Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Bereinigung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften zu erweitern. Über die Vorlage soll jetzt gleich abgestimmt werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Damit rufe ich die genannte Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf:
ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Bereinigung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften ({1})
- Drucksachen 13/10246, 13/11041, 13/11271, 13/11407 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heribert Blens
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/11407? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort:
1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1999
({2})
- Drucksache 13/11100 -
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 1998 bis 2002 - Drucksache 13/11101 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Wir kommen zum Etat des Bundeskanzleramtes sowie zur Außen- und Verteidigungspolitik. Ich erinnere daran, daß wir gestern für die Aussprache sechs Stunden festgelegt haben.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich heute morgen die Zeitung „Die Woche" aufschlug, dachte ich: Jetzt geht das schon wieder los. - Denn der Bundesverteidigungsminister äußert sich dort erneut zu der Debatte über die Nachfolge von Helmut Kohl und sagt, er sei fest davon überzeugt, daß Herr Schäuble sich schon entschieden habe. Ich habe mir dann gedacht: Wie kann in diesem Wahlkampf eine Partei einen Bundeskanzler mit dem irreführenden Titel „Weltklasse" plakatieren und gleichzeitig das Verfallsdatum dazu-kleben?
({0})
Denn es ist doch wirklich eigenartig, daß uns hier unter einem außerordentlich groß daherkommenden Titel etwas angeboten wird, was im Kern nichts anderes ist als die Flucht vor der eigenen Bilanz.
({1})
Meine Damen und Herren, natürlich geht es bei einem Haushalt auch um die Frage, wie man Zukunft anpacken will. Aber das völlig frei von den Erfahrungen der Vergangenheit und damit der Bilanz zu machen, das wird nun wirklich nicht gelingen. Zukunft zu gestalten und in diesem Sinne daraus Fortschritt zu machen, das bedeutet, weder Wandel zu ignorieren noch sich dem Wandel zu unterwerfen. Wer etwas gestalten will in Deutschland, der muß wirtschaftliche Kraft, soziale Verantwortung und kluge Vorsorge für die Zukunft neu zusammenbringen. Genau diese Idee, die unser Land im Wiederaufbau und später auch im Rahmen der europäischen Integration und seiner weiteren Entwicklung groß gemacht hat, nämlich die wirtschaftliche Kraft mit sozialer Verantwortung und kluger Vorsorge für die Zukunft zu verbinden, ist von der Politik dieser Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt berücksichtigt, sondern im Gegenteil schwer verletzt worden.
({2})
Sie haben, Herr Bundeskanzler, viele Gelegenheiten verstreichen lassen, Kräfte zu bündeln, Menschen zusammenzuführen und ihnen eine Anstrengung abzuverlangen, von der man hätte wissen können: Es lohnt sich um des Zieles willen, und es geht dabei gerecht zu. Ein Beispiel dafür ist die Gestaltung der deutschen Einheit. Niemand bestreitet Ihnen, daß Sie außenpolitisch und mit Blick auf die staatliche Einheit der Deutschen den richtigen Weg gegangen sind - und das klug und schnell.
({3})
Aber innerhalb Deutschlands sind alle Weichen falsch gestellt worden - alle!
({4})
Sie haben von Anfang an Illusionen erzeugt. Ich erwähne das deshalb, weil es sich in diesen Tagen erneut abspielt. 1990 haben Sie eine Anzeige veröffentlicht mit einer Garantieerklärung Ihrer Regierung: Es bleibt dabei: Keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit; diese Garantie kann Ihnen nur die Regierung Helmut Kohl geben - 25. November 1990. - Man konnte dem Bundesfinanzminister gestern ansehen, welch schlechtes Gefühl, ja vielleicht sogar welch schlechtes Gewissen er dabei hat
({5})
- wir wollen ihm das einmal freundlich unterstellen -, wenn er jetzt plötzlich wiederum wenige Tage vor einer Wahl, mit einem ähnlichen Versprechen durch die Lande zieht.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in den letzten Tagen eines Wahlkampfes und dann im Laufe seiner Politik während einer Legislaturperiode nicht klare Ziele benennt und auch Schwierigkeiten deutlich macht sowie gerechte gemeinsame Anstrengungen von allen verlangt, der macht Klientelpolitik. Deshalb haben wir den Zustand erreicht, daß in Deutschland nur noch solche Menschen von Ihrer Politik etwas haben, die zu privilegierten Minderheiten gehören. Sie verletzten die Interessen der Mehrheit unseres Volkes und haben das seit längerer Zeit mit System getan.
({7})
Es wäre klug gewesen, Kräfte zusammenzuführen. Sie haben aber diese Gelegenheit nicht nur durch haltlose Versprechungen nach der deutschen Einheit verpaßt, sondern Sie haben sie - um ein weiteres Beispiel zu nennen - im Frühjahr 1996 erneut zerstört. Damals bestand die Möglichkeit, ein Bündnis für Arbeit zu schmieden. Sie hatten die Gewerkschaften und die Arbeitgeber zu mehreren Runden im Kanzleramt eingeladen. Die Gewerkschaften hatten sich um des größeren Ziels der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit willen sogar zu für sie durchaus unangenehmen Schritten bereit erklärt und Konsens signalisiert. Sie haben dann nach den Wahlkämpfen des Frühjahrs 1996 in drei deutschen Ländern dieses Bündnis auf eine unglaublich leichtfertige Weise zerschlagen, mit einer Provokation, die übrigens leider auch ein sehr charakteristisches Element Ihrer Politik darstellt. An die Stelle der Kooperation der wichtigen gesellschaftlichen und politischen Kräfte in Deutschland haben Sie die dumme soziale Konfrontation gesetzt und damit auch das Bündnis für Arbeit, die Chance auf gemeinsame Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, zerstört.
({8})
Beispiele für eine solch dümmliche soziale Konfrontation statt der Bündelung von Kräften waren Ihre Entscheidung über die Lohnfortzahlung, von der Sie genau wußten, daß es bei einem Bündnis für Arbeit unmittelbar wie ein Sprengsatz wirken mußte, Ihre Entscheidung, das Schlechtwettergeld wegzurasieren und damit die zusätzliche Arbeitslosigkeit von vermutlich über 200 000 Bauarbeitern in Kauf zu nehmen, Ihre Entscheidungen über den Kündigungsschutz und anderes. Wir werden diese soziale Konfrontation überwinden, damit wieder gemeinsame Anstrengung, gemeinsame Zielsetzung und gemeinsame Verantwortung in Deutschland möglich wird.
({9})
Es ist wahr, daß man im Wandel, den man nicht bestreiten kann, auch Gestaltung ermöglichen muß, daß man aber zu dieser Gestaltung noch etwas braucht - neben der Klugheit, Kräfte zu bündeln, Menschen zusammenzuführen, gemeinsame Ziele in gemeinsamer Verantwortung nicht nur zu beschreiben, sondern auch anzustreben -: Man braucht auch ein Gespür dafür, ein alltägliches Wissen davon, was Menschen bewegt und wie sich politische Entscheidungen bei ihnen auswirken. Auch dieses schlichte Gefühl für Gerechtigkeit und dafür, wie man anstänRudolf Scharping
dig mit Menschen umgeht, ist Ihnen im Laufe Ihrer Amtszeit immer stärker abhanden gekommen.
({10})
Es mag sein, daß Sie, gewissermaßen in einer Aufwallung zur letzten Runde, CDU-Kundgebungen noch zu einer mehr pflichtbewußten Begeisterung bringen können. Aber es ist auf der anderen Seite leider wahr, daß die große Mehrheit unseres Volkes nicht mehr die Sicherheit hat, die sie Regierenden wüßten noch von den Folgen ihrer Entscheidungen für die Haushalte normaler Leute. Das ist das Element des Verdrusses, das bis weit in Ihre Koalition hineinragt und in dem sich etwas anderes widerspiegelt, nämlich nicht nur der einfache Überdruß ob einer langen Amtszeit und der Verdruß ob der einen oder anderen Ungerechtigkeit, sondern das sichere Gespür dafür, daß Ihrer Politik die Idee, die tragende Linie, abhanden gekommen ist und daß Sie deshalb nicht mehr zur Gestaltung der Zukunft in der Lage sind.
({11})
Setzen Sie sich einmal in Ostdeutschland mit Frauen in einer sogenannten Beschäftigungsgesellschaft zusammen, mit Frauen, die 1991 ihren Arbeitsplatz verloren hatten und jetzt wegen der Aufstokkung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Mittel dafür im Jahre 1998 eine Chance bekommen, von der sie von Anfang an wissen, sie ist befristet und danach kommt vermutlich keine mehr; sprechen Sie einmal mit Menschen, die Ihnen auf einem Marktplatz voller Empörung erzählen, daß ihre Rentensteigerung einige wenige Pfennige beträgt und daß sie Sorgen haben; reden Sie einmal mit jungen Leuten über ihre Ausbildungsstellen, und konfrontieren Sie das dann mit den regierungsamtlichen Stellungnahmen.
Dazu sagt der Bundesminister für Zukunft - er sollte einmal für die Zukunft zuständig sein; aber auch das ist schon Vergangenheit -,
({12})
Herr Rüttgers: Es gibt keine Lehrstellenkatastrophe. - Wir können meinetwegen über die Worte streiten. Das ist aber in meinen Augen nicht so wichtig. Wichtiger ist: Wir verschleudern die Zukunft unseres Landes. Ein so reiches und starkes Land wie Deutschland hat es nicht nötig, daß auch nur ein einziger Jugendlicher am 1. September ohne Ausbildungsstelle ist.
({13})
Die Familien, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen, haben es nicht verdient, daß ein Bundeskanzler nur in wohlfeilen Ansprachen - in aller Regel zu Neujahr - verkündet, man werde sich um die Jugend sorgen, man werde ihr helfen, daß aber dann in der praktischen Politik nichts nachfolgt. Es kommt keine einzige Entscheidung, die helfen könnte, daß diese bedrückende Situation für Zehntausende von Jugendlichen und Familien überwunden wird.
Es ist Ihnen das Gespür für Alltag und für Entwicklung, das einfache Empfinden für Gerechtigkeit abhanden gekommen, wenn Sie behaupten, es sei aus finanziellen Gründen notwendig, das Rentenniveau zu senken. Das ist eine schamlose Lüge und übrigens auch eine schamlose Politik. Die Kürzung des Rentenniveaus spart in den öffentlichen Kassen weitaus weniger Geld, als die Abschaffung der Steuer auf große Privatvermögen gekostet hat. Das macht deutlich, welcher Linie Ihre Politik folgt.
({14})
Überlegen Sie sich, wie viele Menschen im Osten Deutschlands jetzt in eine Situation gebracht werden, in der eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder eine Maßnahme nach § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes möglich wird, und dann die Träger sagen: Erst mußten wir die ganze Infrastruktur für diese Arbeitsplätze dramatisch reduzieren; man hat uns über zwei bis drei Jahre hinweg signalisiert: Macht weniger, es geht zu Ende, baut nicht mehr darauf, daß euch der Staat helfen wird. - Jetzt müssen sie das alles wieder hochziehen, bei der Caritas, beim Diakonischen Werk und bei vielen anderen Trägern bis hin zu den Beschäftigungsgesellschaften im Osten Deutschlands, wieder in der Gewißheit, es könnte im Jahr 1999 Schluß sein. Herr Bundeskanzler, man macht Arbeitsmarktpolitik nicht im Rhythmus von Wahlterminen, man macht sie im Interesse der Menschen.
({15})
So ist Ihnen beides abhanden gekommen: die tragende Idee für die Zukunft und das alltägliche Wissen darum, was Ihre Entscheidungen, was Ihre Politik für normale Familien, in normalen Haushalten mit normalem Einkommen wirklich bedeuten. Das spürt man besonders deutlich bei der Bekundung beispielsweise Ihres Koalitionspartners, es sei ein letztes Element der Freiheit auf dem Arbeitsmarkt, daß es 620-DM-Verträge gebe.
({16})
Was für eine Vorstellung haben Sie eigentlich von Freiheit?
({17})
Das erinnert mich an das 19. Jahrhundert, als die Liberalen dachten, Freiheit ohne soziale Dimension sei etwas. Es hat sich herausgestellt: Das war wenig.
Deshalb sage ich Ihnen: Schauen Sie sich das einmal an. Sie glauben offenbar, daß Deutschland ein wirtschaftlich starkes und zugleich sozial verantwortliches Land bleiben könne, obwohl die Zahl seiner sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sinkt, die Zahl seiner Arbeitsverhältnisse ohne soziale Sicherheit aber steigt; Sie glauben offenbar, daß die über 5 Millionen betroffenen Menschen es als Freiheit empfinden, daß sie für nur 620 DM ohne soziale Sicherheit arbeiten dürfe.
({18})
Diesen Begriff von Freiheit, der nichts anderes bedeutet als die Freiheit der wirtschaftlich Mächtigen, zu tun, was sie für richtig halten, teilen wir nicht. Wir wollen erreichen, daß Arbeit und soziale Sicherheit zusammenbleiben.
({19})
Ich habe hier den Bericht des Landesarbeitsamtes Nord. Im Zusammenhang mit Ihrer Vorstellung von Freiheit ist das ein ganz interessantes Beispiel. Die Arbeitsverwaltung versucht herauszufinden, ob sich wirklich alle Betriebe - leider tun es längst nicht alle - an das halten, was man über Arbeitsschutz, Arbeitszeiten, Löhne usw. vereinbart. Dem Bericht des Landesarbeitsamtes Nord entnehme ich, daß auf einer mecklenburg-vorpommerischen Baustelle im letzten Jahr ein Stundenlohn von 2,24 DM gezahlt worden ist. Sie haben sich doch bisher immer geweigert, illegale Arbeit, die Bedienung mit Fremdfirmen und anderes überhaupt als Thema zu akzeptieren, geschweige denn dafür zu sorgen, daß gegen solche Mißstände konsequent vorgegangen wird.
({20})
Es ist eine schwere Verletzung des Rechtsbewußtseins der Bürger, wenn der Gesetzgeber illegale Tätigkeit noch immer so behandelt, als sei es eine Ordnungswidrigkeit. In Zeiten millionenfacher Arbeitslosigkeit aber ist illegale Beschäftigung, sind solche Mißstände wahrlich kein Kavaliersdelikt. Das ist nicht wie falsches Parken im Halteverbot, sondern kriminelle Energie, die sich dort niederschlägt, und das muß entsprechend konsequent angegangen werden.
({21})
So ist Ihnen nicht nur die kluge Einsicht abhanden gekommen, daß wirtschaftliche Kraft, soziale Verantwortung und Vorsorge für die Zukunft zusammengehören, so ist Ihnen nicht nur das Empfinden für die alltägliche Wirklichkeit von Menschen abhanden gekommen, sondern es ist Ihnen auch abhanden gekommen, nach vorne zu schauen, und zwar so, daß man dabei alle im Blick hat und alle einlädt, den Weg nach vorne mitzugehen.
Sie reden anders, als Sie denken, und Sie handeln anders, als Sie reden. Das ist am Ende für die Demokratie alles andere als wünschenswert und auch für die Glaubwürdigkeit ihrer Institutionen alles andere als gut. Alle drei Elemente machen den Überdruß aus, der sich bis in Ihre Partei hinein verbreitet hat.
Herr Bundeskanzler, ich habe folgendes nicht verstanden: Es gibt Zeiten, da muß man den Weg aus diesen Schwierigkeiten so wählen, daß das Nötige entschieden wird. Eine eigentlich konzeptionslose Politik, deren einziges Konzept noch darin besteht, auf jeden Fall auf den Sesseln sitzen zu bleiben, die Macht zu behalten, ohne zu wissen, wofür eigentlich, die reicht nicht. Man spürt das auch an diesem dritten Element, nämlich der klugen Vorsorge für die Zukunft.
Über Ausbildung und Bündnis für Arbeit habe ich gesprochen. Schauen Sie sich einmal an, was Sie im Zusammenhang mit Forschung und Entwicklung und den entsprechenden Haushalten getan haben.
({22})
Wenn man reklamiert, man wolle etwas für die Zukunft tun, dann bleibt es ein eigenartiger Widerspruch in Ihrer Politik, daß wir in wenigen Jahren zur Bezahlung von Zinsen - von Schulden, die Sie gemacht haben - das Siebenfache dessen aufwenden, was wir für Forschung und Technologie, Bildung und Wissenschaft ausgeben - das Siebenfache! Das soll eine Politik sein, die Vorsorge für die Zukunft reklamiert? Es zeigt sich doch schon allein an den finanziellen Entwicklungen - übrigens auch am inneren Willen Ihrer Politik -: Sie sind nicht mehr fähig, Prioritäten zu setzen, Sie sind nicht mehr fähig, sich auf eine gemeinsame Politik zu verständigen, und Sie sind auch nicht fähig, die notwendigen Maßnahmen für die Zukunft auf den Weg zu bringen, und zwar so, daß unser Volk eine gemeinsame gute Zukunft hat.
({23})
Es ist wahr: Nur sozial gerechte Gesellschaften sind auf Dauer leistungsfähig. Das, was ich hier formuliere, ist nicht allein die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion in diesem Hause; es ist auch die Haltung der großen gesellschaftlichen Gruppen. Normalerweise würde man sagen: Nun gut, daß die Gewerkschaften in diese Kritik einstimmen, daß vielleicht von den großen Wohlfahrtsverbänden die Arbeiterwohlfahrt in diese Kritik einstimmt, das erwartet man. Das wäre auch nichts besonders Neues. Aber man findet zum Beispiel in den beiden christlichen Wohlfahrtsverbänden - übrigens bei dem größten Arbeitgeber der Bundesrepublik Deutschland; beide Wohlfahrtsverbände zusammengenommen sind Arbeitgeber von etwa 800 000 Menschen -, die in Deutschland in Krankenhäusern, Sozialstationen oder auf anderen Feldern bis hin zu Kindergärten tätig sind, mittlerweile fast keinen Hauptamtlichen, fast keinen Ehrenamtlichen mehr, der sagen würde, er fühle sich mit der gegenwärtigen Politik wohl, er erkenne sich in ihr wieder, er sei der Auffassung, sie trage für die Zukunft. Sie finden niemanden mehr! Wie weit entfernt sich christdemokratische Politik von ihrem eigenen Anspruch, wenn sie noch nicht einmal mehr im Umfeld der Kirchen den Widerhall findet, den sie im Interesse des Landes eigentlich finden müßte?
({24})
Das ist nicht nur die Folge davon, daß Sie keine Idee mehr haben, sondern auch davon, daß Sie an die Stelle der fehlenden Idee ein Prinzip gesetzt haben, das gerade im Umfeld der Kirchen sehr genau erkannt wird. Nie zuvor haben sich die beiden christlichen Kirchen so klar und deutlich in einem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage unseres Landes besorgt und kritisch geäußert - nie zuvor! Dahinter steckt - auch das findet sich in dieRudolf Scharping
sem Wort ausdrücklich wieder - die Sorge, daß die Verletzung der Idee sozialer Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalts noch einen anderen Grund hat. Sie haben nämlich begonnen, die Gesellschaft, das Zusammenleben von Menschen „durchzuökonomisieren". Sie haben alles, was in diesem Haus debattiert worden ist - wenn es um die Lage Behinderter ging, wenn es um die Lage chronisch Kranker ging, wenn es um die Frage der kleinen Renten ging, wenn es um viele andere bedrängte und besorgte Menschen ging -, immer mit den angeblichen Zwängen von Kosten beantwortet. Wer einer Gesellschaft dadurch den Zusammenhalt raubt, daß er ihr suggeriert, es sei alles nur Ökonomie und kurzatmige Betriebswirtschaft, der ruiniert den sozialen Kitt, Toleranz, Rücksichtnahme und Zusammenhalt im alltäglichen Leben.
({25})
Meine Damen und Herren, es wäre gut, wir hätten eine Regierung - wir werden sie ja bekommen -, die wieder Stärken mobilisiert, anstatt Schwächen auszunutzen. Herr Bundeskanzler, ich hatte in vielen Situationen das Gefühl, daß Sie eher die Schwächen der Menschen kennen, als daß Sie deren Stärken mobilisieren. Im Zweifel nutzen Sie eher jene und setzen sie auch taktisch ein. Man sieht das ja daran, wie vorher „Weggebissene" jetzt plötzlich aus wahltaktischen Erwägungen wieder herangezogen werden.
({26})
Sie vermitteln Menschen nicht mehr das Gefühl, daß sie eine Hoffnung begründen. Sie ermutigen Menschen nicht und bündeln keine Kräfte, sondern Sie bauen eher auf Eigennutz, Schwäche oder anderes. Vor diesem Hintergrund ist zu sagen, daß nur ein im Innern stabiles, starkes Deutschland auch für seine Freunde und Partner stabil und verläßlich ist.
({27})
Es mag lange Zeit gutgehen, wenn man den einer großen Volkswirtschaft und einem bedeutsamen Land in Europa geschuldeten Respekt mit persönlicher Anerkennung verwechselt. Das haben Sie ja oft getan. Wenn aber Deutschland im Innern seine Möglichkeiten zu Stabilität und Verläßlichkeit nicht ordentlich nutzt und ausbaut, dann ist es auch nach außen nicht so stabil und verläßlich, wie wir uns das wünschen. Das ist heute nicht das aktuelle Thema; das weiß auch ich. Es ist auch keine aktuelle Gefahr; auch das weiß ich. Dennoch sollten wir uns bewußt bleiben - auch wegen unserer eigenen historischen Erfahrungen -, daß wir bei unseren Reden hier nicht nur die Dimensionen der nächsten dreieinhalb Wochen vor Augen haben, sondern in den Dimensionen einer längerfristig angelegten Politik denken und dementsprechend reden. Wir sollten nicht nur über Zukunftshoffnungen reden, die Sie jetzt kurioserweiser wieder als Flucht vor der eigenen Bilanz vermitteln wollen. Das wird Ihnen niemand durchgehen lassen.
({28})
Wir müssen natürlich auch über die Frage der Gestaltung der Zukunft unseres Volkes reden. Es ist ganz offenkundig so, daß sich, wenn der Weg weiter so wie in den letzten acht Jahren - wegen der deutschen Einheit sage ich das jetzt so - gegangen wird, für manche Gruppen in der Bevölkerung etwas verbessern wird. Das kann man gar nicht bestreiten. Dann wird sich möglicherweise aber auch sehr schnell herausstellen, daß die Freude an der Verbesserung der Lebenssituationen kleinerer Gruppen - soweit man jedenfalls ein Gefühl und ein Gewissen für andere hat - einfach dadurch geschmälert und getrübt wird, daß sich dieses Land zu stark auseinanderbewegt und man nicht mehr für alle Jugendlichen, für alle sozial Schwachen und für alle Benachteiligten etwas zu tun versucht. Sie haben oft genug versucht, uns einzureden, daß sich die SPD, wenn sie sich so äußere, wie der Betriebsrat der Nation verhalte; sie kümmere sich nicht um die Leistungsträger.
Aber in dieser Rede, Herr Bundeskanzler, steckte immer zugleich eine mißachtende Vorstellung von dem, was Leistungsträger sind, nämlich Egoisten.
({29})
In dieser Rede steckte immer die Unterstellung, der Leistungsträger sei nicht willens und nicht bereit, denen zu helfen, die auf die Starken angewiesen sind. Solidarität und Zusammenhalt in unserem Verständnis ist nicht nur Zusammenhalt zwischen den Schwächeren, sondern täglich praktizierte Verantwortung der Stärkeren. Das steckt hinter Solidarität und Zusammenhalt.
Ihre Politik hat aber bei alldem - nicht immer und nicht bei jeder einzelnen Entscheidung, aber doch insgesamt - nicht beachtet, daß nur eine kluge Verbindung von wirtschaftlicher Kraft, sozialer Verantwortung und kluger Vorsorge für die Zukunft - sei es bei Bildung und Ausbildung, beim Schutz der Lebensgrundlagen oder an anderer Stelle - unserem Land am Ende eine gute Zukunft öffnet. Sie haben versäumt, zu berücksichtigen, was Ihre Entscheidungen für das alltägliche Leben der Menschen bedeuten. Sie haben versucht, uns einem Wandel zu unterwerfen, anstatt ihn gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Kräften zu gestalten.
Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen vorgeworfen, daß Sie Ihr eigenes Wort nicht ernst nehmen. Am 9. Oktober 1994 erschien in Bonn im Zusammenhang mit einer Debatte, wie wir sie auch in diesen Tagen erleben, eine Meldung, die im Kopf den Bundesadler und die Überschrift „Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland" trägt. Diese Meldung enthält eine persönliche Erklärung von Ihnen zu einer Diskussion, die wir vor vier Jahren schon einmal erlebt haben:
Ich habe wiederholt erklärt, daß ich für die Dauer der gesamten nächsten Legislaturperiode, d. h. in der Zeit von 1994 bis 1998, als Bundeskanzler zur Verfügung stehe. Dabei bleibt es. Außerdem habe ich deutlich gemacht, daß ich auf keinen Fall beabsichtige, über 1998 hinaus erneut für das Amt des Bundeskanzlers zu kandidieren.
({30})
Immerhin handelt es sich um eine offizielle Meldung der Bundesregierung.
Ich kann verstehen, daß Sie vielleicht nur noch aus Gewohnheit an den Sesseln kleben, auf denen Sie sitzen. Nehmen Sie sie ruhig mit - das ist nicht das Problem -, aber nehmen Sie Ihre eigenen Worte wenigstens in diesem Falle ernst!
({31})
Das Wort hat der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Michael Glos.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Gelegenheit gehabt, die Gesichter der drei Herren genau zu beobachten, während Herr Scharping geredet hat. Freude bei denen und auch bei Ihnen auf der linken Seite des Hauses kam erst auf, als Sie geendet haben, Herr Scharping.
({0})
Das kann ich gut verstehen. Das letzte vernünftige Wort, das ich von Ihnen gehört habe, war Ihre Aussage im „Stern" am 6. Juli 1995. Dort haben Sie gesagt: Schröder hat in Niedersachsen den Landeshaushalt total ruiniert. Eine weitere vernünftige Handlung, die mir von Ihnen noch in Erinnerung ist, ist, daß Sie Herrn Schröder als Sprecher für Wirtschaftspolitik entlassen haben. All das war in Ordnung. Aber seitdem sind Sie politisch etwas außer Tritt geraten.
({1})
Der Herr Präsident des Bundesrates, der heute auch in seiner Eigenschaft als Kanzlerkandidat anwesend ist, hat vorgestern die Feierstunde zu Ehren des Parlamentarischen Rates mißbraucht, um gegen den Wettbewerbsföderalismus zu Felde zu ziehen.
({2})
Sieht man die Ergebnisse seiner Arbeit als Ministerpräsident in Niedersachsen, hat man für diese Haltung menschlich sehr viel Verständnis.
({3})
Die gewaltigen Unterschiede zwischen Niedersachsen und Bayern beweisen: Entgegen den Behauptungen von Herrn Schröder ist die Entwicklung eines Bundeslandes sehr wohl von der Politik der jeweiligen Landesregierung abhängig.
({4})
Warum sonst sollten die Bürger bei Landtagswahlen
wählen? Wer die Blockadepolitik seiner eigenen Partei im Bundesrat zum zentralen Thema einer solchen Feierstunde macht, der mißbraucht sein Amt.
({5})
Wie sieht Niedersachsen im Ländervergleich aus? Anspruch und Wirklichkeit klaffen gewaltig auseinander: Die Arbeitslosenquote liegt um zwei Drittel über der in Bayern; das Wirtschaftswachstum in Niedersachsen ist um fast 50 Prozent niedriger als in Bayern; die Investitionsquote im Haushalt ist um ein ganzes Viertel niedriger; der Anteil der Selbständigen in Niedersachsen ist ebenfalls um ein Drittel niedriger als in Bayern.
({6})
- Richtig, es ist nicht so, daß alles niedriger ist als in Bayern: Die Zahl der Insolvenzen ist um ein Fünftel höher; die Pro-Kopf-Verschuldung in Niedersachsen ist doppelt so hoch wie in Bayern, und der Anteil der Kredite am Staatshaushalt ist zweieinhalbmal so hoch wie in Bayern.
Herr Schröder will ja mit Blick nach vorne reden. Ich bin überzeugt, er sagt auch etwas zu dem Haushalt in Niedersachsen. Zweimal waren diese Haushalte verfassungswidrig, 1995 wegen überhöhter Neuverschuldung, 1996 wegen Plünderung der Kommunen. Deswegen noch einmal, Herr Scharping: Sie haben recht gehabt, als Sie gesagt haben, Schröder habe in Niedersachsen den Landeshaushalt total ruiniert.
({7})
Nun haben Ihre Wahlkampfberater - Ihre „spin officer" oder wie auch immer Sie sie neuerdings nennen - eine anonyme Anzeige bestellt,
({8})
in der es heißt: Geredet wird viel - wir wissen mehr. - Ein anonymer Kreis suggeriert, daß in Niedersachsen wirtschaftlich alles in Ordnung sei. Möglicherweise ist diese Anzeige von denselben Leuten bezahlt worden, die damals vor der Niedersachsenwahl eine ähnliche Anzeige bezahlt haben.
({9})
Aber eines haben Ihre Berater, lieber Herr Schröder, bei ihrem Timing nicht geschafft: Sie haben nämlich versäumt, die Gewerkschaften einzubeziehen. Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" schreibt just heute, Schröder hänge der Makel der Untätigkeit und des Verdrängens an. Wenn Schröder als Kanzlerkandidat vollmundig ein Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit ankündige und als Ministerpräsident dies verweigere, dann sei diese Politik wenig glaubwürdig.
({10})
Genausowenig glaubwürdig ist das Folgende: Sie verkünden ein Bündnis für Arbeit und wollen gleichzeitig die Reformen zurückdrehen, die den Aufschwung erst ermöglicht haben. Wenn die PräsidenMichael Glos
ten der großen Wirtschaftsverbände Ihnen erklären, ohne Reformen könne es kein Bündnis für Arbeit geben, dann müssen sie sich von Ihnen als „ Verbandsfuzzis " beschimpfen lassen.
({11})
Ihr Parteivorsitzender, Herr Lafontaine - der heute wohl noch kommen wird -, hat vom „Trio asoziale" gesprochen. Vielen Dank für diesen Zwischenruf.
({12})
- Klatschen Sie ruhig! Ich bin schon der Meinung, die Menschen in Deutschland sollten wissen, was auf sie zukommt. Ich habe noch die Zeiten erlebt, in denen es hieß „Unternehmer gleich Ausbeuter", als die Aktion „Gelber Punkt" gestartet wurde. Wenn Sie glauben, in einer globalisierten Welt mit Unternehmerbeschimpfungen Arbeit für die Menschen schaffen zu können, dann sind Sie auf dem Holzweg.
({13})
Statt sich in Niedersachsen Handwerk und Mittelstand anzunehmen, kümmern Sie sich vornehmlich um die Angelegenheiten der Großkonzerne. Über Ihre Rolle bei der Übernahme der Motorenfabrik von Rolls-Royce durch VW schreibt die „Wirtschaftswoche" - ich zitiere -:
Mittlerweile stellt sich heraus, daß VW bei der Operation eine gute Millarde Mark
- es ist leicht, so zu handeln, wenn es das Geld anderer Leute ist zum Fenster hinausgeworfen hat. Der Kandidat hätte lieber seine Kontrollfunktion im Aufsichtsrat strenger ausüben und beim Geldausgeben genauer hinsehen sollen.
({14}) Weiter heißt es in diesem Artikel:
Wenn Gerhard Schröder Deutschland so regieren würde, wie er VW beaufsichtigt hat, könnten sich die Steuerzahler auf einiges gefaßt machen.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von der „Rheinischen Post" wurde er gefragt - das zum Thema Wirtschaftskompetenz -, welches Ziel er bezüglich der Staatsquote habe. Darauf hat er gesagt: Eine Quote unter 50 Prozent sollten wir schon schaffen. Die Antwort macht uns klar: Gerhard Schröder will erst noch erreichen, was Theo Waigel mit 48 Prozent längst erreicht hat. Dafür brauchen wir also keinen neuen Kandidaten.
({16})?
Hier ein Teil der Widersprüchlichkeit dieses Herrn: Dienstags betonen Sie beim BDI die Stärkung des Standortes Deutschland; donnerstags kritisieren Sie beim DGB die wirtschaftlichen Schwächen. Beim
BDI wollen Sie die Flächentarifverträge neuen Anforderungen anpassen; dem DGB versprechen Sie, sich nicht einzumischen. Beim BDI beklagen Sie die schleichende Verstaatlichung des Ausbildungssystems; beim DGB halten Sie das Ausbildungssystem für das beste der Welt. Beim BDI begrüßen Sie die in den letzten Jahren gefundenen flexiblen Lösungsansätze auf betrieblicher Ebene; beim DGB beklagen Sie anschließend die flexible Arbeitsorganisation außerhalb der Flächentarifverträge. Beim BDI fordern Sie den notwendigen Durchbruch bei der Unternehmensbesteuerung; beim DGB setzen Sie sich für die Entlastung der Bezieher der unteren und mittleren Einkommen ein.
({17})
Und im Bundesrat waren Sie es, der die Sabotage von Oskar Lafontaine mit unterstützt hat.
({18})
Eines Ihrer Lieblingsworte, Herr Schröder, heißt Innovation. Sie selbst haben über Ihre Partei gespottet - zu Recht -, die letzte Innovation, der die SPD mit Freuden zugestimmt habe, sei die Einführung des Farbfernsehers gewesen.
({19})
Nur, lieber Herr Schröder, auch bei Ihnen klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Nach acht Jahren Gerhard Schröder - erst als rotgrüner Schröder, dann als Schröder pur - müßte Niedersachsen geradezu eine Oase - heute würde man sagen: ein Jackpot - für Innovationen sein.
({20})
Aber auch hier ist alles nur heiße Luft. Ich nenne die Zahl der Patentanmeldungen auf 100 000 Einwohner: in Baden-Württemberg, bei den großen Tüftlern der Nation, sind es 95, in Bayern 83, in Niedersachsen lediglich 35.
({21})
Der Anteil der Beschäftigten in den Bereichen Forschung und Entwicklung ist in Bayern fast viermal so hoch wie in Niedersachsen. Da von Ihnen, Herr Schröder, in Niedersachsen die Mittel für Wirtschaftsförderung halbiert wurden und die Hilfen für Existenzgründer gestrichen worden sind, ist es eine logische Folge, daß die Selbständigenquote dort 20 Prozent niedriger ist als in Bayern.
Ein anderes Thema, das sich Rotgrün so groß auf die Fahnen schreibt, sind die erneuerbaren Energien. Im Dreijahreszeitraum von 1994 bis 1996 hat Bayern mit 200 Millionen DM fünfmal soviel gefördert wie Niedersachsen.
({22})
In diesem Zusammenhang würde ich Sie auch einmal
bitten, - es wurde angekündigt, daß Sie über die Zukunft reden wollen -, da auch Sie auf diesem Gebiet
offensichtlich nur mangelnde Vorsorge betrieben haben, etwas Konkretes zur weiteren friedlichen Nutzung der Kernkraft in Deutschland zu sagen, dazu, wie Sie sich das vorstellen.
({23})
- Herr Fischer, zu Ihnen komme ich noch.
({24})
An .Ihrer Stelle wäre ich mit unverschämten Zwischenrufen sehr vorsichtig.
({25})
Zurück zu Niedersachsen. Wie steht es denn mit dem Transrapid? Sie hätten hier eine Chance, eine Zukunftstechnologie auch mit Ihrem Namen als niedersächsischer Ministerpräsident zu verbinden. Was Ministerpräsidenten in der Technologieförderung leisten können, das wissen wir spätestens seit Franz Josef Strauß.
({26})
Wenn heute der Airbus weltweit als das beste Verkehrsflugzeug anerkannt wird und inzwischen die Zahl der Bestellungen die beim amerikanischen Flugzeugriesen Boeing übertrifft, dann ist das Ergebnis einer konsequenten Wirtschafts- und Technologieförderung insbesondere des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und des Freistaates Bayern.
({27})
Warum errichtet La Roche zum Beispiel das sechste Krebsforschungszentrum in Bayern und nicht in Niedersachsen? Die Antwort ist ganz einfach. Die Haltung der SPD, Ihrer Partei, und Ihres Wunschpartners, der Grünen, ist noch immer gegen die Gentechnologie gerichtet. Dabei bietet Gentechnik Chancen für die Bekämpfung von Krankheiten, für die Bekämpfung von Hunger; Gentechnik heißt Aufbruch in Richtung moderner Arbeitsplätze für die Zukunft.
({28})
Ein weiteres Beispiel. Ein bedeutendes Zukunftsprojekt nicht nur für Bayern, sondern für Deutschland ist die Neutronenquelle in Garching. Sie dient der Materialentwicklung, aber auch der Forschung im Gesundheitsbereich. Mit Neutronen kann man bekanntlich Tumore und Krebs bekämpfen. Die bayerische SPD-Chefin Renate Schmidt hat angekündigt, eine SPD-Bundesregierung werde die noch ausstehende dritte Teilgenehmigung für diesen
Reaktor nicht erteilen. Nun frage ich Sie als möglichen Kanzler: Werden Sie die Genehmigung erteilen, oder werden Sie diese Genehmigung verweigern?
({29})
- Herr Fischer, „möglichen" natürlich nach Ihren Wünschen und nach den Wünschen der SPD, nicht nach unseren Wünschen. Wir von der CSU sind da vollkommen unverdächtig.
({30})
Herr Ministerpräsident Schröder, eine andere Frage. Sie haben dann lange Gelegenheit zu antworten. Sie haben eine Bildungsoffensive angekündigt. Nach dem Grundgesetz sind die Bundesländer für Bildung zuständig. Das müssen Sie als Bundesratspräsident wissen. Nach acht Jahren Schröder/Trittin bzw. Schröder pur müßte Niedersachsen ein Bildungseldorado sein, geradezu eine „bonanza'' der Bildung.
({31})
Sie, Herr Schröder, haben 1994 6 000 neue Lehrerplanstellen versprochen. Was haben Sie getan? Sie haben 3 000 Stellen gestrichen und alle verbliebenen Lehrer durch saudumme Äußerungen über den Beruf des Lehrers noch ein Stück weit demotiviert. Bayern hat im gleichen Zeitraum 4 000 neue Lehrerstellen geschaffen.
({32})
Zieht ein Bayer hierher,
- gemeint ist Niedersachsen muß er sich erst mal zwei Jahre hängenlassen, damit er das niedrige niedersächsische Niveau erreicht.
({33})
Dreimal dürfen Sie raten, von wem dieses Zitat stammt. Diese Analyse ist von Ihrem eigenen Innenminister und Wunschnachfolger, Glogowski. Wo der Mann recht hat, hat er recht.
({34})
Wie sieht es im Hochschulbereich aus? Die Mittel sind in Bayern mit gut 60 DM pro Einwohner dreimal so hoch wie in Niedersachsen. Die Folgen sind dann kein Zufall. Die Arbeitslosigkeit junger Menschen ist in Niedersachsen fast doppelt so hoch wie in Bayern. Beim Bundeswettbewerb „Jugend forscht" 1997 kamen in den sieben Fachgebieten vier Sieger aus dem Freistaat Bayern, ein Sieger aus dem Freistaat Sachsen und keiner aus Niedersachsen.
({35})
Herr Schröder, wie haben Sie auf dem SPD-Parteitag doch gesagt? „Jede Politik muß sich an ihren Ergebnissen messen lassen." Das ist die Meßlatte, die bei Ihnen angelegt wird.
({36})
Das gilt auch für den Sozialbereich. Der Sozialhaushalt in Niedersachsen ist von Ihnen von 5,4 Milliarden DM im Jahre 1994 auf 4,8 Milliarden DM im Jahre 1997 zusammengestrichen worden. Bayern hat seine Sozialausgaben nicht gekürzt. Bayern gibt für Krankenhäuser doppelt soviel aus wie Niedersachsen. Ein Wort wie zum Beispiel „ Landeserziehungsgeld " ist in Niedersachsen ein Fremdwort. Das kann man dort nicht einmal buchstabieren. Dafür ist Niedersachsen Spitzenreiter bei den Sozialhilfeempfängern. Sie, Herr Schröder, haben pro 100 000 Einwohner zweieinhalbmal mehr Sozialhilfeempfänger als das CSU-regierte Bayern. Das hängt nicht zuletzt auch mit der dort praktizierten Ausländerpolitik zusammen; wir wissen ja, daß jeder dritte Sozialhilfeempfänger Ausländer ist.
Immer häufiger entdeckt die SPD vor Wahlen das Thema „innere Sicherheit". Henning Voscherau hat in Hamburg Schiffbruch erlitten; ausgerechnet in Hamburg Schiffbruch zu erleiden ist gewaltig. Auch bei Ihnen werden die Menschen erkennen, daß Worte und Taten auseinanderklaffen.
Die Kriminalität liegt in Niedersachsen um fast ein Drittel höher als in Bayern. Dafür ist die Aufklärungsquote in Bayern um ein Drittel höher als in Niedersachsen. Das sind knallharte Fakten.
({37})
Auch das ist ein Ergebnis Ihrer Politik. Die Niedersachsen sind nicht von Haus aus kriminalitätsanfälliger als die Bayern.
({38})
- Nein, ganz bestimmt nicht; das halte ich sogar dem Herrn Schröder zugute. Tatsache ist, daß Niedersachsen Planstellen bei der Polizei streicht, während Bayern nicht gekürzt und die Aufstiegschancen und damit die Motivation für die Polizeibeamten verbessert hat.
({39})
Die Chaostage von Hannover stehen für das Versagen des Herrn Schröder auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, beim Schutz des Bürgers vor Verbrechen und Gewalt.
({40})
Herr Schröder, Sie hatten damals nicht den Mut, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Sie und Ihr Innenminister waren angeblich nicht über das informiert, was vor sich ging. Gehen mußte der Polizeipräsident. Wer sich so hinter oder vor seine eigenen Polizeibeamten stellt, der demotiviert sie und ist obendrein persönlich auch noch feige.
({41})
Der niedersächsische Verfassungsschutz wurde unter Rotgrün dezimiert. Kein Wunder, war doch der vom Verfassungsschutz beobachtete Altkommunist Trittin von 1990 bis 1994 Minister und stellvertretender Ministerpräsident. Dieses Beispiel zeigt auch - wir sollen ja nach vorne blicken -, was wir von einer Bundesregierung zu halten haben, Herr Fischer,
({42})
bei der Ihr Parteiboß Trittin ein führendes Ministeramt übernimmt.
({43})
Ich zitiere aus der „FAZ":
Im letzten Jahr seiner Amtszeit als Minister gab Trittin öffentlich zu, daß er als Göttinger Student der konspirativen Kaderorganisation Kommunistischer Bund angehört hat, deren Anhänger „die Zerschlagung des Staates" betrieben und mit militanten Gruppen zusammenarbeiteten. In seiner Zeit als Mitglied des Göttinger Allgemeinen Studentenausschusses veröffentlichte die AStA-Zeitung den berüchtigten „Mescalero"-Artikel, in dem „klammheimliche Freude" über den Terroristenmord an Generalbundesanwalt Buback geäußert worden ist. Trittin bekennt sich dazu, daß er damals zu jenen gehört habe, die sich nicht davon hätten distanzieren wollen.
Das ist die Tatsache. Wie wenig dieser saubere Herr inzwischen dazugelernt hat, haben wir gehört, als er seine Haßtiraden gegen die Bundeswehr verkündete.
({44})
und in Berlin das öffentliche Gelöbnis als ein „perverses Ritual" diskriminiert hat.
({45})
Vor einem Jahr haben Sie, Herr Schröder, in der „Bild am Sonntag", in der Sie in Kommentaren bemerkenswert gut abschneiden, markig gesagt: Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eines: raus - und zwar schnell. Die bayerische Bundesratsinitiative zur erleichterten Abschiebung straffällig gewordener Ausländer haben Sie dann allerdings wieder abgelehnt, was einen Teil Ihrer Widersprüchlichkeit ausmacht. Deswegen frage ich Sie heute, Herr Schröder: Wie stehen Sie zur Einwanderung? Gilt noch, was Sie in Ihrem Buch „Reifeprüfung" geschrieben haben? Da heißt es:
Wir brauchen keine neuen Mauern, wir brauchen eine neue Politik. Wir brauchen einen legalen Weg für Ausländer, in die Bundesrepublik Deutschland einwandern zu können.
({46})
Müssen wir daraus folgern, daß Sie Deutschland künftig wieder zu einem Land massenhafter Zuwanderung machen wollen?
({47})
- Ja, wer mehr Zuwanderung in unser dichtbesiedeltes Land fordert, gefährdet den inneren Frieden. Er leistet damit radikalen Kräften Vorschub.
({48})
Es ist ja bekannt, daß Ihr angebliches Vorbild Helmut Schmidt ist. Damit es nicht zu einer Verwechslung kommt: Helmut Schmidt ist nicht das Vorbild von Lafontaine, sondern von Gerhard Schröder. Helmut Schmidt hat im November 1981 gesagt:
Mit weit über 4 Millionen Ausländern ist die Aufnahmefähigkeit der deutschen Gesellschaft erschöpft, wenn nicht ganz große Probleme entstehen sollen.
Die SPD-geführte Bundesregierung beantwortete 1982 eine Große Anfrage zur Ausländerpolitik. Ich zitiere aus der Antwort:
Nur durch eine konsequente und wirksame Politik zur Begrenzung des Zuzugs aus Ländern, die nicht Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, läßt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerläßlich.
Deswegen sagen wir: Einwanderungsgesetze, wie die SPD und die Grünen sie wollen, sind ein Irrweg. Unser Ziel muß vielmehr sein, illegale Zuwanderung nach Kräften zu unterbinden.
({49})
Es ist ganz selbstverständlich: Wer sich legal und dauerhaft im Land aufhält, der muß sich bemühen, sich selbst zu integrieren,
({50})
und ihm muß außerdem die Chance gegeben werden, daß er besser integriert wird.
({51})
Wenn man in diesem Zusammenhang fordert - wie es die CSU-Landesgruppe in Banz getan hat -, daß die Ausländer, die hierbleiben wollen, auch Deutsch lernen müssen, dann wird man noch als Ausländerfeind diskriminiert. Man faßt sich geradezu an den Kopf.
({52})
Wir wissen, daß Ihre außenpolitischen Erfahrungen natürlich in allererster Linie auf Kontakten mit Fidel Castro
({53})
- war das falsch? - und neuerdings auch auf Kontakten mit dem weißrussischen Diktator Lukaschenko beruhen.
Jetzt frage ich: Was ist denn von Ihrer Außenpolitik und Ihren Schattenaußenministern zu erwarten? Mein Vorredner, Herr Scharping, wird als solcher gehandelt. Herr Scharping hat sich gestern einen großen Flop erlaubt. Er hat Boris Jelzin als Sicherheitsrisiko bezeichnet. Dabei vergißt er, daß Jelzin den Abzug der russischen Soldaten von deutschem Boden durchgesetzt und in Moskau, auf Panzern stehend, den Reformprozeß gerettet hat.
({54})
Wenn wir schon das Wort „Sicherheitsrisiko" in den Mund nehmen, dann fällt mir Joschka Fischer ein, der neuerdings versucht, sich Joseph zu nennen, der glaubt, man könne seine Identität und all das, was einen auf dem Lebensweg geprägt hat, wie Turnschuhe und Jeans abstreifen, um sie anschließend durch Nadelstreifen und durch dezente Krawatten zu ersetzen.
({55})
So leicht wird man nicht vom Häuptling der Hausbesetzerszene, der nachgewiesenermaßen Erfahrung im Umgang mit Molotowcocktails hat, zu einem, der bei diplomatischen Cocktailempfängen glänzen kann.
({56})
Das alles ist bitterernst, auch wenn es sehr lustig klingt. Im kommenden Jahr stehen für Deutschland und für Europa bedeutende Entscheidungen an. Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt dann die Ratspräsidentschaft in der EU. Ich darf einmal aufzählen, was alles ansteht:
({57})
Osterweiterung, die Senkung der hohen deutschen Beitragslast, die Neuordnung der Agrarpolitik und die Reform der Strukturförderung. Deutschland wird an führender Stelle für das Gelingen dieser Reformvorhaben Verantwortung tragen; der deutsche Außenminister ist dann formal EU-Ratspräsident. Ein Außenminister Fischer wäre in dieser Zeit tatsächlich ein Sicherheitsrisiko für Deutschland und für Europa.
({58})
Welchen Beitrag hat Herr Schröder zum Frieden und zur Sicherheit Deutschlands geleistet? 1990 hat er gegen die deutsch-deutsche Währungsunion und gegen die deutsche Einheit gestimmt. Er soll hier die Frage beantworten, warum er gegen den NATOMichael Glos
Doppelbeschluß gewesen ist, der den Zerfall des Sowjetkommunismus erst ermöglicht hat. Weiterhin soll er hier einmal darstellen, was Helmut Schmidt, mit dem zusammen er jetzt auf Plakaten erscheinen will, zu dieser Haltung gesagt hat.
({59})
Ich würde auch gern wissen, warum Herr Schröder 1993 gegen das neue Asylrecht gestimmt hat. Wäre seine Politik Wirklichkeit geworden, hätten wir heute bei uns jährlich über 500000 zusätzliche Ausländer, die unter dem Stichwort „Asyl" nach Deutschland gekommen wären.
Ich möchte von Herrn Schröder auch gern wissen: Warum hat er in den vergangenen Jahren im Bundesrat gegen alle Reformen gestimmt, die Deutschland nach vorn gebracht haben? Ich möchte auch noch einmal von ihm wissen: Warum hat er den Euro als kränkelnde Frühgeburt bezeichnet? Heute zeigt sich im Zeichen der Turbulenzen um uns herum, daß der Euro ein Stabilitätsanker nicht nur für Deutschland und Europa, sondern für unser gesamtes Weltwährungssystem ist.
({60})
Wir möchten heute von Herrn Schröder auch hören: Warum unterstützt er neuerdings die Zusammenarbeit seiner Partei mit der PDS in den neuen Ländern der Bundesrepublik? Ich möchte auch gern wissen: Warum soll bei der Feier unserer Wiedervereinigung am 3. Oktober die deutsche Nationalhymne in entstellter Form gespielt werden?
({61})
- Moment mal, liebe Genossinnen und Genossen.
Ich habe hier einen Brief vom Kurt-SchumacherKreis. Ich glaube, unter Ihnen gibt es welche, die noch wissen, wer Herr Schumacher war. Diejenigen, die es nicht mehr wissen, mögen sich bitte informieren lassen. Der Schumacher-Kreis ist bekanntlich eine Vereinigung von Widerstandskämpfern gegen die NS- und gegen die SED-Diktatur. In dem Brief heißt es:
Das vorgesehene Musikstück mit der Einfließung der sogenannten „DDR-Hymne" ist anläßlich der Hunderttausende von politischen Häftlingen und der in der Haft und an den Haftfolgen unter dem Text und den Klängen der „Becherhymne" Umgekommenen, die alle Freiheit und Leben für unsere Demokratie und ihre Werte gegeben haben, nicht nur eine bodenlose Geschmacklosigkeit, sondern eine Verletzung des Andenkens an diese Verfolgten.
({62})
Herr Schröder, nutzen Sie die Gelegenheit, heute zu zeigen, daß die „Süddeutsche Zeitung" von vorgestern unrecht hat, die über Sie als Kandidaten geschrieben hat - ich zitiere -:
... der perfekt die Kunst beherrscht, zu allem nichts zu sagen, aber das ausführlich und mit großer Entschlossenheit.
({63})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Schröder hat Niedersachsen heruntergewirtschaftet.
({64})
Mit ihm ist Niedersachsen zu einem Abstiegsland geworden. Wir haben bei der Bundestagswahl die Chance, unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, vor dem gleichen Schicksal zu bewahren.
({65})
Wir wollen, daß sich die bewährte Politik der Koalition der Mitte mit Helmut Kohl und Theo Waigel fortsetzen kann. Diese Koalition steht für einen weiteren Aufschwung in unserem Land, für eine Politik der inneren Einheit, für einen starken Staat, der seine Bürger vor Verbrechen und Gewalt schützt, für eine Politik, die die Zuwanderung begrenzt, und für eine Politik, die die deutschen Interessen in Europa kraftvoll wahrnimmt.
Ich verspreche Ihnen am Schluß eines: Wir von der CSU werden am 13. September bei der Landtagswahl eine Vorlage geben, die dazu dient, daß am 27. September ein Votum erfolgt, diese gute Politik fortzusetzen.
Herzlichen Dank.
({66})
Das Wort hat jetzt der Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Joschka Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war Wahlkampf nach CSU-Art.
({0})
Das war kaum zu unterbieten. Dafür gibt es BravoRufe und viel Beifall. Es hätte mich bei Michel Glos auch gewundert, wenn es anders gekommen wäre.
Es ist in der Tat ein überzeugendes Bild: In Niedersachsen breitet sich die Wüste Sahara aus.
({1})
Die Menschen fliehen; sie fliehen gen Süden.
({2})
Große Karawanen machen sich auf den Weg, dem verheißenen Glück zu folgen, von dem sie hier gehört haben. Das Paradies hat einen Namen: Bayern.
({3})
Joseph Fischer ({4})
Dort herrschen paradiesische Zustände; denn die CSU regiert seit anno dunnemals. Der Hausmeister im Paradies heißt selbstverständlich Michael Glos.
({5})
Ihre Truppe will hier heute im Grunde genommen nur Geschlossenheit zeigen. Dabei weiß sie genau, daß die wirklichen Probleme ganz woanders liegen. Wenn ich mir die Debatte anschaue, die Sie über den Bundeskanzler geführt haben, stelle ich fest: Es sind doch die CDU/CSU und die F.D.P., die das Fell von Herrn Dr. Kohl bereits verteilen, nicht die Opposition.
({6})
Daß Sie hier abzulenken versuchen, Herr Glos, buchen wir unter Wahlkampf ab.
Ich wünsche mir Michael Glos als Oppositionsführer. Das war eine gute Oppositionsrede. Das wird ein einfaches Regieren, wenn die Opposition nur noch so besteht, wie Herr Glos es dargestellt hat. Das wünsche ich mir.
({7})
Aber, Herr Glos, was ich Ihnen nicht durchgehen lasse - heute ging es wirklich in die Dreckkiste Ihrer politischen Agitation -,
({8})
ist, daß Sie hier auf eine unverhohlene Art und Weise meinen, wieder die rechten Stammtische und die Vorurteile gegenüber den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bedienen zu müssen.
({9})
Wir können da unterschiedlicher Meinung sein, aber gerade angesichts der Brisanz und angesichts jener dramatischen Gewaltwelle gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Menschen anderer Hautfarbe, finde ich es infam, hier Fakten nicht darzustellen, sondern zu unterschlagen, Herr Glos. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({10})
Sie stellen sich hierhin und agitieren gegen weitere Zuwanderung. Ich erwarte nicht, daß Sie unsere Position zur Einwanderung übernehmen. Ich erwarte auch nicht, daß Sie die Position der CDU zur Einwanderung übernehmen.
Es zeigt Ihre Zukunftsfähigkeit, daß einer der umstrittensten Punkte in der Programmdebatte zwischen CDU und CSU die Frage ist: Ist Deutschland ein Einwanderungsland, ja oder nein? Man muß mehr als Tomaten, man muß meines Erachtens Bierkrüge auf den Augen haben, damit man behaupten kann, wir seien kein Einwanderungsland. Selbst im glücklichen Bayern wird man dieses nicht ignorieren können.
({11})
Ich zitiere, Herr Glos, eine Meldung, die das Faktum ganz konkret anspricht. Dort heißt es:
Zuzug von Ausländern nimmt ab - Geringeres Bevölkerungswachstum
Im vergangenen Jahr sind erstmals seit 1985 mehr Ausländer aus Deutschland weggezogen als neu hinzugezogen. Insgesamt seien 1997 rund 615 000 Ausländer in die Bundesrepublik gekommen, darunter 104 000 Asylbewerber, teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Donnerstag mit ... Rund 637 000 Ausländer verließen Deutschland im vergangenen Jahr ...
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Von einer demokratischen Partei erwarte ich, daß sie der Bevölkerung diese Fakten zur Kenntnis gibt und nicht versucht, eine ganze soziale Gruppe als Sündenbock in die politische Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag einzubinden, um vom eigenen politischen Versagen abzulenken.
({12})
Die heutige Haushaltsdebatte wird man nicht führen können; denn in Wirklichkeit geht es nicht um den Haushalt. Sowohl Herr Waigel als auch Herr Kohl, als auch die Opposition, wir alle wissen: Der Haushaltsentwurf, wie er jetzt vorliegt, wird den Wahltag unter keinen Umständen überdauern. Jeder weiß, daß die Rede des Bundesfinanzministers über die wirtschaftlichen Basisdaten, über Haushaltsentwicklung, Schuldenentwicklung, Arbeitslosenentwicklung den Wahlkampf nicht überdauern wird. Diese Haushaltsdebatte wurde von Ihnen angesetzt - was seitens der Mehrheit und der Regierung völlig legitim ist -, um hier noch einmal ein Forum für den Wahlkampf zu haben.
Natürlich haben Sie nicht den Zustand Ihres eigenen Ladens bedacht, als Sie diese Debatte angesetzt haben. Insofern wird man diese Debatte nicht führen können; denn es geht hier - Herr Glos hat die ganze Zeit die Schrecknisse, den Untergang Deutschlands, wenn Gerhard Schröder Bundeskanzler wird, an die Wand gemalt - ganz entscheidend darum: Wer steht denn hier zur Wahl?
({13})
Da wird man sich Ihnen, Herr Dr. Kohl, energisch zuwenden müssen. - Ich sehe, Herr Solms lächelt schon ganz hingebungsvoll.
Joseph Fischer ({14})
Denn die entscheidende Frage ist ja, ob es nach der Devise geht: Wählt Helmut Kohl, damit wir ihn endlich loswerden!
({15})
Das zumindest ist die Position, wie sie Herr Solms dargestellt hat. Das zumindest ist die Position, wie sie Herr Westerwelle dargestellt hat. Das ist die Debatte, wie sie innerhalb der Union von Herrn Dr. Geißler, von Herrn Schäuble ganz unverhohlen angezogen wurde.
({16})
Auf der einen Seite werden Sie - Kollege Scharping hat zu Recht darauf hingewiesen - als Weltmeister dargestellt, als Garant, als Stabilitätsanker in einer unruhigen Zeit. Auf der anderen Seite wird gleichzeitig verkündet: Aber den wollen wir nach einer gewonnenen Bundestagswahl möglichst schnell loswerden. Das ist der Vorgang, von dem diese Debatte und die Beschimpfung der Opposition durch Michael Glos und andere ablenken sollen. Genau das können wir uns meines Erachtens nicht erlauben.
Herr Dr. Kohl, Sie demonstrieren jetzt wieder Siegeszuversicht und Geschlossenheit in der Koalition. Herr Westerwelle durfte nicht kommen.
({17})
- Doch, da sitzt er jetzt. Entschuldigung, ich nehme alles zurück.
({18})
- Nur das, was ich über Herrn Westerwelle gesagt habe. Daß er nicht kommen durfte, das nehme ich zurück. Den Rest nehme ich selbstverständlich nicht zurück.
Meine Damen und Herren, das ist der entscheidende Punkt - ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen -: der Zustand dieser Koalition und wie sie mit ihrem Bundeskanzler umgeht. Sie wissen ganz genau, daß Helmut Kohl nicht in der Lage sein wird, die notwendigen Reformen in diesem Land nach einer möglicherweise gewonnenen Wahl noch in Angriff zu nehmen.
({19})
Sie wissen mittlerweile auch, daß er nicht einmal mehr in der Lage sein wird, diese Wahlen zu gewinnen, weil es offensichtlich ist, daß er nicht imstande war, diese Reformen anzupacken. Deswegen haben Sie ihn vor der Wahl in Frage gestellt, deswegen dieses Chaos.
Da sage ich Ihnen, Herr Glos: Entscheidend ist nicht, ob Sie die Opposition beschimpfen. Entscheidend wird vielmehr sein, welche der politischen Parteien in der Lage ist, endlich den Reformstau nach sechzehn Jahren Helmut Kohl, nach acht Jahren verfehlter Einheitspolitik und vertaner Chancen in diesem Lande aufzubrechen. Das ist die Frage, auf die
Sie Antworten geben müssen, und das ist die Frage, die bei den Wahlen zur Entscheidung ansteht.
({20})
Die Rede von Theo Waigel zur Einbringung des Haushalts gestern war meines Erachtens eine Abdankungserklärung. Er hat den Dichter zitiert: „Wort ist Währung, je wahrer, desto härter." Wenn das der Maßstab ist, dann haben Sie gestern politisches Falschgeld geliefert, Herr Waigel;
({21})
denn Sie haben wieder geschönt. Sie zitieren das erste Quartal mit hoffnungsvollen Zahlen. Daß die Erwartungen für das zweite und dritte Quartal aber nach unten korrigiert werden mußten, daß demnach Ihre Annahmen Makulatur sind, daß Beschäftigungseffekte über das wenige hinaus, was wir im konjunkturellen Hoch im Westen haben, vermutlich nicht vorliegen werden, all das haben Sie nicht angesprochen. Die Mehrwertsteuererhöhung, einen krassen Wortbruch des Bundeskanzlers, haben Sie nicht angesprochen, Ihren Anschlag auf das Bundesbankgold, die strukturellen Haushaltsrisiken auch nicht. Lesen Sie einmal die konservativen Zeitungen, die Wirtschaftszeitungen durch! Nicht e in strukturelles Haushaltsrisiko haben Sie in Ihrer Zeit als Finanzminister wirklich abgearbeitet.
Sie loben die Investitionsquote, das Sinken der Staatsquote. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben die niedrigste Investitionsquote. Der Kollege Metzger hat gestern zu Recht darauf hingewiesen: Das einzige, was bei der Investitionsquote gestiegen ist, ist der Rüstungsanteil an der Investitionsquote, während gleichzeitig dort, wo wir es dringend brauchten
- Stichwort „Binnennachfrage" -, etwa bei den Kommunen, überall dort, wo Nachfrage stimuliert werden könnte, die Investitionsquote zusammengebrochen ist und sich faktisch im Tendenzbereich null bewegt. Das ist die Situation, mit der wir es hier zu tun haben.
({22})
Hohe Arbeitslosigkeit. Wir reden jetzt einmal nicht darüber, daß die deutsche Einheit eine besondere Herausforderung war und ist. Das sei konzediert. Aber acht Jahre nach der Einheit können wir nicht immer wieder nur die deutsche Einheit als Vorwand für das Versagen, für den Reformstau anführen. Hohe Arbeitslosigkeit, stagnierender Aufbau Ost! Schauen Sie sich doch einmal die Entwicklung der letzten Arbeitslosenzahlen an, meine Damen und Herren. Das einzige, was es hier an positiver Entwicklung gibt, geht auf eine verstärkte Inanspruchnahme von arbeitsfördernden Maßnahmen zurück.
({23})
- Ich zitiere Herrn Jagoda, ich habe die Presseerklärung von seiner Juli-Pressekonferenz hier.
Ohne diese verstärkte Inanspruchnahme hätten wir faktisch eine weitere negative Abkoppelung des
Joseph Fischer ({24})
Arbeitsmarktes Ost. Das ist die Realität in diesem Lande nach acht Jahren Aufbau Ost unter Helmut Kohl.
({25})
Staatsverschuldung, Jugendarbeitslosigkeit - all das sind Dinge, zu denen gestern nichts gesagt wurde; es wurde schöngeredet. Im Gegenteil: Herr Bundeskanzler, Sie haben ja geglaubt, die Position „Aufschwung, Aufschwung", das wäre es jetzt, Sie könnten also den Aufschwung verkünden, und der Aufschwung wäre da. Ich sage Ihnen: Dieser Aufschwung hält genau bis zum 27. September 1998. Danach werden wir eine ganz andere Situation haben.
({26})
- Dieser Aufschwung hält bis zum 27. September. Das hat mit Parteipolitik jetzt nichts zu tun. Ich beteilige mich nicht an dieser vordergründigen Debatte.
Wenn ich mir anschaue, daß wir im wesentlichen einen exportgestützten Aufschwung haben, wenn ich sehe, daß die verfügbaren Masseneinkommen seit Jahren rückläufig sind, wenn ich mir den Zusammenbruch der Gemeindefinanzen anschaue, dann sage ich Ihnen: Wenn die exportgestützte Konjunktur durch die veränderten außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen tatsächlich unter Druck gerät, dann geraten wir hier in eine verflucht gefährliche Situation. Dann haben wir den Reformstau Kohl bei gleichzeitig noch enger werdenden Finanzspielräumen - bei einer abnehmenden Konjunktur oder gar bei rezessiven Entwicklungen. Das ist durchaus eine Perspektive, die nach dem 27. September 1998 - unabhängig vom Ausgang der Wahl - in diesem Land Wirklichkeit werden kann.
Wir können an Japan sehen, welche Schwierigkeiten es macht, wenn ein Land seine Strukturreform vertagt hat. Diese Vertagung der Strukturreform werden Sie nicht bei der Opposition abladen können; denn Sie tragen seit 16 Jahren Verantwortung in diesem Land. Aus dieser Verantwortung werden wir Sie nicht entlassen.
({27})
Ich kann mich noch gut erinnern: der Bundeskanzler auf dem Weg nach Asien, die Fotos mit Suharto beim Angeln. Das liegt alles vor. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es geheißen hat: Von Asien lernen heißt siegen lernen.
Herr Glos, wenn Sie sich so über Jürgen Trittin hermachen, dann will ich Ihnen noch einmal ideologischen Nachhilfeunterricht geben;
({28})
denn Sie sind hier im wahrsten Sinne des Wortes in eine Nachfolgeposition gerückt. Sie sind ja der letzte Fan des kommunistischen Politbüros in Peking, wie ich einem Artikel, der mit Ihrem Namen versehen
war, aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die über jeden Verdacht erhaben ist, entnommen habe. Sie plädierten für einen schonenden und freundlichen Umgang mit dem chinesischen Politbüro.
({29})
Da kann ich nur sagen: Der KB, den Sie vorhin im Zusammenhang mit Jürgen Trittin angeführt haben, war eine maoistische Gruppe. Sie sind ein würdiger Nachfolger, Herr Glos.
({30})
Ich verstehe den Vorwurf nicht ganz, aber ich möchte Sie an diesem Punkt darauf hinweisen: Sie von der F.D.P. und von Teilen der CDU, von der Bundesregierung waren es doch, die Asien vor zwei Jahren noch als das große Vorbild hingestellt haben.
(
Völlig frei erfunden, was Sie gesagt haben!)
- Herr Bundeskanzler, Sie sind heute aber hektisch mit Ihren Zwischenrufen. So kenne ich Sie gar nicht.
Also gut, der Bundeskanzler hat Asien nie gut gefunden, dann waren es halt die anderen. Ich nehme das zur Kenntnis. Herr Bundeskanzler, wie konnte ich nur unterstellen, daß ein Staatsmann von Ihrem Format und Ihrer Weitsicht dem Irrtum unterlegen wäre, daß Asien für uns ein Vorbild sein könnte. Das waren selbstverständlich die Kleingeister in Ihrer Fraktion, in der F.D.P. und andere in der Regierung.
({0})
- Lambsdorff würde ich nie als Kleingeist bezeichnen! Entschuldigung, Graf Lambsdorff. Das würde ich nicht wagen.
Aber ich kann mich an den Gipfel in Davos vor zwei Jahren erinnern, wo weltweit die Notabeln zusammengekommen sind, wo Asien als Vorbild hingestellt wurde. Ich kann mich daran erinnern, wie manch führender Vertreter der deutschen Wirtschaft in vertraulichem Gespräch hinter mühselig vorgehaltener Hand gesagt hat: „Na ja, die nehmen es halt mit der Demokratie noch nicht so genau; da gibt es noch einen starken Staat" und ähnliches mehr.
Und heute? Die Globalisierung ist eine Realität. Aber wir erkennen an der Asienkrise, daß Globalisierung nicht die Anarchie unregulierter Märkte bedeutet,
({1})
sondern daß Globalisierung - ich bin nachdrücklich
für private Investitionen in sich entwickelnden Märkten, deswegen bin ich auch nachdrücklich für Regeln
- globale Regeln braucht, die Investitionssicherheit schaffen.
({2})
Joseph Fischer ({3})
Ich komme zu der obersten Regel. Ich erinnere mich an den Besuch des Bundeskanzlers bei der Volksbefreiungsarmee in China und an seinen artigen Diener vor der angetretenen Truppe. Die oberste Regel, die wir lernen müssen, ist, daß Globalisierung eine Globalisierung von Menschenrechten, von Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit voraussetzt. Ohne das wird es keine Investitionssicherheit geben. Das konnten wir gerade im Zusammenhang mit der Asienkrise lernen.
({4})
Ich komme jetzt zu den zwei Interviews von Wolfgang Schäuble und Ihnen, Herr Bundeskanzler. Ich meine das berühmte Interview: „Ihr werdet euch wundern". CDU/CSU hat sich nach der Lektüre dieses Interviews gewundert. Wir haben uns gefreut.
({5})
Wir bedanken uns. Wolfgang Schäuble hat natürlich sofort in einer anderen Wochenzeitung nachgezogen. Auch darüber haben wir uns gefreut. Das alles wurde mittlerweile dementiert. Helmut Kohl will für volle vier Jahre Bundeskanzler werden.
Aber Sie sind als Union nicht so blöde, wie Sie sich manchmal darstellen, sondern Sie wissen ganz genau: Sie brauchen ein neues Thema. Ich finde es schon interessant, wenn der größte Staatsmann, den die Union in den 90er Jahren hervorgebracht hat, der Pfarrer Hintze,
({6})
im Zusammenhang mit der Rußlandkrise in freudiger Erregung - das ist nicht mehr zum Lachen ({7})
glaubt, ein neues Thema erkannt zu haben, nämlich das Thema Krise: Jetzt brauchen wir Helmut Kohl, den Garanten, wenigstens bis über den Wahltag hinweg, danach kann er in den Ruhestand gehen. Das entnehme ich auch einem Interview des Bundesverteidigungsministers im Zusammenhang mit der Entwicklung im Kosovo in der „Frankfurter Rundschau". Das ist der Versuch, innenpolitisch auf außenpolitischen Krisengewinn zu spekulieren. Das wird nicht aufgehen. Aber ich halte das für eine ganz schlimme Entwicklung. Sie müssen wissen, was Sie damit in Frage stellen.
({8})
Es gibt und hat bisher einen breiten Konsens - bei allen Unterschieden - zum Beispiel auch in der Rußlandpolitik gegeben. Es gibt keine Alternative zu einer Stabilisierung Rußlands. Wir müssen das Unsere dazu beitragen. Die entscheidende Frage ist nur: Ist eine Stabilisierung Rußlands in der Vergangenheit mit dem ausschließlichen Setzen auf Jelzin erfolgt?
Wenn ich heute in den Zeitungen lese, daß die Rußlandkrise ein Scheitern auch der westlichen Nationalökonomen war, dann spricht vieles für diese These, nämlich daß die Formen des Übergangs, das, was wir als Reformen bezeichnen, in einem hohen Maße eben nur eine kleine spekulative, in den Großstädten, in den Metropolen lebende Schicht begünstigt hat, während die Masse des Volkes zurückgeblieben ist. Daraus sind jetzt massive soziale und politische Risiken entstanden.
Es gibt einen breiten Konsens in der Grundorientierung auch und gerade im Verhältnis zu Rußland. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister wissen das. Nur rate ich Ihnen dringend, das jetzt nicht in dem innenpolitischen Wahlkampf aus Gründen des Machterhalts zu zerdeppern und zu zerschlagen. Diesen Konsens sollten wir unbedingt aufrechterhalten und fortentwickeln.
({9})
Die Ostasienkrise ist mitnichten ausgestanden. China steht unter einem gewaltigen Abwertungsdruck. Die Kosten des Hochwassers werden den Abwertungsdruck auf den Yuan noch vergrößern. Wenn es zu einem zweiten Abwertungswettlauf in Ostasien kommt, wird die Japankrise voll durchschlagen. Das kann Auswirkungen auf die USA haben, die sich sowieso in einem moderaten Abschwung befinden. Dies kann in Verbindung mit der Rußlandkrise meines Erachtens zu Entwicklungen führen, die sehr leicht außer Kontrolle geraten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Politisch heißt das für mich - ich möchte jetzt hier nicht auf die weiteren ökonomischen Details eingehen -, daß Europa schneller wird kommen müssen, als sich das vermutlich noch heute viele vorstellen. Ich sage das in alle Richtungen. Aus meiner Sicht wird, wenn man diese Krisen in ihren Konsequenzen einmal sorgfältig analysiert - es handelt sich hier um die erste wirkliche Globalisierungskrise -, das bedeuten, daß Europa schneller wird kommen müssen, als viele heute meinen.
Herr Waigel: Mit CSU-gefärbten Sätzen - da kann ich Oskar Lafontaine nur zustimmen - wie „Der Euro spricht deutsch" kann das Ganze hochgefährlich werden. Der Euro spricht nicht deutsch, und er spricht nicht bayrisch. Wenn Sie aus dem Euro ein deutsches Hegemonialprojekt machen, gefährden Sie dieses Projekt. Das wissen Sie so gut wie ich.
({10})
Wenn wir schon dabei sind: Die EU-Osterweiterung wird eine der entscheidenden Fragen sein, und da werden die CSU und der rechte Flügel der CDU Farbe bekennen müssen. Ich gehöre nicht zu denen, die durch die Lande ziehen und der Bevölkerung nach der Devise „Wählt uns" und „Alles wird billiger" verkünden, daß die EU-Osterweiterung zum Nulltarif zu haben sein wird. Faktisch haben wir schon jetzt eine Südosterweiterung in der VerantworJoseph Fischer ({11})
tungsübernahme, wenn ich mir die Konsequenzen aus der Balkankrise und aus dem Kosovo anschaue, und zwar nicht zuerst und vor allem im militärischen Teil, sondern diese Länder, diese Völker werden nur im Rahmen einer europäischen Perspektive daran gehindert werden können, auf diesem blutigen Irrweg des Krieges, der Vergewaltigungen und des Mordens weiterzumachen.
Wir brauchen für diesen Raum eine europäische Perspektive, und wie wir am zivilen Aufbau Bosniens sehen, an der großen Leistung, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU dort vollbringen, ist diese alternativlos. Das heißt aber im Klartext, daß wir faktisch hier schon eine Südosterweiterung haben. Die Osterweiterung wird, wenn sie nicht kommt, für unser Land noch wesentlich größere Risiken und wesentlich höhere Kosten mit sich bringen. Das werden wir unserer Bevölkerung immer sagen müssen.
({12})
Herr Waigel: Nettozahlerdebatte. Das ist auch so ein Ding. 1992 war es diese Regierung, die die heutige Finanzstruktur in Europa akzeptiert hat.
({13})
- Ich kritisiere Sie, Herr Bundeskanzler, nun weiß Gott nicht, sondern ich rede hier mit dem CSU-Parteivorsitzenden.
({14})
- Davon erwähnt er gegenwärtig nichts.
Aber Sie wissen doch ganz genau, daß es vor allen Dingen die Struktur der EU-Finanzen ist. Wir zahlen nicht zuviel. Wenn, dann bekommt Deutschland zuwenig aus dem EU-Haushalt zurück. Das liegt wiederum an der Struktur des EU-Haushaltes. Nun höre ich Ihnen, Herr Waigel, seit vier Haushaltsdebatten zu. In vier Haushaltsdebatten loben Sie, wie tapfer Sie in Brüssel für die Interessen der bayrischen Bauern gekämpft haben. Ein großes Problem für Deutschland ist, daß der Agrarhaushalt überproportionale Anteile am EU-Haushalt hat, nämlich zirka 50 Prozent.
({15})
Das heißt, hätten wir hier eine andere Struktur, hätten Sie hier auf eine Strukturreform gesetzt, meine Damen und Herren von der Regierung - Sie tragen die Verantwortung -, dann könnten wir uns die Nettozahlerdebatte in Deutschland schenken.
({16})
Wenn man das so sieht, dann wird meines Erachtens langsam klar, daß es hier um grundsätzliche politische Alternativen geht, um eine politische Alternative, die nicht Aufstieg oder Untergang, Rotgrün oder Freiheit, wie Herr Gerhardt sagt - Freiheit statt Sozialismus hieß das früher -, bedeutet, sondern dann wird es darum gehen, ob eine verbrauchte Regierungskoalition in demokratischer Normalität durch eine neue Mehrheit, durch eine neue Regierung abgelöst wird.
Bei allem, was geleistet wurde - die Menschen in den neuen Bundesländern haben Hervorragendes geleistet, und mit der staatlichen Einheit, Herr Dr. Kohl, haben Sie Ihren Platz in den Geschichtsbüchern errungen, auch wenn ich Ihnen noch einmal sagen möchte: Die Menschen in den neuen Bundesländern zollen Ihnen dafür großen Respekt und sind dankbar; aber den Einsturz der Mauer hat nicht Dr. Helmut Kohl zuwege gebracht, sondern das war die friedliche, gewaltfreie Bürgerbewegung in den neuen Bundesländern ({17})
der entscheidende Punkt ist ein anderer.
Der entscheidende Punkt ist, daß wir Ihnen vorwerfen, drei Dinge falsch gemacht zu haben, drei falsche Weichenstellungen vorgenommen zu haben. Erstens. Daß Sie in der Koalition unter die Reformer gegangen sind, ist gerade anderthalb bis zwei Jahre her. Vorher hieß es: Weiter so. Das heißt, wir haben hier einen gewaltigen Reformstau. Zweitens. Wir leiden noch heute unter der falschen Finanzierung der deutschen Einheit. Ich werde gleich darauf zurückkommen. Drittens. Wir haben eine massive Gerechtigkeitslücke in diesem Land, und sie wird größer.
Reformstau statt Reformen und falsche Finanzierung der Einheit, das hängt unmittelbar zusammen. Der Kollege Scharping hat mit der Anzeige noch einmal an das Einheitsjahr 1990 erinnert.
Kollege Schäuble und ich hatten neulich das Vergnügen, gemeinsam vor amerikanischen Investoren, Vertretern von Investmentfonds - ich als Vertreter des radikalen Deutschlands, er als Vertreter des konservativen Deutschlands, beide sollten wir für Investitionen werben -, aufzutreten. Was zumindest ich meine festgestellt zu haben, ist, daß die Orientierung der Köpfe sowohl im Inland als auch im Ausland auf die Sonderlast deutsche Einheit nicht stattgefunden hat. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß Sie 1990 den Menschen nicht die Wahrheit gesagt haben, daß Sie den Menschen die Wahrheit nicht zugemutet haben. Es macht einen großen Unterschied aus, ob ich eine Last zu tragen habe, von der ich nicht genau weiß, warum ich Sie zu tragen habe, oder ob ich eine Last bewußt schultere und mir auch über die Strecke des Weges, während der ich diese Last zu tragen habe, im klaren bin.
({18})
Herr Dr. Kohl, Ihr Ansatz damals bestand in der Aussage: „Keine Steuererhöhungen - wählt CDU!" Ich behaupte, Sie hätten die Wahlen vermutlich sogar mit mehr Vorsprung gewonnen, wenn Sie am 3. Oktober 1990 in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag dem deutschen Volk die Wahrheit gesagt hätten und die dann notwendigen Zumutungen in Form eines Gesetzespaketes auf den Tisch gelegt hätten - klar geordnet, für alle durchsichtig
Joseph Fischer ({19})
und transparent. Statt dessen bestand Ihre Politik in einer schleichenden Lastenerhöhung, von der viele nicht wußten: Warum? Weshalb? Wieso?
Im Ausland sah man die reiche Bundesrepublik West. Daß wir es faktisch mit den Folgen eines über 40 Jahre hinweg in zwei Staaten geronnenen Bürgerkrieges, DDR und Bundesrepublik, zu tun haben, eingebettet in die große Konfrontation des kalten Krieges, ist nicht angekommen, weder im In- noch im Ausland. Ich sage Ihnen: Das ist der erste Punkt hinsichtlich der falschen Finanzierung der Einheit, die politische Lüge, die damals am Anfang stand.
({20})
Der zweite Punkt, der nicht nur Gerechtigkeitskonsequenzen gehabt hat: Es ist nicht nur zutiefst ungerecht, daß vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nämlich diejenigen, die Sozialversicherungsbeiträge zahlen, die deutsche Einheit zu finanzieren haben, sondern es ist auch in seiner Auswirkung ökonomisch katastrophal gewesen. Warum? - Weil diese Lüge dazu geführt hat, daß die Lohnzusatzkosten exorbitant nach oben geschnellt sind. So wurde Arbeit immer teurer, und so wurden immer mehr Menschen entlassen, anstatt daß im Verhältnis zu den abgebauten Arbeitsplätzen neue Arbeitsplätze entstanden sind.
({21})
Das heißt, wir haben hier durch eine falsche politische Entscheidung, Herr Dr. Kohl, eine ursächliche Haftung für den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Bei allen beeindruckenden Aufbauleistungen, die es gibt, bei dem, was die Menschen in den neuen Bundesländern erduldet haben und erdulden, bei allem, was es an Solidaritätsleistungen in den alten Bundesländern gibt: Ich werfe Ihnen vor, daß die hohe Arbeitslosigkeit - das ist in diesem Wahlkampf doch mit den Händen zu greifen - mittlerweile zum Symbol dieser gescheiterten Einheitspolitik in Ost und West geworden ist. Die hohe Arbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür, mit dem wir uns herumzuplagen haben. Wenn wir in diesem Bereich im ersten halben Jahr mit einer neuen Regierung keine Trendwende erreichen, dann wird diese neue Regierung scheitern.
Es ist an Komik, in Wirklichkeit aber an Zynismus eigentlich nicht mehr zu überbieten, wenn Helmut Kohl vor einigen Wochen verkündet hat, er werde nach 16 Jahren Bundesregierung, nach 16 Jahren Bundeskanzleramt, nach 16 Jahren Verantwortung für die Arbeitslosigkeit ein 100-Tage-Programm gegen die Arbeitslosigkeit auflegen, wenn er wiedergewählt wird.
({22})
Man muß sich das einmal vorstellen. Das ist nun wirklich Hilflosigkeit, gepaart mit blankem Zynismus.
({23})
Wir halten es für dringend geboten, an erster Stelle die zu hohen Lohnzusatzkosten zu verringern. Wir werden nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, wenn wir auf diesem Gebiet nicht zu einer richtigen, echten Entlastung kommen. Wichtiger als Steuerentlastungen - ehrlich gesagt, ich sehe dazu gar keinen Spielraum; bei den oberen und obersten Einkommen sehe ich dazu schon gar nicht die Notwendigkeit - ist eine Senkung der Bruttolohnkosten, das heißt, eine Senkung der Lohnnebenkosten. Nur, ich sage Ihnen klipp und klar: Jede Bundesregierung, die Erfolg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit haben will, muß diese Kosten reduzieren. Sie wissen das so gut wie ich.
Demnach wird es nach dem Wahltag Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung geben müssen. Entweder wird die Mehrwertsteuer erhöht werden - dies lehnen wir ab; sie bedeutet im wesentlichen, daß die sozial Schwachen überproportional herangezogen werden und das Handwerk weiter in die Schwarzarbeit gedrängt wird -, oder aber wir haben endlich den Mut - wie die Dänen, die Schweden, die Finnen oder die Niederländer, die ja immer so positiv zitiert werden -, eine Ökosteuer zur Gegenfinanzierung einzuführen. Wir halten dies für dringend geboten.
({24})
Dieser Tage, am 21. Juli 1998, gab es eine hochinteressante Mitteilung des Statistischen Bundesamtes: „Arbeitsproduktivität weit mehr gestiegen als Produktivität der Naturnutzung." Das ist hochinteressant; denn es zeigt sehr klar - ich entnehme das einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" -, worum es hierbei geht. Arbeit ist überproportional teuer geworden, auch auf Grund der hohen Produktivitätssteigerungen, während der Umweltverbrauch läßlich geblieben ist. Hier liegt ein riesiges Entwicklungspotential für neue Arbeitsplätze. Das darf man nicht vergessen. Produktivitätssteigerungen in diesem Bereich werden direkt positive Auswirkungen haben.
Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt am 22. Juli 1998:
Der Faktor Arbeit wird bei der Produktion nicht grundsätzlich durch Natur ersetzt. Doch diese Substitutionsprozesse gibt es durchaus. Politisch sind also die Weichen genau in die falsche Richtung gestellt. Wünschenswert wären mehr Arbeitsplätze und weniger Naturverbrauch, vor allem mit Rücksicht auf künftige Generationen. Mit der ökologischen Steuerreform existiert längst ein Konzept, das die Weichen in die richtige Richtung stellt ...
Die Daten aus Wiesbaden beschämen die Regierungskoalition, die sich vor einigen Wochen eine
Joseph Fischer ({25})
unwürdige Diskussion über die Ökosteuer geleistet hat.
- Ich nenne nur den Namen Hintze.
Fragen Sie Ihren Statistiker: Wer die Deutschen in Zukunft führen will, sollte keine vorgestrige Stimmungsmache um höhere Benzinpreise betreiben.
Ich kann dem eigentlich nichts hinzufügen.
({26})
- Nein, diese Zahlen vom Statistischen Bundesamt zeigen doch, in welche Richtung die Entwicklung gehen muß und soll. Das Problem ist nicht nur, daß Sie die Einheit falsch finanziert haben, sondern daß Sie auch die Möglichkeiten und die Potentiale, neue Arbeitsplätze zu schaffen, schlicht und einfach in weiten Teilen verschlafen haben.
Gestern oder vorgestern wurde vom Umweltbundesamt der neue Bericht vom 1. September vorgestellt. Sie und Ihre Paladine verkünden hier ja immer: Deutschland Weltmeister im Umweltschutz. Schauen Sie sich einmal im UBA-Bericht an, wo wir im EU-Vergleich bei der Nutzung erneuerbarer Energieträger liegen. Sie stellen fest, daß wir ziemlich weit hinten liegen.
Ihrer Meinung, daß Bayern hier glänzend dastehen würde, halte ich ein Beispiel aus Landshut entgegen. Dort bin ich auf Handwerksmeister gestoßen - sie wären eigentlich originäres CSU-Wählerpotential -, die zusammen mit dem BUND verzweifelt darum gerungen haben, daß alternative Energien in Bayern gefördert werden. Dort gibt es keine staatlichen Energieagenturen und keine neue Energiepolitik. In Bayern existiert nur das Kartell CSU und Bayernwerk. Das ist die Realität in Bayern.
({27})
Das können Sie am Anteil der Windkraft sehen.
({28})
- Daß Bayern einen höheren Wasserkraftanteil hat, ist kein Argument. Wenn Niedersachsen in den Alpen liegen würde, hätte es einen noch viel höheren Wasserkraftanteil. Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Herr Repnik, daß Sie diesen Zwischenruf machen. Von Ihnen war ich anderes gewöhnt.
({29})
Ein weiterer Punkt neben der Senkung der Lohnzusatzkosten ist ein Bündnis für Arbeit.
({30})
- Sie mögen sich darüber mokieren, aber ich sage Ihnen: Man wird die notwendigen Strukturreformen weder gegen die Märkte noch gegen die Gewerkschaften in diesem Land durchsetzen können. Ich rate dringend dazu, wenn wir beweglichere Arbeitsmärkte wollen - die brauchen wir -, Lösungen zu suchen, die die Last nicht in erster Linie bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abladen, so wie Sie es in der Vergangenheit getan haben. Das ist für uns ein ganz entscheidender Punkt. 1996 war ein Bündnis für Arbeit bereits in Sichtweite. Sie haben es damals durch die Änderung der Lohnfortzahlung mit der Konsequenz mutwillig in Frage gestellt, daß wir zwei weitere Jahre verloren haben. Wir haben genügend Zeit verloren, wir brauchen jetzt endlich eine neue Politik, die dieses Bündnis für Arbeit realisiert.
({31})
Ein letztes: Wir brauchen direkt und unmittelbar eine sozial gerechte Steuerreform. Wir haben die Struktur und die Tarife unserer Steuerreform vorgelegt. Wir wollen den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent und den Eingangssteuersatz auf 18,5 Prozent absenken und ein steuerfreies Existenzminimum von 15 000 DM. Wir wollen endlich mit den Skandalen nach 16 Jahren Bundesregierung unter Dr. Helmut Kohl Schluß machen.
In diesen 16 Jahren gab es viele schöne Erklärungen über Familien. Dazu sage ich Ihnen: Die Familien sind - egal, ob Alleinerziehende oder zwei Elternteile, ob mit oder ohne Trauschein - der Hauptlastesel unseres Steuersystems. Wir haben nicht viel zu versprechen, aber das wollen und werden wir ändern.
({32})
Ein weiteres drängendes Problem ist die Jugendarbeitslosigkeit; sie ist mittlerweile auch ein gesamtdeutsches Problem, aber in den neuen Ländern ist sie besonders dramatisch. Wenn Sie auf den Vorwurf des Versagens bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit so reagieren, daß Sie meinen, jetzt die Jugendkriminalität insbesondere im bayerischen Wahlkampf innenpolitisch instrumentalisieren zu können, dann entgegne ich darauf: Jugendkriminalität ist das Spiegelbild des Versagens der Erwachsenenwelt.
Ich bin der Meinung: Wo es Defizite gibt, da muß gehandelt werden. Das ist eine Frage von verbessertem Mitteleinsatz und - das muß man hinzufügen - auch eine Frage von mehr Geld. Ich glaube nicht daran, daß wir mit immer neuen Gesetzesverschärfungen in diesem Bereich etwas erreichen können. In der Umweltpolitik kennen wir den Begriff des Vollzugsdefizits. Ich denke, daß dieses Vollzugsdefizit mittlerweile in der Innenpolitik hinsichtlich der Kriminalitätsbekämpfung genauso zutrifft.
Wir haben in diesem reichen Land ein massiv wachsendes Armutsproblem. Man sollte dieses Problem nicht unterschätzen. Ich würde es vor allen Dingen auf die kommenden Herausforderungen dieses Landes beziehen. Wir haben nicht das Problem eines neues Rechtsradikalismus, eines neuen Weimar oder ähnliches. Davon rede ich nicht. Ich rede vielmehr davon, daß wir in Zukunft eher mehr Belastungen als Entlastungen für die Bevölkerung bekommen. Deswegen gilt: Wenn wir eine gemeinwohlorientierte
Joseph Fischer ({33})
Politik machen wollen, dann wird die Frage der sozialen Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung die entscheidende Frage für die Akzeptanz einer solchen Politik sein.
({34})
Ich habe vorhin schon die europäische Dimension und die Lastenverteilung im Rahmen der deutschen Einheit angesprochen. Wenn wir nennenswerte Teile unserer Bevölkerung in Niedrigstlohnsektoren, in Dauerarbeitslosigkeit und in Nichtqualifizierung ausgrenzen, dann wird hier dauerhaft ein Potential für demokratische Instabilität entstehen, die sich dieses Land nicht erlauben kann und nicht erlauben darf.
({35})
Frau Nolte, ich komme jetzt zu Ihrem Schleiertanz um die Frage: „Was ist arm?" Auf die Feststellung, daß in diesem Lande niemand verhungert, können wir uns sehr schnell einigen. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. In Ihrem Kinder- und Jugendbericht - Sie mußten ja von der Presse gezwungen werden, ihn der Öffentlichkeit vorzustellen - sind dramatische Zahlen enthalten. Wenn ich lese, daß in den neuen Bundesländern jedes fünfte Kind, das von der Sozialhilfe lebt, als arm gilt und daß der Anstieg der Sozialhilfebezieherinnen, vor allen Dingen bei Alleinerziehenden, in den neuen Bundesländern eine Größenordnung von über 20 Prozent erreicht hat, dann muß ich Ihnen sagen: Wir bekommen hier ein neues Problem, dem wir uns verstärkt zuwenden müssen. Der Sozialstaat darf sich eben - im Gegensatz zu den Vorstellungen der F.D.P. - nicht verabschieden.
In den neuen Bundesländern - ich habe es selbst erlebt, als ich mit den Jugendlichen geredet habe - kommt den Jugendlichen der Frust über ihre Situation sozusagen aus jeder Pore. Die Eltern sind dauerarbeitslos; die Jugendeinrichtungen wurden abgewickelt und plattgemacht; sie selbst haben keine Perspektive und keine Lehrstelle. Diese Jugendlichen sind ein relativ dankbares Potential für rechte Parolen. Man kann sich gut vorstellen, was dort passieren kann, wenn der Verführer von den rechtsradikalen Parteien kommt. Wir dürfen diesen Rechtsradikalismus nicht mehr weiter verschweigen. Vor allen Dingen dürfen wir ihn nicht politisch bedienen. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
({36})
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Für uns ist Deutschland ein Einwanderungsland. Wir müssen uns auf diese Situation einstellen. Deswegen wollen wir im ersten halben Jahr ein neues Staatsangehörigkeitsrecht, durch das die zweite und dritte hier lebende Generation selbstverständlich deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden können. Es ist doch absurd, daß türkischstämmige Jugendliche, die zum Beispiel in Bonn geboren und aufgewachsen sind, nach wie vor als Ausländer behandelt werden. Das gibt es in keinem unserer europäischen Nachbarländer.
Wir setzen auf ein europäisches Staatsangehörigkeitsrecht. Das hätten wir ja schon in dieser Legislaturperiode mit Teilen der CDU, mit der SPD und der F.D.P. erreichen können. Verhindert wird es vom rechten Flügel der CDU und von der CSU. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der CSU: Hier Gesetzesänderungen zu blockieren und zu verhindern und in Bayern gegen den zu hohen Ausländeranteil im Wahlkampf zu agitieren, das ist politische Infamie.
({37})
Es geht um diese politischen Veränderungen. Wir müssen damit den Reformspielraum eröffnen. Wir brauchen die positive Trendwende am Arbeitsmarkt; wir brauchen die positive Trendwende bei den Investitionen. Deswegen muß schnell gehandelt werden. Es darf nicht mehr die Worthülsen über die Arbeitslosigkeit geben, die 16 Jahre lang gebraucht wurden. Jetzt müssen wirklich Nägel mit Köpfen im ersten halben Jahr gemacht werden. Das wird die große Herausforderung sein. Anders werden wir die fiskalische Handlungsfähigkeit nicht zurückgewinnen, um die notwendige Bildungsreform und die Maßnahmen im Rahmen eines neuen Generationenvertrages zu finanzieren.
All das wird nicht billig werden. Ich sage nochmals: Wer jetzt den Menschen eine Nettoentlastung oder ähnliches verspricht, der nimmt in Kauf, daß wir unsere Zukunft heute verjubeln und nicht in die Zukunft investieren, oder aber er verspricht wider besseres Wissen etwas, das er nachher nicht halten kann. Wir wissen: Wenn diese Koalition an der Regierung bleibt, dann wird es weiter nach der Devise „die starken Schultern entlasten und die schwachen Schultern belasten" gehen. Das bezeichnen wir als Gerechtigkeitslücke. Diese Gerechtigkeitslücke werden wir mit einer neuen Regierung schließen müssen, aus den Gründen, die ich Ihnen gerade dargestellt habe.
({38})
„Ein hohes Maß an Geschlossenheit"? - Die Koalition hat ihre Souveranität für einen halben Tag wiedergefunden. Danach wird es mit der Streiterei weitergehen. Pfarrer Hintze, Sie werden weiter nach einem Thema - ob national oder international - suchen. Ich sage Ihnen: Am 27. September wird die Debatte darüber, wann Helmut Kohl zurücktritt, definitiv gelöst werden,
(
Ja!)
und zwar von den Wählerinnen und Wählern. Er wird der erste Bundeskanzler sein, der abgewählt wird. Dann werden Ihre Worte aus diesem bewegenden Interview „Ihr werdet euch wundern!" den Schlußpunkt unter Ihre politische Laufbahn setzen: Aus, Punkt, Feierabend!
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Oftmals muß man sich als Bundestagsabgeordneter aus Gründen des Respekts vor anderen und der Tugenden der Höflichkeit eine Rede anhören, nach der man sich fragen muß: Was wollte er uns eigentlich sagen?
({0})
Herr Fischer, Sie haben eine alte Tradition fortgesetzt: Sie haben zu dem, was in Ihrem Programm steht, was Sie außen- und wirtschaftspolitisch wollen, nichts Konkretes gesagt. Deshalb hole ich das jetzt nach.
({1})
Als ich hier meine erste Rede als Bundesvorsitzender der F.D.P. hielt, hatten vorher gerade Sie gesprochen. Sie hatten die Jugoslawien-Politik der Bundesregierung heftig kritisiert und sich damals gegen den IFOR-Einsatz der Bundeswehr gewandt. Herr Scharping hatte das im übrigen ebenfalls heftig kritisiert. Ich durfte Ihnen damals vorlesen - und lese es jetzt noch einmal vor -, was Ihre Gruppe und die ganze sozialdemokratische Fraktion dazu hier im Deutschen Bundestag beschlossen hatte. Sie hatten beschlossen, daß der Deutsche Bundestag sich davon leiten lassen solle, „daß es allein den Völkern Jugoslawiens obliegt, über die Zukunft ihres Landes zu entscheiden". Sie hatten beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, zusammen mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft dafür einzutreten, daß der innerjugoslawische Dialog über die Zukunft des Landes - einschließlich einer staatlichen Neugestaltung - friedlich und ohne Androhung von Gewalt zu einvernehmlichen Lösungen führt. Sie hatten dann die Bundesregierung beauftragt, sich dafür einzusetzen, daß die Friedenskonferenz über Jugoslawien, gegebenfalls nur mit den kooperationswilligen Konfliktparteien, weitergeführt wird. Es sollten alle Voraussetzungen geschaffen werden für die völkerrechtliche Anerkennung von Slowenien und Kroatien.
Sie traten hier auf, als hätten Sie mit all dem nichts zu tun. Sie kritisierten die Außenpolitik der Bundesregierung mit dem damaligen Außenminister, HansDietrich Genscher, und lehnten den IFOR-Einsatz in Bosnien ab. Und heute rufen Sie dazu auf, daß wir europäisch handlungsfähiger werden sollen. Wo waren Sie denn, als es darum ging, dies zu demonstrieren?
({2})
- Nein, nein, Herr Verheugen, der Auftritt von Herrn Fischer damals war insbesondere deshalb bemerkenswert,
({3})
weil er vier Wochen später seiner grünen Basis das mitteilte, was ich vorgetragen hatte: daß es nämlich notwendig sei, die Bundeswehr zusammen mit Soldaten anderer Demokratien dort hinzuschicken.
Dies alles, Herr Fischer, steht in einer unglaublichen Schleifspur Ihrer außenpolitischen Fehleinschätzungen in den Zeiten, in denen es darauf ankam.
({4})
Sie haben hier bei Bosnien-Entscheidungen zweimal gegen die Mehrheit des Hauses gestimmt. Sie haben gegen den Maastricht-Vertrag gestimmt und sprechen heute über den Euro, als sei er Ihre Erfindung. Als es darauf ankam, hätten Sie Ihre Hand heben sollen.
({5})
Sie sind auch kein Vertreter der Geldwertstabilität, der dem Bundesfinanzminister vorhalten könnte, ihm in punkto Geldwertstabilität überlegen zu sein. Ihre Gruppe hat doch die Demokratisierung der Europäischen Zentralbank beschlossen. Ihre Gruppe hat die Stabilitätskriterien nicht gewollt. Ihre Gruppe vertritt eine Landschaft des Euro - wie Sie im Magdeburger Programm geschrieben haben -, bei der jeder teilnehmen kann, der will. Das führt doch zu keiner Währungsstabilität; das ist eine Nullaussage zu einer stabilen europäischen Währung. Dies würde die Interessen aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland schädigen.
({6})
Sie haben zum Somalia-Einsatz der Bundeswehr, der eine humanitäre Hilfsaktion war, um die Menschen dort vor dem Verhungern zu bewahren, nein gesagt. Sie haben sich beim Amsterdamer Vertrag donnernd enthalten und haben gesagt, der Vertrag öffne wegen der Anbindung an die Europäische Union die Tür zur Militarisierung Europas - und das in einer Zeit, in der sich manche ost- und mittelosteuropäischen Reformstaaten auf Grund ihrer Sicherheitsinteressen nichts sehnlicher wünschen, als der Stabilitätsgemeinschaft NATO anzugehören.
({7})
Ich sage das, weil Sie, wenn Sie ein Wettbewerber für die Regierungsverantwortung sind, die verdammte Pflicht haben, der deutschen Öffentlichkeit zu sagen, was Sie wollen, und dies nicht dauernd zu verschweigen.
({8})
Ihre Politik ist nicht von dem zu trennen, was andere Mitglieder Ihrer Fraktion oder auch Ihrer Partei sagen. Ein Mitglied Ihrer Fraktion hat zu dem wichtigen Sicherheitsaspekt der Bundeswehr anläßlich eines öffentlichen Gelöbnisses, also zu Soldaten, die unsere Freiheit verteidigt haben, gesagt:
Gelöbnisse sind aggressive militärische Demonstrationen,
({9})
für die öffentlicher Raum beschlagnahmt wird.
Das sagt Frau Beer. Sie unterstützt lautstarke und phantasievolle Störungen von öffentlichen Gelöbnissen der Bundeswehr.
({10})
Herr Trittin ergänzt das durch eine ganz bemerkenswert andere Sicht. Er sagt:
Der, der am Jahrestag von Lidice ein Gelöbnis veranstaltet und sich dabei auf Traditionen beruft, stellt die Bundeswehr in die Tradition der Wehrmacht.
({11})
Das waren bemerkenswerte Aussagen; und diese sind nicht die einzigen. Sie sind auch von Ihnen kritisiert worden. Ihre Kollegin Röstel hat den Rücktritt von Herrn Trittin abgelehnt, aber gesagt, daß die Äußerungen bedenklich seien. Andere haben gesagt: Das bringt uns unter die 5-Prozent-Hürde. Der Landesvorstand der Grünen in Berlin hat sich mit Herrn Trittin solidarisiert. Bayerns Grünen-Chefin hat das für äußerst dumm erklärt. - Es geht mir jetzt nicht darum, welche innerparteiliche Diskussion bei Ihnen geführt wird. Es geht mir darum, welch Geistes Kind einige Ihrer Vertreter in dieser Diskussion sind.
({12})
Wenn Sie für Rotgrün werben und Außenpolitik gestalten wollen, muß die deutsche Öffentlichkeit wissen, wie Ihre Außenpolitik aussehen soll.
({13})
Sie sieht jedenfalls nicht so aus, daß Sie für Bündnispartner verläßlich sind. Sie beschädigt die deutschen Interessen, die als Staatsräson in der Bündnisfähigkeit unseres Landes liegen. Sie vernachlässigt eklatant unsere Sicherheitsinteressen und beschädigt den Beruf des Soldaten in der Bundeswehr und das Bild des Wehrdienstpflichtigen. Sie erschüttert damit einen Punkt der Grundfestigkeit unseres Staates.
({14})
Mir reicht der Rückblick auf Bosnien, Jugoslawien, die europäische Handlungsfähigkeit nicht. Ihre außenpolitische Begrenztheit in der Aussagefähigkeit verstehe ich in diesem Punkt. Einen Teil des Debattenbeitrags über Asien haben Sie hier nicht abgegeben - dafür kennen wir Sie zu genau -, um die erstaunten Mitglieder des Bundestages über die asiatische Lage aufzuklären. Sie haben dies vorgetragen, um davon abzulenken, über die tatsächlichen Grundrichtungen Ihrer Außenpolitik sprechen zu müssen. Das war ein reiner Nebelwerfer.
Deshalb will ich die außenpolitische Konzeptionslosigkeit der Grünen zu einem Punkt meiner Betrachtung führen, der unser Land betrifft: Herr Fischer, wissen Sie noch, wann die Mauer gefallen ist? Am 12. Oktober 1989 gab es von Ihnen eine Äußerung im Hessischen Landtag, die ich mir wörtlich herausgesucht habe. Sie lautet:
Ich glaube in der Tat, daß wir Deutschen gut beraten wären, die Wiedervereinigung auf lange, lange Zeit zu vergessen.
Herr Fischer, zu der Zeit, als Sie das noch nicht für möglich gehalten haben, waren die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Sie heute rühmen, sie hätten unsere Freiheit erkämpft, schon längst auf der Straße.
({15})
Da traf man sich schon an der Nikolaikirche in Leipzig. Ich weiß nicht, für was Sie vielleicht auf der Straße waren. Ich habe gehofft, daß diejenigen sich durchsetzen, die dort in Leipzig standen und das Schild „Wir sind ein Volk" hochhielten.
Gerhard Schröder hat keine bedeutsameren Erklärungen abgegeben als Sie. Gerhard Schröder ist in der „Bild" -Zeitung vom 12. Juni 1989 wie folgt nachzulesen:
Nach 40 Jahren Bundesrepublik sollte man eine Generation in Deutschland nicht über die Chancen einer Wiedervereinigung belügen. Es gibt sie nicht.
Als sie dann kam, wurde er nicht so recht damit fertig und stimmte gegen die Wirtschafts- und Währungsunion. Da muß ich doch sagen: Wer zu dieser Zeit mit der Einheit nicht fertig wurde, soll auch das vereinte Deutschland nicht regieren können. Darum geht es.
({16})
Zu der Außenpolitik, die dieses mögliche Bündnis betreibt, will ich nur noch eines ergänzen. Herr Ministerpräsident Schröder, Sie haben neulich den amerikanischen Präsidenten besucht und ihm Kontinuität in der Außenpolitik zugesagt. Ich habe mich schon gewundert, daß Jost Stollmann das Programm der SPD nicht gelesen hat. Sie haben anscheinend das Programm der Grünen nicht gelesen, sonst hätten Sie das nicht sagen können. Wir können Sie zum Einhalten Ihrer Versprechen bringen, weil wir ganz davon überzeugt sind, daß nicht Joschka Fischer Außenminister wird, sondern Klaus Kinkel Außenminister der Bundesrepublik Deutschland nach dem 27. September bleiben wird.
({17})
- Herr Verheugen, Sie müssen sich nicht nur mit der Programmlage der Sozialdemokratischen Partei beschäftigen; die macht mir auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht große Sorgen. In außenpolitischer Hinsicht habe ich keine großen Probleme. Sie müssen sich mit der Programmlage und den Intentionen jener beschäftigen, die Sie sich als Bündnispartner ausgewählt haben. Deshalb helfen die Zwischenrufe hier nicht weiter. Sie müssen hier erklären, ob Sie die Bundeswehr langsam auflösen wollen, ob Sie aus der NATO austreten oder sie in eine andere SicherheitsDr. Wolfgang Gerhardt
architektur überführen wollen, wie Sie mit den Krisenreaktionskräften umgehen wollen,
({18})
die die Grünen im Magdeburger Programm nahezu sofort zur Disposition stellen. Dieses Land ist aus der größten Katastrophe seiner Geschichte herausgekommen, weil es bündnisfähig und verläßlicher Bündnispartner war.
({19})
Es steht nicht nur die Frage an, wie man am deutschen Arbeitsmarkt Bewegung erzeugt, welches bessere Programm man vorlegt, um Jugendarbeitslosigkeit zurückzudrängen. Nein, es steht im Kern die Entscheidung an, ob dieses Land seine Geschichte in diesem Jahrhundert kennt. Spinnereien können wir nicht vertragen. Deshalb muß klarer Kurs gehalten werden.
({20})
Die ganze Diskussion wird noch auf die Spitze getrieben. Ich las neulich, daß Gregor Gysi dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker schreibt, die PDS habe sich doch geändert, und den CDU-Politiker geradezu um öffentliche Fürsprache bittet. Zur gleichen Zeit würdigt sein Parteivorsitzender Gysi Walter Ulbricht in einem Atemzug mit Konrad Adenauer. Das schlägt der öffentlichen Fürbitte geradezu ins Gesicht. Es ist doch der Panzertrupp Walter Ulbrichts gewesen, der den Prager Frühling niedergetrampelt hat, und es war die Freiheitsidee mit Hans-Dietrich Genscher, die es ermöglicht hat, daß auf dem Prager Botschaftsgelände die Freiheit verkündet wurde. Das ist doch der Unterschied.
({21})
Ich will nicht versäumen, das zu wiederholen, weil man Wahres nicht oft genug sagen kann. Ich wende mich hier entschieden dagegen, daß wir der PDS in den neuen Ländern überhaupt die Chance geben, die Menschen hinters Licht zu führen. Nicht die Marktwirtschaft hat die Wirtschaft der DDR ruiniert, sondern die SED hatte die Menschen um den Ertrag ihrer Arbeit gebracht.
({22})
Es ist nachzulesen. Deshalb trage ich es hier noch einmal vor und bin bereit, die Unterlagen jedem Kollegen und jeder Kollegin zur Verfügung zu stellen. Es müßte zur Pflichtlektüre aller Deutschen gemacht werden.
({23})
Im Protokoll der SED über vier ZK-Sitzungen im Jahr 1989 kann man das genau nachlesen, was die Gruppe der PDS hier nicht wahrhaben will:
Die Feststellung, daß wir hier über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, hält einer strengen Prüfung nicht stand.
Das können wir noch mit Lächeln zur Kenntnis nehmen; wahrscheinlich haben wir das auch überschätzt. Dann kommt aber:
Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit 1971 auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.
Weiter heißt es:
Die DDR hat ab 1989 eine Schuldendienstrate von 150 Prozent. Die Zahlungsbilanz wird sich 1990 weiter verschärfen. Zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der DDR in den folgenden Jahren müßten höhere Exportüberschüsse erreicht werden. Allein das Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen.
Das ist ja auch eingetreten. Aber daran waren nicht die Treuhand und die Marktwirtschaft schuld. Vielmehr bemühen sich die Menschen, mit Treuhand und Marktwirtschaft das wiederaufzubauen, was vorher zerschlagen worden ist.
({24})
Deshalb werden wir mit allen Kräften dafür kämpfen, daß nicht diejenigen auch nur die Chance einer Regierungsbeteiligung - unter welcher Konstruktion auch immer - bekommen, deren geistige Vorfahren dies verursacht haben und deren Nachkommen, die sie um ihre Lebensleistung betrogen haben, das alles jetzt wieder aufbauen müssen. Es gehört zu den gewaltigen Anstrengungen auch meiner Partei, die in den neuen Ländern nicht begünstigt ist, sondern dort schwer zu kämpfen hat,
({25})
mit dafür einzutreten, daß die PDS nicht noch einmal die Chance bekommt, den Fuß in die Tür zu setzen. Sie hätte es schon in Sachsen-Anhalt nicht tun dürfen. Sie darf es erst recht nicht in Mecklenburg-Vorpommern.
Lieber Herr Ministerpräsident Schröder, wenn Sie heute in der „FAZ" sagen, Sie hätten sich diesen Entwicklungen bei Ihren Genossen in Ostdeutschland beugen müssen und müßten die Entscheidungen dort respektieren, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie hätten vor Sachsen-Anhalt den Mund halten sollen, statt die Menschen hinsichtlich dessen zu betrügen, was sich hinterher dort wirklich vollzieht.
({26})
Es geht nicht nur um das, was die Kurt-Schumacher-Gesellschaft sagt. Sie und Herr Lafontaine lassen es doch zu, daß Ihr Bundesgeschäftsführer alle neuen Länder geradezu zu diesen Beteiligungen eingeladen hat. Sie sehen doch staunenden Auges, daß die PDS in Sachsen-Anhalt jetzt ankündigt, es werde nach dem 27. September eine andere qualitative Zusammenarbeit geben. Ihr Herr Ringstorff aus Mecklenburg-Vorpommern erklärt doch heute in der „FAZ", daß Gerhard Schröder endlich die wahren
Verhältnisse im Osten zur Kenntnis nehmen müsse. Lieber Ministerpräsident Schröder, das hätten Sie vorher sehen müssen. Aber Ihr Betrug an den Wählerinnen und Wählern in Sachsen-Anhalt darf sich bei der Bundestagswahl nicht wiederholen. Deshalb müssen wir jetzt wissen, worum es geht.
({27})
Deutschland braucht jetzt, an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, klare Orientierungen und klaren Kurs. Es braucht eine verläßliche Außenpolitik. Es braucht klare europäische Orientierung. Es braucht Bündnisfähigkeit. Es braucht Modernisierungsbereitschaft. Es braucht Beschäftigungsimpulse durch Steuersenkung. Angesichts dessen geht es einfach nicht, daß Sie, Herr Ministerpräsident Schröder, im Nadelstreifen bei Unternehmern für Steuersenkungen plädieren und abends mit Ballonmütze bei Ihren eigenen Genossen nicht mehr die Kraft haben, das zu wiederholen, was Sie noch vormittags beim Festvortrag gesagt haben.
({28})
Es geht doch nicht - ich will wiederholen, was der Kollege Glos gesagt hat -, daß der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei gestern in der politischen Auseinandersetzung hier auftritt und die Präsidenten des DIHT, des BDI und Herrn Hundt von der BDA ein „Trio Asozialer" nennt. Diese Herren haben - wie ich auch - andere Vorstellungen, wie man in Deutschland zu mehr Beschäftigung kommen kann. Aber ihre Vorstellungen sind mindestens genauso ernsthaft zu prüfen wie die des DGB. So mit ihnen umzugehen ist schäbig. Das sage ich in aller Deutlichkeit.
({29})
Die Grünen haben ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm im Sinn. Herr Fischer hat das aber nicht vorgetragen. So muß ich erläutern, was die Grünen wirklich wollen, weil Herr Fischer es unterläßt.
({30})
Die Grünen wollen eine Grundsicherung ohne Bedürftigkeitsprüfung, die den deutschen Steuerzahler 58 Milliarden DM kosten wird.
({31})
Die Grünen wollen die Wiedereinführung der Vermögensteuer, über die das Bundesverfassungsgericht geurteilt hat, daß man von einer hälftigen Teilung zwischen Staat und Privaten ausgehen müsse.
Die Grünen wollen den Benzinpreis schrittweise auf 5 DM pro Liter erhöhen. Zwar schlagen sie das im Kurzprogramm nicht mehr vor, haben aber beschlossen, daß die Magdeburger Beschlüsse gelten. Das ist ein einzigartiger Wählerbetrug, der größte, den ich je erlebt habe.
({32})
Sie fordern, anscheinend, um das Ozonloch zu schließen, den Ausstieg aus der Kernenergie; sie haben große Probleme mit der Gentechnologie; sie wollen den sofortigen Ausstieg aus der Chlorchemie; sie haben Vorschläge gemacht, den Bundesverkehrshaushalt um Milliarden zu kürzen. Damit kürzen sie die notwendigen Baumaßnahmen von Autobahnen, die West-Ost-Verbindungen in Deutschland schaffen sollen, die für die Infrastruktur in den neuen Ländern sehr wichtig sind. Sie wollen den Transrapid nicht, wollen aber eine nationale Energiesteuer. Sie wollen Arbeitszeitverkürzungen pro Woche, äußern sich aber nicht dazu, wie der Arbeitsmarkt damit in Einklang gebracht werden kann; denn Arbeitszeitverkürzung nutzt nichts, wenn die Beschäftigungsverhältnisse nicht denjenigen angeboten werden können, die die Qualifikation dazu haben.
Sie wollen die 620-DM-Jobs abschaffen. Herr Schröder ist differenzierter: Bei Zeitungsverlegern will er sie nicht abschaffen, bei der SPD jedoch schon. Jedem, der sie braucht, sagt er sie zu. Wenn er jedoch auf eine Gruppe trifft, die ihm nicht so nahe steht, dann lehnt er sie ab. Das wird eine Mixtur von Politik, die in Deutschland kein Beschäftigungswunder erzeugt, sondern wirtschaftlich destabilisierend wirkt.
Seien Sie sich bitte darüber im klaren, was nun gilt: Entweder gibt es einen Aufschwung, oder es gibt ihn nicht. Als Herr Kohl von Aufschwung gesprochen hat, sagte Schröder, wir hätten keinen. Dann behauptet er: Ich selbst bin der Aufschwung.
({33})
Wir hatten früher Könige, die immer dachten, sie seien das Land selbst. Neuerdings haben wir Kanzlerkandidaten, die glauben, sie seien der Aufschwung selbst. Wir müssen uns aber daran gewöhnen, daß ein Aufschwung nicht durch eine Kanzlerkandidatur zustande kommt, sondern durch politische Rahmenbedingungen, durch den Fleiß und die Leistungsbereitschaft vieler Menschen in Deutschland.
({34})
Ministerpräsident Schröder hat am 5. März 1998 in Mainz erklärt, bei einer Stimme Mehrheit von Rotgrün gebe es eine rotgrüne Koalition. Das ist eine der wenigen Aussagen von Gerhard Schröder, die ich ihm glaube.
Am 6. August 1998 hat er erklärt, er könne sich auch eine große Koalition mit Volker Rühe vorstellen. Das ist eine der vielen Aussagen, die ich ihm nicht glaube. Solche und ähnliche Äußerungen über große Koalitionen hat er auch schon vor der Wahl in Sachsen-Anhalt ventiliert. Daraus ist aber nichts geworden.
Herr Ministerpräsident Schröder, ich halte Ihr Gerede von großen Koalitionen für ein reines Täuschungsmanöver.
({35})
Ich sage Ihnen auch, warum Sie das machen. Sie wollen mit diesem Gerede die neue Mitte, auf die Sie abzielen, täuschen, um die alte Linke zu installieren. Wir werden das unterbinden.
({36})
Die Koalition ist nicht bei allen Fragen schnell zu Entscheidungen gekommen. Eine Opposition hat nie eine Bundesregierung vor sich, die sich selbst nur in glänzendes Licht stellen kann. Aber zu den Grundfragen, die in den Jahren anstanden, in denen wir die Verantwortung getragen haben, haben wir gegen Ihren Widerstand die richtigen außen- und verteidigungspolitischen Entscheidungen getroffen.
({37})
Als uns nach der deutschen Einheit klar wurde, daß wir energisch Reformen anpacken müssen, haben wir sie angepackt. Man könnte sagen: Vielleicht spät, vielleicht auch zu langsam, wir hätten es couragierter tun sollen. Aber Sie haben uns doch eher daran gehindert. Sie können hier doch nicht auftreten, als hätten Sie das Rad erfunden, wo doch in Ihrem Regierungsprogramm steht, daß Sie alles das wieder zurückdrehen wollen, was wir begonnen haben. Sie machen das glatte Gegenteil nicht nur der Politik, die wir vertreten, sondern von der Politik nahezu aller sozialdemokratischen Parteien in den befreundeten Ländern Westeuropas. Sie können uns doch hier nicht erzählen, daß dieses deutsche Volk ausgerechnet auf die konservativste deutsche SPD hereinfallen sollte, wo doch Viktor Klima, Wim Kok, die Dänen und die Schweden die Systeme noch weitergehender als wir reformiert haben.
({38})
Deshalb ist der Wechsel zu Rotgrün kein beliebiger Regierungswechsel, der hier unter dem Motto „Auf zu neuen Ufern" so schön diskutiert werden könnte. Es wäre ein Risiko für Deutschland, weil durch die aufgezeigte Konzeption die zarten Pflänzchen des Wachstums zerstört werden würden.
({39})
Diese Alternative wäre keine modernisierungsbereite Regierung. Sie können noch nicht einmal dort in Deutschland, wo Sie Verantwortung tragen, die Schulzeit von 13 auf 12 Jahre verkürzen. Sie können noch nicht einmal ein Stück Flexibilität am Arbeitsmarkt vertreten. Sie hängen doch den alten Strukturen nach: flächendeckend, einheitlich, kollektiv. Wehe, es geht jemand einen Sonderweg!
Der größte Fehler, den Sie haben, ist Ihr mentaler Fehler, daß Sie Menschen, die leistungsbereit sind und sich wünschen, vom Ertrag ihrer Leistung etwas mehr zu behalten, eher diffamieren und daß Sie versuchen, die Menschen glauben zu machen: Wir helfen den Armen, wenn wir die Reichen ausmerzen. - Das ist kein Weg. Dieses Land muß auch leistungsbereite Menschen stützen.
({40})
Es muß den Neid zur Seite drängen. Es muß den einzelnen in der Breite der Gesellschaft in Verantwortung bringen.
Deshalb ist diese Koalition auf dem Weg ins nächste Jahrtausend
({41})
auf dem richtigen Weg. Wir sind reformbereit. Wir strengen uns an. Wir sagen den Menschen im Wahlkampf die Wahrheit, und wir wollen sie auffordern, in Deutschland nicht mehr rückwärts zu marschieren, sondern mit uns nach vorne zu blicken.
Herzlichen Dank.
({42})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, als Abschiedsbeifall für die F.D.P. im Bundestag ist das in Ordnung. Ansonsten wäre der Beifall wirklich überzogen gewesen.
({0})
Eigentlich sollte hier heute eine Haushaltsdebatte geführt werden. Herr Gerhardt, Sie haben das Wort Haushalt nicht ein einziges Mal in den Mund genommen. Als wir im Juni gesagt haben, daß es eine reine Wahlkampfshow werden würde, hat die andere Seite des Hauses das strikt abgelehnt und gesagt, nein, es sei dringend erforderlich, noch im September über den Haushalt zu diskutieren. Bisher hat noch überhaupt keine Diskussion darüber stattgefunden.
({1})
Aber wenn nun gar keiner darüber diskutiert, will auch ich es nicht tun.
({2})
- Wieso soll ich mich denn mit einem Papier auseinandersetzen, von dem jeder weiß, daß selbst dann, wenn Sie weiter regieren, sein Verfallsdatum der 28. September ist? Danach wird es völlig neu erarbeitet.
({3})
Diese Art von ineffizienter Arbeit habe ich hier nicht
VOL
Wir erleben hier reinen Wahlkampf. Bei der CDU/ CSU weiß man zwar, was man wählt, dafür aber nicht, wen man wählt. Bei der SPD weiß man zwar, wen man wählt, aber nicht sehr genau, was man wählt. Das ist das eigentliche Problem für die Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Übrigens war ich gestern in Oggersheim, Herr Bundeskanzler. Ich hatte ein bißchen Bammel - das
gebe ich zu -, aber ich muß sagen, daß der Kreis der Interessierten und selbst der mit der PDS Sympathisierenden erstaunlich groß ist. Das hätte ich nie für möglich gehalten.
(Heiterkeit bei der PDS -
Gute Leute!)
- Gute Leute, das stimmt; da gebe ich Ihnen völlig recht. - Allerdings habe ich auch festgestellt: Der Wunsch in der Bevölkerung, Sie dort täglich zu sehen, ist groß. Sie sollten diesem Wunsch nach dem 27. September auch nachgeben.
({0})
Wenn wir hier von Wahlkampf sprechen, dann müssen wir auch von der Art der Ausgrenzung sprechen, die ich unerträglich finde. Heute abend findet in der ARD eine Sendung mit dem Titel „Ihre Wahl" statt, in der es unter anderem um Steuergerechtigkeit geht. Daran nimmt Herr Schäuble für die CDU teil, Herr Waigel für die CSU, Herr Gerhardt für die F.D.P., Herr Lafontaine für die SPD und Herr Fischer für Bündnis 90/Die Grünen - und mit einer Selbstverständlichkeit wird die PDS ausgeschlossen
({1})
- Sie können dazu klatschen -, die seit dem 3. Oktober 1990 im Bundestag ist. Dieses Spiel macht die ARD mit. Früher hätten wenigstens die Grünen gegen diese Art von Ausgrenzung protestiert. Heute nehmen das alle wie selbstverständlich hin.
({2})
Aber ich sage Ihnen eines: Das spricht letztlich auch für unsere Qualität. Wer unsere Argumente so fürchtet, der muß davon ausgehen, daß an ihnen etwas dran ist. Das nehme ich erst einmal als Bestätigung für uns.
({3})
Es wurde und wird hier viel über Außenpolitik gesprochen. Ich sage Ihnen: Ich finde es wirklich abenteuerlich, Herr Bundeskanzler, wenn Ihr Generalsekretär glaubt, die Krise in Rußland für den Wahlkampf in Deutschland nutzen zu können. Wer den Schaden anderer zum eigenen Vorteil ausschlachten will, verhält sich wirklich indiskutabel, darüber hinaus auch noch unmoralisch und gilt für mich nicht als außenpolitisch verläßlich.
({4})
Ich füge hinzu: Herr Jelzin ist ja fast ein Ziehkind von Ihnen. Sie haben nicht nur eine feste Freundschaft zu ihm, Sie haben nicht nur sehr viel Geld in den Mann gesteckt, sondern Sie haben ihm auch viele Ratschläge gegeben, die er meistens auch befolgt hat. Das Ergebnis sehen wir jetzt in Rußland. Ich meine, dort ist eine andere Politik dringend erforderlich.
Ich will aber auch zu einem anderen außenpolitischen Ereignis etwas sagen. Wir alle, glaube ich - da gibt es hier keinerlei Meinungsstreit -, verurteilen aufs schärfste die Bombardierung der USA-Botschaften durch Terroristen. Aber ich sage auch: Das gibt den USA überhaupt nicht das Recht, als Antwort in anderen Ländern herumzubomben. Das ist eindeutig völkerrechtswidrig.
({5})
Dabei auch noch die, glaube ich, einzige Arzneimittelfabrik des Sudan zu zerstören, wo sowieso schon eine Hungerskatastrophe herrscht, ist noch indiskutabler.
Jetzt unterhalten wir uns einmal über die Alternativen in diesem Bundestag. Herr Kohl äußert für das Vorgehen der USA Verständnis. Herr Kinkel äußert dafür Verständnis. Herr Scharping findet das richtig und sagt: Die USA haben das Recht dazu - obwohl es ein klarer Völkerrechtsbruch ist. Herr Fischer und die Grünen finden es nachvollziehbar. - Das sind die Alternativen, mit denen wir es hier zu tun haben. Früher, Herr Fischer, hätten die Grünen gegen ein solches Bombardement noch demonstriert und auf jeden Fall klar Stellung genommen. Davon haben sie sich meilenweit entfernt.
({6}) Es ist ein klarer Völkerrechtsbruch.
Herr Rühe trifft für die Bundesregierung dann auch noch die Entscheidung, die geplanten Flüge zur Hilfe für die Hungernden im Sudan auszusetzen. Kein Protest von Ihrer Seite! Was haben denn die Hungernden im Sudan mit den Bombenattentaten zu tun? Weshalb müssen sie sterben?
({7})
Heute gibt es hier im Bundestag einen Antrag, diese Flüge doch zuzulassen. Wozu ist ein solcher Antrag erforderlich? Wenn alle dafür sind, hätte die Regierung längst handeln können. Sie wissen doch: Jeder Tag kostet Tausende das Leben. Es gibt überhaupt kein Recht zur Verzögerung von Hilfe für Hungernde in der Welt.
({8})
Alternativen gibt es in diesem Bundestag mit Ausnahme der PDS auch beim Euro nicht. Alle Fraktionen haben den Euro begrüßt,
({9})
und alle wissen, Herr Fischer, was die Folge sein wird: Lohndumping, Sozialdumping, Dumping bei ökologischen Standards, weil vorher die Angleichungsprozesse politisch nicht gewährleistet worden sind. Das, was wir heute auf den Baustellen erleben, werden wir dann in der gesamten Gesellschaft erleben. Das führt nicht etwa zu mehr Internationalismus, sondern zu mehr Nationalismus. Es wird auch den Rechtsextremismus bestärken. Deshalb fordern wir zum Beispiel für die Baustellen nicht nur einen Mindestlohn; wir sagen: gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am gleichen Ort. Das muß durchgesetzt werden. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit auch in der Lohnpolitik und dient der Verhinderung von Nationalismus und Rassismus.
({10})
In dieser Debatte spielte selbstverständlich auch die Frage der deutschen Einheit eine große Rolle. Jeder hat sich auf seine Art und Weise dieses Themas angenommen. Vor allen Dingen Herr Gerhardt meinte, sich dazu äußern zu müssen. Da muß ich Ihnen sagen, Herr Gerhardt: Als Parteivorsitzender sollten Sie erstens wissen, daß der Vorsitzende der PDS nicht Gysi heißt, sondern Bisky. Das sollte sich bis zu Ihnen herumgesprochen haben. Zweitens sollten Sie wissen, daß Mecklenburg nicht mit kurzem, sondern mit langem e gesprochen wird, wenn Sie sich schon über dieses Land äußern.
({11})
- Das muß man schon wissen. - Drittens sage ich Ihnen: Herr Westerwelle - ({12})
- Herr Westerwelle hat mir in einer Sendung des NDR-Fernsehens mit Lea Rosh erklärt: Sie vertreten eine Randgruppe. - Das ist interessant. 20 Prozent der Ostdeutschen wählen PDS. Wer 20 Prozent der Ostdeutschen als Randgruppe bezeichnet,
({13})
der macht klar, welche Haltung er zu den Ostdeutschen hat. Wenn Sie Herrn Schröder vorwerfen, daß er Realitäten im Osten zur Kenntnis nimmt, kann ich Ihnen nur sagen: Es wird höchste Zeit, daß auch Sie eine zur Kenntnis nehmen. Sie lautet: Sie sind in keinem Landtag, weil Sie eine Nobelpartei der Reichen und Vermögenden sind, und dafür gibt es im Osten einfach keine genügende Klientel. Das ist Ihr Problem in den neuen Bundesländern.
({14})
Wenn wir in der Frage der Einheit weiterkommen wollen, dann müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob es wirklich sein kann, daß die Einkünfte bei 80 Prozent, 70 Prozent, 75 Prozent liegen können, aber die Preise bei 100 bis 110 Prozent, ob es wirklich so weitergehen kann, daß Tausende wegen ihrer Grundstücke in juristische Prozesse verwickelt sind und daß dort, wo juristisch nichts zu holen ist, über Wasser-, Abwasser- und Straßenbaubeteiligungsgebühren eine kalte Form der Enteignung stattfindet, ob es wirklich so weitergehen kann, daß Tausende in den neuen Bundesländern nach wie vor um die Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse ringen müssen und sich in den alten Bundesländern nicht einmal wirksam bewerben können. Bei allem, was es dort auch an positiver Infrastrukturentwicklung gibt: Was Einkommen betrifft, was die soziale Frage betrifft, was die riesige Arbeitslosigkeit betrifft, gerade auch unter jungen Leuten, und auch was die kulturelle
Einheit betrifft, haben Sie versagt. Ob Sie es gerne hören oder nicht, ich sage Ihnen: Inzwischen ist die PDS die Partei der Einheit geworden.
({15})
- Ja, weil wir die einzigen sind, die konsequent fordern, die Benachteiligung der Ostdeutschen aufzuheben, während Sie sie zementieren wollen.
Dazu gehört das Thema Reichtum und Armut. Ich finde es sagenhaft, wie Herr Gerhardt sich hier hinstellt und sagt: Wir brauchen noch Leistungsträger; die wollen noch eine Kleinigkeit von dem behalten, was sie erwirtschaften; man dürfe keine Neidkampagnen unterstützen. - Eine alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin ist nicht neidisch, sie ist in Not. Das ist das eigentliche Problem in dieser Gesellschaft.
({16})
In den letzten Jahren hat - das muß jeder zur Kenntnis nehmen - Armut in der Gesellschaft zugenommen. Aber es hat eben auch Reichtum zugenommen. Erklären Sie doch einmal den Menschen, weshalb in den sieben Jahren von 1990 bis 1997 bei 50 Prozent der Bevölkerung die Sparguthaben abgenommen haben, aber bei 10 Prozent der Bevölkerung um über 2000 Milliarden DM zugenommen haben! Davon zahlen sie nicht einmal Steuern. Der Staat hat davon nichts abbekommen; er ist in derselben Zeit immer ärmer geworden.
Erklären Sie doch einmal, weshalb seit 1989 die Zahl der Einkommensmillionäre um 40 Prozent gestiegen ist! Es sind inzwischen über 360000. Damnter, Herr Solms und Herr Gerhardt, sind übrigens 800 mit einem Jahreseinkommen - ich spreche nicht vom Vermögen - von 10 Millionen DM und mehr. Wem wollen Sie das mit dem Leistungsprinzip erklären? Da kann man Tag und Nacht schuften: Ein solches Einkommen ist nicht gerechtfertigt. Ob die alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin mit drei Kindern wirklich so viel weniger leistet, versehe ich mit einem großen Fragezeichen. Das hängt nämlich davon ab, wie man Leistung in der Gesellschaft definiert.
({17})
Ganz abgesehen davon: Niemandem geht es hier um Gleichmacherei. Aber soziale Unterschiede müssen durch Qualifikation, durch Fleiß, durch Begabung, durch Verantwortung gekennzeichnet und nachvollziehbar sein. Ich sage Ihnen, das Ganze ist inzwischen in dieser Gesellschaft maßlos geworden, es ist nicht mehr nachvollziehbar. Wenn soziale Unterschiede maßlos werden, ist das gesellschaftszerstörerisch.
Wie es mit der Entwicklung aussieht, sieht man ja an einer zweiten Zahl. Die Gewinne und Vermögen in der Bundesrepublik Deutschland waren 1980 mit Abgaben und Steuern in Höhe von 20 Prozent belastet, 1998 gerade noch mit 7,5 Prozent. Aber die Gehälter und Löhne waren damals mit 41 Prozent belastet; sie sind es heute mit 48,5 Prozent. Das sagt
alles über die schiefe Entwicklung in der Gesellschaft aus, die die Regierung Kohl zu verantworten hat. Deshalb meine ich auch, sie gehört abgewählt.
({18})
Was die Alternativen betrifft, bin ich allerdings über die letzten Monate entsetzt. Alle Parteien, auch SPD und Grüne, machen sich ständig eine Birne um die Frage, um wie viele Prozentpunkte der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer zu senken sei, den ich erst für das bezahle, was ich ab 120 000 DM pro Jahr als Alleinstehender oder ab 240 000 DM als Ehepartner zu versteuern habe. Ich finde es einfach indiskutabel, daß das der Kernpunkt der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ist. Ich meine, wir müßten dafür sorgen, daß er endlich einmal bezahlt wird, und nicht darum streiten, um wie viele Prozentpunkte dieser Spitzensteuersatz der Einkommensteuer zu senken ist.
({19})
Daß die Grünen dabei noch radikalere Vorschläge machen als die SPD, was die Senkung betrifft, das zeigt auch, welche Entwicklung die Grünen inzwischen genommen haben.
({20})
Zur Vermögensteuer: Grüne, SPD, PDS waren sich einig, daß die Abschaffung falsch ist. Jetzt lese ich Ihr Sofortprogramm, Herr Schröder. Nichts steht darin, daß Sie sie unverzüglich wieder einführen wollen. Aber wenn Sie sie nicht unverzüglich wieder einführen wollen, können Sie sie auch im Jahre 2000 nicht erheben. Dann wird es gar nichts mehr in der nächsten Legislaturperiode. Das heißt, auch hier keine Alternative.
Kommen wir zum Sozialen. Wenn die Beiträge zur Sozialversicherung erhöht werden müßten, dann organisiert diese Regierung stets die Erhöhung der Zuzahlung zu Arzneimitteln, Krankenhaus- und Kuraufenthalten. Ich finde eine Gesellschaft, die versucht, ihre Probleme auf Kosten der Kranken zu lösen, inhuman. Ich finde diesen Ansatz indiskutabel. Ich finde die Formulierung in Ihrem Sofortprogramm nicht aussagekräftig, weil Sie sozusagen das Gröbste zurücknehmen wollen, aber das Prinzip aufrechterhalten wollen. Aber das Prinzip ist falsch!
({21})
Im Bereich der Renten hat diese Regierung versucht, die Probleme dieser Gesellschaft auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner zu lösen, indem sie eine Rentenniveausenkung beschlossen hat. Aber auch in Ihrem Sofortprogramm ist es ungenau formuliert. Es scheint so, daß Sie die Senkung für sozusagen ganz schwer Betroffene, aber nicht generell zurücknehmen wollen. Ich meine, sie muß generell zurückgenommen werden.
({22})
Daß die Grünen inzwischen auch eine Senkung des Rentenniveaus vorschlagen, finde ich schon ein starkes Stück, weil es eine reine Klientelpolitik ist.
Sie sagen sich, die Älteren wählen sie sowieso nicht, sondern eher die Jüngeren, und deshalb können sie einen solchen Vorschlag unterbreiten. Mit der PDS wird das nicht zu machen sein.
({23})
Ich sage Ihnen zum Sofortprogramm noch eins: Den Finanzierungsvorbehalt und den Hinweis, daß Sie erst einen Kassensturz machen müssen, halte ich nun wirklich für abenteuerlich. Sie sitzen doch seit Jahren im Haushaltsausschuß. Sie kennen doch die Steuereinnahmen. Sie kennen die Ausgaben. Sie können doch Vorschläge machen, wie Sie die Einnahmeseite verändern wollen und wie die Ausgabeseite. Man muß doch nicht Kanzler werden, um dazu Vorschläge zu unterbreiten. Glauben Sie, in allen Ministerien gibt es schwarze Kassen, die Sie aufmachen können? Dann hätten Sie Strafanzeige erstatten müssen. Wenn Sie das nicht glauben, ist das ganze Argument mit dem Finanzierungsvorbehalt nicht glaubwürdig, weil Sie die Zahlen in Wirklichkeit kennen. Auf dieser Grundlage hätten Sie Ihre Vorschläge unterbreiten können, Herr Schröder.
({24})
Das wichtigste Thema ist selbstverständlich die Arbeitslosigkeit. Hier wird immer vom Aufschwung geredet. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie müssen doch auch sagen, daß die Reduzierung der Arbeitslosigkeit in erster Linie auf ABM zurückzuführen ist. Sie ist auch darauf zurückzuführen, daß wir immer mehr geringfügig Beschäftigte haben. In Wirklichkeit werden wir, sobald die ABM auslaufen werden, wieder bei den alten Zahlen sein. Das heißt, strukturell ist überhaupt kein Problem gelöst.
Wir brauchen einen Abbau von Arbeitszeit und vor allem von Überstunden, die im letzten Jahr rein rechnerisch 1 Million Arbeitsplätze entsprochen hätten. Wir brauchen endlich einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, um Millionen wieder in Beschäftigung zu bringen und gleichzeitig zu erreichen, daß notwendige Dienstleistungen verrichtet werden. Immerhin haben die USA das mit ihrem Non-ProfitSektor versucht - leider mit Billigjobs. Das kommt für uns nicht in Frage. Wir erwarten hier klare Tariflöhne.
Die Lohnnebenkosten senkt man nicht dadurch, daß man die Mineralölsteuer, die Mehrwertsteuer oder die Zuzahlungen erhöht, sondern dadurch, daß man den 50prozentigen Arbeitgeberanteil streicht und daraus eine Wertschöpfungsabgabe macht, damit die Unternehmen endlich nach ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft in die Versicherungssysteme einzahlen und nicht länger nach der Zahl der Beschäftigten und der Höhe der Bruttolöhne.
({25})
Auch die Belastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer könnten wir senken, indem wir
dazu übergehen, daß auch höhere Beamte, Bundestagsabgeordnete, Minister etc. in die Versicherungssysteme einzahlen. Darüber hinaus müssen wir durch Steuern finanzieren, was durch Beiträge nicht gesichert ist. Ich denke, es gibt zu Ihrer Politik Alternativen; um diese Alternativen gilt es zu streiten.
Weil Grüne und SPD immer damit argumentieren, daß möglicherweise die PDS einen Regierungswechsel verhindert, sage ich Ihnen: Das war schon 1994 als Argument falsch; denn wäre die PDS nicht in den Bundestag eingezogen, wäre die Mehrheit der Koalition sogar wesentlich größer gewesen. Das war auch falsch, als die SPD dieses Argument in den 80er Jahren gegen die Grünen benutzt hat und plakatiert hat: Wer Grün wählt, wird sich schwarzärgern.
Herr Dr. Gysi, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich bin sofort fertig.
Bei aller Kritik an den Grünen: Es ist nicht ganz falsch, daß sie geblieben sind und sich auf dieses Argument nicht eingelassen haben. Daß sie es heute gegen die PDS benutzen, zeigt nur, daß auch sie jetzt undemokratische Ausgrenzungspolitik betreiben.
({0})
Hier will offensichtlich jeder mit jedem koalieren. An uns scheitert ein Regierungswechsel zwar nicht. Aber was dieser Bundestag wirklich braucht, sind wir: Opposition. Ohne die PDS wird es hier keine ostdeutschen Themen geben.
({1})
Ohne die PDS wird die soziale Frage nicht mehr im Mittelpunkt der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung stehen. Ich sage Ihnen: Ohne die PDS wird vor allem die Kultur in diesem Hause wesentlich verflachen.
({2})
Leisten Sie sich ruhig diesen Farbtupfer.
So, jetzt ist Schluß!
Sie brauchen ihn dringend, weil Sie Opposition brauchen.
({0})
Es spricht jetzt Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß gestehen, wenn man den Rednern aufmerksam zuhört, kann man immer noch dazulernen, auch wenn man schon so lange Parlamentarier ist wie ich. Daß jemand bei seinem Abgang vom Rednerpult sagt, wenn er nicht wiedergewählt werde, verflache die Kultur in diesem Hause, ist schon sehr ungewöhnlich.
({1})
Aber das paßt zu dem anderen Zitat: Weil die Leute sich freuen, kommt der Aufschwung. - So werden wir in dieser Debatte noch viele Überraschungen erleben.
Dies ist die große Debatte vor der Bundestagswahl. Diejenigen, die daran Anstoß nehmen, würden viel größeren Anstoß nehmen, wenn wir die Debatte nicht geführt hätten.
({2})
Das ist also kein Absturz des Parlamentarismus. Das ist auch keine Inszenierung, wie hier dümmlicherweise von dem einen oder anderen gesagt wurde, sondern es ist die normale Vorlage eines Etats. Wäre dieser Etat nicht vorgelegt worden, hätten die gleichen Leute gesagt: Sie bringen schon gar keinen Etat mehr ein; sie wagen nicht, ihn vorzulegen. - Deswegen ist es richtig, daß der Finanzminister - dafür ist er zu loben - seinen Haushaltsentwurf vorgelegt hat. Er ist Grundlage für die Arbeit nach der Bundestagswahl. Jeder von uns kennt die rechtliche Lage: Diese Vorlage muß erneut eingebracht werden. Das ist ein ganz normaler parlamentarischer Vorgang. Deswegen sollten wir jetzt nicht unentwegt fragen, ob Theo Waigel richtig gehandelt hat oder nicht. Ich bestehe darauf: Theo Waigel und die Bundesregierung haben korrekt gehandelt, und das wird so bleiben.
({3})
Natürlich findet hier ein gewaltiger Schlagabtausch statt. Das kann doch gar nicht anders sein: Auf der einen Seite stehen sich hier die Koalition, CDU/CSU und F.D.P., und auf der anderen Seite Rotgrün - die Rolle der PDS ist eben noch einmal aufgewärmt worden - gegenüber. Hier geht es in der Tat um Richtungsentscheidungen. Darüber ist zu reden.
Herrn Scharping treibt die Frage um: Wer steht zur Wahl? Herr Scharping, daß Sie die Frage stellen, verstehe ich überhaupt nicht.
({4})
Es stehen doch zwei Kandidaten zur Wahl. Es stehen zur Wahl: Gerhard Schröder, Ihr Kandidat,
({5}) und Helmut Kohl, der Kandidat der CDU/CSU.
({6})
Herr Fischer, Sie stehen nicht zur Wahl.
({7})
Als ich heute Ihre laute Stimme hörte, dachte ich: Das ist doch der Klang der Stimme von der Startbahn West. Seien Sie vorsichtig, sonst sind Sie der erste Startbahn-West-Kämpfer mit Pensionsanspruch. Das könnte Ihnen passieren.
({8})
Was soll das eigentlich? Lassen Sie doch die Wähler sprechen!
({9})
Ich habe etwas dagegen, vor einer Wahl dauernd zu sagen, wer gewinnen wird. Lassen Sie doch die Wähler sprechen; sie sollen entscheiden! Die Wähler haben ein klares Personalangebot, und sie haben ein klares Programmangebot. Es ist doch nur berechtigt, wenn sich die Wähler die Programme anschauen und - mißtrauisch, wie Menschen gegenüber Papier sind - die Frage stellen: Was steht zwischen den Zeilen, und wer verkörpert diese Politik?
Herr Scharping, wenn Sie von Verfallsdaten sprechen: Überlassen Sie die Entscheidung doch dem Wähler! Ich sehe dieser Entscheidung mit Ruhe entgegen, denn ich habe ja inzwischen Erfahrungen mit Ihren Prophezeiungen.
1983 hieß es: In wenigen Wochen ist er weg vom Fenster. 1987 haben Sie es mit einem neuen Kandidaten nicht mehr auf die harte, sondern auf die sanfte Tour versucht. Dann kam Oskar Lafontaine, und auch der ist es nicht geworden. Dann war Herr Scharping Kandidat - zwischendurch gab es übrigens noch Engholm; der ist fast vergessen, aber der war auch kein Kandidat -, und jetzt ist es Herr Schröder. Wo steht eigentlich geschrieben - warum sollte ich Ihnen die Hoffnung nehmen, Herr Scharping? -, daß Sie nicht beim nächstenmal wieder der Kandidat sind?
({10})
Herr Scharping, Sie kennen doch die Kalenderdaten. Wenn es nach dem Kalender geht, wird das so sein. Aber wir sollten uns nicht über das übernächste Mal unterhalten, sondern über das nächste Mal. Das ist das, was uns bevorsteht, und im Hinblick darauf wollen wir miteinander um den besten Weg für die Zukunft ringen.
Man kann diese Debatte heute nicht führen, ohne wenigstens ein kurzes Wort zur internationalen Lage zu sagen. Lassen Sie doch diesen Unsinn, der hier aufgebracht wird, als wolle jemand mit der gegenwärtigen schwierigen internationalen Lage, etwa mit der schrecklichen Gefahr für die Menschen im Kosovo
({11})
- das hat gerade jemand gesagt -, mit der Bedrohung, die aus der Krise in Rußland entstehen könnte, Wahlkampf machen! Ich habe so einen Wahlkampf nie geführt.
({12})
Aber wenn ich mir anschaue, wie Sie 1983 und 1987 im Zusammenhang mit der Stationierungsdebatte Wahlkampf mit der Kriegsangst der Menschen gemacht haben,
({13})
wie ausgerechnet Herr Rau über das Land zog und den Menschen Angst einjagte und die Kriegswitwen mobilisierte - so schäbig hat sich außer Ihnen niemand in der jüngsten deutschen Politik verhalten.
({14})
Trotz aller Auseinandersetzungen sollten wir in dieser Stunde - ungeachtet aller parteipolitischen Unterschiede - noch in der Lage sein, nationale Interessen zu erkennen. Trotz allem, was im Wahlkampf wichtig ist, können wir nicht Abschied nehmen von der Weltpolitik. Daß krisenhafte Entwicklungen in der Welt, jetzt in Rußland, im Kosovo und im Währungsbereich in Asien, uns zutiefst berühren, müssen wir auch den Wählern sagen. Wir müssen ihnen sagen, daß hier etwas geschieht, was äußerste Vorsicht und große Klugheit erfordert. Denn der Wohlstand unseres Landes als Exportland Nummer 2 in der Welt hängt entscheidend davon ab, was sich jetzt im Währungsbereich in Asien, in Rußland und anderswo ereignet. Ich bin massiv dagegen, daß es jetzt schon wieder die eine oder andere Gurustimme gibt, die, obwohl man noch gar nicht weiß, wie die Dinge weitergehen, öffentlich behauptet: Das wird alles zu dieser oder jener Verringerung bei der Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts führen. Ich habe etwas dagegen, die Chancen, ein Ereignis in einer guten Weise zu lenken, von vornherein mieszumachen. Ich bin strikt dagegen, so zu denken; aber ich bin strikt dafür, unsere Verantwortung wahrzunehmen. Das ist es, was wir jetzt brauchen.
({15})
Wir alle können stolz darauf sein, daß Deutschland heute ein ruhender Pol in der Völkergemeinschaft und eines der einflußreichsten Länder in der westlichen Welt ist. Ich denke nicht im Traum daran, das etwa auf meine Person zu konzentrieren. Alle meine Amtsvorgänger haben an diesem Wege mitgearbeitet, jeder zu seiner Zeit und jeder unter ganz bestimmten Bedingungen. Es ist wahr, daß die Zeit, für die ich Verantwortung trage, etwas länger ist, daß die weltpolitischen Veränderungen etwas dramatischer waren und daß deswegen viele darauf schauen, was die Bundesregierung - der Bundesaußenminister, der Bundeskanzler, der Bundesverteidigungsminister, alle, die Verantwortung tragen - heute tut und für welche Politik sie steht. Es ist doch verständlich, daß die Welt auf diejenigen schaut, die als Alternative auftreten. Es ist doch verständlich, daß die Welt sagt: „Um Gottes willen, was steht uns da ins Haus", wenn ein Schattenaußenminister geBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
nannt wird, über den jeder in der Welt den Kopf schüttelt.
({16})
Es ist kein Grund zur Kritik, sondern ein Grund zur Freude, daß die Bundesrepublik Deutschland zwei Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts - mit all dem, was in dieser Zeit an Schrecklichem in deutschem Namen geschehen ist - ausgezeichnete Beziehungen zu Washington, Paris, London, Moskau und auch zu Tokio und Peking hat. Natürlich haben wir uns die Verhältnisse nicht aussuchen können. Die Volksrepublik China ist mit 1,3 Milliarden Menschen ein gewichtiger Faktor in der Weltpolitik. Mit dem, was Sie hier sagen, kommen Sie international nicht weiter. Wenn Sie - was niemand glaubt - je in das Amt des Außenministers kämen, dann müßten Sie auch mit dem chinesischen Außenminister bei den Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Es ist nicht auszudenken, welche Auswirkungen es hätte, wenn Sie dort solche Reden wie hier in diesem Hause halten würden.
({17})
Ich sage mit Stolz: Wir genießen weltweit hohes Ansehen, vor allem als berechenbarer, verläßlicher Partner. Unser Rat und unser Beitrag sind gefragt. Ich sage noch einmal - das ist auch für die bevorstehende Wahl wichtig -: Das Vertrauen, das Deutschland genießt, ist ein kostbares außenpolitisches Kapital. Wir haben es in Jahrzehnten hart erarbeitet. Um es klar zu sagen: Ich denke nicht daran, es aufs Spiel zu setzen.
({18})
Es ist mit Blick auf mein Amt überhaupt nichts Besonderes, daß ich in diesen kritischen Tagen jede Chance wahrnehme, mit den Verantwortlichen in Moskau und Washington und mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der EU über die Entwicklung in Rußland zu sprechen. Ich bin froh, daß wir volle Übereinstimmung haben, gerade in der Europäischen Union. Wir stimmen darin überein, daß die Stabilität Rußlands und der Fortgang seiner politischen und wirtschaftlichen Reformen von existentieller Bedeutung für die Entwicklung Europas und natürlich auch Deutschlands sind. Aber ich mische mich nicht in die Entscheidungen Rußlands ein. Wenn ich hier sage - alle meine Kollegen denken so -, daß wir hoffen, daß Tschernomyrdin durch die Duma die Bestätigung für das Amt des Ministerpräsidenten erhält, dann steht dahinter die Hoffnung, daß damit wieder ein Mann - was immer er sonst in vielen Bereichen denken mag - ins Amt kommt, der in der Lage ist, mit Augenmaß, aber auch mit Mut die notwendigen Entscheidungen im Hinblick auf Reformen zu treffen. Ohne diese Reformen, ohne Rechtsstaat, ohne freiheitliche Demokratie, ohne marktwirtschaftliche Ordnung und damit vor allem ohne die Chance zu sozialer Stabilität wird Rußland keine gute Entwicklung nehmen.
Wer darüber redet, sollte wenigstens einmal eine Minute darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn die Dinge in Rußland nicht gut laufen. Rußland ist nicht irgendein Land. Es ist eines der mächtigsten
Länder dieser Erde, auch wenn es im Moment schwierige politische und wirtschaftliche Probleme hat. Es wird aber wieder an die Spitze kommen; daran habe ich gar keinen Zweifel. Es ist vor allem unser mächtigster Nachbar im Osten. Die Lage in Mittel-, Ost- und Südosteuropa hängt entscheidend davon ab, daß auch die Lage in Moskau stabilisiert wird. Deswegen ist es doch nur natürlich, daß alle, aber insbesondere die Deutschen, alles tun, um in diesem Sinne zu wirken.
Das heißt aber auch, daß wir unseren russischen Freunden sagen: Ihr könnt nur Hilfe zur Selbsthilfe erhalten. Die entscheidenden Maßnahmen müssen im eigenen Land ergriffen werden: vom Präsidenten, dem künftigen Ministerpräsidenten, dem Parlament und den Verantwortlichen in der Gesellschaft. Ebenso klar sage ich, daß es abwegig ist, in dieser Situation wieder von Geld zu reden, denn die Russen müssen zunächst ihre Verpflichtungen einhalten, weil sonst auch in unserem Land und in Europa die Zustimmung zu einer Politik der Hilfe auf der Strecke bleiben wird. Das will ich klar und deutlich sagen.
({19})
Meine Damen und Herren, wir haben Beiträge, auch finanzieller Art, für die Entwicklung Rußlands geleistet. Warum? Weil es unser mächtigster Nachbar ist und die Lage in der Region entscheidend von diesem Land beeinflußt wird. Rußland hat mit Murren - der Präsident hat es gestern wieder kritisiert - und zum Teil zähneknirschend akzeptiert, daß Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen werden. Wer hätte das heute vor zehn Jahren für möglich gehalten?
({20})
Das ist doch ein Erfolg unserer zähen Verhandlungspolitik. Es besteht im übrigen eine Dankesschuld gegenüber unseren Nachbarn. Wir haben den Polen immer zugerufen: Wenn ihr euer kommunistisches Regime loswerdet, seid ihr herzlich willkommen. - Es ist doch auch eine Frage der inneren Stabilität unserer Region, daß an der Oder nicht nur die Grenze zur EU fällt, indem sie ostwärts verschoben wird, sondern daß die Oder auch keine NATO-Grenze mehr ist. Das ist Teil deutscher Sicherheitspolitik. Dafür treten wir ein; dabei bleiben wir.
({21})
Beim Besuch von Jacques Chirac in der Ukraine geht es in diesen Tagen darum - in dieser Frage stimmen wir völlig überein -, dieses große und im Wortsinn mächtige Land der Zukunft zu stabilisieren, ein Land, das - nimmt man die EU zum Maßstab - nach der Bundesrepublik Deutschland das zweitgrößte ist.
Wir haben hier auch über das Baltikum diskutiert. Wir haben eine lange Tradition der Beziehungen mit den baltischen Staaten, wobei der Verrat Hitlers schlechte Erinnerungen hervorruft. Für die baltischen Staaten ist es doch existentiell, daß sich die Dinge in Moskau so entwickeln, daß sie ihren Weg in
der Geschichte selbständig gehen können. Wir brauchen darüber doch nicht zu debattieren.
({22})
Das alles hängt mit dem zusammen, was wir hier jetzt auf den Weg bringen können.
Es ist noch eine letzte Frage offen - der Ministerpräsident des Saarlandes hatte gestern die Güte, das Thema wieder anzusprechen -: unsere Zahlungen an Rußland. Es ist wahr, meine Damen und Herren, daß wir erhebliche Gelder bezahlt haben. Ich erinnere mich aber an Debatten aus den Jahren 1986 bis 1988, als ganz andere Zahlen im Raume standen. Wir haben damals gesagt: Das zahlen wir gerne, wenn wir die deutsche Einheit bekommen. Jetzt haben wir nicht nur die deutsche Einheit erreicht - ich komme darauf noch zu sprechen -, sondern wir haben auch noch einen fristgerechten Abzug der russischen Truppen erleben dürfen.
({23})
Meine Damen und Herren, alle, die jetzt über Boris Jelzin herfallen
({24})
und mit der konkreten Situation ihren Spott treiben - vor einiger Zeit konnten sie übrigens gar nicht tief genug ihren Diener machen -, will ich daran erinnern, daß es allein dieser Mann war, der 1993/94 gesagt hat: Wir ziehen ab. - Er hat dies gesagt, obwohl damals auch die deutsche Seite durchaus Anlaß geboten hat, über eine Verschiebung ernsthaft nachzudenken, wenn man gewollt hätte. Unsere Position war nämlich auf Grund der örtlichen Verhältnisse nicht sehr stark. Ich sage dies ohne Vorwurf. Damals kam das Jahr 1998 als Abzugsjahr in die Diskussion. Daß aber unsere Vorstellungen so umgesetzt wurden, wie wir sie ausgehandelt hatten, zeigt doch, wie wichtig es ist, sich im guten Kontakt mit Freunden und Partnern gegenseitig nur das Vertretbare zuzumuten. Diesen Punkt wollte ich heute noch einmal mit großer Deutlichkeit hervorheben.
({25})
Damit kommen wir automatisch zu einem anderen Thema, bei dem ohne Rußland wiederum nichts laufen würde, nämlich zu der Entwicklung im früheren Jugoslawien und jetzt vor allem im Kosovo, wo sich die Lage dramatisch zuspitzt und wo wir, die Deutschen, unseren humanitären Verpflichtungen selbstverständlich nachkommen. Ich brauche in dieser Frage von niemandem, auch nicht von den USA und von anderen Ländern, Nachhilfe, wie wir uns gegenüber Flüchtlingen verhalten sollen.
({26})
Als die Not am größten war - Massenerschießungen, Massenvergewaltigungen, ethnische Vertreibung -, haben wir das getan, was für ein Volk mit moralischem Anspruch selbstverständlich ist. Wir haben gesagt: Wenn die Menschen dort unterzugehen drohen, können wir das nicht zulassen und nehmen sie auf Zeit auf. So sind über 300000 Flüchtlinge zu uns gekommen. Wir haben in diesem Zusammenhang nie darüber diskutiert, daß unser Handeln Geld kostet. Denn wir haben 1945 und in den folgenden Jahren selbst erlebt, daß andere uns gehollen haben. Trotz all unserer Probleme gehören wir immer noch zu den Ländern in der Welt, denen es am besten geht. Deswegen ist es selbstverständlich, daß wir anderen helfen.
({27})
Wir haben gesagt, daß wir so lange helfen, bis die Menschen nach Hause zurückkehren und ihre Häuser, Schulen und Fabriken wieder aufbauen können. Es ist eine gute Sache, daß dieser Prozeß in Bewegung gekommen ist. Wir werden ihn weiterhin unterstützen. Aber die EU-Länder - ich sehe einmal von Österreich ab - und andere Länder haben in dieser Frage im Vergleich zu uns einen Nachholbedarf. Wir haben mehr als doppelt soviel Flüchtlinge aufgenommen wie alle anderen Länder in Europa. Ich sage das nicht, um uns zu rühmen, sondern um diese Tatsache festzustellen. Wir brauchen keine Vorträge über Ausländerfreundlichkeit. Wir sind ein ausländerfreundliches Land und werden es bleiben.
({28})
Jeder kann - wenige Wochen vor dem Eintritt des Winters - erahnen, daß eine weitere humanitäre Katastrophe, die Gott verhüten möge, heraufzieht. Deswegen müssen EU und NATO alles tun, um ihren Einfluß geltend zu machen, daß in dieser Situation - sie ist schwieriger als die in Bosnien-Herzegowina, weil auf beiden Seiten Intoleranz und vor allem die Unfähigkeit, miteinander zu sprechen, aufgekommen sind - die Gewalt ein Ende nimmt, daß es zu Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts kommt und daß eine umfassende Selbstverwaltung möglich wird. Das alles muß jetzt geschehen. Es ist berechtigt, wenn wir Deutsche, die einen besonderen humanitären Auftrag haben, dies all unseren Nachbarn sagen.
Ich komme zu einer anderen dramatischen Entwicklung in der Welt, nämlich zu der Entwicklung in Europa. Wir dürfen nie vergessen - die Entscheidung hinsichtlich des Kosovo hat in diesem Fall viel mit unserer Glaubwürdigkeit zu tun -, daß die deutsche Einigung ohne die Einigung Europas nicht möglich gewesen wäre. Herr Ministerpräsident Lafontaine, von mir kennen Sie keine Äußerung - Sie haben gestern wieder eine entsprechende Fama aufgebaut -, daß ich mich als Vater des Euro bezeichne.
({29})
- Ich weiß doch, was Sie noch gestern gesagt haben.
({30})
- Hören Sie: Großvater ist keine schlechte Position.
({31})
Ich bin ganz zufrieden, daß ich Großvater bin. An Ihrer Stelle würde ich aber in Anbetracht Ihrer politischen Enkel nicht gern Großvater sein.
({32})
Wir haben den Euro, genauso wie die EU, gemeinsam auf den Weg gebracht. Wahr ist doch - wir müssen uns doch nicht schämen, das gegenseitig einzugestehen -: Die EG ist in die EU umgewandelt worden - bis hin zum Währungsbereich -, weil viele unserer Nachbarn 1989/90 die Gefahr sahen, daß die Deutschen „wegschwimmen" .
({33})
- Herr Ministerpräsident Lafontaine, dafür sind Sie aber der schlechteste Ratgeber. Sie waren doch gegen den Nato-Doppelbeschluß, genauso wie Herr Schröder. Sie haben doch das Mißtrauen in der Welt gesät, durch Ihre Politik.
({34})
Ich bin der letzte, der bestreitet, daß der französische Staatspräsident François Mitterrand bei diesen Fragen entscheidend mitgewirkt hat. Wir sind, wie jeder weiß, freundschaftlich verbunden gewesen. Am Anfang des Prozesses der deutschen Einheit waren wir in dieser Frage nicht immer einig. Er hat nach seinem Ausscheiden aus dem Amt immerhin noch ein Buch darüber geschrieben. Es war einer der großen Glücksfälle für Deutschland, daß dieser Mann im entscheidenden Augenblick Präsident der Französischen Republik war. Ich bin dankbar, daß wir das erlebt haben.
({35})
Dann haben wir in Sachen Währung etwas entschieden, was viele für gänzlich unmöglich gehalten haben. Es ist eigenartig, daß Sie - jetzt wieder - Theo Waigel angegriffen haben. Das Zitat „Der Euro spricht deutsch" stammt zudem nicht von ihm. Es ist von den Franzosen geprägt worden - halb aus Anerkennung, halb aus Mißbehagen.
({36})
- Wenn ein französischer Staatspräsident diese Meinung hat, muß er doch nicht Sie in Saarbrücken fragen. Wo kommen wir denn da hin?
({37})
Herr Ministerpräsident, wenn Sie wollen, können wir heute abend ein Kolloquium über saarländische Politik machen. Sie wissen, ich bin darin Spezialist. Aber ich würde an Ihrer Stelle nicht darauf eingehen, in der Frage schon gar nicht.
Daß der Euro in dieser Weise kam, hat eine Menge Gründe. Warum soll man nicht auch diese nennen: Da war die Angst, die Deutschen könnten eine Hegemonie errichten. Dies war in einer dramatischen Nacht mit Händen greifbar. Damals - ich will das noch einmal erwähnen - hat François Mitterrand den Ausschlag gegeben. Als der Reihe nach gefragt wurde, wo der Sitz der Europäischen Zentralbank sein solle, hat François Mitterrand - er war der vorletzte Redner - gesagt: „Frankreich" - er sprach nie in der Ich-Form - „stimmt für Frankfurt". Da konnte niemand gegen Frankfurt stimmen.
Dieser bedeutende politische Denker hat begriffen, was es für die Deutschen heißt, nach 50 Jahren die D-Mark aufzugeben, daß die D-Mark nicht irgendeine Währung war und ist, sondern eine Lebenserfahrung. Er hat gesagt: Leute, wir brauchen die Deutschen. Die Deutschen sind auch währungspolitisch eine Säule. - In diesem Geist haben wir die Entscheidung gefällt.
Wissen Sie, was sich da ausgezahlt hat? Daß Männer wie Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel in vielen schwierigen, endlosen Sitzungen auf internationalen Konferenzen, in denen es um währungspolitische Entscheidungen ging, zwar immer unsere eigenen Interessen im Blick hatten, aber vor allem - und das macht Politik aus - nach den gemeinsamen Interessen gefragt haben. Diese Männer haben begriffen, daß man Politik nicht - schon gar nicht im internationalen Bereich - am Kalender und an tagespolitischen Ereignissen ausrichten kann. Auch in diesem Sinne stimmt es, daß man sich im Leben immer wiedersieht. Das hat sich für uns ausgezahlt.
({38})
Daß die Erfolgsgeschichte der D-Mark nach 50 Jahren in eine Erfolgsgeschichte des Euro übergeht, ist heute ganz unbestreitbar. Wenn ich mir Sie anschaue, frage ich mich manchmal: Wo lebe ich eigentlich?
({39})
- Schauen Sie sich doch einmal an, was Sie in der Debatte vor gerade einem Jahr im Blick auf die Kriterien von Maastricht alles gesagt haben. Alles war falsch - alles, ohne Ausnahme!
({40})
Meine Damen und Herren, natürlich hatten wir in dieser geschichtlichen Stunde auch Schwierigkeiten und haben gelegentlich Fehler gemacht. Aber wir wußten: Wenn wir, die Deutschen, die Kriterien nicht seriös erfüllen, bricht das Ganze zusammen. Deshalb haben wir wirklich Tag und Nacht darüber nachgedacht.
Eine ganz andere Sache aber ist: Die Gurus haben nicht recht behalten, auch alle diejenigen nicht, die uns gesagt haben, mit dem Euro werde die D-Mark destabilisiert und werde uns der europäische Markt verlorengehen.
Ich habe niemals gesagt - dies ist vorhin behauptet worden, ich glaube, von Herrn Fischer; er liest viel, aber ob er immer alles behält, das weiß ich nicht -,
({41})
wir hätten die japanische Karte gespielt. Das habe ich nie gesagt. Sie verwechseln mich mit jemand anderem. Ich habe immer gesagt: Das ist eine andere Kultur, vor der ich Respekt habe; wir haben unsere eigenen Möglichkeiten. Wenn man glaubt, daß das Sozialsystem Japans auf uns zu übertragen ist, muß
man jenseits des Mondes leben. Das war nie meine Meinung.
({42})
- Nun gut, auch die F.D.P. ist eine freie Partei. Herr Fischer, wenn ich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der F.D.P. und in Ihrer Partei betrachte, dann kann ich nur sagen: Wie können Sie überhaupt von einer Partei reden? In Wahrheit sind Sie es auch gar nicht.
({43})
Wenn Sie der F.D.P. vorwerfen, es gebe sie nicht in den neuen Ländern, kann ich nur fragen: Wo sind Sie denn in den neuen Ländern?
({44})
Die Leute sind Ihnen doch alle davongelaufen. Mit den früheren Bürgerrechtsbewegungen haben Sie doch gar nichts mehr im Sinn.
({45})
Sie sind doch auf dem Weg, um jeden Preis an die Macht zu kommen. Alles, was Sie einmal beschworen haben, haben Sie doch längst in den Rhein geworfen. Das ist doch die Wahrheit.
({46})
Jetzt stehen wir vor einer wichtigen Weichenstellung. Ich fürchte, manche von uns haben dies - ich sage dies ohne Vorwurf, weil die Innenpolitik aus vielen Gründen notwendigerweise dominiert - aus den Augen verloren. Wir treten jetzt innerhalb der Europäischen Union in eine neue Phase ein. Der Euro ist die eine Sache; aber es geht auch um die innere Struktur der Europäischen Union. Es geht um die Abgrenzung der Kompetenzen, um größere Bürgernähe; es geht um die Erweiterung. Machen Sie sich doch keine Illusionen, Herr Fischer! Ich gebe Ihnen recht: Wenn die Funktionsträger der EU jetzt geheim abstimmen würden - so, daß niemand nachweisen könnte, wie von dem einzelnen abgestimmt worden ist -, wäre ich nicht sicher, ob es eine Mehrheit für die Erweiterung gäbe. Das aber kann nicht unsere Politik sein. Für die Deutschen ist es schicksalhaft, daß die Länder Mittelost- und Südosteuropas den Weg in die Europäische Union finden; denn nur so werden wir auch im nächsten Jahrhundert Frieden und Freiheit haben.
({47})
Wenn es um die konsequente Beachtung des Subsidiaritätsprinzips geht, muß ich Ihnen sagen: Da habe ich die ganze Ministerpräsidentenkonferenz hinter mir, und das will schon etwas heißen. Das ist ja nicht irgendeine Vereinigung, sondern ein hochanständiges und achtbares Gremium; ich selbst gehörte ihm an. Deswegen weiß ich auch, daß es richtig ist, wenn sie mir sagen: Dränge auf die Subsidiarität, dränge darauf, daß wir in der regionalen Strukturpolitik nicht unter die Bürokraten fallen! Wo sie recht haben, haben sie doch recht.
Herr Scharping, Sie sind doch Vorsitzender der europäischen Sozialisten. Sie könnten doch einmal bei Ihren Kollegen für etwas Vernunft auf diesem Gebiet werben. Die Strukturpolitik braucht ausreichenden Spielraum für eine eigenständige nationale Regionalpolitik.
Ähnliches gilt auch für die Finanzfragen. Warum sagen Sie das, was Sie auch heute wieder behauptet haben, wider besseres Wissen? Sie werfen uns die Dublin-Entscheidung zu den Finanzen aus dem Jahre 1992 vor. Was hätte ich, was hätte Herr Waigel oder der Außenminister 1992 anderes machen können? Wir waren damals in der entscheidenden Phase, in der sich unsere europäischen Nachbarn in der EU gerade mühsam an die deutsche Einheit gewöhnten. Ich mußte bei beinahe jeder Entscheidung zur Kenntnis nehmen, daß dieser oder jener nur äußerst zögerlich die Konsequenzen aus der deutschen Einheit zog, und zwar auch im Rahmen der EU-Politik. In dieser Situation hinzugehen und nach altem, „erprobtem" Wesen - das uns in diesem Jahrhundert ein Drittel des Reichsgebietes gekostet hat - zu sagen, am deutschen Wesen soll die Welt genesen, wäre doch keine verantwortliche Politik gewesen.
Wenn Theo Waigel, von mir voll unterstützt, sagt, es sind viele Jahre vorbei, es sind durch unser Zutun Länder vor zwölf oder mehr Jahren in die EU gekommen, die jetzt eine ganz andere Bilanz haben -Länder, die mir sehr sympathisch sind, wenn ich an Irland mit seinen Zuwachsraten denke -, und daraus müssen wir Konsequenzen ziehen, dann kann ich doch nicht sagen: Weil das vor über zehn Jahren oder, wenn Sie bestimmte Luxemburger Entscheidungen nehmen, gar vor zwanzig Jahren so war, muß das mit der Lastenverteilung in der EU immer so bleiben. Sie sind doch angeblich für Reformen. Dann sagen Sie doch: Der Kohl hat recht. Sie können als der Vorsitzende der europäischen Sozialisten doch wenigstens einmal sagen: Er hat zwar grundsätzlich nie recht, aber in dieser einen Sache hat er recht.
({48})
Deswegen ist es für mich wichtig, daß wir auf diesem Kurs bleiben. Berechtigt ist auch, über das Geld zu reden. Sie kennen die Zahlen doch. Lassen Sie einmal die deutschen Zahlen weg! Wenn das so fortgeschrieben wird, ist es beispielsweise für unsere Nachbarn in Wien völlig unerträglich. Das ist doch nicht nur eine Sache, die uns betrifft. Deswegen reden wir darüber. Wir machen es nicht mit einer Drohgebärde. Wir wollen nur ein Stück mehr Gerechtigkeit. Da ich heute dauernd höre, Sie sind für Gerechtigkeit, fordere ich Sie auf: Machen Sie mit, und tun Sie etwas auf diesem Weg, dann kommen wir wieder einmal zusammen ein Stück weiter voran.
Damit bin ich in der Generaldebatte bei der Innenpolitik.
({49})
- Haben Sie etwas dagegen, daß der deutsche Bundeskanzler in dieser Situation zur Außenpolitik redet?
({50})
Das zeigt nur die Provinzialität, in der Sie versunken sind.
({51})
Sie haben jetzt ein Thema - wir wollen es einmal durchdeklinieren -: 16 Jahre. Sprechen wir darüber was war, was ist und was wir für die Zukunft wollen. Ich sage als erstes, so wie es auch Kurt Biedenkopf gestern wunderschön belegt hat: Es waren 16 gute Jahre, und das werden Sie auch am Wahltag merken.
({52})
Aber dieses Jahr, 1998, ist so, wie es jetzt ist - übrigens kann auch Ihr Wahlkampf nur auf einer solchen Basis geführt werden -, nur denkbar und möglich, weil das alles eine Vorgeschichte hat. Wenn Sie jetzt wieder damit anfangen, man dürfe nicht über Außenpolitik reden, muß ich noch einmal sagen: Sie waren es, die in Deutschland Angst zu einem Mittel der Politik machten. Nicht ich bin der Erfinder des NATO-Doppelbeschlusses, das war Helmut Schmidt. Er ist und war ein kluger Mann. Aber Sie haben ihn doch wegen des NATO-Doppelbeschlusses gestürzt. Die Helden, die das getan haben, sitzen doch zum Teil hier auf dieser Bank.
({53})
Sie haben doch die Straße hier in Bonn und anderswo mobilisiert; das können Sie, das haben wir auch beim Kohle-Kompromiß erlebt. Aber Sie haben nichts erreicht. Was haben Sie für einen Spott über uns und über mich ausgeschüttet, als ich sagte: Frieden schaffen mit weniger Waffen! Ich kann heute in Deutschland vermelden: Wir haben weniger Waffen auf unserem Territorium als in langer Zeit unserer Geschichte. Das ist ein Erfolg unserer Friedenspolitik.
({54})
Machen Sie nun nicht auch noch eine solche Geschichtsfälschung hinsichtlich der Ereignisse vor neun Jahren. Ich finde es falsch. Daß es vor neun Jahren zu dieser Entscheidung kam, verdanken wir den Ereignissen in folgender Reihenfolge: der Entwicklung in Moskau, als die sowjetische Wirtschaft unter dem Druck der Überrüstung zusammenzubrechen drohte und Michail Gorbatschow erkannte, er müsse abrüsten, und dem Umstand, daß er in Amerika auf Präsidenten traf - zunächst auf Ronald Reagan, aber dann vor allem auf George Bush -, die dieses Gespräch mit ihm aufgenommen haben. Ohne diese beiden Voraussetzungen - das sage ich mit aller Härte - hätten alle Demonstrationen in Leipzig, Chemnitz und sonstwo, vor denen ich den allergrößten Respekt habe - denn diese Leute haben Mut gehabt -, nicht zum Erfolg geführt. Das wissen Sie so gut wie ich.
Daß dann das Tor aufging, war großartig. Dafür danken wir Michail Gorbatschow, George Bush und denen, die uns geholfen haben, aber auch und nicht zuletzt den Menschen auf den Straßen und Plätzen der damaligen DDR, die eben nicht geglaubt haben, was führende Sozialdemokraten sagten: Die Idee der Einheit ist überlebt, wir können sie aufgeben. Andere haben sie - die haben das nicht so laut gesagt - verraten. Nein, sie haben denen geglaubt, die durch Wind und Wetter hindurch gesagt haben: Wann es sein wird, wissen wir nicht, aber die Idee der Einheit der Nation wird Wirklichkeit werden, wenn das Volk selbst es will. Das haben wir durchgesetzt, und dafür stehen wir.
({55})
Meine Damen und Herren, daß wir in der Zeit 1989, 1990, 1991 nicht in der Lage waren, ein perfektes Programm vorzulegen, und daß wir und nicht zuletzt ich Fehler gemacht haben, habe ich oft genug gesagt. Ich war in der Verantwortung und stehe auch für diese Fehler ein. Aber in den Grundfragen der Nation hat unser Kompaß gestimmt. Ich wäre nie, nicht eine Minute, auf den Gedanken gekommen, daß ein verantwortlicher deutscher Politiker, ein Ministerpräsident, in dieser Schicksalsstunde unseres Volkes - in einem Moment, in dem die Leipziger gerufen haben: Wenn die D-Mark nicht nach Leipzig kommt, gehen die Leipziger zur D-Mark - gegen den Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion stimmen könnte. Aber Sie beide, die Sie hier sitzen, haben das getan.
({56})
In vier Wochen ist der achte Jahrestag der deutschen Einheit. Es ist doch ganz offenkundig, daß wir in diesen acht Jahren weit vorangekommen sind. Sie müssen ja nicht alles akzeptieren, was Kurt Biedenkopf gestern hier gesagt hat. Aber er hat doch in seiner eindeutigen Art ganz unwiderlegbar die Fakten dargestellt. Er hat nicht gesagt, es sei alles bestens. Aber er hat gesagt, daß wir ein großes Stück vorangekommen sind. Das sagen auch viele Leute in den neuen Ländern, übrigens auch Sozialdemokraten, wenn sie nicht im Wahlkampf sind. Gehen Sie doch einmal zu einigen Landesregierungen, die vor Ort arbeiten und wirklich sehen können, was geschehen ist. Sprechen Sie doch einmal mit Ihrem Oberbürgermeisterkandidaten in Potsdam, den ich im Oderbruch getroffen habe. Der Mann sieht doch, was sich dort entwickelt hat.
Natürlich ist das ein schwieriger Weg. Ich kann aber nur immer wieder allen, die wie ich aus dem Westen, vom Rhein kommen, sagen: Redet nicht über die Leute jenseits der damaligen Grenze; wir hatten nicht deren Lebensbiographie, und es gab dort andere Einflüsse und Denkkategorien. Überlegen Sie doch einmal: In ein paar Wochen wählen jetzt 18jährige in Chemnitz, Leipzig und Schwerin zum erstenmal. Vor neun Jahren waren sie noch in dem, was wir Grundschule nennen würden. Sie waren einem völlig anderen Einfluß von Lehrern und staatlichen Institutionen ausgesetzt. Wer hat ihnen denn - ich meine
jetzt nicht materiell, sondern mental - im täglichen Umfeld geholfen, zumal auch ihre Eltern nach 40 Jahren DDR unsere Erfahrungen nicht hatten? Nun regen sich alle auf und sagen, die jungen Leute seien auf Irrwegen. Die sind in ihrer großen Mehrheit nicht auf Irrwegen. Wir müssen bloß - hier bin ich mit Willy Brandt einig - denen helfen, die sich zu Links- und Rechtsradikalen verlaufen haben, zur politischen Mitte zu finden. Aber ich spreche von Links- und Rechtsradikalen gleichermaßen, und eine Seite davon beachten Sie in der SPD nicht mehr.
({57})
Es ist ja bemerkenswert, daß in der Debatte bis jetzt der Vorwurf, es gebe keine blühenden Landschaften, nicht gekommen ist. Warum nicht? Weil Sie das in den neuen Ländern nicht mehr sagen können. Ich höre hier dauernd, Herr Scharping, daß Sie mit den Leuten reden. Ich rede nun wirklich mit vielen Leuten, vielleicht mit mehr Menschen als viele andere, und höre natürlich ein großes Maß an Kritik. Aber jetzt höre ich durchgängig - etwa aus den Kirchen - eine andere Botschaft. Sie haben doch gerade die Bischöfe zitiert. Zitieren Sie dann doch auch einmal das Bischofswort der evangelischen und der katholischen Kirche von Mecklenburg-Vorpommern; da haben Sie doch ein Beispiel!
({58})
- Das weiß ich. Sie sind ein richtiger Umverteiler, in der ganzen Not, in der Sie hier sitzen.
({59})
Meinen Sie, daß so etwas diesem Thema angemessen ist?
Natürlich haben die Menschen Erwartungen gehabt, die in der kurzen Zeit nicht erfüllbar waren. Aber natürlich ist auch klar zu erkennen, daß Ostdeutschland Stück für Stück aufblüht. Schauen Sie sich doch einmal das Opel-Werk in Eisenach an!
({60})
Sehen Sie sich doch einmal das Chemiedreieck an! Sie brauchen dort noch nicht einmal hinzugehen, denn Sie haben einen der besten Experten dafür in Ihrer eigenen Fraktion. Ich bedauere zutiefst, daß der Kollege Rappe ausscheidet. Wenn Sie sich anhören, was er und sein Nachfolger in der Gewerkschaft über die Chemiepolitik, die ich mit ihm und anderen gemeinsam betrieben habe, zu berichten haben, dann wissen Sie, daß es sich hier um ein Ruhmesblatt in der deutschen Industriegeschichte handelt. Dazu hat die Politik beigetragen.
({61})
Natürlich lassen sich die Probleme mit Händen greifen. Der modernste Betrieb - wahrscheinlich auch der eindrucksvollste -, den wir im Bereich der Braunkohleveredelung haben, ist die „Schwarze Pumpe". Dieser Betrieb ist die Nummer eins in Europa. Aber wenn Sie sich auf eine Halde stellen und sich von oben umschauen, dann sehen Sie auch das ganze Elend im Umfeld. Die „Schwarze Pumpe" ist ein Betrieb für das 21. Jahrhundert. Aber daneben sehen Sie die alten Halden früherer Betriebe, in denen 4000 Menschen beschäftigt waren. Heute sind es nur noch 400. Das ist ein Teil des Problems, nämlich daß die Modernisierung Arbeitsplätze kostet und daß wir gleichzeitig neue, sichere Arbeitsplätze schaffen müssen.
Wie sah es denn im Bereich der Telekommunikation vor zehn Jahren aus? Wer hat denn vor zehn Jahren telefoniert? Niemand, nur die Stasi hat abgehört.
({62})
Jetzt hat Ostdeutschland das modernste Telekommunikationssystem in Europa. Das ist doch nicht vom Himmel gefallen. Hier wurde etwas geleistet.
({63})
In den Jahren nach der Wiedervereinigung sind 550 000 Wohnungen in Ostdeutschland neu gebaut worden. Die Hälfte des dortigen Wohnungsbestandes ist modernisiert worden.
Jetzt möchte ich ein Thema ansprechen, zu dem ich von Ihnen noch gar nichts gehört habe, nämlich das Thema Rente. Wo waren Sie eigentlich, als Norbert Blüm, ich und andere - auch nach internen Diskussionen in der Koalition; das gehört schließlich dazu - über die Übernahme des Rentensystems für die neuen Länder entschieden haben? Es gab ja auch Ansprüche, die man nicht leugnen konnte, wenn die Produktivität weitaus geringer als bei uns war. Wir haben damals eine politische Entscheidung getroffen, die Sie mühsam nachvollzogen haben und die zum Beispiel zu folgendem Ergebnis geführt hat: Ein Rentner mit über 40 Versicherungsjahren, der in der damaligen DDR 470 bis 550 Ostmark bekam, hat heute eine Rente von 1700 DM.
Natürlich drücken sich hier auch Unterschiede in den Biographien aus. In der DDR-Zeit war es nahezu selbstverständlich, daß beide Ehepartner gearbeitet haben. Entsprechend besitzen jetzt auch beide Rentenansprüche. Das addiert sich zum Beispiel auf 2 x 1 700 DM. Das hat zur Folge, daß die Bürger in meinem heimatlichen Wahlkreis Ludwigshafen - aber auch woanders - fragen: Wieso haben diese Menschen solche Renten? Die haben doch gar nichts eingezahlt. - Jetzt entsteht auch hier Neid. Ich bleibe aber dabei: Menschen aus den entsprechenden Geburtsjahrgängen, die die volle Last der Geschichte getragen und Krieg, Vertreibung und Verzweiflung erlebt haben, brauchen in besonderer Weise unsere Zuneigung. Das Gefühl der Solidarität in Deutschland sollte so stark sein, daß man die Renten dieser Menschen bezahlt.
({64})
Herr Scharping, vor ein paar Tagen sagte mir ein wirklicher Freund der Deutschen Jacques Delors - wir verdanken ihm viel; ich bin stolz darauf, daß er auch ein Freund von mir ist -, als er mich nach Eckdaten des deutschen Wiedervereinigungsprozesses fragte und ich ihm unter anderem die Höhe der Rentensumme nannte: So etwas gibt es in Frankreich
nicht. - Wenn man sich vorstellt, daß Sie vom Untergang Deutschlands sprechen und Miesmacherei zum Hauptpunkt Ihres Wahlkampfes gemacht haben, dann kann man nur den Kopf schütteln.
({65})
Herr Ministerpräsident Schröder, ich habe ja angeboten, daß die Kanzlerkandidaten sagen, für was sie stehen. Ich muß Sie fragen: Wofür stehen Sie eigentlich in den neuen Ländern? Ich will die Beispiele nennen. Sie haben 1993 - nicht 1983; das ist ja das Problem, wenn man ein Buch schreibt; es ist alles nachprüfbar - geschrieben: „Jede Mark, die wir in die Modernisierung der Werften Mecklenburg-Vorpommerns stecken, ist eine Mark, die wir in die Konkurrenz der niedersächsischen Werften investieren." Können Sie mir einmal sagen, meine Damen und Herren, wo hier noch eine Spur von Solidarität vorhanden sein soll?
({66})
Weder Sie noch ich und auch nicht die allermeisten, die sich jetzt in diesem Saal befinden, haben ein persönliches Verdienst daran, daß sie nach dem zweiten Weltkrieg auf der Sonnenseite der deutschen Geschichte aufgewachsen sind. Wir sind ein Volk. Wir haben eine Geschichte mit großen und schrecklichen Kapiteln. Auch die Rechnung für das Schlimme, das in deutschem Namen und von deutscher Hand zur Nazizeit geschehen ist, haben wir heute noch jeden Tag gemeinsam zu bezahlen.
Nun haben wir im Westen das Glück gehabt, nach 1945 auf der Sonnenseite zu stehen. Andere hatten das Glück nicht. Ich war vergangenen Freitag abend in Frankfurt an der Oder, und an diesem Freitag bin ich in Frankfurt am Main. Man kann es beinahe körperlich spüren und kann sehen, wie die Entwicklung war. Die Leute in Frankfurt an der Oder und die in Frankfurt am Main waren gleichermaßen fleißig und intelligent. Ich kann keinen Unterschied entdecken. Aber die eine Seite hatte das Pech, daß sie unter die Herrschaft eines Regimes geriet, das sie um die Früchte ihrer Arbeit betrogen hat. Die Leute in Frankfurt am Main konnten ihren Weg - übrigens auch bis hin zu Werksrenten - ganz anders gehen. Deswegen gilt für mich selbstverständlich der Satz - ob manche im Westen das gern hören wollen oder nicht -: Aufschwung Ost hat Priorität in Deutschland. Das ist gelebte Solidarität.
({67})
Ich bringe ein weiteres Beispiel, auch wenn der geschätzte Bürgermeister von Hamburg hier ist. Jetzt tut sich auf dem Gebiet der Luftfahrtindustrie endlich etwas Vernünftiges. Als Gegenpol zu den amerikanischen Bemühungen, einen riesigen und erfolgreichen Luftfahrt- und Weltraumkonzern zu bilden, tun wir uns in Europa jetzt zusammen und machen etwas gemeinsam. Wir Deutsche haben daran einen wichtigen Anteil. Wir wollen natürlich, daß in Deutschland nicht nur die Blechschneiderei, sondern die gesamte Produktion des Großflugzeuges stattfindet.
Jetzt stellt sich die Frage: An welchen Standort gehen wir? Daß der Hamburger Bürgermeister sagt, die Produktion will ich nach Hamburg haben, ist bürgermeistermäßig. Das kritisiere ich nicht, obwohl ich es nicht verstehe. Denn der Hamburger Bürgermeister müßte jeden Tag eine Danksagung für die deutsche Einheit aussprechen. Es gibt keine Region in Deutschland, die soviel von der deutschen Einheit profitiert hat wie Hamburg.
({68})
Sie wissen, daß ich es Ihnen gönne. Aber nun bringe ich in dieser Debatte den Standort Rostock - nun wahrlich aus vielen Gründen eine geschundene Region - ins Spiel. Ich kann nachweisen, daß diese Region mit einem Großflugplatz, einem Erbstück aus der sowjetischen Zeit mit wenigen Problemen im Umweltbereich die Chance bietet, schnell zu handeln. Für die Region würde dies 3000 neue Arbeitsplätze, und zwar nicht irgendwelche Arbeitsplätze, sondern innovative Arbeitsplätze, bedeuten - nicht nur an der Werkbank sondern auch in Forschung und Innovation. Wenn dann der Bürgermeister von Hamburg nein sagt und darauf beharrt, die Produktion in Hamburg anzusiedeln - okay. Ich muß allerdings sagen: Ich verstehe ihn nicht. Aber daß Ministerpräsident Schröder, der den Aufbau Ost jetzt - nicht vor drei oder fünf Jahren, sondern jetzt, in den letzten Wochen - zur Chefsache macht, die Hamburger Position unterstützt, zeigt genau Ihr Denken. Das ist der Punkt, um den es hier geht.
({69})
Herr Ministerpräsident, im Prinzip - das ist die erste Feststellung - haben Sie nichts dazugelernt. Sie haben am Tag vor dem Fall der Mauer gesagt: „Wer später kommt, muß sich hinten anstellen." Das ist Ihr Verständnis von Solidarität.
({70})
Ich würde mich schämen, einen solchen Satz ausgesprochen zu haben.
({71})
Die zweite Feststellung betrifft den eigentlichen Punkt - wenn wir über Kandidaten reden, muß darüber gesprochen werden -: Ich glaube nicht, daß Sie die Idee der Einigung Europas wirklich begriffen haben oder begreifen wollen. Wir wollen auch in Europa als Deutsche zusammengehören, und zwar im Sinne von Thomas Mann: „Ich bin ein deutscher Europäer und ein europäischer Deutscher. "
Es ist in Ordnung - ich war selbst in der Kommunalpolitik und in der Landespolitik tätig -, daß man seinen eigenen Kirchturm sieht. Aber die Perspektive eines Volkes am Ende dieses Jahrhunderts, wo sich eine weite Sicht für die Zukunft eröffnet, nur unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für morgen zu sehen, ist nicht in Ordnung.' Wie wollen Sie eigentlich den Leuten in Rostock und Chemnitz sagen, ich maBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
che den Aufbau Ost jetzt zur Chefsache, wenn Ihr Denken für eine weite Sicht gar nicht ausreicht? Das ist der eigentliche Vorwurf, den ich Ihnen mache.
({72})
Unsere Bilanz ist in Sachen deutsche Einheit und Politik für die neuen Länder eindeutig. Wir können noch stundenlang reden, auch über Fehler, die wir gemacht haben; ich räume sie sofort ein. Ich hatte kein Patentrezept. Ich habe damals nicht mit Wolfgang Schäuble und seinem Nachfolger Rudolf Seiters im Kanzleramt gesessen und aufgeschrieben, wann welcher Schritt zu tun ist. Hans-Dietrich Genscher ist nicht zu Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in die Welt gereist und hat gesagt: Wir wissen alles ganz genau. Wir wußten gar nichts. Wir wußten im Frühjahr 1990 nichts, als gute Freunde aus Europa eine neue Friedenskonferenz mit weit über 150 Teilnehmern forderten. Wir haben die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen - das ist ein großes Verdienst von Hans-Dietrich Genscher - Gott sei Dank hinbekommen.
({73})
Wir waren im Auftrag der Geschichte - im wahrsten Sinne des Wortes - unterwegs. Wir haben dabei versucht, das Beste zu machen. Aber wir waren unterwegs und haben uns nicht in die Büsche verdrückt und gewartet, bis die Unwetter der Geschichte vorbeigingen. Das war so und das bleibt so.
({74})
Ihre Politik von damals machen Sie doch gerade weiter. Es war faszinierend, Herr Ministerpräsident des Saarlandes, Sie zu hören. Sie haben hier gestern wieder über den deutschen Weg gesprochen; ich gebe zu: mit vielen intelligenten, auch kessen Formulierungen. Das beherrschen Sie perfekt. Sie haben deswegen einem anderen auch schon die Schau gestohlen; auch das hat jeder gemerkt.
({75})
Herr Scharping denkt das gleiche wie ich; er kann es bloß nicht sagen.
({76})
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie können doch jetzt nicht einen deutschen Weg proklamieren.
({77})
- Lassen Sie doch den Wolfgang Schäuble! Das ist ein ganz prima Mann; das ist ein Freund von mir. Zwischen uns beide bringen Sie nichts, Sie schon gar nicht.
({78})
Wie wollen Sie im Zeitalter der Globalisierung einen deutschen Weg beschreiten? Gestern abend waren wir zusammen, Ministerpräsident Schröder und ich. Ich komme noch darauf zu sprechen. Wir haben gemeinsam in einer feierlichen und freundschaftlichen Weise die Automesse für Nutzfahrzeuge eröffnet.
({79})
Wenn Sie dort verkündet hätten: Ich, Gerhard Schröder, will Kanzler werden und der Mann neben mir, hinter mir - wie immer Sie es nennen wollen - wird dann eine Politik des deutschen Weges machen, hätten die vielen Leute aus aller Herren Länder Sie ausgelacht. Wie wollen Sie das, Herr Ministerpräsident Schröder, in einem globalen System machen? Sie sind doch einer der Vorkämpfer der Internationalisierung von VW gewesen. Ich habe Sie dabei immer unterstützt. Sie sind doch nach Großbritannien gefahren und haben hin und her verhandelt. Sie haben alles mögliche gemacht. Sie waren doch immer für Internationalisierung. Sie haben sich einen Manager aus Spanien geholt; der ist dann wieder gegangen. Sie waren aber immer für Offenheit. Das ist ja in Ordnung.
({80})
Aber Sie können doch keinen deutschen Weg gehen.
Merken Sie denn nicht, Herr Lafontaine - ich unterstelle Ihnen das nicht; Sie kennen das Umfeld der französischen Kammer besser als ich -, welche Wirkung solche Äußerungen von einem deutschen Weg haben? Ich denke daran, was der frühere Präsident Giscard d'Estaing mit schmaler Lippe dazu sagen würde, nämlich: Die Deutschen sind wieder auf einem deutschen Weg.
({81})
Meine Damen und Herren, das ist wirklich schädlich. Lassen Sie das doch bitte sein. Das ist auch sachlich unsinnig.
({82})
Sie kündigen die Rücknahme von Reformen an. Ich habe noch immer nicht entdeckt, wie das mit der Rente bei Ihnen gehen soll. Nun können Sie denken, was Sie wollen. Ob Sie immer mit ihm einverstanden sind, ist eine andere Sache; aber auf diesem Gebiet gibt es keinen besseren Kenner als Norbert Blüm.
({83})
- Er war der erfolgreichste Arbeitsminister der Republik. Das sollten wir alle nicht vergessen.
({84})
Wenn Sie das alles zurücknehmen, wird das natürlich nichts bringen. Vor allem machen Sie jetzt den Eindruck, als sei der Weg in die Zukunft ohne Anstrengungen zu gewinnen. Das ist er natürlich nicht. Vieles von dem, was wir in 50 Jahren Bundesrepublik geschaffen haben, ist hervorragend gelungen. Aber in einigen Feldern besteht Handlungsbedarf. In der Frage der Demographie kann das jeder entdecken.
Das ist doch keine politische Frage. Die Zahlen sind so: Die Menschen werden glücklicherweise älter, und es gibt weniger, die nachwachsen.
Jetzt wollen Sie unsere Reformen zurücknehmen. Warum wollen Sie zum Beispiel die Änderungen bei den befristeten Arbeitsverträgen zurücknehmen? Sie wissen doch, daß Sie dann wieder an dem Punkt sind, daß das Handwerk und viele andere Betriebe wieder weniger einstellen. Reden Sie doch einmal mit Betriebsräten! Reden Sie einmal mit dem DGB - auch wenn es nicht darum geht, Geld für SPD-Zwecke aus der DGB-Kasse zu nehmen! Reden Sie vor allem einmal mit den Leuten, die in den Betrieben die Arbeit machen! Ich habe heute beispielsweise wieder eine interessante Äußerung von Ihrem Nachfolger, Herr Rappe, dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, darüber gelesen, ob die Löhne drastisch in die Höhe getrieben werden sollen. Er hat dabei keinen Namen genannt, aber er hat natürlich den Mann von der IG Metall gemeint; da hat er auch recht.
({85})
- An Herrn Lafontaine hat er sicherlich ebenfalls gedacht. Der Mann ist eben vernünftig. - Herr Rappe, Sie haben eine große Gewerkschaft gut geführt. Sie haben die Weltkomposition der Chemie erkannt. Man kann gegenüber BASF nicht so tun, als wäre auf der anderen Seite des Rheins in Maudach die Welt zu Ende. Auch bei Bayer in Leverkusen funktioniert so etwas nicht. Die Welt ist weiter.
Wenn die Zahl der Biotechnologieunternehmen - da habe ich allen Grund, Jürgen Rüttgers zu danken
- endlich gestiegen ist, dann doch deswegen, weil Ihr Widerstand endlich ein Stück weit zurückgedrängt wurde. Die Liberalisierung, der Multimediamarkt oder auch die Renten- und Gesundheitsreform
- den ganzen Tag machen Sie dem jeweils zuständigen Minister Vorwürfe. Ich wäre gespannt darauf, wenn Sie einmal von diesem Pult aus sagen würden, was Sie anstelle der jeweiligen Minister tun wollen. Denn Sie kommen an der Wirklichkeit doch nicht vorbei.
Gehen Sie doch in eine beliebige chirurgische Klinik! In jedem dritten Bett ist jemand, der in hohem Alter erfreulicherweise eine Operation zur Wiederherstellung seiner Gesundheit erhält, die vor 30 Jahren gar nicht möglich war: Bypass, Hüfterneuerung und anderes. Aber das muß bezahlt werden, und das muß alles bezahlbar sein. Sie wissen auch ganz genau, daß das so ist. Darüber braucht man gar nicht zu reden. Aber für den Wahlkampf wird eben alles negativ dargestellt, und es wird alles kritisiert.
Deswegen darf im Wahlkampf auch kein Aufschwung dasein. Aber er ist doch da, meine Damen und Herren. Es nützt alles nichts. Jeder Mensch kann ihn erkennen.
({86})
Wir haben in diesem und im nächsten Jahr alle
Chancen - allen Turbulenzen zum Trotz -, ein Wirtschaftswachstum von 2,6 bis 2,8 Prozent, vielleicht 2,9 Prozent zu erreichen.
Herr Ministerpräsident Schröder, wir waren doch gestern bei derselben Veranstaltung. Wir haben endlich einmal einen Verband erlebt, der nicht mit der Klage anfing, was alles schlecht sei, sondern ganz ehrlich gesagt hat: Die Lage ist gut. Es sind nicht meine Zahlen, aus denen sich das ergibt; das sind die Zahlen der Automobilindustrie. Herr Schröder sitzt im Aufsichtsrat eines solchen Unternehmens, andere auch. Die IG Metall ist mit dieser Branche fest verbunden.
Wie also lauten die Zahlen? 1998 wird eine neue Höchstmarke bei Produktion, Export und Umsatz erreicht. 1998 werden in Deutschland erstmals über 370 000 Nutzfahrzeuge gebaut, 8 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Boom ist ein Spiegelbild der verbesserten Wirtschaftslage. Das rührt nicht nur vom Export her. Die Investitionsgüterindustrie in Deutschland springt an. Die Menschen fassen wieder Mut, auch beim Konsum. Die Pkw-Produktion - das betrifft auch das Saarland; Herr Ministerpräsident Lafontaine, daran sind Sie, steuerlich gesehen, ganz unmittelbar interessiert - überspringt die 5-MillionenGrenze. Die Automobilindustrie ist abgeschrieben worden - durch Sie; das zu erwähnen wurde vergessen, aber ich will es nachtragen. Aber wir sind den richtigen Weg gegangen und haben jetzt wieder fast 710 000 Leute, die in der Automobilindustrie beschäftigt sind. Allein seit 1996 wurden 47 Milliarden DM investiert. Dadurch sind 54 000 neue Arbeitsplätze entstanden. Meine Damen und Herren, in den neuen Ländern sind seit der Wiedervereinigung 20 Milliarden DM in dieser Branche investiert worden. Das bedeutet 100 000 Arbeitsplätze. So ist die Lage in Deutschland. Die Miesmacherei, die Sie dauernd vorbringen, ist ungerechtfertigt.
({87})
Herr Ministerpräsident Lafontaine, gestern haben Sie wieder die alte Masche geritten und die Daten vom 1. Januar 1983 mit denen vom heutigen Tag verglichen, was in hohem Maße intellektuell unanständig ist.
({88})
- Ja, das ist schon unanständig.
Die Zäsur von 1989/90 haben Sie einfach ausgeklammert. Und sehen Sie: Die Preise sind stabil. Es gibt keinen Preisanstieg. Die Inflationsrate liegt bei 0,7, 0,8 Prozent. 1982 lag sie bei 5,3 Prozent. Wir haben diesen Rückgang erreicht, obwohl wir viele ökonomische Herausforderungen angehen mußten und zum größten Teil gemeistert haben. Das ist ein super Ergebnis, was wir hier erreicht haben.
({89})
Es ist auch die beste Sozialpolitik. Als Antwort auf Ihre Rede von gestern, Herr Ministerpräsident Lafontaine: Sie haben mit Recht den Binnenkonsum angesprochen. Aber dann müssen Sie doch sagen, es ist phantastisch, was wir hier machen. 1 Prozent weBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
niger Inflation bedeutet rund 20 Milliarden DM mehr Kaufkraft. Zu Beginn meiner Amtszeit lag die Inflationsrate bei 5 Prozent. Jetzt rechnen Sie das Ganze doch einmal zusammen. Sie können mit keiner Steuerreform der Welt erreichen, was wir hier mit sicheren Preisen und einer stabilen Währung geschafft haben.
({90})
Meine Damen und Herren, wie lauteten die Vorwürfe, ein Jahr zurückgeblendet: Das, was ihr da macht, wird alles Geld aus dem Land hinaustreiben; die Turbulenzen werden euch umwerfen. Und jetzt? Schauen Sie sich die Märkte doch an. Die können wir nicht bestimmen. Die Anleger tun das, was sie wollen. Und sie gehen nach Deutschland. Wenn wir im Augenblick einen stärkeren Zustrom von internationalem Kapital nach Deutschland haben, dann ist das doch eine phantastische Sache, womit kein Mensch zu Beginn des Jahres rechnen konnte.
Wir sind auch beim Arbeitsmarkt auf dem richtigen Weg. Im Januar hieß es: Es wird 5 Millionen Arbeitslose geben. Sie hatten daran schon Ihre Freude. Mindestens einmal im Monat kam eine Dame im Fernsehen - frisch gestylt -, deren Abneigung wir beide tragen müssen, Herr Ministerpräsident; wir haben auch viel Gemeinsames.
({91})
- Das kann ich jetzt nicht untersuchen; da sind Sie weitsichtiger als ich. - Diese Dame hat uns immer gesagt: Es wird 5 Millionen Arbeitslose geben. Und dann ist diese Prognose zusammengebrochen. Was haben wir jetzt? - Knapp über 4 Millionen. Wir haben eine deutliche Trendwende, auch im Vergleich zum vergangenen Jahr. Die 4 Millionen Arbeitslosen sind viel zuviel. Im nächsten Monat werden es unter 4 Millionen sein. Im Jahresschnitt wird die Zahl aber über 4 Millionen liegen. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist, daß wir über 1,5 Millionen freie Stellen haben und dringend Leute gesucht werden. Deswegen ist es doch so wichtig, daß jetzt keine Ausbildungsabgabe eingeführt wird und daß wir vielleicht nach der Wahl - jetzt ist es unmöglich - zu einem vernünftigen Gespräch zusammenkommen: Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft.
({92})
- Jetzt hören Sie doch erst einmal zu, was ich vorschlage. Sehen Sie, es ist beinahe wie bei dem Pawlowschen Hundeversuch. Sie brauchen mich nur anzuschauen, dann sind Sie dagegen.
({93})
Sie wissen, der Pawlowsche Hundeversuch hat etwas mit Tiefenpsychologie zu tun. Hier aber haben wir es mit Politik zu tun.
Deswegen will ich Ihnen noch einmal sagen - es muß doch eigentlich möglich sein, das in dieser Runde auszusprechen -: Wir erleben jetzt - Jürgen Rüttgers weist immer wieder darauf hin - auch bei der Ausbildung, die erfreulich gut läuft - ich habe Grund, vielen zu danken -, daß wir immer mehr an der Entwicklung vorbei ausbilden. Es findet keine ausreichende Konzentration auf neue, wichtige Berufsfelder statt. Da müssen die Länder, der Bund, die Wirtschaft und, ich denke, auch die Gewerkschaften an einen Tisch und überlegen, was wir machen können, ohne eine Lenkung vorzunehmen, damit sich diese Dinge richtig entwickeln.
Also, ich bin ganz sicher, wir werden auch ohne Ausbildungsabgabe - und die wird nicht kommen, weil Sie nicht kommen - das Ganze vernünftig verwirklichen können.
({94})
Wir wollen soziale Marktwirtschaft, damit das noch einmal klar ausgesprochen ist. Wir sind überzeugte Anhänger Ludwig Erhards. Ludwig Erhard wäre entschieden dagegen, wenn man den Begriff „sozial" aus dieser besten Gesellschaftsform der modernen Geschichte herausstreichen würde. Wir brauchen einen breiten Handlungsspielraum, den die Politik vorzugeben hat, damit man in der Wirtschaft wirtschaften kann.
Aber wir wünschen keine Wirtschaftsentwicklung, in der die Verantwortlichen in den Unternehmen ausschließlich - so wichtig das auch ist - den Kurs ihrer Aktien betrachten und alles, was damit zusammenhängt, wichtig nehmen, dabei aber die Menschen im Betrieb aus den Augen verlieren. Das ist keine soziale Marktwirtschaft. Für uns gehören auch die Menschen dazu.
({95})
Wir brauchen Freiheit, Eigenverantwortung und Freiräume für Privatinitiative. Damit ist man automatisch bei der Steuerreform. Da muß ich nun sagen: Gestern habe ich dazu Erstaunliches gehört. Die Kollegin aus der ersten Bank hat sich sehr erregt und alle möglichen Leute aus dem Vermittlungsausschuß angegriffen. Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, Frau Kollegin, was Herr Schröder im Februar 1997 dazu wörtlich gesagt hat:
Jeder, der jetzt so tut, als würden die ganzen Auseinandersetzungen
- es geht hier um die Steuerreform nur um der Sache willen stattfinden, ist entweder ein Trottel oder ein Zyniker. Es geht jetzt nicht um die Sphäre der reinen Lehre, sondern um die massive Auseinandersetzung in der Frage, wer Deutschland nach 1998 regieren wird.
({96})
- Das ist ein Interview von Ihnen. Mehr sagen wir
doch gar nicht. Wir haben Sie gar nicht beschuldigt, Sie seien Zyniker. Das mache ich überhaupt
nicht. Das kommt mir bei Ihnen sowieso nicht in den Sinn.
Wir glauben auch nicht, daß hier irgend jemand ein Trottel ist. Aber eines glauben wir: daß Sie ganz bewußt und ohne Wenn und Aber Ihre ganzen Kollegen - Herr Beck sitzt dabei; Anfang 1999 muß Ihr Kollege in Hessen in die Landtagswahl gehen - festgezurrt und gesagt haben: Ihr müßt jetzt mitmachen; dieses Mal müssen wir drankommen; noch einmal vier Jahre Opposition ertragen wir nicht. Deswegen haben Sie blockiert. Das ist der einzige Grund. Alles andere können Sie vergessen.
({97})
Herr Ministerpräsident Lafontaine, lassen Sie mich das feststellen: Sie können noch so viel drohen und sagen: Wenn wir nicht dran kommen, gibt es keine Steuerreform. Ihre Kollegen werden Ihnen von der Fahne gehen. Sie riechen das Geld.
({98})
Das macht sinnlich. Sie haben es auch schwerer. Sie können nicht zu Theo Waigel gehen und sagen: Du mußt mir alles bezahlen. Selbst Herr Beck bekommt noch etwas. Aber er hat mehr, weil er Vorgänger hatte, die etwas geschafft haben. Herr Scharping, das meinen Sie doch auch, oder?
({99})
Wenn das so ist, wird er abspringen und mit ihm alle anderen. Ich bin mir sicher, Herr hessischer Ministerpräsident, daß Sie abspringen werden, weil Sie Vernunft haben. Leider Gottes ist der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen nicht mehr da. Oder habe ich ihn übersehen?
({100})
- Nein, er ist nicht abgesprungen. Auch er hat seine Probleme. Aber die haben wir alle.
Ich komme zu etwas anderem. Ich habe seine Regierungserklärung gelesen. Das war die erste Regierungserklärung, die ich gelesen habe, die so klang, als hätte es vorher gar nichts gegeben. - Johannes Rau ist schon völlig vergessen, aber das ist eine andere Sache. - Für all diese Dinge braucht er doch Geld. Glauben Sie im Ernst, daß er die Blockade mitmacht, wo er doch einen Finanzminister hat, der zu den klügsten Leuten in der Branche gehört und der schon das letzte Mal bereit war abzuschließen?
Wir werden nach der Wahl - der jetzige Bundeskanzler wird auch nach der Wahl der neue Bundeskanzler sein - die Vorlage sofort einbringen. Wir werden natürlich miteinander reden. Wir haben nicht allein die Macht. Die ist in der Bundesrepublik zwischen beiden Kammern geteilt. Wir werden Kompromisse schließen; aber es werden keine faulen Kompromisse sein. Sie werden sehen: Am Ende gibt es - Theo Waigel hat dazu gestern gute Vorschläge gemacht - eine Entscheidung.
({101})
Nicht anders ist es doch in der Sozialpolitik. Sie können es drehen, wie Sie wollen. Kein Mensch in Deutschland schafft die soziale Ordnung ab oder kippt den Sozialstaat. Das ist doch alles dummes Zeug. Wir zahlen in Deutschland jährlich 12500 DM pro Kopf an Sozialleistungen. In Großbritannien sind es 7 500 DM, in Frankreich 11 500 DM und in Italien 6 700 DM: Das ist der zusammengebrochene deutsche Sozialstaat! Wir geben jede dritte Mark für Sozialleistungen aus. Aber die Frage ist doch berechtigt, ob wirklich jede Mark, die wir ausgeben, auch dort hinkommt, wo sie hin soll, oder ob sich nicht auch Trittbrettfahrer in den Besitz des Geldes bringen.
({102})
Diese Koalition denkt nicht im Traum daran, den Sozialstaat abzuschaffen. Wir waren, zum Teil mit Ihnen gemeinsam, an allen großen Programmen beteiligt: an der großen Rentenreform, der Montanmitbestimmung, am Betriebsverfassungsgesetz, an Familienleistungen - Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung -, an der Pflegeversicherung bis hin zur Vermögensbildung. Wir bleiben ein Sozialstaat Deutschland. Aber wir können das Geld nur einmal ausgeben, das wir vorher erarbeitet haben. Das heißt, die Programme müssen finanzierbar sein. Mit einem Wort: Gehen Sie davon aus, daß, was immer Sie jetzt sagen, die Republik auf diesem Weg bleiben wird.
Sie haben, Herr Ministerpräsident, gestern in Ihrer Rede auf der Automobilmesse etwas sehr Kluges getan, indem Sie - was ich voll unterstütze - den wichtigen Bereich Bildung und Innovation angesprochen haben. Aber, meine Damen und Herren und Herr Ministerpräsident, das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage der Motivation und der Grundlagen. Hochqualifizierte Arbeitnehmer, Spitzenforschung, modernste Produkte, dynamische Innovation - wissen Sie, was das übersetzt heißt? - Daß ein Land Leistungseliten braucht. Wenn davon die Rede ist, führt das bei Ihnen zu einem Sturm der Entrüstung. Bei Eliten haben Sie immer eine Vorstellung aus uralten Zeiten. Aber jede Demokratie braucht Leistungseliten, wenn sie überhaupt eine Zukunft haben will.
({103})
Jetzt schauen Sie sich doch einmal die Schulpläne Ihres Partners, der Grünen, an, wie es danach in Zukunft in den Schulen aussehen wird. Da kann man wirklich nur sagen: Schule macht Freude, weil zum Beispiel die Beurteilungen wegfallen sollen. Schauen Sie sich einmal an, was sie in diesem Zusammenhang im Hinblick auf den Wettbewerb tun wollen. Sie wollen die besten Hochschulen und Schulen in Europa. Aber warum haben Sie dann gegen das neue Hochschulrahmengesetz gestimmt?
Leider ging das heute früh, Herr Ministerpräsident, im Lärm unter, als der Herr Kollege Glos ein paar Tatsachen genannt hat. Es war nicht vor ewiger Zeit, daß Ihr denkbarer Nachfolger, Herr Glogowski Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
aber er wird ja Innenminister bleiben - gesagt hat - wörtliches Zitat -:
Zieht ein bayrisches Kind hierher, - gemeint ist Niedersachsen muß es sich erst einmal zwei Jahre hängenlassen, damit es das niedrige niedersächsische Niveau erreicht.
({104})
Ich habe daran nun wirklich keine Freude; denn es ist eine Unverschämtheit, den Eltern und den Kindern in Niedersachsen etwas zuzumuten, was überhaupt nicht diskutabel ist. Es ist die Aufgabe des Staates, Schutz und Schirm für Familien mit Kindern zu bieten. Es ist die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, daß das Recht zur Erziehung der Kinder vor Gott und den Menschen zuerst bei den Eltern liegt, und es ist die Aufgabe des Staates, den Eltern und den Kindern bei einer bestmöglichen Wegbereitung für die Zukunft zu helfen. Das geht natürlich nicht ohne Leistung. Wer da nur von den Rechten und nicht mehr von den Pflichten redet, führt die Kinder auf einen Irrweg.
Dem Minister sollten Sie einmal sagen - ich weiß nicht, ob er etwas von der Polizei versteht; da habe ich nach den Chaostagen meine eigene Meinung -, daß er doch wenigstens zu dem Punkt schweigen soll. Das ist eine wirkliche Beleidigung für die Eltern und auch für die Kinder in Niedersachsen; denn sie haben genauso Anspruch auf eine erstklassige Ausbildung wie alle anderen.
({105})
Zu vielen Themen der Innenpolitik ist schon gesprochen worden. Ich will nur eines sagen: Ich finde es sehr erstaunlich, mit welcher Keßheit Sie jetzt Thesen zur Innenpolitik verkünden, die gar nicht zu Ihrer Politik passen, weder in Niedersachsen noch sonstwo. Wenn ich mir vorstelle, wer dazu ausersehen ist, das Amt des Innenministers wahrzunehmen, habe ich ein bleibendes Bild von Solidarität in Deutschland vor Augen: Am Abend der ersten freien Wahl in der DDR erschien dieser Zeitgenosse, hielt eine Banane hoch und sagte: Die Menschen sind eingekauft worden - er, der vermutlich gerade aus der Toskana kam und deswegen wußte, wie man leben kann. Ich finde es ziemlich schäbig, in dieser Art und Weise mit Menschen umzugehen.
({106})
Wir stehen zwei Jahre vor dem Ende des Jahrhunderts und an der Schwelle eines neuen Jahrtausends. Wir Deutsche haben allen Grund, vor der Geschichte all denen zu danken, die uns geholfen haben und in eine Lage gebracht haben, die es uns ermöglicht hat, mit einer guten Perspektive in die Zukunft zu gehen. Deutschland braucht jetzt eine beständige und klare Politik. Alle Experimente bringen nur Gefahren. Vor zwei Tagen haben wir den 50. Jahrestag des Zusammentritts des Parlamentarischen Rates begangen. Das Werk, das damals von großartigen Männern und Frauen begonnen wurde, hat einen guten Weg genommen. Es kommt jetzt darauf an, diesen Weg weiterzugehen. Deswegen lassen Sie uns in den nächsten Wochen streiten - auf Straßen und Plätzen, im Fernsehen und überall - und sagen, für welche Politik wir stehen. Auf Straßen und Plätzen treffe ich Sie ja nicht, da bin ich ziemlich allein.
({107})
- Das ist wohl wahr. Das wissen Sie sehr genau, und es ärgert Sie auch. - Wir wollen den Menschen sagen: Zukunft gibt es nicht zum Nulltarif. Wir haben die Chance, uns auf unsere Kraft zu besinnen und uns, wenn es notwendig ist, Anstrengungen abzuverlangen.
Wir müssen dabei verläßlich bleiben und dürfen nicht unberechenbar werden. Wir müssen sehen, daß jetzt nicht Risiko, sondern Sicherheit nötig ist. Ich bin ganz sicher, daß wir eine gute Chance haben, dies den Menschen in den nächsten Wochen klarzumachen. Lassen Sie uns jetzt nicht darüber streiten, wer die bessere Chance hat. Warten wir es bis zum Wahlabend ab! Ich bin mir ziemlich sicher, daß wir uns dann in diesem Saal wiederfinden werden. Herr Scharping, Sie werden wieder die Opposition führen. Das ist eine gute Ordnung, die sich da anbahnt.
({108})
Es spricht jetzt der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder.
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine lange Rede gehalten.
({2})
Es war eine Rede über die Vergangenheit. Jeder, der Ihnen zugehört hat, wird gespürt haben, daß Sie mit der Gegenwart Schwierigkeiten haben.
({3})
Wer mit der Gegenwart und mit den Realitäten Schwierigkeiten hat, wie Sie es hier deutlich gemacht haben, der hat sie natürlich erst recht mit der Zukunft. Sie sind nicht zukunftsfähig.
({4})
Niemand in diesem Haus - und ich erst recht nicht - bestreitet Ihnen Ihre Verdienste um die Herstellung der staatlichen Einheit.
({5})
Aber während Sie das gemacht haben und während
Sie sich darum verdient gemacht haben, hat Ihre
Politik dafür gesorgt, daß dieses Volk, daß die DeutMinisterpräsident Gerhard Schröder ({6})
schen sozial gespaltet worden sind. Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe.
({7})
Es hat gestern in der Debatte schon eine Rolle gespielt - ich zitiere noch einmal, Herr Bundeskanzler -:
Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen ...
Diese Koalition der Mitte wird unser Land aus der Krise führen.
Das, Herr Bundeskanzler, haben Sie am 13. Oktober 1982 gesagt, und zwar vor einem ganz bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund. Erinnern wir uns: Im Herbst 1982 gab es in Deutschland 1,8 Millionen Arbeitslose. Im Herbst 1998- das ist Gegenwart und nicht Vergangenheit - gibt es 4,1 Millionen Arbeitslose. Sie, Herr Dr. Kohl, haben seinerzeit den Bundeskanzler Helmut Schmidt als Kanzler der Arbeitslosigkeit gescholten. Ich stelle fest: Sie sind der Kanzler der Arbeitslosigkeit. Ihre Regierung hat das bewirkt.
({8})
Sie haben seinerzeit von einer geistig-moralischen Wende gesprochen, vor der Deutschland in der Zeit Ihrer Regierung stehe, und haben das insbesondere auf die Lebenssituation der jungen Menschen in Deutschland bezogen. Aber während Ihrer Regierungszeit ist die Ausbildungsnot immer größer geworden, und Sie haben wenig getan, um diesen jungen Menschen eine Perspektive zu geben.
({9})
Statt geistig-moralischer Orientierung hat die verzweifelte Situation vieler junger Leute dafür gesorgt, daß sie anfällig geworden sind für Drogenkonsum und ähnliches, daß sie wieder einmal anfällig geworden sind für den rechten Sumpf. Dies, verehrter Herr Bundeskanzler, ist die Folge einer Politik, die die materiellen Lebensinteressen der Jugendlichen nicht in den Mittelpunkt der deutschen Politik gestellt hat.
({10})
Sie haben sich gerühmt, Ihre Politik werde die Lage der Arbeitnehmerfamilien in Deutschland verbessern. Was aber ist die Wahrheit? Der Bund der Steuerzahler, der wahrlich nicht im Geruch steht, eine Vorfeldorganisation der deutschen Sozialdemokratie zu sein, hat die Gesamtbelastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Steuern und Abgaben berechnet: 1980 trug der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer eine Gesamtbelastung von 38,6 Prozent. Im Jahre 1997 war die Abgabenbelastung auf 45,5 Prozent angestiegen. Das bedeutet: In Ihrer Regierungszeit, Herr Dr. Kohl, bleiben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von jeder verdienten Mark kaum mehr als 50 Pfennig. Dies muß sich aus sozialen und ökonomischen Gründen ändern.
({11})
Wo wir gerade bei der Bildung von Eliten sind - ich werde noch einmal darauf zurückkommen -: Die Belastung dieser Menschen läßt in den Hintergrund treten, daß die wirkliche Kraft dieser Volkswirtschaft nicht von den Eliten kommt, die Sie offenbar im Auge haben. Nein, die wirkliche Kraft dieser Volkswirtschaft und die wirklichen Leistungsträger dieser Nation sind diejenigen, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Werte in diesem Land schaffen und die in der Zeit Ihrer Regierung bis weit über die Fahnenstange hinaus belastet worden sind.
({12})
Sie haben sich über die Sanierung der Staatsfinanzen verbreitet. In den letzten 16 Jahren - das ist die Realität - ist die Staatsverschuldung um weit über 1 Billion DM auf das Rekordniveau von 1,5 Billionen DM angewachsen. Dazu, meine Damen und Herren, hat der Bundeskanzler heute nichts gesagt. Er hat auch nichts dazu gesagt, wie er diese Schulden reduzieren will. Er ist in Belanglosigkeiten oder in die Diskussion internationaler Angelegenheiten ausgewichen. Der Vorwurf, Herr Dr. Kohl, den man Ihnen machen muß, ist, daß Sie die Lebenswirklichkeit der durchschnittlich verdienenden Menschen in Deutschland entweder nicht mehr kennen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Beides ergibt eine falsche Politik.
({13})
Um auf die Situation in Ostdeutschland einzugehen: Sie sind in der Tat, wie Sie es nennen, über die Straßen und Plätze gezogen und haben den Menschen Versprechungen gemacht. Von blühenden Landschaften und von ähnlichem mehr war die Rede. Wie sieht denn Ihre Bilanz hinsichtlich des Aufbaus Ost wirklich aus, meine sehr verehrten Damen und Herren? Die Zahl der Arbeitslosen betrug in den neuen Ländern 1994 1,1 Millionen und beträgt 1998 1,5 Millionen. Das ist die Wirklichkeit in den neuen Ländern, die Sie entweder verdrängen oder schon gar nicht mehr wahrnehmen wollen. Das ist das Gefährliche an der Politik, für die Sie stehen.
Die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland ist im Gegensatz zu Ihren Behauptungen nicht besser geworden. Der Anpassungsprozeß in der Wirtschaft Ostdeutschlands hat seit 1997 einen Rückschlag erlitten. 1997 blieb das Wachstum im Osten um 0,6 Prozent hinter dem im Westen zurück. Auch im Jahre 1998 wird es nach allen Prognosen nicht anders sein.
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({14})
Die Ursachen dafür haben etwas mit Ihrer verfehlten Politik zu tun. Was man in den neuen Ländern braucht, sind eben nicht Investitionen in Bürotürme, die niemand brauchen kann und die zu Einnahmeverlusten führen, und sind eben nicht Investitionen in Luxuswohnungen, die niemand bezahlen kann. Was man vielmehr braucht, ist eine vernünftige Eigenkapitalausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen. Dafür haben Sie in der letzten Zeit nicht gesorgt.
({15})
Was man braucht, ist der Aufbau und der Ausbau einer Forschungslandschaft. Nur mit ihr ist man in der Lage, durch den Transfer von Erkenntnissen dafür zu sorgen, daß die mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland, die auch dort das Rückgrat der Wirtschaft bilden, Anschluß an zukünftig zu entwickelnde Produkte und Verfahren finden können.
Wenn Sie sich den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern anschauen, dann werden Sie feststellen, daß die Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ständig zurückgegangen sind. Ich nenne die entsprechenden Zahlen. 1992: 41 Milliarden DM, 1993: 42,3 Milliarden DM, 1994: 34,7 Milliarden DM, 1995: 29,8 Milliarden DM, 1996: 25,2 Milliarden DM, 1997: 18,5 Milliarden DM. Aber, meine Damen und Herren, 1998 betrugen die Ausgaben 20,2 Milliarden DM.
({16})
Warum wohl? Dafür gibt es doch nur einen einzigen Grund: Sie haben Angst davor, daß die Ergebnisse Ihrer Politik im Osten wahrgenommen werden. Sie versuchen jetzt hastig, mit neuen Mitteln Trostpflästerchen zu verteilen.
({17})
Dies reicht aber nicht. Was man braucht, ist eine Verstetigung der Mittel für den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern. Dafür wird eine neue Regierung sorgen.
({18})
Die Bewertung der Bilanz die Sie vorzulegen haben, gebe ich Ihnen in Form eines Zitates. Im Stenographischen Bericht des Deutschen Bundestages heißt es:
Ihre Regierungszeit ist die Regierungszeit der Schulden und der Arbeitslosen.
Es heißt weiter:
Eine schwache Regierung, die nur noch ein Ziel hat, nämlich in den Sesseln zu bleiben, deprimiert das Land.
Und weiter:
Sie haben das Vertrauen der Mehrheit der Deutschen nicht nur enttäuscht; Sie haben es verloren.
Dies alles sind Zitate von Dr. Kohl aus der Bundestagsdebatte vom 5. Februar 1982. Die damaligen Angriffe des heutigen Bundeskanzlers auf Helmut Schmidt fallen auf ihn zurück. Auch so kann man mit der Vergangenheit umgehen.
({19})
Ich fand es im übrigen angemessen - und kritisiere das kein bißchen -, daß Sie sich mit der Situation in Rußland und in Südostasien beschäftigt haben. Zutreffend fand ich auch die Bemerkung: Niemand kann ein Patentrezept vorweisen, mit dem man von außen die russische Krise zu lösen imstande wäre. Nur, was sollen Äußerungen wie die, man wolle jetzt Dampf in den Wahlkampf bringen, weil man „die russische Krise spielen" könne, wie der Generalsekretär Ihrer eigenen Partei - doch nicht irgend jemand! - das formuliert hat.
({20})
Wer versucht, auf diese Weise Wahlkampf zu machen, der handelt verantwortungslos. Wer es mir nicht glaubt, soll es wenigstens Ihnen glauben. Sagen Sie es doch Ihrem Generalsekretär, der das verbockt hat.
({21})
Übrigens lohnt es durchaus, sich mit den Ursachen der russischen Krise ein wenig auseinanderzusetzen. Man könnte daraus ja etwas lernen. Es gibt unzweifelhaft viele Ursachen für diese Krise. Aber die eine halte ich für zentral. In der Ära Ihres Saunafreundes Jelzin
({22})
hat es eine ganz bestimmte Entwicklung in Rußland gegeben. Diese Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, daß in unvorstellbar kurzer Zeit märchenhafter Reichtum in den Händen einiger weniger - übrigens, nicht wenige von ihnen sitzen in der Regierung selbst - gelandet ist. Das Geld wird aus dem Land gezogen und dann - das können Sie lesen - an der Côte d'Azur verpraßt, während die arbeitenden Menschen in Rußland auf ihren Lohn warten müssen und die Rentnerinnen und Rentner an der Hungergrenze - und manchmal darunter - vor sich hinvegetieren.
({23})
Was man daraus lernen kann, ist das Folgende: Eine Gesellschaft, die eine solche Entwicklung zuläßt, die nicht darauf achtet, daß die ihre Strukturen wenigstens noch ein wenig mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben, ist nicht nur unsozial; nein, sie geht über kurz oder lang auch ökonomisch vor die Hunde. Das ist die Lehre, die wir aus der Krise in Rußland zu ziehen haben.
({24})
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({25})
Diese Lehre haben wir übrigens auch selbst zu beherzigen: Im Verbund mit ökonomischer Modernisierung ist sozialer Ausgleich keine Draufgabe auf eine funktionierende Ökonomie, sondern Bedingung dafür, daß Ökonomie auch in Zukunft funktionieren kann.
({26})
Ich fand es völlig in Ordnung, daß Sie über den Prozeß der europäischen Einigung geredet haben. Ihre besonderen Verdienste in diesem Bereich will ich überhaupt nicht schmälern. Warum sollte ich das tun? Aber es ist schon interessant, wie Sie über die Perspektive Europas reden; es ist interessant, daß Sie über den Bau des Hauses Europa reden, ohne auf die ökonomische Fundierung einzugehen. Was Sie gesagt haben, war alles nicht falsch. Aber jetzt geht es darum, die notwendigen Entscheidungen für die politische Union nachzuliefern, damit die gemeinsame Währung auf Dauer ein Erfolg wird. Was Sie bislang darüber geredet haben, reicht nicht.
Sie sagen zum Beispiel kein Wort übe r die Notwendigkeit und die Anstrengungen, die Sie unternehmen wollen, um in Europa eine Harmonisierung der Unternehmensteuern zu erreichen, damit diese unselige Standortkonkurrenz innerhalb eines gemeinsamen Marktes zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufhört.
({27})
Kein Wort haben wir darüber gehört, daß in diesem gemeinsamen Markt, wenn es nicht erhebliche ökonomische Verwerfungen geben soll oder wenn gewaltige Transfers von den reichen Ländern in die ärmeren Länder zu leisten sind, zumindest soziale Mindeststandards vereinbart werden müssen, damit Sozialdumping nicht an der Tagesordnung ist.
({28})
Kein Wort haben wir von diesem Bundeskanzler gehört zu der Frage, was diese Bundesregierung beitragen will, damit das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" durchgesetzt werden kann.
({29})
In Berlin wird gebaut. Das ist gut so; das ist auch notwendig. Aber in Berlin kann man studieren, was passiert, wenn man es verabsäumt, sich in einem gemeinsamen Markt um die sozialen Fragen zu kümmern. Dieser gemeinsame Markt, dieses Europa, ist eben nicht nur ein Ort ökonomischen Austauschs, sondern ebenso ein Ort der sozialen und kulturellen
Kommunikation. Diese Dimension kommt bei Ihnen nicht vor, meine Damen und Herren.
({30})
Es ist völlig richtig: Wir brauchen die Erweiterung. Ich finde völlig in Ordnung, wie Sie dies begründet haben, auch unter Rückgriff auf die deutsche Geschichte gerade gegenüber den Staaten, die früher im Ostblock zusammengepreßt waren. Dann aber will ich von denen, die die Beitrittsverhandlungen führen bzw. vorbereiten, hören, wie und in welchen Zeiträumen sie sich Freizügigkeit vorstellen, welche Übergangsfristen sie vereinbaren wollen. Dazu bleiben Sie jede Antwort schuldig. Das wird dazu führen, daß Sozial- und Lohndumping in Deutschland weitergehen. Das können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber nicht verkraften, meine Damen und Herren.
({31})
Über diese Fragen der Gegenwart haben Sie weder im Hinblick auf den nationalen noch im Hinblick auf den internationalen Maßstab ein einziges Wort verloren. Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich, was ich verstehen kann, in der Vergangenheit verloren. Das ist Ihr eigentliches Problem: Sie sind nicht in der Lage, die gewaltigen schöpferischen Kräfte, die es in Deutschland gibt, zu bündeln und in das nächste Jahrtausend zu führen.
({32})
Ihre Bilanz ist mäßig. Deswegen kann sich Deutschland vier weitere Jahre Kohl nicht leisten.
({33})
Im übrigen wird dies auch innerhalb Ihrer eigenen Partei so gesehen. Ich halte es für ganz falsch, wie die Diskussion, die Ihre Parteifreunde sich Ihnen gegenüber leisten, interpretiert wird. Es geht nicht nur darum, daß da einer Ihren Job haben will - wer auch immer. Es hat mit etwas ganz anderem zu tun, nämlich damit, daß die Frauen und Männer in Ihrer Fraktion und in Ihrer Partei eines ziemlich genau spüren: Mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, kann diese Wahl nicht mehr gewonnen werden.
({34})
Deswegen robben einige weg, und andere gehen aufrecht von der Fahne. In jedem Fall ist es so, daß, bezogen auf Sie, Herr Bundeskanzler, nur noch darüber nachgedacht wird, wie man Sie denn möglichst schmerzlos los wird.
({35})
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({36})
Das ist die Solidarität, die Sie wirklich zu erwarten haben, auch wenn Beifall „verordnet" wird.
({37})
In dem ganzen Vorgang liegt, jedenfalls nach meiner Wahrnehmung, auch eine gewisse Tragik.
({38})
Sie liegt darin, daß wir Sozialdemokraten am Anfang unserer Kampagne gesagt haben: „Danke, Helmut, es reicht." Ihre Leute haben schon das Danke vergessen.
({39})
Ich will Ihnen deswegen einige Punkte nennen, die wir nach vorne bringen werden. Kein Zweifel, dieses Land, diese Volkswirtschaft, muß auf Innovationen setzen und muß die Fähigkeit, Innovationen schneller in Produkte und Verfahren umzusetzen, besser als in der Vergangenheit entwickeln.
({40})
Ich könnte mich, verehrter Herr Dr. Kohl, auf Sie berufen. Sie haben sich gestern nahezu enthusiastisch auf einen Prozeß berufen - ihn habe ich beschrieben -, der in dem Land, aus dem ich komme und das 20 Prozent der Anteile an Volkswagen hält, ablief. Hier kann man studieren, wie man mit Unterstützung des Großaktionärs, im übrigen auch mit Unterstützung der Landesregierung,
({41})
Innovationen sehr viel schneller als in der Vergangenheit in neue Produkte umsetzt und damit weltweit erfolgreich ist.
({42})
Nur soviel zu Niedersachsen.
Der Bundeskanzler redet gerne darüber, daß er, wie er es nennt, über die Straßen und Plätze zieht. Seit 1983 habe ich den Herrn Bundeskanzler auf den Straßen und Plätzen in Niedersachsen gelegentlich getroffen. 1986 hatte die Union in Niedersachsen 50 Prozent, und die SPD hatte 36 Prozent. Nachdem wir viele Male gemeinsam über die Straßen und Plätze des Landes gezogen sind,
({43})
stelle ich ganz ohne Eifer fest, daß wir jetzt 48 Prozent und Sie 35 Prozent haben. Das kann so weitergehen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/Die Grünen und der PDS -
Nennen Sie doch einmal die Bundestagswahlergebnisse! - Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Billiger geht es nicht!)
Lassen Sie uns also noch eine Weile über die Straßen und Plätze besonders in Niedersachsen ziehen, anderswo meinetwegen auch. Die Ergebnisse, die wir erzielen, sprechen für sich.
({0})
Was Innovation angeht, ist mir ein Thema wichtig. Es gibt keine Auseinandersetzung darüber, daß man auf die neuen Technologien, auf die Informationstechnologie, auf die Biotechnologie, setzen muß. Das geschieht. Aber wie ist das denn bei den Diskussionen um die Energiepolitik? Energie ist sicherlich die Basis einer Volkswirtschaft, denn ohne vernünftige Energieversorgung funktioniert sie nicht, gegenwärtig nicht und auch nicht in Zukunft.
({1})
Alle Möglichkeiten, sich die Option zu schaffen - das wäre ökonomisch und ökologisch vernünftig -, ohne die Kernenergie auszukommen, deren Entsorgungsnotwendigkeiten selbst Ihrer Umweltministerin jeden Tag Probleme bereiten, haben Sie und niemand anders blockiert.
({2})
Von dem, was ich dazu gesagt habe, habe ich nichts zurückzunehmen. Bei der Frage der Zeiträume, in denen man sich die Option, ohne Kernenergie auszukommen, schaffen kann, gibt es auf unserer Seite des Hauses sicher große Unterschiede. Ich halte es nicht für möglich, in den nächsten fünf oder zehn Jahren auszusteigen. Das weiß hier jeder und soll auch jeder wissen.
({3})
Aber wer eine vernünftige, weil sichere Energieversorgung etablieren will, der muß sich wenigstens darum bemühen, diese Option zu schaffen. Ein Unfall irgendwo würde uns in unüberwindbare energiepolitische und auch ökonomische Schwierigkeiten bringen. Hier liegt der Grund, warum ich in der Tat dafür bin, auch in Zukunft auf die Verfeuerung fossiler Brennstoffe zu setzen, also Kohle und Braunkohle in Deutschland mit besseren Wirkungsgraden als Energie zu nutzen.
({4})
Hier liegt auch der Grund, warum ich der Auffassung bin, daß wir es uns angelegen lassen sein sollten, die gewaltigen ökonomischen Möglichkeiten, die in den Technologien der Energieeinsparung stecken, für uns zu nutzen. Hier liegt ferner der Grund, warum
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({5})
ich nicht das geringste dagegen habe, dafür zu sorgen, daß Wind- und Solarenergie besser als in der Vergangenheit genutzt werden, nicht zuletzt deswegen, weil das auch eine industriepolitische Komponente hat:
({6})
nicht so sehr, weil wir in Deutschland Solarzellen produzieren können, sondern vielmehr, weil die gesamten Produkte, die hinter den Brennstoffzellen stecken, hochinteressant, hoch wertschöpfend und deshalb sehr wichtig sein können.
({7})
Kein Wort des Bundeskanzlers zu der Aufgabe, Industriepolitik zu betreiben, indem man sich eine Möglichkeit eröffnet, eine ebenso umweltschonende wie preiswerte, aber doch auch ökonomisch vernünftige Alternative zur Kernenergie zu schaffen.
({8})
Dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, hier lange und in hohen Tönen über die Notwendigkeit von Ausbildung und Bildung geredet. Aber wie ist denn die Situation, seit Sie regieren?
({9})
Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben sind in Ihrer Regierungszeit kontinuierlich zurückgenommen worden; Forschung und Entwicklung sind zurückgegangen.
({10})
Kurz vor der Wahl kommen Sie mit einer Mogelpakkung, die Sie ein 550-Millionen-DM-Programm nennen, einer Mischung aus Ihnen abgetrotzten BAföG-Erhöhungen und anderem, und sehen sich nicht einmal in der Lage, die Schulden, die Sie bei den Ländern für deren Vorfinanzierung des Hochschulausbaus haben, in anständiger Weise zu bezahlen. Das ist Ihre Politik auf dem Sektor von Forschung und Entwicklung.
({11})
Aber ernster ist eine andere Entwicklung, die in Ihrer Regierungszeit eingetreten ist und die mich sehr persönlich betrifft. Nach den Ermittlungen des Deutschen Studentenwerkes hat sich die soziale Struktur bei den Studenten von 1982 bis 1997 stark verändert. Das Deutsche Studentenwerk schreibt: Gemessen am Einkommen und Bildungsabschluß der Eltern hat der Anteil von Studenten aus einkommensschwächeren Familien von 23 Prozent 1982 auf 14 Prozent 1995 abgenommen. Das ist ein interessanter Vorgang, der mich deshalb sehr persönlich betrifft, weil ich die Zeit noch kenne, in der Kinder aus Arbeiterfamilien nicht deshalb, weil sie dümmer als andere gewesen wären, nicht zu Deutschlands höheren und hohen Schulen gehen konnten, sondern deshalb, weil wir damals - so war es jedenfalls bei uns zu Hause: Mutter Kriegerwitwe mit fünf Kindern - Schulgeld bezahlen mußten, die Schulbücher nicht kostenlos waren und die Fahrt zur nächsten Stadt, in der das Gymnasium war, auch selbst finanziert werden mußte.
({12})
Das sind meine eigenen Erfahrungen, die Gott sei Dank heute wegen der Bildungspolitik der Sozialdemokraten niemand mehr machen muß, die übrigens häufig der Gleichmacherei geziehen worden sind.
({13})
Die Zahlen, die ich Ihnen eben aus der Erhebung des Studentenwerkes vorgelesen habe, weisen auf die gefährliche Entwicklung hin, daß es wieder einmal dazu kommen könnte, daß die Entscheidung, ob jemand zu Deutschlands höheren und hohen Schulen gehen kann oder nicht, nicht etwa von seiner Intelligenz abhängt. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Meine Partei und ich werden es nie zulassen, daß die Frage, ob jemand auf Grund von Bildung bessere Lebenschancen als jemand anderes erhält, von Mamas oder Papas Geldbeutel abhängt. Das soll nie wieder in Deutschland geschehen.
({14})
Das ist der Grund, warum wir Vorschläge zum BAföG gemacht haben. Das ist auch der Grund, warum wir das von Ihnen mit diesen Einschränkungen und mit diesem Aufbau sozialer Barrieren, die sich gegen Chancengleichheit richten, beschlossene Hochschulrahmengesetz nicht etwa blockiert - Unsinn zu vermeiden ist keine Blockade; vielmehr ist es vernünftig -, sondern abgelehnt haben.
({15})
Sie werden es erleben, wie wir die Möglichkeiten zur Veränderung, die hier gegeben sind, nutzen werden - aber ohne die soziale Diskriminierung der Kinder aus Arbeitnehmerfamilien. Darauf können Sie sich verlassen.
({16})
Ich habe überhaupt kein Problem mit dem Begriff der Elite.
({17})
Natürlich braucht auch eine Demokratie Eliten. Aber die Frage ist, wie sie gebildet werden und wie frei der Zugang zu den angeblichen oder tatsächlichen Eliten ist. Dazu sage ich: Elitebildung kann in einer Demokratie nur dann funktionieren, wenn Bildungsbarrieren, die den Zugang zu den Eliten versperren, beseitigt, und nicht neu aufgebaut werden, wie Sie das gemacht haben.
({18})
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({19})
Ein weiterer Punkt, um den es uns geht und über den in der letzten Zeit viel geredet worden ist, ist die Orientierung dieser Industriegesellschaft in Richtung auf eine Dienstleistungsgesellschaft. Kein Zweifel: Die Entwicklung moderner Gesellschaften bringt eine solche Orientierung mit sich. Das wird nicht anders zu machen sein. Aber es einfach laufen zu lassen und politisch nicht zu regeln, das wird sich als gefährlicher Irrtum erweisen.
Eine Tendenz, die darin besteht, daß die großen Handelsketten aus einem Vollerwerbsarbeitsverhältnis drei 620-DM-Jobs machen, ist sozial schädlich und ökonomisch unvernünftig.
({20})
Wenn es um die Entwicklung einer Dienstleistungsgesellschaft geht, dann besteht die Aufgabe darin, hier wirksame Mißbrauchskontrollen einzuführen und deutlich zu machen, daß diejenigen - vor allem Frauen -, die diese Jobs haben, eigene Ansprüche bei den Sozialversicherungsträgern erwerben müssen.
({21})
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung zu dem Modell machen, das hier unter dem Stichwort Kombilohn diskutiert worden ist. Der Bundeskanzler - Sie sehen, daß ich ihm gestern genau zugehört habe - hat vor den Vertretern der Automobilindustrie gesagt, daß er noch gar nicht so recht wisse, ob das der Weisheit letzter Schluß sei, was Blüm gerade vorgelegt habe.
({22})
- Nein, Herr Bundeskanzler, das ist ja aufgeschrieben worden. Sie können mir schon glauben. Sie haben es vielleicht vergessen; das will ich gerne einräumen. Aber das war schon so.
Sie haben dort deutlich gemacht, daß Sie auch nicht genau wüßten, ob dieses Modell das richtige sei. Aber wir wissen eines: Wenn man wirklich in diesem Bereich Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren will, dann macht es schon Sinn, sich an der Finanzierung der Lohnzusatzkosten zu beteiligen. Das ist der Grund, warum das Modell, das in unserer Fraktion entstanden ist, das ökonomisch vernünftigere ist, weil es weniger Mitnahmeeffekte ermöglicht. Deswegen werden wir es auch umsetzen.
({23})
Mir ist dabei gleichgültig, ob Sie das „Kombilohn" oder sonstwie nennen. Die Bezeichnung ist nicht wichtig; vielmehr kommt es auf den Inhalt an. Darüber sollte - wenn Sie dazu bereit sind - in der Tat noch einmal gesprochen werden.
In diesen Zusammenhang gehört auch ein anderer Punkt, wenn wir uns schon mit diesem Thema beschäftigen. Es geht um jene Jobs, die im Westen 620 DM und im Osten 520 DM bringen. Ich weiß, es gibt aus den Gewerkschaften und auch von dem einen oder anderen aus meiner Partei die Forderung: Schafft diese Jobs ab!
Ich bin dabei - auch aus eigener Erfahrung - zurückhaltender. Meine Mutter mußte früher als Putzfrau unter diesen Bedingungen arbeiten. Das habe ich noch nicht ganz vergessen. Ich bin ziemlich sicher, daß diese Jobs für viele ein zusätzliches Einkommen bedeuten, mit dem man vielleicht den Urlaub finanziert oder auf andere Weise zur Gestaltung des Lebensunterhaltes beiträgt.
Daher - da haben Sie mich falsch zitiert, wenn Sie es überhaupt richtig zitieren wollten - bin ich nicht für die Abschaffung dieser Jobs. Aber darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll ist, statt einer pauschalen Versteuerung dieser Jobs eine pauschale Versicherungspflicht einzuführen, ist doch wohl alle Mühen wert. Das sollten wir in Angriff nehmen.
({24})
Wenn Sie dann - wie es in Österreich der Fall ist - denjenigen, denen der Arbeitgeber - der dadurch nicht mehr belastet wird - diese 620-DM-Jobs versichert hat, die Möglichkeit geben, selbst etwas draufzulegen, wenn sie wollen und können, haben Sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie gewähren - wenn auch kleine - eigene Ansprüche, Sie begrenzen aber auch die Mißbräuchlichkeit solcher Arbeitsverhältnisse. Ich finde, so herum wird ein Schuh daraus. Das ist Orientierung auf Dienstleistungen, ohne das Prinzip sozialer Sicherheit über Bord zu werfen.
({25})
Wir haben ferner deutlich zu machen: Wie soll es mit der Steuerreform weitergehen? Darüber hat der Parteivorsitzende, hat Oskar Lafontaine gestern das Notwendige gesagt. Ich will hier zwei Dinge deutlich machen: Ich freue mich natürlich auch, daß Sie nun nach mehrjähriger Diskussion, dreieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl, Ihre nicht finanzierbaren Steuerreformpläne vergessen und auf das Modell der SPD einschwenken.
({26})
Das ist bemerkenswert.
Wenn man sich in allen Einzelheiten anschaut, was Theo gestern vorgetragen hat, landet man genau dabei: maximal 10 Milliarden DM Nettoentlastung, bei den Eingangssteuersätzen geringe Differenzen, beim Spitzensteuersatz - man höre und staune - kaum noch Differenzen. Das kann man nicht glauben, wenn man frühere Erklärungen kennt.
({27})
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({28})
Im übrigen denke ich: Es ist alles - wohl aus einem einzigen Grund - eine Kopie dessen, was wir vorgeschlagen haben. Meine Damen und Herren, Sie - ich meine damit die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen - müssen mitbekommen haben, wenn Sie über die Straßen und Plätze ziehen, daß die Menschen in Deutschland ganz genau spüren, daß all Ihre vergangenen Steuerpläne einen gewaltigen Mangel hatten: Sie waren mit einer gewaltigen Gerechtigkeitslücke bedacht. Das war ihr Mangel.
({29})
Sie sind nicht so verfahren, unten und oben etwas zu geben, sondern Sie haben insbesondere die Menschen, die jeden Tag in die Fabriken und Verwaltungen gehen und hart arbeiten, kontinuierlich belastet, um oben entlasten zu können. Das nenne ich Gerechtigkeitslücke. Das ist das Merkmal Ihrer Steuerpolitik. Weil Sie das in Ihren Wahlkreisen spüren, gehen Sie von dem ab, was am Petersberg noch so eine Art Offenbarung gewesen ist. Das ist der Grund - und nichts anderes.
({30})
Wir bleiben dabei: Für die Menschen, die ein durchschnittliches Einkommen mit nach Hause bringen, um sich und ihre Familien durchzubringen, wird es mit der Realisierung unserer Vorstellungen nach dem 27. September insgesamt gesehen eine Entlastung von 2 500 DM geben, eine Entlastung, die sicher in den Konsum fließen und auf diese Weise der Binnenkonjunktur aufhelfen wird. Denn wir leiden in der Tat noch immer darunter, daß die Binnenkonjunktur unterentwickelt ist. Da braucht es noch einen Schub. Dieser kann durch die Entlastung der arbeitenden Menschen mit bewerkstelligt werden. Das ist der erste Eckpunkt unserer Steuerpolitik.
({31})
Der zweite Eckpunkt unserer Steuerpolitik hat in der Tat etwas mit den kleinen und mittleren Unternehmen zu tun. Da ist keine Differenz in den Aussagen, Herr Gerhardt, wie Sie versucht haben, den Menschen, die uns zuhören und zuschauen, zu suggerieren, sondern das entspricht einander. Auf der einen Seite Entlastung der Durchschnittsverdiener und auf der anderen Seite bei den Unternehmensteuern Konzentration auf das, was man Mittelstand nennt - das ist eine vernünftige, die Wirtschaft in Deutschland stärkende und damit arbeitsplatzsichernde und arbeitsplatzschaffende Politik. Die wird in Deutschland nach dem 27. September üblich werden.
({32})
Der nächste Punkt. Modernität und Modernisierung von Wirtschaft hat mit flexiblerer Organisation der Arbeit zu tun; das ist gar keine Frage. Dann geht es um die Bedingungen, dann geht es zum Beispiel darum, ob man die friedenserhaltende Funktion der
Flächentarifverträge fortsetzen oder ob man sie durchlöchern will. Wir sind gemeinsam mit den Gewerkschaften für eine Politik, die den Flächentarif verteidigt, ihn aber so öffnet, daß unternehmensbezogene Notwendigkeiten realisiert werden können. Dafür gibt es viele Beispiele - im übrigen auch bei Volkswagen und Conti, über die wir gestern geredet haben.
({33})
Diese Politik werden wir mit den Freunden in den Gewerkschaften durchsetzen, weil es eine Notwendigkeit ist.
Flexibilisierung der Organisation der Arbeit, Hilfe seitens der Beschäftigten, wenn das Unternehmen in der Krise ist - das ist in den Betrieben und Unternehmen entgegen dem, was die Verbandsvertreter so von sich geben, längst Wirklichkeit.
({34})
Wir werden das Prinzip, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer Krise auf soziale Leistungen verzichten, um ein anderes Prinzip ergänzen. Wir werden nämlich dafür sorgen, daß, wenn die Krise überwunden ist, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anteil am neuen Erfolg des Unternehmens haben. Das ist Gerechtigkeit. Sie betreiben das Gegenteil.
({35})
Ich will mich auch mit dem beschäftigen, was Sie besonders kritisieren, nämlich mit dem, was wir für den Fall der Regierungsbildung vereinbart haben, um die Fehlentwicklungen, die Sie zu verantworten haben, zu korrigieren.
({36})
- Ich sage das sofort.
Übrigens: Wer darüber redet, der tut gut daran, sich einmal mit dem Reformbegriff auseinanderzusetzen, den Sie im Volk unterzubringen versuchen. Zu Zeiten Willy Brandts und Helmut Schmidts galt eine Reform als etwas, mit dem man die Lebenslage der arbeitenden Menschen verbesserte. Deshalb gab es Zustimmung für Reformkonzepte.
Heute hat sich das grundlegend geändert. Wenn einer der durchschnittlich verdienenden Menschen heute das Wort „Reform" nur hört, bekommt er schon einen Schrecken und denkt: Jetzt wollen Kohl und Blüm wieder an mein Portemonnaie - so verkommen ist der Reformbegriff in Ihrer Regierungszeit.
({37})
Das ist der Grund, warum ich nicht sehen kann, wieso in dem Versprechen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederherzustellen, die Rücknahme einer Reform liegen könnte. Was ist denn das für eine Reform?
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({38})
Übrigens: Kluge Unternehmensleitungen haben sich - 70 Prozent sind damit befaßt - mit ihren Betriebsräten längst auf 100 Prozent Lohnfortzahlung verständigt. Wie kann man nur der Auffassung sein, daß das, was für 70 Prozent eine Selbstverständlichkeit ist, für die restlichen 30 Prozent nicht gelten sollte? Das ist doch Spaltung des Volkes in einer solchen Frage und das Gegenteil von Zusammenführen.
({39})
Im übrigen hat dies auch etwas mit der Frage zu tun, wie man die Beschäftigten in den Betrieben zu mehr Arbeit, zu mehr Leistungen bringen zu können glaubt. Die eine Seite meint: Wenn wir nur gehörig Druck machen, wenn wir nur gehörig Angst entstehen lassen, dann funktioniert das schon. Dies, meine Damen und Herren, ist nicht unsere Vorstellung. Die Entwicklung einer Industriegesellschaft beruht auf immer mehr Produkten, die wissensbasiert sind. Wir brauchen immer mehr immer besser ausgebildete Menschen. Niemand sollte sich dem Irrtum hingeben, diese Menschen wären zu Leistungen zu bringen, indem man ihnen angst macht. Nein, man muß sie motivieren! Kluge Unternehmer haben das verstanden. Das ist der erste Punkt.
({40})
- Sie haben es nicht kapiert. Das weiß ich wohl.
Zweitens. Wie war das bei der Rente? Sie haben eine Rentenformel eingeführt, die ein Absenken der Rente von 70 auf 64 Prozent bedeuten wird. Wen trifft das vor allen Dingen? - Das trifft doch insbesondere jene zumeist älteren Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben,
({41})
die ihre Kinder durchgebracht haben und die vor allen Dingen die Lasten des Aufbaus im Westen getragen haben. Denen an die Rente zu gehen ist nicht nur sozial ungerecht, nein, es ist unanständig, was Sie da machen.
({42})
- Ich weiß, daß Sie sich darüber aufregen - weil Sie Druck bekommen, weil die Menschen das nicht mehr mitmachen, was Sie ihnen in den letzten 16 Jahren zugemutet haben.
({43})
Sie werden das am 27. September dieses Jahres merken.
({44})
Um das dritte zu nennen, was wir als Korrektur von Fehlentwicklungen angekündigt haben: Beschäftigen wir uns doch einmal mit dem Gesundheitssystem! Die Deutschen waren zu Recht stolz darauf, ein Gesundheitssystem zu haben, in dem eben nicht der Grundsatz gilt: Wenn du arm bist, mußt du früher dran glauben.
({45})
- Ich behaupte auch gar nicht, daß das jetzt schon gelten würde.
({46})
Aber es gibt Entwicklungen, die Sie eingeleitet haben, die ich für gefährlich halte.
({47}) Ich nenne Ihnen zwei.
Da gibt es die Maßnahme, chronisch Kranken, Menschen, die Schmerzen erleiden, die Lebensangst haben müssen, die besten Medikamente nur dann zu geben, wenn sie kräftig draufzahlen können. Viele können das nicht. Das ist doch nicht in Ordnung. Das kann man doch nicht machen!
({48})
Da gibt es, ebenfalls von Ihnen angeordnet, für diejenigen, die nach 1979 geboren sind, keine Bezahlung des Zahnersatzes durch die Krankenkassen mehr. Meine Damen und Herren, das ist doch eine Politik, die Sie nach dem Muster gemacht haben: Wenn wir dem Volk schon weniger zu beißen geben, wozu braucht es dann gesunde Zähne?
({49})
Wer diese Fehlentwicklungen zurücknimmt, der blockiert keine Reformen, der nimmt auch keine Reformen zurück, sondern der sorgt für ein gesellschaftliches Klima,
({50})
in dem Reformen, verstanden als die Verbesserung der Lebenslage der breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung, überhaupt erst wieder möglich werden. Dieses Klima haben Sie zerstört.
({51})
Ich will mich zum Schluß
({52})
mit dem befassen, was diese Koalition, was insbesondere der Bundeskanzler als Wahlkampfstrategie ausMinisterpräsident Gerhard Schröder ({53})
gegeben haben und was er hier heute, nur sehr notdürftig kaschiert, zum besten gegeben hat. Da geht es, so behauptet Ihr Generalsekretär - ({54})
- Ich bin der Auffassung, verehrter Herr Fischer, man sollte bei Herrn Hintze nicht immer vom „Pfarrer Hintze" reden. Das ist eine Beleidigung all der Pfarrer, die in Deutschland ihre Arbeit tun. Da müssen Sie ganz vorsichtig sein.
({55})
Ich wollte über das reden, meine sehr verehrten Damen und Herren, was die Wahlkampfstrategie sein soll.
({56})
Immer wieder hört man - ein bißchen ist das ja auch in dieser Debatte erkennbar gewesen -, Sie bereiten sich auf etwas vor, was Sie, Herr Bundeskanzler, Lagerwahlkampf nennen.
({57})
Das ist ein hochinteressanter Begriff, mit dem man sich ein wenig beschäftigen sollte. Wer einen Lagerwahlkampf führen will, Herr Bundeskanzler, der trennt ja wohl das Volk in die Guten auf der einen Seite - das sind natürlich, denke ich einmal, nach Ihrem Verständnis Ihre Wähler - und die Schlechten auf der anderen Seite.
Wer einen Lagerwahlkampf führen will, der versucht ganz bewußt, das Volk zu spalten,
({58})
um seine Macht abzusichern. Das ist das, was Sie versuchen.
({59})
Ich sage aber deutlich: Es ist nicht Aufgabe eines deutschen Bundeskanzlers, das Volk über einen Lagerwahlkampf zu spalten. Es ist Aufgabe eines deutschen Bundeskanzlers, es zusammenzuführen. Irgendwann hatten Sie das einmal begriffen. Aber inzwischen haben Sie es aufgegeben. Das ist Ihr Problem.
({60})
Wir werden in den nächsten dreieinhalb Wochen meinethalben auf den Straßen und Plätzen ins Gespräch kommen. Ich würde ja wirklich gerne einmal mit Ihnen die Lage der Nation vor den Kameras des deutschen Fernsehens diskutieren.
({61})
Ich würde es auch deshalb gerne machen, weil ich immer lesen muß, ich sei für Sie nicht zu greifen. Greifen Sie doch einmal. Warum denn nicht, meine Damen und Herren? Was meinen Sie, wie viele interessiert wären!
({62})
Kommen Sie aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit hervor. Widmen Sie sich den Aufgaben, die wir heute und in der Zukunft haben. Lassen Sie uns das alles ganz ruhig und ganz gelassen miteinander diskutieren. Dann können die Menschen in Deutschland entscheiden. Ich bin ganz sicher, sie werden sich entscheiden am 27. September, und zwar für diese, die linke Seite des Hauses.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({63})
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ministerpräsident Schröder, Kanzlerkandidat der SPD, hat im Schlußteil seiner Ausführungen, denen wir soeben aufmerksam gelauscht haben, davon gesprochen, daß ein Bundeskanzler in Deutschland eher zusammenführen müsse als spalten dürfe. Herr Ministerpräsident Schröder, Sie wollen Kanzler werden. Helmut Kohl ist es.
({0})
Wenn wir die beiden Reden, die wir von Helmut Kohl und Herrn Schröder soeben gehört haben, in der Erinnerung auf uns wirken lassen, dann merken wir, wer als Bundeskanzler Deutschland zusammenführt und wer spaltet und teilt.
({1})
In einem war die Rede von Herrn Schröder bemerkenswert. Es ist wieder klar - insofern hat die Debatte sogar etwas gebracht, auch Ihre Rede -: Die Alternativen sind eine Fortsetzung der von Helmut Kohl geführten Regierung, unserer Koalition, oder Rotgrün in Deutschland.
({2})
Alles, was Sie in den letzten Wochen und Monaten an Ablenkungsmanövern, Vertuschungsmanövern und Täuschungsmanövern inszeniert haben, ist durch Ihre demagogische Neidrede entlarvt worden.
({3})
Von neuer Mitte war nicht mehr viel zu spüren, aber von alter Linken war viel zu spüren:
({4})
Neid, Angst, Teilen, Spalten - und gar nichts von Zukunft. Ich dachte gestern, Herr Lafontaine müsse die Alternative spielen, weil Sie ja eine Doppelstrategie haben. Heute morgen war das bei Herrn Scharping noch einmal so. Bei Herrn Lafontaine hatte ich das Gefühl, er bewirbt sich um den Ehrenvorsitz in der PDS; so hat er gestern jedenfalls geredet.
({5})
Jetzt redet Herr Schröder in derselben Weise. Das zeigt: Es geht nicht um Zukunft, sondern es geht darum, ein Zerrbild von der Wirklichkeit zu zeigen und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Das wird Ihnen nicht gelingen.
({6})
Sie haben dem Bundeskanzler am Anfang Ihrer Rede vorgeworfen, daß er sich in seiner Rede auch mit den 16 Jahren seiner Regierungstätigkeit kurz bilanzierend befaßt hat. Anschließend haben Sie sich aber lange mit dieser Bilanz beschäftigt, wenn auch in einer verzerrenden Weise. Wenn der Bundeskanzler aber nichts zu den 16 Jahren gesagt hätte, in denen er - zum Glück für unser Land - die Verantwortung getragen hat, dann hätten Sie ihn ja auch kritisiert.
({7})
Ich spreche das nur noch einmal an, weil Sie das in einer Weise gesagt haben, daß man wirklich denken muß: Leben wir eigentlich, was unsere Wahrnehmung angeht, im selben Land? Wenn Sie 1982 mit 1998 vergleichen und in diesem Vergleich einfach unterschlagen, daß 1989/90 eine Zeitenwende in Deutschland, Europa und der Welt, mit Frieden und Einheit und der Wiedervereinigung in Deutschland, stattgefunden hat,
({8})
dann ist das ein Vergleich, der so absurd ist, wie er nur sein kann.
({9})
Deswegen muß man sich, wenn man bilanziert, die 80er und die 90er Jahre schon ein wenig anschauen.
In den 80er Jahren haben wir Preisstabilität, dauerhaftes Wachstum, 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze bis 1989, eine Rückführung der Staatsquote von knapp 52 Prozent in 1982 auf unter 46 Prozent in 1989 geschafft - eine ungeheure Erfolgsgeschichte der deutschen Politik und eine Voraussetzung dafür, daß wir die historische Herausforderung der deutschen Einheit und der Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus so gut bewältigen konnten. Das ist der erste Abschnitt in der Bilanz.
({10})
Der zweite Abschnitt ist, daß die Wiedervereinigung kam. Sie haben sie nicht gewollt; Sie haben dagegen gestimmt. Sie haben sie auch nicht für möglich gehalten. Man könnte endlos darüber reden. Es gehört wirklich zu den unglaublichen Dingen, wie damals und in der Folgezeit, bis in die letzten Monate hinein, der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen jeden Beitrag nationaler Solidarität immer dann verweigert hat, wenn er nicht in Ostdeutschland, sondern in Westdeutschland geredet hat. Auch heute wieder: kein Wort etwa zu der Frage, wo der Produktionsstandort sein soll, wenn wir die Großflugzeuge der Airbuslinie bekommen, während der Bundeskanzler sich klar, mutig und entschieden dafür ausgesprochen hat, daß er nach Mecklenburg-Vorpommern kommen soll. Das ist nationale Solidarität und Führungsstärke,
({11})
nicht Ihr kleinliches Wort „keine Mark niedersächsischer Steuerzahler für den Aufbau der neuen Bundesländer" , das wir alle noch gut in Erinnerung haben.
Natürlich haben wir durch die Wiedervereinigung - Herr Biedenkopf hat es gestern eindrucksvoll gesagt - neue ökonomische Probleme. Wir haben auch die Situation, daß uns die konjunkturelle Entwicklung der Weltwirtschaft durch die Sonderlage in Deutschland etwas später getroffen hat und daß wir deswegen bei der Anpassung an Veränderungen, die andere in Europa früher in den 90er Jahren vollzogen haben, ein Stück weit notwendigerweise später gewesen sind. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht. Wir sind auf dem richtigen Weg, und wir sind gut vorangekommen. Es wird darüber zu reden sein, was wir in den nächsten Jahren machen müssen.
Sie haben nicht eine der Fragen beantwortet. Sie haben gesagt, wir sollten Sie doch fassen. Das ist schwer. Michael Glos hat Ihnen heute morgen jede Menge konkreter Fragen gestellt. Sie haben nicht eine einzige beantwortet. Auch Wolfgang Gerhardt hat Ihnen jede Menge konkreter Fragen gestellt. Sie haben nicht eine einzige beantwortet.
({12})
Mir hat in einem heute morgen ausgestrahlten Rundfunkinterview ein Journalist vom Deutschlandfunk vorgehalten:
Bislang konnte man den Eindruck in diesem Wahlkampf bekommen, die Union bekommt den Kandidaten Schröder nicht zu fassen.
Ich zitiere weiter:
Er entzieht sich inhaltlicher Zuordnung, er steht für alles und nichts zugleich. Was wollen Sie dagegen tun?
({13})
Meine Antwort darauf: „Dies den Wählern bewußt machen. " Er steht für alles und nichts.
({14})
Aber Sie können auch die „Süddeutsche Zeitung" nehmen. Sie haben es ja so mit der Kultur. Da hat im
Feuilleton in der Berichterstattung über diesen fabelhaften Auftritt mit Herrn Reich-Ranicki gestanden:
Er sagt zu allem nichts, aber das ausführlich. Gerhard Schröder bei „Talk im Turm" .
({15})
- Natürlich, das können Sie auch noch einmal hören, und, wenn Sie dazwischenrufen, ein drittes Mal.
Dann bleibt der Punkt - damit müssen wir uns beschäftigen -: Was ist der bessere Weg?
({16})
- Sobald Sie aufhören dazwischenzureden, Herr Verheugen. Herr Verheugen hat offenbar einen etwas gestiegenen Adrenalinspiegel. Das kann ich nach der schwachen Vorstellung von Herrn Schröder auch verstehen. Da tut mir ja jeder Sozialdemokrat ein bißchen leid.
({17})
Ich will an die Rede von Herrn Schröder vor zwei Tagen im Museum Koenig, 50 Jahre Parlamentarischer Rat, anknüpfen, und zwar an die Erklärung: Wir wollen keinen Wettbewerbsföderalismus. Ich sage Ihnen: In einer Zeit, in der die Herausforderungen groß sind, in der sich bei uns ungeheuer vieles an sozialen Verhältnissen ändert, auch in der Welt um uns herum, in der der Wettbewerb härter wird, kann man nicht einfach nur zurückblicken und glauben, man könnte die Leute mit den Parolen von vorgestern noch heute in den Besitzständen festhalten, die wir für die Zukunft ein Stück weit überprüfen müssen. Da ist der Satz „Wir wollen keinen Wettbewerbsföderalismus" ein Programm für den Niedergang Deutschlands.
({18})
Unser System der Dezentralisierung, das unser Grundgesetz besser vorbereitet als die Verfassungen anderer Länder - Bund, Länder, Gemeinden, Tarifautonomie, Autonomie von Arbeitgebern und Gewerkschaften, Unabhängigkeit der Bundesbank, die zu akzeptieren Lafontaine noch heute schwer fällt; deswegen kritisiert er sie immer und sagt, die Bundesbank hätte in früheren Jahren die Zinsen senken müssen -, dieses Ordnungsprinzip der Dezentralisierung, mit der die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren ihre Wettbewerbsfähigkeit entscheidend verbessert hat, ist ein zukunftsfähiges Prinzip, aber nur unter der Voraussetzung, daß jeder seinen Teil an Verantwortung wahrnimmt und dann auch an dem Erreichten gemessen wird.
Herr Schröder, wir sind hier nicht im Niedersächsischen Landtag. Was dort zu machen ist, das kann Christian Wulff schon gut. Meistens schweigen Sie auch auf seine entsprechenden Vorhaltungen. Wenn Sie aber Kanzlerkandidat sind und Kanzler werden wollen, dann müssen Sie sich ein wenig an dem messen lassen, was Sie in acht Jahren zustande gebracht haben, und das ist miserabel in Niedersachsen.
({19})
- Jetzt will er erst einmal gewählt werden. - In Niedersachsen dürfen Sie die nächsten Jahre bleiben. Dagegen haben wir im Moment gar nichts. Das ist nun einmal so entschieden. Wir wollen nicht, daß Sie nach Bonn kommen.
({20}) Darum geht es im Augenblick.
Den Ausbildungsnotstand zu beklagen und auf den Vorhalt: „Warum ist die Jugendarbeitslosigkeit in Niedersachsen doppelt so hoch wie in BadenWürttemberg oder Bayern?" zu sagen: „Ich verfüge nicht über die Makroökonomie" ist eine so faule Ausrede; denn die Makroökonomie ist in Niedersachsen dieselbe wie in Bayern und Baden-Württemberg, aber die Landespolitik ist schlechter, und dafür tragen Sie Verantwortung.
({21})
Wir können Sie ja nicht an dem messen, was Sie als Kanzler einmal anrichten; vielmehr müssen wir - auch die deutschen Wählerinnen und Wähler - Sie an dem messen, was Sie bisher als Ministerpräsident zustande gebracht haben.
({22})
Sie sagen immer, 16 Jahre sei lange. Ja gut, das ist relativ. Ich sage immer - selbst Sie haben gesagt: der Bundeskanzler hat es in den 16 Jahren gut gemacht -: Wenn ich die Wahl habe zwischen einem, der es seit 16 Jahren gut macht, und einem, der es seit 8 Jahren nachweislich schlecht macht, dann ist mir der mit 16 guten Jahren viel lieber als der mit 8 schlechten Jahren.
({23})
Unser Bundesstaat, unsere Ordnung mit Subsidiarität und Dezentralisierung wird mit dem jetzigen Bundeskanzler um so besser gelingen und um so bessere Ergebnisse für die Menschen erzielen. Das ist wichtig. Deswegen ist dieses Wort vom Wettbewerbsföderalismus so sehr Gift und so verräterisch für Ihre falschen Vorstellungen. Je mehr jeder seinen Teil an Verantwortung wahrnimmt, um so besser ist es. Hätten wir überall so erfolgreiche Landesregierungen, wie wir sie dort haben, wo die Union regiert - in Bayern, in Baden-Württemberg, in Sachsen und anderswo -, dann wäre es um ganz Deutschland besser bestellt.
({24})
Hätten wir überall so schlechte Ergebnisse wie im Saarland und in Niedersachsen, dann wäre es schlechter in Deutschland. Eine der großen Streitfragen, eine der Alternativen lautet: Dezentralisierung oder bürokratischer Zentralismus. Sie setzen auf zentralistische Regelungen. Ich nenne Ihnen ein anderes
Beispiel: Tarifautonomie. Tarifautonomie gelingt nicht, wenn man sagt: Für die Lohnerhöhungen sind die Gewerkschaften verantwortlich, an der Arbeitslosigkeit ist die Regierung schuld. So geht es nicht. Jeder muß seinen Teil beitragen.
Deswegen will ich Ihnen die Sache mit der Lohnfortzahlung und auch die mit dem Schlechtwettergeld noch einmal erklären: Sie haben Unrecht, wenn Sie sagen, das habe nichts genützt oder sei falsch oder sonst etwas. So sind Tarifautonomie und Dezentralisierung im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Was haben wir hier denn geregelt? Wir haben niemandem etwas verboten. Ich höre immer den Quatsch, auch die Vorstandsmitglieder würden 100 Prozent im Krankheitsfall bekommen. Ich weiß das gar nicht; ich weiß nur, daß es keine gesetzliche Regelung gibt, die das vorschreibt. Wir haben lediglich gesagt, der Gesetzgeber bestimmt nicht, daß die Lohnfortzahlung bei 100 Prozent liegen muß; vielmehr müssen 80 Prozent sein. Die Tarifparteien können zwar mehr vereinbaren, aber sie müssen das dann so vereinbaren, daß das wirtschaftlich tragbar bleibt. Das System hat funktioniert. Diejenigen, die 100 Prozent Lohnfortzahlung vereinbart haben, haben in denselben Tarifverträgen an anderer Stelle Einsparungen vereinbart, die die Lohnzusatzkosten um 20 Milliarden DM gesenkt haben.
(
So ist es!)
So senkt man Lohnzusatzkosten, und so schafft man Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze.
({0}) Ihr Rezept bringt uns mehr Arbeitslosigkeit.
Wenn Sie das jetzt rückgängig machen würden, dann würden Sie den Fehler wiederholen, den Willy Brandt am Anfang seiner Regierungszeit gemacht hat. Er hat als Bundeskanzler eine Vollbeschäftigungsgarantie abgegeben und hat damit die Tarifpartner von der Verantwortung entbunden. Wenn Sie ankündigen, die 100 prozentige Lohnfortzahlung gesetzlich wieder einzuführen, dann muß dafür im Tarifbereich nicht mehr gespart werden. Kein Gewerkschafter wird mehr einen Tarifvertrag unterschreiben können, mit dem irgendeine Mark gespart wird, um so etwas zu regeln.
Hinsichtlich des Schlechtwettergeldes gilt dasselbe. Auch das wollen Sie rückgängig machen. Machen wir es ein bißchen spaßiger.
({1})
- Ja, die menschliche Natur ist eben so: Wenn es die Allgemeinheit bezahlt, daß ich nicht arbeiten muß, wenn es mir zu kalt ist, dann ist es mir ziemlich schnell kalt. Deswegen hatten wir in Deutschland längere Schlechtwetterperioden als in Schweden, obwohl es in Schweden kälter sein soll. Von daher ist die Regelung richtig, daß die Bundesanstalt einen Zuschuß bezahlt, aber die Bauwirtschaft einen Teil selber tragen muß. Auf die Weise überlegt sie, wie sie das erwirtschaften und trotzdem wettbewerbsfähig bleiben kann. So sind die Lohnzusatzkosten in der Bauwirtschaft gesenkt worden. So, meine Damen
und Herren, schafft man Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze. Das ist unser Weg. Wir sind auf dem richtigen Weg; er muß weitergegangen werden. Es darf nicht zur Rolle rückwärts kommen.
({2})
In einer Zeit - ich komme nachher noch auf das Thema Kombilohn zu sprechen -, wo es weltweit und auch mitten in Europa ein Wohlstandsgefälle und viele Möglichkeiten zu intensiver Arbeitsteilung und enger Verflechtung gibt, stehen wir nicht nur bei der industriellen Produktion in Konkurrenz um jeden Arbeitsplatz, ob uns das gefällt oder nicht. Daß 14 Tage Urlaub in der Karibik billiger als im Schwarzwald angeboten werden, stellt, wie ich immer sage, für das Fremdenverkehrsgewerbe im Schwarzwald oder andere Problembereiche eine strukturelle Herausforderung dar.
Wenn wir in einer solchen Welt wettbewerbsfähig sein wollen, also die Grundlagen für Wohlstand, Beschäftigung, soziale Sicherheit auch für die Zukunft sichern wollen, müssen wir uns auf unsere Stärken besinnen und konzentrieren. Deshalb ist es so wichtig, daß an unseren Schulen und Hochschulen Spitzenleistungen erbracht werden. Das Versagen der SPD-geführten Länder in der Bildungspolitik ist daher eine Katastrophe im Hinblick auf die Zukunft Deutschlands. Darum geht es; das ist der Zusammenhang.
({3})
Sie bestreiten das. Vielleicht machen Sie den Fehler, Gerechtigkeit mit Gleichheit gleichzusetzen. Dieses Mißverständnis ist vielleicht gutgemeint - gutgemeint ist aber nicht immer gut gemacht. Auch im Wahlkampf muß man sich bei aller Gegensätzlichkeit nicht die guten Absichten absprechen, da die Wege eben doch unterschiedlich sind. Wer immer nur Gleichheit in den Vordergrund schiebt, wird unsere Stärken nicht ausnutzen und damit nicht den Vorsprung erzielen, den wir brauchen, um auszugleichen, was wir an höherem Wohlstand und damit auch an höheren Kosten haben. Deswegen ist Gleichheit als oberstes Ziel in der Bildungspolitik gefährlich. Wir brauchen Chancengleichheit, müssen aber zugleich auch bestmögliche Ergebnisse fördern. Der Starke, der seine Leistung verweigert, handelt gegenüber dem Schwachen unsolidarisch. Deswegen ist all das kein Gegensatz, sondern die Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und Solidarität.
({4})
Das gilt für die Schulen, für die Hochschulen und für die berufliche Bildung.
Natürlich ärgert sich mancher, der im Handwerk über Bedarf ausbildet. Man kann dem Handwerk nur dankbar sein,
({5})
daß es diesen überdurchschnittlichen Beitrag in der Vergangenheit geleistet hat und auch gegenwärtig für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes leistet.
({6})
Natürlich ärgert sich mancher, daß andere weniger leisten. Natürlich ist man dann der Versuchung nahe zu sagen: Können wir das nicht mit einer Abgabe oder Umlage anders regeln? Es ist menschlich, Gerechtigkeit mit Gleichheit gleichzusetzen. Aber, meine Damen und Herren, was passiert?
Erstens werden die Großen sagen: Da es ja eine Abgabe gibt, kaufen wir uns von der Verpflichtung zur Ausbildung frei.
Zweitens müßte jeder Betrieb mindestens einmal monatlich melden, wieviel Arbeits- und Ausbildungsplätze er hat. Dann muß festgelegt werden, welche Ausnahmen es geben soll und was sich daraus ergibt. Das Ganze muß dann kontrolliert werden. Dann haben wir nicht nur eine neue Abgabe, sondern eine neue Bürokratie. Aber in Deutschland haben wir genügend Steuern, Abgaben und Bürokratie. Wir sollten keine neuen einführen. Damit würde man die Leistungsfähigkeit unseres beruflichen Systems schwächen.
({7})
Den konkreten Fragen nach modernem wissenschaftlichem Fortschritt und technologischer Erneuerung sind Sie ja ausgewichen. Sie haben weder etwas zum neuen Großflugzeug von Airbus, noch zu Transrapid gesagt. Es gilt wohl in der SPD immer noch die Beschlußlage ihres letzten Parteitags, auf dem sie sich gegen den Bau der Transrapidstrecke von Hamburg nach Berlin ausgesprochen hat.
({8})
- Natürlich, Sie haben sich gegen den Bau ausgesprochen.
({9})
Ich sage Ihnen: Wenn wir in andere Länder und in andere Kontinente die Magnetschwebebahn-Technologie in den kommenden Jahren verkaufen wollen, aber auf die Frage: „Wo fährt diese Bahn bei euch?" antworten: „Bei uns tut es auch die Postkutsche! ", dann kauft keiner diese Magnetschwebebahn.
({10})
Zu der vom Bundeskanzler angesprochenen Notwendigkeit haben Sie ebenfalls nichts gesagt: Wenn wir eine Zukunft mit mehr Arbeitsplätzen, mit weiterem wirtschaftlichem Wohlstand, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit wollen, dann müssen wir beispielsweise im Bereich der Chemie und der Pharmazie an der Spitze bleiben.
({11})
Dazu ist es eben notwendig, daß die modernen Formen von chemischer und pharmazeutischer Forschung und Produktion in Deutschland stattfinden. Daher war es richtig, daß wir gegen Ihren Widerstand das Gentechnikgesetz novelliert haben.
({12})
- Sie haben doch dagegengestimmt.
Man muß die Frage stellen, warum diejenigen Unternehmen im Bereich der Biotechnologie, die jetzt wieder nach Deutschland zurückkehren, nicht in SPD-regierte Länder wie zum Beispiel Niedersachsen gehen, sondern in Länder, wo CDU oder CSU die maßgebliche Regierungsverantwortung tragen. Sie wissen nämlich: Wo Rotgrün regiert, da nützt das beste Bundesgesetz nichts, weil es dort den ausstiegsorientierten Vollzug gibt. Das ist Gift für die Zukunft.
({13})
- Na, verehrter Herr Ministerpräsident. Da Sie inzwischen wieder anwesend sind - wie schön -, können Sie etwas in Ordnung bringen. Sie reden viel vom Bündnis für Arbeit. In diesem Zusammenhang muß man einmal lesen, was die niedersächsischen Gewerkschaften zum Bündnis für Arbeit in Niedersachsen mit Herrn Schröder sagen. Herr Ministerpräsident und SPD-Vorsitzender Lafontaine, reden Sie doch nicht mehr vom Bündnis für Arbeit, solange Sie die führenden Repräsentanten der deutschen Wirtschaft als Trio asoziale bezeichnen. Das ist doch ein unglaublicher Skandal.
({14})
Herr Lafontaine, ich verstehe schon, daß Ihnen dieser Ausdruck ein bißchen unangenehm ist. Im Stenographischen Protokoll der gestrigen Bundestagssitzung taucht der Begriff nicht auf. Dort ist er gestrichen;
({15})
dort taucht er nicht auf. Ich habe das Protokoll vorliegen. Herr Lafontaine, das beste ist, Sie gehen nachher an dieses Pult und nehmen diesen Begriff mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück. Das wäre ganz gut.
({16})
- Herr Fischer, bei Ihnen haben wir nun wirklich nicht die Hoffnung, mit Sekundärtugenden rechnen zu können. Wer soviel vom Bündnis für Arbeit redet, der kann doch nicht als SPD-Vorsitzender auf eine solche Weise gegenüber den führenden Repräsentanten der deutschen Wirtschaft - man muß mit ihnen nicht einer Meinung sein; aber den Respekt vor Andersdenkenden sollte man in einer demokratischen Gesellschaft wie in der unseres Landes doch bewahren -, vom Trio asoziale reden. Das geht doch nicht!
({17})
Sie reißen doch in diesem Lande Gräben auf - Klassenkampf statt Partnerschaft -, die wir gar nicht mehr zuschütten können. Die Krokodilstränen, die hinterher vergossen werden, kenne ich wohl. Nein, das muß in Ordnung gebracht werden.
Ich sage Ihnen: Sie bekommen nicht mehr Arbeitsplätze in Deutschland, wenn Sie weniger Arbeitgeber haben. Wenn Sie den Neid als Mittel der polemischen Propaganda nutzen, werden Sie das Land
nicht voranbringen, sondern zurückstoßen. Das ist die Wahrheit.
({18})
Die Ausnutzung von Neid und Angst ist nicht zukunftsträchtig.
({19})
Deswegen sagen wir, daß wir den Menschen ein Stück weit Mut machen müssen.
Wir müssen aber auch die Lage realistisch beschreiben. Natürlich gibt es Probleme. Keiner von uns - ich genausowenig wie andere - steht im Verdacht, daß er Probleme verschweigen würde. Aber wer bestreitet, daß wir in diesem Lande gut vorangekommen sind, oder wer den Satz von Kurt Biedenkopf, den Helmut Kohl heute wiederholt hat, bestreitet, daß es den Deutschen in diesem Jahrhundert wahrscheinlich nie so gut ging wie am Ende dieses Jahrhunderts, der nimmt doch den Menschen den Mut und die Motivation, Zukunft zu gestalten. Ein solches Vorgehen ist deshalb Unfug.
({20})
Wer sich mit den Sorgen der Menschen in den neuen Ländern beschäftigt, der muß so viel Kraft haben, Solidarität einzufordern, wie sie der Bundeskanzler heute bewiesen hat.
({21})
- Dazu gehört auch Finanzminister Theo Waigel, der die Solidarität seit Jahr und Tag im Haushalt in Zahlen umsetzt.
Seit 1993 sinken die Ist-Ausgaben im Bundeshaushalt Jahr für Jahr, obwohl die Leistungen für den Aufbau der neuen Bundesländer in dieser Zeit nicht gesunken sind. Das ist praktische Solidarität. Dies darf man nicht leugnen, sonst verrät man die deutsche Einheit.
({22})
Natürlich haben die Menschen gewaltige Verwerfungen zu bewältigen. Viele der Arbeitsplätze sind weggefallen. Dies war im übrigen nicht Folge von Treuhand und sozialer Marktwirtschaft, sondern die Folge des Sozialismus. Das alles haben Wolfgang Gerhardt, Michael Glos und Bundeskanzler Helmut Kohl schon gesagt.
Aber wahr ist auch: Den älteren Menschen geht es heute viel besser, als sie es sich zu Zeiten der DDR jemals haben träumen lassen.
(
Das ist doch wahr!)
Wer wie Sie über Renten redet, sollte dazusagen, wie hoch die Renten in der früheren DDR für diejenigen gewesen sind, die nicht Zusatzrenten wegen partei- oder systemnaher Tätigkeit bekommen haben: Die Höchstrente betrug 490 Mark der DDR.
({0})
Lassen Sie sich von meiner Kollegin Hannelore Rönsch einmal erzählen, wie die Einrichtungen für Behinderte in der DDR vor der Wende ausgesehen haben. Dann reden Sie nicht mehr von sozialer Gerechtigkeit zu Zeiten der deutschen Teilung, sondern darüber, welche Wärme in diesem Land erreicht worden ist.
({1})
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit der Rente will ich auch noch das sagen: Wir haben die schwere Verantwortung, unser Land voranzubringen. Dazu braucht man viel Solidarität. Wenn man die Worte der beiden großen Kirchen ein bißchen weniger instrumentalisiert - insofern, als man nicht nur einzelne Passagen herauszieht -, dann erkennt man die Sorge, daß steigender Wohlstand nicht unbedingt die Gemeinschaftskräfte stärkt, sondern möglicherweise eher dazu führt, daß der Egoismus wächst. Deswegen brauchen wir eine stärkere Orientierung an Werten, wie sie zum Beispiel die Familie vermittelt.
Deswegen ist es grundfalsch, wenn Sie in einer Bilanz der vergangenen 16 Jahre verschweigen, daß die Familienpolitik in Deutschland in der Regierungszeit Helmut Kohls und unserer Koalition der Mitte auf eine neue, moderne, zukunftsträchtige Grundlage gestellt worden ist.
({2})
Wir haben die Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt. Wir haben Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld eingeführt. Und in den Ländern, in denen CDU oder CSU regieren, gibt es das Landeserziehungsgeld, während es das in denen, wo die SPD regiert, nicht gibt. Das zeigt: Wir stehen für Familie und Wertorientierung - und Sie eben nicht. An diesen Unterschied muß man denken. Das ist wichtig für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Es hat doch keinen Sinn, im Zusammenhang mit der Rente ständig für alle Probleme irgendwelche Minderheiten zu Sündenböcken zu machen. Die Rentenversicherung hat ein objektives Problem, das sich aus der demographischen Entwicklung sowie aus der Entwicklung von Ausbildungszeiten und Arbeitsmarkt ergibt. Das kann niemand bestreiten. Wer aber wie Lafontaine, Scharping und Schröder den Menschen einredet, die Fremdrenten seien das einzige Problem in der Rentenversicherung, der täuscht.
Unsere Rentenversicherung ist ein Generationenvertrag. Die jeweils Erwerbstätigen zahlen mit ihren Beiträgen nicht ihre eigenen Renten, sondern die Renten der jeweils Älteren. Wie hätte man denn nach dem Krieg eine Rentenversicherung aufbauen wollen? Hätte man 30 Jahre lang Beiträge sammeln sollen, um erst dann Renten auszuzahlen? Das ist doch grober Unfug; das geht gar nicht. Bei der Pflegeversicherung war das genau das Gleiche. Wir haben ein System der Umlage zwischen den Generationen, Solidarität zwischen den Generationen. Später zahlen die Kinder. Unsere Rentenversicherung bedeutet: Wenn eine neue Bevölkerungsgruppe dazukommt - zum Beispiel die Menschen aus Ostdeutschland, der
früheren DDR -, dann kommt sie entweder ganz in das Rentensystem oder gar nicht. Die Lösung, die Sie haben, nach der die Erwerbstätigen in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern zwar Beiträge zahlen sollen, aber die Rentner in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern keine Rente bekommen sollen, ist gegen das Prinzip unserer Rentenversicherung und gegen das Prinzip nationaler Solidarität in Deutschland.
({3})
Sie können für die Aussiedler eine eigene Kasse auflegen. Bei Bleichhohen Beitragssätzen würde diese einen Überschuß aufweisen; denn die jungen Aussiedler zahlen mehr Beiträge, als die älteren Aussiedler heute an Rente bekommen.
({4})
Was Sie sagen, ist erstens unwahr, ist zweitens eine Diffamierung der Aussiedler
(
Ja!)
und verstellt drittens den Blick für die wirklichen Probleme der Rentenversicherung und für das, was wir tun müssen, um ihre Funktionsfähigkeit zu sichern.
({0})
Wenn das Ausbildungsalter schon steigt, das Rentenalter sinkt und die Lebenserwartung steigt, dann darf das Ausbildungsalter nicht noch höher werden. Deswegen hat die Bildungspolitik auch für die Rentenversicherung eine Bedeutung. Das Durchschnittsalter bei Abschluß der Ausbildung beträgt heute 24 Jahre und steigt weiter an. Wir brauchen Zeit zum Umsteuern. Wenn man sich ein wenig versteuert, dann korrigiert man das eben; daran ist nichts Schlimmes. Wer nicht bereit ist, zuzugeben, daß er einmal etwas nicht richtig vorausgesehen hat, und aus Erfahrungen zu lernen, der ist nicht politik- und zukunftsfähig. Grundsätzlich aber muß die Rentenaltersgrenze allmählich nach oben geschoben werden.
Im übrigen sollten Sie nicht versprechen, dies rückgängig zu machen. Die finanzielle Belastung auf Grund der steigenden Lebenserwartung kann, wenn die Rente sicher bleiben soll, nicht mehr ausschließlich von den zukünftigen Beitragszahlern getragen werden; sie muß vielmehr hälftig verteilt werden. Dadurch sinken die Renten nicht. Sie steigen auch in Zukunft, aber langsamer als in der Vergangenheit.
Meine Damen und Herren, mit Ihrer Debatte um das Niveau täuschen Sie die Menschen. Sie reden ihnen ein, daß die Renten sinken. Die allermeisten älteren Mitbürger aber sagen: Wenn die Rente sicher bleibt und die Währung so stabil, wie sie es mit Helmut Kohl und Theo Waigel in Deutschland geworden ist, dann akzeptieren wir, daß die Renten in Zukunft langsamer steigen. Das ist soziale Sicherheit; und dazu gibt es keine Alternative.
({1})
Und wissen Sie: Wenn Sie die Lohnzusatzkosten senken wollen, müssen Sie sparen. Das ist genauso wie bei den öffentlichen Haushalten. Dazu müssen
Sie in der Lage sein. Sie aber kündigen an, man mache die Rentenreform rückgängig und senke die Beitragssätze. 1994 ist es dem Kollegen Scharping passiert, daß er brutto und netto verwechselt hat. Jetzt verwechseln Sie plus und minus; das ist ja noch schlimmer. Die Ausgaben steigen, die Einnahmen sinken - das geht nun wirklich nicht.
({2})
Herr Schröder, Sie haben auch von der Gesundheitsreform gesprochen. Was Sie zu den chronisch Kranken gesagt haben, war schon ziemlich unglaublich.
({3})
Wir wollen es Ihnen also noch einmal verdeutlichen: Die Zuzahlung für Medikamente ist bei chronisch Kranken auf 1 Prozent des Verdienstes begrenzt. Darüber hinaus gibt es sozial Schwächere, und von denen haben Sie gesprochen, Herr Ministerpräsident. Deswegen haben Sie eigentlich noch mehr getäuscht. Sozial Schwächere sind nämlich von der Zuzahlung befreit.
({4})
Es gibt 20 Millionen Menschen in Deutschland, die überhaupt keine Zuzahlung leisten müssen. Deswegen, Herr Ministerpräsident Schröder, ist das, was Sie gesagt haben, eine schlimme Verhetzung der Menschen in Deutschland.
({5})
Natürlich weiß ich, daß die Versuchung groß ist. Die Menschen, die für Medikamente eine geringe Eigenleistung erbringen müssen - die chronisch Kranken 1 Prozent, die anderen 2 Prozent -, freuen sich nicht darüber. Aber was soll man denn machen, wenn die gesetzliche Krankenkasse 1996 Medikamente im Wert von 8 Milliarden DM bezahlt hat, die dann auf dem Müll gelandet sind?
Ich will Ihnen nicht unterstellen, daß Sie die Methode der SED/PDS wählen wollen. Man könnte diese Verschwendung natürlich bekämpfen, indem man immer dann, wenn jemand eine Apotheke verläßt, diesen beobachten läßt und kontinuierlich kontrolliert, ob er die Medikamente auch einnimmt. Aber wenn man das nicht will, dann muß man an die Eigenverantwortung der Menschen und an ihr eigenes Interesse appellieren. Es hilft nichts; die Menschen gehen mit anderer Leute Geld immer großzügiger um als mit dem eigenen. Deswegen ist eine begrenzte Zuzahlung der einzige Weg, um sparsam zu wirtschaften. So erhalten wir das bestmögliche System gesundheitlicher Versorgung.
({6})
Für Sie ist doch Tony Blair das Vorbild - obwohl er sich dagegen wehrt. Das kann ich auch verstehen. Ihr Ruf in der internationalen Presse ist ja nicht mehr sehr gut. Selbst der „Economist" schreibt: Würden Sie von dem einen Gebrauchtwagen kaufen? Ich denke auch an das, was die „Financial Times" geschrieben hat; das ist schon schlimm. Wenn Sie sich
aber so auf England berufen, dann muß ich Ihnen sagen: In England zahlt das staatliche Gesundheitssystem teure Operationen wie das Einsetzen eines Herzschrittmachers oder eines künstlichen Hüftgelenks nicht, wenn der Patient älter als 60 Jahre ist, weil man sagt: Das lohnt doch nicht mehr in deinem Alter.
Meine Damen und Herren, das ist nicht unsere Vorstellung. Unsere Vorstellung ist: Jeder soll die bestmögliche gesundheitliche Versorgung erhalten. Das aber ist teuer, und deswegen muß man sparsam wirtschaften. Anderenfalls kann man es nicht für die Zukunft sichern.
({7})
Wir sind übrigens mit dieser Politik auf dem richtigen Weg. Das haben Sie bei Ihrem Horrorgemälde ganz vergessen. Wir haben in Deutschland in diesem Jahr, 1998, eine der stärksten Wachstumsentwicklungen unter allen vergleichbaren Industrieländern.
({8})
- Nicht im ersten Quartal. - Wir haben glänzende Prognosen der OECD, wir haben glänzende Urteile der OECD. Dies ist gerade die Folge unserer Reformpolitik. Sie werden in der internationalen Presse doch deswegen so kritisiert, weil Sie das rückgängig machen wollen und den Anspruch haben, Sie würden Deutschland dann in eine gute wirtschaftliche Zukunft führen. Das geht nicht. Unsere Reformen, unser Weg der Dezentralisierung, die Mitwirkung von Arbeitgebern, Wirtschaft und Gewerkschaften, haben dazu geführt. Die Lohnzusatzkosten sinken im Jahr 1998, die Lohnstückkosten sind seit drei Jahren rückläufig. Die Mark ist stabil wie nie zuvor. Das Zinsniveau ist auf einem historischen Tiefststand. Die Auslandsinvestitionen sind als Folge unserer Reformpolitik in einem drastischen Ausmaß wieder gestiegen. Das, meine Damen und Herren, ist die Voraussetzung dafür, daß wir auch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um eine Dreiviertelmillion in wenigen Monaten haben. Wir haben immer noch zuviel Arbeitslose. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Deswegen darf es keine Rolle rückwärts geben.
({9})
Zur Steuerreform. Wir haben so oft darüber diskutiert, man ist es fast schon leid. Aber Sie machen hier wirklich ein Schurkenstück.
({10})
- Nein, nein, Entschuldigung.
({11})
Wir waren alle Zeugen, als Bundesfinanzminister Waigel gestern gesagt hat: Als Folge unserer Finanzpolitik haben wir den Spielraum bereits im Haushalt 1999 - den beraten wir nämlich zur Zeit - für eine Nettoentlastung von 10 Milliarden DM. Deswegen hat er gesagt: Wir könnten einen ersten Schritt der Steuerentlastung bereits zum 1. Januar 1999 in Kraft setzen bei einer Gegenfinanzierung von etwa 10 Milliarden DM durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Eine Nettoentlastung von 10 Milliarden DM gibt ein Volumen für eine Steuersatzsenkung zum 1. Januar 1999 von 20 Milliarden DM.
Jetzt sagen Sie - dies habe ich mit dem Wort „unanständig" bezeichnet -, das sei nun eine Annäherung an das SPD-Konzept. Was der Bundesfinanzminister gesagt hat, kann man doch nicht verwischen und verzerren. Man kann anderer Meinung sein, aber man soll doch nicht falsches Zeugnis gegen ihn reden. Er hat gesagt, das hat natürlich nur dann einen Sinn, wenn wir in demselben Gesetz zugleich die gesamte Steuerreform beschließen. Die müssen wir in zwei Stufen bis zum Jahr 2002 in Kraft setzen. Das war vor ein paar Jahren übrigens auch schon so. Die erste Stufe macht nur einen Sinn, wenn die zweite Stufe gleich mit beschlossen wird. So geht es, und so schaffen wir es auch.
({12})
Meine Damen und Herren, Ihre ganze Demagogie gegen alle Vorschläge, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, ist herzzerreißend. Eigentlich wettern Sie gegen die Ausnahmen von der Besteuerung. Aber wenn man sich daranmacht, haben Sie - Lafontaine hat es gestern wieder vorgeführt - eine sehr seltsame Sprache. Es ist furchtbar, wie Sie das diffamieren. In Wahrheit ist es so: Wenn wir alle Steuersätze um etwa ein Drittel senken, dann müssen wir auch möglichst alle Ausnahmen von der Besteuerung beseitigen. Dann zahlen trotzdem alle weniger Steuern. Deswegen haben wir auch eine Nettoentlastung von 30 Milliarden DM, die Sie nicht wollen. Es ist doch ein Stück aus dem Tollhaus, in derselben Rede zu sagen, wir sind gegen eine richtige Nettoentlastung, und gleichzeitig zu behaupten, wir senken aber stärker die Steuern als ihr. Da haben Sie schon wieder plus und minus verwechselt.
({13})
Wir haben eine Nettoentlastung vorgesehen. Deshalb zahlen mit unserer Steuerreform alle weniger Steuern. Nur so geht es.
Mit der Haushaltspolitik des Bundes schaffen wir den Spielraum für Nettoentlastungen. Mit der Haushaltspolitik von Regierungen, in denen CDU und CSU und in Baden-Württemberg CDU und F.D.P. regieren, schaffen wir auch den Spielraum auf Länderebene für Steuerentlastungen. Nur wer sparsam wirtschaften kann, kann auch Steuern senken. Anders geht es nicht. Das ist die Alternative.
({14})
Meine Damen und Herren, ein Letztes möchte ich in diesem Zusammenhang noch sagen: Wir haben in dieser Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl die Kraft aufgebracht, auch schwierige Entscheidungen durchzusetzen. Wer ein wenig Verstand hat und sich ein wenig aus der Leidenschaft des Wahlkampfes befreien kann, wird doch zugeben, daß es eine politische Herkulesarbeit war, vier Monate vor einer Bundestagswahl die Entscheidung für die EuropäiDr. Wolfgang Schäuble
sche Währungsunion vertrags- und termingerecht durchzusetzen.
({15})
- Ach was, der Herr Kanzlerkandidat hat von „kränkelnder Frühgeburt" gesprochen. Wenn das Hilfe ist, dann weiß ich es nicht. Ist denn das Aufhetzen von Menschen Hilfe?
({16})
- Verehrter Herr Verheugen, Sie können zwischenrufen, wie Sie wollen. Das haben die Menschen in diesem Lande verstanden. In jedem Wahlkampf - vor zwei Jahren schon in Baden-Württemberg - ist es das gleiche. Dann kam das Wort von der „kränkelnden Frühgeburt" . Hier haben Sie gelegentlich staatsmännische Reden gehalten. Wir erleben ja sogar Fischer gelegentlich in Nadelstreifen. Aber draußen hetzen Sie die Menschen auf und schüren deren Angste. „Kränkelnde Frühgeburt!"
({17})
Es war eine Großtat dieser Regierung von Helmut Kohl und dieser Koalition, die Entscheidung für die wirtschaftliche Integration Europas zustande zu bringen.
({18})
Meine Damen und Herren, wenn wir uns in diesen Tagen die Entwicklung rund um die Welt und die Sorgen in Rußland anschauen - der Bundeskanzler hat eindringlich darüber gesprochen -, dann bin ich jedesmal, wenn ich eine entsprechende Meldung lese oder höre, froh und dankbar, daß wir gegen den Widerstand von Rotgrün die Entscheidungen für die europäische Integration zustande gebracht und die NATO so wirkungskräftig gehalten haben. So einfach und klar ist es: Das ist der bessere Weg für die Zukunft.
({19})
Wir werden im kommenden Jahrhundert darauf angewiesen bleiben, verläßliche Partner zu haben. Das heißt, wir müssen selber verläßlich bleiben. Wer in den vergangenen Jahren so oft das Gegenteil geredet hat wie Schröder, Fischer, Trittin und Lafontaine, der ist außenpolitisch nicht berechenbar und gewinnt keine verläßlichen Freunde, sondern wird uns in die Isolierung führen. Dazu paßt ja das Geschwätz Ihres Wirtschaftsministerkandidaten vom deutschen Sonderweg. Könnte es etwas Dümmeres am Ende dieses Jahrhunderts geben? Es gibt keinen deutschen Sonderweg, sondern nur den Weg von Wettbewerbsfähigkeit und Integration.
({20})
Meine Damen und Herren, unser Weg für die kommenden Jahre ist klar.
({21})
Jedermann weiß es, und darüber ist zu entscheiden. Wir gehen den Weg
({22})
außenpolitischer Verläßlichkeit. Wir gehen den Weg europäischer Integration. Wir gehen den Weg der Solidarität in Deutschland und in Osteuropa. Wir konzentrieren uns darauf, uns auf unsere Stärken zu besinnen und nicht über die Schwächen zu lamentieren. Wir gehen den Weg, unsere Wettbewerbsfähigkeit auszubauen, um den wirtschaftlichen Wohlstand zu erhalten und die Mittel für soziale Gerechtigkeit zu haben. Es nützt doch alles nichts: Wenn man nicht wirtschaftlich leistungsfähig ist, hat man auch keine soziale Gerechtigkeit.
Angesichts des neuen Weges der SPD, ein Zerrbild von der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen, muß man doch einmal sagen: Diese Regierung und diese Koalition haben der Familie einen neuen Stellenwert gegeben. Diese Regierung und diese Koalition haben der Solidarität mit den Menschen in Ostdeutschland eine hervorragende Bedeutung gegeben. Diese Regierung und diese Koalition haben die Pflegeversicherung geschaffen und damit bewiesen, daß man auch in schwierigen Zeiten die Kraft zur Prioritätensetzung haben kann. Das ist praktizierte Politik für soziale Sicherheit, nicht das Neidgerede der SPD.
({23})
Aber dazu muß man Freiheit und Verantwortung sowie Leistung und Solidarität in einem Zusammenhang sehen. Wer es voneinander trennt, weil er den Wettbewerb nicht will oder ihn fürchten muß, ist weder zu Leistung noch zu Solidarität in der Lage. Deswegen ist unsere an Werten orientierte, auf Werte und Institutionen gegründete Politik die für die Zukunft bessere.
Meine Damen und Herren, wir haben am Ende dieses Jahrhunderts schwierige Herausforderungen und große Veränderungen. Wir haben aber auch große Chancen. Wir haben viel Grund zur Dankbarkeit für das, was diesem Land nach solchen Katastrophen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in den zweiten fünfzig Jahren geschenkt worden ist.
Wir haben Grund, auf das stolz zu sein, was wir mitgestaltet haben. Wir haben es nicht alleine gestaltet. Politik gestaltet nicht alleine, auch keine Regierung. Aber wir haben Rahmenbedingungen geschaffen und haben mit Fleiß, Tüchtigkeit, Engagement und mit Unterstützung der Menschen ein liebenswürdiges und lebenswertes Land geschaffen. Dafür in den kommenden Jahren miteinander zu arbeiten lohnt die Anstrengung.
Herzlichen Dank.
({24})
Herr Kollege Schäuble, Sie haben in Ihrer Rede auf die gestrige Debatte und auf einen Satz Bezug genommen, den Sie im Stenographischen Bericht vermißt haben. Ich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
habe das nachprüfen lassen. Er fehlte tatsächlich. Es verhält sich aber so, daß er nicht auf Betreiben von Herrn Ministerpräsident Lafontaine gestrichen worden ist; vielmehr war es ein Fehler des Stenographischen Dienstes, der aber ({0})
- ich kann Ihnen nur sagen, was ich beim Nachfragen erfahren habe - bereits eine Berichtigung herausgegeben hat. Der Satz ist also jetzt im Protokoll. Es ist ganz eindeutig ein Fehler des Stenographischen Dienstes gewesen.
({1})
- Ich habe versucht, es zu klären. Soviel zur Klarstellung.
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In aller Kürze: In dieser Debatte hat mehrfach die Frage eine Rolle gespielt, wie verläßlich Politik ist und wie genau und wie sehr sie sich der alltäglichen Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen der Menschen vergewissert. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Schäuble, ist folgendes interessant zu wissen. Sie haben einiges zum Aufbau Ost gesagt und dabei auch die eine oder andere Vermutung geäußert. Ich erinnere mich sehr gut, daß wir im März 1993 über einen neuen Länderfinanzausgleich und über ein föderales Konsolidierungskonzept gesprochen haben. Ich weiß, daß die Gespräche darüber zwischen dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten, dem jetzt immer noch amtierenden Finanzminister und mir geführt worden sind. Der neue Länderfinanzausgleich ist am 1. Januar 1995 in Kraft getreten.
Ich möchte Ihnen dazu - auch mit Blick auf manche Bemühungen - nur eines sagen: Es ist kein Zeichen von Verläßlichkeit, wenn man zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Länderfinanzausgleichs die Solidarität faktisch aufkündigt, indem man ohne vorheriges politisches Gespräch das Bundesverfassungsgericht bemüht.
({0})
Das macht deutlich, daß Sie ganz offenkundig eine wesentlich andere Vorstellung von Verläßlichkeit und Solidarität haben als wir.
({1})
Daß es einen Wettbewerb innerhalb des Föderalismus gibt, ist übrigens genauso klar wie die Forderung, daß es einen solidarischen Ausgleich innerhalb des Föderalismus geben muß, insbesondere wegen des Aufbaus im Osten Deutschlands und wegen der schwierigen Situation, die wir vermutlich noch auf Jahre hinaus dort vorfinden werden.
Ein weiterer Punkt: In der Debatte hat es eine Rolle gespielt, wie wir mit Fragen in bezug auf den sozialen Konsens umgehen und wie sich das auf die Kooperationsbereitschaft auswirken könnte. Jetzt ist hier - unter dem teilweise höhnischen Gelächter der CDU/CSU-Fraktion - schon einiges zu der Bemerkung gesagt worden, von der Herr Schäuble vermutet hatte, daß sie auf Betreiben von Herrn Lafontaine aus dem Stenographischen Bericht gestrichen worden sei.
Ich will Ihnen nur eines sagen: Wenn der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie nicht nur beiläufig, sondern ganz ausdrücklich in einem Interview sagt, Tarifbruch in Ostdeutschland sei vorbildlich, also damit sagt, vertragswidriges Verhalten in Ostdeutschland und Vertrauenswürdigkeit zu zerstören sei vorbildlich, dann ist das asoziales Verhalten. Da kann man sagen, was man will.
({2})
Herr Kollege Schäuble, weil wir im Deutschen Bundestag mit den Feststellungen der amtierenden Präsidenten sorgfältig umgehen sollten, sage ich Ihnen noch einmal: Es ist tatsächlich so, daß auf Betreiben von Herrn Lafontaine und seinen Mitarbeitern im Büro - ich habe hier einen entsprechenden Vermerk vorliegen - der Fehler im Stenographischen Bericht, nämlich das inkriminierte Wort vom „Trio asoziale" wegzulassen, korrigiert worden, dieser Ausdruck also aufgenommen worden ist. Insofern sind Sie einer fehlerhaften Information aufgesessen. Es ist nicht weiter schlimm, und wenn es korrigiert worden ist, ist es ja auch gut.
({3})
Dasselbe gilt übrigens für den Transrapid. Sie haben unsere Parteitagsbeschlüsse dazu nicht gelesen. Das gilt auch für Renten. Ich will aber nicht noch einmal alles aufzählen, sondern zu einem dritten Punkt kommen: Ich habe nach dieser Debatte besser als vorher verstanden, warum es zu einem direkten Gespräch zwischen den Herren Kohl und Schröder im deutschen Fernsehen nicht kommt. Ich habe das jetzt sehr gut verstanden.
({4})
Wenn man den Verlauf der Debatte betrachtet, sieht man, daß sie offenkundig - ich sage Ihnen das auch mit Blick auf mancherlei Gespräche, die ich in Europa zu führen habe - in vielen Punkten anders ist als 1994. Sie ist auch in dieser Hinsicht anders als 1994: Sie können nicht mehr verbreiten - kein Mensch glaubt es Ihnen mehr -, daß irgend jemand in Europa mit einer sozialdemokratischen Regierung in Deutschland Sorgen verbindet. Im Gegenteil, man verbindet Hoffnungen damit, nicht nur in Fragen der europäischen Währung, sondern auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemeinsam voranzukommen.
({5})
Daß beispielsweise Dänemark im nächsten Jahr Vollbeschäftigung erreichen wird, ist eine interessante Nachricht. Ich könnte Ihnen viele solche Dinge nennen. Da aber Europa und die Außenpolitik nicht wirklich umstritten sind, jedenfalls nicht in den Grundfragen, will ich es bei diesen kurzen Hinweisen bewenden lassen. Mehr lohnt sich angesichts der Bemerkungen von Herrn Schäuble und der schlichten Tatsache nicht, die diese Debatte deutlich gemacht hat: Es fehlt Ihnen vielleicht nicht an Machtwillen, nicht an Beharrungsvermögen. Das kann gut sein. Das kann man auch respektieren. Woran es Ihnen fehlt, ist eine überzeugende Idee, eine glaubwürdige Politik. Die aber haben wir. Deswegen werden die Wahlen auch so ausgehen, wie sie ausgehen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Herr Minister Theo Waigel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte etwas zu dem, was der Kollege Scharping über den Länderfinanzausgleich gesagt hat, anmerken. Aber das ist nur eine Arabeske. Natürlich hat der bayerische Finanzminister gewechselt. Damals war das der Herr von Waldenfels, zwischenzeitlich ist es der Erwin Huber. Der Ministerpräsident hat auch gewechselt.
({0})
- Nein, ich wollte Ihnen das nur sagen, weil Sie es falsch gesagt haben. Das ist aber nicht wichtig.
({1})
Ich habe mich damals schon dagegen gewandt, daß eine Übernivellierung stattfindet. Wir haben uns damals leider nicht durchgesetzt. Wir konnten uns ein halbes Jahr weitere Verhandlungen nicht leisten, darum haben wir dem zugestimmt. Aber es war auch damals schon falsch, zu einer Übernivellierung von fast 99 Prozent zu kommen. Darum muß das geändert werden.
Wir hatten vorher für Kosten politischer Führung ein paar hundert Millionen Mark im Haushalt. Jetzt sind es über 1 Milliarde DM. Es ist völlig indiskutabel, daß zum Beispiel das Land Rheinland-Pfalz 220 Millionen DM für Kosten politischer Führung bekommt, genauso wie es auf die Dauer inakzeptabel ist, daß die Gehälter des saarländischen Ministerpräsidenten und seiner Regierung inklusive des Kochs zu 40 Prozent aus dem Bundeshaushalt beglichen werden. Das wollen wir ändern.
({2})
Auch wenn das Protokoll jetzt wieder stimmt: Es ist indiskutabel, wenn hier ein Repräsentant, ein Ministerpräsident eines Landes unbescholtene Bürger in Deutschland als „Trio asoziale" bezeichnet. Das ist indiskutabel!
({3})
Wir haben übrigens - für ein Wahljahr relativ ungewöhnlich - diesen Haushalt rechtzeitig konzipiert, vorgestellt und eingebracht, wozu Sie von 1969 bis 1982 insgesamt nur ein- oder zweimal gekommen sind. Das beweist Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit der Haushaltspolitik.
Wenn ich sage oder aufnehme, was eine französische Stimme gesagt hat, nämlich „Der Euro spricht deutsch", dann ist das nichts anderes, als darzustellen, daß Konvergenzkriterien, Vertrag von Maastricht, Stabilitätspakt, Stabilitätserklärung, Konvergenz, die gegenwärtige Stabilität und der Sitz der Bank in Frankfurt großartige Erfolge der deutschen Stabilitätsphilosophie sind, auf die wir stolz sind.
({4})
Die Eigenkapitalrendite in Deutschland - eine sehr interessante Zahl; es lohnt sich wieder, Kapital in Betrieben anzulegen; es lohnt sich zu investieren - liegt jetzt wieder über 11 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie die risikolose Anlage von Finanztiteln. Das zeigt, unser Weg, den Standort Deutschland zu behaupten und zu verbessern, hat sich gelohnt. Er führt zu mehr Beschäftigung, zu weniger Arbeitslosigkeit. Dieser Weg muß weitergegangen werden.
({5})
Übrigens, Herr Ministerpräsident Schröder, VW würde genausogut laufen, wenn Sie nicht Mitglied im Aufsichtsrat wären.
({6})
Das, was Sie Bayern neiden, nämlich rechtzeitig Geld umzusetzen, Privatisierung zu nutzen für Innovationen, für die Wissenschaft, für mehr Bildung, für mehr Lehrer,
({7})
für mehr Polizisten, das könnten auch Sie erreichen, wenn Sie dort privatisieren und die Mittel dafür verwenden würden. Sie sind mit Ihrer Industriepolitik gescheitert. So holen Sie den Abstand nie auf.
({8})
Eine Unverschämtheit von Ihnen, Herr Schröder, war es, zu unterstellen, die Trümmerfrauen wären von der Senkung des Rentenniveaus betroffen. Das ist eine bodenlose Unterstellung! Sie wissen ganz genau, daß die gegenwärtigen Rentner - dazu gehören auch die Trümmerfrauen - davon nicht betroffen sind. Wir haben für die Trümmerfrauen etwas erreicht, nämlich die Anrechnung von Erziehungszeiten. Sie haben dazu in Ihrer Regierungszeit nichts, aber auch gar nichts beigetragen. Sie sollten sich bei uns bedanken.
({9})
Übrigens fehlt Ihnen, Herr Schröder, jeder Grund, die Pfarrer in Deutschland in Schutz zu nehmen oder Herrn Hintze zu attackieren. Es ist schon einmal ein sozialdemokratischer Kandidat schlecht damit gefahren, sich zu Kirchenfragen auf Kanzeln zu äußern und zu sagen, man solle nicht aufhören, Kirchensteuer zu zahlen - um später einräumen zu müssen, daß er selber gar keiner Kirche angehört, was sein gutes Recht ist. - Damit hier Ihr Spiel zu treiben, das steht Ihnen nicht zu. Dafür gibt auch Ihr Brief an die Kirchen nicht die notwendige Legitimation. Seien Sie also ein bißchen vorsichtiger mit solchen flapsigen Bemerkungen.
({10})
Herr Ministerpräsident des Saarlandes, Sie haben die Blockade organisiert, jetzt können Sie einmal die Solidarität der Länder organisieren, um mit ihnen gemeinsam den Haushaltsnotstand des Saarlandes zu beseitigen. Sie haben allen Grund, sich beim Bund zu bedanken, der den Haushaltsnotstand des Saarlandes über Jahre hinweg allein aus seiner Kasse behoben hat. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu 1992 definitiv erklärt, dies sei eine Aufgabe von Bund und Ländern gleichermaßen; das wird in dem entsprechenden Urteil mehrmals erwähnt. Jetzt, da Sie die Blockade organisiert haben, sollten Sie zu Ihren sozialistischen Ministerpräsidentenkameraden reisen und denen sagen, sie sollen sich beteiligen. Wir werden uns zur Hälfte beteiligen; um die andere Hälfte müssen Sie sich im Kreis der Länder kümmern. Die neuen Bundesländer werden davon nicht betroffen sein; das möchte ich hier auch in aller Klarheit darstellen.
({11})
Herr Lafontaine, wieder sind Sie mit all den Fragen zu Steuern und Ausnahmetatbeständen gekommen. Keiner ist so oft wie Sie an dieses Rednerpult gegangen und hat mich aufgefordert, die Vorschläge von Herrn Professor Bareis, die die Kommission unter seiner Leitung entwickelt hat, aus der Schublade zu nehmen, um damit das Existenzminimum oder eine große Steuerreform zu finanzieren. In den Vorschlägen von Bareis waren die Vorschläge, die in unserem Konzept sind, und andere enthalten. Nicht ein einziges Mal haben Sie gefordert, ich solle bei der Umsetzung eine Reihe von Ausnahmen - Schichtarbeit, Nachtarbeit oder Rentenbesteuerung - machen. Jetzt sagen Sie, dies sei schlimm und falsch. Dabei weiß jeder: Jawohl, für Nachtarbeit, für Schichtarbeit, für Samstags- und Sonntagsarbeit muß mehr gezahlt werden. Die Frage ist nur, ob das die übrigen Steuerzahler finanzieren sollen oder ob dies Schritt für Schritt in die Tarifverträge aufgenommen werden muß.
Wer sich gegen die 620-DM-Verträge wendet und sagt, daß durch ihre Freistellung von der Sozialpflichtigkeit die Sozialkassen geplündert würden, der muß auch ein Augenmerk darauf haben, daß dieser Bereich zwischenzeitlich ein Volumen von 15 Milliarden DM hat und mancher Tarif in manchen Bereichen - denken Sie an die Druckindustrie - nur noch nach dem Motto gemacht wird: Dort erhöhen, wo keine Steuern und keine Sozialabgaben mehr gezahlt werden müssen. Auch hier glatte Demagogie von Ihrer Seite!
({12})
Zur Rentenfrage. Auch heute werden Renten besteuert. Das Bundesverfassungsgericht hat eine gerechte Besteuerung angemahnt. Wenn nach unseren Vorstellungen der Alleinstehende bis 2 600 DM Rente steuerfrei erhalten kann und erst ab der nächsten Mark in die Besteuerung kommt und Verheiratete bis 5 200 DM Rente steuerfrei erhalten können und erst ab der nächsten Mark in die Besteuerung kommen, kann niemand behaupten, daß dies eine rentnerunfreundliche Besteuerung sei. Im Gegenteil, es ist eine sehr gerechte und gut begründbare Besteuerung, zu der der Vorsitzende des DGB ausdrücklich gesagt hat, er halte das für richtig.
({13})
Meine Damen und Herren, unser Konzept der Steuerreform unterscheidet sich von Ihrem grundlegend. In einem einzigen Gesetzentwurf würden wir, müßten wir und werden wir das gesamte Paket, wie wir es am 30. Juli des letzten Jahres verabschiedet haben, verabschieden. Das heißt: Eingangssteuersatz 15 Prozent, Körperschaftsteuersatz 35 Prozent, gewerbliche Einkünfte 35 Prozent, Ausschüttungssatz 25 Prozent, Spitzensteuersatz 39 Prozent.
({14})
- Natürlich. Das habe ich schon gestern gesagt, Frau Matthäus-Maier. Da brauchen Sie doch nicht heute „Aha!" zu rufen. Haben Sie gestern geschlafen? Das habe ich alles gestern wörtlich gesagt.
Jetzt sind wir bereit, in einer ersten Stufe, zusammengefaßt mit dem Gesamtkonzept, wie wir es eigentlich schon zum 1. Januar 1998 vorhatten, weitere Senkungen der Steuersätze durchzuführen: beim Eingangssteuersatz genauso wie oben, beim Körperschaftsteuersatz genauso wie bei den gewerblichen Einkünften, und zwar - auch das ist meines Erachtens ein großer Unterschied zu Ihnen - indem wir, Bund, Länder und Kommunen, eine reale Nettoentlastung in 1999 in einer Gesamthöhe von 10 Milliarden DM für vertretbar halten. Der Bund ist jedenfalls in der Lage, das aufzubringen, ohne daß die Nettokreditaufnahme erhöht wird. Das wäre genau der richtige Zeitpunkt, um die Konjunktur zu stützen und im internationalen Bereich das richtige Signal zur Lösung der Probleme der Weltwirtschaft zu geben. Das ist der Grund. Das Konzept wird und muß zusammenhängend, als Ganzes, verabschiedet werden.
({15})
Übrigens kommt das DIW in einer aktuellen Studie sogar bei einer etwas niedrigeren Wachstumsannahme für 1998 zur Annahme von Steuermehreinnahmen von über 3 Milliarden DM. Sie wissen, daß uns das DIW sonst mit Prognosen, die das Staatsdefizit anbelangen, nicht übermäßig nahe steht. Sie sehen also: Was ich sage, ist durchaus realistisch.
Noch ein Wort zu den Schulden. Es ist schon ein starkes Stück, wenn jemand, der so von der Solidarität des Bundes lebt wie der Ministerpräsident des Saarlandes, mir die Schulden vorhält. Ein Drittel der Schulden von insgesamt 1,5 Billionen DM habe ich beim Amtsantritt übernommen. Ein Drittel geht auf die sozialistische Erblast zurück, die nachrechenbar ist und die ich mir von niemandem vorwerfen lasse.
({16})
Ein Drittel haben wir, habe ich zu verantworten. Das sind etwa 50 Milliarden DM pro Jahr. Diese Verantwortung trage ich vor dem Hintergrund, in jedem Jahr etwa das Doppelte an die neuen Länder und knapp 5 Prozent davon an das Saarland überwiesen zu haben.
Meine Damen und Herren, das, was Sie hier gestern an böser Demagogie so bewußt ans Fernsehpublikum gerichtet haben, fällt in sich zusammen. Sie, Herr Lafontaine, sind der Ungeeignetste, um hier jemand anderem einen Vorwurf machen zu dürfen.
({17})
Übrigens haben Sie, Herr Lafontaine, gestern behauptet, es wäre schön, die Zahlen von 1982 zu haben.
({18})
- Ja, richtig, murmelt er da vor sich hin.
Der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt betrug 1982 15,4 Prozent. Das war der Höchststand. Heute liegen wir weit darunter - der niedrigste Stand trotz der riesigen Herausforderungen.
Meine Damen und Herren, die Steuerquote betrug 1982 rund 26 Prozent. Inzwischen liegt sie bei 22,5 Prozent. Nur, ich wünschte mir, daß bei unserer Steuerreform nicht die Steuerjongleure am meisten profitiert hätten, sondern die Arbeitnehmer, die Arbeiter, die Handwerker. Das, Herr Lafontaine, haben Sie verhindert.
({19})
Nun noch zur Staatsquote. Sie wissen sehr wohl: damals über 50 Prozent, jetzt unter 48 Prozent. Und zum Staatsdefizit: 1982 waren es 3,3 Prozent; 1983, bereits unter Gerhard Stoltenberg, 2,6 Prozent, und 1989 war es ein Überschuß im Staatshaushalt von 0,1 Prozent. Das hat uns die Möglichkeit und die Chance gegeben, die deutsche Einheit vernünftig zu finanzieren.
({20})
Auch das ist das Ergebnis der Politik von 1982 bis 1989.
({21})
Jetzt waren wir in 1996 bei 3,4 Prozent, in 1997 unzweifelbar bei 2,7 Prozent, wir werden in 1998 bei etwa 2,5 Prozent sein und im nächsten Jahr bei 2 Prozent. Meine Damen und Herren, das ist eine stolze
Bilanz, die ich hier vorweisen kann, obwohl wir die größten finanzpolitischen Herausforderungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zu bewältigen hatten.
({22})
Letzte Bemerkung. Die neuesten Zahlen aus Nürnberg belegen: Die Trendwende ist da. Die dem Bundeshaushalt zugrunde liegende Zahl der Arbeitslosen von 4,3 Millionen wird unterschritten. Diese positive Entwicklung wirkt sich schon in diesem Jahr unmittelbar auf den Haushalt aus. Die Planung für 1999, die eine Rückführung der Mittel um 4 Milliarden DM vorsieht, ist voll gedeckt. Dies beweist die Solidität, die Tragfähigkeit und die Zukunftsfähigkeit dieses Haushaltsentwurfs und der Finanzpolitik dieser Regierung.
Vielen Dank.
({23})
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Landes Hessen, Hans Eichel.
Ministerpräsident Hans Eichel ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Es hält einen doch nicht auf dem Stuhl, wenn man all das von denen, die es besser wissen müssen, hört - sehr verehrter Herr Bundesfinanzminister, auch sehr verehrter Herr Schäuble -, was sie zum Thema Steuerreform und zur Haltung der Sozialdemokratie in diesem Punkt sagen. Die Wahrheit ist eine ganz einfache; hinter ihr stehen übrigens, wenn Sie genau hinsehen, auch die Ministerpräsidenten der von Ihnen regierten Länder.
Es war und ist nämlich nicht zu verantworten, den Menschen eine Steuerreform mit einer Nettoentlastung von 30 Milliarden DM - im übrigen sind es ja gar nicht 30 Milliarden DM, sondern deutlich mehr - zu versprechen. Die Einnahmeausfälle, die das bedeutet, sind angesichts der Situation der öffentlichen Haushalte nicht zu verantworten.
({1})
Sie verschweigen dabei noch, daß Sie gleichzeitig eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Punkt planen, um wenigstens einen Teil der Ausfälle, die Sie bei der Einkommensteuerreform haben, gegenzufinanzieren. Sagen Sie den Menschen doch bitte auch, daß Sie das planen.
({2})
Sie wissen doch wie ich, daß wir Ende vergangenen Jahres ein ganzes Stück näher beieinander waren und daß Ihre Aussage unisono gewesen ist: Wir machen eine aufkommensneutrale Steuerreform. Was Sie im September vergangenen Jahres noch alles abgelehnt haben, war Ihre Position im Dezember vergangenen Jahres. Dies verschweigen Sie heute und ziehen mit anderen Parolen in den Bundestagswahlkampf. So ist es doch.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Schäuble?
Ministerpräsident Hans Eichel ({0}): Ja, ich gestatte eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Herr Kollege Schäuble.
Herr Ministerpräsident Eichel, damit wir nicht den Eindruck erwecken, wir hätten irgendwelche Geheimverhandlungen geführt und das sei anders gewesen - das kommt der Öffentlichkeit alles ein bißchen komisch vor -: Sie verwechseln jetzt wieder die erste Stufe mit der Gesamtreform.
Auch in der vom Bundestag beschlossenen Steuerreformgesetzgebung - Petersberger Konzept - war die erste Stufe aufkommensneutral vorgesehen. Das ist nicht neu, das war immer so. Das Gesamtkonzept war die Entlastung, so wie Sie es beschrieben haben. Gestern hat der Bundesfinanzminister gesagt, wir könnten jetzt die erste Stufe mit einer Nettoentlastung von 10 Milliarden DM in Angriff nehmen. Das ist ein weitergehender Schritt. Aber wir haben immer die Position vertreten: beide Stufen in einem Schritt zusammen.
({0})
- Meine Frage ist: Wären Sie so liebenswürdig, dies hier klarzustellen, damit in der deutschen Öffentlichkeit kein falscher Eindruck aufrechterhalten wird?
Ministerpräsident Hans Eichel ({1}): Noch einmal, Herr Schäuble: Wir haben - da hatten wir Einvernehmen - im Dezember vergangenen Jahres - das war die Geschäftsgrundlage - über eine aufkommensneutrale Steuerreform verhandelt. Was in fernerer Zukunft, wenn denn die wirtschaftliche Lage es zuläßt, möglich wäre, ist ein anderes Thema. Wenn Sie dann diese schönen Wunschvorstellungen beschreiben, wie gerne wir alle die Steuern noch weiter senken wollten - da können wir in jeden Wettbewerb mit Ihnen eintreten.
({2})
Die Frage ist, was Sie in der jeweiligen Situation konkret verantworten können. Auch Sie vertraten im Dezember vergangenen Jahres die Position, man müsse aufkommensneutral vorgehen. Mehr konnte zu dieser Zeit nicht beschlossen werden. Bei Ihnen war gleichzeitig noch ein Punkt Mehrwertsteuererhöhung enthalten, die wir in der Tat nicht gewollt haben; denn eine Mehrwertsteuererhöhung um zwei Punkte haben wir für ganz unerträglich für die Binnenkonjunktur in diesem Lande gehalten.
({3})
Ich will aber noch ein paar Sätze zu Ihrer Bilanz sagen, Herr Bundesminister Waigel. Sie verschweigen, in welcher Situation sich die öffentlichen Haushalte inzwischen befinden. Das ist doch der Grund, warum bisher auch kein Ministerpräsident Ihrer Couleur einer solchen Steuerreform zustimmen würde. Sie verschanzen sich doch bloß hinter der Mehrheit im Bundesrat und hoffen, daß sie nicht selber die Hand für ihre Interessen heben müssen. Das ist die Wirklichkeit.
({4})
Wenn Sie mit Herrn Stoiber reden, was sagt er dann denn selbst über die Bildungspolitik und über die Polizei und dazu, daß er für all das nicht mehr genug Geld hat? Warum strengt er als erster die Klage zum Länderfinanzausgleich an? - Weil er das Geld nicht mehr hat. Auch das ist wahr. Deswegen müssen wir Ordnung in die Staatsfinanzen bringen. Deswegen ist Ihre Bilanz höchst unvollständig ausgefallen.
({5})
Der Grund, warum ich hier reden wollte, ist aber ein anderes Thema: Ich bin als hessischer Ministerpräsident nicht mehr länger bereit, hinzunehmen, daß Sie immer so tun, als sei die Welt in Baden-Württemberg und Bayern in Ordnung, aber an rotgrün regierten Ländern gingen Unternehmer, Investoren usw. vorbei. Wenn Sie Hessen nicht hätten, das mit großem Abstand die größte Wirtschaftskraft aller Flächenländer in Deutschland hat, mit großem Abstand die höchsten Wirtschaftswachstumsraten hat, die höchsten Produktivitätszuwachsraten hat, dann sähe es mit Ihrer Finanzpolitik noch ganz anders aus.
({6})
Das will ich Ihnen ein bißchen belegen; so geht das nämlich nicht. Ich reise mit Geschäftsführern hessischer Töchter amerikanischer Konzerne nach Amerika, um dort den Zerrbildern entgegenzuwirken, die Sie und vor allen Dingen unverantwortliche Verbandsfunktionäre in Amerika über die deutsche Wirtschaft malen. Die Geschäftsführer sagen mir: Unsere Zahlen sind zwar prima, aber in Amerika glaubt uns das keiner, weil gerade wieder Leute dagewesen sind, die ein schlimmes Bild von Deutschland gemalt haben. Die deutsche Botschaft sagt: Wir können gar nicht soviel nacharbeiten, um wieder aus der Welt zu schaffen, was einige in Washington angerichtet haben. Das ist die Rolle einer sozialdemokratisch geführten Landesregierung - auch einer rotgrünen Landesregierung -, wenn es darum geht, für Arbeitsplätze und Innovation im Lande zu sorgen. So können Sie das doch mit uns nicht machen.
({7})
Es kommt doch nicht von ungefähr, daß Standard & Poor's Hessen ein Triple A in der Finanzpolitik zuordnet; eine höhere Bewertung gibt es, wie Sie wissen, nicht. Ich bitte Sie, das jetzt definitiv und ein für allemal zur Kenntnis zu nehmen. Ich nehme es nicht mehr hin, daß die einen immer nur laut reden, aber beim Zahlen ganz klein sind - wir Hessen sind solidarisch seit fast 50 Jahren -, und gleichzeitig so tun, als ob sie die Nummer eins wären. Das sind sie mitnichten. Wenn die Bayern einmal soweit sind wie wir Hessen seit Jahrzehnten und der Abstand nicht ständig größer würde, dann könnten wir darüber reden.
Ministerpräsident Hans Eichel ({8})
Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen und künftig solche Reden zu unterlassen, weil ich als hessischer Ministerpräsident für mein Land solche Reden nicht mehr hinnehme.
({9})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Solms.
Herr Ministerpräsident Eichel, Sie haben ein kurzes Gedächtnis. Es ist nicht einmal ein Jahr her, daß wir zusammengesessen und darüber verhandelt haben. Es ist schlußendlich daran gescheitert, daß Sie im Zusammenhang mit einer aufkommensneutralen ersten Stufe der Steuerreform die Anhebung der Mineralölsteuer gefordert haben, als ökologischen Bestandteil einer solchen Reform - ich weiß nicht, was daran Reformerisches sein soll, wenn man Steuern erhöht -, und daß Sie darauf bestanden haben, daß diese erste Stufe die alleinige Stufe der Steuerreform sein sollte und nicht die erste Stufe eines Gesamtkonzeptes. Deswegen ist das gescheitert. Darauf muß hingewiesen werden.
Was der Bundesfinanzminister Theo Waigel jetzt vorgeschlagen hat, ist eine Gesamtsteuerreform mit einer Nettoentlastung von mindestens 30 Milliarden DM, die auf zwei Stufen aufgeteilt werden soll, bei der die erste Stufe bereits zum 1. Januar 1999 mit einer Nettoentlastung von 10 Milliarden DM ausgestattet werden soll, aber im Zusammenhang verabschiedet, so daß Sie, Herr Ministerpräsident Eichel, sich von der zweiten Stufe nicht still und heimlich wieder verabschieden können, weil Sie das Geld natürlich brauchen, um Ihre Wahlgeschenke zu finanzieren, und kein Geld haben, um es dem Steuerzahler zurückzugeben, der Anspruch auf diese Entlastung hat, und zwar ganz unabhängig davon, ob er Arbeitgeber, Selbständiger oder Arbeitnehmer ist. Alle haben einen Anspruch auf eine Nettoentlastung.
Deswegen ist die Geschichtsklitterung hier zu korrigieren. Daran sind diese Gespräche gescheitert. Sie wollten nur eine Umfinanzierung in einer ersten Stufe und keine Reform.
({0})
Herr Ministerpräsident, Sie können darauf antworten. Sie haben drei Minuten Redezeit.
({0})
Ministerpräsident Hans Eichel ({1}): Herr Dr. Solms, das war übrigens eine vernünftige Position, die auch andere CDU-Politiker bezogen haben. Lassen Sie uns das verabschieden - das hätten wir ja gemacht -, was wir vor der Bundestagswahl noch verabschieden können, und lassen Sie die Wählerinnen und Wähler über die unterschiedlichen Einkommensteuerreformkonzepte anschließend entscheiden. Denn wir wollten nicht die Kröten, die in Ihrem Konzept enthalten sind und die Sie auf diese Weise in unser Konzept schmuggeln wollten, schlucken. Darüber brauchen wir gar nicht zu reden.
Sie haben noch ein anderes Problem: Wir haben Ihnen mit einer Mehrwertsteuererhöhung von einem Prozentpunkt aus der Patsche geholfen, damit vermieden wurde, daß die Rentenversicherungsbeiträge auf 21 Prozent steigen.
({2})
Sie wissen doch ganz genau: Das hätten wir gar nicht nötig gehabt, wenn die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und die Scheinselbständigen in der Versicherung berücksichtigt würden.
({3})
Sie wissen doch auch, daß wir es fertiggebracht hätten, wenigstens für diese notwendige Strukturreform eine Mehrheit zuwege zu bringen, wenn das nicht an der F.D.P. gescheitert wäre.
Dann fragen Sie einmal, wer im Dezember vergangenen Jahres konstruktive Politik gemacht hat, Sie oder wir.
({4})
Ich gebe das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist verständlich, daß innenpolitische Fragen in Wahlkampfzeiten gerade in einer Haushaltsdebatte so stark im Vordergrund stehen. Es ist auch verständlich, daß wir uns in der Nachkriegszeit und vor allem in der Zeit nach der Wiedervereinigung sehr stark unter anderem auch mit innenpolitischen Fragen und Problemen beschäftigt haben. Vielleicht haben wir uns manchmal, vor allem in der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, auch zu sehr auf innenpolitische Probleme fokussiert.
Das Schicksal Deutschlands entscheidet sich aber in der Außenpolitik. Unser Land steht vor großen außenpolitischen Herausforderungen. Man konnte in den letzten Monaten den Eindruck haben, als würden die außen- und sicherheitspolitischen Fragen vor allem im Wahlkampf nicht die Rolle spielen, die ihnen eigentlich zukommt. Wenn ich mir jetzt aber die Krisen der Welt - im Kosovo, in Rußland, in Asien, im Kongo, die Hungerkatastrophe im Sudan und den internationalen Terrorismus - anschaue, dann muß ich feststellen: Wir haben wahrhaftig keine Verschnaufpause.
Am 15. März 1998 hat Jürgen Trittin in der „Welt am Sonntag" erklärt: „Die Diskussion um die Außenpolitik interessiert vor allem die Leitartikler. " Schön wär's! So kann man wirklich schnell danebenliegen.
({0})
Nein, Deutschland kann sich keine außenpolitischen Traumtänzereien und Irrlichtereien leisten. Wir sind nämlich ein großer Tanker und kein kleines Beiboot. Deutschland ist bevölkerungsmäßig das zwölftgrößte Land der Welt. Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Deutschland ist die zweitgrößte Exportnation der Welt. Deutschland ist nach der Wiedervereinigung das mit weitem Abstand größte Land in der Europäischen Union. Es hat rund 24 Millionen Einwohner mehr als die nächstgrößeren Länder: Großbritannien, Frankreich und Italien. Nach wie vor sind wir auch das wirtschaftsstärkste Land in der Europäischen Union.
Wir genießen großes Vertrauen in der Welt, in der Nachkriegszeit errungen, unter anderem vor allem durch liberale Außenminister, aber auch durch alle Bundeskanzler und alle Regierungen, die dazu beigetragen haben. Dieses Vertrauen ist unser wichtigstes Kapital, das wir überhaupt besitzen. Deshalb müssen sich vor allem die Grünen schon ein klein wenig anhören, wie die Welt auf das reagiert, was in der letzten Zeit nach außen und nach innen zu hören war.
Das gilt auch für Herrn Schröder als Kanzlerkandidaten der SPD. Was er zu manchen außenpolitischen Fragen gesagt hat,
({1})
hat nicht gerade dazu beigetragen, das Vertrauen zu erhöhen. Wer die NATO-Öffnung ablehnt und die Auflösung der NATO anstrebt, wer sich letztlich dem Vertrag von Amsterdam verweigert, wer die Bundeswehr verleumdet,
({2})
der muß sich sagen lassen, daß er das Vertrauen verspielt und daß er außen- und sicherheitspolitische Verantwortung für dieses Land nicht übernehmen darf.
({3})
Genauso wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, mache ich im Augenblick viel Wahlkampf. Ich habe das Gefühl, daß die Menschen vor grüner Verantwortung in der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik zunehmend Angst haben. Und ich habe das Gefühl, daß auch im Ausland, bei meinen Partnern und Freunden, mit denen ich rede, etwas sorgenvoll auf den 27. September in Deutschland gesehen wird.
({4})
Wir haben unsere Verantwortung als Koalition bisher darin gesehen, Deutschlands Gewicht für Frieden, Sicherheit und Wohlstand in ganz Europa in die Waagschale zu werfen. Was Krieg, Gewalt und Zerstörung anrichten, haben wir in Bosnien erlebt, und das erleben wir im Augenblick wieder im Kosovo. Ich war vor drei Tagen wieder - das zwölfte Mal - in Sarajevo, um ein neues Werk von VW mit zu eröffnen.
({5})
- Ich bin öfter dort gewesen als Sie, Herr Verheugen, und habe auch mehr bewegt als Sie. Freundliche Grüße! ({6})
Welch ein Unterschied zu der ersten Reise dorthin im Januar 1995! Wir sind damals in einer ukrainischen UNPROFOR-Maschine mit Panzerwesten und Stahlhelmen auf dem Kopf geflogen. Ich werde niemals die Eindrücke von der ersten Fahrt in die Stadt vergessen: Ruinen, Trümmer, frische Gräber. Gut zweieinhalb Jahre nach Dayton haben wir Grund zu vorsichtigem Optimismus. Die geschundene Stadt Sarajevo blüht - allerdings langsam - wieder auf und kommt wieder voran. Das Land ist militärisch stabil, und wir Deutschen haben Entscheidendes dazu beigetragen. Wir können stolz auf den Einsatz unserer Soldaten sein, denen ich ausdrücklich noch einmal danken möchte.
({7})
Sie haben die Schmähreden von Herrn Trittin wirklich nicht verdient.
Wir können stolz auf die deutschen Nichtregierungsorganisationen, auf die humanitären Organisationen und auf sehr viel Privatengagement sein. Wenn ich als Außenminister dieses Landes in Gebiete der Welt komme, wo es schwierig und kompliziert ist, wo Not und Elend herrschen, treffe ich auf deutsche Nichtregierungsorganisationen, die dort vorbildlich tätig sind - egal, ob das in Ruanda oder Burundi ist, egal, ob es auf dem Balkan, in Lateinamerika oder in vielen Krisengebieten Afrikas ist. Die Arbeit der deutschen Nichtregierungsorganisationen und der humanitären Einrichtungen und das private Engagement von Deutschen in den Elends- und Notgebieten der Welt sind vorbildlich. Herzlichen Dank!
({8})
Madeleine Albright war zeitgleich mit mir in Sarajevo. Unsere Aufenthaltszeit hat sich allerdings nur eine halbe Stunde überschnitten. So haben wir vereinbart, uns nicht zu treffen, um uns nicht gegenseitig die kurze Zeit, die uns beiden für den Besuch zur Verfügung stand, „wegzunehmen". Aber als ich hörte, was sie als amerikanische Außenministerin zur Frage der Rückführung von Flüchtlingen aus Deutschland gesagt hat, habe ich dem massivst widersprochen. Ich gebe dem Bundeskanzler recht: Wir haben von niemandem Belehrungen über die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern anzunehmen.
Wir tragen auch jetzt, was die Aufnahme von Kosovo-Albanern als Asylbewerber in Deutschland anbelangt, die mit Abstand größte Last. Auch da gebührt den Deutschen Dank. Wir waren human bei der Aufnahme und werden human bei der Rückführung bleiben. Aber Deutschland kann sich nicht allein alle Not und alles Elend auflasten. Das müssen wir den Bürgern und auch unseren Partnern und
Freunden sagen, die jetzt womöglich mit dem Finger auf uns zeigen. Hätten sie uns mal Lasten abgenommen, anstatt uns anzuklagen, daß wir bei der Rückführung inhuman seien! Das sind wir nicht. Wir lassen uns da von niemandem etwas sagen.
({9})
Meine Damen und Herren, unser Land muß - es ist notwendig, dies zu sagen - ab 1. Januar 1999, also direkt nach der Bundestagswahl, außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch eine Verantwortung schultern, wie es sie in der Nachkriegszeit in der Form nie zu schultern gab. Wir haben die Präsidentschaft in der Europäischen Union inne. Zentrale Fragen stehen an: der Euro, die Erweiterung. Wir brauchen ein neues europäisches Finanzsystem. Wir brauchen eine Agrarstrukturreform. Wir müssen die in Amsterdam nicht geregelten Fragen institutioneller Art lösen. Hiermit gekoppelt - das hat es auch noch nie gegeben - haben wir die Präsidentschaft in der Westeuropäischen Union und - das ist angesichts der derzeitigen Weltlage fast noch wichtiger - die Präsidentschaft unter den G-8-Staaten. Bei G 8 sind auch noch die Japaner und Rußland dabei. Im ersten Halbjahr 1999 haben wir einen ersten europäischen Lateinamerikagipfel. Wir haben die Mittelmeerkonferenz Barcelona III, einen EU-ASEM-Gipfel und einen EUASEAN-Gipfel.
Ich wiederhole noch einmal: In der Nachkriegszeit hat es keine Situation mit vergleichbarer Verantwortung gegeben. Ich meine schon, daß nicht so ganz von der Hand zu weisen ist, worauf wir von seiten der Koalition mit Recht hinweisen: daß in dieser Zeit - wie bei einem großen Tanker - erfahrene Leute am Ruder stehen sollten und nicht politische Leichtmatrosen, wie es zumindest die Grünen in außen- und sicherheitspolitischen Fragen sind.
({10})
Deutsche Außenpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Friedenspolitik für ganz Europa. Dazu gehört natürlich auch, daß wir uns im Kosovo engagieren. Vertreibungen und Gewalt müssen dort endlich ein Ende haben. Es gibt keine andere Möglichkeit, als auf eine politische Lösung zuzusteuern, die eine umfassende Autonomie beinhalten muß. Wir werden kein unabhängiges Kosovo schaffen können. Das müssen wir allen Beteiligten sagen. Deswegen müssen beide Seiten - das ist im Augenblick äußerst schwierig - in einen Dialog eintreten, der im Ergebnis zu einer möglichst weitgehenden Autonomielösung führen muß. Diese muß dann allerdings militärisch abgesichert werden. Es wird so wie in Bosnien gehen müssen; anders wird es nicht möglich sein. Die NATO hat sich dazu ja auch bereit erklärt. Zunächst sind ein Waffenstillstand und ernsthafte Gespräche zwischen beiden Parteien notwendig. Wir müssen deshalb den Druck auf Belgrad noch weiter verstärken. Denn klar muß sein: Die Hauptverantwortung trägt Herr Milosevic.
Unabhängig davon bereiten uns jetzt auch die Kosovo-Albaner in Gestalt der UCK gewaltige Probleme, weil sie sich nicht am Dialogprozeß beteiligen. Aber sie sind über Jahre kujoniert, drangsaliert und unterjocht worden. Sie haben versucht, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Jetzt können wir ihnen nicht vorwerfen, daß sie so agieren, wie sie agieren. Wir müssen sie vielmehr zur Vernunft zurückbringen. Das muß jetzt außenpolitisch erreicht werden. Und Herr Milosevic muß wissen: Die Staatengemeinschaft wird eine humanitäre Katastrophe nicht noch einmal hinnehmen. Er muß ferner wissen: Wir können und wir werden auch militärisch reagieren, wenn es zu keiner politischen Lösung kommt. Dazu sind wir fest entschlossen.
({11})
Ich will noch einmal etwas zu Herrn Trittin sagen, weil er hinsichtlich der Außenpolitik der Mann im Hintergrund ist. Wenn es um außenpolitisch wichtige Fragen im Deutschen Bundestag ging, saß der Kollege Fischer - sonst nicht gerade zurückhaltend - stets mit verquälter Miene in der ersten Reihe. Er hat aber zu diesen Themen nicht gesprochen, sondern hat jeweils andere sprechen lassen müssen. Diese Tatsache muß man den Deutschen noch einmal in Erinnerung rufen. Sonst ist Herr Fischer um kein freches Wort verlegen. Aber in diesen Debatten hat er geschwiegen. Als es um die NATO-Erweiterung ging, saß er mit verquältem Gesicht in der ersten Reihe - keine Stellungnahme. Als es um die Verträge von Amsterdam ging, saß er mit verquältem Gesicht in der ersten Reihe, später sich nach hinten verziehend - keine Stellungnahme. Als es um den SFOR-Einsatz - früher - ging, saß er ebenfalls mit verquältem Gesicht in der ersten Reihe - keine Stellungnahme.
Jetzt dreht ausgerechnet Herr Trittin sozusagen eine Last-minute-Kurve in der Avus und erklärt, daß die Grünen plötzlich für die Bundeswehr und sogar für einen verlängerten Einsatz in Bosnien sind. Dazu kann ich nur sagen: Hoffentlich merken die Deutschen, um was es am 27. September an den Wahlurnen geht.
({12})
Und wie man hört, sind die Grünen - das muß man der bundesrepublikanischen Bevölkerung ebenfalls sagen - auch gegen Maßnahmen zur Friedenserzwingung. Herr Trittin nennt diese Maßnahmen „militaristisches Abenteurertum" und „interventionistische Großmachtpolitik". Wer so redet, leidet unter Realitätsverlust.
Im übrigen möchte ich auf einen Punkt hinweisen, der in Deutschland vergessen zu sein scheint: Wir waren nicht in der Lage? uns selber vom Tyrannen zu befreien, nicht einmal diejenigen, die am 20. Juli 1944 einen ehrenhaften Versuch unternommen hatten. Es bedurfte gewaltsamer - genauer: militärischer - Aktionen, um uns sozusagen den Wiederaufbau, den Neubeginn in Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu ermöglichen. Hätte sich die freie Welt damals auf den heutigen Standpunkt der grünen Partei gestellt, würde die Welt heute anders aussehen. Dieser Punkt wird in Deutschland vergessen: Wir konnten uns vom Tyrannen nicht selber befreien.
Deshalb ist eine solche Haltung, die von vornherein eine Intervention, auch wenn sie vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen abgesichert ist, ausschließt, eine unmoralische und im übrigen auch eine fatale und geschichtslose Haltung. Das muß man deutlich und klar sagen.
({13})
Auf Grund der Gespräche gestern morgen in den Ausschüssen ist es meine Aufgabe, auch etwas über Rußland zu sagen. Wir schauen mit großer Sorge nach Rußland, insbesondere nach Moskau. Das Land befindet sich in ganz schwierigem Fahrwasser. Was dort geschieht, betrifft uns - ob wir wollen oder nicht - ganz unmittelbar. Europa wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Rußland gut geht. So einfach ist der Zusammenhang. Rußland darf nicht kollabieren. Dieses Land steht vor Herkulesaufgaben. Es muß seine Währung und seine Finanzen stabilisieren. Es muß ausreichend Liquidität schaffen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Es muß die Strukturreformen anpacken. Es braucht eine Roßkur. Vor allem aber muß Rußland Vertrauen zurückgewinnen, denn ohne Vertrauen werden keine Investitionen kommen. Geld und Investitionen sind nun einmal wie ein scheues Reh. Sie gehen nur auf die Lichtung, wenn sie sicher ist. Deshalb ist die zentrale Aufgabe für Rußland, das Vertrauen zurückzugewinnen.
Rußland muß wissen: Partnerschaft und Freundschaft bedeuten für uns keine Schönwetterveranstaltung. Wir werden dieses große und wichtige Land auf seinem schwierigen Weg weiter begleiten. Aber die Last der Reformen kann Rußland niemand abnehmen. Wir wollen, daß ein stabiles, demokratisches und starkes Rußland den Platz in Europa und in der Welt einnimmt, der ihm gebührt - politisch und wirtschaftlich. Wir wollen Rußland weiterhin umfassend einbeziehen - durch eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa, durch die Zusammenarbeit mit der EU und durch die Zusammenarbeit im Rahmen der G 8. Weil wir ein besonderes Vertrauensverhältnis zu diesem großen und wichtigen Land entwickelt haben, kommt dabei gerade auf Deutschland in der nächsten Zeit sehr viel Verantwortung zu. Wir haben eine ganz wichtige Rolle, eine Rolle, die versucht, die Entwicklungen in der Balance zu halten. Das haben viele in Deutschland noch nicht wahrgenommen.
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz verpflichtet unsere Außenpolitik auf die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte. Unsere Außenpolitik tritt weltweit für Menschenrechte und Menschenwürde ein. Das muß auch in Zukunft so bleiben.
({14})
Dies gilt für das Beispiel der Landminen - das Ottawa-Abkommen hat geholfen -; das gilt jetzt für die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs, was - auch das muß man einmal sagen dürfen - mit ein Erfolg deutscher Diplomatie war.
({15})
Wir müssen deutlich und klar sagen, daß jemand, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, nicht mehr ruhig schlafen darf, übrigens genausowenig wie all diejenigen, die Kinder sexuell mißbrauchen und damit auch noch Geschäfte machen.
({16})
Wir müssen international durchsetzen, daß Europol diesen Schweinereien durch Surfen im Internet entgegenwirken darf. Das ist das erste, was wir durchsetzen müssen.
({17})
Die menschenverachtenden Anschläge von Omagh, Nairobi und Daressalam haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, daß die Geißel des Terrorismus uns alle bedroht. Wir müssen den Zynikern der Gewalt als Staatengemeinschaft entschlossen entgegentreten und die Quellen des Terrorismus austrocknen: ungelöste Konflikte, soziales Elend, ideologischer und religiöser Fanatismus. Für Terrorismus darf es kein Pardon geben.
Wir dürfen uns nicht in einen neuen Kampf der Kulturen einlassen. Wir brauchen vielmehr den Dialog der Kulturen, vor allem mit der Welt des Islam. Deshalb ist die Auswärtige Kulturpolitik so wichtig.
Und deshalb möchte ich zum Schluß noch etwas zum Kulturpapst in spe, Herrn Naumann, sagen: Manches von dem, was von ihm gesagt wurde, ist bisher nicht so richtig wahrgenommen worden.
Zunächst zur Auswärtigen Kulturpolitik und den Goethe-Instituten: Die Reaktion auf seine Intervieworgie war eindeutig und klar. Die Mitgliederversammlung der Goethe-Institute hat einstimmig erklärt, solch einen Blödsinn wollten sie nicht.
Aber ich habe noch etwas viel Gefährlicheres anzusprechen, was Herr Naumann wohl am allerwenigsten überlegt hat. Vor ein paar Jahren habe ich, damals noch mit Herrn Kosyrew und Herrn Sidorow, die Verhandlungen über die Rückführung der Kulturgüter aus Moskau begonnen. Herr Naumann erklärt nun, darauf sollten wir verzichten - obwohl Rußland völkervertragsrechtlich, wegen unserer Vereinbarungen in Sachen Kultur sowie wegen des deutsch-russischen Vertrages, verpflichtet ist, diese zurückzugeben. Herr Naumann hat völlig übersehen - daran sieht man, wie flach und oberflächlich Leute damit umgehen, die, zumindest was die praktische Politik anbelangt, von Tuten und Blasen keine Ahnung haben -, daß Präsident Jelzin vor dem Verfassungsgericht in Moskau zwei Klagen eingereicht hat, die unsere Position unterstützen. Herr Naumann fällt dem russischen Präsidenten in den Rücken!
({18})
Und er hat noch ein Zweites übersehen, was viel schlimmer ist: Er hat nämlich vergessen, daß ein nicht unwesentlicher Teil der Kulturgüter, um die es hier geht - ich weiß das, weil ich mir das im Puschkin-Museum in Sankt Petersburg angesehen habe -,
von Eichmann geraubter jüdischer Besitz ist. Angesichts dessen möchte ich doch die Frage stellen, ob Herr Naumann als selbsternannter Kulturpapst in spe - der alles weiß, der kam, sah und siegte - sich genau überlegt hat, was er da gesagt hat.
Meine Damen und Herren, am 27. September geht es um eine klare Entscheidung. Sie lautet: Soll in Zukunft Verläßlichkeit oder Wankelmut, Geradlinigkeit oder Irrlichterei in der Außenpolitik die Weichen stellen? Die Menschen in Deutschland haben - ich wiederhole das - zumindest große Sorge, wenn nicht gar Angst vor von Grünen mitbestimmter Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Ich bin sehr sicher, daß ich mich da nicht täusche.
({19})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Heidi Knake-Werner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Dramaturgie dieser Debatte ist ein bißchen eigenwillig. Deshalb, Herr Außenminister, werden Sie erlauben, daß sich unser Kollege Wolf nachher mit Ihnen beschäftigen wird.
Ich werde zur Innenpolitik zurückkommen, weil der Bundeskanzler - wie Sie - eben gesagt hat, daß es am 27. September einen Richtungsentscheid geben wird. Ich finde, da hat er ausnahmsweise einmal recht.
({0})
Am 27. September wird nämlich darüber entschieden, ob die von Bundeskanzler Kohl 16 Jahre lang verfolgte Richtung fortgesetzt wird oder die Chance für einen Richtungswechsel gewahrt bleibt. Bei der Bundestagswahl wird nämlich darüber entschieden, ob weiterhin Millionen von Menschen bis weit in das nächste Jahrhundert hinein ohne Arbeit sind, ob für Zehntausende von Jugendlichen der Einstieg ins Erwerbsleben einem Lotteriegewinn gleichkommt, ob bei Arbeitslosen, Kranken, Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Flüchtlingen weiterhin gnadenlos der Rotstift angesetzt wird und immer mehr Menschen in diesem Land von Armut und Obdachlosigkeit bedroht sind.
({1})
Ich sage Ihnen: Am 27. September wird auch noch über etwas anderes entschieden, nämlich darüber, ob die Gewinne der großen Unternehmen und die Vermögen der Reichen weiter wachsen
({2})
- ich finde, Herr Präsident, Sie könnten mir jetzt bei der ersten Reihe der SPD etwas Gehör verschaffen - oder ob sich die soziale Spaltung in diesem Lande vertieft. In Wahrheit nämlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sind Sie die Spalter dieser Gesellschaft und nicht wir.
({3})
Natürlich haben Sie mit Ihrer Politik auch Erfolge aufzuweisen; das ist unbestritten. Sie haben die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmen durch Deregulierung und Sozialabbau erfolgreich verbessert. Sie haben staatliche Unternehmen privatisiert, und Sie haben in der Tat der deutschen Exportwirtschaft in die Gewinnzone verholfen. Das Problem aber ist, daß diese Erfolge von dramatischen Folgeerscheinungen für die Mehrheit der Menschen begleitet werden.
Bei der Rentenreform, die der Bundeskanzler auf seiner Habenseite verbucht hat, hat er leider unterschlagen, daß die Rentenüberleitung allein den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern aufgehalst wurde, statt sie aus dem Steueraufkommen zu finanzieren. Das hat, wie Sie genau wissen, dramatische Folgen für die Leistungsfähigkeit des Sozialsystems. Es ist auch unredlich, die Renten von Männern und Frauen in Ostdeutschland einfach zu addieren und zu sagen, ihnen gehe es so gut. Nein, hier wird die Lebensleistung von zwei Menschen bewertet. Das könnten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
({4})
Sie hätten auch sagen sollen, was die Erhöhung des Rentenalters der Frauen für diese bedeutet. Was Sie damit erreicht haben, ist zutiefst unsozial, frauen und jugendfeindlich.
({5})
Entschuldigen Sie, Frau Kollegin.
Nun muß ich wirklich eingreifen, meine Herren. So geht es nicht. Wenn Sie Gespräche führen wollen, dann verlegen Sie diese bitte in den hinteren Teil des Raumes. - Herr Minister Rühe, das gilt auch für Sie.
Er hört gar nicht. Er merkt gar nicht, daß hier eine Debatte stattfindet.
Herr Bundesminister Rühe, soll ich Ihretwegen die Sitzung unterbrechen, oder kann es weitergehen?
Bitte fahren Sie fort, Frau Kollegin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Gewinne und Vermögenseinkommen heute den gleichen Steuersätzen unterlägen wie vor dem Regierungsantritt Kohls, dann hätte Minister Waigel jährlich 100 Milliarden DM mehr in seinen Kassen. Darauf haben Sie aber bewußt verzichtet, und deshalb sind die Kassen leer. Statt dessen streichen Sie soziale Leistungen, kürzen und bauen ab - und dies betrifft all die Menschen, die auf öffentliche Solidarität angewiesen sind. Statt die sozialen Sicherungssysteme armutsfest und leistungsfähig zu machen, singen Sie das Hohelied der privaten Vorsorge. Das ist zutiefst unsozial.
({0})
Darauf ist der Kollege Blüm, der hier für Arbeit und Soziales zuständig ist, auch noch stolz. Erst geDr. Heidi Knake-Werner
stern hat er die 98 Milliarden DM, die jährlich in seinem Bereich gespart werden, damit gerechtfertigt, daß er dies für die Beitragszahler, die abhängig Beschäftigten getan habe. Was haben die - darf ich Sie das einmal fragen - eigentlich davon gehabt? Haben Sie vielleicht deren Beitragssätze gesenkt? Nein, die sind so hoch wie nie zuvor. Obendrein haben Sie ihnen noch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekürzt und das Schlechtwettergeld gestrichen. Das ist die Bilanz Ihrer Politik. Profitiert haben allein die Unternehmen und sonst niemand. Das ist Klientelpolitik reinsten Wassers.
({1})
Bei einer Bilanz Kohlscher Politik stehen auf der einen Seite die Erfolge für die Bezieher von Gewinnen und Vermögenseinkommen und auf der anderen Seite eben der dramatische Abbau von Arbeitsplätzen und die höchsten Arbeitslosenzahlen seit Kriegsende, die zunehmende Verarmung. Knapp 3 Millionen Menschen sind in diesem Land von Sozialhilfe abhängig, in Ostdeutschland jedes fünfte Kind. Das ist in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik doch unglaublich.
Die wirtschaftliche Roßkur, mit der Sie in den neuen Ländern ganze Industrien plattgemacht haben, hat eben keine blühenden Landschaften hervorgebracht, sondern nur ein blühendes Geschäft für die westdeutschen Aufkäufer und eine Wirtschaftsstruktur, die so aussieht, daß auf 1000 Einwohner halb soviel Industriearbeitsplätze kommen wie in Spanien. Ist das nicht ein unglaublicher Skandal?
Da nehmen Ihnen die Menschen in Ostdeutschland einfach nicht mehr ab, daß der Aufschwung Ost für Sie oberste Priorität hat. Was hier passiert ist, ist nicht Weltklasse, das ist noch nicht einmal Kreisklasse.
({2})
Was haben Ihre Reformen für den Arbeitsmarkt tatsächlich bewirkt? Was hat die Auflockerung des Kündigungsschutzes gebracht? Gar nichts, nicht einmal im Handwerk. Im Gegenteil, dort sind Arbeitsplätze zu Hunderttausenden vernichtet worden. Und Rexrodt will den Kündigungsschutz, wie er heute in einem Interview verkündet, noch weiter auflockern.
Was hat die Änderung des Ladenschlußgesetzes gebracht? Nichts weiter als eine immense Zunahme von 620- und 520-DM-Jobs. Ich sage es noch einmal in aller Deutlichkeit: Das sind keine Jobs, die Zuverdienst bringen, sondern das sind für 3 Millionen Frauen die einzige Einnahmequelle. Deshalb wollen wir sie nicht streichen, aber wir wollen jede bezahlte Arbeitsstunde sozialversichern.
({3})
Der Obermegaflop in Ihrer Beschäftigungspolitik sind nun wirklich die Jobs in Privathaushalten. Sie haben mickerigste Ergebnisse erzielt. Aber dafür nehmen Sie einen Steuereinnahmeverlust von 300 Millionen DM hin. Das Bemerkenswerteste an dieser Initiative, die Sie gestartet haben, ist, daß manche Hausangestellten mehr Steuern zahlen als ihre Arbeitgeber.
Jetzt, kurz vor den Wahlen, greifen Sie zu einem Mittel, das Sie bisher immer als Rückfall in die Mottenkiste des Staatssozialismus denunziert haben. Sie pumpen Geld in den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor - sinnvoll und lange von uns gefordert. Aber daß Sie es jetzt tun, ist ein durchsichtiges wahltaktisches Manöver auf dem Rücken der Arbeitslosen. Das zeigt die Charakterlosigkeit Ihrer Politik.
({4})
Obendrein - weil das gestern von Minister Blüm immer wieder bemüht worden ist - ist genau das Wählerbetrug. Wir sind weit entfernt von einer Trendwende am Arbeitsmarkt. Auch das wissen Sie. Ihr Finanzplan drückt das deutlich aus.
Allein schon deshalb wird am 27. September eine Richtungsentscheidung getroffen werden müssen. Die Wählerinnen und Wähler wissen das. Ob damit allerdings ein Richtungswechsel verbunden sein wird, das wage ich noch ein bißchen zu bezweifeln. Ein Kanzlerkandidat, der nach seinem eigenen Bekenntnis wenig anders, aber alles besser machen will, will eben keinen Richtungswechsel, sondern in erster Linie an die Macht kommen, wogegen ich im Moment gar nichts habe.
Frau Kollegin, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
Aber jemand, der außerdem das wenige, was er anders machen will
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
- ich bin sofort fertig -, noch unter einen Finanzierungsvorbehalt stellt, drückt sich vor der Notwendigkeit, einen Richtungswechsel bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einzuleiten. Soziale Gerechtigkeit unter einem Finanzierungsvorbehalt ist eben keine soziale Gerechtigkeit. Deshalb brauchen wir nicht nur einen Regierungswechsel, sondern einen wirklichen Richtungswechsel in der Politik.
({0})
Dazu brauchen Sie die PDS. Die wird den nötigen Druck von links in diesem Parlament entfalten, zusammen mit den vielen, vielen Menschen außerhalb des Parlaments, die die Entwicklung mit Interesse verfolgen.
Danke.
({1})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Günter Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mich auf der Regierungsbank umschaue, dann kann ich nicht den Eindruck gewinnen, daß die internationale
Lage so ernst ist, wie sie der Bundeskanzler und auch der Bundesaußenminister heute dargestellt haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie es mit der Vorlage des Haushaltes so ernst gemeint haben; denn sonst würde es sie vielleicht interessieren, was das Parlament zu ihrem Haushalt zu sagen hat. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.
Ich verzichte darauf, den Bundesaußenminister herbeirufen zu lassen; aber ich stelle fest, daß er bei der Beratung seines Haushaltes nicht anwesend ist.
({0})
- Sie wissen, wie schwach das Argument ist, das Sie gerade gebraucht haben. Sie verdanken es wirklich nur meiner guten Laune, die ich nach der phantastischen Rede von Gerhard Schröder habe,
({1})
daß ich mich mit dem begnüge, was ich gesagt habe.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren in den Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik einen Konsens erreicht. Ich halte es für wichtig, auch heute daran zu erinnern, daß ein Land in der Lage Deutschlands einen solchen Konsens zwischen den großen demokratischen Kräften braucht.
({2})
Dafür muß man sich nicht entschuldigen, sondern man kann stolz darauf sein, daß man das erreicht hat.
Deshalb ist es auch wichtig - unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl, der für mich seit heute keine Frage mehr ist -, unsere Freunde und Nachbarn in der Welt darauf hinzuweisen, daß die Kontinuität in den Grundfragen und Prinzipien der deutschen Außenpolitik gesichert ist. Wir wissen, daß Deutschland ein Land ist, das wie kein anderes in der Welt auf das Vertrauen seiner Nachbarn und seiner Partner angewiesen ist. Es ist ein Land, das für alle, die mit ihm zu tun haben, zuverlässig und berechenbar sein muß. Deshalb ist es so wichtig, daß die Grundlagen unserer Außen- und Sicherheitspolitik klar sind. Es darf kein Zweifel daran aufkommen, welchen Kurs unser Land steuern wird.
Das heißt zunächst einmal: Deutschland will und muß zusammen mit seinen Freunden und Partnern der Motor der europäischen Einigung bleiben.
({3})
Europa ist und bleibt unser großes Thema. Es ist nicht vollendet. Ich sehe mit Besorgnis eine Diskussion, die sich in den letzten Monaten bei uns in Deutschland entwickelt hat und schon zu sehr vielen Irritationen bei unseren Freunden geführt hat, nämlich eine Diskussion darüber, was wir eigentlich bei dem, was wir in Europa einzahlen, herausbekommen, als wäre Europa ein Kassenautomat, in den man oben eine Geldmünze hineinwirft und aus dem man unten irgend etwas im selben Wert herauszieht.
Europa hat auch etwas mit Solidarität zwischen Staaten und Nationen zu tun.
Ich sage dies ganz gezielt an die Adresse der CSU, weil die Kollegen der CDU, die hier anwesend sind, davon ausgenommen sind. Sie wissen vielleicht auch gar nicht, was ihre Kolleginnen und Kollegen von der CSU an den Wochenenden in bayerischen Bierzelten erzählen. Ich weiß das, weil ich dort selbst meinen Wahlkreis habe und die bayerischen Heimatzeitungen lese. Was dort gesagt wird, zieht Ihnen wirklich die Schuhe aus. Sie müssen sich einmal ansehen, in welcher Tonart und mit welchen Forderungen die CSU an Europa herangeht.
Aber ich muß hier gar nicht an irgendwelche Bierzeltreden erinnern. Der bayerische Ministerpräsident höchstselbst benutzt ja das Thema Europa immer wieder, um am rechten Rand Stimmen zu fangen. Aber es ist ein gefährliches Unternehmen - meine Damen und Herren, ich muß Ihnen das wirklich sagen -, zum Beispiel an die Adresse Polens und Tschechiens Forderungen zu richten, die erfüllt sein müssen, bevor diese beiden Staaten Mitglied der Europäischen Union werden können, und zwar Forderungen, die nicht irgendwo im Kriterienkatalog der Europäischen Union stehen, sondern die die CSU allein entdeckt hat. Das ist unsolidarisch. Das ist uneuropäisch. Das schadet den Interessen unseres Landes und weckt Zweifel daran, ob diese Regierung es wirklich damit ernst meint, daß sie sich klar und entschlossen für die Osterweiterung der Europäischen Union einsetzen wird.
Ich bestätige ausdrücklich das, was der Bundeskanzler heute morgen dazu gesagt hat. Die Osterweiterung der Europäischen Union liegt ganz besonders in unserem Interesse, und zwar deshalb, weil wir wollen, daß sich politische Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft auf einen immer größeren Teil Europas ausdehnen können. Davon haben alle Seiten etwas, auch wir.
Es ist ganz richtig, was Herr Kinkel über Rußland gesagt hat - das gilt nämlich ganz allgemein -: Uns kann es auf Dauer nur gutgehen, wenn es auch unseren Nachbarn gutgeht. Das gilt für alle und ist - ganz nebenbei bemerkt - ein Satz aus dem Wahlprogramm der Solzialdemokratischen Partei.
({4})
- Es ist so.
Die zweite Feststellung, die getroffen werden muß, bezieht sich auf das Atlantische Bündnis. Die NATO ist die Institution in Europa, die langfristig unsere Sicherheit garantiert. Sie hat zusätzliche wichtige Aufgaben übernommen, zunächst Aufgaben politischer Natur. Wir verstehen die NATO-Osterweiterung in erster Linie als einen politischen Prozeß, in dem Stabilität exportiert wird. Wir sehen in der Zukunft keine Lage in Europa entstehen, die den klassischen Auftrag der NATO, nämlich Bündnisverteidigung gegen eine Aggression von außen, im Augenblick als aktuell erscheinen ließe. Aber unabhängig davon, ob dieser Auftrag aktuell ist oder nicht, sind die HandGünter Verheugen
lungsfähigkeit, die Stärke und der innere Zusammenhalt eines solchen Bündnisses ein Faktor der Stabilität in Europa, auf den wir nicht verzichten können. Unser deutsches Interesse ist also darauf gerichtet, dieses Bündnis handlungsfähig und kohärent zu erhalten, die Osterweiterung entsprechend den Beschlüssen von Madrid voranzubringen und die Politik der offenen Tür wirklich zu betreiben.
Der Bundeskanzler hat heute morgen historisch richtige Worte über die baltischen Staaten gesagt. Das war richtig; so etwas hat man selten von ihm gehört. Er hat aber nichts darüber gesagt, womit die baltischen Staaten eigentlich rechnen können, beispielsweise in bezug auf ihre Sicherheit und in bezug auf ihre Integration in den europäischen Kooperationsprozeß. Ich stelle es nur fest.
({5})
Der dritte Punkt, den wir festhalten müssen, betrifft die revolutionären und grundlegenden Veränderungen in Europa, die nach 1989/90 einen großen Transiormationsraum geschaffen haben, der sich sehr unterschiedlich entwickelt. Es hat keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen, daß es in diesem großen Transformationsraum Staaten gibt, die sehr schnell eine moderne demokratische und auch eine gute ökonomische Entwicklung durchlaufen, aber daß es auch andere Staaten gibt, bei denen der Prozeß sehr langsam verläuft und bei denen es sogar Rückschritte gibt.
Ich will nachher noch etwas zu Rußland sagen. Ich will nur daran erinnern, daß die ganze Dimension des Problems erst sichtbar wird, wenn man sich klarmacht, daß eine sozial explosive und katastrophale Lage nicht nur in Rußland, sondern beispielsweise auch in der Ukraine besteht und daß das ganze Risiko, das sich politisch daraus ergeben kann, erst erfaßt werden kann, wenn man beide Länder im Zusammenhang betrachtet.
Unser deutsches und europäisches Interesse kann und muß darauf gerichtet sein, die Transformationsprozesse in Osteuropa, in Südosteuropa und in Mitteleuropa mit allen unseren Möglichkeiten zu unterstützen. Hier tun wir eine Menge. Diese Unterstützung wird und muß fortgesetzt werden. Unsere deutsche Botschaft an diese Staaten kann nur lauten: Unsere gemeinsame Zukunft liegt in Europa. Wir wollen mit euch gemeinsam die Voraussetzungen dafür schaffen, daß alle, die es wollen und können, den Weg nach Europa finden.
Der letzte Punkt, den ich erwähnen will: Deutschland muß ein besonderes Interesse an starken und handlungsfähigen internationalen Institutionen haben. Wir müssen auch ein Interesse an einer erfolgreichen Reform der Vereinten Nationen und an erfolgreich arbeitenden internationalen Finanzinstitutionen haben. Inzwischen hat wohl ein jeder begriffen - andere haben es schon früher gesagt -, wie wichtig es geworden ist, daß diese Institutionen genutzt werden, um einen ungezügelten, ungehemmten, ungebremsten Kapitalismus im Weltmaßstab in einen Ordnungsrahmen zu bringen.
Genauso wenig wie wir in unserem eigenen Land Marktwirtschaft pur für verträglich halten - das tut noch nicht einmal die F.D.P. von heute -, genauso wenig können wir im Weltmaßstab allein die Marktkräfte für die Quelle des Fortschritts und der Dynamik halten. Diese Dynamik kann so enorm, so destruktiv sein - wie wir es in Lateinamerika, in Südostasien und eben auch in Rußland erleben - daß einem vernünftigen Menschen klar sein muß: Hier muß ein vereinbarter Rahmen her, der nicht nur soziale und ökologische Mindeststandards schafft, sondern zum Beispiel schwache Volkswirtschaften auch davor bewahrt, von Finanzmanipulationen und -spekulationen einzelner Spekulanten oder Konzerne bis ins Mark getroffen zu werden.
Vor uns liegt eine Reihe von wichtigen Aufgaben, auf die in der Rede des Herrn Außenministers hingewiesen worden ist. Davon ist die EU-Präsidentschaft ganz gewiß die wichtigste. Wir sollten heute nicht das Programm für die deutsche EU-Präsidentschaft verkünden. Es wäre klug und auch nur fair, die Ergebnisse der österreichischen Präsidentschaft abzuwarten. Ich habe übrigens großes Vertrauen in diese Präsidentschaft, daß sie die Lösung der schwierigen Fragen, die zur Zeit in Europa behandelt werden, ein gutes Stück vorantreiben wird.
Was wir aber heute schon ungefähr erkennen können, ist, daß wir unter der deutschen Präsidentschaft die Osterweiterung voranbringen und die sehr schwierige Frage der EU-Finanzen regeln müssen. Ich will hier sehr deutlich sagen, daß die Position der jetzigen Bundesregierung dazu in sich völlig widersprüchlich ist. Man kann nicht einerseits sagen: Wir wollen weniger bezahlen, wir wollen mehr bekommen, und andererseits: Die Osterweiterung darf nichts kosten, und die Agrarpolitik darf nicht reformiert werden. Das paßt in überhaupt keiner Weise zusammen.
({6})
Unsere Partner in Europa - das wissen Sie, Herr Hoyer, sehr gut - sind inzwischen ein wenig ratlos, was sie eigentlich mit der derzeitigen deutschen Europapolitik anfangen sollen.
Nach unserer Meinung werden die institutionellen Reformen unter der deutschen Präsidentschaft nicht zum Abschluß gebracht werden können. Die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Partner sind so stark, daß wir uns hier ruhig etwas Zeit lassen sollten. Die Fragen sind auch schwierig: Mehrheitsentscheidungen, Zusammensetzung der Kommission, Rolle des Parlamentes. Hierbei kommt es auf Gründlichkeit und nicht darauf an, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig zu haben. Es muß in dem Augenblick fertig sein, in dem die ersten Mitglieder aus Mitteleuropa und aus Osteuropa in die Europäische Union eintreten, wenn die Erweiterung also faktisch vollzogen wird. Dann müssen wir diese Fragen geregelt haben. Es kann aber nicht schaden, schon mit der Diskussion zu beginnen.
Ich bin leider davon überzeugt, daß sich die deutsche Präsidentschaft auch mit den großen außenpolitischen und internationalen Krisen, mit denen wir
konfrontiert sind, wird befassen müssen. Sie sind heute alle schon genannt worden. Ich will dazu einige Bemerkungen machen.
Ich fange mit Rußland an. Was Rußland angeht, haben wir als Deutsche in der Tat Anlaß zu ernster Besorgnis. Wir müssen dabei aber erkennen, daß unsere Möglichkeiten, die Prozesse, die jetzt in Rußland ablaufen, von außen positiv zu beeinflussen, sehr gering sind. Ich glaube allerdings, daß es umgekehrt durchaus möglich ist, die Prozesse in Rußland negativ zu beeinflussen. Wenn tatsächlich noch irgend jemand in diesem Haus die Wahnsinnsidee verfolgen sollte, das Thema „Angst vor den Russen" dazu benutzen zu wollen, eine bestimmte Wahlkampfsituation zu ändern oder herzustellen, kann man dem nur sagen, daß er nicht nur national, sondern auch international unverantwortlich handelt.
({7})
Das würde Auswirkungen in Rußland haben. Es würde genau zu dem führen, was wir vermeiden müssen, nämlich daß die reformbereiten Kräfte, die demokratischen Kräfte in Rußland das Vertrauen in uns verlieren. Es kommt jetzt aber darauf an, daß dieses Vertrauen bestehenbleibt.
Wir sollten unseren russischen Partnern sagen, daß wir von ihnen erwarten, daß sie über ihren Weg selbst entscheiden, daß es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, daß dies ein Weg ist, der die demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Reformen in einer Weise fortsetzt, daß die soziale Balance des Landes wiederhergestellt wird. Das wird sehr schwierig sein. Wenn das geschehen ist und wenn wir wissen, wer unsere künftigen Partner in Rußland sein werden, dann - aber erst dann - werden wir darüber zu reden haben, was wir und andere konkret tun können, um diesen Weg erfolgreich zu machen.
Wir haben auch Anlaß, uns ein paar ernste Fragen zu stellen. Wir haben Anlaß, uns zum Beispiel die Frage zu stellen, ob Rußland richtig beraten worden ist. Es hat eine Menge Leute gegeben, die die BigBang-Theorie für sehr waghalsig gehalten haben. Daß man eine zentralistische Planwirtschaft sozusagen mit einem großen Knall in eine Marktwirtschaft verwandeln kann, das haben viele nicht geglaubt, auch ich nicht. Ich kann Russen verstehen, die heute sagen: Das, was der Westen uns geraten hat, hat letztlich nur dem Westen selbst genützt.
Wo ist das Geld geblieben, das aus dem Westen, auch von uns, in großem Umfang nach Rußland geflossen ist? Es ist nicht im Land geblieben, um dort die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Wir sollten da durchaus auch etwas selbstkritisch sein und uns fragen, ob künftige Hilfe für Rußland nicht besser geplant werden kann, nicht effektiver eingesetzt werden kann und ob nicht auch eine wirkliche Erfolgskontrolle durchgeführt werden kann.
({8})
Daß wir Rußland nicht allein lassen dürfen, daß wir es in dieser Situation nicht hängenlassen dürfen, das ist so klar wie nur etwas. Das würde nämlich vollkommen gegen unsere eigenen Interessen verstoßen. Daß wir keiner Entwicklung Vorschub leisten dürfen, die den in Rußland auf beiden Seiten - leider - vorhandenen Trend zu autoritären Systemen verstärkt, das sollte uns allen klar sein.
Ich glaube nicht daran - um das hier ganz klar zu sagen -, daß wir besser dran wären mit einem Rußland, das von einem autoritären System beherrscht wird, welcher Art auch immer. Denn wir sollten aus der europäischen Geschichte in diesem Jahrhundert gelernt haben, daß Diktaturen und autoritäre Systeme, die ja nur existieren können, weil sie die Menschen unterdrücken, auf Dauer keine wirkliche Stabilität erzeugen, wie der Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt deutlich gezeigt hat.
Meine Damen und Herren, ein Wort zum Kosovo. Wenn Herr Kinkel jetzt hier wäre, müßte ich ihn warnen. Er hat heute wieder einmal sehr starke Worte gebraucht. Ich habe von ihm noch im Ohr: Wir werden dort kein zweites Bosnien entstehen lassen. Ich habe von ihm noch im Ohr: Man muß so etwas am Anfang stoppen. Jetzt sagt er: Wir werden eine humanitäre Katastrophe nicht hinnehmen. Die humanitäre Katastrophe steht aber bevor. Wenn es nicht gelingt, interne Flüchtlinge vor dem Winter in ihre Dörfer zurückzubringen und sie dort zu versorgen, dann wird die Fluchtbewegung aus dem Kosovo heraus einen viel größeren Umfang haben als jetzt.
Es ist vollkommen klar: Das Zielland dieser Fluchtbewegung wird Deutschland sein; daran gibt es gar keinen Zweifel. 400 000 Albaner leben bei uns. Fast jeder, der im Kosovo lebt, wird in Deutschland Bekannte oder Verwandte haben. Es ist ein ganz natürliches Verhalten, zu sagen: Dann gehe ich dahin. Die deutsche Kosovo-Politik kann aber nicht bestimmt sein von der Furcht, es könnten neue Flüchtlinge kommen, sondern die deutsche Kosovo-Politik muß bestimmt sein von dem Versuch, eine tragfähige und dauerhafte politische Lösung zu finden. Ich fürchte, daß wir davon sehr, sehr weit entfernt sind.
Ich sehe auch große Widersprüche innerhalb der Regierung. Der Bundesverteidigungsminister spricht davon, daß eine glaubwürdige militärische Bedrohung besteht und daß man notfalls auch ohne Mandat gezielte Luftschläge vornehmen muß. Der Bundesaußenminister schließt das ausdrücklich aus und kann sich nach einer entsprechenden Vereinbarung eine SFOR-ähnliche Operation vorstellen.
In der Mandatsfrage ist der Streit zwischen diesen beiden Ministern nur notdürftig kaschiert. Der Verteidigungsminister sagt, daß die Krise auf Albanien und Mazedonien übergreifen wird. Der Außenminister sagt, daß das nicht geschehen wird. - Herr Hoyer guckt mich erstaunt an. Herr Kinkel ist nicht auf Straßen und Plätzen unterwegs, sondern war in der letzten Woche in bayerischen Redaktionsstuben. Da muß man nicht die Sorge haben, es kämen keine Leute; das verstehe ich also. Da gibt er Interviews, die man hinterher lesen kann. Selbst wenn es das „Selber Tagblatt" ist: Wir lesen es. Darin steht wörtlich: „Kinkel: Das wird nicht geschehen." Das schließt er aus. Die Bundesregierung ist sich also weGünter Verheugen
der in der Analyse noch in dem einig, was geschehen soll, noch hat die Bundesregierung es bisher vermocht, uns zu sagen, wie das politische Lösungskonzept aussieht.
Ich glaube, daß wir hier nach dem 27. September keine Weltklasseleistung übernehmen werden. Vielmehr muß einiges aufgeräumt und in Ordnung gebracht werden.
Auch hier ist wieder die Mitwirkung Rußlands der entscheidende Punkt. Darauf hat auch der Bundeskanzler heute mit Recht hingewiesen. Wir müssen dafür sorgen, daß Rußland vollständig und seiner Bedeutung entsprechend in diese Prozesse einbezogen ist. Ob die russischen Klagen darüber, daß das nicht geschieht, berechtigt sind oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Wir sind bei diesen Verhandlungen nicht dabei. Aber die russischen Klagen sind da, daß sie immer erst nachträglich informiert werden und nicht gleichberechtigt am Verhandlungsprozeß teilnehmen. Das halte ich für einen Fehler. Denn irgendwann kann und wird der Zeitpunkt kommen, wo man auf das russische Verhalten angewiesen ist. Wenn die Signale stimmen, die heute aus Moskau kamen, haben wir eine gewisse Hoffnung, daß sich nun doch etwas bewegen wird.
Die Kosovo-Krise ist Teil der Balkankonflikte insgesamt. Es bestehen Rückwirkungen und Zusammenhänge. Deshalb zum Schluß noch ein Wort zu Bosnien. Ich wiederhole hier, was ich schon mehrfach gesagt habe: Der militärische Schutz des politischen Prozesses, um den es eigentlich geht, funktioniert. Das ist eine beachtliche Leistung. Die Bundeswehr hat damit sehr viel getan, um einen sich selbst tragenden Friedens- und Demokratisierungsprozeß in Bosnien-Herzegowina möglich zu machen. Die Bundeswehr erledigt die Aufgabe in einer, wie ich finde, vorbildlichen Weise, die dem Ansehen unseres Landes sehr nützt, und verdient Dank dafür.
({9})
Dank verdienen auch die vielen Helfer von Freiwilligenorganisationen, von Hilfsorganisationen und unsere Mitarbeiter in den internationalen Institutionen, die unter den nicht ganz einfachen Bedingungen dort in Bosnien leben und arbeiten.
Aber die politischen Prozesse, um die es eigentlich geht, kommen nur sehr langsam voran. Ich muß Ihnen leider sagen, daß sich, von der deutschen Öffentlichkeit unbeachtet, die Entwicklung im serbischen Landesteil, in der Republika Srpska, deutlich verschlechtert hat und wir keineswegs damit rechnen können, jedenfalls nicht sicher sein dürfen, daß bei den Wahlen in zehn Tagen die gemäßigten Kräfte dort die Macht behalten werden. Es besteht in der Republika Srpska die Gefahr eines nationalistischen Rückschlags auf Grund der sehr schwierigen sozialen und ökonomischen Lage für die Menschen dort, die nicht schnell genug Erfolge gesehen haben.
Das bedeutet - an die Adresse des Bundesinnenministers, der ja hier ist -, daß Sie keine Chance haben werden, die Flüchtlingsrückkehr in die Republika Srpska zu betreiben. Die Bedingungen fehlen. Zu diesem Thema muß ich Sie fragen, Herr Staatsminister, ob es wirklich eine kluge deutsche Politik ist, wenn sich der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister hier mit ungewöhnlich starken und undiplomatischen Worten eine amerikanische Besorgnis verbitten. Die amerikanische Besorgnis hinsichtlich der Flüchtlingsrückkehr aus Deutschland nach Bosnien ist keine Kritik im Prinzip. Die Amerikaner sagen nicht: Ihr dürft das nicht tun. Vielmehr lautet die amerikanische Kritik: Ihr tut das zu forciert und an manchen Stellen zu massiert, und das führt in dem sehr schwierigen politischen Prozeß vor den Wahlen dort zu ethnischen Spannungen, die dazu führen können, daß nicht die demokratischen Kräfte gewinnen und der nationalistische Rückschlag kommt.
({10})
- Ich weiß nicht, ob das lächerlich ist. Jedenfalls hat Ihre Regierung bei der OSZE in Sarajevo einen Bericht über die Auswirkungen der deutschen Flüchtlingsrückkehr nach Bosnien angefordert. Dieser Bericht der OSZE ist abgegeben worden, und er enthält die Warnung, auf die sich die amerikanische Regierung bezieht. Sie selbst haben ihn angefordert. Daß Sie diesen Bericht dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis gegeben haben, hat ja mit Wahlkampfgesichtspunkten zu tun. Das weiß ich. Aber tun Sie bitte nicht so, als wüßten Sie nicht, daß diese amerikanischen Hinweise eine sachliche Begründung in einem Bericht haben, den die OSZE auf Anforderung der deutschen Bundesregierung angefertigt hat.
({11})
Legen Sie den Bericht hier vor, dann können Sie sagen, ob die Sache richtig ist oder falsch.
Wir haben in Washington bei den Gesprächen mit der amerikanischen Regierung den deutschen Standpunkt ganz klar und entschieden vertreten und gesagt: Wir können das nicht, was sich die Amerikaner vorstellen, nämlich jetzt einfach den Prozeß der Rückkehr stoppen. Aber wir können bei der Rückkehr darauf achten, daß sie nicht mehr Probleme schafft als löst. Genau das ist ja der Punkt.
Die Amerikaner sind bereit, obwohl sie, wenn ich die Geographie richtig im Kopf habe, an diesen Teil Europas nicht direkt angrenzen, Milliarden von Dollars und Tausende von Soldaten zur Sicherheit dieser Region zur Verfügung zu stellen. Ich denke, die amerikanische Regierung hat sehr wohl ein Recht, der deutschen Regierung zu sagen, wenn sie an einer Stelle Besorgnis hat. Die Reaktion des Kanzlers und des Außenminister „Wir lassen uns da von niemandem belehren" ist unangemessen, gerade angesichts dessen, was die USA in Bosnien tun und was eigentlich die Europäer tun müßten, wie jeder weiß. Das möchte ich Ihnen doch sehr deutlich gesagt haben.
Wir können die Rückkehr der Flüchtlinge nach Bosnien, die wir ja gemeinsam wollen, nur sicherstellen, wenn die politischen Verhältnisse so sind, daß die Menschen für sich selbst in eine sichere Umgebung zurückkehren können, daß ihre persönliche Sicherheit garantiert ist und daß die Menschen auch
sozial, ökonomisch und kulturell wieder integriert werden. Aber genau das geschieht im Augenblick nicht. Da ist noch sehr viel Arbeit zu leisten.
Ich sage Ihnen noch einmal: Sie können in bezug auf die Flüchtlingsrückkehr alles vergessen, und Sie kriegen ganz schnell wieder eine offene Konfliktsituation in Bosnien-Herzegowina, wenn die nationalistischen Kräfte in diesem Land die Macht entweder behalten oder dort, wo sie sie bereits verloren hatten, wiedergewinnen können.
Meine Damen und Herren, Kosovo, Bosnien, Rußland, Ukraine, Ostasien - über Afrika habe ich noch gar nicht gesprochen; wie immer kommt Afrika etwas zu kurz bei uns -: Wir haben es mit einem beachtlichen internationalen Krisenszenario zu tun, das unsere Aufmerksamkeit in der nächsten Legislaturperiode des Bundestages voll in Anspruch nehmen wird und bei dem es nur gut sein kann, wenn wir uns zu Beginn der nächsten oder am Ende dieser Legislaturperiode noch einmal vergewissern, was deutsche Interessen, was deutsche Ziele und was die Prinzipien unserer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam tragen können, sind.
Schönen Dank.
({12})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! US-Präsident George Bush formulierte im Jahre 1990: „We create a new world order" . Diese neue Weltordnung war natürlich umfassend gemeint - als eine Art Weltphilosophie. Diese Philosophie des Neuen und Besseren verbreitete die Bundesregierung damals, und sie verbreitet sie heute wieder mit diesem Haushalt. Wird also heute über die Außenpolitik im umfassenden Sinn debattiert, dann ist auch über diese Philosophie zu diskutieren.
Nun war die vorausgegangene bipolare Weltordnung zweifellos kein Glückszustand der Menschheit. Es gab kalten Krieg im Westen, und es gab mehrere Angriffskriege des Westens - zum Beispiel in Kuba, Nicaragua und Vietnam, aber auch einen solchen der Sowjetunion in Afghanistan.
Doch die neue Weltordnung von heute ist ähnlich abschreckend. Nicht zufällig sagte George Bush den zitierten Satz am Beginn des neuen Golfkrieges. Diese neue „world order" ist gekennzeichnet von Chaos, Krieg und Unfrieden. Dafür trägt diese Bundesregierung in erheblichem Maß Verantwortung, vor allem die Herren Kohl, Kinkel und Rühe. Ich möchte dies an drei Beispielen verdeutlichen.
Erster Fall: deutsch-polnische Beziehungen. In diesem Sommer wurden diese für unser Land wichtigen Beziehungen in eine extreme Belastungsprobe geschickt. Dieses Parlament verabschiedete im Mai - unter anderem gegen unsere Stimmen - eine Resolution. Danach soll mit der EU-Osterweiterung insbesondere das Recht der aus Polen Vertriebenen und vor allem von deren Nachkommen auf „Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit" in Polen gewährleistet werden. Dies wurde zumindest indirekt an die Frage geknüpft, ob Polen überhaupt in die EU kommt. Die Bundesberufsvertriebene, Frau Steinbach, goß noch weiteres Öl ins Feuer und forderte, Polen müsse die Vertriebenen international entschädigen.
Das alles ging dann selbst unserem Außenminister zu weit. Die Bundestagspräsidentin, Frau Dr. Süssmuth, flog eigens nach Polen, um auf absolut berechtigte, heftige Reaktionen des polnischen Parlaments zu reagieren. In der Sache allerdings halten Sie von der Regierung bis heute daran fest, es gebe noch offene Fragen im Osten, die polnische Westgrenze sei keineswegs eine Grenze wie andere, die absolut sicher sei; vor allem die Gebiete, in denen vor mehr als 50 Jahren auch Deutsche siedelten, könnten über den Hebel EU wieder deutsch besiedelt werden.
Das ist für uns eine Politik des Unfriedens. Damit werden von Ihnen bewußt die Vorgeschichte der Vertreibung und damit Angriffskrieg und Völkermord, Herr Lummer, unter den Tisch gekehrt oder relativiert. Die PDS sagt nein zu diesem neuen Revanchismus über den Umweg Europäische Union.
Beispiel 2: Rüstung und Krieg. Kanzler Kohl sagte in seiner Rede, noch nie habe es auf deutschem Boden weniger Soldaten und Waffen gegeben. Das ist Unfug, Herr Dr. Historiker. Natürlich war die Wehrmacht vor 1933/34 viel schwächer, und es gab in diesem damals größeren Deutschland weit weniger Waffen als heute.
Was aber weitaus wichtiger ist: Der Verteidigungsetat steigt mit dem Haushalt 1999 nicht nur zum zweitenmal an. Vor allem werden auch allerorten Waffen beschafft, die die Bundeswehr angriffsfähig machen sollen. Das ist der gemeinsame Nenner von Eurofighter - jetzt „Taifun" genannt -, neuem Hubschrauber und Großraumflugzeug „Future Large Aircraft" : Sie alle machen diese Armee zum Angriffskrieg fähig.
Wieder sattelt die CSU eins drauf: Pünktlich zur Wahl kommt der Spatenstich zum Bau des Forschungsreaktors München II. Damit wird, gegen alle internationalen Proteste in Ost und West, in einem deutschen Reaktor atombombenfähiges Uran gebrütet.
Herr Gerhardt fragte in seiner Rede eine andere Partei, wie sie es denn mit den Krisenreaktionskräften halte. Herr Fischer versuchte dabei, sich ins Aktenstudium zu vertiefen. Wir von der PDS antworten darauf, wie die Grünen und wie Sie, Herr Fischer, vor vier Jahren geantwortet haben: Weg damit!
({0})
Wir fordern, daß radikal abgerüstet wird, daß gerade die Sondereinheiten für Auslandseinsätze verschwinden und daß im Rüstungsbereich frei werdendes Geld zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit und, Herr
Fischer, zum ökologischen Umbau der Gesellschaft verwandt wird.
({1})
Beispiel 3: Weltwirtschaft und Rußlandkrise. Mit „ We create a new world order" war auch gemeint, dieser neue globale Kapitalismus bringe Wohlstand, Ordnung und Abbau von Erwerbslosigkeit. Auch das erwies sich - absehbar - als Schimäre. Seither mußten wir einen weiteren Anstieg der Erwerbslosenzahlen im Westen und der dritten Welt sowie einen Anstieg der Auslandsschulden der Länder der dritten Welt feststellen.
Seit Herbst 1997 haben wir die Asienkrise. Heute in der Debatte leugnet jeder auf den Regierungs und anderen Bänken, je nach Asien gewiesen zu haben. Tatsächlich haben Sie dies getan, mit leuchtenden Augen und glänzenden Bilanzen. Wiederum Herr Fischer von den Bündnisgrünen belehrt uns heute, diese Krise sei ausgebrochen, weil dort nicht genügend Freiheit geherrscht habe, weil es keine Gewährleistung der Menschenrechte und weil es zuviel Dirigismus gegeben habe.
Umgekehrt paßt der Schuh. Je freier die Märkte, desto größer das Chaos, desto brutaler das Gesetz des Dschungels. Denn diese Krise erfaßt nicht nur das diktatorisch regierte Indonesien - es gibt sie auch in Mexiko. Das Chaos regiert nicht nur im autokratisch regierten Malaysia -: es herrscht auch in Brasilien und vor allem auch in Japan.
Dieser Tage haben wir nun die Rußlandkrise: freier Fall des Rubels, freier Fall von Jelzin. Eine Mischung von Mafiaökonomie, Manchesterkapitalismus und Vetternwirtschaft tut sich auf. Wieder wird dies zum Fall für Clinton, zum Fall für Kohl. Der erste fliegt hin, der zweite telefoniert.
Bill Clinton hat sich gerade vor einem Gericht über eine sogenannte „unangemessene Beziehung" im Detail ausgelassen. Erfreulicherweise ist die Politik in diesem Land noch nicht auf das Niveau solcher oraler Konfessionen gesunken.
({2})
Dabei finde ich etwas ganz anderes als die bigotte US-amerikanische Medienöffentlichkeit obszön. Ich finde die Gemeinsamkeit, die Clinton, Jelzin und Kohl verbindet, obszön.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Alle drei verbindet das machiavellistische Prinzip: Machterhalt um jeden Preis. Kohl und Clinton halten an Jelzin fest, weil sie sich einen Teufel um demokratische Rechte scheren und die Interessen ihrer Banken verteidigen.
Ich glaube, das Verfallsdatum von Herrn Kohl kann deutlicher festgemacht werden als das von Jelzin. Es lautet: 27. September dieses Jahres.
({0})
Danke schön.
({1})
Ich möchte auf die Geschäftslage aufmerksam machen. Es folgt jetzt noch der Themenbereich Haushalt des Bundesministers des Innern und des Bundesministers der Justiz. Dafür waren interfraktionell anderthalb Stunden vorgesehen. Ich nehme an, daß das die Höchststrafe
({0})
- die Höchstzeit, meine ich - ist, die wir verabredet haben. Ich möchte vor allen Dingen darauf aufmerksam machen, daß im Anschluß daran eine Reihe von Abstimmungen stattfinden, und zwar auch zu Vorlagen des Petitionsausschusses. - Bitte, Herr Kollege Hörster.
({1})
- Vor der Debatte zur inneren Sicherheit?
({2})
- Das ist eine aparte Wendung. Aber ich bin einverstanden.
Es ist also vereinbart worden, über 13 Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses abzustimmen, und zwar ohne Aussprache. Ist das Haus mit dieser Erweiterung der Tagesordnung einverstanden, von der wir hören, daß sie während der Haushaltsberatung stattfinden soll? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Dann rufe ich die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 5 bis 17 auf.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 382 zu Petitionen
- Drucksache 13/11390 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 383 zu Petitionen
- Drucksache 13/11391 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Sammelübersicht mit demselben Stimmenverhältnis wie soeben angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 384 zu Petitionen
- Drucksache 13/11392 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition, der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 385 zu Petitionen
- Drucksache 13/11393 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 386 zu Petitionen
- Drucksache 13/11394 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 387 zu Petitionen
- Drucksache 13/11395 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 388 zu Petitionen
- Drucksache 13/11400 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 389 zu Petitionen
- Drucksache 13/11396 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 390 zu Petitionen
- Drucksache 13/11397 Wer der Sammelübersicht zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Sammelübersicht mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 391
- Drucksache 13/11401 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS, Drucksache 13/11410, vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Gruppe der PDS zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses in der ursprünglichen Fassung. Wer ihr zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 393
- Drucksache 13/11 403 Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 394
- Drucksache 13/11404 Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß sie mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 396
- Drucksache 13/11 406 Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß sie mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Dann kehren wir zur Beratung des Haushaltes des Bundesministers des Innern und des Bundesministers der Justiz zurück. Wir hatten anderthalb Stunden vereinbart.
Ich gebe das Wort dem Bundesminister des Innern, Manfred Kanther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die innere Sicherheit und ihre Verbesserung, der Kampf gegen Straftäter und Verbrechen ist eine der Hauptaufgaben der Innenpolitik in dieser Legislaturperiode für die Koalition gewesen und wird es auch in Zukunft bleiben. Wir haben ein enormes gesetzgeberisches Pensum erledigt,
({0})
mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz, mit dem Gesetz gegen Korruption und Bestechlichkeit, mit der Verschärfung der Strafbarkeit von Sexualstraftaten, mit der Verschärfung des Ausländerrechts gegen schwerkriminelle Ausländer, mit Gesetzen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität - Geldwäschebekämpfung -, mit der endlich erfolgten Schaffung der notwendigen rechtlichen Voraussetzungen
für das Abhören von Gangsterwohnungen und vieles mehr.
Wir haben aber mehr getan. Wir haben unsere vollziehenden Aufgaben genauso wahrgenommen. Wir haben die große BGS-Reform zustande gebracht, mit der unsere Grenzpolizei von der vormaligen Zonengrenze zu ihren neuen wichtigen Aufgaben an die Außengrenze gebracht worden ist. Wir haben die Gen-Datei nach vorangegangener Änderung der Strafprozeßordnung geschaffen, um für Wiederholungstäter das Risiko, besonders für jene besonders widerwärtige Gruppe von Gewalttaten oder Mord die sich gegen Frauen und Kinder richten, zu steigern. Wieder war bemerkenswert, wie viele linke Bedenkenträger durch die Republik gewandelt sind und meinten, aus Gründen des Datenschutzes gehe das alles gar nicht. Es geht! Wir haben diese Möglichkeit anschließend im Bundestag durch ein Zusatzgesetz noch erweitert - von wegen Bedenken.
Wir haben die Bundespolizei aufgestockt, und das in Zeiten finanzieller Engpässe bei allen öffentlichen Kassen. Es lohnt sich schon ein Blick darauf und eine Überlegung dazu, wie die Politik in Deutschland in Sicherheitsfragen weitergehen soll. Über 3 000 Stellen sind beim Bundesgrenzschutz dazugekommen, um unsere Grenzsicherheit gegen Kriminalität und illegalen Zuzug zu stärken. Diejenigen Länder, die von der CDU, der CSU oder einer Koalition von CDU und F.D.P. regiert werden - Sachsen, Bayern, BadenWürttemberg - haben gleichfalls über 3 000 neue Polizeistellen geschaffen. Die fünf sozialdemokratisch regierten Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg, Hessen und Saarland haben in den gleichen fünf Jahren 1 083 Polizeistellen gestrichen. Herr Schröder, der vor der Hamburger Bürgerschaftswahl, auch jetzt wieder und immer dann, wenn es ihm passend erscheint, die größten Sprüche in bezug auf innere Sicherheit klopft, hat seit 1992, in sechs Jahren, 642 Planstellen bei der Polizei gestrichen.
({1})
Mehr Sicherheit mit weniger Polizei - ein sonderbares Rezept.
Dem entsprechen allerdings - das wird uns auch in Zukunft begleiten - die Unterschiede bei den Sicherheitsdaten zwischen Nord- und Süddeutschland. Wie erklärt sich denn, daß in Bayern 64 Prozent und in Niedersachsen 48 Prozent aller Straftaten aufgeklärt werden? Wer kann denn erklären, warum in Bayern und Baden-Württemberg knapp 6 000 Straftaten auf 100 000 Einwohner kommen, in Niedersachsen 7 400 und in Schleswig-Holstein, das ja im Verhältnis zu anderen Ballungsgebieten von Urbanität nur so strotzt, 9 000 Straftaten -50 Prozent mehr als in Bayern. Das hat doch vor allem etwas mit dem Aspekt der Prävention zu tun. Nichts ist doch ein wirksameres Zeichen für gelungene Vorbeugung, als daß die Zahl der Straftaten auf einem einigermaßen niedrigen Level gehalten wird. Niedersachsen steht in bezug auf die sogenannte Polizeidichte, also bei der Anzahl der Polizeibeamten pro Kopf der BevölkeBundesminister Manfred Kanther
rung, auf dem 16. Platz im Vergleich der Bundesländer, also auf dem allerletzten.
({2})
Immer dann, wenn Sicherheitsfragen vor Wahlen, insbesondere bei demoskopischen Umfragen, eine Rolle spielen, tauchen Sozialdemokraten auf und rufen sie als ihr Anliegen aus.
({3})
Aber die vier Jahre dazwischen tun sie nichts dafür. Nun stellen wir uns vor, daß diese Grundhaltung in die Bundespolitik einginge.
({4})
- Nein, nicht Untergang des Abendlandes, Herr Fischer, sondern Verschlechterung der inneren Sicherheit durch grüne und rote Politik. Das wäre die Perspektive.
({5})
Diese Perspektive wollen wir nicht. Was will man denn mit einer SPD anfangen, die alle wichtigen Entscheidungen verzögert oder, wenn sie sich schließlich durchringt, mit der Hälfte der Truppe vollzieht? Bei dem wichtigen Änderungsgesetz zum Asylrecht, das Sie fünf Jahre lang verzögert haben - daraus resultierte ein Zuzug von über 1 Million Menschen, unter dem wir jetzt leiden -, hat die Hälfte plus sechs der Abgeordneten Ihrer Fraktion zugestimmt. In der Frage des Abhörens von Gangsterwohnungen haben Sie die Hälfte minus einen Abgeordneten aus Ihrer Fraktion bewegen können, mit uns zu stimmen und die notwendige Verfassungsänderung herbeizuführen.
({6})
Was machen Sie eigentlich in einer rotgrünen Regierung, die Sie dem deutschen Volk anbieten, wenn Sie immer nur die halbe Truppe in wichtigen Fragen hinter sich haben
({7})
und die Grünen in Sicherheitsfragen Allesverweigerer sind? Die Grünen haben gegen jedes dieser wichtigen Sicherheitsgesetze gestimmt. Ihr Programm ist eine einzige Absage an eine entschlossene Sicherheitspolitik.
({8})
Es enthält eine Absage an das neue Asylrecht, das Sie kippen wollen, an die Abschiebehaft und an die Rückführungsabkommen, das Verlangen nach Abschaffung der Höchststrafe für Mord und viele andere Beiträge.
Wenn Sie sich dann in einer Reihe von Fällen endlich durchgerungen haben, mit uns zu stimmen - auch das hat es ja gegeben -, dann haben Sie im Bundesrat das Gezappel weitergeführt. In der Regel haben sich dann die grün-rot regierten Länder der Stimme enthalten. Wie wollen Sie denn Deutschland regieren, wenn Sie sich in sicherheitspolitischen Fragen der Stimme enthalten oder gespalten antreten? Es gibt keinen Konsens in der SPD über die Sicherheitspolitik.
({9})
Auf der anderen Seite ist das Abstimmungsverhalten in der Unionsfraktion stets einmütig. Dieser Unterschied ist für die Sicherheit in unserem Land schon sehr wesentlich.
({10})
Die Aufgabe besteht ja darin, die Zahl der Straftaten weiter zu vermindern. Wir haben Erfolge erzielt. Die Zahl der Straftaten ist schon im zweiten Jahr hintereinander gesunken, und die Aufklärungsquote ist gestiegen.
({11})
Aber natürlich ist ein Level von 6,5 Millionen Straftaten bei weitem zu hoch. Damit kann man nicht zufrieden sein. Es wird auch zukünftig eine strikte Sicherheitspolitik erforderlich sein. Diese Politik werden wir sowohl im Bereich des Bundes als auch hinsichtlich der Notwendigkeit, die Länder - insbesondere die sozialdemokratisch regierten Länder - zu der gleichen Politik zu bewegen, in der nächsten Legislaturperiode fortführen. In den sozialdemokratisch regierten Ländern Norddeutschlands süddeutsche Sicherheitsergebnisse zu erreichen muß ein erstes wichtiges Ziel der Kriminalitätsbekämpfung sein.
({12})
Im Rahmen dieser Politik haben wir noch ein anderes Feld bestellt. Wenn man das nicht tut, kann man in unserer Zeit keinen Erfolg mehr haben. Wir haben das Instrumentarium der internationalen Maßnahmen gestärkt, die über unsere Grenzen hinweg im Kampf gegen die internationale Kriminalität wirken: Schaffung und gesetzliche Verankerung von Europol, Schaffung des Schengener Außengrenzsystems, des wirksamsten Grenzsicherungssystems der Welt, Abschluß von Rückführungsabkommen, die die Rückführung von Ausländern ohne Bleiberecht in ihre Heimatländer regeln, und Abschluß von Abkommen über Zusammenarbeit insbesondere mit den mittelosteuropäischen Ländern.
Wir werden dafür sorgen, daß in der Zukunft im Zuge der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union neben den wichtigen Säulen Verteidigung und Wirtschaft die Gewährleistung der inneren Sicherheit als dritte Säule eine entscheidende Rolle spielen wird. In diesem Bereich wird es ganz sicher keine diplomatischen Kompromisse unter Aspekten der Grenzöffnung und Freizügigkeit geben, solange nicht diese Sicherheitsfragen absolut befriedigend
gelöst sind. Wir sind bereit, dafür sehr viel Hilfe zu leisten.
Auch auf einem anderen wichtigen Feld, in der Ausländerpolitik, haben wir erhebliche Erfolge erzielt. Wir haben vor sechs Jahren 438 000 Asylbewerber in diesem Land gehabt, nicht zuletzt deshalb, weil die Sozialdemokraten die notwendige Änderung der Gesetze verzögert haben.
({13})
Im letzten Jahr gab es noch etwas über 100 000 Asylbewerber. Das heißt: Der Umfang des Problems hat sich um drei Viertel reduziert; das Problem besteht aber durchaus fort. Da wir mit einer klugen, aber auch strikten Politik den Umfang des Problems um drei Viertel reduziert haben, nehmen wir mit Recht in Anspruch, auch den Rest des Problems schrittweise lösen zu können.
({14})
Jeder, der die Integration von Ausländern als eine Hauptaufgabe der deutschen Innenpolitik für viele Jahre, für Jahrzehnte, ansieht - das tun wir, und das tue insbesondere ich -, muß wissen, daß diese Integration nur gelingen kann, wenn nicht ständig durch weiteren Zuzug und auf Grund immer größerer Fremdheit aus immer ferneren Weltgegenden die Probleme überhandnehmen und die Integrationskräfte des eigenen Volkes überfordert werden. All die Maßnahmen, die den Zuzug begrenzen - dazu gehören Maßnahmen zur Grenzsicherung, schnelle Verfahren, Rückführung und Begrenzung des Leistungsrechts -, gehören zu einer verständigen Integrationspolitik als Angebot an diejenigen Ausländer, die dauerhaft und rechtmäßig in unserem Lande leben. An dieser Politik werden wir festhalten.
({15})
Das ist ein Aspekt, über den man nicht nur reden, sondern dessen Leitsätze man in die Praxis umsetzen muß. Deshalb fordere ich immer wieder - das ist ein wichtiger Aspekt des von mir vorgeschlagenen Sicherheitsnetzes -, daß wir Prävention auf allen Gebieten großschreiben und daß wir nicht nur ständig neue Gesetze schaffen, sondern sie auch durchführen. Wir müssen die Debatte zu einem Teil vom Kopf auf die Füße stellen: von der Gesetzgebung hin zur Durchführung vor Ort.
Das geht nicht mit weniger Polizei - wie das in den sozialdemokratisch regierten Ländern versucht wird -, sondern das kann man allenfalls mit dem gleichen Stand an Polizeikräften.
({16})
- Eine Lüge? 1998 gab es in Niedersachsen 642 und in Nordrhein-Westfalen 2242 Polizisten weniger als 1992.
({17})
Niedersachsen steht im Vergleich aller Bundesländer in bezug auf die Polizeidichte an 16. und damit letzter Stelle, Herr Graf. Da Sie aus Niedersachsen kommen, müßten Sie das eigentlich wissen.
({18})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf? - Bitte schön.
Ich wollte eigentlich nicht dazwischengehen, aber Sie haben mich gereizt, Herr Minister. Angesichts der Tatsache, daß Sie seit Monaten und Jahren ständig über Niedersachsen herziehen, möchte ich Sie an die Zeit erinnern, als Ihr Parteikollege, der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht - über ein Jahrzehnt - das Sagen hatte. Schauen Sie sich die Zahlen an. Die Vereidigung neuer Polizisten hätte er zu dieser Zeit in seinem Wohnzimmer durchführen können. Man hat nämlich nur eine Handvoll Leute eingestellt. Dann schauen Sie sich die Entwicklung in Niedersachsen seit 1990 an! Dies sollten Sie mit Zahlen belegen, anstatt gegenüber der deutschen Öffentlichkeit billige Polemik zu betreiben.
({0})
Sie machen mir die Arbeit sehr leicht. Ich habe extra das Jahr 1992 gewählt. Damals hieß der Ministerpräsident Schröder. Heute sind genau 642 Polizisten weniger im niedersächsischen Landesdienst als 1992. Deshalb ist mein Vorhalt an Ihre Adresse, mehr Sicherheit könne man nicht mit weniger Polizei herbeiführen, absolut richtig.
({0})
Ich sage noch einmal: Die Zusammenführung der Kräfte vor Ort - das ist der Kerngedanke der Aktion Sicherheitsnetz -, jener von Polizei, Justiz, Ordnungsbehörden, Kommunalverwaltungen und Kommunalpolitik, ist eine entscheidende Aufgabe, wenn wir Prävention ernst nehmen.
Für unser in Sachen Technik hochentwickeltes Land ist das Vorbeugen mittels technischer Hilfsmittel eine riesige Chance. 30 Prozent weniger Wohnungseinbrüche als vor fünf Jahren, ein Viertel weniger Kraftfahrzeugdiebstähle nach Einführung der elektronischen Wegfahrsperre als vor fünf Jahren ({1})
das sind sichtbare Erfolge einer Politik, die auf Vorbeugung als den wichtigsten Aspekt der Kriminalitätsbekämpfung überhaupt setzt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Bitte.
({0})
Ich glaube, wir sollten die Dinge gleich klarstellen. Es hat doch keinen Zweck, darauf nachher in meinem Redebeitrag einzugehen.
Sie haben sich zur Personalstärke der Polizei in Niedersachsen erklärt, Herr Kanther. Ich habe hier die Antwort der Niedersächsischen Landesregierung auf eine Anfrage, in der es heißt:
Gegenüber dem letzten von einer CDU-geführten Landesregierung zu verantwortenden Haushalt 1990 verfügt die Polizei des Landes 1998 über wesentlich mehr Stellen. Es ergibt sich ein Plus von 904 Stellen; unter Berücksichtigung der im Haushalt 1989 von der damaligen Landesregierung eingebrachten 575 kw-Vermerke, die dann auf Initiative der neuen SPD-geführten Landesregierung gestrichen wurden, bedeutet dies sogar ein Plus von 1479 Stellen.
({0})
- Das ist die Wahrheit, Herr Kanther. Würden Sie Ihre Ausführungen jetzt freundlicherweise korrigieren?
Nein, Herr Schily, das ist Ihre Wahrheit.
({0})
Seit Ihre Partei in Niedersachsen regiert, seit 1992, ist die Zahl der Polizeistellen um 642 vermindert worden. Spielen Sie nicht mit den Zahlen und den Zeitabschnitten!
({1})
Wenn Sie damit jonglieren, wird die Darstellung automatisch falsch. Bei meiner Antwort bleibe ich.
({2})
Sie verheißen uns eine rotgrüne Bundesregierung. Da wird man Sie doch fragen dürfen, was Sie in den zehn Ländern, in denen Sie regieren, in denen Sie Innenminister oder Justizminister - manchmal sogar beide - stellen, für die innere Sicherheit im Vergleich zu den unionsregierten Ländern zustande gebracht haben.
Da auffällig ist, daß alle Ergebnisse bezüglich der Sicherheit in den süddeutschen Ländern wesentlich besser sind als in den von Ihnen regierten norddeutschen Ländern, sage ich: Das liegt in vielen Punkten an der Generalanlage Ihrer Politik.
({3})
Es liegt am Bereitstellen von Geldern und an der Schwerpunktsetzung. Sehr häufig liegt es auch an dem grünen Einfluß auf Ihre Politik. Wenn zum Beispiel die sozialdemokratische Landesregierung in Schleswig-Holstein die Freigabe von Einstiegsdrogen, von Cannabis-Produkten, zum freien Kauf in Apotheken verlangt
({4})
und dies bei Bundesbehörden beantragt, dann wird man doch wohl behaupten dürfen, daß der grüne Einfluß auf die sozialdemokratische Innenpolitik verheerend ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Kemper?
Jetzt möchte ich keine Zwischenfrage mehr zulassen. Die Zeit ist abgelaufen, und ich komme zum Ende.
Jenseits aller Phrasen
({0})
gilt in der Kriminalitätsbekämpfung beinhart der Grundsatz: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.
({1})
Wir können sowohl die Leistungsbilanzen der letzten Jahre im Bund als auch die Leistungsbilanzen der unionsregierten Länder Ihrer Haltung und Ihren Arbeitsergebnissen in den Ländern gegenüberstellen; dabei schneiden wir sehr positiv ab. In allen wesentlichen Fragen waren Sie unsichere Kantonisten. Was haben Herr Schröder und Herr Voscherau vor der Hamburger Bürgerschaftswahl an Sicherheitsphrasen in die Welt geblasen? Anschließend sind sie eine Koalition mit den Grünen eingegangen, und von Sicherheitsfragen spricht kein Mensch mehr. Damit uns das in der Bundesrepublik Deutschland nicht passiert, werden Sie diese Wahl nicht gewinnen.
({2})
Ich gebe dem Abgeordneten Otto Schily das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Da wir uns diese Nachmittagssitzung nicht ersparen, obwohl ich der Meinung bin, daß hier wahrscheinlich all das, was wir früher schon gesagt haben, wiederholt wird, sollten wir die Gelegenheit nutzen, noch einmal die Positionen gegenüberzustellen.
Gestatten Sie mir aber vorweg eine persönliche Bemerkung. Seit der Kollege Geißler Herrn Dr. Kohl einen Blackout attestiert hat, erfreue ich mich der besonderen Aufmerksamkeit des Bundeskanzlers. Dieser meinte heute wiederum, in einer Schlußdebatte meinen Namen anführen zu müssen wegen eines Vorganges, den ich bedauere und für den ich mich vor diesem Hause entschuldigt habe. Ich habe damals angesichts eines enttäuschenden Wahlergebnisses eine Südfrucht vorgezeigt. Gut, das war daneben; das sage ich ganz freimütig. Aber ich habe mich dafür entschuldigt, und irgendwann muß einmal ein Schlußpunkt gesetzt werden.
({0})
Wenn wir aber schon eine Vergangenheitsbewältigung versuchen, frage ich: Was ist mein Verhalten im Vergleich dazu, daß der amtierende Bundeskanzler in jenem Jahr das gesamte deutsche Volk belogen hat? Ich spreche von der Steuerlüge. Ich habe bis heute nicht gehört, daß sich der Bundeskanzler vor diesem Haus dafür entschuldigt hat. Das wäre doch einmal eine Möglichkeit zur Selbstkritik.
({1})
Soviel zu dieser persönlichen Angelegenheit.
Wenn wir heute über die innere Sicherheit sprechen, möchte ich einen Dank an die Kriminalbeamten in der gesamten Welt an den Anfang stellen, einen Dank auch an die Kollegen des Bundeskriminalamtes. Sie werden sich erinnern: Angesichts der abscheulichen Vorgänge um Kinderpornographie, die in Holland seinerzeit aufgedeckt wurden, habe ich die Forderung aufgestellt, eine internationale Task Force einzurichten. So etwas hat sich gebildet. Die Kriminalpolizeien haben international sehr gut zusammengearbeitet und einen Kinderpornoring schlimmsten Ausmaßes aufgedeckt. Ich glaube, wir haben Anlaß, an dieser Stelle diesen Kollegen für die großartige Leistung zu danken, die sie erbracht haben.
({2})
Wenn es um die innere Sicherheit zu tun ist, dann geht es zuallererst auch um die Verteidigung der Würde des Menschen. Wenn wir gegen Kriminalität kämpfen, geht es um die Verteidigung der Würde des Menschen. Deshalb habe ich vor kurzem hier in Bonn durchaus bewußt von einem Grundrecht auf Sicherheit gesprochen.
({3})
Wer meint, ein Grundrecht auf Sicherheit sei die Erfindung konservativer Professoren, der irrt sich und beweist damit nur seine Unkenntnis der deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte. Schon in der Virginia Bill of Rights war das Grundrecht auf Sicherheit enthalten. Es setzt sich über die verschiedenen Verfassungsdokumente bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention fort, in der in Art. 5 das Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit verankert ist. In der Politik für die innere Sicherheit kommt es darauf an, daß wir Freiheit und Sicherheit gewährleisten und sie
nicht in einen Gegensatz zu bringen versuchen. Das halte ich für die richtige Konzeption.
({4})
Herr Kanther, Sie haben sich heute redlich bemüht, polemisch zu werden. Das gelingt Ihnen eigentlich recht schlecht. Das spricht für Sie. Ich finde, wir sollten auch in der heißen Wahlkampfphase nicht vergessen, daß wir uns in dieser Legislaturperiode in vielen Fragen geeinigt haben. Das ist kein Schaden für dieses Land, im Gegenteil. Das war nicht eine große Koalition, sondern eine ganz große Koalition. Ich will anerkennend gerade an die Adresse der F.D.P. sagen, daß wir in dieser Frage sicherlich um die richtige Lösung gerungen haben, aber auch zu vernünftigen Ergebnissen gekommen sind. Das sollte hier nicht außer Betracht bleiben.
Wenn Sie in diesem Zusammenhang sagen, es hätte an uns gelegen, daß manche Ergebnisse nicht früher erzielt werden konnten, dann möchte ich doch daran erinnern, daß die Verhandlungen über ein Konzept zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität inklusive der akustischen Wohnraumüberwachung erst dann in Gang kommen konnten, als die F.D.P. ihren Mitgliederentscheid über die Bühne gebracht hatte. Also hat es nicht etwa an der SPD gelegen, daß sich die Dinge etwas verzögert haben.
Sie haben heute wieder den Versuch unternommen, die Länder zu vergleichen. Herr Kanther, ich rate Ihnen, in Zukunft damit etwas vorsichtiger umzugehen. Auch ich könnte jetzt einige Vergleiche anstellen. Ich könnte zum Beispiel die Kriminalitätssteigerung von 1996 auf 1997 vortragen. Da haben wir in Baden-Württemberg eine Steigerung von 1,4 Prozent, in Bayern von 1,2 Prozent, in Niedersachsen eine Abnahme von 0,7 Prozent und in Nordrhein-Westfalen von 0,9 Prozent.
({5})
Wir können die Regierungszeit von Herrn Stoiber mit der Regierungszeit von Gerhard Schröder vergleichen. Dann werden Sie feststellen, daß in der Regierungszeit von Herrn Stoiber die Kriminalitätsrate um das Vierfache gegenüber dem Wert der Steigerung der Kriminalitätsrate in Niedersachsen gestiegen ist.
Ich halte von solchen Vergleichen überhaupt nichts, weil wir, wie ich finde, mit Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik vorsichtig umgehen sollten. Ich glaube, das, was Sie da machen, ist falsch. Im übrigen - Sie selber machen das wohl nicht; das ist auch in Ordnung -: In manchen Papieren der CDU/ CSU steht dann, Niedersachsen sei ein Eldorado für Verbrecher. Das ist eine Beleidigung der niedersächsischen Polizei, die dort ebenso gute Arbeit leistet wie die Polizei in anderen Ländern.
({6})
Wenn man schon vergleicht, dann sollten Sie daran erinnert werden, daß gute Sicherheitspolitik darin ihren Ausdruck findet, wie man seine Polizisten beOtto Schily
zahlt. Wissen Sie, in welchen Ländern die Polizei am schlechtesten bezahlt wird? - In Baden-Württemberg und in Bayern, während die anderen Länder, gerade auch das rotgrün regierte Hessen, mit der zweigeteilten Laufbahn vorangekommen sind. Damit finden wir Beifall bei der Gewerkschaft der Polizei, darauf will ich nur hinweisen. Rudolf Scharping weist darauf hin, daß auch in Rheinland-Pfalz einiges in Gang gekommen ist.
({7})
- Und in Niedersachsen. - Wir sehen, daß gerade in diesen Ländern die Bezahlung der Polizei besser ist.
({8})
Wir könnten uns da über einiges untereinander verständigen. Um Ihnen zu erklären, daß man mit der Kriminalstatistik etwas vorsichtiger umgehen kann, will ich Ihnen ein Beispiel berichten. Ich habe es mir nicht selber erarbeitet, sondern es stammt aus einem Werkstattgespräch, das wir vor einiger Zeit mit zahlreichen Polizeipräsidenten aus dem gesamten Bundesgebiet und einigen Generalstaatsanwälten geführt haben. In diesem Werkstattgespräch hat mir der Polizeipräsident einer westdeutschen Großstadt erzählt, er habe seine Polizei damit beauftragt, mit Frauengruppen intensiver zusammenzuarbeiten. Das Ergebnis dieser sehr erfolgreichen Zusammenarbeit war, daß die Frauen mehr Selbstvertrauen und mehr Vertrauen zur Polizei gewonnen haben. Sie wissen, daß Frauen in unserem Land heute immer noch durch Gewaltverbrechen sehr gefährdet sind. Die Folge davon war, daß sich das Anzeigeverhalten der Frauen signifikant verändert hat und Gewaltverbrechen, die an Frauen begangen wurden, in sehr viel größerem Umfange angezeigt wurden. Natürlich kamen dann in der Kriminalstatistik mehr Gewaltverbrechen vor, so daß ein naiver Betrachter hätte denken können, der Polizeipräsident habe schlecht gearbeitet. Aber der Polizeipräsident und seine Polizei haben gut gearbeitet, weil Verbrechen aufgedeckt und verfolgt wurden.
Ich will damit nur sagen, daß man mit Kriminalstatistiken vorsichtig sein muß.
({9})
Wenn in einem bestimmten Land bestimmte Kriminalzahlen relativ niedrig sind, muß man immer damit rechnen, daß es ein großes Dunkelfeld gibt. Dann können die günstigen Zahlen möglicherweise sogar eher auf einen Mißerfolg hindeuten. Ich rate also zur Vorsicht mit derlei Zahlen; da kommen wir in ein schwieriges Gelände.
Herr Kanther, Sie haben darauf hingewiesen, im Bund sei alles zum Besten bestellt. Leider kann ich Ihnen das nicht bestätigen. Ich höre durchaus Klagen aus Wiesbaden über die dortige personelle Ausstattung. Ich höre Klagen darüber, daß dort gut ausgebildete Polizeibeamte, die nun wahrlich etwas Besseres zu tun hätten, für Kanzleiarbeiten herangezogen werden. Ich höre, daß es mit der technischen Ausstattung des Bundeskriminalamtes auch nicht zum allerbesten steht. Wenn dort 90 Prozent der Akten in digitalisierter Form ankommen und dann in Papierform abgelegt werden, ist das nicht gerade Ausweis eines modernen Standards in einer solchen Behörde. Ich könnte Ihnen dazu noch einiges anführen; aber ich will es nicht weiter ausbreiten, um nicht meine Rede zu sehr zu verlängern.
Sie haben ferner zu Recht angesprochen, daß heute die Fragen der Kriminalpolitik weitgehend auch auf europäischer Ebene anzugehen sind. Wir haben mit Ihnen gemeinsam dafür gestimmt, daß wir Europol bekommen. Die Einrichtung von Europol war schon immer eine Forderung der SPD; Günter Graf hat sich besonders mit der Forderung hervorgetan, daß diese wichtige europäische Polizeibehörde eingerichtet wird. Wir haben das hier gemeinsam beschlossen. Es gibt zwar einige Probleme mit dem Immunitätenprotokoll. Aber ich will das jetzt nicht noch einmal aufrühren; es ist eine Spezialfrage. Jedenfalls ist völlig richtig, daß wir für eine solche europäische Linie sind. Man muß aber auch daran arbeiten, dies auszubauen.
Man muß auch darauf achten, wo sich im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit neue Angriffsflächen für die organisierte Kriminalität bieten. Hier muß ich Ihnen einen Vorwurf machen. Ich bin sehr für die neue europäische Währung, die uns viele Vorteile bietet. Aber leider bietet sie auch neue Angriffsflächen für die organisierte Kriminalität, was Geldfälschung angeht. Sie haben es bis heute nicht geschafft, zumindest die Zuständigkeit zu regeln. Wer ist denn in Zukunft für Fälle der Fälschung europäischer Banknoten zuständig? Ist es UCLAF oder Europol? Das ist bis heute nicht geklärt. Da hätten Sie nun wirklich etwas eiliger vorangehen können, wenn Sie hier schon über Europa reden.
({10})
Natürlich tun sich da schwierige Fragen auf. Niemand, der seriös ist, kann an dieser Stelle versprechen, daß wir das im Handumdrehen lösen können. Das muß man ehrlicherweise so formulieren.
Es wird auch für uns eine wichtige Aufgabe sein, gerade die Harmonisierung des Strafverfahrens und des materiellen Strafrechts auf europäischer Ebene voranzutreiben.
Es ist gut, daß wir uns in manchen Fragen, die die repressive Seite der Kriminalitätsbekämpfung betreffen, geeinigt haben. Es ist allerdings schlecht, daß Sie in der Frage der Prävention versagt haben. Wenn Sie, Herr Kanther, über Prävention sprechen, dann sprechen Sie eigentlich auch nur immer über die gesetzlichen Instrumente, über die Polizei und über die Staatsanwaltschaft. Das ist mir schon aufgefallen. Es fällt Ihnen dazu nie etwas anderes ein. Das ist halt so; in dieser Beziehung kann man bei Ihnen offenbar nicht mehr viel ändern.
In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage zur Jugendkriminalität finden sich folgende Formulierungen der Bundesregierung: Für eine vorbeugende Auseinandersetzung und Bekämpfung von Kinder- und Jugenddelinquenz müssen als Belastungsfaktoren neben Wertekonflikten, OrientieOtto Schily
rungsproblemen und Desorientierung soziale Problemlagen, Arbeitslosigkeit, soziale Randlagen, Armut und Ausgrenzung in Betracht gezogen werden, auch wenn ein unmittelbarer Ursache-Wirkungszusammenhang zwischen den genannten Faktoren und der Kinder- und Jugenddelinquenz im einzelnen nicht nachweisbar ist. Daher sind sowohl erzieherische als auch soziale Maßnahmen und Konzepte zu berücksichtigen, und zwar von allen gesellschaftlichen Gruppen und verantwortlichen Instanzen.
Weiter heißt es: Für die Integration der nachwachsenden Generation in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland sind nach wie vor Ausbildung, Beruf und Arbeitsleben von grundlegender Bedeutung. Insofern kommt einer ausbildungs- und arbeitsplatzfördernden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der unterschiedlichen Akteure besonderes Gewicht zu, um einem Anwachsen von Risiko- und Randgruppen entgegenzuwirken. Dazu sage ich: Wie wahr, aber genau hier haben Sie versagt. Sie haben eben nicht dafür gesorgt, daß alle Jugendlichen einen Arbeitsplatz und einen Ausbildungsplatz finden. Auch damit haben Sie der inneren Sicherheit schwer geschadet, Herr Kanther.
({11})
Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, frühzeitig mit Frau Nolte Kontakt aufzunehmen und sich zu erkundigen, wie es den Kindern in unserer Gesellschaft eigentlich geht. Wenn die Aussagen in dem Bericht, der jüngst vorgelegt worden ist, stimmen, nämlich daß heute eine hohe Zahl von Kindern in den neuen Bundesländern unter der Armutsgrenze lebt, daß auch im reichen Westen über 10 Prozent der Kinder in ähnlichen Verhältnissen leben und daß über eine 1 Million Kinder und Jugendliche in Haushalten leben müssen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, dann spiegelt sich darin auch ein Faktum, das dem Bereich der inneren Sicherheit zuzurechnen ist.
({12})
Wenn man diese Entwicklungen betrachtet, dann kann man nicht einfach sagen: Wir müssen eben mehr Gefängnisse bauen. 1m Bereich der inneren Sicherheit gilt ähnliches wie in der Umweltpolitik. Einige von Ihnen haben das mühsam lernen müssen. Auch bei der inneren Sicherheit gilt: Die Vorsorge ist allemal besser als die Nachsorge; sie ist sogar billiger.
({13}) Auf dem Gebiet haben Sie versagt.
Sie haben überhaupt, was die Integration angeht, versagt. Dieser Aspekt ist wesentlich, wenn man über die Zuwanderer redet. Herr Kanther, Sie gehören zu denen, die sich beharrlich weigern, die Wirklichkeit anzuerkennen.
({14})
Manchmal denke ich, daß Ihre Flucht vor der Wirklichkeit so weit geht, daß es Ihnen sogar ohne Computer gelingt, sich in virtuelle Welten zu begeben.
({15})
Wie kann man eigentlich die Behauptung aufrechterhalten, es habe keine Zuwanderung stattgefunden, wenn knapp 7,5 Millionen Menschen ausländischer Herkunft unter uns leben? Was sind denn diese 7,5 Millionen Menschen? Was soll das denn sein? Findet diese Entwicklung irgendwo außerhalb unserer Grenzen, etwa in einem exterritorialen Gebiet, statt? - Nein, das ist Zuwanderung. Wenn Sie diesen Menschen, die gute Arbeit leisten, die einen hohen Beitrag zu den Sozialversicherungskassen leisten und die zum Teil auch als Unternehmer gute Arbeit leisten, die gleichen Rechte verweigern und sie damit zu Bürgern zweiter Klasse machen, dann begehen Sie eine schwere Unterlassungssünde, hemmen die Integration und gefährden auch die innere Sicherheit.
({16})
- Nein, das begreifen Sie offenbar immer noch nicht. Das ist Ihr Problem. Wenn wir es eine Legislaturperiode lang nicht geschafft haben, Sie davon zu überzeugen, werde ich es in den letzten Minuten dieser Legislaturperiode auch nicht schaffen. Das ist leider so. Herr Kollege, mein didaktisches Vermögen ist erschöpft.
({17})
Aber eines müssen Sie doch begreifen: Wenn man einem jungen Menschen, der hier geboren ist, der hier die deutsche Sprache quasi als seine Muttersprache lernt, sagt, daß er eigentlich doch nicht zu uns gehört, wird bei diesem der Eindruck entstehen, daß es besser ist, sich in seine Gruppe zurückzuziehen und sozusagen ein Fremdkörper in der Gesellschaft zu bleiben. Das sollten Sie begreifen.
({18})
Sie werden es aber nicht begreifen. Vielleicht lernen Sie es in der Opposition, Herr Kollege. Das wäre ganz gut. Deshalb ist es ein Erziehungsprogramm für Sie, daß Sie in die Opposition gehen.
({19})
Ich möchte zum Schluß, damit ich die Debatte nicht allzusehr. verlängere, nur noch über einen Gesichtspunkt sprechen, der mir am Herzen liegt und von dem ich glaube, daß er in diese Debatte hineingehört. Natürlich konnte ich nicht alle Gesichtspunkte ansprechen, die in dieser Debatte eigentlich hätten angesprochen werden müssen. Aber eines möchte ich sagen: Zur Prävention - soziale, organisatorische, technische Prävention - gehört auch etwas, von dem ich glaube, daß wir uns darauf besinnen sollten, nämlich eine kulturelle Prävention. Wir tragen alle gemeinsam eine Verantwortung, von der sich niemand ausschließen darf. Deshalb sagen wir auch: Die GeOtto Schily
währleistung der inneren Sicherheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wir sollten auch in solchen Wahlkampfzeiten einen Moment innehalten und prüfen, ob die geistige Verfassung in unserem Land dazu angetan ist, daß wir sagen können: Wir haben alles getan, um den Zusammenhalt, um das Wertebewußtsein in unserer Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Der bedeutende polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski hat gerade in den letzten Tagen die geistige Verfassung der Deutschen kritisiert. Er bemängelte, daß im deutschen Bewußtsein heute eine tiefere Reflexion über die Natur des Menschen und sein Schicksal fehle. Das Volk der Philosophen und Dichter rede ausschließlich über den Euro, die Zinssätze, Dividenden, Zolltarife und Investitionen. Seiner Ansicht nach sind ohne eine Verbesserung des Menschen alle Zukunftsvisionen wertlos.
Der Österreicher Robert Schneider schrieb:
Wer mit halbwegs wachen Augen durch dieses große, unfaßlich schöne Land reist, den kann diese Seelenmüdigkeit nicht unberührt lassen. Im Kampf eines jeden gegen jeden, im gotterbärmlichen Opportunismus und der schwitzenden Eilfertigkeit ... verkümmert das Herz.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß es wichtig ist, daß wir über allem Streit nicht vergessen: Es geht auch um den sozialen und kulturellen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Es geht auch darum, daß wir den Art. 1 des Grundgesetzes mit Leben erfüllen. Nur wenn wir über innere Sicherheit im Lichte einer solchen Betrachtungsweise reden, kommen wir zu den richtigen Ergebnissen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition! Ich finde, die Debatte, die wir hier führen, ist recht gespenstisch. Die Einleitung von Herrn Kanther hat den Sinn und Zweck der Debatte aufgezeigt. Sinn und Zweck sollte sein, Rotgrün in puncto Sicherheitsfragen quasi als Schreckgespenst an die Wand zu malen.
({0})
- Das war der Sinn und Zweck. Das scheint ein wenig mühsam zu sein, und wenn man ins Plenum schaut, sieht man, daß es irgendwie nicht so recht funktioniert hat. Ich glaube auch, daß zuerst der Schock von heute vormittag verdaut werden muß.
Ich glaube, das Ganze wird Ihnen auch nicht helfen.
({1})
An das, was Sie hier mühsam zusammengeklaubt haben - Herr Kanther konnte ja nur wenige Beispiele nennen -, glauben Sie nämlich selber nicht, und die Menschen draußen glauben erst recht nicht daran.
({2})
Im Ältestenrat haben Sie abgelehnt, hier über Ihre Innen- und Rechtspolitik, über den Haushalt zur Innenpolitik zu reden. Das ist Teil Ihrer Wahlkampfkampagne, mit der Sie von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken wollen - über diese Versäumnisse haben wir heute morgen gesprochen -, von Ihren Versäumnissen in der Arbeitsmarktpolitik, in der Sozialpolitik. Deshalb tischen Sie in Wahlkampfzeiten - leider auch in diesem Parlament - immer wieder diese unsäglichen Diskussionen über die Bedrohungen der „Inneren Sicherheit" auf, statt wirklich über Maßnahmen zur Bekämpfung von Kriminalität zu reden.
Aber schauen wir uns Ihre Politik doch einmal an. Aus unserer Sicht ist Ihre Politik der Repression - Herr Kanther, der Innenminister, hat ja einige Gesetze aufgezählt, die Sie auf den Weg gebracht haben: von Vorbeugung, von Prävention ist überhaupt keine Rede - dramatisch gescheitert. Sie haben seit 16 Jahren nichts anderes gemacht, als Strafen zu verschärfen - wie beim großen Lauschangriff und beim Asylrecht - und Bürgerrechte abzubauen. Sie haben allein in dieser und in der letzten Wahlperiode mehr als 40 Strafverschärfungen und Grundrechtseinschränkungen beschlossen: Verbrechensbekämpfungsgesetz, OrgKG, Ausdehnung der Kronzeugenregelung, BKA-Gesetz, G-10-Gesetz.
Ich frage mich: Haben Sie jemals Bilanz gezogen?
({3})
Darüber haben Sie heute nämlich nicht geredet. Herr Kanther war jedenfalls nicht in der Lage, hier eine Bilanz darüber vorzulegen, was all die Strafverschärfungen, von denen er gesprochen hat, was die Politik der Repression überhaupt gebracht haben. Ich glaube, es gibt einen Grund, warum er diese Bilanz nicht zieht: weil das Ergebnis niederschmetternd ist.
Seit 1982 stieg die Kriminalitätsrate stetig an, allein in den alten Bundesländern um 1 Million Straftaten. Mit anderen Worten: Diese Politik der Strafverschärfungen ist dramatisch gescheitert. Sie sind nicht in der Lage, nicht willens, eine Bilanz über die vielen Änderungen, die Sie vorgenommen haben, vorzulegen. Das ist eine rein symbolische Politik gewesen. Sie haben quasi reine Placebomaßnahmen ergriffen um die Bürger zu beruhigen und ihnen zu suggerieren, mit solchen Strafverschärfungen könne man wirklich etwas für die Sicherheit der Bürger und Bürgerinnen tun. Im Wahlkampf macht man das gerne. Aber das Gegenteil ist der Fall: Sie sind nicht in der Lage, hier eine positive Bilanz vorzulegen. Die Bilanz ist negativ; sie ist schlecht.
({4})
Kerstin Müller ({5})
Die Zahl der Straftaten ist angestiegen. Das bedeutet, daß die Politik der Repression, die Politik, auf die Sie gesetzt haben, dramatisch gescheitert ist.
({6})
Das beste Beispiel - auch darauf möchte ich hier gerne noch eingehen - für das Scheitern Ihrer Politik in diesem Bereich ist die katastrophale Bilanz in der Drogenpolitik. Herr Kanther hat das Thema angesprochen. Einige rotgrün regierte Länder versuchen dennoch, entgegen den Widrigkeiten auf Bundesebene, entgegen den schlechten bundespolitischen Rahmenbedingungen, andere Wege zu gehen. Das ist richtig.
({7})
Sie, Herr Kanther, haben dennoch eine katastrophale Bilanz. Die Zahl der Drogentoten ist seit dem Amtsantritt von Kohl dramatisch gestiegen. Wir hatten 1997 mindestens 1 500 Drogentote
({8})
und im ersten Halbjahr dieses Jahres einen Anstieg um mehr als 17 Prozent. Das ist doch eine negative Bilanz. Ich finde es nicht nur heuchlerisch, ich finde es auch zynisch, angesichts solcher Zahlen in der Drogenpolitik noch immer eine repressive Linie fahren zu wollen.
({9})
Sie haben damit diese Drogentoten zu verantworten.
Reden Sie einmal mit Eltern, die drogenabhängige, heroinabhängige Kinder haben. Ich habe mit solchen Eltern gesprochen. Die sagen ganz klar: Unser Kind würde noch leben, wenn Sie eine andere, eine liberale Drogenpolitik verfolgen würden, Herr Kanther und sehr geehrte Kollegen von der Koalition.
({10})
- Sieht die Frau Oberbürgermeisterin Roth in Frankfurt das auch so? Ich glaube, nicht.
Sie haben Frau Roth gestern in Ihrem Spot vorgestellt, weil die Oberbürgermeisterin von Frankfurt endlich mal ein bißchen mehr Flair, ein bißchen mehr Modernität in Ihren Wahlkampf bringen soll. Was Sie verschweigen, ist, daß die Oberbürgermeisterin Roth in Frankfurt eine sehr vernünftige Drogenpolitik macht, daß sie nach ihrem Amtsantritt gezwungen war, all das fortzusetzen, was Rotgrün in Frankfurt eingeleitet hatte, weil es erfolgreich war, weil es dort die Zahl der Drogentoten herabgesetzt hat, weil wir dort weniger Beschaffungskriminalität haben. Deshalb haben selbst Frankfurter Banker und Geschäftsleute gesagt: Dieser Weg muß fortgesetzt werden. Deshalb ist Frau Roth heute sogar dafür, daß ein Modellprojekt für eine ärztlich kontrollierte Abgabe von Heroin in der Bundesrepublik - das entspricht dem Antrag, der im Bundesrat anhängig war - durchgeführt wird. Das ist Ihre Oberbürgermeisterin, mit der
Sie Wahlkampf führen. Aber Sie trauen sich nicht, in puncto Drogenpolitik das den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen.
({11})
Dieser Bereich steht exemplarisch für den gescheiterten und falschen Weg Ihrer Kriminalpolitik. Deshalb sagen wir: Wir brauchen nicht nur eine moderne Drogenpolitik. Vielmehr müssen wir uns bei der Bekämpfung der Kriminalität endlich generell an die Bekämpfung der Ursachen machen, statt wirkungslos nach härteren Strafen zu rufen. Der Kollege Schily hat das hier noch einmal deutlich gemacht. Sie wollen, indem Sie das nicht tun, indem Sie nicht über die Ursachen reden, von Ihrem eigenen Versagen in der Arbeitsmarkt-, in der Sozialpolitik ablenken.
Sie wollen sich nicht fragen, warum wir eine so enorme Beschaffungskriminalität haben. Fast 50 Prozent der einfachen Diebstähle, so schätzt man - das sind offizielle Zahlen, nicht unsere Zahlen -, begehen Drogenabhängige aus sozialer Verelendung heraus. Diese Beschaffungskriminalität könnte man abbauen.
({12})
- Nein, nein.
Was sind die Ursachen für eine zunehmende Jugend- und Kinderkriminalität, die Sie so beklagen? Die Ursachen liegen doch in Ihrer Politik, sie liegen in einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, sie liegen in einer hohen Arbeitslosigkeit, sie liegen im Lehrstellenmangel der Jugendlichen, sie liegen in der zunehmenden Armut von Kindern und Familien und in ganz schlimmen Gewalterfahrungen, die Kinder in ihren Familien zunehmend machen - allein 150 000, so die offiziellen Zahlen. Das sind die Ursachen für eine Zunahme von Kriminalität. Statt diese Ursachen anzugehen, kriminalisieren Sie die Folgen Ihrer eigenen Politik. Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition, wer Zero-Toleranz gegenüber Kriminalität predigt, aber weich gegenüber der Bekämpfung der Ursachen ist, der hat für mich jede Glaubwürdigkeit verloren, über die Bekämpfung von Kriminalität zu reden.
({13})
Statt Jugendliche häufiger in den Knast oder in geschlossene Heime wegzusperren - auch diese Debatte hatten wir jetzt im Wahlkampf -, statt dieser unseligen Diskussion über die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters bei. Kindern sollten wir lieber über die wachsende Armut von Kindern reden. Auch ich möchte hier noch einmal auf den Zehnten Kinder-und Jugendbericht kommen, den Sie nicht so gerne veröffentlichen wollten, weil er nicht in den Wahlkampf paßte. Frau Nolte mußte sozusagen von der Presse, von den Medien gezwungen werden, hierzu Stellung zu nehmen.
({14})
Kerstin Müller ({15})
- Genauso war es!
({16})
Was sagt denn der Zehnte Kinder- und Jugendbericht? - Daß die Lage dramatisch ist, daß der Erhalt von Sozialhilfe in der Bundesrepublik nicht mehr vor Armut schützt, daß im Westen fast jedes neunte Kind, daß im Osten sogar jedes fünfte Kind inzwischen arm ist, daß wir in den neuen Ländern eine Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger um mehr als 20 Prozent haben. Angesichts dieser Lage finde ich eine Diskussion über höhere Strafandrohungen und vermehrtes Wegsperren hilflos und zynisch. Denn eine solche Wegsperrmentalität löst die Probleme nicht, sie verschärft sie nur.
Auch wir wollen mehr Sicherheit für die Menschen. Weil wir das wollen, müssen wir vor allen Dingen eines tun, nämlich eine andere Arbeitsmarkt-, eine andere Sozialpolitik und eine andere Jugendpolitik in diesem Land einleiten. Die gegenwärtige Politik ist nämlich das Hauptproblem, und die stellt inzwischen ein Sicherheitsrisiko für dieses Land dar, nicht die Innen- und Rechtspolitik von Rotgrün, Herr Kanther.
({17})
Wir wollen eine integrative Sozialarbeit. Wir brauchen eine Initiative gegen Jugendarbeitslosigkeit. Wir wollen eine Ausbildungsplatzumlage, weil es nicht länger zu verantworten ist, daß Jugendliche keine Ausbildungsplätze finden. Wir brauchen nicht mehr Justiz, sondern mehr Jugendhilfe.
Ich finde es unverantwortlich, einerseits höhere Jugendkriminalität zu beklagen und andererseits über die Kürzung von Mitteln für die Schließung von Jugendzentren mitverantwortlich zu sein. Ich finde es auch unverantwortlich, über die angebliche Laxheit des Jugendstrafrechtes zu klagen. Das Jugendstrafrecht ist überhaupt nicht lax, sondern sieht einen sehr differenzierten Katalog von Reaktionsmöglichkeiten vor. Ich plädiere nachdrücklich dafür, an dem Maßnahmenkatalog, den wir im Jugendstrafrecht und Jugendhilferecht haben, festzuhalten und nicht nach härteren Strafen usw. zu rufen. Denn dort haben wir die Möglichkeit etwa des Täter-Opfer-Ausgleiches, bei dem wir der Meinung sind: Diesen müssen wir ausweiten. Wir müssen diesen Maßnahmenkatalog auf die Heranwachsenden anwenden. Und an den Beginn eines jeden Jugendstrafverfahrens gehört eigentlich der Täter-Opfer-Ausgleich. Das sind Dinge, die wir ändern wollen. Das ist auch viel erfolgversprechender bei der Bekämpfung der Kriminalität.
({18})
Einen letzten Punkt möchte ich von unserer Seite noch ansprechen. Ich komme dann zum Ende. Ich möchte einen Punkt noch nennen, bei dem wir als Bündnisgrüne ganz großen Reformbedarf sehen. Das ist das Staatsbürgerschaftsrecht. Wir wollen ein ganz, ganz klares Signal an die zweite und dritte hier lebende Generation, an die seit langem hier lebenden Einwanderinnen und Einwanderer und an die hier Geborenen geben.
Herr Kanther, sehr geehrte Kolleginnen von der Koalition, Sie machen hier genau das Gegenteil. Sie haben auch heute morgen wieder ausländerfeindliche Stimmung geschürt und auf dem Rücken der ausländischen Minderheiten eine Wahlkampfdebatte geführt. Ich halte das für sehr, sehr gefährlich. Es stärkt die Rechtsradikalen, es liefert ihnen praktisch die Stichworte. Sie machen Stimmung gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger.
({19})
Ich hoffe, daß das Klima nicht wieder zu deren Lasten kippt.
Jetzt ist aber Ihre Redezeit endgültig zu Ende.
Ich bin gleich fertig.
Ich hoffe auch - und ich bin ganz zuversichtlich, vor allen Dingen nach der Diskussion heute morgen -, daß wir nach dem 27. September hier endlich mit einer großen Mehrheit dieses Hauses eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts einleiten können, die längst überfällig ist und für die es auch in der Gesellschaft eine Mehrheit gibt. Wir brauchen die doppelte Staatsbürgerschaft. Wir müssen den Menschen, die hier geboren sind und lange hier leben, signalisieren, daß sie zu dieser Gesellschaft gehören. Wir dürfen sie nicht länger ausgrenzen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Kleinert, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist wirklich ganz erstaunlich, was in der Innen- und Rechtspolitik geleistet worden ist. Wir haben es alle in den Listen in den letzten Wochen und Monaten gesehen. Auch erstaunlich ist daran, mit welchem Maß von Einigkeit - da hat Herr Schily vollkommen recht - die großen Vorhaben, die für uns alle schwer waren, hier verabschiedet worden sind. Frau Müller, auch über so etwas könnte man sich einig werden, wenn Sie nicht immer so ein abstraktes Ziel hätten, ohne gleichzeitig etwas Konkretes zum Weg zu sagen.
Es ist für uns alle bei Fragen der inneren Sicherheit wichtig, das Gleichgewicht zu halten zwischen der Freiheit, die auch und gerade durch die Sicherheit zu bewahren ist, weil die Freiheit sonst nichts wert ist, und den Maßnahmen, die für die innere Sicherheit nun einmal erforderlich sind. Wenn man Sie, Frau Müller, hier so reden hört, was alles an Prävention zu
Detlef Kleinert ({0})
tun ist, dann bestreite ich überhaupt nicht, daß es auch in Zukunft noch viele Möglichkeiten für Phantasie und Tatkraft gibt. Nichts ist vollkommen. Es wird vieles zu tun sein. Wir sollten im Wettbewerb versuchen - ohne beckmesserisch zu sagen, wer gerade vorne liegt oder nicht -, die Dinge zu bessern.
Daß wir, bis die Prävention greift, alles gehen und treiben lassen und uns von Ihren Parolen - bezüglich des Wegsperrens und ähnlich abfälliger Bemerkungen über die Justiz, die sich sehr viel Mühe mit der Findung einer gerechten Strafe im Einzelfall macht - beeinflussen lassen, kann doch nicht sein. Ich kann doch nicht erst einmal einige Jahre Chaos veranstalten, nur weil Sie die Hoffnung haben, durch Freigabe von Rauschgift und dergleichen in Zukunft keine Kriminellen mehr im Lande zu haben. Das bezweifle ich übrigens ganz stark.
({1})
Ich bin ja bereit, über diesen Punkt zu sprechen. Da gibt es in unserer Fraktion unterschiedliche Stimmungen, aber wohl doch eine sich bildende Mehrheit, daß wir über die ärztliche Behandlung der Rauschgiftsucht als Krankheit - auch mit den dazu geeigneten Medikamenten; das schließt Rauschgifte ein - mit uns reden lassen.
Das ist aber eine ganz andere Sache, als wenn Ihre Freunde in Schleswig-Holstein den Apothekern ansinnen, das, womit man die Gesundheit ruiniert, da zu verkaufen, wo man normalerweise Mittel zur Förderung der Gesundheit anbietet.
({2})
Ich würde mir das nicht nur für Apotheken verbitten, selbst für Bioläden würde ich es nicht für richtig halten.
({3})
Darüber kann man ja im einzelnen reden, wenn man ganz genau sagt, wie man sich das vorstellt, damit man den Bürgern auch die Gelegenheit gibt, nicht nur Schlagworte zur Kenntnis zu nehmen, sondern selbst mit nachzudenken, wo das Risiko größer ist und wo es geringer ist, daß sich die Sache durch das, was man tut, etwa verschlechtert.
Bei der Prävention fällt mir auch einiges zum Thema Schule ein.
({4})
Bei der Prävention fällt mir auch einiges zu den früheren Haltungen der Grünen ein. Ich stehe ja überhaupt nicht an, zu erklären, daß Sie hier sehr ordentlich und manierlich anzuschauen sind - das war ja auch nicht immer der Fall.
({5})
Da hat sich ja einiges geändert.
Wenn man aber den jungen Leuten gegenüber eine allgemeine Gleichgültigkeit im Hinblick auf jede Art von zwischenmenschlichen Formen - die ja Sinn machen und die die frühesten Formen der Sozialisierung ganz selbstverständlich mit sich bringen - propagiert, das Schulwesen entsprechend einrichtet und viel mehr an Rechte als an Pflichten und viel mehr an die Schulung der Konfliktfähigkeit als an die Fähigkeit der Konfliktbewältigung denkt, so daß inzwischen die Lehrer aller Schulformen sagen, daß die Experimente, denen sie wie auch die Schüler unterworfen wurden, gescheitert sind, dann muß man diese Erkenntnis nachdrücklich in die Prävention einbeziehen.
({6})
Man kann sich nicht immer nur seinen Teil heraussuchen, wenn man sich hier - zu Recht - über die Fragen der Prävention unterhält.
Es ist beachtlich, was geschehen ist. Das ist schon gesagt worden. Wir haben uns innerparteilich sehr viel Mühe gemacht und haben dadurch zu einer gewissen Verzögerung - aber was ist in einem so wichtigen Gesetzgebungsvorhaben schon eine Verzögerung? - beigetragen, indem wir unsere Mitglieder befragt haben, und zwar unter sehr ausführlicher Darlegung des Problems von beiden Meinungsseiten her.
Auf dieser Basis konnten wir, dann allerdings legitimiert, versuchen - so wie überhaupt in der Rechtspolitik; sei es nun in Fragen, die die innere Sicherheit betreffen und die keineswegs mit dem Strafrecht und auch nicht mit der Organisation der Polizei erledigt sein dürfen und sollen; sei es auch in Fragen des Zivilrechts mit all seinen Einflüssen -, auch auf die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit Einfluß zu nehmen.
All diese Dinge haben wir, in erster Linie mit unserem Koalitionspartner, aber immer wieder auch - dankenswerterweise bei sehr großer Aufgeschlossenheit - mit der sozialdemokratischen Partei zu erörtern versucht. Durch die Grünen sind wir in den meisten Fragen nicht wesentlich behindert worden, weil sie sich bis heute bei der Übung aufgehalten haben, sich in aller Regel der Stimme zu enthalten - was natürlich den Denkapparat und die Entscheidungskraft schont.
({7})
Mit der Sozialdemokratie aber haben wir uns in den großen Fragen zusammengefunden. Wenn so viel über Gesetzesflut geredet wird, dann muß man auch wissen: Natürlich sind alle diese Gesetze im Laufe dieser Legislaturperiode und in den letzten 10 Jahren angesprochen worden. Aber es finden sich auch Novellierungen von Gesetzen, die auf diese Weise weniger Text, besseren Text und einleuchtenderen Text bekommen haben. Es finden sich darunter eine Menge von Gesetzen, die mehr Verantwortung an den Bürger zurückgeben und die übertriebene und sehr kostspielige Fürsorge des Staates zurückdrängen.
Detlef Kleinert ({8})
Ich erwähne nur noch ganz kurz das Kindschaftsrecht und die an sich selbstverständliche Lösung, zunächst einmal auf die Vernunft der Eltern in der Sorgefrage zu rechnen, statt automatisch dem Richter zuzumuten, den Eltern vorzuschreiben, wer die Sorge haben soll. Das sind doch Fortschritte, die wir gemacht haben,
({9})
und es läßt sich in vielen Gesetzen genauso belegen, daß hier mehr Verantwortung an den Bürger zurückgegeben worden ist. Das ist unser Ziel.
({10})
Daß wir dabei gut zusammengearbeitet haben, möchte ich zum Schluß, Frau Präsidentin, mit einer kleinen Geschichte unterstreichen. Ich habe vor langer Zeit - das ist so etwa 15 Jahre her - im Volkstheater in Wien einmal ein Stück von Nestroy gesehen. Da sagt der eine Rivale - das war eine furchtbar wilde Rivalisiererei, wie meistens in diesen NestroyStücken - zum anderen:
Form und Inhalt, mein Herr, Ihrer Äußerungen streiten miteinander um die Palme der Niedertracht.
({11})
Da habe ich mir gesagt: Das ist etwas Schönes für den Deutschen Bundestag. Irgend jemand wird dir über den Weg laufen, und dann bringst du das einmal an, natürlich indem du sagst, Nestroy hätte es so gesagt, denn man selber sagt so etwas nicht, aber das bringst du einmal an.
Nun muß ich heute feststellen: Ich habe es nicht angebracht, und zwar nicht etwa wegen schwachen Gedächtnisses, sondern weil keine Veranlassung bestanden hat. Es ist das Haus eben doch besser als sein Ruf und besser als das, was darüber erzählt wird, wie man das auch in dieser Stunde wieder feststellen kann. Dafür möchte ich mich bei allen bedanken, vorzüglich dem Rechtsausschuß, danach dem Innenausschuß, dann aber auch dem ganzen Hause. Wir haben ja viele Dinge zusammen getan, gelegentlich auch außerhalb unseres Landes. Das wird immer wieder kritisiert, aber sehr zu Unrecht;
({12})
denn wir hätten sonst den einen weniger schätzen gelernt, und wir hätten vielleicht auch bei manchem anderen nicht so früh erkannt, daß er wirklich ein besonders krummer Haken ist.
({13})
Bei all diesen Unternehmungen haben wir uns mindestens angenehm kollegial und in vielen Fällen auch freundschaftlich verhalten und sind uns so begegnet.
Wir haben festzustellen, daß die Idee, Politiker wären in besonderem Maße anfällig dafür, sich nicht für ihr dummes Geschwätz von gestern zu interessieren, abwegig ist, weil Natur und Technik des Geschäfts Zuverlässigkeit voraussetzen, weil man sonst aus dem Geschäft raus ist. Ich kenne hier niemanden, der dreimal versucht hätte, mich hinter die Fichte zu führen, und mit dem ich ein viertes Mal versucht haben würde, eine Vereinbarung zu treffen, geschweige denn mündlich. Aber hier werden ständig mündliche Verabredungen getroffen, unter einzelnen und unter Gruppen, und sie werden auch eingehalten. Das ist gut so; es muß so sein, anders funktioniert es nicht. Es ist von der ganz überwiegenden Zahl der Mitglieder des Hauses immer so gehalten worden. Auch dafür meinen herzlichen Dank!
Schließlich möchte ich noch ein wenig - das liegt heute nach dem Vormittag geradezu in der Luft - aufrührerisch wirken, ein wenig agitieren, indem ich sage: Wichtig ist für die Abgeordneten natürlich auch die Unabhängigkeit. Das gilt auch in der Koalition gegenüber der eigenen Regierung.
({14})
Das sollten wir immer wieder einmal scharf ins Auge fassen, denn sonst brauchten wir wirklich kein Parlament. Der Versuchungen sind viele, sich in vorauseilendem Gehorsam für die Position des Parlamentarischen Staatssekretärs in Empfehlung zu bringen.
({15})
Das sind Übungen, die dem täglichen Verhalten und dem aufrechten Gang doch in einigen Fällen sehr schaden können.
({16})
Ich rate davon ab. Versuchen wir, einigermaßen der menschlichen Natur entsprechend so zu bleiben, wie wir es immer versucht und meistens auch erreicht haben.
Noch einmal sehr herzlichen Dank.
({17})
Lieber Herr Kollege Kleinert, das war Ihre letzte Rede in diesem Bundestag. Sie gehören dem Bundestag seit 1969, also seit fast 30 Jahren, an. Sie waren lange Zeit der rechtspolitische Sprecher der F.D.P.-Fraktion. Sie haben an unendlich vielen Entscheidungen und Kompromissen mitgewirkt, und Sie haben unendlich viele Reden hier frei gehalten, was nicht ganz selbstverständlich ist. Sie haben sich große Verdienste um den Bundestag erworben. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Ihnen.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Otto Schily, SPD.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Kleinert, erlauben Sie mir, ein paar Worte zu Ihnen zu sagen. Wir kennen uns eine Weile aus den verschiedensten parlamentarischen Situationen. Ich
glaube, wir übertreiben nicht, wenn wir Sie als einen der großen Parlamentarier dieses Hauses würdigen.
({0})
Wir verdanken Ihnen viele sachkundige, auch heitere Beiträge, die manchmal, wenn so etwas wie Kampfstimmung entstand, die Atmosphäre etwas gelöst haben. Sie sind einer der markanten Persönlichkeiten dieses Hauses. Mein ganz großer Respekt und Dank gilt Ihnen für diese Arbeit. Ich hoffe, daß wir Ihnen freundschaftlich verbunden bleiben.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wahlkampf, den wir hier in den letzten drei Tagen erlebt haben bzw. in den Städten und in den Straßen erleben, ist davon geprägt, daß vor wenigen Monaten in Sachsen-Anhalt die rechtsextremistische DVU vor allem mit Themen aus den Bereichen innere Sicherheit, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit entsprechend Stimmen gewonnen hat.
Wenn man die Plakate der Unionsparteien und auch die der SPD betrachtet, dann finde ich es erschreckend, wie viele Parolen sich inzwischen im Wahlkampf ähneln. „Kriminelle Ausländer raus - aber schnell!" Ihr Kanzlerkandidat Schröder nennt die Dinge gleich beim Namen und sagt: Man muß diejenigen Ausländer, die kriminell geworden sind, am Kragen packen und rausschmeißen. Ich meine, daß dieses Verhalten zu einem ganz bestimmten Klima in diesem Land beiträgt, zu einem Klima, das in diesen Tagen im Parlament leider nicht diskutiert wurde.
Wenn wir heute auf den Straßen immer wieder Parolen wie „Arbeitsplätze zuerst für Deutsche" oder „Deutsches Geld für deutsche Arbeitsplätze" lesen und diese Parolen das Bild der Straßen prägen, dann muß man sich fragen, ob das nicht eigentlich schon die Politik in diesem Land ist und wie es eigentlich angehen kann, daß diese programmatische Nähe in der Mitte unserer Gesellschaft dazu führt, daß Rechte in diesem Land immer mehr akzeptiert werden.
Ich möchte Sie daran erinnern: Im vergangenen Jahr, im Jahr gegen den europäischen Rassismus, gab es in diesem Land 11700 Delikte, die einen rechtsextremistischen bzw. rassistischen Hintergrund hatten, 3000 Straftaten mehr als im Vorjahr. Tageszeitungen meldeten einen Höchststand rechter Delikte seit der Einheit. 1997 wurden zahlreiche Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, auf Kirchen und auf Pfarrer, die Kirchenasyl gewährten, verübt. Ich meine, daß dies für dieses Land ein Skandal ist.
Die Kohl-Regierung nutzt die soziale Unsicherheit der Menschen aus, um von den Folgen ihrer sozialen Kahlschlagpolitik abzulenken. In einer an Spießigkeit kaum zu überbietenden Art und Weise tun
Union und SPD, Herr Schily, so, als wären ausgerechnet diese Opfer der sozialen Ausgrenzung, wie Flüchtlinge, Migranten und Obdachlose, die Hauptverursacher von Kriminalität.
Aber als erstes müssen wir die gesellschaftlichen Ursachen von Kriminalität erkennen und bekämpfen. Das ist hier bereits gesagt worden; ich habe das sehr wohl gehört.
Herr Schily, man darf aber nicht nur auf die Bundesregierung schauen; vielmehr muß man auch Ihre Länderregierungen angucken. Ich vermag leider kaum einen Unterschied zwischen der Politik Ihrer Partei und der der Bundesregierung zu erkennen. Man kann nicht nur darüber jammern, daß die Reichen immer reicher werden; vielmehr muß man Reichtum tatsächlich auch begrenzen, damit Armut bekämpft wird.
({0})
1993 sind an der deutschen Ostgrenze bzw. im Mittelmeer Tausende von Flüchtlingen und Migranten elendig umgekommen. Ungeachtet dessen geht die polizeiliche Menschenjagd auf Flüchtlinge und Migranten auch an den Grenzen, insbesondere an der Ostgrenze, weiter. Sicherheitsnetze und Schleierfahndung fördern rassistisches Vorgehen der Polizei. Der erste Berliner Polizeikessel zeigte uns die Auswirkungen des Bundesgrenzschutzgesetzes, daß nämlich „ausländisch aussehende Menschen" - so heißt es in diesem Gesetz - selektiert und entsprechend kriminalisiert und diskreditiert werden.
Zur Zeit zieht durch dieses Land eine Karawane von Flüchtlingen und deutschen Unterstützerinnen und Unterstützern mit der Parole: Wir haben keine Wahl, aber wir haben eine Stimme. Wie kann es angehen, daß Menschen, die 30 oder 40 Jahre in diesem Land leben und arbeiten, nur deshalb, weil sie keinen deutschen Paß haben, immer noch kein Wahlrecht haben? Warum können diese Menschen nicht mitbestimmen? Warum können diese Menschen nicht unter der Bedingung an den Wahlen teilnehmen, daß sie hier wenigstens fünf Jahre ihren Lebensmittelpunkt haben, wenn sie mitbestimmen und mitgestalten wollen? Die PDS hat sich natürlich immer wieder dafür eingesetzt. Wir sind der Meinung, daß nur dadurch, daß diese Menschen die gleichen Rechte wie Deutsche haben, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in diesem Land bekämpft werden können.
Was lesen wir statt dessen in diesem Haushalt? 32 Millionen DM sollen auch nächstes Jahr wieder für die Vertriebenenverbände ausgegeben werden, die in ihren Reihen rassistische und ausländerfeindliche Parolen dulden und offen zulassen, daß die polnische und tschechische Grenze in Frage gestellt und über diese Länder in hetzerischer Weise berichtet wird. Trotzdem sollen auch im nächsten Jahr wieder 32 Millionen DM für diese Verbände ausgegeben werden.
Ganz zu schweigen von Denkfabriken oder Stiftungen: Die im vergangenen Jahr gegründete und mit Finanzmitteln ausgestattete Bismarck-Stiftung wird im kommenden Jahr wieder 4 Millionen DM erUlla Jelpke
halten. Es ist nachgewiesen worden, daß Rechtsextremisten in diesen Organisationen bzw. Stiftungen ihr Unwesen treiben.
({1})
- Das ist kein Quatsch. Das kann ich Ihnen nachweisen. Ich habe leider dafür nicht die Zeit, sonst würde ich es hier gerne tun.
Ich kann Ihnen nachweisen, daß sich solche Organisationen und auch die Rechtsextremisten dadurch, daß sie gefördert werden, entsprechend motiviert fühlen. Ich meine, daß diese Bagatellisierung mit dazu beiträgt, daß nicht ganz ausgeschlossen werden kann, daß vielleicht im nächsten Bundestag auch eine rechtsextremistische Partei sitzt. Ich bin erschrocken darüber, wie wenig dieses Thema hier problematisiert wird und wie wenig auf die eigene Politik geschaut wird, um diese Entwicklungen zu verändern.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich bin Mitglied des Kuratoriums der Bismarck-Stiftung. Die Führung besteht aus fünf Personen, nämlich aus dem früheren Bundesfinanzminister Stoltenberg, dem früheren Bundesfinanzminister Matthöfer, meiner Person und zwei Mitgliedern der Familie Bismarck. Können Sie vor diesem Hintergrund Ihre Behauptung aufrechterhalten, daß sich in dieser Bundesstiftung Rechtsextreme tummeln?
Sie wissen, daß die BismarckStiftung aus dem Bismarck-Bund hervorgegangen ist.
({0})
- Natürlich kann ich Ihnen an Hand von Personen und Inhalten belegen, daß Teile dieses BismarckBundes in diese Stiftung eingegangen sind.
({1})
Ich bin gerne bereit, Ihnen dieses Material zukommen zu lassen, damit Sie das nachvollziehen können.
({2})
Sie können im übrigen auch in Anfragen an den Bundestag nachlesen, daß das zweifellos der Fall ist.
Ich brauche aber bloß Ihre Kollegin Erika Steinbach zu zitieren, die im Sommer - das hat ja gerade mein Kollege Winni Wolf hier dargelegt - für entsprechende Skandale gesorgt hat, indem sie deutlich gemacht hat, daß sie weiterhin einen revanchistischen Weg gegenüber Polen gehen will. Sie hat nämlich wörtlich - auch im Bundestag - gesagt, die Vertreibung sei das schlimmste Verbrechen, was jemals Deutschen widerfahren ist. Wie soll jemand, der so etwas sagt - dazu brauche ich selber nicht allzuviel zu sagen -, über die NS-Geschichte in diesem Lande aufklären? Das ist wohl kaum möglich.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß meine Redezeit gleich vorbei ist. Lassen Sie mich daher zum Schluß sagen, daß Sie eine große Verantwortung für die Ausgrenzungspolitik tragen, die Sie in den vergangenen Monaten und Jahren durch die faktische Abschaffung des Asylrechts und durch die immer schärferen Gesetze im Ausländerrecht betrieben haben. Sie haben in diesem Wahlkampf bisher nicht gezeigt, daß Sie den Rechtsextremisten nicht den Weg weisen bzw. sie zurückweisen wollen.
Ich denke, auch dieser Punkt gehört zur Bilanz einer Haushaltsdebatte und zur Bilanz einer Legislaturperiode. Ich bedaure wirklich, daß in diesen zwei Tagen kaum Worte gefallen sind, die verdeutlichen, daß Rechtsextremisten in diesem Land nichts zu suchen haben und daß man sie entsprechend bekämpfen muß,
({3})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Jelpke hat sich mehrfach in ihrem Beitrag auf die Rede von Otto Schily bezogen, der momentan nicht im Plenarsaal ist.
({0})
Ich möchte daran anknüpfen und anregen, ob wir nicht nach dem Wahlkampf in aller Ruhe darüber diskutieren und uns einigen sollten, wie wir den von Herrn Schily gebrauchten Begriff des Grundrechts auf Sicherheit, den er aus der Menschenrechtskonvention zitiert hat, zutreffend und präzise gebrauchen. Der deutschen Grundrechtstradition entspricht es bekanntlich, daß die Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Maßnahmen konzipiert sind. Was Herr Schily gesagt hat, paßt also nicht so recht in diesen Rahmen hinein.
Grundrechte sind zudem dadurch gekennzeichnet, daß man gerichtlichen Beistand anrufen kann, um sie durchzusetzen. Es erscheint mir sehr fraglich, ob im sogenannten Status positivus tatsächlich gerichtlich einklagbare Ansprüche gegen den Staat bestehen können, etwa bestimmte Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit zu treffen. Nach meinem Verständnis ist es deswegen der präzisere Sprachgebrauch, von einer Grundpflicht des Staates zu sprechen. Es herrscht herkömmlicherweise völlige Einigkeit darüber, daß es geradezu einer der Staatszwecke ist, Sicherheit, auch innere Sicherheit, -zu gewährleisten.
Möglicherweise ist dies nur ein Streit um Worte. Wenn dieser Begriff nur in Wahlkampfzeiten gebraucht wird, um eine bestimmte politische Zielsetzung zu definieren, dann wäre dagegen nichts einzuwenden. Aber wenn man diesen Begriff juristisch präzise gebrauchen und ernst nehmen würde, dann würde sich als nächstes die Frage nach der Konkurrenz von Grundrechten stellen. In diesem Zusammenhang müßte man die Frage beantworten, wie ein solches Grundrecht auf Sicherheit in Konkurrenz zu anderen Grundrechten stünde, etwa beispielsweise zu dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. An diesem Beispiel erkennt man, daß diesem Begriff eine praktische politische Bedeutung zukommt. Daher habe ich mich zu Wort gemeldet.
Ist es nicht so, daß es ganz selbstverständlich die Aufgabe, die Pflicht und der Zweck des Staates ist, innere Sicherheit zu gewährleisten? Zu diesem Zweck gibt er etwa der Polizei und der Justiz bestimmte Eingriffsbefugnisse an die Hand. Diese Eingriffsbefugnisse finden wiederum ihre Grenze in den verschiedenen Grundrechten. Zum einen dürfen diese Grundrechte überhaupt nicht eingeschränkt werden, wie etwa die Menschenwürde oder aber das formelle Hauptgrundrecht auf Anrufung eines Gerichtes. Zum anderen besteht eine Konkurrenz zu Grundrechten, wie etwa' dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung.
Denken Sie an die Zeit!
In diesem Fall muß eine Abwägung der notwendigen Maßnahmen, die tauglich sind und die den geringstmöglichen Eingriff darstellen, stattfinden. Das ist das grundrechtlich abgesicherte Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
Ich glaube, wenn einmal der Pulverdampf des Wahlkampfes verflogen ist, dann sollten wir über den präzisen Sprachgebrauch und die politischen Folgen miteinander sine ira et studio diskutieren.
Da der Adressat nicht anwesend ist, gibt es keine Antwort auf diese Kurzintervention.
Ich erteile jetzt das Wort dem Bundesminister der Justiz, Edzard Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch mir liegt es am Herzen, zunächst ein Wort des Dankes an die Adresse von Detlef Kleinert zu richten, und zwar - ohne daß ich mich vergewissert habe, ob ich das tun darf - für sämtliche Justizminister seit 1969. Ich jedenfalls habe ihn in meinem Amt als einen ganz großartigen Ratgeber, vor allen Dingen aber auch als jemanden erlebt, der ganz praktisch Kompromisse schmieden kann. Ohne eine solche Fähigkeit und ohne derartige Leistungen und Hilfen ist
Rechtspolitik überhaupt nicht denkbar. - Herzlichen Dank also auch von dieser Seite.
({0})
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren; ich will hier vorwiegend für den engeren Bereich der Justizpolitik sprechen. Es ist schon bemerkenswert, welch eindrucksvolle Bilanz diese Koalition vorlegen kann. Bemerkenswert ist auch - Herr Schily ist nicht mehr da;
({1})
ich will das dennoch aufgreifen -, daß für weite Teile dieser Arbeit die Zustimmung der größten Oppositionsfraktion gewonnen werden konnte. Nur durch eine solche Gemeinsamkeit waren diese Dinge meistens möglich.
Aber ebenso ist es ein Faktum, daß Grüne und PDS - auch das spricht Bände - sich beharrlich jedem noch so kleinen Schritt zur Kriminalitätsbekämpfung verweigert haben. Wie auf dieser Basis Rotgrün irgend etwas zur Förderung der inneren Sicherheit beitragen könnte, ist mir völlig schleierhaft.
Von Reformstau konnte jedenfalls auf dem Feld der inneren Sicherheit überhaupt nicht die Rede sein, und zwar nicht nur auf strafrechtlichem Gebiet, sondern auf anderen Feldern ebenso; ich denke nur - ich erwähne es ausdrücklich - an das Familienrecht, innerhalb dessen wir unter anderem die große Kindschaftsrechtsreform zustande gebracht haben, aber auch an das Prozeß- und vor allem das Wirtschaftsrecht, wo eine Reihe von wichtigen Reformstücken zustande gebracht worden sind. Das ist ein erfreuliches Stück Bilanz am Ende der Legislaturperiode.
Ich will aber doch - weil das bei der ganzen Diskussion hier im Mittelpunkt gestanden hat - vorwiegend auf das strafrechtliche Feld zu sprechen kommen. Mein Reformprogramm für diese Legislaturperiode findet sich im Bundesgesetzblatt. Mein Reformprogramm für die nächste Legislaturperiode wird hierauf aufbauen und umfaßt schlicht zweierlei: zum einen die Justizreform - inklusive der Juristenausbildungsreform - sowie zum anderen den Ausbau des gemeinsamen europäischen Rechtsraumes.
Zurück zur Kriminalitätsbekämpfungspolitik und den dazu in den zurückliegenden Monaten gegebenen Impulsen, zumindest zu jenen, die unter der Führung des BMJ, des Bundesministers der Justiz, gegeben worden sind.
Erstens. Seit April ist mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz eine grundlegende Reform in Kraft. Sie hat im Strafgesetzbuch Wertungen aus der Kaiserzeit korrigiert. Seit mehr als 125 Jahren ist das nun endlich zustande gebracht worden. Immateriellen Rechtsgütern, wie Leben, körperliche Unversehrtheit und sexuelle Integrität, wurde ein höheres Gewicht gegenüber materiellen Rechtsgütern, wie etwa wirtschaftlichen Interessen, verliehen. Wir haben damit, so glaube ich, ein eindeutiges und klares Signal gegen Gewalt gesetzt; denn die zunehmende Gewaltbereitschaft ist eines der dramatischsten Entwicklungszeichen in der Kriminalität.
Zweitens. Seit Anfang dieses Jahres ist das Gesetz zum Schutz vor Sexualstraftaten in Kraft. Es wird die Sicherheit vor einschlägig vorbestraften Tätern nachhaltig erhöhen. Auch daran sieht man, daß manches nette Wort, was von den Grünen zur Prävention gekommen ist, absolut an der Realität vorbeigeht. Ohnehin ist bemerkenswert, daß Sie, Frau Müller, bei diesem Thema für die Grünen gesprochen haben. Mir ist nicht bewußt, daß Sie Mitglied im Rechtsausschuß, daß Sie Mitglied im Innenausschuß sind.
({2})
Ihre Praktiker, die daran arbeiten, schienen nicht in der Lage zu sein, Beiträge zu dieser Debatte zu liefern.
Drittens. Als flankierende Maßnahme wird das Zeugenschutzgesetz den Einsatz von Videotechnologie ermöglichen, um den traumatisierten, jedenfalls gedemütigten Opfern die Konfrontation mit ihrem Peiniger im Gerichtssaal zu ersparen.
Viertens. Eine weitere flankierende Maßnahme ist das DNS-Identifizierungsgesetz; Herr Kollege Kanther hat schon darauf abgehoben. Es wird die Aufklärungsarbeit bei schweren Verbrechen deutlich verbessern.
Fünftens. Dem organisierten Verbrechen sind wir mit einem ganzen Paket von Gesetzen zu Leibe gerückt. Die akustische Wohnraumüberwachung zu Beweiszwecken, wie wir es jetzt korrekt und vornehmer ausdrücken, hat zwar den meisten Staub aufgewirbelt, weil wir uns anfänglich in einigen weltanschaulichen Schützengräben gegenübergelegen haben. Viel wichtiger aber werden die Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Korruption
({3})
und vor allen Dingen der erleichterte Zugriff auf das verdächtige Vermögen sein.
In diesem Zusammenhang ist bereits seit Mai das Experiment in Kraft, die Finanzbehörden mit in die Pflicht zu nehmen. Es wird hochinteressant sein, durch die jetzt sogar durch die Verfassung vorgeschriebene Berichtspflicht den Nachweis zu erhalten, ob wir hier in irgendeiner Weise weiterkommen. Ich bin da sehr optimistisch.
Schließlich und endlich will ich darauf hinweisen, daß ich in Rom bei der Schaffung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofes für die deutschen Interessen eingetreten bin und daß ich es für einen ganz großen Fortschritt halte, daß wir die Einrichtung eines solchen Strafgerichtshofes erreicht haben.
({4})
Nur wenn wir es schaffen, zumindest für die Kernverbrechen eine weltweite Strafverfolgung zu organisieren, werden wir dem Gedanken des Rechts als regelnder Norm in der Welt gerecht und uns als Garant von Weltinnen- und -friedenspolitik ernsthaft Gehör verschaffen können.
Meine Damen und Herren, für die nächste Legislaturperiode haben wir bereits etwas Maßgebliches in die Wege geleitet, nämlich die Kommission für die Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems. Wahrscheinlich werden uns nun eine ganze Menge interessanter Diskussionsanstöße auf den Tisch gelegt: über den überwachten Hausarrest, den Führerscheinentzug auch bei Nichtverkehrsdelikten, die Strafbarkeit juristischer Personen, die Schadenswiedergutmachung, die gemeinnützige Arbeit und manches mehr. Diese Vorschläge, wenn sie schlüssig und verfolgenswert sind, werden wir in der kommenden Legislaturperiode umzusetzen haben.
So wichtig diese Reformen waren und so wichtig Reformen des Gesetzesrechts generell sind, so wenig nützt es, wenn sie sich nur auf bedrucktem Papier finden. Entscheidend ist ihre Umsetzung durch die Polizeien, durch die Justizen der Länder. Und hier hapert es. Wir haben in Deutschland kein Gesetzesdefizit mehr, sondern ein Vollzugsdefizit.
Ich will es mir ersparen, den mir in Zahlen vorliegenden Vergleich etwa zwischen Niedersachsen und anderen norddeutschen Ländern oder Bayern und Baden-Württemberg hier vorzutragen.
({5})
- auch mit Rheinland-Pfalz;' das ginge auch im Bereich der Justiz.
Stichwort: beschleunigte Verfahren. Man kann in der Tat feststellen, wie viele Straftaten pro 100 000 Einwohner wo geschehen sind. Das alles ist hochinteressant und belegt, daß wir die Länder, insbesondere die, deren Ministerpräsidenten im Wahlkampf den Mund besonders voll nehmen, immer wieder daran erinnern müssen, daß es ihre Aufgabe ist, die Bundesgesetze umzusetzen
({6})
und für die Leistungsfähigkeit der Umsetzungsapparate zu sorgen.
Wenn es richtig ist, daß die innere Sicherheit eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung des Wählers am 27. September spielt - man könnte gewisse Zweifel daran haben, wenn man sich das große Echo auf die Debatte hier im Plenum vor Augen führt -, dann glaube ich jedenfalls, daß zur Kenntnis genommen wird, daß diese Koalition ihre Aufgabe bezüglich der Gesetze gut erfüllt hat und da, wo weiterhin Reformbedarf besteht, Reformen entschieden und, wie ich meine, auch zielführend in Angriff genommen hat. Im übrigen sind die Vollzugsdefizite von anderen zu verantworten, die jetzt in die Bundespolitik drängen.
Ich hoffe, der Wähler wird das alles in Ruhe und in Sorgfalt und sehr kritisch beurteilen und danach seine Stimmentscheidung treffen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch seitens der CDU/CSU-Fraktion herzlichen Dank an Detlef Kleinert für die langjährige Zusammenarbeit in der Koalition.
({0})
Wir haben in der Rechts- und in der Innenpolitik vieles zuwege gebracht. Man kann darüber streiten, ob das alles immer richtig gewesen ist. Aber vieles ist geschehen. Vieles wäre aber nicht geschehen ohne die Unterstützung, die kluge Verhandlungsführung und die Durchsetzungsfähigkeit von Detlef Kleinert in der eigenen Fraktion; das muß gesagt werden. Ohne seine Durchsetzungsfähigkeit und das gute Zusammenspiel wäre dies alles nicht möglich gewesen. Wenn es wirklich einmal nicht weitergegangen ist, dann gab es oft genug Runden in ganz privatem Kreis mit Erwin Marschewski, Detlef Kleinert und meiner Wenigkeit. Dort haben wir immer einen Weg gefunden. Ich werde dies und diese Freundschaft in der nächsten Legislaturperiode sehr vermissen. Wir wünschen dir, lieber Detlef, alles Gute für die Zukunft.
({1})
Ich möchte einen Gedanken aufgreifen, den vorhin Frau Jelpke genannt hat. Es ist richtig: Die innere Sicherheit ist nicht nur ein Thema für die Rechtsparteien. Die innere Sicherheit war immer Thema in diesem Haus, Thema für alle politischen Parteien, die hier in diesem Haus vertreten sind. Wir haben in diesem Bereich - das ist heute oft genug gesagt worden - gemeinsam vieles über die Parteigrenzen hinweg zustande gebracht. Es ist ein Thema für die Bevölkerung insgesamt. Ich glaube, daß wir uns hier keine Versäumnisse vorwerfen zu lassen brauchen, auch nicht vorwerfen lassen dürfen, denn jedes Versäumnis führt sofort zu einem Anwachsen der Kriminalität, weil dies von den Straftätern sofort ausgenutzt wird. Es führt zu einer Verunsicherung in der Bevölkerung und dann wiederum zum Anwachsen des Extremismus auf linker und rechter Seite.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es darf im Bereich der inneren Sicherheit keine rechtsfreien Räume geben. Es darf nicht sein, daß die Polizei kläglich vor Gewalt zurückweicht. Die Polizei und die Behörden müssen in der Tat den starken Staat repräsentieren, weil sonst bei gewaltsamen Demonstrationen, bei Massenansammlungen oder in Fußballstadien Gewalt um sich greift. Hier muß die Polizei präsent sein. Deswegen brauchen wir in allen Ländern den Unterbindungsgewahrsam. Diese Forderung ist über die Parteigrenzen hinweg gestellt worden, als die deutschen Hooligans in Frankreich ihre Untaten begangen haben.
Wir sollten uns aber auch dann gegen die Polemik der Bedenkenträger wenden, wenn nicht so spektakuläre Vorkommnisse zu vermelden sind, bei denen es aber trotzdem zum Gebrauch des Unterbindungsgewahrsams kommt. Wenn dann behauptet wird, wir hätten es mit einem Polizeistaat zu tun, kann man nur sagen: Das ist nicht der Fall. Wir brauchen den Unterbindungsgewahrsam, um Gewalttaten von vornherein im Keim zu ersticken.
In diesen Zusammenhang gehört ferner, daß wir vor der Alltagskriminalität nicht zurückweichen dürfen.
({2})
Es darf nicht sein, daß wir den Ladendiebstahl bagatellisieren. Es darf auch nicht sein, daß wir den Gebrauch von Rauschgift, auch in kleineren Mengen, bagatellisieren. Hier muß in der Tat Nulltoleranz herrschen.
({3})
- Liebe Frau Müller, Sie müßten nach Schweden gehen. Dort gab es einmal eine Politik, die genau der Politik entsprach, die Sie heute hier von uns gefordert haben. Es gab eine Kehrtwende: Vor zehn Jahren ist man dort zurückgekehrt zu einer Nulltoleranz. Es gibt nicht einmal gegenüber dem Eigengebrauch eine Duldung des schwedischen Staates. Mit dieser Politik hat Schweden große Erfolge erreicht.
Ich glaube, daß wir uns in einzelnen Ländern vorzuwerfen haben, daß wir, wenn die Rauschgiftkriminalität um sich greift, zu lasch sind. Wenn wir nicht so lasch wären, wenn wir stärker vorgehen würden, dann hätten wir in diesem Bereich und auch in anderen Bereichen weniger Kriminalität. Das jedenfalls beweisen die Zahlen aus Bayern und Baden-Württemberg. Wir haben in Bayern und Baden-Württemberg in der Tat die niedrigste Kriminalitätsrate im ganzen Bundesgebiet.
Hierher gehört natürlich auch die Aufklärungsquote.
({4})
Es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir zu einer noch größeren Aufklärungsquote kommen; denn der Täter liest in der Tat nicht das Strafgesetzbuch, sondern er kalkuliert, ob er entdeckt wird oder nicht. Wenn die Gefahr groß ist, daß er entdeckt wird, dann wird er es unter Umständen lassen. Deswegen ist die Aufklärungsquote die beste Prävention. Hier ist nicht zuletzt auf Drängen des Bundesministers in der Innenministerkonferenz die Aufklärungsquote in der Vergangenheit entscheidend angestiegen. Wir liegen jetzt bei 50 Prozent. Aber der Unterschied zwischen den Bundesländern ist noch zu groß. Wir haben in Bayern eine Aufklärungsquote von 64,3 Prozent. In dem Gebiet am Untermain, aus dem ich komme, liegt sie sogar bei 70 Prozent.
({5})
- Auch bei Steuervergehen, lieber Herr Conradi. Da sind Sie völlig falsch informiert. Das wird von Ihnen immer als Alibi benutzt. Es geht um die Aufklärung von Verbrechen und Kriminalität, wozu auch Verstöße gegen das Steuerstrafrecht gehören.
Insbesondere in den Ländern, die von der SPD regiert werden, muß mehr für die Aufklärung von Straftaten getan werden. Die Zahlen jedenfalls sprechen gegen die von der SPD regierten Länder. Dazu gehört, daß die Polizei entsprechend ausgestattet
sein muß. Es muß möglich sein, daß die Polizei schon am Tatort alle Informationen abrufen kann, die irgendwo im Computer gespeichert sind, und daß ein Verbund zwischen Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten und auch Justizvollzugsanstalten in den Ländern besteht.
Wir haben jedenfalls mit der Einrichtung der Gendatei und dem DNA-Identifizierungsgesetz kurz vor der Sommerpause einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß es den Sexualstraftätern im Wiederholungsfall sehr schwerfallen wird, sich zu verbergen. Das ist meiner Meinung nach ein ganz entscheidender Schritt nach vorne.
({6})
Es gehört dazu, daß wir eine stärkere Präsenz der Polizei vor Ort haben. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß eine solche Präsenz präventiv wirkt. Vorhin ist Frankfurt genannt worden. Es gab dort ständig Raubüberfälle in U-Bahn-Stationen. Dann hat man am Ende und am Anfang eines solchen U-BahnSchachtes Polizisten hingestellt, und die Raubüberfälle haben aufgehört. Vorher sind die Jugendlichen an älteren Damen vorbeigerast, haben ihnen die Handtasche weggerissen und sind irgendwo im Getümmel verschwunden. Das ist vorbei. Die Präsenz der Polizei bewirkt, daß bei Gewalttaten, aber auch bei ganz einfachen Delikten die Straftäter sich von vornherein überlegen, ob sie es wagen sollen oder nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang das Stichwort Sicherheitswacht, das oft belächelt wird: Ich glaube, es ist ein richtiger Weg, wenn zivile Personen in die öffentliche Sicherheit und in die Einhaltung der öffentlichen Ordnung eingebunden werden. Hier beschreitet Bayern einen guten Weg; dies ist auch ein Vorbild für andere Bundesländer.
Ein Wort zur Jugendkriminalität, weil uns ständig erschreckende Statistiken von den zuständigen Behörden auf den Tisch kommen. Bei der Jugendkriminalität ist das wichtigste die Prävention. Darüber brauchen wir nicht zu streiten; das ist übereinstimmende Meinung.
({7})
Es geht darum, daß die Jugendämter, die Kommunen und Schulen zusammenarbeiten, daß Gespräche von Polizei und Jugendamt mit den Jugendlichen stattfinden, um Gewalt zu verhindern und schon im Keim zu ersticken. In den Bereich der Jugendhilfe gehören insbesondere die gerichtlichen Maßnahmen, die wir nach dem Jugendgerichtsgesetz bereits haben; ich denke an Trainingskurse, an den Täter-Opfer-Ausgleich, an Arbeitsleistungen. Diese Dinge gehören schon zur Prävention. Dazu gehört auch die Verantwortung der Medien. Es ist völlig klar, daß exzessive Gewaltszenen einen Nachklang bei gewaltbereiten Jugendlichen haben oder zumindest Gewaltbereitschaft wecken.
Noch ein Wort zur Unterbringung von jugendlichen Straftätern und straffällig gewordenen Kindern in sogenannten geschlossenen Heimen; auch das wurde ja in der Vergangenheit sehr stark angegriffen. Aber dann, wenn alles versagt hat, wenn das Kind oder der Jugendliche nicht aufhört, straffällig zu werden, wenn er an keinem Kaufhaus vorbeigehen kann, ohne etwas „mitgehen" zu lassen, wenn er den Drogen ausgesetzt ist und wenn die Eltern versagen, dann ist es notwendig, daß wir als letztes Mittel auch die Möglichkeit haben, solche Kinder und Jugendliche in einem geschlossenen Heim unterzubringen und sie auf diese Weise von der Straße wegzubringen.
Zum repressiven Bereich will ich noch folgendes sagen. Es ist wirklich diskussionswürdig, ob es richtig ist, wenn es gang und gäbe wird, bei Heranwachsenden das Jugendstrafrecht anzuwenden. Es stellt sich auch die Frage, ob nicht das Strafmaß bei Heranwachsenden, die schwerste Straftaten begehen, von 10 auf 15 Jahre Freiheitsentzug erhöht werden sollte. Es ist nicht einzusehen, daß ein 20jähriger mit 10 Jahren Freiheitsentzug für einen Mord bestraft wird, während der 21jährige Mittäter lebenslänglich bekommt. Hier muß umgedacht werden, zumindestens müssen wir das stärker diskutieren. Natürlich ist auch die Frage des Führerscheinentzugs bei Jugendlichen, die gerade den Führerschein gemacht haben, auch dann zu diskutieren, wenn sie kein Straßenverkehrsdelikt begangen haben.
In der vergangenen Legislaturperiode haben wir einiges zuwege gebracht. Wir können hier nur Gesetze machen. Die Länder müssen sie durchführen. Soweit sich uns die Aufgabe gestellt hat, zu reagieren und vielleicht auch zukünftige Entwicklungen zu beeinflussen, sind wir ihr in dieser Legislaturperiode gerecht geworden. Dafür herzlichen Dank an den Justizminister, an den Innenminister und an das ganze Haus.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erwin Marschewski, CDU/ CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer Gutes tut, sollte auch darüber sprechen. Das ist notwendig, um den Menschen draußen zu zeigen, wer wirklich Probleme gelöst hat, Herr Kollege.
({0})
Die heutige Debatte hat gerade gezeigt, daß CDU und CSU die Parteien der inneren Sicherheit sind. Wir beweisen dies erneut mit diesem Etat.
({1})
Wir haben Schwerpunkte innerhalb dieses Etats zugunsten des Bundeskriminalamtes, des Bundesgrenzschutzes und der Bereitschaftspolizeien der
Länder gesetzt, weil wir einfach garantieren wollen, daß die Bürger in diesem Land weiterhin in Sicherheit leben können, weil wir den Gangstern Paroli bieten wollen und weil wir die organisierte Kriminalität bekämpfen wollen, die oft mit der Alltagskriminalität zusammenhängt.
Eines ist übrigens falsch, Frau Kollegin Müller: Die Beschaffungskriminalität beträgt vielleicht 2 bis 3 Prozent und nicht 50 Prozent. Das ist völlig falsch.
Darüber hinaus wollen wir - da sind wir, Herr Kollege Schily, in diesem Hause sicherlich einer Meinung - das Rechtsbewußtsein verbessern. Deswegen ist es eben falsch, Kriminalität und Rechtsbrüche zu verharmlosen. Deswegen ist es eben falsch, Gewalttaten zur Durchsetzung politischer Ziele zu akzeptieren. Deswegen ist es falsch, wenn in NordrheinWestfalen, aber auch in Schleswig-Holstein und in anderen Ländern sogenannte Bagatelldelikte oft nicht mehr verfolgt werden. Wer das hinnimmt, der schafft einen Anreiz, kriminell zu werden, er erhöht die Furcht der Bevölkerung vor Verbrechen, und er verführt Minderjährige.
Ich weiß natürlich, daß die Erziehung ausgesprochen wichtig ist, gar keine Frage, auch in bezug auf die Prävention. Man muß den jungen Leuten sagen, was sie machen dürfen und was sie nicht machen dürfen. Man muß den jungen Menschen insbesondere in den Familien und Schulen sagen, daß sie das Leben und die Gesundheit anderer schützen müssen und fremdes Eigentum zu achten haben. Das ist richtig. Gesellschaftliche Ursachen - das weiß ich - spielen selbstverständlich eine Rolle. Das hat Franz von Liszt schon unterstrichen. Das gilt über die Anomie- bis hin zur Sozialisationstheorie. Natürlich spielen gesellschaftliche Zwänge eine Rolle. Das ist gar keine Frage. Aber eines, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ist auch klar: Trotz dieser gesellschaftlichen Zwänge ist jeder für sich selbst verantwortlich. Deswegen müssen wir neben der Prävention - Kollege Geis hat das bereits gesagt - auch Grenzen setzen. Nicht Verfahrenseinstellung bei vielfachem Diebstahl, sondern Bestrafung ist das geeignete Mittel. Deswegen müssen wir bei Kriminalität auch bestrafen. Das haben wir gemacht. Man muß das, was Bundesminister Kanther vorhin ausgeführt hat, immer wiederholen. Deswegen haben wir, auch gegen die Gewalt von rechts und links, das Verbrechensbekämpfungsgesetz geschaffen. Wir haben uns dadurch entschlossen gegen Kriminalität zur Wehr gesetzt: Bekämpfung von Sexualdelikten, Gendatei, Geldwäschegesetz, Zeugenschutzgesetz, Ausländerrechtsnovelle.
Man muß einfach sagen dürfen, was richtig, was leider wahr ist, nämlich daß über 60 Prozent der Ausländer an organisierter Kriminalität beteiligt sind. Weiterhin haben wir die Hauptverhandlungshaft geschaffen. Warum haben Sie dazu nein gesagt? Das sind Dinge, die wir in dieser Zeit geleistet haben.
Herr Abgeordneter Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kemper?
Sofort. Ich will dies eben zu Ende ausführen. - Unsere Politik hatte auch beträchtlichen Erfolg. Der Anstieg der Kriminalität ist gebremst. Die Kriminalität steigt nicht, sie geht, Frau Kollegin, seit zwei Jahren zurück, und - was besonders wichtig ist und immer wiederholt werden muß - die Aufklärungsquote liegt bei über 50 Prozent, ist also so hoch wie seit 25 Jahren nicht mehr. Unsere Politik hatte Erfolg.
({0}) Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Marschewski, da wir uns im Innenausschuß immer gut verstanden haben, will ich nicht, daß Sie mit einem großen Irrtum in die neue Legislaturperiode gehen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß nicht 60 Prozent der ausländischen Mitbürger organisierte Kriminelle sind, sondern daß die organisierte Kriminalität zu 60 Prozent in den Händen von Ausländern liegt?
Ich habe Sie immer für einen intelligenten Kollegen gehalten. Ich tue das auch weiterhin. Aber dies müssen Sie bewußt falsch verstanden haben:
({0})
60 Prozent der organisierten Kriminalität liegt in den Händen von Ausländern. Das ist eindeutig. Das ist das, was ich sage. Das muß man immer wieder sagen.
({1})
Ich wiederhole: Unsere Gesetze haben mit dazu beigetragen, auch dem zu begegnen.
Nun komme ich wieder zu Ihnen, Herr Kollege. Sie haben für den Wahlkampf ein Positionspapier zur inneren Sicherheit vorgelegt.
({2})
Dieses Papier erweckt sicherlich den Eindruck bzw. Sie wollen den Eindruck erwecken, daß Union und SPD ähnliche Botschaften verkünden. Sie sprechen darin von einer bürgernahen Polizei. Natürlich bin ich dafür. Sie sprechen von der Modernisierung der Polizei. Natürlich bin ich dafür. Sie sprechen von einer schnelleren und spürbareren Reaktion von Polizei und Justiz. Dafür bin ich erst recht; das ist gar keine Frage. Es handelt sich um Selbstverständlichkeiten. Was aber auffällt, ist, meine Damen und Herren von der SPD: Dafür sind die Länder zuständig, da die Länder für die Polizei zuständig sind.
Ich sage noch einmal, daß Sie da etwas tun können. Natürlich können Sie die Zahl der kriminellen Taten allein durch Prävention nicht verändern. Das ist sicher nicht denkbar. Aber Sie können besser aufklären. In meinem Land Nordrhein-Westfalen - ich bin stolz darauf, Nordrhein-Westfale zu sein, keine Frage - liegt die Aufklärungsquote bei schlappen 48 Prozent. In Bayern liegt sie - Glückwunsch an die
Bayern - bei nahezu 65 Prozent. Herr Kollege Schily, das ist eine wichtige Zahl.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jetzt möchte ich zu Ende ausführen.
Sie lassen also keine Zwischenfragen mehr zu?
Ich überlege mir das von Fall zu Fall. Aber Sie haben bereits einmal gefragt, Herr Kollege. Sie können vielleicht nachher noch einmal fragen. Dagegen ist nichts zu sagen.
Herr Kollege Schily, jetzt komme ich zu Ihnen. Der Handlungskatalog der SPD zur inneren Sicherheit muß sich an Ihrem tatsächlichen Verhalten messen lassen. Fakt ist: Auch wenn Sie am Ende mehreren Gesetzen zugestimmt haben, haben Sie Gesetze verzögert. Dies hat dazu geführt, daß manches nicht in unserem, aber in Ihrem Sinne entschärft werden mußte. Ich denke hier an die Hauptverhandlungshaft.
Im Ausländerrecht sind wir im Vermittlungsausschuß zu einem Ergebnis gekommen. Das ist wahr. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Aber dies wird von den rotgrünen Ländern nicht vollzogen. Es werden Härtefallkommissionen geschaffen, die das Ganze auf den Kopf stellen. Das ist das Problem.
Oder zu Ihrem persönlichen Schicksal, zum sogenannten Lauschangriff, dem Einsatz technischer Mittel in Gangsterwohnungen. Ausnahmen gibt es für Geistliche, Verteidiger, Stenotypistinnen, Zeitungsboten, Apotheker, Zahnärzte. Dies haben Sie gemeinsam mit den Grünen und der PDS, dieser Sicherheitskoalition für diese Republik, wie Sie sie wollen, gemacht.
({0})
- Herr Kollege Schily, Sie können gleich die nächste Frage mit beantworten. Wir haben ein Jahr lang verhandelt. Wir hatten einen gemeinsamen Entwurf, dem Sie zugestimmt haben. Warum haben Sie dazu nein gesagt und diesem Rumpfgesetz zugestimmt?
Ihre Zwischenfrage, Herr Schily.
Ich will die Debatte wahrlich nicht verlängern, aber ich muß sagen: Soweit ich weiß, sind Sie ein überzeugter Kirchenchrist, Herr Kollege Marschewski. Wollen Sie hier heute wahrlich unsere Entscheidung kritisieren - Sie haben ja die Ausnahmebestimmung für Geistliche kritisiert -, daß das Beichtgeheimnis in jeder Weise absolut respektiert wird? Wollen Sie das wirklich kritisieren? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.
Man kann durch Zwischenfragen versuchen, Dinge auf den Kopf zu stellen. Sie wissen genau, daß das Beichtgeheimnis bereits jetzt im Grundgesetz geschützt wird. Aber wenn Sie Apotheker, Hebammen, Zeitungsboten als Ausnahmen hinstellen, ist das wirklich kein Lauschangriff. Das ist eine Nullnummer, und dafür tragen Sie die Verantwortung. Ich sage Ihnen: Wenn wir nach der Wahl wieder die Mehrheit haben, werden wir das umgehend ändern. Wir werden auch dafür sorgen, daß die optische Überwachung eingeführt wird, weil das dringend vonnöten ist.
Herr Kollege Schily, ich weiß, was Sie in der letzten Debatte zu diesem Thema gesagt haben; ich habe mir das sogar aufgeschrieben. Sie haben gesagt, Ihr Verhalten stünde in keiner Weise im Widerspruch zu dem, was Sie in den Verhandlungen vertreten hätten. Herr Kollege Schily, das ist eine schlechte Ausrede, eine schlimme Entschuldigung. Sie haben der inneren Sicherheit damit einen schlechten Dienst erwiesen. Sie haben ihr sogar Schaden zugefügt.
Hinzu kommt - das muß man immer wieder sagen -: Sie wollen eine Koalition mit den Grünen, Herr Kollege Schily. Jetzt will ich Ihnen mal sagen, wie oft die Grünen nein gesagt haben.
({0})
- Ich weiß, daß Sie auch neun Kollegen von der F.D.P. haben gewinnen können. Das ist sicherlich richtig; das ist wahr. Die Grünen haben also mit neun Kollegen von der F.D.P. - ich bedauere dies - mit der SPD und mit der PDS dieses Gesetz gecancelt. Das ist keine gute Sache - wenn man mit Ihnen auch manchmal zusammenarbeiten kann, Herr Schily.
Ich komme zu der Koalition mit den Grünen. Die Grünen haben nein gesagt zum Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten. Sie haben nein gesagt zum genetischen Fingerabdruck. Sie haben nein gesagt zur Hauptverhandlungshaft. Sie haben nein gesagt zu Europol. Frau Kollegin, ich habe Ihr Programm gelesen: Sie wollen die Bereitschaftspolizei abbauen; Sie wollen vor allen Dingen die lebenslange Freiheitsstrafe für Mörder und Vergewaltiger aufheben. Frau Kollegin, dies ist mehr als ein Skandal. Ich denke, daß die deutsche Bevölkerung dies entsprechend würdigen und bei der Wahl beachten wird.
Meine Damen und Herren, innere Sicherheit ist der ständige Versuch, sich dem Verbrechensgeschehen anzupassen, das heißt, durch Gesetze zu erreichen, daß wir die Möglichkeit haben, die Gangster zu bekämpfen.
Die Frau Abgeordnete Müller hat den Wunsch zu einer Zwischenfrage.
Ich möchte zu Ende reden, sonst wird es zu spät, Frau Kollegin. - Wir wollen die optische Wohnraumüberwachung einführen. Wir wollen bei der Korruptionsbekämpfung insbesondere die Telefonüberwachung ermöglichen.
Wir müssen auch darüber nachdenken, die Ausweisungsvorschriften für kriminelle Ausländer zu verschärfen. Derzeit sind drei Jahre Freiheitsstrafe erforderlich, damit jemand ausgewiesen wird. Ich meine, es ist vonnöten, diese Zeit beträchtlich herabzusetzen: auf zwei Jahre oder ein Jahr. Ich sage Ihnen: Wir werden dies tun.
Wir werden in der Innenpolitik weitere Aufgaben haben. Wir wollen sicherstellen, daß im Internet wie im Mobilfunk, was ganz wichtig ist, kein rechtsfreier Raum besteht. Wir wollen vor allen Dingen Prozesse verkürzen. Eines ist besonders wichtig: Wir müssen darauf hinwirken, daß Gerichte den Strafrahmen besser ausschöpfen, als dies bisher geschieht.
({0})
Es kann doch nicht sein, daß Vergewaltiger und Kindermörder schon nach sehr kurzen Haftzeiten frei herumlaufen, Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren, ich glaube, mit unseren Initiativen haben wir die Weichen richtig gestellt. Wir werden auf diesem Weg weitergehen. CDU und CSU sind die Parteien der inneren Sicherheit.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Abgeordneten Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Ich weiß, es wollen alle nach Hause. Aber: Herr Marschewski, ich hätte es nicht gedacht, aber jetzt haben Sie doch noch das Thema „lebenslange Haft" angesprochen. Ich möchte das, was Sie dazu behauptet haben, zumindest kurz richtigstellen. Der Herr Abgeordnete Geis hat sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert, als er vor einigen Wochen darüber sprach.
Sie wissen ganz genau, Herr Marschewski, daß die lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik de facto längst abgeschafft ist. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1977 entschieden, daß der Resozialisierungsgedanke auch beim Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe gilt und daß wegen des Grundrechts der Menschenwürde niemand, auch nicht derjenige, der zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt ist, bis zum Ende seiner Tage hinter Gittern bleiben muß, ohne daß er die Chance - so das Bundesverfassungsgericht im Originalton - zu einer bewährungsbedingten Entlassung bekommt. Insofern halte ich Ihre Reaktion, mit Verlaub, für eine ziemliche Heuchelei.
Sie haben den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes seinerzeit nicht umgesetzt, was dazu führt - eine unveröffentlichte Studie des Bundesjustizministeriums kommt zu diesem Schluß -, daß wir Gerechtigkeit in diesem Land zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen unterschiedlich handhaben. In Sachsen beträgt die Vollstreckungsdauer durchschnittlich 25,5 Jahre, in MecklenburgVorpommern sind es durchschnittlich 15 Jahre. Das heißt, daß die Vollstreckung der lebenslangen Haft unterschiedlich gehandhabt wird. Was ich gefordert habe, was wir als Bündnisgrüne in unserem Programm fordern, ist die Umsetzung dieses Bundesverfassungsgerichtsurteiles, nichts weiter!
Zur Antwort bitte Herr Abgeordneter Marschewski.
Frau Kollegin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben vorhin gemeint, ich sei ein Kirchgänger. Das ist kein Schimpfwort. Ich meine, es täte dem einen oder anderen ganz gut, wieder einmal in eine Kirche zu gehen, auch einmal ein bißchen nachzudenken. Ich glaube, das ist eine ganz gute Sache.
Ich begrüße, Frau Kollegin, daß Sie klargestellt haben, daß die Grünen von diesem Beschluß, die lebenslange Freiheitsstrafe für Mörder und Vergewaltiger abzuschaffen, nicht abrücken. Ich begrüße diesen Beschluß. Ich will das immer wieder der deutschen Bevölkerung sagen. Meine Rechtsauffassung ist eine ganz andere.
({0})
Übrigens, wenn Sie sagen, der Kollege Geis habe sich nicht mit Ruhm bekleckert: Ich vertrete vollkommen seine Auffassung. Kollege Geis ist ein fähiger Rechtspolitiker, der sich unwahrscheinlich bemüht hat, für die innere Sicherheit in diesem Lande vieles zu tun. Ich bin Norbert Geis sehr dankbar.
({1})
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen liegen nicht vor.
Das Haushaltsgesetz 1999 und der Finanzplan des Bundes 1998 bis 2002 sollen gemäß § 95 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden.
({0})
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung und damit am Ende der voraussichtlich letzten Sitzung der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages.
({1})
Diese 13. Wahlperiode ist die letzte Wahlperiode, während der der Deutsche Bundestag in vollem Umfang in Bonn tagt. Hinter uns liegen vier arbeitsreiche Jahre, Jahre erfolgreicher, manchmal auch mühsamer Gesetzgebungsarbeit,
({2})
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Jahre kontroverser Debatten, aber vielfach auch des Konsenses über die Fraktionsgrenzen hinweg in grundlegenden Fragen. Ich möchte die in den vergangenen vier Jahren geleistete Arbeit zum Anlaß nehmen, Ihnen allen ganz herzlich für Ihr Engagement und Ihren Einsatz zu danken.
Mein besonderer Dank gilt den vielen Kolleginnen und Kollegen, die dem 14. Deutschen Bundestag nicht mehr angehören werden. Viele von ihnen haben im Parlament, aber auch in der Regierung an herausgehobener Stelle über viele Jahre gewirkt. Wenn ich jetzt in den Raum blicke, sehe ich den Kollegen Dr. Hirsch, den Kollegen Conradi, den Kollegen Kleinert, den Kollegen Dr. Feldmann und den Kollegen Dr. Weng, die ausscheiden werden. Ich freue mich, daß ich Sie hier noch einmal verabschieden kann. Es ist ja bereits bei den verschiedenen Abschiedsreden von hier aus Ihnen allen im Namen des Parlaments gedankt worden. Ich will deshalb nicht noch einmal auf alle einzelnen eingehen, sondern allen ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen Dank sagen und ihnen unsere besten Wünsche für ihren weiteren Lebensweg mitgeben.
Mein Dank gilt auch den Schriftführerinnen und Schriftführern und nicht zuletzt den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die vor und hinter den Kulissen ihren Dienst tun.
({3})
Ohne sie könnten wir unsere parlamentarische Arbeit nicht leisten.
Wir werden unsere parlamentarische Arbeit im Herbst in der 14. Wahlperiode fortsetzen. Allen, die dabeisein werden, wünsche ich eine glückliche Hand zum Wohle unseres Volkes. Ich hoffe, daß es im laufenden Wahlkampf nicht zu viele Blessuren geben wird.
Ich bedanke mich und schließe die Sitzung.
({4})