind. Alles, was wir in der Finanz- und Steuerpolitik und in der Wirtschaftspolitik in den kommenden Monaten und Jahren entscheiden, muß sich weiterhin an der zentralen Aufgabe orientieren, den Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfähig zu halten. Die strikte Fortsetzung der Konsolidierungspolitik ist zwingende Voraussetzung für die Schaffung notwendiger Spielräume für Steuersenkungen.
Verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich stimme den Ausführungen, die Sie ganz zum Schluß gemacht haben, zu. Innerer Friede braucht sozialen Frieden. Innerer Friede ist nur dann möglich, wenn wir auch sozialen Frieden haben. Aber deshalb ist doch gerade wichtig, wenn wir -
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Noch eine halbe Minute, Herr Präsident, wenn es gestattet ist. Nur noch zwei Sätze.
({0})
Nur wenn wir im Wettbewerb um produktive Arbeitsplätze international auch in Zukunft mithalten, lassen sich auch soziale Leistungen, lassen sich Familienpolitik, Ausbildung und Infrastruktur überhaupt finanzieren. Nur ein wirtschaftlich starker Staat ist auch ein sozial starker Staat. Hierzu, an diesem sozial und wirtschaftlich starken Staat mitzuwirken, möchte ich auch die Opposition herzlich einladen.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsvereinbarung liegt auf dem Tisch, und wir haben heute bereits mehrere Stunden lang der Bundesregierung über ihre politischen Ziele in dieser Legislaturperiode gelauscht.
Wer dabei jedoch gehofft hatte, etwas Substantielles über Lösungsansätze zu dringenden Fragen in den neuen Bundesländern zu erfahren, wurde wieder einmal bitter enttäuscht. Ganze Problemfelder, die den Bundestag in den letzten vier Jahren auf das intensivste beschäftigt haben, z. B. auf rechtspolitischem Gebiet in Ostdeutschland, sind für die Koalition offensichtlich völlig verschwunden.
({0})
Dort, wo Zweckoptimismus und taktisches Kalkül Rede- und Handlungsblockaden verursachen, hat Opposition dafür zu sorgen, daß der Blick wieder auf die Realitäten gelenkt wird. Dazu in aller Kürze vier Denkanstöße:
Erstens. Da ist z. B. die Situation der mittelständischen Unternehmen, der Gewerbetreibenden und der
Einzelhändler in den neuen Bundesländern. Ihnen war durch den Einigungsvertrag ein Abwehrrecht gegen Kündigungen von Mietverträgen bei Gewerberäumen an die Hand gegeben.
Kündigungen konnte widersprochen werden, wenn sie erhebliche Gefährdungen der wirtschaftlichen Lebensgrundlage zur Folge hatten. Der Vermieter war sinnvollerweise bei Kündigungen im Zusammenhang mit Mieterhöhungen an die ortsübliche Miete bei vergleichbaren Gewerberäumen gebunden.
Die Situation der Einzelhändler und der Gewerbetreibenden hat sich bis heute nicht grundlegend gemildert. Eine allgemeine Kapitalschwäche kennzeichnet die Situation, wobei das Verhältnis zwischen Umsatz und Kosten bei den Gewerbemieten wesentlich ungünstiger als im Westen ist.
Die Politik der Bundesregierung, die durch den sogenannten Solidaritätszuschlag abermals die Kaufkraft der Bevölkerung und damit die Umsätze der Mittelständler mindert, wird diese Situation erneut verschärfen.
({1})
Gleichzeitig jedoch läuft dieses Abwehrrecht gegen existenzgefährdende Kündigungen am 31. Dezember dieses Jahres aus, und die Bundesregierung sieht tatenlos zu.
Hier werden Tausende von Änderungskündigungen ins Haus stehen und gerade in den City-Lagen der ostdeutschen Städte zu Konkursen bei Einzelhändlern und Gewerbetreibenden führen. Hier zu handeln wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen. Zu diesem existentiellen Problem haben Sie jedoch heute, wie in den letzten vier Wochen, geschwiegen, meine Herren.
({2})
Zweitens. Wie soll es in dieser Legislaturperiode bei der Gesetzgebung im Zusammenhang mit den offenen Vermögensfragen weitergehen? Es kann doch nicht ernsthaft die Meinung der Bundesregierung sein, daß dies nicht auch künftig ein Schwerpunkt der Rechtspolitik für Ostdeutschland sein wird. Zu hören war darüber bis heute nichts. Dabei ist der Handlungsdruck äußerst groß. Die Rechtsprechung in Zivilsachen - übrigens auch beim Bundesgerichtshof - führt in zunehmendem Maße zur Umgehung und Aushöhlung des Vermögensgesetzes.
Seit 1990 haben wir in diesem Hause darüber gestritten, wie beim Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung die Interessen der lauteren Erwerber gewahrt werden und sie vor Restitution geschützt werden können. Dabei war immer unstrittig, daß redlicher Erwerb von Eigentum durch den heutigen Nutzer den Restitutionsanspruch des Alteigentümers abwehrt.
Nunmehr lassen Alteigentümer auf dem Zivilrechtsweg feststellen, ob der Eigentumserwerb in der damaligen Zeit überhaupt rechtswirksam zustande gekommen ist. Wird dies durch die Gerichte verneint, war der Erwerb mit Mängeln behaftet und rechtlich unwirksam, so spielt die Redlichkeit des Erwerbers
überhaupt keine Rolle mehr. Die Schutzmechanismen des Vermögensgesetzes greifen nicht.
Das kann vielleicht noch akzeptiert werden, soweit es sich um Rechtsgeschäfte zwischen Bürgern handelte. Denn auch der DDR-Bürger hatte sich zu vergewissern, ob in seinen privaten Rechtsgeschäften alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Trat jedoch der Staat zwischen den Alteigentümer und den heutigen Nutzer, erwarb der DDR-Bürger das Haus aus Volkseigentum, so war das Leben bunt und die Rechtspraxis für den Käufer in den seltensten Fällen zu überschauen.
Solche Rechtsgeschäfte heute nach den Grundsätzen des Rechtsstaates auf Mängel zu untersuchen stellt die frühere Situation auf den Kopf. Das DDR- Recht muß im Lichte der damaligen politischen Verhältnisse bewertet werden. Dabei gehörte es zum Kennzeichen des Systems, daß sich Partei und Staat administrativ auch über geltendes Recht hinwegsetzen konnten. Wenn hierfür der Blick der Gerichte verstellt bleibt, drohen die Nutzerrechte in Tausenden von Fällen den Bach hinunterzugehen. Auch zu diesen drängenden existentiellen Fragen haben wir bis heute von der Bundesregierung nichts gehört.
({3})
Drittens. Wie soll es mit den Nutzerrechten im Zusammenhang mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz weitergehen? Obwohl die Koalition kurz vor der Bundestagswahl endlich ihren Widerstand gegen eine gerechte Regelung im Zusammenhang mit den „Datschen-Nutzern" aufgegeben hatte, waren damit keineswegs alle Regelungsdefizite vom Tisch. Ganze Gruppen von Nutzern bleiben bisher bei ihrem Kündigungsschutz schlechtergestellt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang z. B. an die Inhaber von Überlassungsverträgen zu gewerblichen Zwecken oder zu Wohnzwecken, soweit die Nutzer nur geringfügig in das Gebäude investiert haben. Hier laufen Schutzrechte Ende nächsten Jahres in Tausenden von Fällen aus.
Was will die Bundesregierung hier und auch bei anderen Wohn-Mietverhältnissen unternehmen? Will sie zusehen, wie Tausende durch Eigenbedarfsklagen zwar ihre Datschen behalten, ihre Wohnungen aber räumen müssen? Glaubt die Bundesregierung ernsthaft, daß diese Menschen am ostdeutschen Wohnungsmarkt, der immer noch durch einen beispiellosen Wohnraummangel gekennzeichnet ist, erneut entsprechenden Wohnraum finden werden? Dann ist ihr an dieser Stelle jeglicher Realitätssinn abzusprechen, meine Damen und Herren.
({4})
Viertens. Was will die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode zur Verbesserung der Rehabilitierungsgesetzgebung gegenüber den Opfern politischer Verfolgung aus der DDR-Zeit unternehmen? Der damalige Bundesjustizminister hat sein Amt, das später durch Frau Leutheusser-Schnarrenberger weitergeführt wurde, 1990 vor dem Hintergrund der Verpflichtung nach Art. 17 des Einigungsvertrages aufgenommen, unverzüglich eine Rehabilitierungsgesetzgebung in die Wege zu leiten. Es hat fast vier Jahre gedauert und vieler Eingriffe der Opposition bedurft, bis diese Gesetzgebung wenigstens in den Grundpfeilern hervorkam.
Während noch immer Tausende ehemaliger Häftlinge vergeblich auf die Bearbeitung ihrer Anträge bei der Berliner Stiftung warten, klagen nunmehr Opfer gegen dieses zweifelsfrei unzureichende Regelungswerk in Karlsruhe.
Die Bundesjustizministerin meint jedoch statt dessen gestern, sie sehe keine ernsthaften Schwierigkeiten oder Defizite bei den Leistungen für SED-Opfer. Der Bundeskanzler hat heute morgen ausgeführt, daß die Opfer mit ihren Rechten nicht hinter den Rechten der Täter zurückstehen dürfen. Wann gilt das endlich auch für die Opfer des SED-Regimes?
({5})
Ich fasse zusammen: Keine Aussage über die auslaufenden Schutzrechte der Mittelständler im Osten, keine Aussage über Milderung der neuen Eskalation bei den offenen Vermögensfragen, keine Aussage über den weiteren Schutz der Nutzerrechte im Osten und ebenfalls keine Aussage über den Fortgang der Rehabilitierungsgesetzgebung. Das läßt über die Passivität und Ignoranz dieser Bundesregierung hinsichtlich der Nöte und Ängste der Menschen in Ostdeutschland Böses erahnen. Die heutige Regierungserklärung und die Debatte waren eine Enttäuschung für die Leute.
({6})
Das Wort zu seiner ersten Rede in diesem Hause hat der Abgeordnete Graf Einsiedel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Mitglieder der PDS-Fraktion
({0})
haben sehr unterschiedliche politische Biographien und auch unterschiedliche Positionen
({1})
zu antimilitaristischen und pazifistischen Bestrebungen.
Ich selbst halte wie Bundeskanzler Kohl den provokativen Satz „Soldaten sind Mörder" in dieser verkürzten, undifferenzierten Form für unerträglich, vor allem aber für der Sache der Friedensbewegung abträglich,
({2})
weil er kontraproduktiv wirkt. Die Soldaten der Alliierten, die unter millionenfachen Opfern den Nazismus niedergekämpft haben, waren natürlich keine Mörder. Die meisten deutschen Soldaten, die von einer verbrecherischen politischen, aber eben auch von einer verbrecherischen militärischen Führung in den Krieg gejagt wurden, waren ebenfalls keine
Mörder, jedenfalls die meisten nicht. Sie waren in vielfacher Weise Opfer.
Der Zweite Weltkrieg hat uns wie alle Kriege dieses Jahrhunderts gezeigt, wie leicht der Soldat zum Mörder gemacht werden kann, wie leicht er zum Totschläger wird. Viele Millionen von den in diesen Kriegen umgekommenen Zivilisten, Frauen und Kindern, sind der grausige Beweis für diese Tatsache.
Nebenbei: Es ist meines Wissens Victor Hugo gewesen, der als erster in einem leidenschaftlichen Aufruf gegen das Kriegshandwerk den Satz „Soldaten sind Mörder" niedergeschrieben hat. Auch darüber sollte man vielleicht einmal nachdenken.
Ich wollte eigentlich zu der Klage des Bundeskanzlers über „das Gerede von der Militarisierung deutscher Außenpolitik" sprechen. Aber alles, was dazu zu sagen ist, haben wir bereits in unserem Frankfurter Friedensmanifest vom 1. September 1994 gesagt.
Zur Rede des Herrn Kollegen Dregger möchte ich jedoch einiges anmerken. Die PDS ist - auch wenn Sie es noch so oft wiederholen - keine kommunistische Partei.
({3})
Sie hat allen Prinzipien des Kommunismus, wie sie von Lenin postuliert worden sind, abgeschworen.
({4})
Sie hat erst recht dem Stalinismus abgeschworen,
({5})
zu dessen Voraussetzung u. a. gehörte, daß fast die gesamte Kommunistische Partei Rußlands und auch Zehntausende russischer Kommunisten, die in der stalinistischen Sowjetunion irrtümlicherweise vor den nazistischen Mördern Asyl gesucht hatten, vernichtet worden sind.
Hitler hat über 100 000 von 300 000 Kommunisten, also über ein Drittel, in Konzentrationslager und Zuchthäuser gesteckt und 20 000 von ihnen ermorden lassen. Keine andere deutsche Partei hat so viele Opfer im Kampf gegen den Faschismus gebracht. Auch das darf doch vielleicht noch erwähnt werden. Auch die Sozialdemokraten haben nicht so viele Opfer gebracht, obwohl sie immerhin höchst tapfer und unter ungeheurem Druck bewaffneter SA in der Kroll-Oper im Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben. Dazu gehörte vielleicht mehr Mut und Zivilcourage, als im Schutz der Wehrmachtsuniformen und hoher Dienstränge 1944 einen Militärputsch gegen Hitler zu wagen, gegen einen Hitler, der bereits hoffnungslos geschlagen war.
Der Herr Kollege Dregger, ich, Hunderttausende meiner Altersgenossen, die „Verführer" vom 20. Juli, fast die gesamte deutsche Führungselite, Richter, Arzte, Ingenieure, Lehrer, Offiziere, Generale, Universitätslehrer haben einem einmalig verbrecherischen System, dem Dritten Reich, gedient.
Sie halten sich doch alle für so lupenreine Demokraten in der Bundesrepublik, und Sie halten die Bundesrepublik für die beste aller Welten. Aber wollen Sie sich nicht vielleicht auch einmal daran erinnern, daß diese Bundesrepublik von sehr vielen dieser Leute aufgebaut worden ist, die damals, vor 1945, auch sehr staatsnah waren?
({6})
Herr Kollege Graf Einsiedel, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Den ehemaligen SED-Mitgliedern aber wollen Sie das Recht absprechen, sich heute am Prozeß der Wiedervereinigung demokratisch zu beteiligen. Die PDS ist keine von einer äußeren Macht gesteuerte Partei mehr, wie die SED es lange war. Sie bekennt sich zur Demokratie, sie bekennt sich zum Sozialismus. Sie ist in einem Prozeß des „Learning by doing". Warum wollen Sie ihr denn das absprechen?
({0})
Bekämpfen Sie uns doch, wenn Sie so lupenreine Demokraten sind, politisch und nicht mit Verleumdung und mit kleinlichen Geschäftsordnungstricks!
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Kleinert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! Herr Fischer, was haben Sie denn für ein neueres Demokratieverständnis?
Ich meine, das, was Graf von Einsiedel soeben gesagt hat, kann man so nicht stehenlassen. Ich gehe davon aus, daß selbst die extremsten Mitglieder des Hauses, die durch die Sitzordnung leider nicht richtig zu bezeichnen sind, Anspruch darauf haben,
({0})
daß ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit der jüngeren Geschichte ernstgenommen wird. Wir können uns hier nicht neuerdings vorhalten lassen, wie soeben geschehen, die Kommunisten seien diejenigen, die uns über den Nationalsozialismus belehren müßten. Das geht ein wenig zu weit.
({1})
Im übrigen möchte ich die Gelegenheit dieser kurzen Worte nutzen, um Frau Leutheusser-Schnarrenberger, unserer Bundesjustizministerin, sehr herzlich dafür zu danken, daß sie die wesentlichen Punkte
Detlef Kleinert ({2})
dessen, was wir mit Ihnen lieber als gegen Sie durchzusetzen wünschen,
({3})
hier so dargestellt hat, daß Sie es eigentlich hätten verstehen können, ja, müssen.
Ich komme am liebsten auf die Punkte zu sprechen, die streitig sind. Ein streitiger Punkt ist ganz zweifelsfrei gerade unter Liberalen in dieser Zeit die Frage: Schutz gegen den Staat - das war 200 Jahre lang eine herausragende Aufgabe der Liberalen - oder Schutz durch den Staat und dessen Ermöglichung?
An dieser Stelle ergeben sich sehr schwerwiegende Fragen, die uns alle in diesem Hause bewegen sollten. An dieser Stelle
({4})
müssen wir wissen, ob das Abhören in Wohnungen eine notwendige Erleichterung für die von uns allen dringend benötigten Dienste der staatlichen Strafverfolgungsbehörden bedeutet
({5})
oder ob Art. 13 des Grundgesetzes so entscheidend ist, daß er uns daran hindert, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Die Sozialdemokratische Partei hat sich mit einer ungewöhnlich knappen Mehrheit dafür entschieden, ja zu sagen. Wir haben uns noch nicht entschieden. Das ist der interessante Punkt, der Sie dazu herausfordert, hier über die Liberalen herzuziehen und zu sagen, sie seien entscheidungsunfähig.
Ich sage Ihnen etwas ganz anderes. Es ist nun wirklich eine zutiefst liberale Frage - eine Frage, die die Freiheit des Individuums mehr betrifft als jede andere -, wie man sich entscheidet.
Die Sozialdemokratie hat sich deshalb so schwergetan und ist deshalb mit einer so knappen Mehrheit aus dieser Entscheidung herausgegangen, weil die Frage so schwerwiegend ist. Deshalb werden wir uns auch in aller Ruhe mit Ihrer Genehmigung
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weiterhin so sorgfältig mit der Frage beschäftigen, wie sie das verdient.
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Mein Freund Rupert Scholz hat hier vorhin einige kleinere Punkte angesprochen. Wir haben grundsätzlich, ganz grundsätzlich -
Herr Kollege Kleinert, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Präsident Hirsch, ich bedauere das zutiefst.
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Aber im Hinblick darauf, daß die Aufnahmefähigkeit
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eines Teils der Mitglieder des Hauses offenbar nachhaltig eingeschränkt ist,
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bin ich durchaus der Meinung, daß wir eine Unterhaltung über die rechts- und innenpolitischen Fragen, die hier entschieden werden müssen, bei nächster Gelegenheit in einer etwas verständigeren Atmosphäre fortsetzen sollten.
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Das Wort zu seiner ebenfalls ersten Rede in diesem Hause hat der Herr Kollege Zwerenz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß gestehen: Ich bin nüchtern. Aber ich habe ein anderes Leiden: Ich habe nur fünf Minuten Redezeit und soll über Kultur sprechen. Das paßt natürlich ausgezeichnet; denn Kultur ist das fünfte Rad am Wagen.
Kultur ist, wie wir wissen, Ländersache. So haben wir heute entweder nichts oder Nichtssagendes darüber gehört. Kultur ist: Berlin gibt 60 Millionen DM vergeblich für Olympiawerbung aus, und um dieses Geld wieder reinzukriegen, bekommt das SchillerTheater das Aus aufgedrückt. Damit werden 40 Millionen DM eingespart, und es bestehen nur noch 20 Millionen DM minus.
Ich muß ganz schnell auf die eigentliche Ursache kommen, und das ist das Urheberrecht. Ich bekomme eine Unzahl von Briefen von Kollegen, von bildenden Künstlern und von anderen. Ich soll hier verraten, daß wir das schlechteste Urheberrecht haben. 50 Jahre nach dem Tod - nach EG-Recht 70 Jahre nach dem Tod - wird enteignet, und daraus werden Enteignungsorgien.
Wenn jemand 50 Jahre nach seinem Tod seinen sonstigen Besitz einbüßen würde, gäbe es wohl einen Aufstand der Besitzbürger. Die geistigen Besitzbürger lassen sich offenbar alles gefallen. Dort gibt es keinen Aufstand. Und das halte ich für falsch.
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Es gibt allerdings auch kuriose Geschichten. Ich will ganz kurz an den Fall Karl May erinnern. Sie wissen: Beim Fall Karl May ist es so:
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- Genau, „Der Schatz im Silbersee" und solche schönen Sachen. Er hat ein Testament hinterlassen. Laut dieses Testamentes sollen Schriftsteller, die in Not sind, ein Stipendium bekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist lange zwischen Staatsstellen erst im Osten und den Erben und jetzt neuerdings den Staatsstellen im Westen und den Erben hin und her verhandelt worden. Dieses Vermächtnis ist einfach verschwunden. Wenn man nachfragt, hört man: Ja, da hat es einmal irgend etwas gegeben.
Also, wenn Schriftsteller von erfolgreichen Vorgängern etwas bekommen sollen, dann kann das ganz leicht einfach abhanden kommen. Das spielt überhaupt keine Rolle. Wir haben offenbar keine Standesvertretung, die sich dafür stark macht.
Kultur ist bei uns vorwiegend Kürzung. Diese Kürzung kennen insbesondere diejenigen, die aus den neuen Ländern kommen. Dort grassiert diese Kürzung.
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Was auch immer: Büchereien, Theater, Kulturhäuser, Schulen, Volkshochschulen, sie werden gekürzt, sie werden geschrumpft.
Im Gegensatz dazu gibt es dann erstaunlich schnelle Veröffentlichungen. Ich spreche jetzt kurz nur von meinem Freund und Kollegen Stefan Heym, dem es passiert ist, daß vor vielen Jahren der Staatssicherheitsdienst ein englisch geschriebenes Tagebuch weggenommen bzw. fotografiert hat. Die Stasi hat es dann ins Deutsche übersetzen lassen. Diese deutsche Fassung taucht jetzt über die GauckBehörde wieder auf. Von dort geht sie zu den Medien. Daraus wird zitiert. Man kann sich vorstellen, was da zitiert wird; denn das ist eine Stasiübersetzung aus dem Englischen ins Deutsche. Es ist ein Recht, das bei uns jetzt offensichtlich ganz modern ist. Das läßt sich ohne weiteres machen. Die Uhren gehen bei uns so allmählich immer mehr rückwärts.
Ich habe hier heute etwas gehört über neue Ideen und neue Visionen, über Europa usw.
Es hat auch der Kollege Dregger wunderschöne Sätze aus dem PDS-Grundsatzprogramm zitiert. Daraus soll also abgelesen werden, was die PDS für eine kommunistische Vereinigung ist.
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- Ich habe nichts verstanden. Ich bin ein Antikommunist, verehrter Kollege. Ich stehe dieser PDS nahe, und ich vertrete ihre Interessen gegenüber Ihnen, der Sie keine Ahnung haben.
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Nun lassen Sie mich etwas aus Ihrem Grundsatzprogramm zitieren:
Jeder Frontsoldat weiß, daß sich die Juden der ganzen Welt zusammengeschlossen haben zur Vernichtung Deutschlands und Europas.
Soll ich noch mehr solche Zitate bringen? Meine Damen und Herren von der Rechten, sie stammen von Ihrem großen Vorbild, dem Generaloberst Dietl, nach dem Sie heute noch in Füssen im Allgäu eine Kaserne benennen. Obwohl meine Kollegen und ich seit
20 Jahren dagegen anschreiben, ändert sich daran gar nichts. Sie haben einen Hitleridioten und Erzreaktionär und Antisemiten nach wie vor zum Vorbild der Bundeswehr gemacht.
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Nun kommen wir mit unseren Zitaten etwas in die Moderne. Ich muß ja jagen; denn in fünf Minuten kann man nicht richtig abrechnen.
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- Ach, Sie haben ja sowieso nichts zu sagen. Sie haben vorhin gesprochen. Was soll denn das? Wenn wir beim Zitieren sind: Hierin hat sich Ihr verehrter Bundeskanzler ja nun sehr gütlich getan.
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- Unser aller Bundeskanzler. Ich beuge mich Ihrem Sprachverständnis. Es hat ihm gefallen, nicht wahr. Es hat ihm so großartig gefallen, den Genossen Kurt Schumacher zu zitieren -
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
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Ich möchte in diesem Hause Halbsätze stehenlassen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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- Ich weiß, daß Sie mich lieben, aber das macht nichts. Sie bekommen das jetzt alles ganz geballt zu hören. Das ist doch auch ganz nett.
Ich möchte noch einmal auf Innenminister Kanther eingehen, der heute davon gesprochen hat, daß er ein verträgliches Zusammenleben mit Ausländern gestalten möchte. Ich halte schon die Vokabel „verträgliches Zusammenleben" für ziemlich zynisch. Denn in der Koalitionsvereinbarung, so kann man lesen, heißt es:
Die Koalition wird sich grundsätzlich weiterhin von einer Politik der Integration der Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft, die ihren rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, leiten lassen.
Man muß schon ein sehr seltsames Verhältnis zur Wahrheit haben, um diesen Satz zu glauben, insbe152
sondere wenn wir bedenken, daß die Unionsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode davon gesprochen hat, es stehe eine Neujustierung der Grundrechte an. Das bedeutete faktisch die Abschaffung des Asylrechts. Und das bedeutet faktisch, daß es für Fremde heute kaum möglich ist, in dieses Land hineinzukommen bzw. in diesem Land eine entsprechende Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten.
Bürgerkriegsflüchtlinge wurden sozusagen in das Asylverfahren gezwungen; zur Zeit werden sie wieder abgeschoben. Ich möchte daran erinnern, daß am Donnerstag auf der Innenministerkonferenz die Entscheidung ansteht, ob Kurdinnen und Kurden abgeschoben werden können. Ich plädiere an diesem Ort dafür, daß ein Abschiebestopp fortgilt. Denn meines Erachtens hat sich in der Türkei, in Kurdistan überhaupt nichts geändert, das eine Abschiebung legitimieren würde.
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Immer noch stehen wir vor der Situation, daß Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter kein Bleiberecht haben, daß sie in diesem Land von Abschiebestopp zu Abschiebestopp leben, unter immer schlechteren Bedingungen.
Bevor jetzt das öffentlich inszenierte Geschachere um das Staatsangehörigkeitsrecht weitergeht - wir haben dazu heute schon einiges gehört -, möchte ich daran erinnern, daß der Entwurf von Frau Schmalz-Jacobsen, der Ausländerbeauftragten des Bundes, in der vergangenen Legislaturperiode über den Bundesrat hier eingebracht, am Ende nur noch von zwei Gruppen unterstützt wurde, nämlich von BÜNDNIS 90/GRÜNE und der PDS.
Ich denke, das macht sehr deutlich, um welche Reform es hier geht. Auch meine Redezeit ist leider sehr kurz. Deshalb muß ich darauf verweisen, daß andere hier bereits die Farce der Einbürgerung von Kindern ausländischer Herkunft dargestellt haben.
Reformiert wurden in der vergangenen Legislaturperiode allerdings die Abschiebemechanismen und -methoden. Die Befugnisse des BGS-Personals für Verfolgungsmöglichkeiten von Ausländerinnen und Ausländern wurden erweitert. Ich möchte hier nur die Tatsache zur Kenntnis geben, daß 1990 6 000 Menschen abgeschoben wurden, im Jahre 1993 36 000.
Es gibt Tote in Abschiebeknästen. An den Grenzen gibt es Tote, und, wie die „taz" schreibt, bereits seit 1992 fallen an der ostdeutschen Grenze auch Schüsse. Alles das, was hier in Sachen Ausländerinnen- und Ausländerpolitik angekündigt wird, kann man nur als Bedrohung verstehen, keineswegs als Integrationsmaßnahme, die den Namen verdient.
„Starker Rechtsstaat" heißt das entsprechende Kapitel in den Koalitionsvereinbarungen. Ich gehe davon aus, daß das Wort vom „starken Staat" den Grundrechtsfundamentalisten in der F.D.P. zu verdanken ist. Es macht deutlich, welche Kompromißpolitik hier anstehen wird.
Aber auch in Richtung SPD hat Herr Kanther im Zusammenhang mit dem Paket zur inneren Sicherheit bzw. dem Verbrechensbekämpfungsgesetz sehr deutlich gemacht, welchem Gesetz sie zugestimmt hat. Er
sagte nämlich: „Taktisch ein bißchen geändert und mit anderen Nuancen versehen - das nenne ich Kompromißbereitschaft". Ich wundere mich doch sehr, wie oppositionell die SPD heute auftritt, obwohl sie genau diesem Paket kurz vor den Wahlen zugestimmt hat, weil sie im Wahlkampf keine Debatte zur inneren Sicherheit haben wollte.
Vom Bundeskanzler haben wir hier heute hören müssen, daß er seinen Kampf gegen die rechten und linken Extremisten führen wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
- das mache ich -, daß es Innenminister Kanther gewesen ist, der davon gesprochen hat, daß wir - wortwörtlich - „eine Politik machen müssen, die es den Republikanern wieder möglich macht, CDU/CSU zu wählen". Das macht meiner Meinung nach sehr, sehr deutlich, in welche Richtung es weitergehen wird.
Danke.
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Das Wort hat der Abgeordnete Professor Heuer.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frau Justizministerin hat vom liberalen Rechtsstaat gesprochen, als sie sich auf die Koalitionsvereinbarung bezog. Leider ist aber in der Koalitionsvereinbarung von einem liberalen Rechtsstaat nicht die Rede. In der Koalitionsvereinbarung ist von einem „starken Rechtsstaat" die Rede. Der Herr Bundeskanzler hat gesagt: „Die Rückführung des Staates auf seine originären Aufgaben, d. h. innere und äußere Sicherheit, stärkt den Staat." Herr Scholz hat heute vom wehrhaften Rechtsstaat gesprochen. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von Vokabeln, die im Grunde vertuschen sollen, daß es nicht um den Rechtsstaat geht, sondern um den Polizeistaat.
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Die Beispiele von Herrn Scholz hoben ausschließlich hervor, wie notwendig die Polizei sei.
Mein Problem besteht darin, daß von dieser Seite Kriminalitätsbekämpfung noch immer nur als Frage der Gewaltanwendung und als Frage der staatlichen Macht, als Frage der Repression angesehen wird. Dabei sollte Einverständnis darüber bestehen, daß das Hauptproblem der Bekämpfung der Kriminalität die Frage der Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen Ursachen ist. Davon findet sich in den Reden der rechten Seite dieses Hauses kein Wort.
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- Das hat doch mit Linksradikalen nichts zu tun. Machen Sie einfach Rechtsstaat; das wäre schon viel. Ich verlange von Ihnen doch keine Linksradikalität.
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Meine Damen und Herren, in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers wurde zu den spezifischen Sorgen und Nöten der Ostdeutschen kein einziges Wort verloren. Der Bundeskanzler hat sich auf zwei Dinge beschränkt: Er will der PDS die Wähler wegnehmen, und er will die alten Kader und Funktionäre - offenbar soweit sie nicht der CDU angehören - bekämpfen.
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Im übrigen hat er nichts zu den spezifischen Sorgen und Nöten der Ostdeutschen gesagt.
Statt den Kalten Krieg, der nach dem Zerfall der Blöcke im internationalen Leben beendet worden ist, auch in Deutschland zu beenden, statt die Opfer des Kalten Krieges auf beiden Seiten zu rehabilitieren und befriedend zu wirken, hat die Regierung und die Mehrheit des 12. Deutschen Bundestages den Kalten Krieg in Deutschland wieder auf eine Höhe gebracht, auf der er zumindest in den 80er Jahren nicht mehr war.
Sie haben in einer Weise, die der deutschen Rechtsordnung fremd ist und die rechtsstaatlich bedenklich ist, die Verjährung von Bagatellstraftaten, die teilweise Jahrzehnte zurückliegen, verhindert, nur weil sie von Funktionsträgern der untergegangenen DDR begangen wurden. Es wurden und werden Menschen strafrechtlich verfolgt und beruflich ausgegrenzt allein wegen Handlungen, die sie in Ausübung hoheitlicher Befugnisse der DDR begangen haben. Sie haben Hunderttausenden zustehende Rentenzahlungen allein wegen ihrer sogenannten Staatsnähe zum Staat DDR verweigert.
Die Regierungsmehrheit hat in der 12. Legislaturperiode verhindert, daß die Ostdeutschen an der gemeinsamen Formung einer Verfassung für das vereinte Deutschland mitwirken. Dies ist nicht nur eine verpaßte Gelegenheit, etwas Gemeinsamkeit Stiftendes zu schaffen. Es ist auch ein Verstoß gegen Buchstaben und Geist des Art. 146 des Grundgesetzes.
Die westlich dominierten Parteien des Bundestages haben im Jahre 1990 mit der Entscheidung für Rückgabe vor Entschädigung einen guten Schritt zur Aussöhnung verhindert. Günter Gaus, der heute seinen 65. Geburtstag feiert, hat zutreffend festgestellt, daß damit die Lösung der nationalen Frage der Eigentumsfrage geopfert wurde.
Im Sommer 1994 hat sich die Regierungsmehrheit wiederum für die Enteignung der Ostdeutschen entschieden; gut für die Wahlarithmetik - die Mehrheit der Wähler lebt ja bekanntlich im Westen -, schlecht für das Zusammenwachsen.
Man hat die Ostdeutschen bei dieser Gelegenheit über die große Bedeutung des Eigentums für die Freiheit aufgeklärt - besonders Herr Kollege Kleinert, der heute gesprochen hat, hat das in dankenswerter Weise getan; er sagt, Eigentum braucht man für Freiheit -, aber ihnen ist das in der DDR erworbene Eigentum oder der eigentumsähnliche Besitz in großem Umfang weggenommen worden.
Das ist teilweise schon geschehen, teilweise wird es zeitversetzt geschehen. Teils geschieht dies durch Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen, teils wird es durch ökonomischen Druck geschehen.
Dieser Prozeß wird begleitet mit einer Diffamierung der DDR. Dieser Prozeß wird damit begleitet, daß die alten Totalitarismustheorien von der Enquete-Kommission wieder aufgewärmt worden sind.
Wir haben heute große Probleme, den Rechtsstaat im Osten glaubwürdig zu machen. Ich habe in diesem Hause schon mehrfach betont, daß ich den Rechtsstaat für eine zivilisatorische Errungenschaft halte. Ich meine, daß die DDR bis zum Schluß trotz erheblicher Fortschritte kein Rechtsstaat war. Aber Sie diskreditieren den Rechtsstaat durch Ihre Politik in Ostdeutschland. Das müssen Sie erkennen, und diese Gefahr müssen Sie sehen.
Die Benachteiligungen, die ich eben aufgeführt habe, zusammen mit dem Überstülpen eines ungeheuer komplizierten Systems machen es außerordentlich schwer, den Ostdeutschen deutlich zu machen, daß der Rechtsstaat ein Fortschritt ist. Ich meine, daß wir durch tatsächliche Handlungen zusammenwirken sollten. Das ist keine Frage der Belehrung. Das ist keine Frage, daß man es den Leuten sagt. Auch in der DDR ist den Leuten sehr viel gesagt worden, was sie nicht geglaubt haben. Vielmehr geht es darum, daß Sie durch Taten beweisen, daß der Rechtsstaat ihr Instrument sein kann, daß sie mit dem Rechtsstaat leben können, daß er ihnen nützt. Wenn uns das nicht gelingt, wäre es ein Verlust für die deutsche Einheit und auch eine Gefahr für unsere Entwicklung.
Der Schriftsteller Christoph Hein hat in der Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse gesagt: „Wir haben einen Sinn für das Dilemma entwickelt, den scheinbar unlösbaren Widerspruch eines Rechtsstaates, der kein Recht verschaffen kann." Er hat dieses Problem aufgeworfen.
Meine Damen und Herren, die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause lassen hoffen, daß Rechtspolitik im 13. Deutschen Bundestag ein Beitrag zur Beendigung des Kalten Krieges auch in Deutschland leisten wird. Ich befürchte, nach Erfahrungen, die ich mit Herrn Kittlaus und Herrn Schaefgen gemacht habe, daß die Staatsanwaltschaft und die Polizei weiter ermitteln werden, weiter verfolgen werden.
Die Justiz ist nach meiner Ansicht zwiespältig. Es gibt eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen, die Positives erwarten lassen. Aber die Justiz alleine kann diesen Prozeß der politischen Verfolgung nicht beenden. Ich rufe Sie auf, im fünften Jahr der Vereinigung politische Entscheidungen vorzubereiten, um dieser politischen Verfolgung in Ostdeutschland ein Ende zu machen.
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Die Behandlung von Stefan Heym durch die Mehrheit dieses Hauses - darüber ist heute schon gesprochen worden - bestärkt mich in der Annahme, daß es Ihnen gar nicht darum geht, was jemand in der Vergangenheit gemacht hat. Ich habe einmal in diesem Haus gesagt, wenn Havemann an der Spitze der DDR gestanden hätte, hätten Sie ihn trotzdem genauso bekämpft. Damals wurde mir hier widerspro154
chen. Aber die Behandlung Stefan Heyms zeigt: Es geht gar nicht um die Vergangenheit, es geht darum, daß jemand bekämpft wird, der sich heute entschieden für ostdeutsche Interessen einsetzt und der nicht bereit ist, Kübel von Dreck über die DDR auszugießen. Dann kann er früher gemacht haben, was er will. Er kann Dissident gewesen sein. Das zählt heute nicht mehr. Er wird heute, weil er sich mit der PDS verbindet, von Ihnen angegriffen. Das halte ich für zutiefst unaufrichtig, meine Damen und Herren.
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Sie hätten Heym, wenn er im Jahre 1988 hierhergekommen wäre, als Dissidenten in diesem Hause gefeiert. Jetzt halten Sie ihm alte Telefongespräche aus den 60er Jahren vor. Ich halte das für schlimm und unverschämt von Ihrer Seite.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 24. November 1994, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.