Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/13/1995

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Die heutige Sondersitzung habe ich nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einberufen. Meine Damen und Herren, ich möchte im Einvernehmen mit dem Hause vor Eintritt in die Tagesordnung eine Erklärung zur Lage in Bosnien abgeben: Am Dienstag wurde die ostbosnische Stadt Srebrenica durch die bosnischen Serben brutal erobert. Heute morgen erfolgte ein weiterer Angriff gegen die UN-Schutzzone Žepa. Die Zivilbevölkerung in Ostbosnien leidet große Not. Tote und Verletzte sind die Opfer dieser haßerfüllten Aggression. Zehntausende wurden erneut in die Flucht getrieben. Die Leiden und die Bedrohung der Bevölkerung steigern sich ins Unermeßliche. Der Deutsche Bundestag verurteilt die Besetzung der UN-Schutzzone Srebrenica durch die bosnischen Serben und die Vertreibung, Einkesselung und Selektion der dortigen Bevölkerung auf das schärfste. Das gilt auch für die jüngsten Angriffe auf Žepa. Wir erklären uns solidarisch mit den geschundenen Menschen. Ihr Leid und ihre verzweifelte Lage bewegen uns zutiefst. Alle Möglichkeiten für humanitäre Hilfe müssen unverzüglich genutzt werden. Die serbischen Überfälle und die widerrechtliche Besetzung der UN-Schutzzone Srebrenica durch die bosnisch-serbische Armee stellen flagrante Verletzungen des Völkerrechts und aller anderen, mühsam zustande gebrachten Vereinbarungen mit den kriegführenden Parteien dar. Sie sind ein Angriff auf die Vereinten Nationen als Institution der Internationalen Staatengemeinschaft und stellen die gesamte Mission der Schutztruppe UNPROFOR in Frage. Sie stehen auch massiv im Gegensatz zu den Friedensbemühungen der Europäischen Union. Auch die Übergriffe gegen die Blauhelm-Einheiten in der Schutzzone, insbesondere die jüngsten gegen die niederländischen UN-Soldaten, tragen zur weiteren Verschärfung der Lage in Bosnien bei. Unterdessen eskaliert der Krieg weiter. Die serbischen Angriffe in dieser Woche zeigen, daß die bosnischen Serben nichts weniger planen als Vertreibung, Vernichtung der bosnisch-moslemischen Kultur auf dem Balkan und gezielten Völkermord. Der Deutsche Bundestag stellt sich mit Entschiedenheit gegen die eklatante Verletzung des Völkerrechts und des Friedensauftrags der UN-Schutztruppe in Bosnien. Im Einklang mit der Resolution 1004 des Sicherheitsrates der UN vom 12. Juli 1995 fordern wir den sofortigen Abzug der bosnischen Serben aus Srebrenica und die volle Respektierung aller Schutzzonen. Wir fordern die sofortige Einstellung der Kämpfe und Vertreibungen sowie die Aufnahme von Verhandlungen zur Umsetzung des Friedensplans der Kontaktgruppe. Wir appellieren an die serbische Führung in Belgrad, nachweislich und glaubwürdig ihren Einfluß auf die bosnischen Serben im Sinne dieser Zielsetzungen auszuüben. Der Deutsche Bundestag befürwortet den weiteren Verbleib der UN-Schutztruppe in Bosnien und den Fortbestand des UN-Mandats für die Schutzzonen in Bosnien-Herzegowina. Die Vorgänge in Srebrenica zeigen deutlich, welch katastrophale Entwicklung für die Zivilbevölkerung eintreten würde, wenn die Blauhelme der Vereinten Nationen aus dieser Region abziehen müßten. Unser wichtigstes Anliegen angesichts der andauernden blutigen Kämpfe und der menschlichen Tragödie in Bosnien muß es bleiben, diesen Krieg zu beenden und den Menschen in ihrer Not und Verzweiflung zu helfen. Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich folgendes mitteilen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um folgende Punkte zu erweitern: ZP1 Vereinbarte Aktuelle Stunde zum Thema Beabsichtigte Wiederaufnahme von Atombombenversuchen in der Südsee durch Frankreich ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Drohende Wiederaufnahme der französischen Atombombenversuche im Südpazifik - Drucksache 13/1986 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({0}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/1986 soll ohne Aussprache an die Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Vereinbarte Debatte zum Jahressteuergesetz 1996 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Wir verfahren so. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem erteile ich dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bürger haben für die Debatte, die sich jetzt anschließt, kein Verständnis. ({0}) Ich bin sicher, große Teile der SPD werden mir auch nach dem nächsten Satz noch Beifall spenden: Der Antrag der SPD ist ohne Ziel, ohne Sinn, ohne Erfolg - ein schlechtes Sommertheater. ({1}) Der Vorschlag der SPD enthält einen ungedeckten Scheck in Höhe von mehr als 40 Milliarden DM. Das ist ein absolut unseriöses Unterfangen. Wir brauchen einen vernünftigen Kompromiß. Auch unter Zeitdruck darf es keine falschen und keine unverantwortlichen Lösungen geben. ({2}) Eigentlich sollten wir uns über die Bedeutung des Jahressteuergesetzes 1996 und seine rechtzeitige Verabschiedung einig sein. Statt dessen aber werden wir gleich über einen Vorschlag abstimmen, der ökonomischer Logik und politischer Verantwortung entbehrt. Erinnern wir uns: Am 19. Juni hatten das SPD-Präsidium, die Ministerpräsidenten und die Finanzminister der SPD-geführten Länder sowie die SPD-Mitglieder des Vermittlungsausschusses ihre Bereitschaft erklärt, hinsichtlich des Jahressteuergesetzes noch vor der Sommerpause zu einer Einigung zu kommen. Wir haben eine Vielzahl von Gesprächen geführt, und es entstand der Eindruck: Im Interesse der Steuerzahler schaffen wir die Einigung. Ausgangslage ist der Gesetzesbeschluß des Deutschen Bundestages vom 2. Juni 1995 mit der durch das Jahressteuergesetz vorgesehenen Nettoentlastung von 22,5 Milliarden DM. Nach den unvermeidlichen Mehrbelastungen infolge der Wiedervereinigung, der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands wurde dieses Gesetz bewußt als erster spürbarer Schritt der Steuersenkung im Rahmen unserer Finanzpolitik konzipiert. Von Beginn an haben wir realistische Volumina in das Gesetzesvorhaben eingestellt, die dann auch als echte Nettoentlastung verwirklicht werden können. Diese Steuerausfälle müssen von allen Ebenen nach ihrem Anteil bei der Einkommensteuer getragen werden. Für den Bund ist das keine leichte Aufgabe, da er ab 1996 ohne Gegenfinanzierung für die Kohleverstromung auskommen muß. Aber im Rahmen eines Sparhaushalts haben wir dies erreicht. Natürlich fallen die Steuerausfälle auch den Ländern nicht leicht. Aber anläßlich der Erörterungen im Finanzplanungsrat waren wir uns einig: Auch unter Einbeziehung der Folgen des Jahressteuergesetzes steigt das Niveau der Kreditaufnahme der Lander gegenüber 1995 nicht an. Die Defizitquote der Länder wird sich insgesamt 1996 auf gut 61/2 % belaufen. Die Quote des Bundes ist dagegen mit voraussichtlich rund 13 % doppelt so hoch. Die meisten Länder - und zwar nicht nur die B-Länder, sondern auch die A-Länder - haben die Steuerausfälle in ihrer Finanzplanung bereits berücksichtigt. ({3}) Insofern ist Ihr Verhalten unfair und widersprüchlich. Daß dies noch mit den Stimmen der Bundestagsabgeordneten der SPD erfolgt - es bringt in seiner finanzpolitischen Konsequenz für den Bund Nachteile mit sich -, das ist unvertretbar und unverständlich. Sie können dies bei Ihrer Mitverantwortung für die Bundesfinanzen nicht vertreten. ({4}) Im Vermittlungsausschuß haben wir uns trotz der angestrebten Nettoentlastung von 22,5 Milliarden DM bereit erklärt, im Rahmen einer Gesamteinigung eine Gegenfinanzierung durch steuerlichen Subventionsabbau im Volumen von rund 4 Milliarden DM mitzutragen. Außerdem haben wir angeboten, zum Ausgleich der Belastungsverschiebung durch die Neuregelung des Familienleistungsausgleichs den Ländern eine um rund 1 Milliarde DM höhere Umsatzsteuerbeteiligung einzuräumen. Wir haben klipp und klar zugesagt, daß wir den Familienleistungsausgleich auch künftig nach einem Schlüssel von 74 zu 76 gestalten wollen. ({5}) - Entschuldigung, 74 zu 26. ({6}) - Ein Versprecher kann doch wohl passieren. Ich bedanke mich für die Korrektur; Sie haben in dem Punkt recht. ({7}) Das haben wir zugesagt; daran halten wir uns. Wir sind hier zu jeder rechtlichen Lösung bereit. Nur, man kann nicht auf der einen Seite das Volumen und die Belastung für die Länder auf 7 Milliarden DM begrenzen und auf der anderen Seite bei allen Punkten Zusatzforderungen stellen, die dann natürlich weit über diese Belastung hinausgehen. ({8}) Wer dann offenläßt, wie das zu finanzieren ist, oder dies allein dem Bund überlassen möchte, der provoziert eine Steuererhöhungsdebatte. Wir wollen Steuersenkungen und keine Steuererhöhungen. So einfach ist die Alternative. ({9}) Wie unsolide und widersprüchlich der Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses ist, zeigt sich bei einer Betrachtung in bezug auf den Finanzplanungszeitraum von 1996 bis 1999. Beim Bund würde sich das Defizit im Vergleich zum Bundestagsbeschluß um über 45 Milliarden DM erhöhen; Länder und Gemeinden würden ihre Haushaltsbelastung hingegen um über 30 Milliarden DM verringern. Selbst die geforderte Lastenbegrenzung für Länder und Gemeinden auf 7 Milliarden DM jährlich würde im Finanzplanungszeitraum sogar noch unterschritten. 1996 sind es nur 2,5 Milliarden DM. Das ist keine faire und angemessene Lastenteilung; das ist eine Zumutung, was Sie uns heute zur Abstimmung vorlegen. ({10}) Vorgeschlagen wird jetzt ein um 20 DM höheres Kindergeld für das erste und das zweite Kind bereits ab dem Jahr 1996. Das ist durchaus erstrebens- und wünschenswert. Ich frage: Wer wollte es nicht? - Nur, unter dem Zwang knapper Kassen hat z. B. das niedersächsische Kabinett am 27. Juni einstimmig festgestellt, mit der Erhöhung des Kindergeldes auf 200 DM pro Kind sei ein ordentlicher Erfolg erzielt worden; weitere Verbesserungen könnten auch in Stufen erfolgen. Inhaltsgleich hat sich auch noch Minister Schleußer Anfang letzter Woche geäußert. Ich halte das für realistisch und für verantwortungsbewußt. Zurückzuweisen ist auch die wiederholte Aufforderung, zur Finanzierung eines erhöhten Kindergeldes das Ehegattensplitting einzuschränken. Wer die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch nur einmal gelesen hat und wer sich die steuerrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten noch einmal vor Augen führt, kann das doch beim besten Willen nicht ernst meinen. Die Ehe ist nach bürgerlichem Recht eine Gemeinschaft des Erwerbs und des Verbrauchs. Die Ehegatten können u. a. Familienarbeit und Erwerbsarbeit in freier Entscheidung aufteilen. Sie können dann aber auch erwarten, daß der Steuergesetzgeber jedem Ehepartner das Familieneinkommen hälftig zurechnet. Das Splitting entfaltet seine Wirkung gerade dort, wo ein Ehegatte auf außerhäusliche Arbeit wegen Kindererziehung, Betreuung von Enkelkindern oder pflegebedürftigen Angehörigen verzichtet. Deshalb ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine beliebig veränderbare Steuervergünstigung. ({11}) Beim Familienleistungsausgleich war unser ursprüngliches Ziel eine echte Finanzamtslösung, wie sie auch die SPD-Bundestagsfraktion vorgeschlagen hatte und wie es auch - wenn ich mich recht erinnere - Ihrem Wahlprogramm entspricht bzw. entsprach. Das wollte die Ländermehrheit jedoch nicht. Wir haben dem Rechnung getragen und eine tragfähige Alternative entwickelt, die auch der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages einstimmig begrüßt hat. Unser Modell eines steuerlichen Kindergeldes ermöglicht es, das Kindergeld bei Arbeitnehmern bereits bei der Lohnzahlung zu berücksichtigen. Nun empfiehlt die Mehrheit des Vermittlungsausschusses die Beibehaltung des Bundeskindergeldgesetzes als Leistungsgesetz und einen Familienleistungsausgleich im Rahmen eines Arbeitsamtsmodells. Diese mehrheitliche Empfehlung kommt mit Stimmen von Abgeordneten zustande, die in diesem Hause für die Finanzamtslösung, also für den umgekehrten Weg, eingetreten sind. Herr Scharping, sagen Sie einmal, was Sie wollen, wozu Sie stehen! Sie müßten dem zustimmen, was wir hier vorgeschlagen haben. ({12}) Meine Damen und Herren, das alles zeigt doch überdeutlich: Der Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses ist der kleinste uneinheitliche Nenner der Opposition, ein Knoten, der schon bei leichtester Belastung aufgeht. Wir lehnen den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses ab. Wir werden neuerlich in die Vermittlung eintreten. Die SPD ist aufgefordert, endlich konstruktiv mitzuarbeiten, sonst gefährden Sie die Erfüllung des Verfassungsgerichtsauftrags zur Freistellung des Existenzminimums und verhindern Verbesserungen für die Familien. ({13}) Wir waren und sind jederzeit verhandlungs- und einigungsbereit: im Juni, im Juli und im August. Für uns gibt es da keinerlei zeitliche Grenzen. ({14}) - Ich nehme doch an, für Sie auch. Wir haben uns während des Gesetzgebungsverfahrens bewegt und einen Kompromiß gesucht. So haben wir bei der Steuerfreistellung des Existenzminimums auf die außertarifliche Grundentlastung verzichtet. Wir haben statt der von der Ländermehrheit kritisierten Finanzamtslösung das bei der Bundesfinanzverwaltung angesiedelte steuerliche OptionsBundesminister Dr. Theodor Waigel modell umgesetzt. Wir haben die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform zunächst abgekoppelt, um hierüber im Zusammenhang mit einer Gemeindefinanzreform zu reden. Im Vermittlungsausschuß waren wir bereit, auf Stufenpläne zur Erhöhung des steuerfreien Existenzminimums und zur Erhöhung des Kindergeldes einzugehen. Zugleich haben wir den Ländern einen höheren Ausgleich im Zusammenhang mit dem Familienleistungsausgleich angeboten. Statt 4,6 Umsatzsteuerpunkte hatte ich 5 Punkte angeboten und auch die Berücksichtigung dessen mit eingeplant, was an weiteren Kindergelderhöhungen im Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung noch stattfinden kann und stattfinden muß. Wir waren bereit, eine wetterfeste Revisionsklausel zugunsten der Länder zu akzeptieren und eine dauerhafte Belastungsverteilung von 74:26 festzuschreiben und rechtlich zu verankern. Ich wäre auch bereit gewesen, die Erhöhung des Umsatzsteueranteils der Lander unbefristet, ohne Revisionsklausel, festzulegen - ein Angebot, das angesichts steigender Umsatzsteuereinnahmen und wohl - leider - sinkender Kinderzahlen für die Länder sehr vorteilhaft gewesen wäre. Nach wie vor steht unsere Bereitschaft, im Rahmen einer Gesamteinigung eine Gegenfinanzierung durch steuerlichen Subventionsabbau von rund 4 Milliarden DM mitzutragen. Meine Damen und Herren von der Opposition, wir tragen gemeinsam Verantwortung für Deutschland. Nun sind Sie gefordert. Verzögern Sie die Einigung nicht länger! ({15}) Stehen Sie sich selbst und einem akzeptablen Kompromiß nicht mehr länger im Wege! Jeder hat genug Zeit gehabt, seine Position deutlich zu machen. Jetzt ist es unsere gemeinsame Verpflichtung gegenüber den Bürgern, gegenüber der Finanzverwaltung, gegenüber den steuerberatenden Berufen und gegenüber der Wirtschaft, so schnell wie möglich Klarheit über das zu schaffen, was an steuerlichen Entlastungen kommen muß und kommen wird. Seien Sie endlich zur Verantwortung bereit! Ich danke Ihnen. ({16})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier. ({0})

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Waigel, Sie haben Ihre Rede mit den Worten begonnen: Die Bürger haben kein Verständnis für diese Sondersitzung. - Wir haben zwar geklatscht. Aber ich frage mich, warum Sie sie überhaupt beantragt haben. ({0}) Um was geht es heute in der Sache? Die Regierungskoalition hat vor wenigen Wochen, gegen die Minderheit der SPD, hier im Bundestag das Jahressteuergesetz 1996 beschlossen. Die SPD hat im Vermittlungsausschuß mit ihrer Mehrheit gegen Sie als Minderheit Verbesserungen durchgesetzt: deutlich höhere steuerliche Entlastungen für den Durchschnittsverdiener und eine stufenweise Anhebung des Kindergeldes auf 250 DM. ({1}) Da es immer etwas theoretisch klingt, wenn man von „steuerfreiem Existenzminimum" redet, und die Bürger nicht genau wissen, was mit einer Freistellung von 12 000 oder 13 000 DM gemeint ist, will ich das einmal umrechnen. Das, was die SPD im Vermittlungsausschuß gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt hat, bedeutet für eine durchschnittliche Familie mit zwei Kindern: im Jahre 1996 eine zusätzliche Entlastung von 480 DM, im Jahre 1997 eine zusätzliche Entlastung von 640 DM, im Jahre 1998 eine zusätzliche Entlastung von 830 DM und schließlich im Jahre 1999 im Vergleich zu Ihrem Bundestagsbeschluß eine zusätzliche Entlastung von 1 700 DM. Sie könnten dem heute zustimmen. Wir appellieren an Sie: Tun Sie es! Aber Sie haben die Sondersitzung beantragt, um diese Verbesserungen für Durchschnittssteuerzahler und Familien mit Kindern zu verhindern. ({2}) Wer diese Entlastungen blockieren will, der handelt unverantwortlich. Wenn Herr Schäuble das, was wir hier diskutieren, ein „Affentheater" nennt, dann macht dies nur deutlich, daß Sie nicht mehr wissen, wie es im Portemonnaie von Otto Normalverbraucher und Eltern mit Kindern aussieht. ({3}) Warum ist die Einigung bisher nicht gelungen? Es waren insbesondere drei Punkte. Der erste Punkt: Sie waren und sind bis heute nicht bereit, das Kindergeld schon in 1996 auf 220 DM anzuheben. Erinnern Sie sich noch an die Debatten der letzten Jahre? Sie haben scharfe ideologische Auseinandersetzungen geführt, als wir - ich selber - unzählige Male hier gefordert haben, den Kinderfreibetrag bei der Steuer abzuschaffen, weil die Entlastung mit steigendem Einkommen der Eltern steigt, und statt dessen ein einheitliches Kindergeld einzuführen. Das haben Sie alles abgelehnt. Sie haben sich inzwischen bewegt, Gott sei Dank! Das haben wir begrüßt. Durch Ihren Vorschlag, 200 DM Kindergeld vom ersten Kind an zu zahlen, erhalten 95 % der Familien in Zukunft ein Bleichhohes Kindergeld. Ich bin ganz sicher: Ohne unsere Hartnäckigkeit im Bundestagswahlkampf und hier im Bundestag hätten wir die 200 DM bei Ihnen nicht herausgeholt. ({4}) Aber: Können Sie mir sagen, warum Sie sich so penetrant gegen die Anhebung auf 220 DM sperren? Für Spitzenverdiener sehen Sie die Anhebung des Kinderfreibetrages bei der Steuer vor mit der Folge, daß Spitzenverdiener - damit das klar ist: Das sind Leute, die im Jahr mehr als 240 000 DM zu versteuerndes Einkommen haben; das können brutto über 300 000 DM sein - durch die Erhöhung des Kinderfreibetrages eine Entlastung von monatlich 277 DM bekommen. Das heißt: Sie haben für 277 DM Entlastung für die Spitzenverdiener gekämpft und wehren sich gegen 220 DM Kindergeld für Otto Normalverbraucher! ({5}) Allein diese Kindergelderhöhung für 1996 bedeutet für eine Familie mit zwei Kindern 480 DM im Jahr. Sie aber sagen, wir wollten alles oder nichts. Herr Waigel, wir sind Ihnen doch entgegengekommen. Wir haben gar nicht verlangt, daß Sie gleich für 1996 die 250 DM ansetzen. Vielmehr haben wir einen Stufenplan vorgestellt, der 250 DM für 1990 vorsieht. ({6}) - 1999, natürlich rückwirkend können auch wir das leider nicht. Da alle Familienverbände Ihnen und uns sagen, Ihre 200 DM reichten nicht aus, appellieren wir an Sie: Blockieren Sie nicht länger diese Verbesserungen für die Familien mit Kindern! Stimmen Sie unserem Beschluß heute zu! Dann wissen die Familien, woran sie sind. ({7}) Wir bleiben auch dabei, daß das Kindergeld gleich mit der Steuerschuld verrechnet werden sollte. Bei 250 DM Kindergeld würde das bei einer Familie mit zwei Kindern bedeuten, daß die Eltern gleich 2 x 250 DM = 500 DM weniger Lohnsteuern zahlen würden. Das sogenannte Zuordnungsmodell führt aber, wie wir alle wissen, zu milliardenschweren Verschiebungen zu Lasten von Ländern und Gemeinden. Meine Damen und Herren, es ist keine parteipolitische Auseinandersetzung, sondern eine Frage der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, wie wir dieses Problem lösen. Seien wir doch ehrlich miteinander: Ich war in den Vorgesprächen und im Vermittlungsausschuß dabei, als Ihr Herr Stoiber aus Bayern oder Ihr Herr Mayer-Vorfelder aus BadenWürttemberg genau die gleichen Bedenken geltend gemacht haben. Herr Waigel, solange Sie den Ländern keine Garantie geben, daß sie nicht nach wenigen Jahren wieder mit höheren Beträgen belastet werden, als jetzt zugesagt, werden Sie keine Zustimmung der Länder bekommen - seien sie SPD-geführt, seien sie CDU- bzw. CSU-geführt. Hinzu kommt, Herr Waigel - das muß ich einfach mal sagen, der ich ja, wie Sie sich gut erinnern, das Zuordnungsmodell in allen Gesprächen und auch hier im Bundestag vertreten habe; daher ist das überhaupt kein Widerspruch -: Sie haben in den letzten Wochen - wie ich finde, völlig unnötigerweise - Mißtrauen in den Ländern gesät. Das fängt damit an, daß Sie im März gesagt haben, die Länder sollten Bittsteller sein und nicht Sie. Sie fordern 14 Milliarden DM aus dem Solidarpakt zurück, den Sie mit unterschrieben haben. Sie haben in Ihrem Entwurf für den Haushalt 1996 erneut die Kürzung der Arbeitslosenhilfe vorgesehen, wobei jeder weiß, daß Milliarden auf die Gemeinden verschoben werden. Sie sehen im Etat 1996 mal so eben vor, daß die finanzielle Verantwortung für die unentgeltliche Beförderung der Schwerbehinderten im Personennahverkehr aus dem Bundeshaushalt in die Länderhaushalte verschoben wird. Sie weigern sich, zu einem von uns beantragten zeitlich befristeten Investitionsprogramm zur Erfüllung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz beizutragen. Da kann ich nur sagen, meine Damen und Herren: Wer die Länder so provoziert, der darf nicht hoffen, daß er eine Woche später von ihnen Zustimmung erhält. ({8}) Der Beschluß des Vermittlungsausschusses führt - Sie haben es hier zu Recht dargelegt - zu erheblichen überproportionalen Belastungen des Bundes. Aber Sie wissen, daß wir das ausgleichen wollen. Wir haben mit unserer Mehrheit im Vermittlungsausschuß folgendes beschlossen: Die Länder erklären sich bereit, die dem Bund durch das Ländermodell entstehenden überproportionalen Belastungen fair und angemessen auszugleichen. ({9}) Gegenseitige Schuldzuweisungen und auch dieses Gelächter führen uns nicht weiter. ({10}) Ich wiederhole: Wir müssen uns einigen. Das scheinen Sie manchmal zu vergessen, habe ich den Eindruck, wenn ich den Ton dieser Debatte höre. Nach dem Waigel-Modell müssen die Länder entlastet werden, weil sie überproportional belastet werden. Nach dem Vermittlungsausschußmodell ist die ganze Chose umgekehrt, d. h., auf jeden Fall muß ausgeglichen werden, so oder so herum. Das kann im Laufe der nächsten Gesetzgebungsverfahren geschehen. Ich halte den Föderalismus für die tragende Säule unseres demokratischen Systems. Es wäre aber ein Armutszeugnis für den Föderalismus - auch die Bürger würden das nicht verstehen -, wenn eine sinnvolle Reform an Finanzausgleichsproblemen scheitern würde. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, daß wir zu einer vernünftigen Lösung kommen. Wenn schon Zuordnungsmodell, Herr Waigel, dann aber bitte auch die 220 DM Kindergeld, die Sie gerne vergessen. ({11}) Zweiter Streitpunkt: das steuerfreie Existenzminimum. Sie haben sich in diesem Punkt bewegt, Gott sei Dank. Aber Sie tun so, als sei das ein großes Entgegenkommen gegenüber der SPD. Ihr erster Tarifvorschlag im September war verfassungswidrig. Er hatte diesen häßlichen Buckel. Ein bestimmtes Wort lieben Sie nicht; aber alle Leute wissen, daß das der Tarifbuckel war, der unerträglich war. ({12}) Dann haben Sie einen zweiten Tarifvorschlag vorgelegt; den fanden selbst Ihre eigenen Leute unerträglich. Im März sind Sie dann endlich mit einem neuen Tarifvorschlag übergekommen. Wir haben das begrüßt. Aber er reicht noch nicht aus. Bürgerinnen und Bürger verstehen meist nicht, was das heißt: 12 000 DM oder 13 000 DM steuerfrei, bei Verheirateten 24 000 DM oder 26 000 DM. Das bedeutet, daß der Staat beim Bürger nicht das über Steuern abkassieren darf, was ihm als Existenzminimum zusteht. Sie wollen auch 1997 ein steuerfreies Existenzminimum von 12 000 DM. Aber in Ihren eigenen Papieren steht: Bei dieser Art der Anpassung, nämlich 1997 keine Erhöhung, liegt der Grundfreibetrag im Jahr 1997 voraussichtlich etwas unter dem Sozialhilfeniveau. ({13}) Als wir in den Gesprächen entgegengehalten haben, das ginge doch nicht, das verstieße doch gegen die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes, daß man die Menschen so scharf besteuert, daß sie unter das Sozialhilfeniveau sinken, haben Sie wörtlich gesagt, das Verfassungsgericht erlaube vorübergehend einen Durchhänger, d. h. eine Unterschreitung des verfassungsrechtlichen Minimums um 10 % bis 15 %. Herr Waigel, wohin sind wir denn eigentlich gekommen? Ich teile auch als Juristin Ihre Meinung ausdrücklich nicht. Ich halte das Festhalten an 12 000 DM Grundfreibetrag 1997 für verfassungswidrig. Der Staat darf den Menschen nicht durch Steuern abnehmen, was sie als Existenzminimum brauchen, und da reichen die 12 000 DM 1997 nicht. ({14}) Wenn Sie sehenden Auges dagegen verstoßen, dann - das wissen wir doch jetzt schon - wird es eine Flut von Beschwerden, Einsprüchen und Klagen geben. Sollen wir denn nicht endlich damit Schluß machen, daß Karlsruhe in unserem Land die Steuerpolitik bestimmt, weil sich der Finanzminister hartnäckig weigert, das Existenzminimum freizustellen? ({15}) 1 000 DM Grundfreibetrag mehr bedeuten beim Alleinstehenden im Jahr eine Entlastung von etwa 250 DM, bei Verheirateten von etwa 500 DM. Auch das, Herr Schäuble, ist kein Affentheater, sondern eine echte Entlastungsdiskussion. Übrigens geht es mir bei dieser Frage nicht nur um Juristerei. Schauen Sie einmal: Sie sind es doch, die in den letzten Jahren immer wieder gesagt haben, das Lohnabstandsgebot sei nicht gewahrt. Was heißt das auf deutsch? Das heißt, daß niedrige Einkommen sehr nah an die Schwelle der Sozialhilfe oder sogar darunter rutschen. Aber mit Ihrem Tarif verschärfen Sie die Situation. Gegen das Lohnabstandsgebot wird in Einzelfällen nicht deswegen verstoßen, weil die Sozialhilfe in diesem Land besonders üppig ist, sondern deswegen, weil Sie in verfassungswidriger Weise sogar niedrige Einkommen so hoch besteuern. Das werden wir nicht hinnehmen. ({16}) Wir werden nicht zulassen, daß Sie die Menschen mit diesem scharfen Steuertarif in die Schwarzarbeit treiben. Leistung muß sich wieder lohnen. Das ist völlig richtig. ({17}) Aber bitte schön nicht nur für Leute mit Einkommen von über 240 000 DM im Jahr, sondern auch für Otto Normalverbraucher! ({18}) Dritter und letzter Streitpunkt: die Finanzierung. ({19}) Herr Waigel hat soeben gesagt, bei uns bestehe ein Finanzierungsloch von über 40 Milliarden DM. Herr Waigel, ich bitte Sie, das zurückzunehmen; denn Sie wissen, daß es die Unwahrheit ist. ({20}) Ich nenne ein Beispiel: Im Jahr 1996 heben wir das Kindergeld um 20 DM mehr an als Sie, und zwar auf 220 DM. Das kostet dreieinhalb Milliarden DM. Gleichzeitig haben wir einen steuerlichen Subventionsabbau von fast 4 Milliarden DM vorgelegt und beschlossen. Wir haben die Deckung gleich mitgeliefert. Wir sind auch, wie Sie wissen, bereit weiter zu gehen. Wenn wir eine Gegenfinanzierung vorschlagen, dann ist das doch keine Boshaftigkeit. Angesichts von zwei Billionen DM Staatsschulden aller Gebietskörperschaften, angesichts von 143 Milliarden DM Zinsen, die alle öffentlichen Hände 1996 zu zahlen haben, sind wir der Ansicht, daß man ein solches Steuersenkungspaket nicht einfach über neue Schulden finanzieren kann. Es ist gerechtfertigt und politisch seriös, auch andere Finanzierungsmöglichkeiten einzubringen. ({21}) Beim Subventionsabbau kann es mit unseren Stimmen weiter gehen. Warum muß es bei den vier Milliarden DM bleiben? Ich darf Sie daran erinnern, daß beim Vorgespräch zwischen CDU/CSU und SPD schon 5,6 Milliarden DM vereinbart waren. Dann war es die F.D.P., die Sie im Koalitionsgespräch davon weggebracht hat. Dazu kann ich Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P., nur sagen: Tag und Nacht von Subventionsabbau zu sprechen und dann zum hartnäckigsten Lobbyisten von Steuersubventionen zu werden, sollten Sie sich endlich einmal abschminken. ({22}) Unsere lange Liste zum Subventionsabbau liegt auf dem Tisch: von der Gewinnermittlung bei Land- und Forstwirtschaft über das sogenannte Dienstmädchenprivileg und die Einschränkung von Veräußerungsgewinnen bis zur Verlängerung von Spekulationsfristen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen: Das folgende Beispiel bringt zwar nur 100 Millionen DM, aber 100 Millionen DM sind auch Geld. Daß Sie sich sogar angesichts des letzten Bestechungsskandals bei Opel bis heute weigern, die steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern abzuschaffen, ist wirklich ein Skandal. ({23}) Schließlich und auch nur nebenbei: Wenn Sie endlich bereit wären, aktiv gegen die Steuerhinterziehung vorzugehen, dann hätten wir auch Milliarden DM mehr, mit denen wir den ehrlichen Steuerzahlern die viel zu hohen Steuern senken können, Herr Waigel. ({24}) Wir haben auch andere Finanzierungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Ich erinnere an unsere Forderung nach einem Einstieg in die ökologische Steuerreform. Sie können ja dagegen sein. Aber ich bin der festen Überzeugung: Die kommt. In unserem Land wird die Arbeit mit Steuern und Sozialabgaben vergleichsweise zu hoch belastet. Gleichzeitig ist die Situation eingetreten, daß die Strompreise im nächsten Jahr wegen der Verfassungswidrigkeit des Kohlepfennigs sinken. Das ist ökologisch ein falsches Signal. Ich zitiere Herrn Schäuble, der gesagt hat, das sei doch nun wirklich nicht der Weisheit letzter Schluß. - Wir geben Ihnen die Chance, in diesem Verfahren etwas weiser zu werden und mit uns für den Einstieg in die ökologische Steuerreform zu sorgen. ({25}) Auch für die Anhebung des Kindergeldes auf 250 DM im Jahr 1999 haben wir Ihnen einen konkreten Finanzierungsvorschlag mitgeliefert - Sie haben es erwähnt -: eine maßvolle Begrenzung des Ehegattensplittings. Meine Damen und Herren, bis weit in Ihre Reihen hinein wissen die Leute - ich erinnere an den Vorstoß des CDU-Generalsekretärs Hintze im letzten Dezember -, daß es schlicht und einfach nicht in Ordnung ist, daß ein Spitzenverdiener durch die pure Heirat, auch wenn er überhaupt keine Kinder hat, im Jahr eine Entlastung von 22 842 DM erhält, während wir gleichzeitig nicht genug Geld haben, um die Familien mit Kindern endlich angemessen zu entschädigen. ({26}) Wir sehen eine begrenzte Splittingregelung vor, die nur oberhalb von zu versteuernden Einkommen von 93 500 DM greift; brutto sind das etwa 110 000 bis 120 000 DM. Auch diese Einkommen würden nach wie vor einen Splittingvorteil erhalten, aber er würde sich nicht mehr auf die immensen 22 842 DM belaufen. Das dadurch eingesparte Geld benutzen wir, um endlich 250 DM Kindergeld zu zahlen. ({27}) Selbstverständlich kennen wir die Urteile, in denen steht, das Splitting sei keine beliebig veränderbare Steuersubvention. Beliebig wollen wir Sozialdemokraten das auch nicht ändern. Aber aus dem Steuerausfall von über 30 Milliarden DM 5 Milliarden herauszunehmen, um damit das Kindergeld anzuheben, ist sehr wohl sachgerecht. Ich darf an dieser Stelle, was ich selten tue, dem geschätzten Journalisten Mundorf im „Handelsblatt" widersprechen. Er hat nämlich gesagt, das Splitting müsse so bleiben, damit es dem Zivilrecht folge. Auch im Zivilrecht, im Bürgerlichen Gesetzbuch, sei es nämlich so, daß das, was eine Familie verdiene, automatisch zur Hälfte an Mann und Frau gehe. Wenn es so wäre, wäre es schön. Aber das ist nicht der Fall. Wenn er 100 000 DM nach Hause bringt und sie null, dann hat sie zwar einen Unterhaltsanspruch, aber daß ihr die Hälfte der 100 000 DM gehöre, davon ist überhaupt keine Rede. Ich sage an Ihre Adresse einmal ein bißchen spöttisch: Wenn Sie endlich bereit sind, das Zivilrecht zu ändern, so daß der Frau immer die Hälfte zusteht, dann werden wir nicht mehr fordern, den Splittingvorteil zu ändern. ({28}) Wir bedauern die heutige Sondersitzung. ({29}) Wir sind der Ansicht, wir hätten uns einigen können. In der Sache bleibt es dabei, daß es um folgendes geht: Die Koalition hat ihren Gesetzesbeschluß mit Mehrheit durchgesetzt; die SPD hat im Vermittlungsausschuß mit ihrer Mehrheit einen anderen Gesetzesbeschluß durchgesetzt. Der Unterschied ist der, daß nach dem SPD-Beschluß Familien mit Kindern und Durchschnittsverdiener um mehrere hundert D- Mark jährlich zusätzlich entlastet werden. ({30}) Sie werden nicht erwarten, daß wir Ihrem Beschluß folgen. Wir appellieren an Sie: Folgen Sie heute unIngrid Matthäus-Maier serem Beschluß! Dann hat die ganze Sondersitzung wenigstens einen Sinn gehabt! ({31})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste hat Kollegin Kerstin Müller das Wort.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als neues und einziges Mitglied meiner Fraktion im Vermittlungsausschuß war es für mich, muß ich sagen, nicht sehr ermutigend, an diesem finanzpolitischen Sommertheater teilzunehmen. Mich erstaunt, daß Sie die Kritik an diesem Sommertheater zu Beginn dieser Sitzung gemeinsam beklatscht haben. Eigentlich müßte uns das Ganze doch nachdenklich machen. Denn was hat uns diese Sommersitzung beschert? Die Bundesregierung hätte uns, glaube ich, diese teure Veranstaltung ersparen können; denn den Anpfiff aus Karlsruhe hat es schon vor drei Jahren gegeben. ({0}) Das Jahressteuergesetz ist längst zu einer unendlichen Geschichte geraten. Der Hauptverantwortliche für diese Komödie, die kein Bürger mehr versteht, sitzt auf der Regierungsbank: der Bonner Kassenwart, Herr Finanzminister Waigel. Herr Waigel, Sie mußten sich erst vor drei Monaten von den versammelten Experten dieser Republik bestätigen lassen, daß Ihr Jahressteuergesetz ein Schuß in den Ofen war. Frau Matthäus-Maier hat das soeben erwähnt. Die handwerklichen Mängel konnten Sie noch auf die Experten abschieben; aber in Ihrem Grundansatz steckt, glaube ich, Methode. Sie wollen den Sozialstaat weiter mit der Abrißbirne bearbeiten, und Sie wollen die unteren Einkommen und die Familien offensichtlich nicht angemessen entlasten. Ihre Vorschläge gehen wie in den letzten Jahren zu Lasten der sozial Schwachen. ({1}) Meine Damen und Herren, erinnern wir uns: Das Verfassungsgericht mußte Sie zwingen, endlich eine sozialstaatliche Selbstverständlichkeit in Angriff zu nehmen: das Existenzminimum steuerlich freizustellen und Familien mit Kindern besserzustellen. Was dann aus Ihrem Hause kam, war nichts als ein Torso. Ich frage mich: Warum haben Sie die plausiblen Vorschläge der von Ihnen berufenen Kommission in den Wind geschlagen? Das Votum der Fachleute war nämlich deutlich: Das steuerfreie Existenzminimum ist solide finanzierbar. Sie müßten nur endlich eine breite Schneise in den Dschungel der Steuersubventionen schlagen. ({2}) Aber nein, statt dem Expertenrat zu folgen, haben Sie das Steuersystem völlig durcheinandergebracht. Ihre kuriose Lösung hatte den erhöhten Freibetrag außerhalb des Tarifs angesiedelt. Dabei kamen im mittleren Einkommensbereich unvertretbare Belastungen heraus: der Belastungsbuckel im Waigelschen Phantasialand der Steuerpolitik. Herr Waigel, Ihre eigenen Parteifreunde mußten diese Fehlleistung anschließend korrigieren. Ein verteilungspolitisches Kabinettstückchen folgte dem anderen. Die Melodie war, meine ich, immer die gleiche: Den Gutverdienenden möglichst geben, die Kleinen nicht entlasten. Diese finanzpolitische Geisterfahrt hat viel Zeit gekostet. Wenn es, weil das Jahressteuergesetz im Januar nächsten Jahres in Kraft treten muß, jetzt eng wird, dann tragen Sie dafür die Verantwortung. ({3}) Vor drei Jahren hat Karlsruhe es Ihnen ins Stammbuch geschrieben. Jetzt, nach drei Jahren Bummelei, packt Sie die Torschlußpanik. Die Bundesregierung und die CDU-regierten Länder haben sich beim steuerfreien Existenzminimum und beim Kindergeld inzwischen den Vorstellungen der Opposition angenähert. Aber das reicht nicht, Herr Waigel. Wenn Sie uns das nicht glauben, dann sollten Sie die Stellungnahme des Familienbundes der Deutschen Katholiken zur Kenntnis nehmen, eines Verbandes, der Ihnen sicherlich nahesteht. ({4}) - Den kennen sie ja. Der Präsident dieser Organisation hat mir wenige Tage vor der Beratung des Jahressteuergesetzes im Vermittlungsausschuß geschrieben - seine Kritik ist überaus deutlich -: Das Modell der Regierung ist familienpolitisch fragwürdig und insgesamt verfassungsrechtlich bedenklich. Das Existenzminimum für einen Erwachsenen ist mit 12 000 DM viel zu niedrig angesetzt. Herr Waigel, das Verfassungsgericht hat bereits 1992 von einem Existenzminimum von 12 000 DM gesprochen. Dieser Betrag liegt heute, 1995, weit unter dem Sozialhilfeniveau. Sie haben es soeben angesprochen, Frau Matthäus-Maier. Das ist zwar preiswert für Sie, Herr Waigel, aber das ist ungerecht für die Bezieher unterer Einkommen. Sie haben sich nicht an die Vorgaben des Verfassungsgerichts gehalten. Sie bürden den Eltern einen zu hohen eigenen Anteil an den Kinderleistungen auf. Der monatliche Mindestbedarf für ein Kind hat schon im vergangenen Jahr 630 DM betragen. Das haben selbst Ihre eigenen Fachleute festgestellt. Besonders verheerend ist, daß das Koalitionsmodell keine Verbesserungen für Familien bietet, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Diese gehen wieder einmal leer aus. Das Kindergeld soll nämlich wie bisher voll auf die Sozialhilfe angerechnet werden. Auch das wird von dem Familienbund der Deutschen Katholiken kritisiert. Kerstin Müller ({5}) Falls Sie dem Präsidenten des Familienbundes der Deutschen Katholiken nicht trauen, möchte ich Sie beruhigen. Er sitzt nämlich unter uns, der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Fell, offensichtlich ein familienpolitischer Dissident in Ihren Reihen. Ich entnehme dem Handbuch des Bundestages, daß er sechs Kinder hat. Er weiß also offensichtlich, wovon er redet, wenn es um die Unzulänglichkeiten der Kinderförderung geht. Ich hoffe, daß wenigstens dieser Herr heute mit uns stimmen wird. ({6}) Meine Fraktion hat ein Modell für eine integrierte Steuerreform vorgelegt. Wir wollen die Freistellung des Existenzminimums mit deutlich verbesserten Leistungen für Kinder verbinden. Gleichzeitig wollen wir den Kinderfreibetrag ersatzlos streichen; denn damit werden nur die Bezieher hoher Einkommen überdurchschnittlich entlastet. Wir wollen ein einheitliches Kindergeld von 300 DM, und das Existenzminimum muß jetzt bei 14 000 DM angesetzt werden. Das entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Beide Maßnahmen führen für Familien und Alleinerziehende zu spürbaren Entlastungen, vor allen Dingen bei niedrigen Einkommen. Unser Modell ist sozial gerecht und auch finanzierbar. Meine Damen und Herren, wir wollen, daß das Steuerrecht endlich die Realitäten anerkennt. Es ist doch absurd, den Trauschein jährlich mit 40 Milliarden DM steuerlich zu subventionieren, während es bei vielen Familien mit Kindern vorne und hinten nicht reicht. Wir wollen das Ehegattensplitting abschaffen; es begünstigt die Ehe und nicht das Leben mit Kindern. ({7}) Wenn das Geld nicht mehr im Überfluß da ist, dann muß zugunsten der Kinder umgeschichtet werden. Wir wollen, daß Schluß ist mit einer einseitigen und auch antiquierten Subventionierung; denn wir leben doch nicht mehr im 19. Jahrhundert. Meine Damen und Herren, ich bedaure sehr, daß der vorliegende Vorschlag des Vermittlungsausschusses immer noch nicht mit diesen alten Klamotten aus der Mottenkiste aufräumt. Ich hoffe, daß Sie von der SPD bei der nächsten Gelegenheit wenigstens den Mut dazu finden, hier einen Einstieg hinzubekommen. Unsere Unterstützung hätten Sie. Auch der Einstieg in die ökologische Steuerreform wurde verpaßt, wobei für uns von Anfang an klar war: Es darf nicht darum gehen, irgendwelche Haushaltslöcher zu stopfen; das bringt jede Umweltsteuerreform in Verruf. ({8}) Wir müssen mit dem Aufkommen vor allem ökologisch umsteuern und dürfen damit nicht das Kindergeld finanzieren, meine Damen und Herren von der SPD. Wir haben als erste Fraktion ein seriöses Konzept für die ökologische Steuerreform vorgelegt. ({9}) - Sie können es nachrechnen. - Ich hoffe, daß die anderen Fraktionen bald ihre Vorschläge vorlegen, auch Sie von der SPD, und daß das hier jetzt nicht nur eine Ankündigung von Ihnen war. Wir wollen jedenfalls eine produktive Diskussion über den besten Weg zur ökologischen Reform des Steuersystems. Die CDU/CSU kündigte für den Herbst eine Debatte darüber an. Sie will prüfen - prüfen! -, ob ökologische Elemente in das Steuersystem einbezogen werden sollen. Schön wär's! Ich glaube, in Wirklichkeit wollen Sie ein Ihnen lästiges Thema vertagen. Denn die wenigen Konservativen, die den Einstieg in die ökologische Steuerreform wollen, werden von oben gebremst. Bei Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P., gibt es ebenfalls nichts Neues. Denn Sie haben auch in dieser Frage mal wieder die Rolle des umweltpolitischen Bremsers gespielt. Es ist doch absurd: Ein politisches Auslaufmodell wie die F.D.P. blockiert eine längst überfällige Reform. Nicht zuletzt wegen Ihrer fatalen Umweltpolitik haben Sie doch jetzt solche Probleme. In die Kampagne gegen Shell hat sich die Bundesregierung als grün geschminkte Trittbrettfahrerin eingereiht. Wenn es nichts kostet, ist es eben leicht, die Ökobewußten zu spielen. Die Versenkung der Brent Spar konnte verhindert werden. Aber wenn es wirklich darum geht, in Deutschland ökologisch umzusteuern, verschwinden Sie von der Bundesregierung in der Versenkung. ({10}) Auf den ersten Blick liegen die Positionen zur Höhe des steuerfreien Existenzminimums und zum Kindergeld nicht weit auseinander. Aber schauen wir uns die Frage der Finanzierung an; denn hier wird es brenzlich. Die Bundesregierung hat dazu in den letzten Tagen mit dem Haushaltsentwurf für das nächste Jahr die Katze aus dem Sack gelassen. Sie wollen nicht nur Ausgaben zu Lasten der Kommunen verschieben; vor allem wollen Sie in unverantwortlicher Weise den sozial Schwachen in die Tasche greifen. Bei der Arbeitslosenunterstützung und der ohnehin kärglichen Arbeitslosenhilfe soll massiv gekürzt werden. Ihre Höhe soll demnächst an einem obskuren Marktwert der Betroffenen orientiert sein. Wie wäre es, wenn wir künftig die Ex-Minister nach dem Marktwert besolden würden? ({11}) Solche Pläne sind, finde ich, einfach schäbig. Was hat das noch mit christlicher Soziallehre zu tun, Herr Blüm? Meine Damen und Herren, Ihr Haushaltsentwurf zeigt: Sie betreiben nicht den Umbau des Sozialstaates, sondern weiter den kalten Ausstieg. Das ist mit uns nicht zu machen. Meine Fraktion stimmt deshalb Kerstin Müller ({12}) bei der Abstimmung über das Jahressteuergesetz der Beschlußempfehlung der rot-grünen Mehrheit des Vermittlungsausschusses zu. Das ist uns nicht leichtgefallen; denn unsere Vorstellungen gehen in vielen Punkten wesentlich weiter als die der Sozialdemokraten. Aber der Beschluß der rot-grünen Mehrheit des Vermittlungsausschusses ist für uns ein Schritt in die richtige Richtung. ({13}) Ihre Finanzpolitik, Herr Waigel, führt dagegen direkt ins schwarz-gelbe Chaos: wenn nämlich im nächsten Jahr kein Steuergesetz in Kraft tritt. ({14}) Das können wir nicht verantworten, Herr Waigel. ({15}) Zum Nachsitzen und Nachrechnen in der Sommerpause schenken wir Ihnen heute einen Taschenrechner, wohlgemerkt: solarbetrieben. ({16})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Sitzung des Deutschen Bundestages ist leider notwendig. Denn das mit Mehrheit beschlossene Vermittlungsausschußergebnis zum Jahressteuergesetz 1996 kann und darf aus mehreren Gründen, die auch die Opposition in diesem Hause anerkennen müßte, nicht Gesetz werden. ({0}) Exemplarisch möchte ich drei Gründe benennen. Erstens. Die F.D.P. und diese Koalition wollen eine Neuordnung des Familienleistungsausgleichs und haben hierzu ein völlig neues Kindergeldgesetz beschlossen. Die Beratungen im Finanzausschuß hierzu wurden betont sachlich und überparteilich geführt. Ich glaube, daß alle Mitglieder des Finanzausschusses sowie alle Mitglieder der mitberatenden Ausschüsse des Deutschen Bundestages mit der hierbei geleisteten Arbeit und mit dem Ergebnis zufrieden sein dürften. ({1}) Die wesentliche Differenz in den Auffassungen zwischen Koalition und Opposition besteht darin, wie hoch das als Steuervergütung, d. h. als Negativsteuer, gezahlte Kindergeld insbesondere für das erste und das zweite Kind ausfallen soll. Angesichts der schwierigen Haushaltslage halten wir 200 DM für angemessen. Die SPD fordert 250 DM, und die Grünen fordern 300 DM. Bei jeder Erhöhung der Beträge gibt es natürlich das Problem der Gegenfinanzierung. Denn jede Erhöhung von Leistungen für die Bürger hat zwangsläufig weniger Einnahmen für die öffentlichen Kassen zur Folge. Das ist auch der Grund, warum die SPD das Entlastungsvolumen dieses Gesetzes begrenzen wollte. Wir wollen die Bürger mit 22 Milliarden DM entlasten, übrigens im wesentlichen in den unteren Einkommensschichten - ab 55 000 DM findet im Steuertarif praktisch keine Entlastung statt -, weil wir das Existenzminimum freistellen wollen. Das ist verfassungsrechtlich geboten. Der Rahmen von 22 Milliarden DM ist finanzpolitisch auch vertretbar. Hier werden immer nur Nebelkerzen geworfen. Es wird gesagt: Wir wollen eine viel höhere Entlastung. Auf der anderen Seite soll das nur wenig Geld für die öffentliche Hand kosten dürfen. Das ist der Spagat der SPD.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Thiele, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Scheel?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Thiele, stimmen Sie nicht mit mir darin überein, daß die GRÜNEN als einzige Fraktion in diesem Hause auch bei 300 DM Kindergeld eine Gegenfinanzierung vorgelegt haben, die die Staatsverschuldung nicht weiter in die Höhe treiben, sondern sogar noch eine Entlastung für Länder und Kommunen bringen würde?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich stimme Ihnen zu, daß Sie einen Vorschlag eingeführt haben und daß dieser Vorschlag in sich eine Gegenfinanzierung beinhaltet. Nur - das ist wieder das Klassische an der ganzen Diskussion -: Über die Gegenfinanzierung wird auch von Ihnen öffentlich überhaupt nicht diskutiert. Vielmehr wird nur die größere Entlastung der Bürger dargestellt. So kann es im Grunde genommen nicht gehen. Insofern ist damit das Problem nicht lösbar. ({0}) Da bei dem gefundenen Weg die Veränderung des Systems des Kinderleistungsausgleichs zur Finanzamtslösung für richtig gehalten wurde, hat der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages einstimmig, d. h. auch mit den Stimmen der Koalition, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Frau Müller hat noch darauf hingewiesen, daß ihre Partei inzwischen im Vermittlungsausschuß tätig ist - beschlossen, daß dieses Modell zur reinen Finanzamtslösung weiterentwickelt werden sollte, d. h. daß das Kindergeld künftig vom Arbeitgeber durch Verrechnung mit der Lohnsteuer ausgezahlt werden soll. ({1}) Die Finanzamtslösung war auch von der SPD im Bundestagswahlprogramm gefordert worden. Sie ist vom Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping als Antrag in diesen Bundestag eingebracht worden. Nun beschließt der Vermittlungsausschuß mit Stimmenmehrheit der SPD-Länder und der SPD- Bundestagsfraktion, daß es diese Finanzamtslösung nicht geben soll, sondern daß das Bundeskindergeldgesetz in bisheriger Fassung weiterzuentwickeln sei und das Kindergeld weiterhin als soziale Transferleistung ausgezahlt werden soll. ({2}) Die Ablehnung der Finanzamtslösung durch die SPD ist eine Verhöhnung ihres eigenen Bundestagswahlprogramms und die Fortsetzung der Demontage von Rudolf Scharping, in diesem Fall durch Herrn Lafontaine. ({3}) Diese Ihre Politik ist familienfeindlich, bürokratisch und finanzpolitisch unsolide. ({4}) Es ist eine Wählertäuschung ohnegleichen. Es ist auch eine Mißachtung der einstimmigen Beschlußempfehlung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages. Vor allem aber ist es eine schlichte Unverschämtheit gegenüber den Familien, die darauf gewartet haben, daß wir hier endlich zu einer vernünftigen Einigung kommen. Diese wird jetzt von der SPD sabotiert. ({5}) Deshalb, auch aus diesem Grunde, appelliere ich an die Abgeordneten: Lesen Sie sich den Text des Beschlusses des Vermittlungsausschusses noch einmal genau durch, und lehnen Sie diesen gemeinsam mit uns ab. Zweitens. Durch das Vermittlungsausschußergebnis werden die Leistungen für Kinder erhöht. Hierdurch entstehen für die öffentliche Hand, insbesondere für den Bund, weitere Mindereinnahmen, die ohne Kompensation auch von den SPD-geführten Ländern für zu hoch gehalten werden. Deshalb hat der Bundesrat mit Pressemitteilung vom 6. Juli 1995 darauf hingewiesen, daß diese zusätzlichen Kosten von rund 5 Milliarden DM durch eine entsprechende Begrenzung des Ehegattensplittings finanziert werden sollen. Hiervon findet sich aber in dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses nichts wieder. Das zeigt doch, daß der Bundesrat wohl selbst nicht mehr weiß, was er will; denn wenn er tatsächlich die Begrenzung des Ehegattensplittings beschließen wollte, warum finden wir diese jetzt nicht in dem Text? Ist den SPD-geführten Ländern aufgefallen, daß diese Begrenzung enorme verfassungsrechtliche Probleme aufwirft? Oder war für die SPD die Gefahr vielleicht doch zu groß, sich mit schlampigen Formulierungen zur Begrenzung des Ehegattensplittings der Kritik, dem Spott und der Lächerlichkeit in der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sehen? Die Gründe liegen im dunkeln. Mangels Text können wir es auch nicht nachlesen. Drittens. Die finanziellen Auswirkungen des Ergebnisses des Vermittlungsausschusses führen dazu, daß der Bund im Vergleich zum Gesetzesbeschluß in den nächsten Jahren mit über 45 Milliarden DM zusätzlich belastet werden soll. Die Länder und Gemeinden können ihre Belastungen in diesen vier Jahren um mehr als 30 Milliarden DM mindern. Dieses ist schlichtweg unannehmbar. Im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages wurde in den vergangenen vier Jahren - auch seitens der SPD und des damaligen SPD-Ausschußvorsitzenden Rudi Walther - immer Wert darauf gelegt, daß der Bund nicht einseitig belastet wird. Ich gehe davon aus, daß dies jetzt von Helmut Wieczorek und den SPD-Kollegen im Haushaltsausschuß ebenso gesehen wird. Auch deshalb möchte ich die Kollegen von der Opposition auffordern, diesem Vermittlungsausschußergebnis nicht zuzustimmen. ({6}) Ich halte diese drei Punkte für so wesentlich, daß ich sie exemplarisch einmal vorgetragen habe. Als Fazit ist festzuhalten: SPD-Bundestagsfraktion und SPD-Präsidium wollen eine wesentlich höhere Entlastung als die Koalitionsfraktionen. Die SPD- Länder wollen aber nur eine weitaus geringere Entlastung mittragen. Dieser Spagat innerhalb der SPD muß zu Schwierigkeiten führen. Dazu kommt dann noch der Selbstdarsteller Gerhard Schröder aus Niedersachsen, der vorgibt, sich immer nur zu Sachfragen zu äußern, aber Rudolf Scharping meint. Wenn dann der Bundesgeschäftsführer der SPD, Günter Verheugen, behauptet, jetzt habe die SPD Geschlossenheit und Einigkeit gezeigt, dann ist die Freude darüber verständlich, daß bei der durchgehenden Uneinigkeit in der Spitze endlich einmal Einigkeit herrscht. Aber deshalb dieses Gesetz blokkieren? Deshalb verhindern, daß die Bürger entlastet werden? Deshalb die Umsetzung der verfassungsrechtlich gebotenen Freistellung des Existenzminimums verhindern? Dies ist der Versuch einer Profilierung der SPD am falschen Thema. Dies ist keine verantwortungsvolle Oppositionspolitik, dies ist reine Obstruktionspolitik. ({7}) Ich möchte aber noch einmal deutlich machen, worum es uns, der F.D.P., bei diesem Jahressteuergesetz 1996 geht: Herr Lafontaine will seinen maroden Landeshaushalt auf Kosten des Bundes sanieren. ({8}) Den Begriff Ökosteuer verwendet er nur, um jetzt den Bürger abzuzocken. Wir lassen uns aber nicht in Steuererhöhungen hineintreiben. ({9}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die F.D.P. hat maßgeblich an dem vom Deutschen Bundestag beschlossenen Jahressteuergesetz 1996 mitgewirkt und steht zu diesem Gesetz. Wir wollen, daß die Bürger nach den Steuererhöhungen der vergangenen Jahre nun erstmalig deutlich entlastet werden. Ohne das Jahressteuergesetz mit den von uns vorgesehenen Entlastungen in Höhe von 22 Milliarden DM würden die Bürger im nächsten Jahr nach den letzten Steuerschätzungen allein an Lohn- und Einkommensteuer 28 Milliarden DM mehr zu zahlen haben. Dies wollen wir nicht. Wir wollen die Entlastung des Bürgers. Und hierbei ist es gut, wenn die öffentliche Hand mit knappen Kassen wirtschaften muß. Wenn alle Bürger haushalten müssen, dann gilt das für den Staat ebenso; denn die Bürger haben ihr Geld selbst erarbeitet. Der Staat finanziert sich aber dadurch, daß er die Bürger belastet, ihnen etwas wegnimmt. ({10}) Die Ausgaben des Staates sind zu hoch, und deshalb ist auch die Steuerbelastung der Bürger zu hoch. Am 2. Juni 1995 hatte ich hier für die F.D.P. erklärt, daß wir sparen wollen und zum Sparen bereit sind. ({11}) Insofern begrüßen wir auch, daß diese Bundesregierung einen Haushaltsentwurf vorgelegt hat, der erstmalig ein Sinken der Staatsausgaben vorsieht. ({12}) Dies halten wir für den richtigen Weg, und deshalb sind wir auch der Auffassung, daß dieser richtige Weg nicht nur vom Bund, sondern auch von den anderen öffentlichen Körperschaften, also von den Ländern und den Kommunen, zu gehen ist. Wenn jetzt seitens der SPD die Einführung einer Stromsteuer gefordert wird, so dient dieses genau dem gegenteiligen Zweck, nämlich nicht zu sparen, sondern weiter beim Bürger abzukassieren. Das wollen wir nicht. ({13}) Wenn eine neue Steuer eingeführt wird, wäre dies für die öffentliche Hand der einfachste Weg, sich zu finanzieren. Aber es ist der falsche Weg, und die Bürger haben die Nase voll von Steuererhöhungen. Sie wollen Steuersenkungen. Das wollen auch wir. ({14}) Wenn wir mehr Elemente einer direkten unmittelbaren Demokratie in der Finanzverfassung unseres Landes hätten und die Bürger in einer Volksentscheidung darüber abzustimmen hätten, ob es Steuererhöhungen oder einen Sparzwang der öffentlichen Hand geben sollte: Die Steuererhöher würden keine Mehrheit bekommen. Das wissen wir alle. Aber warum kümmern sich nicht alle darum? Warum ziehen nicht alle daraus die richtigen Konsequenzen? Die Freiheit der Bürger in unserem Land ist dadurch bedroht, daß der Staat viel zu hohe Steuern erhebt. Nach Auffassung der F.D.P. soll der leistende Bürger mehr von dem von ihm erarbeiteten Geld behalten dürfen, als es derzeit geschieht. Die Steuer- und Abgabenlast muß runter! ({15}) Ich möchte an dieser Stelle Heinz Heck zitieren, der in der „Welt" vom 12. Juli 1995 ausführte: Allein die F.D.P. hat in der Koalition bisher den Verzicht auf eine Ersatzsteuer für den Kohlepfennig durchgesetzt. Gäbe es die Partei nicht, hätte man sie dafür gründen müssen. ({16}) Recht hat er. Aber es ist gut, daß es uns jetzt schon gibt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wir werden auch weiter unbeirrt diesen Weg verfolgen. ({17}) Ist nicht ein guter Teil der Staats- und Politikverdrossenheit in unserem Lande darauf zurückzuführen, daß die Bürger den Eindruck haben, sie müßten haushalten und den Gürtel enger schnallen, aber beim Staat werde nur davon geredet und nicht entsprechend gehandelt? Auch wenn man mit Sparvorschlägen immer Interessengruppen trifft: Muß diesen immer nachgegeben werden? Ist es nicht gerade in schwierigen Zeiten erforderlich, die Staatsausgaben zu begrenzen und dadurch Leistungsanreize für die Gesellschaft zu schaffen? Glaubt denn ernsthaft jemand daran, daß wir die Arbeitslosigkeit durch mehr und nicht durch weniger Staat in den Griff bekommen können? Glaubt denn ernsthaft jemand daran, daß die öffentliche Hand in einer Zeit, in der sich alles verändert, sich überhaupt nicht verändern muß? Wir müssen den Staat reformieren. Wir müssen viel mehr privatisieren. Wir müssen öffentliche Aufgaben in Konkurrenz zu privaten Aufgaben stellen. ({18}) Leistung und Leistungsanreize dürfen nicht auf die private Wirtschaft begrenzt bleiben. Leistung und Leistungsanreize müssen viel stärker als bisher im öffentlichen Bereich gelten. ({19}) Wir wollen verkrustete Strukturen aufbrechen. Wir wollen nicht das strukturkonservative Denken der SPD. Wir wollen sinnvoll verändern. Ist es nicht ein enormer Erfolg, wenn durch das Jahressteuergesetz 1996 im Bereich des Kinderleistungsausgleichs durch eine Neuordnung allein des Verfahrens der Auszahlung mehr als 600 Millionen DM pro Jahr eingespart werden können? ({20})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Thiele, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Thiele, könnten Sie diesem Hause einmal erklären, wer Sie hindert, all das, was Sie hier vorgetragen haben, in der Regierung umzusetzen? ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heistermann, ich gehe davon aus, daß Sie meine Rede verfolgt und dabei festgestellt haben, daß wir die Bürger entlasten wollen. Das SPD-Präsidium hat doch erklärt, die Entlastung der Bürger darf nicht 22 Milliarden DM, sondern nur 10 bis 12 Milliarden DM betragen. Frau Matthäus-Maier, gehen Sie doch nicht so abwertend mit Ihrem eigenen Präsidium um! ({0}) Nehmen Sie doch wenigstens noch diesen Teil Ihrer Partei ernst, wenn er sich schon einmal zu einer Haltung durchgerungen hat! Diese Reformen müssen angegangen werden; wir wollen dies tun. ({1}) Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren: Dieses Gesetz ist so wichtig, daß es schleunigst verabschiedet werden muß. Lassen Sie uns das Einleiten des neuen Vermittlungsverfahrens nicht davon abhängig machen, ob der eine oder andere, mag es auch ein Verhandlungsführer sein, im Urlaub ist. ({2}) Ich zitiere hier einmal die „Süddeutsche Zeitung" vom heutigen Tage: Tatsache ist aber, daß die Opposition unter Hinweis auf den vierwöchigen Kanada-Urlaub ihres Verhandlungsführers Oskar Lafontaine geradezu provozierend deutlich macht, wie wenig sie an einem beschleunigten Gesetzgebungsverfahren während der Sommerpause interessiert ist. Wenn es aber stimmt, daß die SPD ohne Zustimmung ihres Saarbrücker Troikisten steuerpolitisch lahmgelegt ist, ({3}) sie diesen aber dennoch nicht in der Ruhe der kanadischen Wildnis stören möchte, dann wird der Koalition das überzeugendste Argument frei Haus geliefert. Denn wäre die Opposition tatsächlich um das Wohl von Geringverdienern und Familien so besorgt, wie sie es ständig betont, dann würde sie ab sofort - mit oder ohne Oskar - auf Biegen und Brechen für ihre Positionen weiterkämpfen. Indem sie darauf verzichtet, demonstriert sie, daß bei ihr nicht die Sache, sondern das machtpolitische Kalkül im Vordergrund steht. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren auch von der Opposition, geben Sie ein gutes Zeichen. ({5}) - Ich habe erklärt, Frau Fuchs, warum dieses Gesetz nicht zustimmungsfähig ist. Es beinhaltet auch wesentliche Punkte der SPD überhaupt nicht. Zudem ist es ein unausgegorenes Ergebnis, das der Vermittlungsausschuß nächtens durchgezogen hat. Deshalb werden wir dem nicht zustimmen. ({6}) Wir fordern Sie auf, möglichst schnell wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und nicht die Urlaubszeit abzuwarten. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Jetzt spricht der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehrere Rednerinnen und Redner haben schon darauf hingewiesen, daß es in der Bevölkerung relativ wenig Verständnis für eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages gibt, weil eine solche Sitzung bekanntlich mit Kosten verbunden ist. Man hätte natürlich schon diese Kosten verwenden können, um einem Teil der Forderungen nach Erhöhung des Kindergeldes nachzukommen. Das wäre jedenfalls sinnvoller gewesen als die heutige Debatte. ({0}) Erstens. Zum Grundfreibetrag: Das Problem besteht darin, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schon seit 1992 vorliegt. Seit diesem Zeitpunkt wissen wir, daß es Verfassungsgebot ist, das ExiDr. Gregor Gysi stenzminimum der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland nicht auch noch durch Steuern zu belasten. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Von 1992 bis 1995 ist eine solche Regelung nicht zustande gekommen. Deshalb muß jetzt eine Sondersitzung stattfinden. Das gesamte Parlament muß selbstkritisch zur Kenntnis nehmen, daß es uns bisher nicht gelungen ist, diese Frage wirklich umfassend gesetzlich zu regeln. Zweitens. Sie werden sich wundern, aber ich muß Ihnen sagen, daß auch wir dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses nicht zustimmen. Das ist eine merkwürdige Konstellation, weil wir plötzlich mit der rechten Seite des Hauses stimmen werden, wenn auch aus gegenteiligen Gründen. Dies muß und will ich Ihnen gerne erklären: Sie haben nämlich, wie ich meine, völlig zu Recht die drei Streitpunkte benannt, die es im Zusammenhang mit der vorgesehenen gesetzlichen Regelung gibt: die Frage des Kindergeldes, die Frage des Existenzminimums und natürlich die Frage der Finanzierung. Ich will mit dem Existenzminimum beginnen. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts befindet sich der Hinweis, daß das Existenzminimum für das Jahr 1992 je nach Berechnungsart entweder bei 12 000 DM oder bei 14 000 DM im Jahr liegt. Mit dieser Begründung hat die SPD noch im Entschließungsantrag vom 31. Mai 1995 festgestellt, daß für 1996 jeder Betrag, der unter 13 000 DM liegt, grundgesetzwidrig ist, weil er das Existenzminimum von steuerlichen Belastungen nicht freistellen würde. Jetzt hat die SPD zusammen mit den Grünen im Vermittlungsausschuß mehrheitlich beschlossen, es 1996 bei 12 096 DM zu belassen, d. h. bei einem Betrag, der nach Ihrem eigenen Entschließungsantrag vom 31. Mai 1995 unterhalb des Existenzminimums liegt und damit grundgesetzwidrig ist. Sie können doch nicht im Ernst erwarten, daß wir einer verfassungswidrigen Beschlußvorlage zustimmen, ({1}) wo doch jeder und jedem klar ist, daß man mit 12 000 DM gar nicht real das Existenzminimum in dieser Bundesrepublik Deutschland bestreiten kann. Das heißt, die von Ihnen ursprünglich aufgestellte Forderung von 13 000 DM hätte wirklich die unterste Grenze dessen markiert, dem man hätte zustimmen können. Einer Reduzierung auf 12 096 DM kann man nicht zustimmen. Damit haben Sie ja praktisch die Regierungsvorstellungen übernommen. Ähnlich verhält es sich beim Kindergeld. Sie haben mindestens 250 DM gefordert und wollen sich jetzt mit 220 DM ab 1996 zufriedengeben, und das ausschließlich mit Ihren Stimmen und der einen Stimme von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Das ist uns unerklärlich, weil nämlich das Existenzminimum für Kinder so berechnet worden ist - auch von der Bundesregierung, und zwar schon 1992 -, daß 250 DM wiederum das Minimum wären, wenn man die Existenz eines Kindes wirklich sichern will. In dem Zusammenhang - da stimme ich Ihnen natürlich zu - ist es wirklich skandalös, daß durch Steuerfreibeträge für Spitzenverdiener eine Freistellung von monatlich 277 DM erfolgt, während die sozial Schwächsten in dieser Gesellschaft nach den Vorstellungen der Regierungskoalition nur 200 DM erhalten sollen. Also ist Ihnen das Kind armer Leute 77 DM weniger wert als das reicher Leute. Das müssen Sie draußen erst einmal rechtfertigen, und das haben Sie bisher nicht gerechtfertigt. ({2}) Im übrigen erinnere ich mich in dem Zusammenhang sehr gern an die Debatte zum § 218, die wir hier vor kurzem hatten. Es waren doch immer wieder die Vertreter der Regierungskoalition, insbesondere der CDU/CSU, die sich hingestellt und lange moralisch darüber diskutiert haben, daß man das ungeborene Leben schützen muß. Aber wenn es dann um das geborene Leben geht, hört Ihre Verantwortung auf. Deshalb behaupte ich, daß das eine heuchlerische Diskussion ist. ({3}) Ich will auch etwas zum Finanzausgleichsmodell sagen. Wir haben eine Enquete-Kommission zur Finanzierung der Kommunen vorgeschlagen, weil wir nämlich folgendes Problem sehen. Ich frage: Was wird denn letztlich dabei herauskommen? - Der Bundestag in seiner Mehrheit vertritt die Interessen des Bundes, der Bundesrat in seiner Mehrheit die Interessen der Länder. Am Ende wird eine Belastung der Kommunen herauskommen, weil sie keine eigene Interessenvertretung in Bonn haben. Deshalb ist es wirklich erforderlich, einen anderen Finanzausgleich festzulegen und sich darüber grundlegende Gedanken zu machen. Das ist angezeigter, als jedesmal, bei jedem einzelnen Steuer- oder Sozialgesetz, eine Verteilungsdiskussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen von vorn zu beginnen. Lassen Sie uns doch einmal eine gerechte generelle Lösung suchen; anders werden wir nicht ernsthaft weiterkommen. ({4}) Nun ist es ja so, daß hier immer geklagt wird, daß insbesondere durch die deutsche Einheit die Steuerlast so angestiegen ist und daß man die Menschen endlich wieder von den Steuern entlasten müßte. Aber wen meinen Sie denn? Von 1981 bis 1991 und danach sind doch die Unterschiede zwischen Arm und Reich in dieser Bundesrepublik Deutschland permanent größer geworden. Wie sieht denn das real aus? In diesen zehn Jahren haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Nettolohnerhöhungen von 36 % erhalten, die Unternehmerinnen und Unternehmer Einkommenssteigerungen von 147 %. Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger ist binnen 15 Jahren um 150 % auf 2,5 Millionen angestiegen. 700 000 Menschen in der Bundesrepublik haben keine eigene Wohnung, und davon sind 180 000 völlig obdachlos. Wo werden denn die Probleme dieser Menschen in diesem Jahressteuergesetz gelöst oder wenigstens Ansätze dafür aufgezeigt? Ein Viertel der westdeutschen Haushalte - das ist ohne Berücksichtigung der ostdeutschen - hat kein Sparguthaben oder eines von unter 10 000 DM, und sie besitzen insgesamt nur 1 % des Geldvermögens der Bundesrepublik Deutschland. 5 % der Haushalte, die Einkommensspitzenhaushalte, besitzen 31 % des Sparvermögens der Bundesrepublik Deutschland; das sind 1 240 Milliarden DM. Das ist die soziale Einteilung, die Sie in dieser Gesellschaft vorgenommen haben und die Sie ständig verschärfen! Übrigens in diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den Ostdeutschen: Sie besitzen, obwohl sie ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, nur 6 % des Vermögens. Es gibt keine Anzeichen dafür, wie das korrigiert und geändert werden soll. Im Durchschnitt haben Ostdeutsche nur ein Drittel des Sparvermögens von Westdeutschen. Vorschläge zur Änderung seitens der Regierungskoalition, allerdings auch seitens der SPD, sind nicht zu sehen. In den letzten Jahren sind die Steuern für Unternehmen permanent gesenkt, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer permanent erhöht worden, angeblich um Arbeitsplätze zu schaffen. In Wirklichkeit wurden Arbeitsplätze nur abgebaut. Was hat die Steuerreform 1990 gebracht? Das obere Fünftel der Einkommensbezieher der Bundesrepublik Deutschland erhielt 60 % der Steuersenkungen und das untere Fünftel 1 % der Steuersenkungen. Das heißt, Sie haben auch nach 1990 mit Ihrer Politik weitergemacht. Sie haben die sowieso schon Vermögenden, die Besserverdienenden und die Reichen in dieser Gesellschaft permanent entlastet und zusätzlich gefördert. Diejenigen, die wirklich auf Sozialleistungen angewiesen sind, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade in den unteren Einkommensklassen haben Sie immer zusätzlich belastet. Was haben Sie in den letzten Jahren gekürzt: die Arbeitslosenhilfe, die Arbeitslosenunterstützung, die Besoldung für Wehrpflichtige, die Geldleistungen für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger und für Flüchtlinge, die Geldleistungen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und für Umschülerinnen und Umschüler. Immer am untersten Rand der Gesellschaft sparen Sie. Bei den wirklich Reichen und Vermögenden in dieser Gesellschaft packen Sie ständig drauf. Das ist die Politik dieser Regierungskoalition. Aber die wird durch den Vermittlungsvorschlag des Vermittlungsausschusses nicht wirklich repariert. Deshalb können wir nicht zustimmen. Aber es gäbe Möglichkeiten, eine sozial gerechtere Gesellschaft herzustellen und sie auch zu finanzieren. Wer hindert Sie denn eigentlich daran, den Staat und die Gesellschaft wirklich zu entbürokratisieren? Wer hindert Sie denn daran, das Zahlen von Schmiergeldern endlich steuerpflichtig zu machen? Wer hindert Sie denn daran, Werbekosten nicht länger von Steuern absetzbar zu machen? Wer hindert Sie denn daran, eine progressive Vermögensteuer für die wirklich Vermögenden einzuführen? Wer hindert Sie denn daran, den früheren Einkommensteuerspitzensatz wieder einzuführen? Den haben Sie gesenkt. Wer hindert Sie denn an einer ökologischen Steuerreform, und wer hindert Sie daran, Spekulationsgewinne abzuschöpfen? Sie wissen doch ganz genau, daß es folgende Möglichkeit in der Bundesrepublik gibt: Sie erwerben z. B. ein Grundstück für, sagen wir einmal, 1 Million DM. Sie investieren gar nichts und warten zwei Jahre ab. Wenn Sie zwei Jahre abgewartet haben, können Sie das Grundstück für zwei Millionen DM verkaufen. Sie haben einen Reingewinn von einer Million DM und bezahlen dafür keinen Pfennig Steuern. Das ist die „Steuergerechtigkeit" in der Bundesrepublik Deutschland. Überhaupt sind alle Börsengeschäfte, alle Spekulationsgeschäfte und die Finanzgeschäfte überwiegend steuerfrei. Nur die Wirtschaftstätigkeit wird von Ihnen bestraft und soziale Abhängigkeit obendrein.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Gysi, Ihre Redezeit ist beendet.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich bin sofort fertig. Ich sage deshalb als letztes, daß Sie außerdem noch sehr viel Geld einsparen könnten, wenn Sie nicht bei jeder Sozialhilfeempfängerin und jedem Sozialhilfeempfänger versuchen, herauszubekommen, ob er zehn DM zuviel hat, sondern sich einmal ernsthaft um die 120 Milliarden DM Steuern kümmern würden, die in der Bundesrepublik Deutschland jährlich hinterzogen werden. Wenn wir uns dann noch solche Sitzungen sparen wie diese hier heute, dann hätten wir das genügende Geld für ein wirklich nötiges Kindergeld und für die wirkliche Sicherung des Existenzminimums. Deshalb unser Nein zu Ihren Vorschlägen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster ergreift jetzt der Kollege Hans-Peter Repnik das Wort.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Matthäus-Maier, für mich ist es ein unglaublicher Vorgang in diesen Wochen, mit welcher Chuzpe Sie sich verhalten in Interviews, in Reden am heutigen Tage und auch in Ihrem Beifall, als Herr Finanzminister Waigel davon gesprochen hat, daß diese Sondersitzung so unnötig wie ein Kropf sei. ({0}) Meine sehr verehrte Kollegin Matthäus-Maier, es wird Ihnen mit noch so viel Rabulistik in diesen Tagen und Wochen nicht gelingen, die tatsächliche Verantwortung für das Scheitern Ihrer Vorstellungen auch am heutigen Tage zu verwischen. Deshalb werde ich mich mehr, als es der Inhalt Ihrer Rede eigentlich verdient hätte, mit Ihren Ausführungen, gerade auch denen von heute, befassen. ({1}) Wir werden nämlich nicht zulassen, daß Sie vor laufenden Fernsehkameras die Bürger mit Ihren Ausführungen einmal mehr hinters Licht führen. ({2}) - Ich werde dies Punkt für Punkt begründen. ({3}) Geben Sie es doch ganz einfach zu: Wir, diese Koalition, haben vor, die Bürger zum 1. Januar 1996 um mehr als 22 Milliarden DM zu entlasten. Sie kommen mit Ihrem Vorschlag, der heute zur Abstimmung steht, nur hin, wenn Sie Steuern erhöhen. Wir senken Steuern, Sie erhöhen Steuern. Dies ist die einfache Wahrheit. ({4}) Nachdem Sie so aufgetreten sind, wie es hier der Fall war - ich hätte das gar nicht für möglich gehalten -, kann ich nur sagen: Ihre Reden, Ihre Interviews und Ihre Vorschläge stehen in einem diametralen Widerspruch zu Ihrem Beitrag im Verfahren der Lösungssuche. Ich wünschte mir mehr Konstruktives, ({5}) als Sie es in diesen Wochen gezeigt haben. Ihr Vorschlag, so wie er heute auf dem Tisch liegt - auch darauf hat der Finanzminister hingewiesen -, erzeugt eine Deckungslücke von mehr als 10 Milliarden DM in einem Jahr. ({6}) Sie haben darauf keine Antwort gegeben. ({7}) Sie satteln drauf, auch heute wieder, während die Ministerpräsidenten Ihrer Partei darauf hinweisen, daß sie nicht mehr als 7 Milliarden DM verkraften können. Werden Sie sich einmal einig: Wer hat das Sagen, Scharping, Matthäus-Maier oder Lafontaine? Bis heute sind Sie uns auch darauf eine Antwort schuldig geblieben. ({8}) Was Sie uns heute hier vorgeführt haben, ist noch mieser als ein mieser Taschenspielertrick. Wir werden darauf nicht hereinfallen. ({9}) - Ich antworte nur auf Ihre Anwürfe, Frau MatthäusMaier. Herr Fraktionsvorsitzender Scharping, Sie fahren genau in dem Stil fort, den Frau Matthäus-Maier heute gepflegt hat, nämlich die Bürger hinters Licht zu führen. ({10}) Mir liegt der Entwurf einer Anzeige vor, die Sie offensichtlich morgen bundesweit schalten. Er war heute Gegenstand Ihrer Fraktionssitzung. Hier wird den Bürgern einmal mehr versprochen, was sie bekämen, wenn man Ihren Vorschlag annimmt, ({11}) und es wird beklagt, was wir nicht zu geben bereit seien. ({12}) Herr Kollege Scharping, zur Wahrheit gehört auch, dem Bürger zu sagen, wie alle diese Versprechungen finanziert werden sollen. ({13}) - Ich werde Ihnen die Antwort geben, ich habe sorgfältig hingehört. Wenn Sie all dies, was Gegenstand dieses Gesetzentwurfes ist, umsetzen wollen, dann haben Sie nur die eine Möglichkeit - sie wurde in den Verhandlungen wiederholt angedeutet -, nämlich die Steuern zu erhöhen: Entweder Sie schaffen eine Stromsteuer, oder Sie erhöhen die Mineralölsteuer. Beide Steuerarten treffen die von Ihnen angeblich so sehr geschützten Bürgerinnen und Bürger, die Familien und den Kleinverdiener, unverhältnismäßig. ({14}) Ich bin auch deshalb so enttäuscht, und dieser Vorgang ist um so ärgerlicher, weil eine Einigung doch zum Greifen nahe war. ({15}) - Ich werde dies begründen. - Deshalb ist das Verhalten der SPD im Vermittlungsausschuß nicht nur falsch; es ist unverantwortlich. Und es ist zynisch, SPD-interne Konflikte auf dem Rücken der Bürger auszutragen. ({16}) Sie haben ein unnötiges Ende des Vermittlungsverfahrens erzwungen. Wir hätten die ganze Woche verhandeln können, heute hätten wir vielleicht ein Ergebnis. ({17}) An uns hat es nicht gelegen, sondern an Ihrem Unwillen und an der Tatsache, daß Ihr Verhandlungsführer den Urlaub dem Verhandeln vorgezogen hat. ({18}) Ausschließlich Ihrem Verhalten am vergangenen Freitag mit diesem erzwungenen Abbrechen des Verfahrens ist die Verunsicherung der Bürger zuzuschreiben. Sie gefährden Steuerentlastungen ab 1. Januar 1996 von 22 Milliarden DM. Das haben Sie und nicht Theo Waigel - er möchte sie den Bürgern geben - zu verantworten, niemand anders. ({19}) Sie tragen eine unverantwortliche Verunsicherung in die Finanzverwaltung hinein, weil Sie wissen, daß sie Vorlaufzeiten benötigt, um all die Tabellen umzusetzen. Auch dies haben Sie mit Fleiß - so möchte ich fast sagen - gemacht. ({20}) Sie haben diese Bundestagssondersitzung provoziert, die Sie uns und dem Steuerzahler hätten ersparen können. ({21}) Frau Matthäus-Maier, Sie haben vorher die Frage an uns gestellt, warum wir diese Sondersitzung beantragt haben. ({22}) Aus einem einzigen Grund: weil wir uns im Gegensatz zu Ihnen der Verfassung unterwerfen und beachten, daß das Verfassungsgericht uns aufgetragen hat, bis zum 1. Januar 1996 die Frage des Existenzminimums zu klären. ({23}) Wenn wir nicht sofort wieder in die Verhandlungen gehen, ist dieser Termin gefährdet. ({24}) Wir wollen dem Bürger Klarheit über seine Steuerentlastungen geben - schnell, nicht erst irgendwann im November. Wir wollen der Steuerverwaltung die Chance geben, sich darauf einzustellen. Deshalb brauchen wir heute diese Sitzung. ({25}) Sie sind heute auf alte Maximalforderungen zurückgefallen. ({26}) Lafontaine, Ihr Verhandlungsführer, hat den Partei- und Fraktionsvorsitzenden, die gesamte Fraktion am laufenden Band brüskiert. Sie sitzen da; Sie schweigen; Sie kommentieren das noch nicht einmal. ({27}) Auch das führt zu dieser Situation. Der niedersächsische Ministerpräsident Schröder hat sich in wesentlichen Punkten der Meinung dieser Koalition angeschlossen. ({28}) Klugerweise ist er der entscheidenden Sitzung ferngeblieben, weil er dies nicht mitverantworten und nicht mittragen wollte. ({29}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben am vergangenen Freitag bis zum Schluß sämtliche Türen offengehalten. Der Bundesfinanzminister hat Angebote gemacht, auf die selbst der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, Schleußer, gern eingegangen wäre, wenn er das Mandat gehabt hätte. Man hat ihm dieses Mandat nicht gegeben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hatten ein Verfahren im Vermittlungsausschuß. Was heißt eigentlich Vermittlungsausschuß? Der Vermittlungsausschuß soll vermitteln. Er hat den Auftrag, die Pflicht, ergebnisorientiert zu arbeiten. Sie haben mit Ihrem Verhalten die Aufgabe des Vermittlungsausschusses geradezu pervertiert. Sie haben das Verfassungsorgan Bundesrat und den Vermittlungsausschuß zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht. ({30}) Dies spricht sich übrigens langsam herum - auch in Kommentaren. Ich möchte mit Erlaubnis der Frau Präsidentin noch einmal die heutige „Süddeutsche Zeitung" zitieren. Ich glaube, es lohnt sich, das nachzulesen. Die Überschrift des Artikels lautet: „Und Oskar rastet in Kanada". Ich möchte nur die letzten beiden Sätze zitieren: Denn wäre die Opposition tatsächlich um das Wohl von Geringverdienern und Familien so besorgt, wie sie es ständig betont, dann würde sie ab sofort - mit oder ohne Oskar - auf Biegen und Brechen für ihre Positionen weiterkämpfen. Indem sie darauf verzichtet, demonstriert sie, daß bei ihr nicht die Sache, sondern das machtpolitische Kalkül im Vordergrund steht. Solche und ähnliche Kommentare, Herr Kollege Scharping, können Sie auch mit noch so heftigem Klatschen nicht aus der Welt schaffen. Dies wird Sie treffen. ({31}) Ich betone noch einmal und unterstreiche das, was der Finanzminister hier vorgestellt hat: Das Konzept der Koalition ist schlüssig. ({32}) Wir wollen 22,4 Milliarden DM Nettoentlastung. Jeder, der dieses Konzept angeschaut hat - Frau Matthäus-Maier weiß es besser, als sie es hier dargestellt hat -, weiß, daß mit diesem Konzept gerade untere und mittlere Einkommensschichten in besonderem Maße bedacht werden. ({33}) Was ich angesichts der Auseinandersetzung mit den Ländern für genauso wichtig halte, ist: Wir haben das Leistungsverhältnis im Rahmen des Familienleistungsausgleichs zwischen Bund und Ländern eindeutig geregelt. Frau Matthäus-Maier, wir sind Ihnen entgegengekommen. Sie können uns hier nicht in eine Sündenbockrolle hineinreden. Wir sind beim Existenzminimum so gut wie zusammengekommen. Wir waren beim Kindergeld ganz nahe zusammen. Wir haben den Schlüssel für die Festschreibung der Anteile von Bund und Ländern garantiert: 74 % zu 26 %. Dies haben doch die Finanzminister der Länder ebenfalls goutiert. Ich gehe davon aus, Herr Kollege Kühbacher wird nachher dazu etwas sagen. Der Finanzminister war bereit, diesen Schlüssel sogar in das Finanzausgleichsgesetz hineinzunehmen, um ihn damit gesetzlich festzuschreiben. Wir haben Ihnen angeboten, den Umsatzsteueranteil ohne irgendeine Revisionsklausel um 5 Prozentpunkte anzuheben. Wir haben Ihnen in den Verhandlungen vorgerechnet, daß durch eine Anhebung des Umsatzsteueranteils um 5 Prozentpunkte auch künftige Anpassungen beim Existenzminimum genauso wie Anpassungen beim Kindergeld durch die dynamisch wachsende Umsatzsteuer für die Länder gewährleistet werden. Die Länder und die Gemeinden hätten damit nur einen Gewinn erzielen können. Der Finanzminister ging weiter: Er hat angeboten, daß wir den Gemeinden zusätzlich 1 % der Einkommensteuer einräumen, um die Gemeindeausfälle damit zu kompensieren. Sie sind auf diesen Vorschlag gar nicht eingegangen. Das Schicksal der Kommunen in diesem Zusammenhang hat Sie gar nicht interessiert. ({34}) Wir waren uns auch hinsichtlich des Subventionsabbaus weitgehend einig. Wie sieht dieses Vermittlungsergebnis heute aus? Der Finanzminister hat schon darauf hingewiesen: Wir haben eine unglaubliche Defiziterhöhung des Bundes. Frau Matthäus-Maier, Theo Waigel hat nichts zurückzunehmen. ({35}) Sie haben ihn aufgefordert, etwas zurückzunehmen. Wir haben durchgerechnet, was Ihr Gesetzentwurf bedeuten würde. Ich spreche nicht von dem, was Sie in Interviews oder sonstwo zum Besten geben. Ich beziehe mich ausschließlich auf Ihren Gesetzentwurf, der heute hier zur Beratung und zur Abstimmung steht. Nach diesem Gesetzentwurf sieht es wie folgt aus: Wenn er jetzt Wirklichkeit würde, hätten wir damit für das Jahr 1996, für das Entstehungsjahr, im Vergleich zu unserem Gesetzentwurf ein um 10,98 Milliarden DM höheres Defizit des Bundes. Wenn ich die Beträge für die Zeit von 1996 bis 1999 zusammenrechne, dann kommen wir auf der Grundlage Ihres Entwurfs zu einem um 47,2 Milliarden DM höheren Defizit. ({36}) Dies ist doch ein unverantwortliches Handeln. Auch deshalb müssen wir den Entwurf ablehnen. ({37}) Sie haben das Thema der Bereitschaft der Länder zum Ausgleich angesprochen. Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, der Bundesfinanzminister hat in den Verhandlungen angeboten, den gesamten Ausgleich nicht nur vorzunehmen, sondern ihn auch gesetzlich festzuschreiben. Wenn man weiß, daß alle Finanzgesetze im Bundesrat zustimmungspflichtig sind, dann weiß man auch, daß die Länder den Hebel in der Hand haben und entscheiden können, ob solch ein Gesetz geändert wird oder nicht. Das heißt, man hat sich mit dieser gesetzlichen Garantie in die Hand der Länder begeben. Was haben Sie jetzt gemacht? In Ihrem Gesetzentwurf steht, daß der Ausgleich durch einen um 2 % höheren Umsatzsteueranteil erfolgen soll. Wir haben aber ausgerechnet, daß der Ausgleich 5 Prozentpunkte bei der Umsatzsteuer ausmacht. Das war das Angebot des Finanzministers. Sie bieten 2 %, und den Rest soll wieder der Bund finanzieren. ({38}) Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Auch deshalb ist dieser Vorschlag unseriös. ({39}) Ich möchte gerne noch eine Anmerkung zum Thema Ehegattensplitting machen, die über das hinausgeht, was der Finanzminister gesagt hat. Wir wissen doch, daß das Ehegattensplitting keine beliebig veränderbare Steuervergünstigung ist, wie das von der SPD immer wieder dargestellt wird. Das Ehegattensplitting steht unter dem Schutzgebot des Art. 6. Was Sie zu diesem Thema heute hier gesagt haben, war purer Klassenkampf. Sie sollten sich schämen, denn Sie wissen es doch besser, Frau MatthäusMaier. ({40}) Sie wissen doch ganz genau, daß das Ehegattensplitting insbesondere dort Wirkung entfaltet, wo ein Ehegatte auf außerhäusliche Arbeit verzichtet, z. B. wegen Kindererziehung, Betreuung von Enkelkindern oder von pflegebedürftigen Angehörigen. Denen wollen Sie jetzt diesen Vorteil nehmen. Das kann doch kein ehrlicher Vorschlag sein. ({41}) Kollege Thiele hat darauf hingewiesen: Wir machen uns derzeit Gedanken darüber, den Standort Deutschland zu verbessern. Das geht nur, wenn wir die Staatsquote abbauen. Das geht nur, wenn wir die Bürger auf Dauer steuerlich entlasten. Sie haben den Eindruck vermittelt, das, was Sie vorgeschlagen haben, sei ein Einstieg in die ökologische Steuerreform. Das ist alles andere als ein Einstieg in die ökologische Steuerreform; denn wenn sie wirken soll, wenn wir der Wirtschaft gerecht werden wollen und damit Arbeitsplätze sichern und die Umweltherausforderungen ebenfalls annehmen wollen, dann bedeutet das, daß eine ökologische Steuerreform, wenn sie kommt, nur aufkommensneutral funktionieren kann. Sie wollen das Aufkommen aus einer Stromsteuer oder einer Erhöhung der Mineralölsteuer einseitig zur Finanzierung von Sozialausgaben einsetzen. ({42}) - Kindergeld. ({43}) - Ja, das gehört zum sozialen Bereich. Herr Kollege Scharping, wenn wir den Standort Deutschland nicht gefährden wollen, wenn wir Arbeitsplätze sichern wollen, dann dürfen wir nicht neue Steuern einführen, sondern dann müssen wir vorhandene Steuern abbauen. ({44}) Wenn sie eine ökologische Wirkung haben soll, dann müssen wir ökologisch bedingte Steuern auf der anderen Seite wieder zurückgeben. Nur dann macht das ganze Verfahren einen Sinn. Ihr Verfahren ist auf jeden Fall kontraproduktiv. Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus all diesen Gründen sind wir nicht bereit, diesem Gesetz zuzustimmen. Wir tragen Steuererhöhungen nicht mit, und wir werden - stellen Sie sich bitte darauf ein - auch in einem weiteren Vermittlungsverfahren, das vor uns liegt, diesen Weg nicht mitbeschreiten. ({45}) Wir bitten Sie herzlich, Herr Kollege Struck: Geben Sie Ihre Blockadepolitik auf, ({46}) suchen Sie mit uns eine gemeinsame Lösung zum Wohle der Bürger, eine Lösung insbesondere zum Wohle der Familie. ({47}) Wir sind dazu bereit, aber wir reichen Ihnen nicht die Hand zu höherer Verschuldung und zu höheren Steuern. Deshalb lehnen wir ab und fordern Sie auf, so schnell als möglich wieder an den Tisch zu kommen, um gemeinsam eine konstruktive Lösung im Sinne und zum Wohle der Bürger zu finden. ({48})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der brandenburgische Minister der Finanzen, Klaus-Dieter Kühbacher. ({0}) Minister Klaus-Dieter Kühbacher ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit großem Erstaunen höre ich, daß Sie sich darüber beklagen, daß es eine Sondersitzung des Bundestages zum Jahressteuergesetz 1996 gibt. ({2}) - Sie haben sich hier mehrfach beklagt, und das ist beklatscht worden, Herr Abgeordneter Schäuble. Das Ergebnis heute hätte nur in Ihrem Sinne stimmen müssen, dann wäre das eine gute Sondersitzung gewesen. So kann es doch nicht gehen. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Minister Klaus-Dieter Kühbacher ({0}): Wir haben ein Vermittlungsausschußergebnis, und dieses Ergebnis gefällt Ihnen nicht. Das können Sie beklagen. Es hätte so oder so einer Sondersitzung des Bundestages bedurft. Erlauben Sie mir eine Spitze: Es ist Ihre Entscheidung gewesen, das Parlament in Urlaub zu schicken. Wenn man angefangene Arbeit liegenläßt und in Urlaub fährt, soll man dem Bürger nicht erzählen, daß es eine Schweinerei ist, wenn man die Arbeit zu Ende bringen muß. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister Kühbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäuble? ({0}) Minister Klaus-Dieter Kühbacher ({1}): Frau Präsidentin, darf ich im Zusammenhang weiter vortragen? ({2}) Minister Klaus-Dieter Kühbacher ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, allein das Rededuell zwischen dem Finanzminister und Frau Matthäus-Maier war eine sportliche Freude. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, warten wir, bis wieder Ruhe eingetreten ist. ({0}) Minister Klaus-Dieter Kühbacher ({1}): Ich freue mich ja, daß Sie im Urlaub Kraft getankt haben. Meine Damen und Herren, es war eine Freude, der sozial- und finanzpolitischen Auseinandersetzung zwischen dem Finanzminister und der finanzpolitischen Sprecherin der SPD, Frau Matthäus-Maier, zuzuhören. ({2}) Sehr geehrter lieber Finanzminister, man braucht auch einmal Glück. Mit diesem Steuergesetz haben Sie kein Glück. Sie haben heute zwei Tore geschossen; dazu gratuliere ich Ihnen. Aber den Dialog haben Sie mit 5 : 2 mit Pauken und Trompeten verloren. ({3}) Sie haben in Ihrer Rede angeboten, die Lastenaufteilung im Verhältnis von 74 % zu 26 % beim Familienleistungsausgleich endlich grundgesetzlich abzusichern. Das höre ich sehr gern. Ich hätte mir gewünscht, die gleiche Aussage hätte es auch in der fraglichen Nacht gegeben, dann wären wir heute mit einem Ergebnis aus dieser Sitzung hinausgegangen. ({4}) Sie, Herr Bundesfinanzminister, und mit Ihnen der Vorsitzende des Finanzausschusses haben sich gefreut, daß wir beim Abbau von Steuerprivilegien und bei der Steuervereinfachung einen Schritt aufeinander zugegangen sind. Da frage ich den Finanzausschußvorsitzenden: Wieso bedarf es eigentlich des vertraulichen Kämmerleins des Vermittlungsausschusses, wenn man sich über 4 Milliarden DM Steuersubventionsabbau einigt? Warum erledigen Sie diese Aufgabe nicht im Finanzausschuß des Bundestages? ({5}) Nun komme ich zu dem Thema, was Sie wollen und was Sie nicht wollen. Der Bundesrat, die Länderkammer, hat Ihnen zum Thema „Abbau von Steuerprivilegien" 77 Vorschläge gemacht. Sie haben im Vermittlungsverfahren erkennen lassen, daß Sie bei 16 dieser Vorschläge bereit wären, sie anzunehmen. Sie haben überhaupt nicht gelesen, was der Bundesrat dazu gesagt hat, denn Sie haben am 31. Mai dieses Jahres, während wir diese Liste drüben im Bundesrat vorgelegt und beraten haben, Ihre Beratungen hier bereits abgeschlossen. Sie wollen den Ländern überhaupt nicht zuhören und wundern sich, wenn es dann zu einem Vermittlungsverfahren kommt. ({6}) Wenn man den Bundeshaushalt mit großem Vergnügen liest und auch die Kabinettsergebnisse im Hinblick auf den Haushalt 1996 zur Kenntnis nimmt, dann stellt man fest, daß 1995 auf der Ausgabenseite für das Kindergeld Leistungen nach einem Bundesgesetz von 20 580 000 000 DM vorgesehen sind. Was haben Sie für 1996 vorgesehen? 875 000 000 DM! Wo sind denn die übrigen 20 Milliarden geblieben, die Sie bisher auf der Ausgabenseite des Bundes hatten? ({7}) Sie versuchen, lieber Herr Abgeordneter Thiele, diese 20 Milliarden DM den Ländern und Gemeinden aufzudrücken. - Lieber Herr Thiele, lassen Sie mich bitte einmal ausreden. Sie brauchen mich nicht durch Schreien aus dem Konzept bringen zu wollen. Sie sind doch viel intelligenter, als Sie tun. ({8}) Herr Thiele, Sie versuchen, die 20-Milliarden-DMZahllast des Bundes in 8,5 Milliarden Einnahmeverlust des Bundes, 8,5 Milliarden DM Einnahmeverlust der Länder und 3 Milliarden DM Einnahmeverlust der Gemeinden aufzuteilen. ({9}) Das ist eine feine Angelegenheit, wenn man Bundespolitik betreibt. Aber zu dem Zweck, daß man es nicht klaglos hinnehmen muß, sondern sich dagegen wehren kann, daß Gesetzgebungsakte ein Bundesleistungsgesetz leerlaufen lassen und daß den Ländern und den Gemeinden durch Einnahmeverzicht eine Zahlpflicht auferlegt wird, hat der Parlamentarische Rat den Bundesrat eingerichtet. ({10}) - Das Rechenexempel mit der Mehrwertsteuer - Herr Thiele, das wissen Sie so gut wie ich - basierte auf den Haushaltsausgaben des Jahres 1995, nicht auf der Basis der Erhöhungsbeträge für 1996. ({11}) 6 Milliarden DM sind dort nach wie vor im Streit. Ich nehme ernst, was der Bundesfinanzminister gesagt hat. Wir werden uns auf der Basis von 74 : 26 und einer grundgesetzlichen Absicherung einigen könMinister Klaus-Dieter Kühbacher ({12}) nen. Ich erwarte aber vom Bundesfinanzminister, daß der Ausgleich für den Ausfall der Gemeinden bei der Einkommensteuer ebenfalls grundgesetzlich abgesichert wird. ({13}) Die Gemeinden brauchen hier einen eigenen Anspruch, so wie sie einen eigenen Anspruch auf die Einkommensteuer haben. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man die Einkommensteuer leerlaufen läßt, dann können die Kommunen auch keine Einnahmen erzielen. Also braucht man einen Anspruch. ({14}) - Das ist die Frage, Herr Minister Waigel. Sie verschieben die Zahllast auf die Länderebene und sagen: Regelt ihr das einmal auf eurer Ebene. - Ich erwarte von Ihnen, daß Sie den Gemeinden das zurückgeben, was Sie ihnen hier im Bundestag per Beschluß weggenommen haben. ({15}) Meine Damen und Herren, ich habe, nachdem wir uns über einen Abbau von Steuerprivilegien in der Höhe von 4 Milliarden DM geeinigt haben, die herzliche Bitte: Sehen Sie sich die anderen 61 Vorschläge der Länder noch einmal an. Da ist noch eine Menge Masse drin. Wenn Sie hier Aussagen zum Kohlepfennig und zu dessen Abbau machen und sagen; es sei eine gute Entscheidung, daß dieser Kohlepfennig künftig nicht mehr erhoben werde, dann müssen Sie auch dafür sorgen, daß die Refinanzierung der Aufgaben allein aus dem Bundeshaushalt bestritten wird und daß wir diese Finanzierungsverschiebungen nicht über einen Umweg mittragen. ({16}) Das erwarten die Länder von Ihnen. Wir bieten Ihnen - das sage ich ausdrücklich; Sie haben das im Vermittlungsausschuß schriftlich bekommen - einen fairen und angemessenen Ausgleich auf der Basis 74 : 26 an. Herr Minister Waigel, wir haben das einmal miteinander verglichen. Wir waren in jener Nacht bis auf 1 Milliarde DM bei einem 20-Milliarden-DM-Verschiebevolumen beieinander. Bis auf 1 Milliarde DM! Ich hätte mir gewünscht, wir wären in dieser Nacht fertig geworden. Aber das Ganze geht nur mit einer grundgesetzlichen Absicherung. Herr Abgeordneter Thiele, eines muß ich Sie angesichts meiner Erfahrungen mit Verabredungen im Vermittlungsausschuß fragen - hier ist der ehemalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident ein guter Zeuge -: Wo ist denn eigentlich der Konversionsfonds geblieben, der uns seinerzeit im Vermittlungsausschuß zugesagt worden ist? Es gibt viele Dinge, die versprochen, aber nicht gehalten worden sind. Deshalb vertraut die Länderseite auf eine grundgesetzliche Absicherung - dann sind wir auf der sicheren Seite -, nicht aber auf die Zusage, die Umsatzsteueranteile für zwei Jahre anders festlegen zu wollen. Schon die Aussage in dem ursprünglichen Gesetz „zwei Jahre" deutet an, daß Sie die Absicht haben, daran herumzuarbeiten. Es ist das gute Recht des Finanzministers, die Finanzlage zu beklagen. Wahrscheinlich ist das auch seine Pflicht. Aber wir Länderfinanzminister, verantwortlich auch für die Kommunen, müssen sehen, daß wir nicht die Zahllast dessen tragen, was Sie an den Pulten hier in Bonn leicht in die Öffentlichkeit hinein versprechen. Lassen Sie uns uns zusammensetzen, meine Damen und Herren. Dann werden wir innerhalb von 14 Tagen oder drei Wochen wieder eine Sondersitzung haben. Herr Abgeordneter Schäuble, ich hoffe, daß wir uns bei dieser Sondersitzung gemeinsam über das Vermittlungsergebnis freuen. ({17})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Waigel hatte recht, als er zu Anfang dieser Debatte das Ganze heute als absurdes Theater bzw. Sommertheater bezeichnet hat. Es ist leider so, daß diese Sitzung in der Öffentlichkeit so wahrgenommen wird. Das versteht draußen kein Mensch mehr. Das ist nicht mehr nachvollziehbar, und es dient nicht unbedingt dem Ansehen der politischen Entscheidungsträger. Wenn Sie sich bei verschiedenen Veranstaltungen, egal zu welchem Thema, umhören und man kommt auf die Frage „Was ist mit dem Jahressteuergesetz?", dann heißt es nur: Die spinnen doch in diesem Parlament. Doch leider - auch das muß man hier konstatieren - findet hier nicht eine schlechte Komödie statt, sondern es handelt sich regelrecht um eine Tragödie, wenn man daran denkt, wie verunsichert die Steuerpflichtigen und vor allem die Familien sind, die bis heute nicht wissen, was an Entlastungen genau auf sie zukommt. ({0}) Wenn ich gefragt werde: „An wem liegt es? Wer hat diese Sondersitzung beantragt?", dann kann ich nur sagen: Es geht jetzt nicht um die Frage „Wer hat die Sondersitzung beantragt?", sondern man muß unter dem Strich feststellen, daß die Regierung in den letzten Jahren nicht in der Lage war, gescheite Zahlen und einen gescheiten Tarif vorzulegen. Man muß einfach sagen: Es liegt an der jahrelangen Verpenntheit dieser Regierung, die die Verantwortung in diesem Land hat. ({1}) Wenn man dann noch überlegt, daß zum 1. Januar 1996 das heutige Einkommensteuerrecht im Prinzip hinfällig wird und die Bürgerinnen und Bürger von sich aus entscheiden können, wie hoch sie das Existenzminimum für sich persönlich ansetzen, dann können Sie sich vorstellen, welches Chaos entsteht. Ich appelliere wirklich an beide - sowohl an die SPD als auch an die Koalition -, eine vernünftige Einigung inhaltlicher Art zu erreichen, diesem absurden Theater heute ein Ende zu setzen und den Leuten draußen zu sagen: Wir sind bereit, uns auf ein Kindergeld in Höhe von 220 DM, das im Prinzip von beiden als angemessen angesehen wird - 220 DM Kindergeld hat auch die Koalition zugestanden - zu einigen. Daß das steuerfreie Existenzminimum bis 1999 auf 13 000 DM angesetzt wird, ist das mindeste, was man tun sollte. Wir fragen uns auch: Warum dann überhaupt die ganze Zeit dieser Wirrwarr? Wir haben festgestellt: Es gibt keinen Mut zur Steuervereinfachung; es gibt keinen Mut zum wahren Subventionsabbau; es gibt keinen Mut zur Streichung von Privilegien, die sich unter dem Strich rechnet. Die knapp 4 Milliarden DM, die ausgehandelt worden sind, sind ja nur ein Bruchteil dessen, was von seiten des Finanzausschusses des Bundesrates und auch von den Beratern des Herrn Dr. Waigel vorgelegt worden ist. Es ist äußerst bedauerlich, wenn man den Leuten draußen erzählen muß: Es gibt unter dem Strich nur eine minimale Kindergelderhöhung, gemessen an dem, was im Geldbeutel verbleibt, und wenn man gleichzeitig sagen muß: Die Nicht-Besteuerung von Flugbenzin wird aufrechterhalten; die Nicht-Absetzbarkeit von Schmiergeldern wird nicht angetastet; es werden nur Löcher gestopft, und man hat nicht den Mut aufgebracht, das umzusetzen, was vor ein oder zwei Jahren angekündigt wurde und was zur Steuervereinfachung und zur Steuerregulierung und insgesamt zu einer Steuersenkung geführt hätte. ({2}) Dann kommt Herr Dr. Waigel und sagt: Es gibt eine Steuerentlastung von 22,5 Milliarden DM. Wir wissen, Herr Dr. Waigel, daß das ein ungedeckter Scheck ist. Ich finde es äußerst unfair, der Bevölkerung eine Steuerentlastung von 22,5 Milliarden DM netto vorzugaukeln, während sich parallel dazu im Hinblick auf die Haushaltsverhandlungen zeigt, daß für viele Menschen eine Belastung entstehen wird, die sich gewaschen hat: Die Arbeitslosenhilfe soll um 3,7 Milliarden DM gesenkt werden; die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit sollen um 8 Milliarden DM reduziert werden, was letztendlich zu einer Belastung der Schwächeren in dieser Gesellschaft und zu einer höheren Belastung der Kommunen führen wird. Geplant ist auch die Seehofersche Kürzung bei der Sozialhilfe. Die Pflegeversicherungsbeiträge und die Rentenversicherungsbeiträge werden steigen. Es wird eine Neuverschuldung von 10 Milliarden DM in Kauf genommen. Unter dem Strich wird es für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine Mehrbelastung geben. Das ist eine Politik der Koalition, die im Endergebnis ein Minusgeschäft für die Bürger und Bürgerinnen darstellt. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Friedrich Merz.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem Grundgesetz und nach der Geschäftsordnung des Bundestages haben die Mitglieder des Bundesrates jederzeit das Recht, im Deutschen Bundestag das Wort zu nehmen. Herr Kühbacher, Sie haben heute davon Gebrauch gemacht. Ich sage Ihnen offen: Wir hätten erwartet, daß derjenige, der im Vermittlungsausschuß auf seiten der SPD die Verhandlungen geführt hat, nämlich der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine, heute hier im Plenum sein würde. ({0}) - Ich komme gleich noch darauf zu sprechen. Aber, Herr Kühbacher, da Sie nun offensichtlich als letzte Amtshandlung als Minister, kurz bevor Sie zur Bundesbank gehen, hier noch einmal reden sollten, will ich Ihnen die Frage stellen: Warum ist das Vermittlungsverfahren eigentlich nicht fortgesetzt worden? Warum ist es von seiten der SPD mit der Brechstange abgeschlossen worden? ({1}) Warum haben Sie das Vermittlungsverfahren nicht so fortgesetzt, wie Sie es beispielsweise bei der Pflegeversicherung gemacht haben? ({2}) Ich sage Ihnen, Frau Matthäus Maier: Wir wären heute gerne zu einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages nach Bonn gekommen, wenn wir ein Vermittlungsergebnis gehabt hätten, dem wir hätten zustimmen können. ({3}) - Entschuldigung, dies ist ein fundamentales Mißverständnis der Rolle des Vermittlungsverfahrens. ({4}) - Nein, Frau Matthäus-Maier. ({5}) - Jetzt hören Sie doch mal auf zu schreien! Darf ich vielleicht mit etwas mehr Ruhe auf das Vermittlungsverfahren eingehen? ({6}) Das Vermittlungsverfahren ist nach unserer Verfassung ein Verfahren, in dem sich zwei Verfassungsorgane, nämlich Bundestag und Bundesrat, gemeinsam auf einen Kompromiß zu einigen haben. Es ist nicht ein Verfahren, in dem eine Mehrheit des Bundesrates aus parteipolitischen Gründen ein Ergebnis erzwingen darf. Das ist von unserer Verfassung so nicht vorgesehen, meine Damen und Herren. ({7}) Wenn Sie uns nicht glauben, dann will ich Ihnen sagen, was die „Süddeutsche Zeitung" geschrieben hat, die wirklich nicht in dem Verdacht steht, ein Verlautbarungsorgan der Regierung zu sein. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Einen Augenblick! Es hat keinen Sinn, so weiterzumachen.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt in der letzten Woche: Erschienen die Steuerforderungen der SPD zunächst durchaus ehrenwert und diskutabel, so entwickelten sie sich im Laufe der Zeit zu einem schlimmen Katalog von finanzpolitischen Heucheleien, weil anders die gegenläufigen Interessen der Bonner Parteispitze und der SPD-Länderfinanzminister nicht mehr zu kaschieren waren. So ist es, meine Damen und Herren. ({0}) - Seien Sie doch froh darüber, daß ich die „Süddeutsche Zeitung" zitiere! Es ist ein Blatt, das Ihnen näher steht als uns. Herr Kühbacher, nun haben Sie reklamiert, daß in der Vermittlungsrunde zwischen Bundestag und Bundesrat das Thema Ökosteuer nicht auf die Tagesordnung gesetzt wurde und von seiten des Bundestages abgelehnt wird. Ich will Ihnen sagen: Das gehört dort auch gar nicht hin. Das Vermittlungsverfahren ist ungeeignet, neue Gesetzgebungsvorschläge aufzunehmen, die vorher im Bundestag nicht behandelt worden sind. ({1}) Auch das ist ein Verfahren, das in den Vermittlungsausschuß nicht hineingehört. ({2}) Sie haben uns durch die parteipolitisch bedingte Mehrheitsentscheidung im Vermittlungsausschuß geradezu gezwungen, die heutige Sitzung des Deutschen Bundestages einzuberufen. Denn wenn diese Sitzung nicht stattfände, gäbe es auch keine Fortsetzung des Vermittlungsverfahrens. ({3}) Wenn Sie mir das nicht glauben, will ich Ihnen sagen, was jemand geäußert hat, der lange Jahre Ihrer Fraktion angehört hat, der der sogenannte Kronjurist der SPD-Bundestagsfraktion gewesen ist. Er hat bei den Beratungen des Bundestages im Jahre 1950, als es nämlich um die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses ging, in der Sitzung am 27. März gesagt: Durch dieses Verfahren soll vermieden werden, „daß bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundestag und Bundesrat ein Stillstand in der Gesetzgebung eintritt". Genau das ist der Punkt. Wir dürfen diesen Stillstand in der Gesetzgebung nicht eintreten lassen. Deswegen mußten wir heute zu einer Sondersitzung zusammentreten. Wir sind mit dieser Sondersitzung allerdings auf den Zustand zurückgeworfen, den wir zu Beginn des Vermittlungsverfahrens hatten. ({4}) Wenn Sie den Willen gehabt hätten, sich mit uns zu einigen, wäre das nicht nötig gewesen. ({5}) Nun wird immer wiederholt, auch in der heutigen Debatte, wir seien in unseren Vorstellungen sehr weit auseinander. Lassen sie mich zum Thema Existenzminimum die Zahlen, über die auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, zur Klarstellung wiederholen. Bei der Höhe des Existenzminimums streiten wir uns für das Jahr 1996 um folgende Summen. Koalitionsvorschlag: 12 042 DM. SPD-Vorschlag, während des Vermittlungsverfahrens öffentlich gemacht: 12 366 DM. Für das Jahr 1998 liegt der Koalitionsvorschlag bei 12 700 DM, der öffentlich gemachte SPD- Vorschlag bei 12 690 DM. Für das Jahr 2000 streiten wir uns schließlich um 13 300 DM - Koalitionsvorschlag - oder 13 014 DM ein Jahr vorher - SPD-Vorschlag. Sie können in der Öffentlichkeit niemandem mehr erklären, ({6}) daß wir wegen solcher Abweichungen ein neues Vermittlungsverfahren machen müssen. ({7}) - Im Verlauf dieser Debatte, Herr Poß, ist vom Finanzminister und von verschiedenen Sprechern der Opposition in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit darauf hingewiesen worden - Herr Poß, ich muß das doch nicht wiederholen -, welche Konsequenzen insbesondere für den Bundeshaushalt die Vorschläge gehabt hätten, die von der SPD-Mehrheit im Vermittlungsausschuß gemacht worden sind. Wir kämen unserer bundespolitischen Verantwortung, auch unserer Verantwortung für den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland nicht nach, wenn wir die Vorschläge von Ihnen kritiklos und ohne Änderungen übernähmen, meine Damen und Herren. ({8}) Wir haben eine Verantwortung dafür, daß das, was hier im Deutschen Bundestag an Gesetzen verabschiedet wird, von den Steuerzahlern, die wir mit solchen Gesetzen belasten, auch bezahlt werden kann. ({9}) Ich will Ihnen deswegen in aller Deutlichkeit sagen: Ich bin fest davon überzeugt, wir werden uns im Laufe der nächsten Wochen im Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat einigen. Es wird eine Einigung geben. Aber, meine Damen und Herren, überschätzen Sie die Bereitschaft der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und dieser Koalition nicht, den Ländern weiter Umsatzsteuerpunkte zu Lasten des Bundes anzubieten. Ich persönlich will in aller Klarheit sagen: Dieser Weg, immer mehr Umsatzsteuerpunkte an die Länder abzugeben, für die Länder Blankoschecks auszustellen im Zusammenhang mit der Gewerbesteuerreform, im Zusammenhang mit der Belastung der Haushalte durch die Kindergeldzahlungen, wird mit uns nicht ohne Grenzen fortzusetzen sein. ({10}) Auch der Bund muß dafür sorgen, daß er eine stetige und dauerhaft fließende Einnahme aus einem mehr als nur noch marginal vorhandenen Aufkommen an Umsatzsteueranteilen bei sich behält. Schließlich: Wir werden in diesem Hause keine Ausgabenprogramme und keine Gesetzgebung mittragen und verabschieden, die im Ergebnis dazu führen, daß die öffentliche Verschuldung noch größer wird, als sie ohnehin schon ist, die über eine höhere Inflation von genau denen bezahlt werden muß, denen die Vergünstigungen eigentlich zukommen. Wir werden auch jeden Vorschlag ablehnen - das ist der eigentliche Grund, warum wir heute hier zusammensitzen -, der für die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland mit einer weiteren Erhöhung der Steuer- und Abgabenquote verbunden ist. ({11}) Dies ist mit uns nicht zu machen. Meine Damen und Herren von der SPD und auf der Bundesratsbank, dies wird ein Gesetzgebungsverfahren sein, an dessen Ende Steuersenkungen für die Bürger in Deutschland und nicht weitere Steuererhöhungen stehen werden. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner spricht der Kollege Joachim Poß.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herrn Repnik müssen die Ausführungen von Frau Matthäus-Maier wirklich sehr geärgert haben, und zwar nicht, weil Frau MatthäusMaier irgendwen hinters Licht geführt hätte, sondern weil sie über Ihre Position aufgeklärt hat ({0}) und darüber, daß die SPD für Familien mit Kindern und für Durchschnittsverdiener eine günstigere Lösung erreichen will. Damit wollen Sie von dem ablenken, was Sie heute nachmittag hier gebracht haben. ({1}) Das ist der Kern. Von daher merkte man Ihre Betroffenheit darüber, daß es der SPD entgegen Ihren Erwartungen doch gelungen ist, erstens eine gemeinsame Position zwischen Bundestagsfraktion und Ländern zu finden, zweitens eine solche Position auch noch durchzusetzen und drittens eine Position zu vertreten, die sich auch eng an den programmatischen Vorstellungen orientiert, die sie beispielsweise im letzten Jahr vertreten hat. ({2}) Damit haben Sie nicht gerechnet. Insofern war der Überraschungseffekt bei Ihnen heute größer als erwartet. Zur Blockade: Wer blockiert denn hier? Die Urteile von 1990 und 1992 wurden bereits erwähnt. Ich habe unmittelbar nach dem Urteil 1992 für die SPD-Bundestagsfraktion eine Neuregelung zur Steuerfreistellung des Existenzminimums ab 1. Januar 1993 gefordert. Wieviel Zeit haben Sie verstreichen lassen seit diesem Zeitraum! Sie sind doch verantwortlich dafür, daß Geringverdiener, Durchschnittsverdiener, Familien mit Kindern Jahr für Jahr verfassungswidrig zu hoch besteuert werden. ({3}) Sie waren in der Koalition nicht in der Lage, sich zu einigen. Wie zogen sich denn die Koalitionsverhandlungen zu diesen Punkten hin? Im März kamen Sie dann zu Potte. ({4}) Dann kam der Kabinettsentwurf. Die letzte Fassung zum Familienleistungsausgleich haben wir im Mai, eine Woche vor der entscheidenden Sitzung hier im Bundestag, bekommen. Das ist Ihre Arbeitsweise. Da wollen Sie uns Vorwürfe machen wegen Zeitablauf oder Blockade? Lächerlich ist das! ({5}) Ein Finanzminister und eine Koalition, denen von allen Experten - mit Ausnahme des von Ihnen vielfach zitierten aus der „Süddeutschen Zeitung" - Woche für Woche bestätigt wird, daß sie auf eine gestaltende Steuerpolitik verzichten, stellen sich hierhin und wollen der SPD irgendwelche Vorwürfe im Zusammenhang mit der Steuerpolitik machen? Das ist doch lächerlich, meine Damen und Herren! Das müssen wir einmal feststellen. ({6}) Also, Herr Kollege Waigel: Was haben wir denn gemacht? Die Fachleute und wir als Opposition haben Ihre Tarife auseinandergenommen. Wir sind bei der dritten Vorlage. Das ist der Fakt, von dem Sie hier durch Sondersitzungen und anderes ablenken wollen. ({7}) Wenn Sie sagen, wir machen Parteipolitik, meine Damen und Herren, dann sage ich Ihnen: Dafür, daß Familien mit Kindern besser gestellt werden, machen wir gerne Parteipolitik, wenn es denn den Menschen nutzt. ({8}) Bei der Frage der Finanzierung tun Sie so und sagen: Wir lassen es nicht zu, daß die öffentlichen Kassen durch unseriöse Vorschläge weiter belastet werden. Wir haben konkrete Finanzierungsvorschläge gemacht. Es ist doch eine Frage des politischen Willens, ob Sie den Tatbestand der Ehe mit 23 000 DM steuerlich fördern und den Tatbestand des Kindes mit 3 000 DM steuerlich fördern. Das ist eine Frage des politischen Willens. Da können Sie sich doch nicht hinter dem Grundgesetz verstecken. ({9}) Zum Subventionsabbau. Das kennen Sie doch, Herr Thiele. Wir haben doch letzte Woche Montag zusammengesessen. Sie haben doch zugesehen, daß Sie sich schnell in die Büsche schlagen konnten, damit Sie nicht dabei waren, als wir mit Herrn Faltlhauser Milliarden zusammengekehrt haben. ({10}) Wir waren doch bei 5,6 Milliarden DM. Wir wären mit Hilfe der CSU auch bei 7 Milliarden DM gelandet. ({11}) Herr Thiele, Sie können doch nicht von der Belastung und Entlastung der Bürger reden, so wie Sie es heute gemacht haben. Das war wirklich so wie bei Klein Fritzchen. Wollen die Bürger belastet werden, wollen die Bürger entlastet werden? Wir können sie fragen. Auch im Zusammenhang mit dem Einstieg in die ökologische Steuerreform haben wir immer von Umschichtung gesprochen, das heißt, der Energieverbrauch wird relativ stärker belastet. Die direkte Entlastung setzt bei der Einkommensteuer an. Es ist ein altes Modell. Es ist stimmig. Es ist in der Fachwelt unumstritten. Und da versuchen Sie den Eindruck zu erwecken, als würden wir die Menschen zusätzlich belasten wollen. Sie wollen doch die Normal- und Geringverdiener, die auch Leistungen erbringen, nicht stärker entlasten, als es notwendig ist. ({12}) Sie könnten doch dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Existenzminimum, das meines Erachtens den untersten Rand der Verfassungsmäßigkeit darstellt, heute zustimmen, wenn Sie so viele Sorgen haben, gerade bei diesen Menschen. Darum geht es Ihnen gar nicht. In den letzten Wochen, Herr Thiele, wurde deutlich, daß Sie die reinste Klientelpartei sind. ({13}) Wenn es um einen echten Subventionsabbau geht, wenn es um das Schließen von Steuerschlupflöchern geht, werden Sie plötzlich zu einem hartnäckigen Verteidiger von Subventionen. Ihnen sind die Interessen von Lobbyisten wichtiger als die Interessen der großen Mehrheit der Steuerzahler. ({14}) Gleichzeitig verhindern Sie wirksame Maßnahmen zu einer echten Steuervereinfachung. Schauen Sie sich doch die Zahlen beim Steueraufkommen an. Wer hat denn gezahlt? Wer ist denn die Melkkuh der Nation geworden? Die Lohnsteuerzahler sind das geworden, nicht die sogenannten Spitzenverdiener, die mehr und mehr von den Staatsanwälten und den Finanzämtern verfolgt werden. ({15}) Von daher, Herr Thiele, sollten Sie sich als F.D.P. sehr genau überlegen, ob sie noch einmal als die großen Subventionsabbauer auftreten, derentwegen Herr Möllemann einmal zurücktreten wollte. Das hat er dann auch flugs vergessen. ({16}) Ich meine also, meine Damen und Herren: Wenn Sie nicht einmal den Mindestansprüchen des Verfassungsgerichts Rechnung tragen wollen, Sie z. B. im Jahre 1997 sehenden Auges einen geringeren Betrag Steuern freistellen, als es nach den Berechnungen des Bundesfinanzministeriums als Mindestbetrag anzusehen ist, so desavouieren Sie nicht nur das Bundesverfassungsgericht. Eine Flut von Klagen und Einsprüchen wird die Folge sein. Anstatt weniger Arbeit in den Finanzämtern werden wir überflüssige, verwaltungsmäßige Mehrarbeit bei den Bürgern und den Finanzämtern haben. Wenn Sie das verhindern wollen, stimmen Sie wenigstens dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu, wie es erzielt wurde. Sie sehen, meine Damen und Herren, ohne daß ich noch näher auf den Komplex des Familienleistungsausgleiches eingehe: Wir können alle Argumente, die Sie hier gebracht haben und die Sie zur Ablehnung des Ergebnisses des Vermittlungsausschusses führen, wirklich ablehnen. Vielleicht kommt bei IhJoachim Poß nen noch einmal die Einkehr. Nutzen Sie bitte die nächsten Tage! Wir stehen Ihnen für Gespräche zur Verfügung, damit beim nächsten Treffen wirklich ein Ergebnis erzielt wird, das höhere Entlastungen für Familien und Normalverdiener bringt. Dafür steht die SPD im Wort, meine Damen und Herren, und wir halten Wort. Wir wollen eine höhere Entlastung für Familien und Normalverdiener. Unsere Pläne bedeuten ({17}) die schrittweise Erhöhung des Kindergeldes auf 250 DM und des steuerlichen Existenzminimums auf 13 000 DM. Das führt bei einer Familie mit zwei Kindern und mittlerem Einkommen für 1996 zu einem Plus von 480 DM, für 1997 zu einem Plus von 640 DM, für 1998 zu einem Plus von 830 DM und für 1999 zu einem Plus von 1 700 DM. Die Bürger müssen wissen: Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. blockiert diese Verbesserung. Darüber stimmen wir jetzt gleich ab. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Gerhard Schulz das Wort.

Gerhard Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die unannehmbaren Vorstellungen über ein erhöhtes Kindergeld und die Freistellung des Existenzminimums, die die SPD im Vermittlungsausschuß durchgesetzt hat, werden wir hier und heute ablehnen. Das dürfte nach der Debatte klar sein. Es ist für mich schon erstaunlich: Sie erwarten von uns die Zustimmung zu Mehrausgaben, wohlwissend, daß Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge in weiten Bereichen inakzeptabel sind. ({0}) Gleichzeitig verhindern Sie durch Ihre Uneinsichtigkeit in bezug auf die Gewerbesteuerreform - wir wollen ein paar Wochen zurückdenken - einen Konjunkturschub, der zu Steuermehreinnahmen führen würde, aus denen dann ein höheres Kindergeld und auch ein höheres Existenzminimum finanziert werden könnten. ({1}) Das ist eine Vorgehensweise, die ich mit meinem schlichten Handwerksgemüt nicht kapiere. Ich vermute aber mal, daß es anderen ähnlich geht. Die von der Regierungskoalition beschlossenen steuerlichen Entlastungen in Höhe von 22,5 Milliarden DM kommen vor allem der ostdeutschen Bevölkerung zugute, die, wie wir alle wissen, im Durchschnitt ein wesentlich geringeres Einkommen hat als die westdeutschen Bürgerinnen und Bürger. Gerade weil diese Entlastungen so dringend notwendig sind, können es die Menschen in den neuen Bundesländern nicht verstehen, daß Sie, meine Damen und Herren aus der SPD, aus reinem Populismus und purer Effekthascherei in einem unnötigen Versuch, politische Stärke zu demonstrieren, eine schnelle Verabschiedung des Jahressteuergesetzes zugunsten der Menschen in unserem Land, die sich unter schwersten Bedingungen eine Existenz aufgebaut, einen Arbeitsplatz erkämpft und eine Lebensgrundlage erarbeitet haben, verweigern. ({2}) Zudem legen Sie einen Vorschlag vor, dessen Entlastungsvolumen um 10 Milliarden DM geringer ausfällt als in dem Vorschlag der Koalition. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD: Die Menschen in Ostdeutschland können Ihre Verweigerungshaltung nicht verstehen. ({3}) - Sie wissen ganz bestimmt Bescheid. Darauf können Sie Gift nehmen. Unabhängig davon erreichen Sie aber auch - das ist ein anderes Thema, das hier noch gar nicht angesprochen wurde -, daß die im Steuergesetz enthaltenen anderen Regelungen, insbesondere die für den Bereich der steuerlichen Ostförderung, nicht in Kraft treten können. Zur Erinnerung: Wir reden hier über 24 Milliarden DM, die der ostdeutschen Wirtschaft und den Privathaushalten zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Wir haben uns dabei vor allem auf die Förderung des industriellen Sektors konzentriert, der im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen am weitesten zurückliegt. Wie richtig wir damit liegen, zeigt der 13. Anpassungsbericht der Wirtschaftsinstitute; das ist in der heutigen Presse nachzulesen. Zur Erinnerung: Beschlossen wurden bereits am 2. Juni in diesem Haus die Weiterführung der steuerlichen Sonderabschreibung, die Verlängerung der fünfprozentigen und der zehnprozentigen Mittelstandszulage, die Einführung der zehnprozentigen Investitionszulage für den innerörtlichen und mittelständischen Groß- und Einzelhandel, Sonderabschreibungen im Mietwohnungsneubau um 25 % plus Länderfördermittel usw. Die Regierungskoalition signalisiert mit diesen Maßnahmen allen Unternehmen in Ostdeutschland Kontinuität und Verläßlichkeit. Unsere Botschaft lautet: Investitionen in den neuen Ländern lohnen sich auch steuerlich. Je schneller investiert wird, um so mehr kann jeder von dieser Förderung profitieren. Dieses Paket ist auch ein Erfolg der ostdeutschen Abgeordneten, weil es ihnen gelungen ist, die in den Bundesministerien der Finanzen und der Wirtschaft bereits vorhandene Einsicht in die Notwendigkeit, die steuerliche Ostförderung weiterzuführen, zu stärken und die Zustimmung der Koalitionsfraktionen zu erreichen. Gerhard Schulz ({4}) Daß wir Ihre Aufforderung, noch etwas draufzulegen - Herr Schwanitz hat ja damals eine sehr schöne Rede gehalten -, zurückweisen, hat nichts damit zu tun, daß wir eine Notwendigkeit dazu nicht eingesehen hätten, ganz im Gegenteil. Vielmehr hat es etwas mit unserer Seriosität zu tun, und zwar mit der Seriosität, wie wir als Ost-Abgeordnete mit diesem Thema, der Ostförderung, umgehen. Denn dieser Umgang hat Einfluß darauf, wie wir in unserer großen Fraktion akzeptiert werden, ganz im Gegensatz zu Ihnen. Daß Sie mit Ihren Vorschlägen innerhalb der SPD keinen Erfolg hatten, sieht man ja gerade daran, daß sich nicht ein einziger Ihrer Vorschläge in der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses wiederfindet. ({5}) Ich gehe deshalb erneut davon aus, daß die SPD mit der Arbeit der Regierungskoalition, zumindest in diesem Bereich, zufrieden ist. ({6}) Allerdings bestätigt das aber auch, daß die Kritik, die Sie, Herr Kollege Schwanitz, bei der Verabschiedung des Jahressteuergesetzes an einigen Punkten geäußert haben, nicht ernst gemeint war. Sie wollen jetzt eine Zwischenfrage stellen; ich lasse sie gern zu.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schulz, gestatten Sie diese Zwischenfrage?

Gerhard Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schulz, nachdem Sie sich hier so vehement für dieses Jahressteuergesetz einsetzen, möchte ich Sie fragen, ob auch Sie zu den ostdeutschen CDU-Abgeordneten gehört haben, die im Mai wegen des Herunterschraubens der Sonderabschreibungen für Ostförderung in diesem Gesetz vehement dafür eingetreten sind, dieses Gesetz abzulehnen.

Gerhard Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nicht zu denen gehört, die gesagt haben: Wenn das nicht kommt, lehnen wir das Gesetz ab. - Ich habe vielmehr zu denen gehört, die gesagt haben: Wir müssen versuchen, das durchzubekommen und zu erreichen. - Allerdings gehört zur politischen Sauberkeit, so, wie ich sie verstehe, für bestimmte Dinge einzutreten und für sie zu kämpfen. Bloß, wenn die Mehrheiten dann anders sind, akzeptiere ich diese Mehrheitsmeinung und trage sie mit. ({0}) Ich verweigere mich also nicht. ({1}) - Keineswegs. Ich möchte deshalb meine ostdeutschen SPD-Kollegen sehr bitten, sich in Zukunft nicht mehr auf Kosten der ostdeutschen Wirtschaft vor den Karren ihrer Fraktionsspitze spannen zu lassen. ({2}) Solche Showeinlagen können Sie sich sparen; Sie nützen, wie Sie jetzt sehen, niemandem, auch Ihnen nicht. Vielmehr verhindern sie nur die rasche Vergabe der Fördermittel, die tagtäglich dringend gebraucht werden. Oder steckt hinter diesem Hickhack - ich muß diese Vermutung einmal aussprechen - die Absicht, das Paket Ostförderung wieder aufzuschnüren und auf Kosten dieser Förderung Ihre verschiedenen Wunschvorstellungen zu finanzieren? Entsprechende Aussagen von Herrn Schröder sind ja bekannt; ich kann Sie davor nur warnen. Sie erreichen damit eine Verlängerung der Transferzahlungen in die neuen Länder und eine Verlängerung der Belastung aller Steuerzahler. Sie spielen damit ein höchst gefährliches Spiel. Deshalb erneut mein Appell an Sie: Überdenken Sie Ihr Vorgehen! Die Unternehmen brauchen für ihre Entscheidungen unbedingt rechtliche Sicherheit. Jeder Tag, der ohne eine sachgerechte und endgültige Beschlußfassung ins Land geht, also jeder Tag, der vergeht, ohne daß wir dieses Gesetz endgültig beschließen, bedeutet eine Verhinderung von Investitionen und damit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Aber zurück zum Thema. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Der letzte Redner hat es ungemein schwer, überhaupt noch gehört zu werden. Seine Rede ist in vier Minuten zu Ende.

Gerhard Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht noch. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nein, es liegt an uns und nicht am Redner. ({0})

Gerhard Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schönen Dank, Frau Präsident, aber es geht noch. Ein ganz entscheidender Punkt, der im Jahressteuergesetz enthalten ist und den ich hier ansprechen möchte, ist die Hilfe für in Not geratene Ostunternehmen. Der Grund hierfür ist vor allem die bestehende Eigenkapitalschwäche und die schlechte Gerhard Schulz ({0}) Zahlungsmoral; wir haben oft darüber gesprochen. Die Auskunftei „Kreditreform" prognostiziert, daß in diesem Jahr 2 900 Unternehmen in den neuen Bundesländern, schlicht gesagt, in die Pleite gehen werden. Deswegen hat die Regierungskoalition eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen, die dringend in Kraft treten müssen; sie sind ebenfalls Bestandteil dieses Jahressteuergesetzes, um das es geht. Eine davon ist die Heraufsetzung der Ist-Versteuerungsgrenze bei der Umsatzsteuer von 250 000 DM auf 1 Million DM. Eine andere Maßnahme ist die Schaffung eines Risikokapitalfonds in Höhe von 500 Millionen DM. Damit sollen zum einen private Beteiligungen an Unternehmen und zum anderen eine Ergänzung zum bestehenden Eigenkapitalhilfeprogramm finanziert werden. Dieses Eigenkapitalhilfeprogramm soll sich insbesondere auf die Förderung von Investitionen zur Markterschließung, auf Forschung und Entwicklung und auf die Qualifizierung von Mitarbeitern konzentrieren. Jetzt, sehr verehrte Kollegen von der SPD, hören Sie bitte genau zu. Die federführenden Banken, die diesen Fonds auflegen und das Geld an die notleidenden Unternehmen in Ostdeutschland mittelbar ausreichen werden, haben bereits frühzeitig signalisiert, daß sie bereit sind, den Fonds schon zur Mitte dieses Jahres aus eigenen Mitteln vorzufinanzieren, wenn wir uns einig würden, daß es so kommt. Damit hätten wir bei rechtzeitiger Verabschiedung des Gesetzes schon jetzt Unternehmen aus diesem Fonds heraus helfen können und müßten nicht erst beim Inkrafttreten des Gesetzes, am 1. Januar 1996 oder wann auch immer, mit dem Einsammeln des Geldes beginnen. Nur weil Sie, meine Damen und Herren von der SPD, nicht in der Lage sind, sich innerhalb Ihrer Partei auf eine Linie in der Steuerpolitik zu einigen, können die Banken die Hilfe jetzt noch nicht gewähren, sondern vielleicht erst zum Jahresende oder Anfang oder Mitte nächsten Jahres. Ihre Verweigerungshaltung kostet - wenn man den Durchschnitt nimmt - jeden Tag acht Unternehmen in Ostdeutschland ihre Existenz. Während sich Ihre Landesfürsten im Urlaub befinden, verlieren jeden Tag viele Beschäftigte ihren Arbeitsplatz. Diesen Schaden, den Sie mit Ihrer sinnlosen Herumtaktiererei bei der ostdeutschen Wirtschaft anrichten, können Sie nicht wiedergutmachen. ({1}) Dieser Schaden ist irreparabel. Diesen Mangel an Solidarität mit der ostdeutschen Bevölkerung und den Arbeitnehmern, diese Ignoranz kreide ich Ihnen ganz hoch an. ({2}) Meine Damen und Herren von der SPD, ich hoffe des weiteren, daß Sie bis zum Herbst Ihre ablehnende Haltung in bezug auf die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer überdenken werden und wir uns dann im Rahmen der nächsten Stufe der Unternehmensteuerreform darauf einigen können, diese gerade für ostdeutsche Unternehmen ganz fatale und schädliche Substanzsteuer aus dem Steuerrecht zu eliminieren. Mit Einführung der Gewerbekapitalsteuer würden nämlich die Unternehmen, die in hohem Maße kreditfinanziert sind - weil sie ihre Investitionen durch Kredite finanziert haben -, weiterhin schwer belastet. Da wir als Koalitionsfraktion heute das Ausschußergebnis ablehnen und somit der Vermittlungsausschuß erneut angerufen wird, kann ich nur an Sie, liebe Kollegen von der SPD, appellieren: Nehmen Sie Einfluß auf Ihre Verhandlungsführer, damit ein akzeptables Ergebnis und nicht wieder ein Blockadeergebnis herauskommt! Die Zeit drängt. Werden Sie Ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern gerecht! Zeigen Sie ernstgemeinte Solidarität mit den Problemen der ostdeutschen Wirtschaft! Bekennen Sie sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zum wirtschaftlichen Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands! Schönen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Jahressteuergesetz 1996 - Drucksachen 13/901, 13/1558, 13/1800, 13/ 1779, 13/1960 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Matthäus-Maier Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer zu den Wahlurnen. Ich eröffne die Abstimmung. - Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekanntgegeben *). Wir setzen die Beratungen fort. ({1}) - Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen! - Es stehen noch zu viele im Saal herum. Bitte nehmen Sie Platz, oder verlassen Sie den Saal. *) Seite 4074 A Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde Beabsichtigte Wiederaufnahme von Atombombenversuchen in der Südsee durch Frankreich Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. haben sich darauf verständigt, zu dem Thema eine Aktuelle Stunde durchzuführen. Als erster spricht Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die französische Entscheidung, Atomwaffenversuche im Pazifik durchzuführen, hat in der deutschen Bevölkerung wie auch in anderen Ländern Beunruhigung und Sorge ausgelöst. Es war für mich deshalb selbstverständlich, Staatspräsident Jacques Chirac vorgestern bei den deutsch-französischen Konsultationen in Straßburg auf dieses Thema anzusprechen. Deutschland und Frankreich haben in dieser wichtigen Frage unterschiedliche Ausgangspositionen und unterschiedliche Auffassungen. Darüber haben wir, wie dies unter Freunden selbstverständlich ist, ganz offen gesprochen. Die Bundesregierung fordert schon seit langem den Abschluß eines überprüfbaren und weltweit anwendbaren Teststoppvertrags. Sie setzt sich hierfür nachdrücklich bei der Abrüstungskonferenz in Genf ein. Die Bundesregierung hat auch stets die Auffassung vertreten, daß Testmoratorien durch die Kernwaffenstaaten für den Erfolg dieser Verhandlungen in Genf außerordentlich wichtig sind. Unser Einsatz für einen allgemeinen Teststopp ist Teil unserer Bemühungen um eine weltweite nukleare Abrüstung, für die die Bundesregierung - ich möchte sagen: alle Bundesregierungen seit Gründung der Bundesrepublik - immer eingetreten ist. Die Entscheidung der Staatengemeinschaft zugunsten der unbefristeten Verlängerung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen im Mai dieses Jahres in New York war ein ganz bedeutsamer Schritt auf diesem Weg. Die Bundesregierung hat mit großem Engagement mit dazu beigetragen, daß dieser Vertrag jetzt den Charakter einer universellen Norm des Völkerrechts erhalten hat. Deutschland hat schon 1955 als einziger Staat der Welt freiwillig auf atomare, biologische und chemische Waffen verzichtet. Deshalb konnten und können wir dieses Anliegen mit besonderer Glaubwürdigkeit vertreten. Auf der New Yorker Konferenz wurde zusätzlich mit der unbefristeten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags auch verabredet, bis spätestens 1996 - wir hoffen, bis Mitte 1996 - einen umfassenden Teststoppvertrag abschließen zu können. Eine ausdrückliche Erklärung, schon jetzt, also vor dem Abschluß des Vertrags, auf Nuklearwaffentests zu verzichten, konnte in New York allerdings noch nicht erreicht werden. Wir hätten uns dies gemeinsam mit anderen gewünscht. Dennoch ist die New Yorker Entscheidung ein wichtiger Durchbruch in dieser Sache. Alle Kernwaffenstaaten - einschließlich Frankreichs - haben sich erstmalig zu diesem Zieldatum 1996 bekannt. Wir wollen als Bundesregierung unseren Beitrag dazu leisten, daß die Genfer Teststoppverhandlungen bis spätestens 1996 abgeschlossen werden. Meine Damen und Herren, Staatspräsident Chirac hat in Straßburg noch einmal bekräftigt, daß es sich bei der von ihm getroffenen Entscheidung um einen nationalen, französischen Entschluß handelt. Er und die französische Regierung halten diese Entscheidung im Interesse der Sicherheit der französischen Nuklearwaffen für notwendig. Erst auf dieser Grundlage könnte Frankreich auf Tests verzichten und zur Simulation übergehen. Er hat gleichzeitig seine Absicht bekräftigt, den angestrebten umfassenden Teststoppvertrag im Jahre 1996 zu unterzeichnen. Unabhängig - ich habe das dort wie heute hier deutlich gesagt - von unserer in der Sache abweichenden Haltung handelt es sich um eine souveräne französische Entscheidung. Es entspricht dem Umgang unter Freunden, daß man auch bei sehr unterschiedlichen Auffassungen respektiert, was der andere sagt. Meinem Verständnis vom Umgang mit befreundeten Regierungen widerspricht es auch, daß wir uns öffentlich gegenseitige Aufforderungen zukommen lassen. ({0}) In gleicher Weise halte ich auch überhaupt nichts von Boykottaufrufen gegen französische Produkte. ({1}) Meine Damen und Herren, auch das möchte ich gerne in diese Stunde hineinsagen: Auch in der Diskussion dieser Tage und bei sehr unterschiedlichen Auffassungen in einer so wichtigen Frage werden und wollen wir nicht vergessen, daß die deutschfranzösische Freundschaft einer der größten Erfolge der Nachkriegspolitik ist. ({2}) Auch dies gilt: Diese Freundschaft ist und bleibt die entscheidende und unverzichtbare Voraussetzung für die zwingend notwendige europäische Einigung. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bevor wir in der Aktuellen Stunde fortfahren, gebe ich das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 1996 auf Drucksache 13/1960 bekannt. Abgegebene Stimmen: 583. Mit Ja haben gestimmt: 239. Mit Nein haben gestimmt: 342. Enthaltungen: 2. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 583 davon ja: 239 nein: 342 enthalten: 2 Ja SPD Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Klaus Barthel Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans Berger Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig Lilo Blunck Dr. Ulrich Böhme ({0}) Arne Börnsen ({1}) Anni Brandt-Elsweier Tilo Braune Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Hans Martin Bury Hans Büttner ({2}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi Christel Deichmann Karl Diller Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen Rudolf Dreßler Ludwig Eich Peter Enders Petra Ernstberger Elke Ferner Lothar Fischer ({3}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs ({4}) Katrin Fuchs ({5}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges Günter Gloser Dr. Peter Glotz Günter Graf ({6}) Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Achim Großmann Karl Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein Dr. Ingomar Hauchler Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Monika Heubaum Uwe Hiksch Reinhold Hiller ({9}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Frank Hofmann ({11}) Ingrid Holzhüter Erwin Horn Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte Barbara Imhof Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({12}) Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Thomas Krüger Horst Kubatschka Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({13}) Dorle Marx Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Herbert Meißner Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({14}) Ursula Mogg Siegmar Mosdorf Michael Müller ({15}) Jutta Müller ({16}) Christian Müller ({17}) Kurt Neumann ({18}) Volker Neumann ({19}) Gerhard Neumann ({20}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Doris Odendahl Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Joachim Poß Rudolf Purps Karin Rehbock-Zureich Otto Reschke Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Günter Rixe Reinhold Robbe Gerhard Rübenkönig Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Horst Schild Otto Schily Dieter Schloten Günter Schluckebier Horst Schmidbauer ({21}) Dagmar Schmidt ({22}) Wilhelm Schmidt ({23}) Heinz Schmitt ({24}) Walter Schöler Ottmar Schreiner Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({25}) Volkmar Schultz ({26}) Ilse Schumann Dietmar Schütz ({27}) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Horst Sielaff Erika Simm Johannes Singer Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss Dr. Bodo Teichmann Jella Teuchner Dietmar Thieser Uta Titze-Stecher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin Günter Verheugen Ute Vogt ({28}) Josef Vosen Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({29}) Jochen Welt Hildegard Wester Helmut Wieczorek ({30}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Berthold Wittich Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Heidi Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Gila Altmann ({31}) Marieluise Beck ({32}) Volker Beck ({33}) Angelika Beer Matthias Berninger Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Andrea Fischer ({34}) Joseph Fischer ({35}) Rita Grießhaber Gerald Häfner Kristin Heyne Ulrike Höfken Dr. Manuel Kiper Monika Knoche Oswald Metzger Kerstin Müller ({36}) Winfried Nachtwei Cem Özdemir Gerd Poppe Simone Probst Dr. Jürgen Rochlitz Halo Saibold Christine Scheel Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({37}) Werner Schulz ({38}) Rainder Steenblock Marina Steindor Christian Sterzing Dr. Antje Vollmer Helmut Wilhelm ({39}) Margareta Wolf ({40}) Nein CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten Dr. Wolf Bauer Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({41}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Rudolf Braun ({42}) Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({43}) Hartmut Büttner ({44}) Dankward Buwitt Manfred Carstens ({45}) Peter Harry Carstensen ({46}) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann Anke Eymer Ilse Falk Dr. Kurt Faltlhauser Jochen Feilcke Dr. Karl H. Fell Ulf Fink Dirk Fischer ({47}) Klaus Francke ({48}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis Dr. Heiner Geißler Michael Glos Wilma Glücklich Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund Horst Günther ({49}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({50}) Gerda Hasselfeldt Rainer Haungs Otto Hauser ({51}) Klaus-Jürgen Hedrich Manfred Heise Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze Josef Hollerith Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Heinz-Adolf Hörsken Joachim Hörster Hubert Hüppe Peter Jacoby Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Michael Jung ({52}) Ulrich Junghanns Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder Peter Keller Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Hans Klein ({53}) Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler ({54}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus Wolfgang Krause ({55}) Andreas Krautscheid Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn Dr. Karl A. Lamers ({56}) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach Walter Link ({57}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({58}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({59}) Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther Erich Maaß ({60}) Dr. Dietrich Mahlo Erwin Marschewski Günter Marten Dr. Martin Mayer ({61}) Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Rudolf Meyer ({62}) Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Elmar Müller ({63}) Engelbert Nelle Bernd Neumann ({64}) Johannes Nitsch Claudia Nolte Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({65}) Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold Anton Pfeifer Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau Helmut Rauber Peter Harald Rauen Otto Regenspurger Christa Reichard ({66}) Klaus Dieter Reichardt ({67}) Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder Dr. Erich Riedl ({68}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch ({69}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Adolf Roth ({70}) Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer ({71}) Ortrun Schätzle Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({72}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({73}) Andreas Schmidt ({74}) Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz ({75}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Gerhard Schulz ({76}) Frederick Schulze Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm Max Straubinger Michael Stübgen Egon Susset Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser Dr. Susanne Tiemann Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Wolfgang Vogt ({77}) Dr. Horst Waffenschmidt Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke Kersten Wetzel Hans-Otto Wilhelm ({78}) Gert Willner Bernd Wilz Willy Wimmer ({79}) Matthias Wissmann Simon Wittmann ({80}) Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zöller F.D.P. Ina Albowitz Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun ({81}) Günther Bredehorn Jörg van Essen Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Rainer Funke Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({82}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Walter Hirche Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Detlef Kleinert ({83}) Roland Kohn Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Heinz Lanfermann Sabine LeutheusserSchnarrenberger Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters Dr. Günter Rexrodt Dr. Klaus Röhl Helmut Schäfer ({84}) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Wolfgang Weng ({85}) PDS Wolfgang Bierstedt Petra Bläss Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Ruth Fuchs Stefan Heym Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke Gerhard Jüttemann Rolf Kutzmutz Andrea Lederer Heidemarie Lüth Dr. Günther Maleuda Rosel Neuhäuser Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick Gerhard Zwerenz Enthalten SPD Margot von Renesse PDS Dr. Winfried Wolf Die Beschlußempfehlung ist abgelehnt. ({86}) Nach dieser Heiterkeit setzen wir die Aktuelle Stunde fort. Es spricht der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn sich die Freude über die mit Hilfe der PDS hergestellte Kanzlermehrheit in dieser Frage etwas gelegt hat ({0}) - mein Gott, mein Gott -, möchte ich zu der Sache, über die wir hier reden, kommen. Die französische Entscheidung, im Pazifik wieder Atomtests durchzuführen, stößt auf den breiten Widerspruch in Deutschland, in Europa und weltweit. Wir halten diesen Widerspruch für sehr begründet, für sehr verständlich und für sehr berechtigt. ({1}) Mit diesen Tests wird ein militärisch sinnloses Unterfangen verfolgt, das gleichzeitig zu einer erheblichen Bedrohung der Umwelt und der Gesundheit der Menschen im Südpazifik führen kann. Nach unserer Auffassung ist dieses Risiko nicht vertretbar. ({2}) Es kann auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, daß in Frankreich selbst eine solche Entscheidung getroffen wird; denn auch dort ist die Entscheidung des französischen Staatspräsidenten höchst umstritten. Das erwähne ich auch deshalb, um deutlich zu machen, daß die politischen Risiken, die damit eingegangen werden, ebenfalls nicht vertretbar sind. Man kann schlecht gegenüber anderen Staaten dafür eintreten, daß es ein weltweites Abkommen zum Stopp jedes Atomtestes geben solle, wenn ein wesentlicher Staat wie Frankreich während der laufenden Verhandlungen zu einem solchen Teststoppabkommen selber Atomversuche durchführt. ({3}) Man kann schlecht andere Staaten ermutigen, sich einem solchen Abkommen anzuschließen oder sich der Nichtverbreitung zu verpflichten, wenn gleichzeitig die Fähigkeiten zur atomaren Bewaffnung ausgebaut oder ausgetestet werden sollen. ({4}) Man kann schlecht für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik eintreten, wenn man in diesem Falle ein nationales Interesse reklamiert. Wer solche Versuche in einem Gebiet durchführt, in dem die Gesundheit von Menschen, die Umwelt von Menschen, das politische Vertrauen anderer Staaten und vieles andere beschädigt wird, der kann aus meiner Sicht nicht einfach ein nationales Interesse reklamieren angesichts einer Frage, die weit über die Grenzen eines Nationalstaates hinausgeht. ({5}) Herr Bundeskanzler, wir stimmen in der Sache offenkundig völlig überein, möglicherweise nicht in der Art des Vorgehens und in der Klarheit der Worte; aber das will ich heute ausdrücklich einmal zurückstellen. Ich möchte Ihnen beipflichten, daß die deutsch-französische Freundschaft ein Eckpfeiler der europäischen Integration ist ({6}) und der kluge und verantwortungsbewußte, der Zukunft zugewandte Schluß aus jahrzehnte-, zum Teil jahrhundertelang dauernden Auseinandersetzungen. Es ist aber Ausdruck von Freundschaft, wenn man sich mit großen Teilen der französischen Bevölkerung und mit großen Teilen der französischen Öffentlichkeit solidarisiert und erkennbar macht, daß man nicht gegen diese Freundschaft, sondern wegen dieser Freundschaft eine gemeinsame Linie sucht, die glaubwürdig mit jeder Form von atomarer BewaffRudolf Scharping nung oder dem Testen einer solchen Bewaffnung Schluß macht. ({7}) Man kann lange darüber streiten, in welcher Form man einen solchen Protest zum Ausdruck bringt. Diesen Streit wollen wir heute nicht führen. Wir sind allerdings der Auffassung, es wäre klug gewesen, schon auf dem Europäischen Gipfel in Cannes und bei jeder anderen Form des Zusammentreffens klarzumachen, daß es im Interesse unserer gemeinsamen Politik, im Interesse des gegenseitigen Verständnisses und im Interesse einer weltweiten Entwicklung ist, wenn alle Staaten einem Beispiel folgen, das klugerweise die Bundesrepublik Deutschland bereits in den 50er Jahren gegeben hat. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Joseph Fischer. ({0}) - Ich denke, es gibt keinen Grund, heute ausnahmsweise von der Reihenfolge abzuweichen.

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung des französischen Staatspräsidenten, die Atombombenversuche im Südpazifik wieder aufzunehmen ist fatal, falsch und hochgefährlich; sie bedarf der eindeutigen Ablehnung, ja Verurteilung. ({0}) Zwei Punkte sind es, um die es dabei hauptsächlich geht. Punkt eins: Mit der Wiederaufnahme der französischen Atombombenversuche droht eine neue Runde des atomaren Rüstungswettlaufs, ({1}) und das in einer Welt, in der es genug Konfliktpotentiale gibt, in der der „kleine Krieg" mit all seinen Schrecken und Brutalitäten wieder zurückgekehrt ist und in der es genug Länder gibt, die versuchen, ihre aggressiven Ideologien, ihre terroristische Politik neuerdings auch mit dem Erwerb von Atomwaffen durch- und umzusetzen. Deswegen bedarf es der nachdrücklichen politischen Intervention und der politischen Einflußnahme gegenüber den französischen Freunden und Partnern seitens Deutschlands, Herr Bundeskanzler, damit es mit der Wiederaufnahme der französischen Atombombenversuche nicht zu einer neuen Runde im atomaren Rüstungswettlauf kommt. Das zweite aber ist die Gefährdung von Menschen und Umwelt im Südpazifik. Man kann dem neuseeländischen Ministerpräsidenten nur zustimmen: Wenn diese Versuche, wie die französischen Offiziellen behaupten, alle so harmlos sind, warum finden sie dann nicht in der Nähe Frankreichs, warum finden sie dann nicht hier in Europa statt, sondern mehr als 10 000 km davon entfernt? ({2}) Meine Damen und Herren, wir sagen das bewußt - ich kann dem Bundeskanzler nur zustimmen - als Freundinnen und Freunde Frankreichs. Wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wollen das gemeinsame Europa. Die deutsch-französische Freundschaft ist eine der tragenden Hauptachsen für dieses neue Europa. Aber gerade unter Freunden muß man sagen: Dieses neue Europa wird nicht entstehen, wenn nationale Prestigepolitik mit Atombombenversuchen oder ähnlichem zur Grundlage gemacht werden soll. ({3}) Freundschaft, ja sogar der Weg hin zu einer gemeinsamen Union setzt voraus, daß man an diesen existentiellen Punkten Klartext miteinander redet. Sie waren heute sehr vorsichtig, sehr zurückhaltend, Herr Bundeskanzler. Ich hoffe, daß Sie im Gespräch mit Jacques Chirac hinter verschlossenen Türen nicht so zurückhaltend waren, wie Sie heute im Bundestag aufgetreten sind. ({4}) Man mag der Regierung unterstellen, daß sie hier mit dem notwendigen diplomatischen Fingerspitzengefühl vorgehen muß. Aber ich möchte klar und eindeutig darauf hinweisen: Der Deutsche Bundestag, die gewählten Repräsentanten des deutschen Volkes, muß hier im Interesse der Entwicklung Europas, der deutsch-französischen Freundschaft, aber auch im Interesse einer internationalen atomaren Abrüstung Klartext reden. Es nützt nichts, hier zu diplomatischen Formeln Zuflucht zu nehmen. ({5}) Es geht nicht um eine nationale Kritik, sondern es geht um einen internationalen Protest, der Frankreich hoffentlich zum Einlenken und zu einer Abkehr von dieser falschen Politik bringt. ({6}) Joseph Fischer ({7}) Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung wirkt in Ihrer Ablehnung natürlich wenig glaubwürdig, wenn sie im selben Augenblick hier den chinesischen Staatspräsidenten empfängt, der nichts Besseres zu tun hat, als ebenfalls Atombombenversuche durchführen zu lassen. ({8}) Wir wirken damit unglaublich glaubwürdig, von der Menschenrechtsproblematik in China ganz zu schweigen. Was wir befürchten, ist nicht nur, daß es einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Umwelt und die Menschen im Südpazifik gibt, was wir befürchten, ist nicht nur, daß wir eine neue Runde des atomaren Wettrüstens bekommen, was wir befürchten, ist auch, Herr Bundeskanzler, daß mit dem Balkankrieg und seiner schrecklichen Entwicklung und jetzt mit der französischen Entscheidung, die Atombombenversuche wieder aufzunehmen, eine Entwicklung in Europa eingeleitet wird, die im Grunde genommen Maastricht II schon jetzt zum Scheitern bringt und den europäischen Einigungsprozeß Schritt für Schritt zum Stillstand bringt und das Gegenteil, nämlich nicht die Entwicklung hin zu einer Union, sondern zunehmend wieder nationale Egoismen, nationale Prestigepolitik, nationale Desintegration des europäischen Einigungsprozesses, im Vordergrund steht. Deswegen sind wir als Europäer verpflichtet, klar zu sagen, daß die französische Regierung von dieser fatalen, gefährlichen und falschen Entscheidung Abstand nehmen soll. Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht. Ich möchte alle im Hause bitten: Es nützt nichts, wenn wir über diesen Sachverhalt nur reden. Der Deutsche Bundestag - er hat es 1993 in einem anderen Zusammenhang schon einmal getan - muß einen deutlichen Beschluß fassen, um klarzumachen, wo wir in dieser Frage stehen. Das kann nicht auf der Seite derer sein, die nationale Prestigepolitik mit Atombombenversuchen machen wollen, sondern nur auf der Seite derer, die dagegen zu Recht massiv protestieren. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist wie im wirklichen Leben: Es gibt unter Freunden manchmal Situationen, in denen man seine Meinung klar sagen muß. Die Entscheidung der französischen Regierung, zwischen dem September dieses Jahres und dem Mai 1996 acht Nukleartests im Südpazifik durchzuführen, ist nicht nur aus der Sicht der F.D.P. falsch, sondern im wahrsten Sinne des Wortes unbegreifbar und der Weltöffentlichkeit auch gar nicht mehr zu vermitteln. ({0}) Im Mai dieses Jahres haben sich die Unterzeichnerstaaten auf eine unbegrenzte Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages geeinigt. Sie haben sich auch zum Abschluß eines umfassenden Nuklearteststoppvertrages spätestens 1996 bekannt. Wenn dann der französische Staatspräsident eine solche Entscheidung trifft, muß er wissen, daß das diese Verhandlungen wirklich nicht erleichtert. Er muß die internationale Reaktion spüren. Manchmal zeigt sich die Größe eines Staatsmanns nicht im Festhalten an einer Entscheidung, sondern in der souveränen Fähigkeit, diese auch zu korrigieren. ({1}) Wir verletzen keine freundschaftlichen Gefühle und keine Zuneigungen gegenüber unseren französischen Nachbarn, wenn wir sagen, diese Entscheidung paßt nicht mehr in die Zeit. Sie ist auch mit dem Hinweis auf das Mururoa-Atoll nicht zu mildern. Es gibt kaum noch eine nationale Entscheidung in dieser Dimension, von der nicht auch andere betroffen wären. Die ganze Welt ist vom Mururoa-Atoll betroffen, im übrigen auch durch Testgebiete in Gobi, in Sibirien und vielen anderen Orten dieser Welt. ({2}) - Herr Kollege Fischer, auch wenn der chinesische Staatspräsident hier ist: Andere Staatsmänner können durchaus erfahren, daß wir Sachverhalte anders beurteilen. Der Bundesregierung steht im Umgang mit anderen Staaten nichts anderes zur Verfügung als das kluge Wort, die Verhandlung und die beeindruckende Argumentation. ({3}) Diese Möglichkeiten hat die Bundesregierung wahrgenommen. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß der Herr Bundeskanzler und der Herr Bundesaußenminister dies in Gesprächen deutlich gemacht haben. Vorsorglich und nicht mit dem Hinweis, man könnte sich nicht einigen - die französischen Freunde können unsere Haltung durchaus erfahren -, will ich sagen: Ich bezweifle, daß eine Beschlußfassung des deutschen Parlaments größere Wirkung als das intensive Gespräch und freundschaftliche Bewertung mit Argumenten hat. ({4}) Es gibt - das ist mir bei der Bewertung französischer Politik unbegreiflich - noch genügend Atomwaffenarsenale auf dieser Welt. Die Menschheit kann sich mit diesem Potential noch mehrmals vernichten. Es geht nicht um Verbesserung, sondern es geht eher um Verschrottung und geordnete VernichDr. Wolfgang Gerhardt tung dieser Potentiale. Auch deshalb sind diese Tests so unbegreiflich. ({5}) Jede Nation hat ihre Geschichte, jede Nation hat ihr eigenes Gefühl für große Entscheidungen. Wir haben andere Erlebnisse als unsere französischen Nachbarn. Wir hätten die Fähigkeit zu solchen Entscheidungen kraft unserer Entwicklung überhaupt nicht. Deshalb meine ich, daß eine offene Politik unter befreundeten Staaten in dieser Situation ohne Probleme unseren französischen Nachbarn signalisieren sollte: Wir bitten um erneute Prüfung. Wir appellieren an die Fähigkeit, diese Entscheidung zu korrigieren. Wir möchten mit unseren französischen Nachbarn eine Politik fortsetzen, die wir begonnen haben und die die internationale Völkergemeinschaft braucht. Wir hätten die Franzosen gerne auf unserer Seite. Wir appellieren an den französischen Staatspräsidenten, seine Entscheidung noch einmal zu überprüfen. Mehr kann man im politischen Umgang mit Nachbarn nicht tun. Das ist aber wichtig genug. Das ist der Appell, den ich für die F.D.P. an unsere französischen Nachbarn richte. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Steffen Tippach das Wort.

Steffen Tippach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002820, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bereits vor drei Wochen hat der Bundestag auf Antrag der PDS in einer Aktuellen Stunde genau wie jetzt zu diesem Thema debattiert. Kollege Lummer hat damals eine sehr wichtige Bemerkung gemacht - ich zitiere -: ... der Zusammenhang zwischen der unbefristeten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags und den Tests ist offenkundig. Recht hat er. Als wir vor wenigen Monaten in diesem Haus über die Haltung der Bundesrepublik bei der Konferenz zur Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrages diskutierten, war die PDS die einzige Partei des Bundestages, die - übrigens in Übereinstimmung mit zahlreichen Nichtatomwaffenstaaten der Welt - auf eine befristete Verlängerung gedrängt hat. Wir haben damals gesagt: Es gibt berechtigte Zweifel an dem tatsächlichen Willen der Atommächte zur atomaren Abrüstung. Es muß einen realen Druck geben, damit diese glaubhaft eingeleitet wird. Genau das ist Sinn und Zweck einer Befristung. Wir sind von allen Parteien und der Bundesregierung massiv angegriffen worden, was denn das solle, ob wir zu den Verbündeten etwa kein Vertrauen hätten usw. Wie richtig unsere Befürchtungen, daß die Atommächte die unbefristete Verlängerung als Freibrief für eine weitere atomare Aufrüstung verstehen, waren, haben zuerst China und jetzt Frankreich gezeigt, die dem Geist des NPT mit erheblicher Arroganz in den Hintern getreten haben. Die Verbindlichkeit des Nichtverbreitungsvertrages gilt also offensichtlich nur für diejenigen, die bisher sowieso nichts zu verbreiten hatten. Während dort, wo es liebevolle Feindbilder zu pflegen gilt und eine vermeintliche oder tatsächliche Verletzung des NPT vermutet wird - siehe Irak, Iran oder Nordkorea -, zu politischer Isolation, Boykotten und militärischer Intervention gegriffen wird, reicht Außenminister Kinkels Empörung im Fall einer verbündeten Atommacht gerade einmal für ein schelmisches „Du, du! ", sozusagen für den kleinsten Mißfallensgrad auf der nach oben offenen Kinkel-Skala. ({0}) Ich möchte noch zu einem anderen Aspekt der merkwürdig konfliktscheuen Haltung der Bundesregierung kommen. Hinter den Tests steht letztlich die Frage nach der zukünftigen Außenpolitik der EU, nämlich ob sich die EU als Atommacht präsentieren wird oder nicht. Die Atomtests und die Reaktion der Bundesregierung sind auch als ein Ausblick auf die künftige Außenpolitik der EU zu werten. Die jetzt gegebenen Antworten lassen befürchten, daß die EU Atommacht werden soll und daß das von der Bundesregierung auch so gewollt wird, wahrscheinlich auch deshalb, weil die BRD über diesen Weg die atomare Option offenhalten will. Das ist es, was die Verteidigung der Tests durch die Bundesregierung erklärt. Hier geht es nicht urn die Freundschaft mit Frankreich, die nicht gefährdet werden darf, hier geht es nicht um die nationale Entscheidung Frankreichs, die zu respektieren sei. Im Falle der „Brent Spar" war die Bundesregierung gegenüber dem Freund Großbritannien um den Erhalt der Freundschaft keineswegs so zimperlich besorgt. Hier geht es um das künftige Gesicht der EU als atomare Weltmacht und auch um den alten Traum von der Atommacht Deutschland, realisiert über die EU. ({1}) Daß es gerade um das zukünftige Gesicht der EU geht, belegt der französische Botschafter, wenn er die Atomtests u. a. mit dem Argument rechtfertigt - ich zitiere -: ... weil unsere Abschreckungsfähigkeit auch ein wichtiger Bestandteil der Sicherheit und der Verteidigung Europas ist. Wenn wir unsere Abschreckungsfähigkeit bewahren, dann brauchen wir die Zukunft in diesem Bereich nicht zu belasten. Die französischen und britischen Atomarsenale spielen in Zukunft für die Verteidigung Europas eine bedeutende Rolle. Soll dies der Weg sein, auf dem die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt wird? Interessanterweise hat der Kollege Lamers die Gelegenheit benutzt, um von der Notwendigkeit einer „europäischen Atomwaffenkomponente" zu sprechen. Er hat die Franzosen damit offensichtlich erSteffen Tippach muntern wollen, in der Modernisierung ihrer Massenvernichtungswaffen fortzufahren, und zugleich den deutschen Anspruch angemeldet, künftig über diese Waffen mitverfügen zu wollen. Dazu sagen wir entschieden nein. Wir wollen die Atomwaffen in Europa und weltweit abschaffen. Ein vereintes Europa braucht nicht den Wahnwitz neuer Atomwaffen, es braucht keine nukleare Abschrekkung, und es braucht keine Atomtests. Friedliche Kooperation mit den Nachbarregionen, Entwicklungszusammenarbeit und Abrüstung - das muß auf der Tagesordnung stehen. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben bereits in der letzten Aktuellen Stunde über die Fraktionen hinweg Kritik an den geplanten Atomwaffenversuchen geübt. (Joseph Fischer [Frankfurt] ({0}) Wir haben dabei vor allen Dingen auf die ökologischen Bedenken abgestellt, die bis hin zu Vermutungen reichen, das Mururoa-Atoll könne auseinanderbrechen. Der französische Präsident Chirac hat am Dienstag abend noch einmal sehr deutlich gesagt, daß er solche Vorwürfe für unsinnig hält. Er hat Wissenschaftler eingeladen, vor Ort festzustellen, daß es keinen Schaden für die Umwelt gibt. Ich hoffe sehr, daß wir dieses Angebot zur wissenschaftlichen Begleitung nutzen - es ist ein Fortschritt - und daß Wissenschaftler dort hinfahren und von diesem Angebot Gebrauch machen. ({1}) Präsident Chirac hat in Straßburg gesagt - was bisher viel zuwenig beachtet worden ist -, daß „Frankreich einen Vertrag über den Stopp von Atomversuchen unterzeichen und dann keine Gelegenheit mehr haben wird, weitere Versuche durchzuführen". Das ist ein klares Wort des französischen Präsidenten. Das ist ein Versprechen, das es bisher von der französischen Seite in dieser Form nicht gegeben hat. Das läßt keine Möglichkeit für weitere Versuche nach 1996, auch nicht für sogenannte Minitests. Ich bin genau wie meine Fraktion und wie der Kollege Gerhardt dafür, daß man kritisiert. Aber ich bin dagegen, Kampagnen zu organisieren. ({2}) Es ist ein absoluter Fehlgriff, wenn ein sonst sehr geschätzter Fraktionskollege, nämlich der Kollege Erler, Jacques Chirac vorwirft, er sei „ein postkolonialer Atombösewicht". Wenn diese Sprache im deutsch-französischen Verhältnis Einzug hält, dann sehe ich schwarz für die Zukunft. Diese Art der Anwürfe führt nicht dazu, daß die Franzosen ihre Position überdenken, sondern dazu, daß sie verhärten und daß sie sich dagegen wehren, daß die Deutschen hier als Oberzensoren und Moralapostel auftreten. Und das ist auch verständlich so. ({3}) Es ist völlig richtig, daß eine Freundschaft ein offenes Wort verträgt. Aber eine Freundschaft geht an öffentlichen Angriffen auch leicht kaputt. Ich glaube, daß die Boykottforderung, die immer wieder erhoben und von der SPD hier im Hause zum Teil augenzwinkernd befürwortet wird, nicht nur kontraproduktiv ist; sie ist auch töricht, und sie ist gefährlich. ({4}) Wer die Franzosen mit drastischen Aktionen in die Ecke drängen will, wer gar mit dem Slogan „Kauft nicht beim Franzosen" herumzieht, der treibt ein böses Spiel: töricht, heuchlerisch und gefährlich. Ich will versuchen, im einzelnen aufzuzeigen, warum das so ist. Warum ist der Boykott töricht? Innerhalb der Europäischen Union sind Boykotts wegen der großen Verflechtung dieser Länder von vornherein unsinnig. ({5}) Wen eigentlich boykottiert man denn, wenn man z. B. keine Produkte von Alcatel mehr kauft? Damit schaden wir z. B. auch den Stuttgarter Arbeitnehmern von SEL, die im Juli 1992 von Alcatel übernommen worden sind. Man kann in Europa gar nicht mehr irgendein Land boykottieren. Vor allem: Was passiert, wenn dann die Franzosen zurückschlagen und ihrerseits anfangen, keine Volkswagen mehr zu kaufen oder keine BMWs? Wenn Frau Wieczorek-Zeul erklärt: Was uns bei Shell recht war, sollte uns gegenüber Frankreich billig sein, dann ist das - entschuldigen Sie bitte - Unsinn. Das ist eine gefährliche Politik, auf die wir uns nicht einlassen werden. ({6}) Die Boykottforderungen und auch die Boykottaktionen einzelner sind zum Teil sehr heuchlerisch. Es ist schon wahnsinnig heldenhaft, wenn auf Sylt einige Luxusrestaurants keinen Champagner mehr ausschenken. ({7}) Dann nippt die Schickeria zur Abwechslung kalifornischen Chardonnay. ({8}) Immer tut sie das in dem Gefühl, sich dabei unerhört für die Umwelt zu engagieren. ({9}) - Wenn ich Sie sehe, Herr Kollege Fischer, kann ich nur sagen: Ich habe keine große Angst, daß die Boykottforderungen sehr um sich greifen werden. Denn gerade Sie werden ohne Ihren abendlichen französischen Bordeaux überhaupt nicht auskommen. ({10}) Und die Boykottdrohung ist gefährlich. Sie ist gefährlich, weil in Frankreich der Eindruck entsteht, daß sich die Deutschen hier einmal mehr als Moralapostel aufspielen und von oben herab Zensuren geben. Alfred Grosser hat sehr vernünftig und sehr gut in einem Artikel in der „Wochenpost" vor kurzem festgestellt: „Wer die französische Politik glaubwürdig kritisieren will, der muß dann z. B. die Tornado-Diskussion etwas anders führen, als das SPD und GRÜNE tun". - Da hat er recht. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir können nicht auf der einen Seite französischen Blauhelmen den Schutz verwehren und uns auf der anderen Seite in dieser Frage zum Moraloberapostel in Europa aufschwingen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist schon um eine Minute überzogen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es kommt darauf an, daß wir mit den Franzosen zusammen dafür sorgen, daß wir bald ein überprüfbares, weltweites Teststoppabkommen haben. Das ist die große Chance, die wir haben. Wir dürfen sie nicht dadurch kaputtmachen, daß wir die Franzosen in oberlehrerhafter Manier in die Ecke stellen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht die Kollegin Katrin Fuchs.

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pflüger, wir haben jahrelang zusammengearbeitet, stellenweise auch ziemlich gut. Aber ich darf Ihnen heute sagen: Das war angesichts des Themas kein sehr angemessener Beitrag. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe sehr gut, daß es schwierig ist, als Bundeskanzler den Regierungschef eines Landes, mit dem uns eine besondere Freundschaft verbindet, sozusagen öffentlich zur Vernunft zu bringen. Ich bin auch ganz sicher, daß der Bundeskanzler im Gespräch mit Chirac deutliche Worte gefunden hat. Eine innere Angelegenheit Frankreichs sind die geplanten Atomwaffentests allerdings ganz und gar nicht. ({1}) Sie gehen die Parlamente und die Regierungen der ganzen Welt sehr wohl an, also auch uns. Denn wir tragen die Verantwortung für die Menschen überall, wenn es darum geht, ihr Überleben zu sichern. Vergessen wir eines nicht: Solange es Atomwaffen gibt, kann die Vernichtung der Menschheit nicht ausgeschlossen werden. Führen wir uns vor Augen, daß jeder Test hilft, Atomwaffen zu modernisieren, zu effektivieren und noch einsetzbarer zu machen. Das heißt, im Ergebnis wird die Schwelle zum Atomeinsatz gesenkt. ({2}) Wie man hört, soll die geplante Testserie auch dazu dienen, künftige Tests mittels Computersimulation durchführen zu können. Herkömmliche Testverfahren sollen dann entbehrlich werden. Diese Argumentation entlarvt das grundlegende Kalkül. Seit Jahren wissen wir, daß einige Atommächte an dieser Technologie arbeiten. Ich halte das für einen Skandal. ({3}) Hier setzt sich der unsägliche Trend fort, daß erst dann auf Waffen - in diesem Fall Waffentests - verzichtet wird, wenn Besseres in den Schubladen liegt. Das muß aufhören! Sonst kommen wir aus dem Teufelskreis der gegenseitigen atomaren Bedrohung nie heraus. Sonst wird es uns nie gelingen, dem Ziel der weltweiten atomaren Abrüstung näherzukommen. Im Gegenteil: Dies alles provoziert die weitere Atomrüstung. ({4}) Kritik fordert auch die Signalfunktion von Atomwaffen heraus. Jeder Atomwaffentest kann von den sogenannten Schwellenländern als Signal verstanden werden, daß die Atommächte das langfristige Katrin Fuchs ({5}) Ziel, Atomwaffen abzuschaffen, aufgegeben haben. Können wir sicher sein, daß diese Länder weitere Atomwaffentests nicht als Aufforderung verstehen, ebenfalls Atomwaffen zu testen? Dürfen wir hinnehmen, daß trotz der von den USA und Rußland vereinbarten Einschnitte in ihre Atomwaffenarsenale mit neuen Tests der Weg der qualitativen Aufrüstung beschritten wird? Der Deutsche Bundestag hat sich jedenfalls entschieden. Wir haben im Sommer 1993 einen Antrag verabschiedet, in dem wir erklären: Wir wollen ein internationales Teststoppabkommen. Ich möchte dem Bundeskanzler sagen - wo ist er? -, daß er unseren Protest bitte als ein von Verantwortungsbewußtsein gegenüber den zukünftigen Generationen geleitetes Beharren auf dieser Position verstehen möge. Zugleich richten wir die dringende Bitte an ihn, unsere Haltung gegenüber der französischen Regierung nachdrücklich zu vertreten. Er hat in dieser Frage das ganze deutsche Parlament hinter sich; etwas, was hier in diesem Hause durchaus nicht zur Routine gehört. Er hätte auch Rückenwind - wie andere Staatschefs - durch die OSZE-Parlamentarierkonferenz, die am vorigen Freitag in Ottawa einen eindeutigen Beschluß gefaßt hat. Wir Parlamentarier aus 50 Staaten haben die französische Entscheidung, die Atomwaffentests wiederaufzunehmen, ausdrücklich mißbilligt. Wir haben auch darauf hingewiesen, daß sich die Entscheidung Frankreichs für die Wiederaufnahme von Atomtests auf die laufenden Verhandlungen über einen umfassenden Teststoppvertrag in Genf negativ auswirken wird und die Bemühungen, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, dadurch erheblich erschwert werden. Erinnern wir uns doch, wie mühsam es auf der Konferenz in New York, von der der Bundeskanzler gesprochen hat, war, die Teilnehmerstaaten für eine positive Entscheidung zu gewinnen. Viele haben erst in letzter Minute zugestimmt, weil die Aussicht bestand, daß auf die Nukleartests in absehbarer Zeit verzichtet wird. Welch ein Vertrauensbruch der französischen Regierung gegenüber den Teilnehmerstaaten der Konferenz, wenn sie nun doch wieder mit den Tests beginnen will! Präsident Chirac will offensichtlich politische Statur und Führungsstärke zeigen. Wenn das so ist, sollte er seine Entscheidung zurücknehmen. Dies wäre nicht nur ein mutiger Schritt zur außenpolitischen Schadensbegrenzung für unsere französischen Freunde, sondern auch der Nachweis der Lernfähigkeit. Herr Chirac würde mit einer solchen Kurskorrektur sicherlich nicht nur im Deutschen Bundestag auf Respekt und Sympathie stoßen. Frankreich wäre fürwahr eine „grande nation", wenn seine politische Führung die Größe hätte, aus eigener Einsicht und Erkenntnis eine Entscheidung, die sich als nicht vermittelbar und im Ziel als verheerend erwiesen hat, aufzugeben. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Kanzler kann ich leider nicht begrüßen. ({0}) - Doch; wunderbar. - Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, am 6. August jährt sich zum fünfzigsten Mal ein Tag, den wir heute nicht vergessen sollten, nämlich der Tag des Abwurfs der ersten Atombombe auf Hiroshima. Kurz danach erfolgte der Abwurf auf Nagasaki. Hunderttausende von Toten waren zu verzeichnen; noch heute gibt es Folgewirkungen und Opfer. Trotz des Endes des Kalten Krieges stehen heute nach wie vor 48 000 atomare Sprengköpfe zur Verfügung; sie sind eine atomare Bedrohung. Allein auf Grund der Erkenntnis, daß es ein „Nie wieder!" von Hiroshima geben muß, sind wir zu atomaren Abrüstungsverhandlungen gekommen, zu START I, zur unbegrenzten NPT-Verlängerung, um zu verhindern, daß Atomwaffen weiterverbreitet werden und etwa in terroristische Hände gelangen. Die Atomwaffenstaaten haben sich dabei verpflichtet, radikal für die eigene Denuklearisierung zu sorgen. Was bleibt unter dem Strich? Die Ankündigung Chiracs konterkariert nicht nur den positiven Ansatz von Mitterrand vor zehn Jahren, die Initiative für einen Atomteststopp zu ergreifen, sondern gefährdet auch die europäische Sicherheitspolitik - und das nicht nur im Bereich der Nuklearwaffen. In der Situation der Destabilität, die wir im Moment in Europa haben, sind sämtliche Abrüstungsverträge am Wanken. Ich erinnere nur an das Feilschen um den KSEVertrag. Es wird Frankreich und seiner nationalen Großmachtpolitik, die versucht, atomar das letzte I-Tüpfelchen draufzusetzen, zuzuschreiben sein, wenn der START-II-Vertrag nicht unterschrieben wird. Es wird zu weiteren Atomtests von seiten Chinas kommen. Und wir wissen nicht, wie Rußland reagieren wird. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dieser nationale Alleingang Frankreichs ist eben keine nationale Angelegenheit. Ich erinnere die Bundesregierung, ich erinnere Herrn Kohl, aber auch Herrn Außenminister Kinkel an folgendes: Es ist heute das zweite Mal in dieser Legislaturperiode - also in sehr kurzer Zeit -, daß die Opposition Sie, Herr Bundeskanzler, vor einem internationalen Schaden bewahren muß. Es ist das zweite Mal, daß die deutsche Bundesregierung sich hier herstellt und ein politisches Geschehen als eine nationale Angelegenheit bezeichnet. Wenn Menschenrechte verletzt werden, wenn international Menschen der atomaren Verseuchung ausgesetzt werden und wenn - wie in Tschetschenien - ein Volk massakriert wird, dann ist das keine nationale Angelegenheit. Wir geben Ihnen heute zum zweiten, aber zum letzten Male die Möglichkeit, Ihre Position rechtzeitig zu korrigieren. ({1}) Es ist auch nicht an der Zeit, sich in Selbstbeweihräucherung zu ergehen und auf die Erfolge der Bundesregierung beim NPT-Vertrag hinzuweisen. Wenn Ihre Aussagen, Herr Kinkel, dort - wir alle haben sie begrüßt - ernst gemeint waren, dann ist gerade Deutschland mit dem Verzicht auf Atomwaffen im eigenen Land prädestiniert für einen Protest gegenüber der französischen Regierung, damit Frankreich von diesem atomaren Größenwahn Abstand nimmt. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute über die Umwelt und die Gefährdung der Menschen gesprochen. Sie stehen ganz vorne, an erster Stelle. Deswegen unterstützen wir den internationalen Protest gegen die Wiederaufnahme der Atomtests. Wir nehmen die kritischen Worte, die auch von seiten der Regierungskoalition gekommen sind - Herr Kollege Pflüger, leicht daneben in der Wortwahl, aber beim zweiten Lesen vielleicht nachdenkenswert -, ernst. ({3}) Sie haben in der Maastricht-Debatte des Bundestages vom 22. Juni unsere Anträge abgelehnt. Auch die sogenannten Liberalen haben sich bemüßigt gefühlt unsere Proteste gegen Atomtests zurückzuweisen. Sie werden nach der Sommerpause Gelegenheit haben, über unseren erneuten Antrag abzustimmen, und werden, wenn Sie wieder dagegenstimmen, Ihren heutigen Aussagen entgegenwirken. Es wird sich zeigen, daß hier nur schöne Worte gemacht werden, möglicherweise um die Brüderfreundschaften mit Chirac und vorher mit Mitterrand aufrechtzuerhalten in dem Buhlen um einen Platz im Sicherheitsrat. Dafür artikulieren sie den Protest gegen den Atomwahn dann nicht öffentlich. ({4}) - Das wird sich zeigen. Sie haben Gelegenheit, darüber abzustimmen und jetzt Ihre Position zu ändern und dafür zu sorgen, daß wir nicht erst debattieren, wenn die Atomtests durchgeführt sind. Der Kampf für die Menschen beginnt jetzt. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Damen und Herren! Josef Joffe schreibt in der gestrigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung": Die Bundesrepublik braucht Frankreich, um das europäische Werk voranzutreiben - von der Währungsunion bis zur EU-Erweiterung. Sie braucht Frankreich als verläßlichen Partner in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wenn wir die historischen Daten, die eingeführt worden sind, noch um weitere wichtige Daten ergänzen, die sich heute jähren, dann erinnern wir daran, daß vor 125 Jahren die Emser Depesche einen der Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich in Gang gesetzt hat, der eigentlich heute, 125 Jahre später, zu dem, was Josef Joffe schreibt, geführt hat: der Notwendigkeit, die Frage der europäischen Sicherheit zu betreiben. Die CSU-Landesgruppe, die heute aus Warschau zurückgekommen ist, die gestern in Sejm Diskussionen mit Kollegen über die Zukunft der europäischen Sicherheit geführt hat, nimmt von den Gesprächen gerade zu diesem Thema mit, daß unsere polnischen Freunde uns darauf hinweisen, wie dringend notwendig aus ihrer Sicht auf Agenda Nr. 1 die Frage der gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik ist. Diese Überlegungen müssen den Ton bestimmen, in dem wir mit Freunden reden. Der Ton macht die Musik. ({0}) Er hat heute in dieser Debatte bereits viele Mißklänge erzeugt. Es darf nicht so sein, daß diejenigen recht behalten, die sagen, in Frankreich könnten wieder alte Ressentiments aufleben. Es ist zugespitzt formuliert und sollte nicht den allgemeinen Sprachgebrauch prägen: „Katastrophal falsch", „unmißverständlich deutlich zu machen", „nationale Prestigepolitik". Wer Frankreich kennt, weiß, was er dort mit solchen Worten anrichten kann. Jedenfalls wird das nicht zur Geneigtheit führen, den deutschen Vorschlägen und Überlegungen zuzustimmen. ({1}) Wer meint, Europa mit der Brechstange schaffen zu können, der wird merken, daß er an seinem Ziel - dem Ziel, das wir alle im Auge behalten müssen - nicht weiterarbeiten kann, nämlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen. ({2}) - Ich unterstelle einmal, daß dies ein gemeinsames Ziel ist. Es gibt einen anderen Punkt, in dem in der Tat fundamentale Unterschiede bestehen. Die Frage, ob auf nukleare Komponenten in der Sicherheitspolitik verzichtet werden kann, wird wohl unterschiedlich beantwortet, wie ich das vorhin auch von Kollegen aus der SPD gehört habe. Wir haben lange unter dem atomaren Schirm der transatlantischen Allianz, aber auch unter europäischen Komponenten gelebt. Die nukleare Proliferation - dieses Thema wurde angesprochen -, die uns nicht ruhig schlafen lassen kann, ist einer der Ansatzpunkte, um über die Frage zu reden, ob es notwenChristian Schmidt ({3}) dig ist, auch in Zukunft über nukleare Komponenten zu verfügen. In dieser Frage würden sich unsere Positionen unterscheiden. Uns eint das Bedenken hinsichtlich der ökologischen und der technologischen Notwendigkeit, wie hier mehrfach zum Ausdruck gebracht worden ist. Nur, der Deutsche Bundestag ist nicht die französische Nationalversammlung. ({4}) Wir sollten gewisse Themen den gewählten Vertretern des französischen Volkes überlassen, die eine souveräne Entscheidung ihres Präsidenten zu bewerten und zu unterstützen haben. Von der großen Oppositionsbewegung in Frankreich, von der hier gesprochen ist, habe ich, soweit ich das verfolgen konnte, nicht sehr viel gemerkt. Es wäre fatal, wenn der „Bombenfreund Frankreich", wie Josef Joffe es sagt, sich so nur von der Seite östlich des Rheins artikuliert fühlen müßte. Wir sollten die Lehren der Emser Depesche und der drei darauf folgenden Kriege nicht aus den Augen verlieren. ({5}) - Ihnen und auch Bordeauxweintrinkern tut es gut, wenn sie in die Geschichte blicken. Es ist nicht ausgemacht, daß alle Dinge, die wir uns vorgenommen haben, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bereits vereinbart werden können. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muß noch erarbeitet werden. Wir sollten unseren bewußten und im Ton zurückhaltenden Beitrag dazu leisten. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Tatbestand: Helmut Kohl hat drei Wochen lang zu den geplanten französischen Atomwaffentests geschwiegen und sie als nationale Sache Frankreichs abgetan. Er hat auf dem Gipfel in Cannes, während sich dort andere europäische Staats- und Regierungschefs deutlich geäußert haben, nicht reagiert und ist auch jetzt eindeutig zu spät und zu lau auf die geplanten Atomtests Frankreichs eingegangen. ({0}) Sie sollten sich ein Beispiel an Ihrem dänischen, Ihrem schwedischen oder auch Ihrem österreichischen Kollegen nehmen. Im übrigen, an die Mehrheit in diesem Haus gerichtet: Am 22. Juni haben wir unseren Antrag in der Europadebatte, wo er hingehört, eingebracht, diese französischen Atomwaffentests abzulehnen. Sie haben unseren Antrag niedergestimmt. Das war ein Fehler. Zur Ehrlichkeit in der Politik gehört, daß Sie das einmal einräumen und hier deutlich sagen. ({1}) Es ist eine zentrale Aufgabe einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die französischen Atomwaffentests zu verhindern. Es ist eben keine nationale, souveräne Entscheidung. Vielmehr gehört es zur gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die französischen Atomwaffentests zu verhindern, weltweit dafür zu sorgen, daß Atomwaffen nicht weiterverbreitet werden und daß endlich das Menschheitsziel, die Atomwaffen abzuschaffen, verwirklicht wird. Wir wollen doch, Herr Schmidt, Atomwaffen nicht europäisieren; wir wollen sie abschaffen. Das muß doch das politische Ziel sein! ({2}) Atomwaffentests sind ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die den Schutz des Lebens garantiert. Jacques Chirac wird mit Magen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte rechnen müssen; wir werden diese Magen unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um folgendes: Europa wird in anderen Teilen der Erde als Region wahrgenommen. Was die Franzosen jetzt planen, wird im Südpazifik als ein Angriff Europas wahrgenommen. Dann können wir doch nicht sagen: Das ist eine nationale Entscheidung Frankreichs. - Vielmehr sind wir in der Verantwortung, auch das Ansehen Europas zu schützen und dafür zu sorgen, daß im Südpazifik von Frankreich keine Atomwaffentests durchgeführt werden. ({3}) Jetzt kommt der Vorwurf, diese Kritik an den Atomwaffentests sei antifranzösisch. Mit Verlaub: Ich habe den Inhalt der Rede, die Präsident Mitterrand 1983 im Deutschen Bundestag gehalten hat, nicht geteilt; aber sie war nicht antideutsch, weil sie eine bestimmte Position in Deutschland kritisiert hat. Genausowenig wäre es antifranzösisch, wenn Helmut Kohl in der französischen Nationalversammlung gegen die Atomwaffentests spräche. Das ist so wenig antifranzösisch, wie es die kritische Position der französischen Sozialisten oder die der französischen katholischen Bischöfe oder die der 400 französischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ist. Das sollte sehr deutlich werden. ({4}) Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf - Herr Kinkel hat ja Gelegenheit, sich hier noch zu Wort zu melden -: Verlangen Sie eine Sondersitzung des EU-Außenministerrats, auf der die Forderung nach Verzicht auf die Atomwaffentests erhoben werden muß; tragen Sie dort die Kritik des gesamten Deutschen Bundestages vor! Ich komme jetzt noch auf ein Argument zu sprechen, das ja unterschwellig auch bei Herrn Schmidt vorhin immer eine Rolle gespielt hat. In bezug darauf, finde ich, muß man sehr genau überlegen. Da wird gesagt, wir sollten nicht so laut reagieren; man provoziere möglicherweise die neue französische Regierung zu einem weiteren nationalen Rückzug, deshalb müsse man vorsichtig sein. - Ich halte das für ganz falsch. Ich bin dafür, daß wir, auch diese Bundesregierung, offen konstatieren, daß es einen Wechsel in der politischen Linie der französischen Regierung gegeben hat. ({5}) Lesen Sie bitte nach, was einer der wichtigsten Berater der neuen französischen Regierung in einer Wochenzeitung in der letzten Woche formuliert hat! Da wird mit dem „Rückzug auf den Nationalstaat" und dem Verzicht auf europäische Integration als angeblichen Mitteln kalkuliert, den Rechtsradikalen und Le Pen entgegenzuarbeiten. Ich bin für eine offene europäische Diskussion über eine solche Strategie. Ich würde sie genauso verurteilen, wenn ein ähnlicher Versuch in Deutschland gemacht würde. Im übrigen wäre eine solche Entwicklung lebensgefährlich für Westeuropas Zusammenhalt. Ein solcher Rückzug ist anachronistisch, er gefährdet auch in Westeuropa Frieden und Völkerverständigung. Dies der Bevölkerung in Deutschland, Frankreich und Europa insgesamt zu sagen, gebieten - Herr Schmidt, ich sage es an Sie gerichtet - die Erfahrungen unseres Kontinents in diesem Jahrhundert. Deshalb werden wir eine grundlegendere Debatte über Europa führen müssen. Ich erwarte, daß die Bundesregierung in dieser Frage endlich einmal klar und deutlich Position bezieht, wie sie auf eine derart gefährliche Entwicklung in Europa antworten will. Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Lummer.

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat gesagt, und dieses Parlament hat beschlossen: Wir halten derartige Tests für unangemessen und falsch. Insofern gibt es eine einhellige Meinung dieses Hauses. Sie ist der französischen Regierung bekannt. Wir haben alle Veranlassung, immer wieder deutlich darauf hinzuweisen. Das ist klar. Wenn wir heute über dieses Thema diskutieren, diskutieren wir nicht das erste Mal darüber. Wie ich sehe, kommen auch keine neuen Argumente hinzu. ({0}) Wir wissen: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist für Europa letztlich konstitutiv. Das ist das eine, was wir angesichts der Situation registrieren müssen. Das zweite ist die Feststellung, daß wir, wenn wir solche Tests für unangemessen halten, unsere Enttäuschung über die Absicht der französischen Regierung Ausdruck geben müssen. Meine Damen und Herren, wenn Herr Kollege Scharping sich mit einem Teil der französischen Öffentlichkeit verbünden will, dann muß man ihm folgendes sagen: Chirac hat im Wahlkampf darauf hingewiesen, daß er die Atombombenversuche durchführen werde. Er ist im Bewußtsein dieser Vorentscheidung gewählt worden. Man könnte sogar sagen, er hat dafür mit der Wahl ein Mandat bekommen. Wir wollen das nicht tun, aber er hat keinen im unklaren darüber gelassen, was seine Politik ist und wo es langgeht. ({1}) Ich habe Verständnis für alle negativen Äußerungen. Nur einen Teil jener Dramatik vermag ich nicht zu begreifen, die immer wieder zum Ausdruck kommt. Ich denke, wir reden hier nicht über die ersten Atombombenversuche, sondern über die letzten. Der französische Präsident hat sehr deutlich darauf hingewiesen - Herr Kollege Pflüger hat es gesagt, und ich unterstreiche das -: Dieses sind für uns die letzten Versuche einer Reihe, die wir unterbrochen haben. Wir sind fest entschlossen und gewillt, danach jenen Vertrag zu unterschreiben, der keine solchen Tests mehr zuläßt. Das soll ab dem nächsten Jahr der Fall sein. Sich dafür gemeinsam mühen und einzusetzen, finde ich, ist eine wichtige Sache, so daß wir nicht mehr auf eine Vergangenheit zurückblicken müssen, in der wir nicht ahnen konnten, wann es mit diesen Tests zu Ende sein werde. Jetzt wissen wir: Es besteht eine gute Chance, daß diese Testreihe nächstes Jahr zu Ende ist - nicht nur, weil wir das wollen, sondern auch, weil es der französische Präsident gesagt hat ({2}) und die Verhandlungen darüber noch in diesem Jahre beginnen werden. Das ist, finde ich, eine vorzügliche Situation. ({3}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Bemerkung machen, weil mehrfach angeklungen ist, es gehe hier um die generelle Beseitigung aller atomarer Waffen; dies sei das wünschens- und erstrebenswerte Ziel. ({4}) Ich kann dies nur unterstreichen. Ich habe auf der einen Seite Verständnis dafür, aber ich will auf der anderen Seite folgendes sagen: Ich glaube, wenn es diese Atomwaffentests in der Mitte Europas - bei den Russen wie bei den Amerikanern, den Engländern und den Franzosen - nicht gegeben hätte, dann hätten wir hier möglicherweise längst kriegerische Auseinandersetzungen gehabt. ({5}) Das heißt, jede friedensstiftende Fähigkeit, die aus dieser überdimensionalen Vernichtungsfähigkeit hervorgeht, muß man auch sehen. Karl Jaspers hat dies schon in den 60er Jahren als erster ausgedrückt, und ich habe gerade in Berlin ein Stück von dem atomaren Schutz und Schirm - nicht nur der Amerikaner, sondern auch der Franzosen - nach dem Mauerbau erlebt. Ich habe also dazu eine andere Einstellung als vielleicht manche andere. Meine Damen und Herren, wir reden heute über dieses Thema. Es ist mehrfach - nicht zuletzt bei der Kollegin Wieczorek-Zeul - angeklungen: Wir sollten durch unser Tun, durch unseren Boykott oder was auch immer wir machen könnten, dafür sorgen, daß das Ansehen Europas bewahrt bleibt. ({6}) Ich will Ihnen nur sagen: Wenn wir diese Frage heute diskutieren sollten: das Ansehen Europas zu bewahren, dann müßten wir über Bosnien diskutieren. Dort ist dieses Ansehen in die Binsen gegangen, viel mehr als durch jeden französischen Atomversuch. ({7}) Da sind wir mit unserem Ansehen längst im Eimer, weil wir nicht in der Lage waren, dieses aktuelle Problem zu lösen. Dort gibt es tagtäglich Tote. Alles andere sind nur Befürchtungen, die an die Wand gemalt werden, nicht mehr und nicht weniger. Ich denke, wir sollten uns darauf konzentrieren, die französische Regierung dazu zu bewegen, von ihrer Entscheidung Abstand zu nehmen, aber das Ziel im Auge zu behalten, daß es ab dem nächsten Jahre nicht mehr zu solchen Versuchen kommt, sondern dazu, jenen Vertrag gemeinsam abzuschließen und zu unterzeichnen, der uns in der Zukunft vor allen Versuchen - ob chinesischen, amerikanischen oder französischen - bewahrt. Das ist, denke ich, der Mühe wert. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt Herr Kollege Freimut Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist der 14. Juli, der französische Nationalfeiertag, der für ganz Europa, besonders alle Republiken Europas, Bedeutung hat. Er hat für das Entstehen der zivilen Gesellschaft Bedeutung und wird im Weiterleben der zivilen Gesellschaft seine Bedeutung nicht verlieren. Am Vorabend dieses Tages diskutieren wir über unser Verhältnis zu Frankreich. Ich selber bin vor 37 Jahren in die Politik, wo ich nicht hinwollte, wegen des Algerienkrieges geraten und zu einem Kritiker Frankreichs geworden. Von Frankreich habe ich eine große Kultur der journalistischen, intellektuellen und publizistischen Kritik am Tun des eigenen Staates - Servan-Schreiber will ich nur als Beispiel nennen - gelernt. Ohne diese Kritik wäre General de Gaulle nicht dahin gekommen, den Frieden herzustellen und Millionen Menschen aus Nordafrika nach Frankreich zu holen. Die französische Kritik am eigenen Tun ist also wichtig. In diesem Punkt, über den wir heute reden, bringen wir zum zweitenmal eine gemeinsame Position zum Ausdruck - der Bundeskanzler genauso wie Joschka Fischer. ({0}) - Das kann er ab, der Bundeskanzler, und Herr Fischer auch. ({1}) - Wir sind ja sowieso einer Meinung. Diese Kritik gibt es in Frankreich heute nicht. Es ist falsch, zu glauben, daß die Kritik an den Atomtests heute ebenso profund wäre wie die Kritik an der französischen Politik der 50er und 60er Jahre. Das ist unser eigentliches Problem. Denn unsere Aufgabe ist, die meiner Überzeugung nach falsche Analyse der französischen Führung von dem, was in den 90er Jahren und im nächsten Jahrhundert Sicherheit bedeutet, deutlich zu machen. Zum erstenmal nach 1945 gibt es in Europa Massenvertreibungen - wir haben es vorgestern, gestern gehört -, und es gibt viele Atommächte, die nicht in der Lage sind, gegen die Sicherheitsgefährdung, unter der wir eigentlich leiden, abschreckend zu wirken. Mit Atomwaffen ist das schon gar nicht mit möglich. Atomwaffen sind nicht in der Lage, das, was uns bedroht, abzuschrecken. ({2}) Sie sind dazu nicht mehr in der Lage; sonst hätte es Srebrenica nicht gegeben. Dies ist der entscheidende Unterschied zu der Situation im Kalten Krieg. Wir wollen uns über die Abschreckungsfähigkeit im Kalten Krieg heute nicht noch einmal streiten. Aber die Sicherheitsbedrohung für ganz Europa ist mit einer Force de frappe nicht mehr abzuschrecken. Sie ist fehl am Platze. ({3}) Nur, diese Diskussion ist in Frankreich außerordentlich schwierig. Mir geht es mehr darum, mit den französischen Freunden über die Frage „Wie sieht die gemeinsame Sicherheitspolitik künftig aus?" zu diskutieren und vielleicht zu einer Revision der Entscheidung der französischen Regierung zu kommen. Die deutsch-französische Freundschaft jedenfalls wurde in diesem Hause bisher von niemandem kleingeschrieben und darf von niemandem in Deutschland, auch von der jüngeren Generation nicht, Meingeschrieben werden. Wir können das, was in Frankreich passiert, nicht mit dem vergleichen, was in China passiert. Die Verbundenheit durch das Durchleben zweier Weltkriege, durch 40 Jahre gemeinsames Arbeiten an einem engen Zusammenkommen und das gemeinsame Arbeiten an einem demokratischen, zivilen Europa ist etwas völlig anderes als das, was uns mit China verbindet. Deshalb bin ich dagegen, diese beiden Vorgänge miteinander zu vergleichen. ({4}) Aber in Frankreich wird diese nukleare Komponente immer noch - nach meiner Meinung ist dies falsch - als ein nationales Eigentum, als Symbol alleiniger Bedeutung wahrgenommen, was es nach meinem Eindruck und objektiv nicht mehr ist. Aber das kann man den Franzosen nicht einfach durch Appelle, durch Boykott - schon gar nicht - deutlich machen. ({5}) Wir müssen vielmehr eine gemeinsame Diskussion über neue Gefahren, die unser aller Sicherheit bedrohen, anfangen. Herr Lamers, wir wollen kein Kerneuropa. Aber wir wollen auch kein Kernwaffeneuropa. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Freundschaften zwischen Menschen wie auch zwischen Völkern zeichnen sich nicht dadurch aus, daß es keine Meinungsverschiedenheiten gibt, sondern durch die Art, wie Meinungsverschiedenheiten behandelt werden. Dem Versuch, diesem Postulat gerecht zu werden, ist man hier heute sehr unterschiedlich nachgekommen. Kollege Fischer, was sich Ihr Kollege Bock im Europäischen Parlament geleistet hat, ({0}) war eine Unglaublichkeit. Ich hätte schon erwartet, daß Sie sich heute davon distanzierten. ({1}) - Sie haben es vielleicht nicht wahrgenommen. Aber in Paris, woher ich gerade komme, ist bemerkt worden, daß sich ein deutscher Abgeordneter immerhin eines Vokabulars bedient - ({2}) Er hat von „Rambo" gesprochen, als er vom französischen Staatspräsidenten gesprochen hat. ({3}) Ich habe bei den Gesprächen, die ich gestern und heute in Paris geführt habe, sehr wohl bemerkt, daß die Kritik, die in aller Welt, in Europa und vor allen Dingen natürlich in Deutschland geäußert worden ist, nicht ohne Wirkung geblieben ist. Ich habe aber auch gemerkt, daß die eine oder andere Art der Kritik bis hin zu Boykottaufrufen zu einer Verstörung quer durch die politischen Lager in Frankreich führt. Natürlich habe ich mir auch die eine oder andere Gegenfrage anhören müssen. Die Franzosen haben gesagt: Nun gut, es gibt verschiedene Gründe und Motive für die Kritik an unseren Tests. Ein Motiv ist: Eigentlich ist es gar nicht nötig. Aber - so sagen sie -, wenn wir so töricht wären, Tests zu machen, wenn sie überhaupt nicht erforderlich sind, dann wäre überhaupt keine Basis zur Zusammenarbeit vorhanden; dann wären wir absolut ungeeignet, dieses Land zu führen. Weiter sagen sie: Ihr müßt uns bitte glauben, daß wir - wenn wir so etwas machen, von dem wir natürlich wissen, daß es problematisch ist - es nur tun, weil wir meinen, daß es im Interesse der Erhaltung dieser Nuklearwaffen notwendig ist. Dann kommt die zweite Frage. Unterstellt doch einfach einmal, dies sei richtig: Was ist denn dann der Grund für eure Kritik? ({4}) - Nein, nein. Ich komme noch auf den europäischen Zusammenhang, Kollege Fischer. Sie sagen: Tönt nicht die eine oder andere Kritik so, daß man daraus eigentlich nur schlußfolgern kann - Frau Kollegin Wieczorek hat es hier deutlich gesagt -, daß ihr die französischen Nuklearwaffen beseitigen wollt? Dann sagen sie: Ja, hier gibt es dann in der Tat einen Dissens. Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, man kann ja verschiedener Meinung sein; aber man kann nicht meinen, nur die eigene Meinung sei immer die richtige. ({5}) Natürlich ist es richtig, was der Kollege Schmidt gesagt hat: daß wir in der Tat in einer nuklearverdächtigen Umwelt leben. Im Nahen Osten gibt es mindestens eine inoffizielle Nuklearmacht und weitere verdächtige. ({6}) Die Frage ist, Kollege Fischer: Wie gehen wir damit um? ({7}) Ich finde wirklich, wenn wir ehrlich - und dazu gehört in der Tat auch ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit - mit unseren Freunden diskutieren wollen, ({8}) dann müssen wir eine Antwort auf diese Fragen, die die Franzosen stellen, geben. Einer hat mir gesagt: Wenn der ehemalige französische Staatspräsident - ein Sozialist, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul - ausdrücklich gesagt hat, wir seien bereit, den französischen Nuklearwaffen eine europäische Funktion zu geben, dann tut ihr ja so, als hättet ihr gar nichts gehört. Wenn ihr aber gleichzeitig eine gemeinsame europäische Verteidigung wollt, dann müssen wir auch über diesen Faktor reden. - Ich finde in der Tat, daß das dazugehört, wenn wir alle eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wollen. Das ist ohne jeden Zweifel für uns ein schwieriges Thema, nicht zuletzt wegen der Nuklearwaffen; aber wir können diesem Thema nicht ausweichen. Da hilft es nichts, wenn wir uns nur in Empörung ergehen. Wir müssen auch über die Sache reden. So problematisch uns diese Tests erscheinen mögen und so problematisch sie für uns ohne jeden Zweifel auch sind: Vielleicht machen sie auf diesen Sachverhalt aufmerksam. Ich hoffe, daß wir im Zuge der Diskussion über die europäische Einigung und insbesondere über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik dieser Frage auch in Zukunft nicht ausweichen werden. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Kollege Michael Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in der letzten Zeit zwei Vorfälle gehabt, die in einer besonderen Weise ein Spannungsverhältnis zwischen sich immer mehr globalisierenden Problemen auf der einen Seite und sozusagen der Handlungsunfähigkeit nationaler Politik auf der anderen Seite gezeigt haben. Das war zum einen - ich will bewußt diesen Zusammenhang herstellen - der Vorgang um „Brent Spar", und das ist zum anderen jetzt die Auseinandersetzung über die Atomtestversuche von Frankreich. Dieses Spannungsverhältnis finde ich das eigentlich Wichtige. Hier wird der Widerspruch deutlich, daß wir auf der einen Seite in einer immer mehr zerbrechlich werdenden Einheit der Welt leben, aber auf der anderen Seite mit unserer bisherigen Politik überhaupt nicht der Globalisierung der Probleme Rechnung tragen können. Dieses Spannungsverhältnis wirkt sich aus meiner Sicht nicht nur in einem sehr unklaren Bild der europäischen Politik aus, sondern es führt auch zu erheblichen Glaubwürdigkeitsverlusten der Politik selbst. Das wird an vielen Beispielen deutlich. Ich komme darauf zurück. Der Erdgipfel von Rio - ich will darauf hinweisen - hat gesagt: Das Entscheidende ist für uns, zu einer neuen planetarischen Ethik, zu einer sozialen und ökologischen Weltinnenpolitik zu kommen. Wenn dies der Fall ist, dann bedeutet das, daß wir allen Versuchen widersprechen müssen, die starke Wirtschaftsgruppen oder einzelne Regierungen, gleich welchen Landes, gleich welchen Konzerns, unternehmen, um die Erde zu ihrem Eigentum zu machen. Das geht nicht. ({0}) Aus meiner Sicht ist der entscheidende Punkt, daß dann vor dem Hintergrund dieser planetarischen Ethik Einmischung notwendig, ja sozusagen Pflicht ist. ({1}) Das ist eine völlig andere Betrachtungsweise. Sie ist aber eine notwendige, und sie hat weder mit Überheblichkeit noch mit falschen Feindbildern etwas zu tun. Sie ist schlicht und einfach Ausdruck einer Verantwortung in einer Welt, die sozusagen immer mehr zur Einheit wird. Die Schwierigkeit ist natürlich, daß die Verhinderung der französischen Atomtestversuche weitaus mehr verlangt, als einen weiten Bogen um eine Shell-Tankstelle zu fahren. Das ist klar. Aber das bedeutet nicht, daß man deshalb nur noch leise Töne wählen darf. Im Gegenteil, hier muß um so deutlicher, wenn auch im Stil der Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs angemessen, klargemacht werden, daß dies keine Entscheidung ist, die Frankreich allein berührt, sondern daß sie dem gemeinsamen Ziel einer neuen planetarischen Ethik widerspricht. Das ist der entscheidende Punkt, und den muß man auch herausstellen. ({2}) Es geht auch nicht, daß auf der einen Seite die globale Verantwortung gefordert wird und auf der anderen Seite die Verseuchung der Meere hingenommen wird. Es geht nicht, daß man schweigt, wenn die atomare Rüstungsspirale wieder in Gang gesetzt wird. Das Entscheidende ist aber, was auch die „Abendzeitung" schreibt: Man kann sich bei den globalen Fragen nicht nur in einzelnen Punkten öffentlich ungeheuer engagieren und in anderen Punkten weitgehend schweigen. Dann bringt man sich in die Zwickmühle der Unglaubwürdigkeit. ({3}) Michael Müller ({4}) Es ist in der Tat ein eklatanter Widerspruch, was wir an öffentlichem Protest von der Politik gegen „Brent Spar" erlebt haben ({5}) und was wir jetzt bei dem Protest gegen die französischen Atomwaffenversuche erleben. Das paßt nicht zusammen. ({6}) Wir können es nicht akzeptieren, wenn rücksichtslose Multis wie Shell so handeln. Wir können aber auch nicht akzeptieren, wenn Politiker - ich befürchte, innenpolitisch motiviert - solche Entscheidungen treffen. Hier müssen wir sagen: Wir wollen eine andere Politik. Das ist keine antifranzösische Position. Frau Wieczorek-Zeul hat festgestellt, daß beispielsweise die französische Bischofskonferenz - man kann sie wahrlich nicht als antifranzösisch bezeichnen - mindestens genauso heftig gegen diese Entscheidung protestiert hat. Lassen Sie mich zuletzt noch eine Bemerkung zur Ökologie machen. Ich halte das, was dort abläuft, für eine unglaublich gefährliche Zeitbombe. Das Atoll hat in der Zwischenzeit nicht nur erhebliche Risse und ein Absenken zu verzeichnen; dort ist in Wahrheit ein gigantisches unterseeisches Atommüllager mit Konsequenzen, von denen keiner weiß, was passiert, wenn es bricht. Es gibt ernstzunehmende Hinweise, daß die Belastungsgrenzen dieses Atolls erreicht sind. Wer hier mit dem Leben der Menschen im Südpazifik spielt und sie sozusagen ohne Selbstbestimmungsrecht in Geiselhaft nimmt, handelt unverantwortlich. Er widerspricht der wichtigsten europäischen Tradition, nämlich für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie zu kämpfen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drohende Wiederaufnahme der französischen Atombombenversuche im Südpazifik - Drucksache 13/1986 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({0}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/1986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, 5. September 1995 ein. Die genaue Uhrzeit wird Ihnen rechtzeitig bekanntgegeben Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollege einen schönen Sommer. Die Sitzung ist geschlossen.