Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
- Drucksache 13/11089 Für die Fragestunde ist heute eine Stunde vorgesehen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Die Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Ulrich Irmer sowie Frage 45 des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Gernot Erler auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, bei der Lösung der Kosovo-Krise die albanischen Kosovarer auf das westliche politische Ziel eines Autonomiestatus für den Kosovo innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien zu verpflichten und auf eine mit Waffengewalt verfolgte Sezession des Kosovo zu verzichten?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Bundesregierung hat zusammen mit ihren Partnern in der Kontaktgruppe und in der Europäischen Union mehrfach erklärt, daß sie die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien respektiert und Gewaltanwendung - gleich von welcher Seite - ablehnt. In diesem Sinne übt sie Druck auch auf die kosovo-albanische Seite aus, um sie dazu zu bewegen, sowohl auf Gewaltmaßnahmen als auch auf eine Loslösung des Kosovo zu verzichten. Die Bundesregierung stellt dabei klar, daß nur derjenige mit der Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft rechnen kann, der bereit ist, auf dieser Grundlage den Dialog mit der anderen Seite zu suchen und auf Gewalt zu verzichten.
Deshalb sollte es nach Auffassung der Bundesregierung auch im Interesse der Kosovo-Albaner sein, statt politischer Unabhängigkeit eine Autonomieregelung anzustreben, die die legitimen Interessen der Kosovo-Albaner statusrechtlich absichert, ohne die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien in Frage zu stellen.
Bitte, eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß sich die UCK - also die Befreiungsarmee des Kosovo - inzwischen von den Positionen des Präsidenten Ibrahim Rugova abgewandt hat und nicht mehr das westliche Ziel einer Autonomielösung im Rahmen des jugoslawischen Staatsverbandes verfolgt? Welche Möglichkeiten hat denn die westliche Gemeinschaft, auf diese Verbände einzuwirken, die offenbar nicht mehr unter der politischen Führung von Herrn Rugova stehen?
Herr Kollege, Sie sprechen ein Problem an, das auch ich für sehr relevant halte. Wir müssen wirklich alles dafür tun, um nicht nur einerseits den Druck auf die serbische Seite zu verstärken - und zwar so, daß es hier nicht zu einer Fortsetzung von Gewalt und zu Überreaktionen serbischerseits kommt -, sondern um andererseits natürlich auch Mittel und Wege zu finden, um auf die terroristischen albanischen Bewegungen Einfluß nehmen zu können. Das ist natürlich sehr viel schwieriger, weil sie ja keine Führung haben, die ansprechbar ist.
Der moderate und von uns allseits geschätzte albanische Kosovo-Führer Rugova, der immer wieder mit uns hier Gespräche geführt hat, wird weiterhin von uns unterstützt. Wir werden alles tun, um die moderaten Kräfte auf albanischer Seite zu unterstützen. Aber wir müssen uns auch darüber Gedanken machen - ich teile Ihre Auffassung dazu -, wie wir diejenigen Kräfte unter Pression setzen können, die versuchen, durch Gewalt den Status des Kosovo hin zu einer Sezession zu verändern.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, in den letzten Tagen haben uns Nachrichten dahin gehend erreicht, daß Herr Bukoshi zum Beispiel plant, eine politische Führungsstruktur für die UCK zu errichten. In diesem Zusammenhang wurde auch der Name von Herrn Krasniqi genannt. Gibt es Pläne, nicht nur mit Herrn Rugova, der in Bonn erwartet wird, sondern auch mit Vertretern der neuen politischen Strukturen der UCK Kontakt aufzunehmen?
Ich möchte zunächst einmal den Besuch von Herrn Rugova in Bonn abwarten und mit ihm auch über unser Vorgehen sprechen und Möglichkeiten erörtern, wie man stärker als bisher Einfluß auf eine Gruppierung nehmen kann, die natürlich hofft, ihre Ziele durch einen NATO-Einsatz verwirklichen zu können. Das ist wohl offensichtlich die Zielsetzung: die NATO militärisch zu verwickeln und dann dem eigentlichen Ziel - nämlich einer Loslösung von Jugoslawien - näherzukommen.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Gernot Erler, SPD, auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bisher unternommen, um die albanischen Kosovarer zu einem Verzicht auf die vor allem durch die UCK durchgeführten Gewaltmaßnahmen mit dem Ziel eines von der Bundesrepublik Jugoslawien getrennten selbständigen Kosovo zu bewegen, und welche Maßnahmen wird die Bundesregierung zusammen mit den anderen Mitgliedern der Kontaktgruppe noch zur Erreichung dieses Ziels ergreifen?
Herr Kollege, die Bundesregierung nutzt die zur Verfügung stehenden Gesprächskanäle - ich sagte es schon - mit der kosovo-albanischen Seite, um ihre Ablehnung der Gewaltstrategie der UCK zum Ausdruck zu bringen. Bundesminister Kinkel hat in diesem Sinne in London am Rande des Treffens der Außenminister der G 8 am 12. Juni dieses Jahres ein eingehendes Gespräch mit dem auf Mäßigung und Gewaltverzicht bedachten Führer der Kosovo-Albaner, Ibrahim Rugova, geführt. Zur Fortsetzung des Gespräches hat Bundesminister Kinkel Herrn Rugova für diesen Donnerstag, also den 25. Juni, nach Bonn eingeladen. Die Bundesregierung verfolgt dabei das Ziel, die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für die moderaten, um eine Verhandlungslösung bemühten Kräfte zum Ausdruck zu bringen.
Bitte, eine Zusatzfrage, Herr Erler.
Herr Staatsminister, in welchem Umfang werden denn diese Position und diese spezielle Anstrengung der Bundesregierung in Gestalt der Einladung an Herrn Rugova von den anderen Mitgliedern der Kontaktgruppe, einschließlich der russischen Seite, geteilt?
Ich glaube, daß alles, was wir in diesem Zusammenhang tun, auch von den anderen Mitgliedern der Kontaktgruppe, einschließlich Rußlands, als Bemühung unsererseits gesehen wird, bilateral zum Frieden beizutragen; auch andere sind natürlich bilateral tätig. Zusätzlich zu den Bemühungen der Kontaktgruppe der Europäischen Union und anderer nutzen auch wir unsere Möglichkeiten, bilateral auf die Albaner dahin gehend einzuwirken, daß sie sich moderat verhalten, und ihnen klarzumachen, daß es um eine Verhandlungslösung, um eine politische Lösung in ihrem Sinne und nicht um eine Fortsetzung von Gewalt oder gar um die Herbeiführung eines neuen Krieges geht.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, die Bundesregierung hat ja die Politik der NATO unterstützt, zunächst einmal mit demonstrativen Maßnahmen Herrn Milosevic die Grenzen für seine Gewaltanwendung im Kosovo zu zeigen. Halten Sie es für richtig, daß diese Form der Demonstration im Falle eines Falles fortgesetzt werden muß oder vielleicht sogar weitere Maßnahmen gegen das Vorgehen der serbischen Führung im Kosovo ergriffen werden müssen? Halten Sie es für sinnvoll, dann auch gegenüber dem extrem gewaltbereiten Teil der Kosovo-Albaner entsprechende Drohungen auszusprechen oder Maßnahmen zu ergreifen, oder ist das kein richtiger Weg?
Ich kann mir nicht vorstellen, daß man bei Gewalttätigen zwischen guten und bösen Gewalttätigen unterscheidet. Ich gehe vielmehr davon aus, daß Gewalt ganz generell mit den gleichen Antworten versehen werden muß. Wenn tatsächlich auch die andere Seite Gewalt anwendet, um ihre Ziele zu erreichen, muß natürlich auch sie mit den notwendigen Mitteln bekämpft werden. Wir hoffen nicht, daß es dazu kommt. Wir hoffen auf die Vernunft; wir setzen auf die politischen Verhandlungen. Wir tun alles, was wir können, um Gewalt oder gar eine militärische Invasion zu vermeiden. Aber natürlich bleiben Befürchtungen für den Fall bestehen, daß es nicht zu einer vernünftigen Lösung und der Bereitschaft beider Partner kommt, zu einem einvernehmlichen Übereinkommen über die Zukunft des Kosovo zu gelangen.
Ich rufe die Frage 48 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard auf:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über das weitere Schicksal des entführten D. H. und seiner Mitgefangenen vor, und welche Schritte hat die Bundesregierung in den zurückliegenden zwölf Monaten unternommen, um das Schicksal der Entführten aufzuklären?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Frau Kollegin, über das Schicksal des seit Juli 1995 entführten und vermißten Deutschen Dirk Hasert und seiner drei Mitgeiseln liegen der Bundesregierung weiterhin keine neuen Erkenntnisse vor.
Staatsminister Helmut Schafer
Trotz zahlreicher Nachforschungen und Bemühungen haben sich die Aussagen hochrangiger inhaftierter Führer der fundamentalistischen Gruppe Harkatul-Ansar, daß die vier Geiseln Anfang Dezember 1995 getötet worden seien, nicht verifizieren lassen. Für diese auch von anderen Zeugen geäußerte Annahme fehlt nach wie vor ein sicherer Beweis.
Im Laufe der letzten zwölf Monate hat die Bundesregierung ihre aktiven Bemühungen fortgesetzt und hierbei immer wieder über ihre Botschaften in New Delhi und Islamabad mit den anderen betroffenen Staaten, also Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Norwegen, innerhalb der G-4-Gruppe und den indischen bzw. pakistanischen Behörden zur Aufklärung des Geiselfalls eng zusammengearbeitet. Der Schwerpunkt der Aktivitäten lag dabei naturgemäß in Indien, wo sich die G-4-Botschaften einmal pro Monat sowohl auf Arbeitsebene als auch auf der Ebene der Behördenleiter treffen, um zu einem Austausch über neue Erkenntnisse in dieser Geiselaffäre zu gelangen und ihr Vorgehen abzustimmen.
Die Ermittlungstätigkeit der indischen Stellen wird durch eine im Auftrag der vier beteiligten Regierungen in Indien und Pakistan tätige Task force unterstützt. Mit ihrer Hilfe konnte inzwischen zweifelsfrei geklärt werden, daß es sich bei einem im September 1997 exhumierten Leichnam nicht um eine der vier entführten Geiseln handelt. Verhöre von Personen, die die indischen Behörden festgenommen haben, durch Scotland Yard und FBI lassen gleichwohl die von indischer Seite schon seit längerer Zeit vermutete Ermordung der Geiseln bereits im Dezember 1995 als wahrscheinlich erscheinen. Die Bundesregierung wird trotzdem weiterhin alles tun, um zur Aufklärung des Schicksals der Entführten beizutragen.
Zusatzfrage, bitte, Frau Leonhard.
Keine Zusatzfrage, Herr Staatsminister. Vor zwei Jahren war ich im Auftrag meiner Fraktion in Kaschmir. Da sich der dritte Jahrestag der abscheulichen Entführung nähert, wollten wir daran erinnern und der Familie signalisieren, daß ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerät.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht?
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- Gut. Ich glaube, es ist keine Antwort erforderlich.
Damit kommen wir zur Frage 49 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard:
War bei den jüngsten Konsultationen der Bundesregierung mit den Regierungen der Ukraine, der Russischen Föderation und Polens die zur Chefsache erklärte Frage der völkerrechtswidrig verlagerten deutschen Kulturgüter jeweils Gegenstand der Verhandlungen, und wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Frau Kollegin, bei Regierungskontakten mit Rußland, der Ukraine und Polen spielt die Frage der Rückführung von Kulturgutem auf allen politischen Ebenen eine wichtige Rolle. Das wurde zum Beispiel durch die Erläuterungen von Präsident Jelzin nach dem Gespräch mit dem Bundeskanzler auf der Pressekonferenz hervorgehoben. Auch in den Gesprächen und Verhandlungskontakten auf Regierungsebene mit der Ukraine und Polen stand und steht diese Frage auf der politischen Tagesordnung.
Mit Polen wurde sie zuletzt bei meinem Besuch in Warschau am 9. Juni dieses Jahres mit dem polnischen ersten stellvertretenden Außenminister Sikorski wie auch mit dem für die Kulturgüter zuständigen stellvertretenden Kulturminister Zurovski erörtert. Durch die Verhandlungen, die ich geführt habe, ist erreicht worden, daß Polen zugesagt hat, im vierten Quartal dieses Jahres die unterbrochenen politischen Verhandlungen wieder aufzunehmen.
Mit der Ukraine wurde die Rückführungsproblematik beim Staatsbesuch des Bundespräsidenten in Kiew am 4. Februar dieses Jahres und bei den Regierungskonsultationen in Bonn am 29. Mai 1998 erörtert. Die nächsten Regierungsgespräche sollen in der zweiten Jahreshälfte stattfinden.
Zusatzfrage, bitte.
Teile der Staatsbibliothek, die im Eigentum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sind, und Sammlungen wertvoller Autographen - darunter die Sammlung Varnhagen - sind während des Krieges ausgelagert worden und befinden sich heute in den Museen in Warschau und Krakau.
Meine Frage lautet: Wie gedenkt die Bundesregierung angesichts des Prozedere des Beitritts Polens zur EU die Frage der Rückführung dieser wertvollen Bestände einer Lösung zuzuführen?
Frau Kollegin, bekanntlich ist mit Polen ein Nachbarschaftsvertrag geschlossen worden, in dem wir beispielsweise die strittigen Grenzfragen, die sich aus dem Zweiten Weltkrieg ergeben haben, einvernehmlich und für immer geregelt haben. In Art. 28 dieses Vertrages ist mit polnischer Zustimmung festgelegt worden, daß die Frage der im Besitz der jeweils anderen Seite befindlichen Kulturgüter - natürlich stellt auch Polen Ansprüche - einer Lösung zugeführt wird. Es ist niemals davon gesprochen worden - ich habe Veranlassung dazu, das zu sagen -, daß das eine Art Reparationsleistung sei, wie es in den letzten Tagen plötzlich in der deutschen Presse hieß. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Es handelt sich um eine völkerrechtlich vertraglich vereinbarte Notwendigkeit der Lösung dieses Problems. Das habe ich meinen polnischen Gesprächspartnern in aller Deutlichkeit klargemacht. Dabei geht es wirklich darum, daß Altlasten aus der Zeit nach Ende des Krieges endgültig beseitigt werden - auch vor dem HinterStaatsminister Helmut Schäfer
grund des Beitritts zur Europäischen Union, den wir natürlich nicht von der Lösung dieser Frage abhängig machen.
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Es wäre aber besser, wenn solche schwelenden Probleme vom Tisch kämen.
Natürlich sind wir - das habe ich auch der polnischen Seite gesagt - genauso bereit, über jedes in Deutschland befindliche polnische Kulturgut zu sprechen, wie wir bei der Wiederherstellung der über Jahrzehnte getrennten Berliner Staatsbibliotheken und Museen umgekehrt großen Wert darauf legen, daß der Besitz, den Polen damals auf deutschem Territorium in Schlesien vorfand, wieder zurückgegeben wird. Es handelt sich dabei - bis hin zum Deutschlandlied - um Kulturgüter, die sicher mehr Sinn in Deutschland als in Krakau machen. Ich glaube, darüber muß es eine Verständigung geben. Das war übrigens der Tenor der Gespräche, die bei allen Schwierigkeiten ansonsten freundschaftlich verlaufen sind.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Ich sehe, daß wir uns hier annähern.
Meine zweite Frage: Unterstützt die Bundesregierung Ausstellungen im Ausland mit sogenannter Beutekunst bzw. mit ausgelagerten Kulturgütern mit finanziellen Mitteln, und wenn ja, in welcher Höhe? Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß die Unterstützung dieser Ausstellungen der Forderung nach Rückführung von Kulturgut dienlich ist, respektive diese Forderung erleichtert?
Frau Kollegin, ich weiß nicht, auf welche konkreten Ausstellungen Sie anspielen. Aber ich weiß, daß wir der polnischen Seite gesagt haben, daß dann, wenn - wie neulich in Krakau - solche Kulturgüter ausgestellt werden, nicht der Eindruck entstehen darf - was in Krakau der Fall war -, daß es sich dabei um polnisches Kulturgut handelt. Dann müßte - auch in Absprache mit unserer Botschaft - zumindest deutlich gemacht werden, daß es sich hierbei um Bestände aus Berlin handelt und daß über deren Rückgabe noch in irgendeiner Weise gesprochen werden muß. Man sollte nicht den Eindruck erwekken, als sei dieser Vertrag gewissermaßen nicht mehr gültig und als könne man jetzt zur Tagesordnung übergehen. Das wollen wir nicht. Ich glaube, Polen erkennt das auch. Ich hoffe, daß es zu einer vernünftigen und einvernehmlichen Lösung kommen wird.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Auswärtigen Amtes. Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Hans
Wallow werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fragen 3 und 4 der Abgeordneten Leyla Onur werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:
Trifft es zu, daß das „Klimaforschungsprogramm 1994 bis 1997" entgegen der ursprünglichen Planung nicht fortgesetzt wird, und falls ja, aus welchen Gründen?
Dies trifft nicht zu. Das angesprochene Klimaforschungsprogramm, das vier große Forschungsverbünde beinhaltete, war ursprünglich für eine Laufzeit von drei Jahren vorgesehen, und zwar von 1994 bis 1996. Um einen erfolgreichen Abschluß der Forschungsarbeiten zu ermöglichen, war es vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie bereits um ein Jahr, nämlich bis 1997, verlängert worden.
Die Bundesregierung arbeitet gegenwärtig in Abstimmung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft an einer nationalen Forschungsstrategie für die Themenfelder „Global Change", „Klima" und „Atmosphäre". Diese neue Konzeption soll ab dem Jahr 2000 umgesetzt werden.
Um in der Zwischenzeit laufende Forschungsaktivitäten und den hohen internationalen Standard der deutschen Klimaforschung nicht zu gefährden, wurden 1996/97 neue Förderprogramme ausgeschrieben, deren Laufzeit bis zum Jahre 2000 geht. Dies sind die Förderprogramme „Aerosolforschung" und „Angewandte Klima- und Atmosphärenforschung". In diesem Teilbereich werden Fördermittel etwa in dem gleichen Umfang eingesetzt wie in dem früheren Klimaforschungsprogramm.
Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Kubatschka.
Herr Staatssekretär, wie viele Arbeitsgruppen aus dem bisherigen Klimaforschungsprogramm werden mit Drittmitteln aus Bonn weiterhin unterstützt? Sind das alle, die weiterlaufen, sind das drei Viertel oder ist das nur die Hälfte?
Diese Zahlen kann ich Ihnen aus der Hand nicht im einzelnen nennen. Aber ich erläutere das prinzipielle Verfahren: Wie alle unsere Förderprogramme wird auch das KlimaforschungsproParl. Staatssekretär Bernd Neumann
gramm innerhalb von gewissen zeitlichen Abständen evaluiert, werden die Ergebnisse geprüft. Es wird geprüft, ob es neue Themen gibt. Dies ist der Vorgang, um den es hier geht. Ich habe bereits in meiner ersten Stellungnahme erwähnt, daß das bisherige Klimaforschungsprogramm für die Jahre 1994 bis 1996 vorgesehen war, also für die üblichen drei Jahre, daß man es noch um ein Jahr verlängert hat, um alle Arbeiten abschließen zu können, und daß jetzt eine Evaluierungsphase läuft, die wir nicht direkt, sondere über die DFG mit dem Ziel veranstalten, auf Grund neuerer Erkenntnisse im Jahre 2000 ein evaluiertes Programm vorzulegen.
Damit aber in der Zwischenphase die Arbeit fortgesetzt werden kann, gibt es im Anschluß an die bisherigen vier Schwerpunkte im Klimaforschungsprogramm zwei neue Schwerpunkte - ich hatte sie Ihnen genannt -, so daß für den Bereich Klimaforschung - das ist der Hintergrund Ihrer Frage - dieselbe Summe ausgegeben und nichts gekürzt wird, aber natürlich einige Projekte auslaufen werden und dafür neue beginnen werden. Das ist der Sinn von Projekten. Deswegen sind sie auch zeitlich begrenzt. Dies alles geschieht in Abstimmung mit der dafür zuständigen „community", auch dem zuständigen Bereich in der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß Sie mir schriftlich erläutern werden, wer noch gefördert wird.
Aber jetzt meine Frage: Ist die Weiterarbeit des Deutschen Klimarechenzentrums gewährleistet? Wie sieht die finanzielle Ausstattung für den Rechner bzw. für den Rechnerverbund aus? Ist gewährleistet, daß auf demselben hohen internationalen Niveau weitergearbeitet werden kann wie bisher?
Beim Deutschen Klimarechenzentrum haben wir den gleichen Vorgang der Evaluierung und der daraus resultierenden Umstrukturierung, deren Ursachen ich eben in bezug auf das Klimaforschungsprogramm als solches beschrieben habe.
Die gegenwärtige Umstrukturierung des DKRZ hat nicht die Schwächung der Klimamodellierung zum Ziel, sondern es ist beabsichtigt, durch eine neue Organisation sowohl der Struktur als auch der fachlichen Inhalte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterführung der international anerkannten Arbeit im nächsten Jahrzehnt zu schaffen.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen - deshalb sage ich es noch -, daß die Forschung im DKRZ bisher in Form eines zeitlich befristeten Projekts erfolgte. Die Bundesregierung hat seit der Gründung dieses Zentrums 1987 inzwischen zirka 130 Millionen DM, das heißt nahezu 80 Prozent, getragen. Ein Gutachten einer international besetzten Wirtschaftlergruppe befürwortet die Fortsetzung der Arbeiten des DKRZ, allerdings mit veränderter Struktur; darauf habe ich hingewiesen. Die Bundesregierung hat nun begonnen, im Lichte dieser Zielsetzungen die notwendige Umstrukturierung des DKRZ einzuleiten.
Das heißt, die Arbeit ist anerkannt. Sie wird im Prinzip fortgesetzt; aber die gewonnenen Erkenntnisse über Verbesserungsmöglichkeiten und Schwerpunktveränderungen werden ebenfalls umgesetzt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Tauss.
Herr Staatssekretär, was sagt denn die „community", und was sagen Sie selbst - natürlich auch unter Berücksichtigung der begrenzten Amtszeit -, nach heutigem Stand zur Finanzierung des Stratosphärenprogramms bis zum Jahr 2002, gerade unter dem Gesichtspunkt der von Ihnen gerade angesprochenen Evaluation im Bereich der gesamten Klimaforschung?
Ich habe nicht verstanden, was Ihre Frage mit der Begrenztheit der Amtszeit, die in der Regel überall üblich ist, zu tun hat.
Das bezog sich auf das Jahr 2002. Das werden natürlich wir eher beantworten können. Aber wie ist nach heutigem Stand im Zusammenhang mit der angesprochenen Evaluierung die Finanzierung des Stratosphärenprogramms?
Darf ich bei dieser Gelegenheit wieder einmal daran erinnern, daß die Fragen knapp formuliert werden sollen, damit sie knappe Antworten zulassen.
Knapper geht es fast nicht mehr: Stratosphärenprogramm, 2002, aktueller Stand.
Was ist nun Ihre Frage? Die Finanzierung dessen, was vorgesehen ist, ist gesichert. Wollen Sie wissen, was darüber hinaus passiert?
Wenn die Finanzierung gesichert ist, dann war das die Beantwortung der Frage.
Vielen Dank. Ich wußte nicht, daß man Sie so schnell befriedigen kann.
Wir kommen
jetzt zur Frage 6 des Abgeordneten Horst Kubatschka.
Treffen Informationen zu, daß für das Abschlußseminar des vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie mit 50 Millionen DM finanzierten Verbundprogramms Klimaforschung keine Einladungen an die Medien verschickt wurden, und falls ja, aus welchen Gründen?
Die an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz durchgeführte Tagung war ein rein wissenschaftliches Statusseminar, auf dem die einzelnen Abschlußberichte des Klimaforschungsprogramms 1994 bis 1997 vorgestellt und diskutiert wurden. Die konzeptionelle Vorbereitung und Organisation dieser Veranstaltung lag in den Händen der Wissenschaft. Die Bundesregierung war weder Tagungsveranstalter, noch hat sie Einfluß auf die Einladung von Teilnehmern genommen.
Eine Zusatzfrage, bitte Herr Kubatschka.
Herr Staatssekretär, bisher war es üblich, Journalisten, die von Status- und Abschlußseminaren wußten, an diesen teilnehmen zu lassen. Hat die Bundesregierung den Klimaforschern klargemacht, daß es für die Förderung der zukünftigen Projekte besser sei, den Termin gegenüber den Medien geheimzuhalten?
Wenn Sie die konkrete Veranstaltung meinen - davon gehe ich aus; Veranstalter sind nicht wir gewesen; ich habe darauf hingewiesen; ich glaube, es war die GKSS -, so wurde deren Termin nicht geheimgehalten. Er kann schon deshalb nicht geheim gewesen sein, weil, wie mir bekannt ist, mindestens zwei Vertreter der Presse, nämlich zum einen ein Vertreter der „Süddeutschen Zeitung", auf dessen Artikel Sie wahrscheinlich Bezug nehmen, und zum anderen ein Vertreter der „FAZ", anwesend waren. Im übrigen ist Ihre weitere Unterstellung - ich meine das nicht wertend, sondern ich sage besser: Ihre Feststellung -,
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daß die Presse bei solchen Seminaren in der Regel anwesend ist, nicht richtig. Dies wird unterschiedlich gehandhabt. Wir selbst legen immer Wert darauf, daß diese Dinge transparent sind, aber überlassen es dem Veranstalter, wenn wir nicht selbst verantwortlich sind. In diesem Fall ist das so gewesen. Dennoch haben zwei Vertreter der Medien teilgenommen und auch darüber berichtet, und zwar in der „FAZ" sogar sehr ausführlich.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kubatschka.
Herr Staatssekretär, da wir beide Leser der „Süddeutschen Zeitung" sind und da Sie wahrscheinlich heute schon hineingeschaut haben, frage ich Sie, ob Sie der „Süddeutschen Zeitung" zustimmen, wenn sie, bezogen auf die jetzige Öffentlichkeitsarbeit im Klimabereich, die ja früher sehr offen war und nach meiner Meinung jetzt sehr restriktiv ist, schreibt: „Maulkorb für deutsche Umwelt-Forscher" .
Ich kann die Aussagen der „Süddeutschen Zeitung" nicht teilen, weil sie nicht den Fakten entsprechen. In meinem Ministerium gibt es keinen Maulkorb für irgendwelche Themen, schon gar nicht für die Umwelt. Die Umwelt ist ein Schwerpunkt. Wir geben mehr als 1 Milliarde DM für die Umwelt aus, und wir legen natürlich schon aus Eigeninteresse Wert darauf, daß die Ergebnisse dieser Umweltforschung, die wir finanzieren, auch veröffentlicht werden. Deshalb treffen diese Aussagen der „Süddeutschen Zeitung" nicht zu.
Damit sind die Fragen beantwortet, die den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie betreffen. Ich bedanke mich beim Parlamentarischen Staatssekretär Neumann und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Praxis der Gesellschaft zur Verwertung von musikalischen Aufführungsrechten und mechanischen Vervielfältigungen ({0}), unmittelbar vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft Schreiben incl. Rechnung und Überweisungsträger an alle gastronomischen Betriebe in Deutschland - auch an die, die bereits einen Vertrag nach dem GEMA-Tarif FS ({1}) für die öffentliche Wiedergabe von Fernsehsendungen abgeschlossen haben - zu verschicken, in denen sie zur Zahlung für die öffentliche Wiedergabe von Fernsehübertragungen der Fußballweltmeisterschaft auffordert?
Herr Kollege, gestatten Sie bitte auf Grund des engen Sachzusammenhangs, daß ich Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworte.
Dann rufe ich auch noch die Frage 8 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer auf:
Plant die Bundesregierung, im Interesse der mittelständischen Gastronomie hier tätig zu werden?
Nach einer Rückfrage bei der GEMA stellt sich der Sachverhalt wie folgt dar:
Die GEMA hat die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich und die damit verbundenen Fernsehberichterstattungen zum Anlaß genommen, auf die grundsätzlich bestehende Vergütungspflicht bei der Ausstrahlung von Fernsehübertragungen in gastronomischen Betrieben hinzuweisen. Sie hat dazu gastronomische Betriebe angeschrieben und darauf aufmerksam gemacht, daß bei einer Aufstellung von Fernsehgeräten und bei der öffentlichen Wiedergabe von Fernsehsendungen in solchen Betrieben anläßlich der Fußballweltmeisterschaft Vergütungen nach dem Urheberrechtsgesetz zu zahlen sind. Dem Schreiben wurden Überweisungsträger über den Betrag von 54,36 DM beigefügt. Dabei handelt es sich
nach Auskunft der GEMA um den Betrag, der für einen Zeitraum von zwei Monaten zu zahlen ist, unabhängig davon, wie lange das Fernsehgerät läuft. Dem liegt die Vermutung zugrunde, daß die Fernsehgeräte allgemein und insbesondere während der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich dem deutschen Publikum in den gastronomischen Betrieben zur Verfügung stehen. Dieser Betrag enthält nicht nur GEMA-Gebühren. Die GEMA betreibt das Inkasso auch für die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten und für die Verwertungsgesellschaft Wort. In dem Betrag von 54,36 DM sind also außer dem GEMA-Anteil von zweimal 17,40 DM, also 34,80 DM, und der Mehrwertsteuer von 7 Prozent auch die Anteile dieser Verwertungsgesellschaften für zwei Monate enthalten.
Urheberrechtlich ist die Forderung der GEMA nicht zu beanstanden. Die öffentliche Wiedergabe von Funksendungen ist vergütungspflichtig; sie unterfällt dem Recht der öffentlichen Wiedergabe durch öffentliche Wahrnehmbarmachung - so lautet der entsprechende Begriff - gemäß §§ 22, 77 und 86 des Urheberrechtsgesetzes. Die Vergütungspflicht bezieht sich auf die öffentliche Wiedergabe von Funksendungen eines Werks oder von Darbietungen, auch bei Verwendung eines Tonträgers. Die ausschließliche Wiedergabe von Fußballspielen ist demnach nicht vergütungspflichtig.
Mit der Ausstrahlung der Fußballspiele sind aber andere Vorgänge verbunden, die ihrerseits vergütungspflichtig sind. Beispielsweise zahlt die Verwertungsgesellschaft Wort an die Kommentatoren solcher Spiele eine Vergütung; insoweit ist davon auszugehen, daß Sprachwerke im Sinne von § 2 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz vorliegen und damit eine Vergütungspflicht besteht. Der Forderung der GEMA liegt im übrigen die Vermutung zugrunde, daß bei der Aufstellung eines Fernsehgeräts zur öffentlichen Wiedergabe von Funksendungen regelmäßig auch Werke oder Darbietungen öffentlich wahrnehmbar gemacht werden, so daß sich auch daraus die Vergütungspflicht ergibt.
Ich möchte aber nochmals betonen, daß die GEMA die Fußballweltmeisterschaft nur zum Anlaß genommen hat, auf die allgemein bestehende Vergütungspflicht bei der öffentlichen Wiedergabe von Fernsehsendungen in gastronomischen Betrieben hinzuweisen.
Nach Auskunft der GEMA liegen bisher keine Beschwerden zu dem Schreiben vor.
({0}) - Aber nicht bei der GEMA;
({1}) vielleicht bei der DEHOGA oder anderen Stellen.
Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die GEMA versichert hat, daß keine Betriebe angeschrieben worden sind, die bereits auf der Grundlage des geltenden GEMA-Tarifs Zahlungen leisten bzw. geleistet haben. Eine irrtümliche Doppelzahlung ist damit ausgeschlossen. Sollte es doch irrtümlich zu einer Doppelzahlung gekommen sein, weil in dem Schreiben nicht darauf hingewiesen wird, daß sich die Zahlungsaufforderung nur an Betriebe richtet, die bisher kein Fernsehgerät aufgestellt hatten, so sind die zuviel gezahlten Gebühren zurückzuerstatten. Das Bundesministerium der Justiz wird die GEMA im übrigen auf den mißverständlichen Inhalt des Schreibens hinweisen und die GEMA auffordern, sicherzustellen, daß Doppelzahlungen unterbleiben bzw. rückgängig gemacht werden.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen, wenn Sie dies wünschen, Herr Abgeordneter Dr. Ramsauer.
Herr Staatssekretär, die Auskünfte der Bundesregierung sind - wie immer - auch in diesem Punkt über alle Zweifel erhaben.
({0})
Aber ich möchte auf folgendes zurückkommen. Wenn Sie ausführen, daß bei der GEMA noch keine einzige Beschwerde wegen dieses Sachverhaltes eingegangen sei, so muß ich meine gesamte Glaubenskraft zusammennehmen, um dies so hinzunehmen. Es ist bestimmt so. Demgegenüber ist die Tatsache zu sehen, daß sich bei vielen Abgeordneten - so würde ich es sagen - die schiere Wut von Inhabern gastronomischer Betriebe entlädt, die über diese Praxis klagen. Auch deshalb habe ich die Frage gestellt.
Ich möchte zunächst folgende Zusatzfrage stellen. Für den Bereich Wort gilt - wie Sie ausgeführt haben -, daß beispielsweise Kommentatoren einen Teil der abgeführten Gelder erhalten sollen. Mich würde interessieren, ob auch hinreichend sichergestellt ist, daß diese Kommentatoren als Einzelpersonen ihre Vergütungen bekommen. Weiter möchte ich fragen, welchen anderen Urhebern weitere Anteile der an die GEMA entrichteten Gelder zufließen, die - unabhängig von der Verwertungsgesellschaft Wort - ausschließlich an die GEMA gehen.
Dafür gibt es bei der GEMA genaue Verteilungsschlüssel, die sich nach der - um es so zu formulieren - gelieferten Ware richten. Dazu gehören die Kommentatoren. Da können gegebenenfalls auch Musik und ähnliche Leistungen dabeisein. Das wird von der GEMA exakt aufgeschlüsselt. Wir haben - das hatten wir auch in der Vergangenheit nicht - überhaupt keinen Zweifel daran, daß das exakt läuft. Im übrigen unterliegt die GEMA insoweit auch der Rechtsaufsicht des Deutschen Patentamts. Da haben wir keine Schwierigkeiten.
Die Kommentatoren erhalten natürlich ihre Vergütung, soweit sie Urheber sind bzw. ihre Rechte nicht an Dritte abgetreten sind. Es ist denkbar, daß in einem Arbeitsvertrag, den Kommentatoren mit einer Rundfunkanstalt geschlossen haben, entsprechende Abtretungen vorgesehen sind. Das entzieht sich aber unserer Kenntnis.
Zweite Zusatzfrage.
Ich komme zu meiner zweiten Zusatzfrage. Wenn in einem gastronomischen Betrieb wirklich nur ein Fußballspiel mit einem Kommentar ausgestrahlt wird, dann bekommt der Kommentator den ihm zustehenden Teil über die Organisation Wort. Wem aber fließt der restliche Betrag, der sich nur auf die Fußballübertragung als solche bezieht, die nach Ihren Worten eigentlich gebührenfrei ist, zu?
Das ist eine rein theoretische Betrachtungsweise von mir gewesen, nämlich der Fall, daß die Fernsehsendung ohne Ton läuft. Sie läuft aber mit Ton.
({0}) Demgemäß wird das gesamte Werk abgerechnet.
({1})
- Darüber, Herr Kollege Heinrich, ob es ein erhöhter Genuß ist, die Kommentatoren der Fußballweltmeisterschaft zu hören, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich habe da inzwischen einige Zweifel bekommen.
Dritte Zusatzfrage, bitte.
Dann komme ich zu meiner dritten Zusatzfrage. Gesetzt den Fall, es bleibt nicht bei dem von Ihnen geschilderten theoretischen Fall, sondern in der Praxis lassen sich gewisse der GEMA zustehende Einnahmen nicht exakt einem Urheber zuordnen: Ist es in einem solchen Fall denkbar, daß bestimmte Einnahmen sozusagen bei der GEMA als nicht zuordenbar liegenbleiben?
Ich bin, wie Sie vielleicht wissen, nicht jemand, der bei der GEMA die genaue Zuordnung vornimmt. Deshalb überfordern Sie mich da etwas. Ich will Ihnen diese Frage aber gern schriftlich beantworten und werde mir von der GEMA noch einmal das entsprechende Schema geben lassen.
Vielen Dank. - Ich komme zu meiner vierten und letzten Zusatzfrage. Liegt nicht - Sie haben das angesprochen - im gleichzeitigen Übersenden einer Rechnung mit Zahlungsaufforderung durch das faktische Monopol der GEMA ein vom Kartellamt eigentlich zu ahndender Mißbrauch vor?
Nein. Nach § 30 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, also des Kartellgesetzes, ist die GEMA von den Beschränkungen praktisch befreit. Insoweit sind die Verwertungsgesellschaften auch nach neuem Recht nach § 30 GWB
ausdrücklich als Monopolunternehmen zugelassen. Das ist eine der wenigen Ausnahmen, die wir zugelassen haben.
Danke.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rainer Funke. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Irmgard Karwatzki zur Verfügung.
Ich rufe auf die Frage 9 der Abgeordneten Marlene Rupprecht:
Was versteht die Bundesregierung unter „vertretbarer Kostenbeteiligung" an der Sanierung der ehemaligen US-amerikanischen Wohnungen, bei denen bekanntlich hohe Schadstoffbelastungen durch Klebe- und andere chemische Mittel wie DDT, Lindau, PCB festgestellt worden sind?
Frau Kollegin Rupprecht, in den abgeschlossenen Kaufverträgen ist grundsätzlich - wie im Grundstücksverkehr üblich - ein Gewährleistungsausschluß vereinbart worden. Den Käufern stehen daher keine Ansprüche gegen den Bund auf Übernahme von Sanierungskosten zu.
Der Bundesminister der Finanzen hat gleichwohl entschieden, daß sich der Bund gegenüber seinen Vertragspartnern mit einem freiwilligen Beitrag an den erforderlichen Sanierungskosten für eine Belastung durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, PAK, beteiligt. Derzeit werden im Bundesfinanzministerium die Eckwerte für eine Bundesbeteiligung abgestimmt. Mit einer Entscheidung rechne ich in Kürze. Den Betroffenen wird dann ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Auf Grund der Expertengespräche beim Umweltbundesamt geht die Bundesregierung derzeit davon aus, daß ehemalige USWohnungen nicht stärker durch DDT, Lindan und Chlorpyrifos belastet sind als andere Wohnungen.
Zusatzfrage, bitte.
Mir liegt ein Gutachten vor, das als Anlage eines Schreibens der Stadt Fürth an die Oberfinanzdirektion Nürnberg beigefügt war. Aus diesem Schreiben geht hervor, daß in Gebäuden des ehemaligen US-Geländes in der Südstadt von Fürth chemische Belastungen vorgefunden wurden, die noch näher untersucht werden müßten. Dieses Gutachten stammt von Dezember 1995 und wurde Anfang 1996 an die Oberfinanzdirektion geschickt. Wie kommt es, Frau Staatssekretärin, daß Sie in einer Fernsehsendung des ZDF noch Anfang dieses Monats sagten, das Ministerium habe erst Anfang 1998 von möglichen Belastungen durch Holzschutz- und durch Klebemittel erfahren?
Weil das mein Kenntnisstand ist.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Mir liegen wiederum Untersuchungsergebnisse über ehemalige US-Wohnungen vor. Diese Untersuchungsergebnisse weisen auf eine deutliche Erhöhung chemischer Belastungen und damit eine gesundheitliche Gefährdung der Bewohner durch DDT, Lindan, PCB usw. hin. Sie haben eben ausgeführt, daß nur eine Zusage für eine eventuelle Kostenübernahme bezüglich Belastungen durch PAK vorliegt. Wie wird verfahren werden, wenn es dort tatsächlich - wie dies in einigen Untersuchungsergebnissen, die mir vorliegen, der Fall ist - Werte gibt, die wesentlich über die Grenzwerte hinausgehen? Wird sich der Bund an den entstehenden Kosten beteiligen, oder wird er die Haltung einnehmen, daß ihn das nichts angehe? Ich bitte um eine eindeutige Antwort; denn die Untersuchungsergebnisse dürften auch Ihnen vorliegen.
Bei den Meldungen, von denen Sie sprechen, handelt es sich um Einzelfälle, die nach heutigem Kenntnisstand nicht mit dem Ausmaß der PAK-Belastungen verglichen werden können. In diesen Fällen sind Gifte in Holzschutz-und Schädlingsbekämpfungsmitteln, die die Amerikaner verwendet haben, aufgetreten. Messungen in ehemaligen US-Wohnungen in Frankfurt haben bisher keine Werte ergeben, die über denen anderer Wohnungen liegen.
Im übrigen wird - sofern notwendig - weiter zu ermitteln sein. Ich füge hinzu, Frau Kollegin Rupprecht, daß wir den Fällen derjenigen Häuser, bei denen die Vermutung naheliegt, daß die jetzt festgestellten Werte zu hoch sind, selbstverständlich nachgehen werden.
Zusatzfrage bitte, Herr Abgeordneter Schmidbauer.
Frau Staatssekretärin, ich möchte auf die Frage eingehen, die meine Kollegin im Zusammenhang mit der Belastung durch DDT gestellt hat. Sie hatten gesagt, daß sich die Entschädigung nur auf die Belastung durch PAK bezieht. Gleichwohl liegt mir ein Gutachten des Instituts der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen vor. Dieses Gutachten bringt ganz deutlich zum Ausdruck, daß in den Belastungen des Dachgeschosses und auch der darunter liegenden Stockwerke Werte von maximal 8500 Milligramm Staub vorhanden sind. Bei den darunter liegenden Wohnungen ist der Wert nicht wesentlich geringer. Wenn dem so ist, besteht dann nicht die Aufgabenstellung des Bundes eindeutig darin, als Verkäufer für die Entschädigung als Folge
der Sanierung dieser Mängel geradestehen zu müssen?
Nein, Herr Kollege. Ich habe schon bei meiner Antwort vorhin ausgeführt, daß Ansprüche des Käufers prinzipiell ausgeschlossen sind, wie es auch sonst im Immobiliengeschäft üblich ist.
Zusatzfrage der Abgeordneten Ferner, bitte.
Frau Staatssekretärin Karwatzki, Sie haben eben gesagt, Ihnen sei der Sachverhalt erst Anfang des Jahres zur Kenntnis gekommen. Wie erklären Sie sich aber, daß die zuständige OFD in Nürnberg - wie Frau Kollegin Rupprecht eben gesagt hat - schon deutlich früher Kenntnis von diesem Sachverhalt hatte? Warum hat das BMF erst vor kurzem Kenntnis davon erhalten?
Die Ausführungen, die ich im Fernsehen gemacht habe, bezogen sich auf den Untersuchungsgegenstand PAK, zu dem es zwei Sitzungen gegeben hat. Zur Zeit der Fernsehsendung lagen mir die entsprechenden Ergebnisse noch nicht vor. Jetzt liegen sie aber vor. Daraufhin wird jetzt entschieden, mit welcher freiwilligen Leistung sich das Bundesfinanzministerium an den Kosten beteiligt.
Das von der Kollegin Rupprecht erwähnte Gutachten habe ich noch nicht zur Kenntnis genommen. Dessen Inhalt entspricht also nicht meinem Wissensstand. Ich kann Sie jetzt nicht belügen, indem ich sage, daß ich es gelesen habe. Das ist nicht der Fall. Ich lasse mir dieses Gutachten im Hause gleich besorgen und werde selbst nachlesen, was darin steht. Mein angelesenes Fachwissen entspricht dem, was ich im Fernsehen zur Kenntnis gab.
Wir kommen zur Frage 10 der Abgeordneten Rupprecht:
In welcher Art und Weise und in welchem zeitlichen Rahmen sollen diese Wohnungen von diesem „Giftcocktail" saniert werden?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Frau Präsidentin, die Antwort wird leider etwas länger ausfallen.
Die Verwendung des Wortes „Giftcocktail" wird der Situation nicht gerecht. Wir sollten uns alle bemühen, keine Ängste und Emotionen zu schüren. Wir sollten das Problem der PAK-Belastung vielmehr sachlich beurteilen und Schadstoffbelastungen konsequent minimieren.
Ob überhaupt und ob gegebenenfalls kurz- oder mittelfristiger Handlungsbedarf besteht, ist an Hand der Empfehlungen des Umweltbundesamtes auf
Grund von Messungen zu beurteilen. Eine ganze Reihe ehemaliger US-Wohnungen scheint nach Zwischenergebnissen nicht durch PAK belastet zu sein. Die Frage, wie eine Belastung zu beseitigen ist, muß nach baufachlichen Gesichtspunkten entschieden werden. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die Holzart sowie Alter und Zustand des Parketts.
Die zu treffenden Maßnahmen, über die der Eigentümer der Wohnung selbst entscheidet, reichen dann von der Versiegelung und Abdichtung bis zur vollständigen Entfernung des Parketts und des darunter befindlichen, mit dem Kleber verbundenen Estrichs und zur Neuverlegung eines Bodenbelags. Eine generelle Aussage über die notwendigen Maßnahmen ist daher nicht möglich. Hier muß - wie ich gerade ausgeführt habe - im Einzelfall entschieden werden.
Zusatzfrage? - Bitte, Frau Rupprecht.
Sie sagten eben, daß es keine Gewährleistung gibt. Trifft es zu, daß der die ehemaligen US-Häuser in Mainz betreffende Kaufvertrag eine 90 prozentige Kostenübernahme durch den Bund im Falle des Auftretens von Schadstoffbelastungen festlegt? Mir liegt die Aussage vor, daß sich der Bund im Kaufvertrag verpflichtet hat, 90 Prozent der Kosten zu übernehmen, sollten Schadstoffe in den Wohnungen gefunden werden.
Im Kaufvertrag für die Häuser in Fürth wurde festgelegt, daß zwar für die Beseitigung von Schadstoffen außerhalb der Häuser die Kosten übernommen werden, daß es aber ansonsten eine Mängelausschließung für die Häuser in bezug auf sichtbare und unsichtbare Mängel gegeben hat. Trifft es zu, daß dieser Kaufvertrag für die Häuser in Mainz besteht? Warum ist dieser Kaufvertrag eine Ausnahme? Warum hat man sich vor einem solchen Kaufvertrag in bezug auf die Häuser in Fürth gedrückt?
Bei den Häusern in Mainz handelt es sich um einen anderen Sachverhalt. Hier geht es um eine Belastung mit Asbest. Daher ist seinerzeit die von Ihnen angesprochene Vertragsform gewählt worden.
Zweite Zusatzfrage? - Bitte, Frau Rupprecht.
Wenn der Bund freiwillige Leistungen erbringt: Wer legt dann fest, wieviel Geld den einzelnen Wohnungen oder den einzelnen Wohnanlagen zufließt?
Das richtet sich nach dem Ausmaß der Schäden. Ich habe eben die möglichen Maßnahmen erwähnt. Wenn nur zu versiegeln ist, dann tragen wir natürlich einen geringeren Anteil, als wenn ich alle anderen Maßnahmen, die ich eben erwähnt habe, in einer Wohnung durchführen muß.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schmidbauer.
Frau Staatssekretärin, mir geht es noch einmal um die Gewährleistung und die daraus entstehenden Folgen. Nachdem ich eben gehört habe, daß das Ministerium über bestimmte Vorgänge nicht informiert war, nehme ich an, daß Sie auch nicht über einen Vorgang informiert waren, dem eine Klage einer Amerikanerin gegen die Baubehörde, also die Oberfinanzdirektion, zugrunde liegt. Dieser Klage war zu entnehmen, daß in den Wohnungen hohe Pestizidwerte festgestellt worden sind. Der Vorgang geht auf ein Schreiben des damaligen Bundesgesundheitsamtes an das Finanzministerium bzw. dessen Unterbehörden aus dem Jahr 1984/85 zurück. Jetzt meine Frage: Wenn das Ministerium im nachhinein Kenntnis darüber erlangt, daß eine Information vorhanden war, von der der Käufer der Wohnung aber nichts wußte, welche rechtliche Situation würde sich dann Ihrer Meinung nach daraus für den Verkäufer bzw. den Käufer ergeben?
Ich kenne den Fall nicht. Ich weiß, daß uns in der Zeit, als noch die Amerikaner die Wohnungen bewohnten, über die Gesundheitsbehörden ein einziger Fall bekanntgemacht wurde. Man ist der Sache nachgegangen, war aber nicht verpflichtet, hier Abhilfe zu schaffen.
Zusatzfrage der Abgeordneten Ferner, bitte.
Frau Karwatzki, wer legt denn fest, ob ein Boden versiegelt oder entfernt wird, und wer bestimmt die Höhe der Entschädigung? Gibt es da Gutachter, und wer bezahlt sie?
Ich habe auf die Ausgangsfrage geantwortet, daß wir im Augenblick darüber befinden, in welcher Höhe wir uns beteiligen. Beteiligen werden wir uns entsprechend der festgelegten Richtwerte, die in einem Arbeitskreis des Umweltbundesamtes verabredet worden sind. Danach treffen wir dann die Entscheidung über unsere freiwillige Beteiligung an der Entschädigung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Tauss.
Sie haben sich, Frau Staatssekretärin, gegen die Formulierung „Giftcocktail" gewandt. Wie würden Sie denn einen Mix aus DDT, Lindan, PCB etc. gerne bezeichnet haben wollen?
Ich finde, lieber Kollege, daß wir nicht noch mehr Ängste und Emotionen schüren dürfen,
({0})
sondern Sorge dafür tragen müssen, daß in den Fällen, die bekannt werden, Abhilfe geschaffen wird. Das tun wir auf dem schnellsten Wege.
({1})
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Finanzen. Ich bedanke mich bei der Parlamentarischen Staatssekretärin Irmgard Karwatzki.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Ulrich Heinrich werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 13 und 14 der Abgeordneten Rosel Neuhäuser. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Dieter Maaß auf:
Ist es zutreffend, daß Teilnehmer an kombinierten Arbeitsmarktprojekten, die neben einer von der Bundesanstalt für Arbeit geförderten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einen von den Bundesländern EU-kofinanzierten Qualifizierungsteil enthalten ({0}), nach Beendigung dieser Projekte im Fall von erneuten Lohnersatzleistungen ({1}) finanziell schlechtergestellt werden als während der vorherigen Arbeitslosigkeit, und dies, obwohl die Teilnehmer vor Beginn dieser Projekte von Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit darüber informiert wurden, daß keine finanzielle Schlechterstellung erfolgt?
Herr Kollege Maaß, das Arbeitslosengeld richtet sich grundsätzlich nach dem Bruttoarbeitsentgelt, das der Arbeitslose zuletzt verdient hat. Zugunsten der Arbeitnehmer, die in den letzten drei Jahren bereits arbeitslos waren, eine niedriger bezahlte Arbeit aufgenommen haben und bei erneuter Arbeitslosigkeit deshalb ein niedrigeres Arbeitslosengeld erhalten würden, enthält der neue § 133 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ein Privileg. Er sieht vor, daß sich das Arbeitslosengeld in diesen Fällen nicht nach dem letzten, niedrigeren Bruttolohn, sondern nach dem Bruttolohn richtet, der der Leistungsbemessung bereits vor Aufnahme der niedriger entlohnten Beschäftigung zugrunde lag. Ist das Arbeitslosengeld, das sich danach ergibt, höher als das letzte Nettoentgelt, erhält der Arbeitslose einen Betrag in Höhe des Nettoentgelts als Arbeitslosengeld. Die Regelung gewährleistet also, daß der Arbeitslose in diesen Fällen einen
Entgeltersatz erhält, der genauso hoch ist wie sein letztes Nettoarbeitsentgelt.
Die Regelung kann in Ausnahmefällen, wie in den von Ihnen genannten, zu Problemen führen, wenn Arbeitslose deshalb einen geringeren Nettolohn erzielt haben, weil sie nicht nur eine schlechter bezahlte Arbeit angenommen, sondern darüber hinaus ihre Arbeitszeit auf eine Teilzeitbeschäftigung mit geringem Entgelt beschränkt haben. Daß solche Fallgestaltungen, insbesondere auch wegen einer zu geringen Kofinanzierung der Arbeitsentgelte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch die Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, also auch die Länder, auftreten, hat sich erst nach Inkrafttreten des Dritten Buches Sozialgesetzbuch gezeigt. Wegen der zu Ende gehenden Legislaturperiode war eine gesetzliche Änderung nicht mehr möglich; das ist aber auch mit Ihrer Fraktion, Herr Abgeordneter, vorbesprochen worden. Die Bundesregierung wird die erste Gelegenheit zu Beginn der neuen Legislaturperiode nutzen, um einer solchen Rechtsänderung zum Erfolg zu verhelfen.
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär Kraus, es hört sich gut an, wenn Sie auf die nächste Bundesregierung verweisen. Ich bin allerdings der Meinung, daß die Menschen, die an dieser Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilgenommen haben und gleichzeitig eine Qualifikation erworben haben, einen gewissen Vertrauensschutz genießen. Dieser Vertrauensschutz muß doch verbindlich sein, zumal die Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit diesen Betroffenen vorher zugesagt hatten, an ihrem Arbeitslosengeld ändere sich nichts.
Ich kenne natürlich die Äußerungen der Dienststellen nicht. Es wäre interessant, wenn Sie sich diese Äußerungen vielleicht einmal schriftlich geben lassen würden. Dann könnte man der Sache einmal nachgehen.
Aber, Herr Kollege Maaß, Sie haben natürlich recht, daß dies eine mißliche Situation ist. Dies räume ich ausdrücklich ein. Sonst hätte ich nicht gesagt, wir müßten versuchen, den bestehenden Rechtszustand möglichst bald zu ändern. Wir haben darüber mit Ihrer Fraktion, wie Sie sicher wissen, gesprochen. Es war nicht so, daß wir diesen Rechtszustand nicht hätten ändern wollen. Eine solche Änderung ist von Ihnen aber abgelehnt worden. Wir wollten im Bundesberufsausbildungsbeihilfeanpassungsgesetz eine entsprechende Ergänzung durchsetzen. Dies war mit Ihrer Fraktion nicht zu machen.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Sind Sie als Regierung nicht durchaus befähigt, diesen Menschen durch einen Erlaß zu helfen?
Das sind wir leider nicht, Herr Kollege Maaß. Wenn eine gesetzliche Regelung für einen Sachverhalt gegeben ist, kann man sie selbstverständlich nicht ohne weiteres durch einen Erlaß verändern. Das ist mit Sicherheit nicht möglich.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, die Änderungen des SGB III sind ja lange vorbereitet worden. Sie waren sehr stolz darauf. Offensichtlich ist hier schlecht gearbeitet worden, wenn nun Teilnehmer an kombinierten Arbeitsmarktprojekten in die Sozialhilfe abgleiten. Wann haben Sie der SPD-Bundestagsfraktion ein Angebot gemacht, das zu ändern? Ich möchte Sie bitten, uns die entsprechenden Drucksachennummern zu nennen. Daß irgend jemand mit irgend jemandem auf dem Flur gesprochen hat, ist ja wohl kein Angebot für eine glaubwürdige Verbesserung der Situation.
Herr Ostertag, ich habe diese Frage natürlich erwartet. Ich habe im Augenblick die entsprechenden Drucksachennummern nicht vorliegen, kann Ihnen allerdings die Namen derjenigen nennen, mit denen Gespräche stattgefunden haben, und zwar zwischen dem Staatssekretär Tegtmeier und dem Abteilungsleiter Clever auf der einen und Ihrem zuständigen Mann, Herrn Andres, auf der anderen Seite.
({0})
Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen die entsprechende Drucksache, in der wir diese Regelung unterbringen wollten, nachreichen. - Dies zu Punkt 1.
Punkt 2. Wir alle, die wir in der Politik einige Erfahrung haben, wissen, daß es bei umfangreichen gesetzlichen Änderungen in der Praxis immer einen Fall mehr gibt als die Fälle, an die der Gesetzgeber gedacht hat. Über das betreffende Gesetz ist in der Tat sehr intensiv gesprochen und beraten worden. Bei diesen Beratungen war aber auch die Opposition anwesend. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß ein solcher - damals in der Praxis nicht existierender - Fall als theoretische Möglichkeit von irgend jemandem ins Gespräch gebracht worden wäre.
Dann kommen wir jetzt - das wird vermutlich die letzte Frage der heutigen Fragestunde sein - zur Frage 16 des Abgeordneten Dieter Maaß:
Entspricht es dem durch das Dritte Buch Sozialgesetzbuch propagierten Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe", wenn Arbeitslose für ihre aktiven Bemühungen, im Rahmen von Integrierten Arbeitsmarktprojekten die Arbeitslosigkeit dauerhaft zu beenden, gegenüber denjenigen, die arbeitslos bleiben, finanziell schlechtergestellt und somit benachteiligt werden?
Rudolf Kraus, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege Maaß, die geschilderte generelle Bestandsschutzregelung des Bemessungsrechts des Arbeitslosengeldes beruht gerade auf dem Grundgedanken, die Eigeninitiative von Arbeitslosen, die bereit sind, eine im Vergleich zur letzten Beschäftigung geringer entlohnte Arbeit aufzunehmen, zu stärken und finanzielle Hemmnisse, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehen könnten, zu beseitigen.
Die Neuregelung stellt deshalb eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Recht dar. Soweit die von Ihnen angeführten Auswirkungen eintreten, war und ist die Bundesregierung, wie von mir bereits ausführlich dargelegt, bereit, den gesetzgebenden Körperschaften eine Rechtsänderung möglichst bald vorzuschlagen.
Bitte, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung propagiert allenthalben, daß sich Arbeitslose besser qualifizieren sollen, daß sie flexibler werden sollen. In dem vorliegenden Fall haben dies Betroffene getan mit dem Ergebnis, daß sie schlechtergestellt waren als vor der Maßnahme. Das kann doch wohl nicht im Sinne der Bundesregierung sein. Ich hätte gerne eine Antwort darauf - das ist dann meine letzte Zusatzfrage -, wie Sie diese Ungerechtigkeit beseitigen wollen.
Das habe ich schon mindestens einmal, ich glaube, sogar zweimal gesagt, will es aber gern wiederholen: Auch wir sind ausdrücklich der Meinung, daß die jetzige Rechtslage geändert werden muß. Wir hatten dazu nur keine Gelegenheit, weil die erwähnten Gespräche fehlgeschlagen sind. Es gibt aber die feste Absicht, genau hier eine Änderung herbeizuführen.
Im übrigen - ich wiederhole auch dies - ist es ein Fall, der so früher eben nicht aufgetreten ist, sondern durch eine ganz merkwürdige Kombination von Entgeltregelungen - ein Teil des Entgelts wird ja aus den Sozialfonds der Europäischen Gemeinschaft gezahlt - überhaupt erst denkbar geworden ist. Genau diesen Fall wollten wir nicht; im Gegenteil, wir wollten mit den von mir aufgezeigten Änderungen den Arbeitslosen in besonderer Weise fördern, der bereit ist, seine Ausbildung selber in die Hand zu nehmen und dafür einiges zu tun.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir sind damit am Ende der heutigen Fragestunde. Die Fragen, die bis jetzt nicht aufgerufen worden sind, werden nach unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 2 a bis h auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Peter Götz, Werner Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({1}), Dr. Klaus Röhl und der Fraktion der F.D.P.
Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte
- Drucksachen 13/10536, 13/11113 -Berichterstattung:
Abgeordnete Volkmar Schultz ({2}) Angelika Mertens
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission
Wege zur Stadtentwicklung in der Europäischen Union
- Drucksachen 13/8106 Nr. 2.12, 13/8965 -Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Bertl Peter Götz
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Joseph-Theodor Blank, Albert Deß, Peter Götz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen, Dr. Max Stadtler und der Fraktion der F.D.P.
Lage der Städte, Gemeinden und Kreise
- Drucksachen 13/9467, 13/10540 -
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Lage der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/8152, 13/10541-
e) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Joachim Poß, Ernst Bahr, Tilo Braune, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zur Lage der Städte, Gemeinden und Kreise - Drucksachen 13/8238, 13/10546 -
f) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Michael Müller ({4}), Achim Großmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stadtökologie und nachhaltige Stadtentwicklung
- Drucksachen 13/6564, 13/8476-
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren, Achim Großmann, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stadtökologie und nachhaltige Stadtentwicklung in Deutschland fördern und die Weichen für eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung stellen
- Drucksache 13/10664 -
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Wilhelm ({5}), Franziska EichstädtBohlig, Werner Schulz ({6}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine ökologische und soziale Stadtentwicklungspolitik
- Drucksache 13/11088 Es liegen Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Joseph-Theodor Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Unions- und F.D.P.-Fraktion vor etwa einem halben Jahr die Große Anfrage zur Lage der Städte, Gemeinden und Kreise im Deutschen Bundestag eingebracht haben, begannen wir die Begründung der Anfrage mit dem Satz:
Der kommunalen Selbstverwaltung kommt in unserem gegliederten demokratischen Staatswesen eine sehr hohe Bedeutung zu.
Diese Einsicht muß unausgesprochen unsere Haltung im Bundestag wie auch in den Landtagen bei allen kommunal relevanten Entscheidungen bestimmen.
Wir pflegen deshalb nun schon seit mehr als 20 Jahren die gute Tradition, daß der Deutsche Bundestag mindestens einmal pro Legislaturperiode in einer Debatte die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung diskutiert. Heute wollen wir eine Bilanz der Arbeit dieser Legislaturperiode ziehen. Der Bundesregierung möchte ich für die umfangreiche und informative Beantwortung unserer Fragen danken.
({0})
Lassen Sie mich in vier Thesen die Ergebnisse dieser Legislaturperiode unter kommunalen Gesichtspunkten zusammenfassen:
Erstens. Durch die Bundesgesetzgebung sind die Kommunen in dieser Legislaturperiode nicht zusätzDr. Joseph-Theodor Blank
lich belastet, sondern, im Gegenteil, entlastet worden.
({1})
- Hören Sie einmal zu! Ich werde es gleich begründen.
Zweitens. Andererseits hat die Verantwortung der Bundesländer für die Finanzausstattung der Kommunen in dieser Legislaturperiode deutlich zugenommen.
Drittens. Mit der Beteiligung an der Umsatzsteuer bei Wegfall der wettbewerbsverzerrenden Gewerbekapitalsteuer konnte ein wichtiger Schritt für ein modernes kommunales Finanzsystem getan werden.
Schließlich viertens. Bei der Gesetzgebung in einzelnen Fachbereichen, etwa im Umwelt- und Baubereich, konnten wichtige Schritte zur Entbürokratisierung erreicht werden.
({2})
Zu meiner ersten These: Es gehört zu den Standardvorwürfen der Opposition, die gern von den Landespolitikern aufgenommen und gepflegt werden, daß der Bund mit seinen Gesetzen die Kommunen belaste.
({3})
Dies trifft, meine Damen und Herren, jedenfalls für diese Legislaturperiode nicht zu.
({4})
Im Gegenteil, durch eine Reihe bundespolitischer Maßnahmen vor allem im sozialen Bereich wurden die Kommunen in erheblicher Weise entlastet. Allein durch die Einführung der Pflegeversicherung sind die Ausgaben für die Hilfe zur Pflege in Deutschland zwischen 1994 und 1996 um knapp 22 Prozent zurückgegangen.
({5})
Die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes deuten darauf hin, daß die Schätzungen der Bundesregierung, durch die Pflegeversicherung werde die Sozialhilfe im Jahr 1997 um zwischen 10 und 11 Milliarden DM jährlich entlastet, zutreffen.
({6})
Stellen Sie sich einmal einen Moment lang vor, welche Folgen die Erosion der Steuerbasis für die kommunalen Haushalte ohne die Auswirkungen der Pflegeversicherung gehabt hätte.
Darüber hinaus hat in dieser Legislaturperiode die Gesetzgebung des Deutschen Bundestages durch Reformen im Bereich der Sozialhilfe, durch Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes, durch einen deutlich verbesserten Familienleistungsausgleich sowie durch die steuerliche Freistellung des Existenzminimums entlastet. Ein Teil dieser kommunalen
Entlastungen mußte gegen den langanhaltenden Widerstand der SPD durchgesetzt werden.
({7})
So konnte der Widerstand der SPD gegen die Sozialhilfeänderungen erst im Vermittlungsausschuß überwunden werden. Dieses Verhalten erhöht nicht die Glaubwürdigkeit Ihrer sachlich falschen Aussage, die Bundesgesetzgebung in dieser Legislaturperiode habe die Kommunen per Saldo belastet. Das Gegenteil ist der Fall.
({8})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Ihnen die Entlastung der Kommunen ein ernsthaftes Anliegen ist, stimmen Sie morgen der vorliegenden Bundesratsinitiative zum Asylbewerberleistungsgesetz zu! Damit kann Mißbrauch zu Lasten der Kommunen verhindert werden. Es ist nämlich nicht gerechtfertigt, daß bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber, die ihre Abschiebung durch Vernichtung von Ausweisdokumenten oder durch Identitätsverschleierung verhindern wollen, weiterhin einen vollen Leistungsanspruch haben.
({9})
Zu meiner These Nummer zwei. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß die Bedeutung der Länder für die Finanzausstattung der Kommunen in dieser Legislaturperiode gestiegen ist. Dies ist an einer ganz einfachen Zahl ablesbar: Während früher der Anteil des Bundes an den Steuereinnahmen bei rund 50 Prozent und der Anteil der Länder bei rund 30 Prozent lag, ist in den letzten Jahren eine deutliche Veränderung feststellbar. Die Anteile von Bund und Ländern haben sich auf rund 41 Prozent angenähert. Der Bund hat mehrfach als Kompensation von Kosten bei Gesetzgebungsmaßnahmen seinen Anteil an den Umsatzsteuereinnahmen reduziert und den Anteil der Länder erhöht.
Ich wäre dankbar, wenn wir als Ergebnis der heutigen Debatte gemeinsam den Druck auf die Länder verstärkten, die ihnen vom Bund für die Kommunen zur Verfügung gestellten Gelder auch tatsächlich an diese weiterzuleiten.
({10})
Ich richte diese kritischen Worte an alle Länder und alle Ministerpräsidenten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Wenn aber einer unter den Ministerpräsidenten, meine Damen und Herren, wegen kommunalfeindlichen Verhaltens besonders negativ auffällt, ist es der derzeitige Kanzlerkandidat der SPD.
({11})
Aus kommunaler Sicht ist dies ein zusätzliches Argument, im Herbst einen Wechsel hin zum Negativen zu verhindern.
({12})
Ein wichtiges Ergebnis dieser Legislaturperiode - damit bin ich bei meiner These Nummer drei - ist die zusätzliche Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer. Damit erhalten die Gemeinden eine zusätzliche, stetig wachsende und sichere Einnahmequelle. Ich danke hier insbesondere Finanzminister Theo Waigel, der bei diesem schwierigen Tausch der Abschaffung der wettbewerbsfeindlichen Gewerbekapitalsteuer gegen die Beteiligung an der Umsatzsteuer mit den kommunalen Spitzenverbänden in geradezu vorbildlicher Weise zusammengearbeitet hat.
Wenn es hier einen Wermutstropfen gibt, dann den, daß es den Ländern erneut gelungen ist, die Gewerbesteuerumlage als Refinanzierungsinstrument für die Länderseite zu mißbrauchen. Nur aus dem dringenden Gesamtinteresse für diese Reform, die ohnehin schon zu lange blockiert worden war, haben wir dieses negative Detailergebnis akzeptieren müssen.
Meine Damen und Herren, zur These vier. Bei der Neuordnung wichtiger Rechtsbereiche wie etwa dem Baurecht, das einen Kernbereich kommunalen Handelns regelt, konnten zugleich Maßnahmen der Entbürokratisierung und Verfahrenbeschleunigung erreicht werden.
Diese wenigen Beispiele zeigen, daß auf Bundesebene in den verschiedenen kommunal relevanten Aufgabenfeldern wie etwa der Innenpolitik, der Finanzpolitik, der Sozialpolitik und der Umweltpolitik der Bund seiner Mitverantwortung für die Erhaltung und Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung gerecht geworden ist.
Ohne die Leistungen anderer zu schmälern, möchte ich die besondere Leistung des ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, unseres Freundes und Kollegen Horst Waffenschmidt hervorheben.
({13})
Viele Initiativen zur Stärkung der Kommunen sind von ihm ausgegangen.
({14})
Er hat stets ein offenes Ohr für die Sorgen der Kommunen gehabt. Er hat sich in seinem Amt als ein wahrer Freund der kommunalen Selbstverwaltung erwiesen. Horst Waffenschmidt, herzlichen Dank!
({15})
Für seinen Nachfolger, Manfred Carstens, ist dies, wie ich von ihm weiß, Auftrag und Verpflichtung zugleich. Seine Arbeit in den vergangenen Monaten zeigt, daß er dieser Verpflichtung in ganz besonderer Weise gerecht wird. Dafür auch ihm ein herzliches Dankeschön!
Ihnen, meinen lieben Kolleginnen und Kollegen, danke ich, daß Sie mir mehr oder weniger zugehört haben.
({16})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Jochen Welt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In unserem föderalen Staatssystem sind die Gemeinden neben Bund und Ländern die dritte Säule der Demokratie. Das Grundgesetz garantiert ihnen in Art. 28 die kommunale Selbstverwaltung. Seit Jahren hebelt die Bundesregierung diese Garantie der kommunalen Selbstverwaltung aus: durch Aufgabenverlagerung, gesetzliche Einschränkung der kommunalen Rechte, indirekte und direkte Streichung und Kürzung der Steuereinnahmen. Seit Jahren mißbraucht der Bund die kommunalen Haushalte, vor allem über die Sozialhilfe, als Reservekasse.
Lieber Kollege Blank, Sie haben diese Situation eben in rosaroten Farben geschildert. Das können Sie nur tun, weil Sie offensichtlich nicht mit den zuständigen CDU-Bürgermeistern sprechen. Es war doch eine schallende Ohrfeige für Sie, das die der CDU angehörige Oberbürgermeisterin von Frankfurt, Petra Roth, als zuständige Präsidentin des Deutschen Städtetages Sie ausdrücklich davor gewarnt hat, die Städte weiter finanziell zu überfordern. Es sind doch christdemokratische Oberbürgermeister, die Ihnen das sagen. Jede andere Behauptung verzerrt die Realität.
({0})
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung verstößt mit ihrer Politik gegenüber Städten und Gemeinden gegen Geist und Zielsetzung des Grundgesetzes. Gemeinden sind Orte der Identifikation und des praktizierten Gemeinsinns. Gemeinden sind Orte der Integration. Gemeinden sind Orte, wo Perspektiven entwickelt werden. Wo wir wohnen und unseren persönlichen Lebensmittelpunkt haben, sind wir im Gespräch mit Nachbarn und Freunden, erleben wir örtliche Tradition und Kultur: Hier entsteht Heimat; hier übernehmen wir Mitverantwortung - im Sportverein, in der Jugendgruppe, der Feuerwehr. Hier findet Identifikation zwischen den Menschen und dem Gemeinwesen statt. Das ist wichtiger denn je, weil die großen Institutionen, weil Europa und die weltwirtschaftlichen Verflechtungen keine emotionalen Verknüpfungen schaffen, sondern viele Menschen eher Angst vor diesen Entwicklungen haben.
({1})
Der Mensch benötigt als Ausgleich zum anonymen Großraum den Nahraum der Gemeinden.
Wenn Gemeinden gezwungen sind, die freiwilligen Ausgaben für Kultur, Sport und Jugendarbeit zu streichen, um ihre Haushalte zu sanieren, dann belastet das das Wachsen von Heimat und erschwert die Bildung von Gemeinsinn und Solidarität. Wer will, daß die Bürgerinnen und Bürger, insbesondere junge Menschen, zu diesem Staat stehen und sich in dieser Gesellschaft wiederfinden, der darf die Gemeinden nicht schwächen, Kolleginnen und KolleJochen Welt
gen, sondern muß sie stärken. Dieses ist die logische Konsequenz.
({2})
Wir diskutieren viel über Integration, Asylbewerber, ausländische Arbeitnehmer, Zuwanderer und Aussiedler. Sie müssen untergebracht und betreut werden. Das geschieht konkret in den Gemeinden. Dort entscheidet sich, ob aus Zuwanderern angenommene und angekommene Nachbarn werden oder ob Ausgrenzung, Distanz, gar Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus zum Stigma unserer Gesellschaft werden. Wer die Gemeinden finanziell knebelt, der schürt Verteilungsängste vor Ort. Wer sich wie die Bundesregierung seit Jahren weigert, den finanziellen Anteil für die Unterbringung von Bürgerkriegsflüchtlingen zu übernehmen, wer trotz zunehmender Probleme die Eingliederungshilfen für Spätaussiedler zusammenstreicht, der leistet keinen Beitrag zur Integration, sondern grenzt aus und gefährdet den inneren Frieden unseres Landes.
({3})
Kindergartenplätze, Ausbildungsplätze, Chancen auf dem Arbeitsmarkt - das sind für die Herausbildung einer Lebensperspektive zentrale Bereiche. Hier ist der Staat gefragt, und auch die Gemeinden können und wollen hierzu ihren Beitrag leisten. Nur müssen sie dazu auch in der Lage sein.
Wir alle sind mit Recht über die deutschen Hooligans und das rechtsradikale Umfeld bei der Fußballweltmeisterschaft entsetzt. Der Bundeskanzler spricht von einer Schande. Neben einer strafrechtlichen Bewertung muß hier allerdings eines klar gesagt werden: Fehlende Perspektiven und fehlender Lebenssinn führen zu Ausgrenzung, zu Fremdenfeindlichkeit, zu Rassismus und Aggression. Deshalb muß man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in den Gemeinden mit dafür sorgen, daß die Probleme gelöst werden.
({4})
Wer diese absehbare Entwicklung und die damit verbundenen Schwierigkeiten beklagt, aber nicht zur Kenntnis nimmt, daß in Deutschland 500 000 Jugendliche arbeitslos sind, daß Gemeinden ihre Jugendeinrichtungen schließen und Verbände ihre Jugendarbeit zurückfahren müssen, der hat jede politische Glaubwürdigkeit verspielt.
({5})
Bekanntlich sind 80 bis 90 Prozent der Gesetze von Bund und Ländern von den Kommunen zu vollziehen - mit den damit verbundenen Ausgaben. Ich nenne hier nur die Bereiche Sozialhilfe, Asylbewerber- und Flüchtlingsbetreuung oder Kindergartenplätze. Folgende Zahl soll als Beleg dienen: Die Betriebskosten der Kindergärten belaufen sich nach unserem Beschluß zum Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz bundesweit auf einen Betrag von insgesamt zirka 17 Milliarden DM. Daran beteiligt sich der Bund - trotz Beschluß dieses Parlaments - nicht einmal mit Pfennigbeträgen. Hier - wie auch bei allen anderen Beschlüssen - muß im Sinne des Konnexitätsprinzips gelten: Wer die Musik bestellt, der muß sie bezahlen. Das gilt auch für die weiteren gesetzlichen Maßnahmen und Initiativen.
({6})
Das Finanzierungsdefizit der Kommunen wird sich nach einer Übersicht des Deutschen Städtetages von 6,6 Milliarden DM 1996 auf geschätzte 8,4 Milliarden DM in diesem Jahr erhöhen. Das ist eine Steigerungsrate von 27 Prozent. Während die Einnahmen der Kommunen 1996 noch rund 282 Milliarden DM erreichten, schätzen die Experten für dieses Jahr die Gesamteinnahmen auf 273 Milliarden DM. Dieser Rückgang von 3 Prozent bedeutet 9 Milliarden DM weniger in den Gemeindekassen. Viele Gemeinden gehen - anders als in der Bundesverwaltung - mit gutem Beispiel voran und tun alles, um ihre Kosten zu minimieren. So konnten in den letzten drei Jahren die Ausgaben um knapp 2,5 Prozent gesenkt werden. Aber es geht ihnen immer noch wie Sisyphus: Die fortschreitende Umstrukturierung der kommunalen Verwaltung im Sinne von Effizienzsteigerung und mehr Bürgerorientierung wird durch eine bestehende und teilweise weiter vorangetriebene Regelungsdichte, durch finanzielle Zusatzbelastungen und durch die Verlagerung der Kosten der Arbeitslosigkeit auf die Gemeinden beständig konterkariert.
Folglich mußten die Städte und Gemeinden auch bei ihren öffentlichen Investitionen sparen - ob bei Straßenbau, Bau und Renovierung von Kindergärten und Schulen oder anderen Einrichtungen der Infrastruktur. Auch in diesem Bereich stehen in diesem Jahr 10,4 Prozent weniger Mittel zur Verfügung. Das bedeutet in absoluten Zahlen: Die Gemeinden mußten ihre Investitionen um 4,3 Milliarden DM zurückfahren. Statt Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, werden insbesondere im Mittelstand Arbeitsplätze gefährdet oder gar vernichtet. Auch diese Fakten belegen: Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, denken nicht in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Sie predigen zwar die Förderung des Mittelstands, aber Sie nehmen den traditionellen Auftraggebern, nämlich den Kommunen, die finanziellen Möglichkeiten, den Mittelstand zu erhalten. Sie fördern den Mittelstand nicht durch Ihre Politik, sondern Sie gefährden ihn in seiner Substanz - und dies, obwohl die Bundesregierung genau um die Bedeutung der Kommunen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit weiß.
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Die SPD-Fraktion hat bereits im Januar vergangenen Jahres vorgeschlagen, eine gemeinsame Kommission des Bundestages und des Bundesrates einzusetzen. Sie soll sich unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände und kompetenter Fachleute aus Wissenschaft und Praxis mit der Reform der FiJochen Welt
nanzen befassen. Die Bundesländer haben dieser Anregung längst zugestimmt, aber die Bundesregierung läßt bis heute auf sich warten.
Deshalb wiederhole ich an dieser Stelle die Forderungen, die ich hier vor anderthalb Jahren - leider vergeblich - vorgetragen habe: Erstens. Reduzierung der großen Regelungsdichte und Aufgaben der Kommunen mit dem Ziel, diesen größeren gestalterischen Spielraum zu lassen. Zweitens. Stopp der Verlagerung originärer Bundesaufgaben auf die Gemeinden, zum Beispiel bei den Kosten der Arbeitslosigkeit, der Integration von Spätaussiedlern und Bürgerkriegsflüchtlingen. Drittens. Herausarbeitung von Vorschlägen einer Gemeindefinanzreform und zur Einführung des Konnexitätsprinzips zwischen dem Bund und den Kommunen unter Wahrung der föderalen Prinzipien unserer Verfassung.
Wir wollen weg von einem finanziellen Verschiebebahnhof zu Lasten der Gemeinden, hin zu einer gerechten Lasten- und Aufgabenteilung. Wir wollen weg von der politischen Gängelei der Kommunalpolitik, wir wollen hin zu mehr kommunaler Selbstverwaltung. Wir wollen weg von einem Stillstand bei Perspektiven und Chancen, hin zu Handlungsfreiräumen, die Perspektiven und Chancen eröffnen.
All das war mit dieser Bundesregierung in den vergangenen 16 Jahren nicht möglich. Deshalb brauchen wir auch hier einen Politikwechsel. Es ist an der Zeit, daß auch Sie, Herr Professor Blank, diese Realität zur Kenntnis nehmen; denn diese Realität wird Sie am 27. September ohne Wenn und Aber einholen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/ Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist überfällig, daß wir hier intensiv über die Probleme der Kommunen und der Städte sprechen. Es ist allerhöchste Zeit - da bin ich ganz anderer Meinung als Sie, Herr Kollege Blank -, daß wir die Alarmglocken wirklich laut und unüberhörbar läuten lassen; denn viele unserer Kommunen leben inzwischen in der Selbstverwaltung des Bankrotts. Das ist ein ernstes Thema, bei dem wir keinen Wahlkampf führen sollten, sondern bei dem wir wirklich überlegen müssen, wie wir das Problem lösen können. Das schafft nämlich keine der Parteien alleine.
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- Das ist kein niedersächsisches Problem. Machen Sie daraus nicht so eine billige Polemik!
Ich denke, die Probleme sind sehr vielfältig. Zum einen ist - das klingt noch ganz bescheiden - die ökonomische Gefährdung des kleinen und mittleren Gewerbes und des städtischen Einzelhandels zu beklagen, das heißt eine Schwächung genau der Wirtschaftskräfte, die das konstituierende Element der städtischen Kommune sind und die kommunale Demokratie ausmachen. Ich nehme das sehr ernst, auch wenn das aus meinem Munde sehr konservativ klingt. Ich denke, darüber müssen wir uns immer wieder verständigen und uns auch entsprechend engagieren.
Der zweite Punkt - das ist für mich eigentlich das Hauptthema - ist der Zusammenhang von Siedlungspolitik und Finanzpolitik. Unsere Städte zerfließen räumlich. Es ist geradezu ein Herausstülpen der klassischen Innenstadt hin zur Peripherie zu beobachten, wo man Verbrauchermärkte, Gewerbeparks, Freizeit- und Vergnügungscenter, die zusammen mit den Wohnparks unendliche moderne Parklandschaften ausmachen, findet, wo dann aber weder Park noch Landschaft natürlich ist, sondern schlicht Zersiedlung vorherrscht.
Der dritte Punkt ist das Problem, das heute im Zentrum steht: das finanzielle Ausbluten der Kommunen, insbesondere der Großstädte. Wir haben eine tiefgreifende strukturelle Krise der kommunalen Finanzen, über die wir, wie ich finde, nicht hinwegreden sollten. Viele Kommunen sind an der Schwelle, daß sie ihre Aufgaben buchstäblich nicht mehr erfüllen können. Den sinkenden Einnahmen stehen - darauf ist schon hingewiesen worden - ständig wachsende Soziallasten gegenüber sowie ständig steigende Infrastrukturlasten, bei gleichzeitig sinkendem Potential, diese tragen zu können.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen: Die politische Demontage von Staat und Stadt als Gemeinwesen wurde von der Politik in dieser Legislaturperiode durch ziemlich undifferenzierte Forderungen nach Kapitalisierung, Privatisierung und Deregulierung intensiv betrieben, ohne daß man sich klargemacht hat, von welcher Schwelle an wir anfangen, das Gemeinwesen Stadt und Staat auszuhöhlen, und damit zur Verantwortungslosigkeit beitragen.
Die Ursachen der Entwicklung sind vielschichtig. Sie sind gesellschaftlicher, ökonomischer und siedlungsstruktureller Natur. Ich möchte nicht dazu beitragen, daß wir der Politik hier Dinge anlasten, die sie nicht zu steuern vermag. Wir müssen aber über die politischen Instrumente sprechen, die zur Verstärkung dieser Tendenzen beitragen und die die Demontage von Stadt und Kommune sowie den Bankrott der Kommunen systematisch vorantreiben, anstatt ihm entgegenzuwirken.
Zu einigen anderen Aspekten, zunächst dem wichtigsten, den Gemeindefinanzen. Wir haben es in diesem Bereich mit einer Negativspirale und mit dem Zusammentreffen mehrerer Probleme zu tun. Die Einnahmen sind, vor allem auf Grund der vielfältigen Verschiebemöglichkeiten, die unser Steuerrecht bieFranziska Eichstädt-Bohlig
tet, bedrohlich gesunken. Allein die Tatsache, daß die veranlagte Einkommensteuer von 41,2 Milliarden DM im Jahre 1992 auf 5,8 Milliarden DM im Jahre 1997 gesunken ist, müßte allen Beteiligten zu denken geben.
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Auch die Steuerreform, die Sie uns im letzten Sommer vorgelegt haben, hätte in diesem Punkt nicht entsprechend gegriffen.
Gleichzeitig steigen die Kosten für die Aufgaben der Kommunen enorm an - insbesondere bei dem schon angesprochenen Problem der Leistungen für die Sozialhilfe. Die Hauptursachen dafür sind stagnierende Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit und das von der Koalition betriebene Abschieben der Kosten der Arbeitslosigkeit in die Sozialhilfe. Sie können nicht sagen, dazu hätten Sie in dieser Legislaturperiode keinen Beitrag geleistet. Erzählen Sie uns das nicht! Das ist eines der zentralen Probleme; einige weitere sind von Herrn Welt angesprochen worden.
Das Absurde ist, daß unsere Politik - ich spreche den bauförderungs- und siedlungspolitischen Teil an - diese Tendenzen sogar noch verstärkt, indem sie die soziale Entmischung im Berich der zentralstädtischen Kommunen - also der Städte - und der Umlandgemeinden geradezu vorantreibt. Die Zersiedlung schwächt die gemäß dem Gemeindefinanzausgleich nach der Einwohnerzahl bemessenen Einnahmen der Städte. Der Gemeindefinanzausgleich und das Steuerrecht forcieren die Bürgermeisterkonkurrenz bis zur Absurdität, weil alle Bürgermeister Siedlungsgebiete , Gewerbeparks, Verbrauchermärkte, Großkinos usw. ausweisen müssen. So stecken wir in einem Teufelskreis von Schwächung der jeweiligen Kernstädte und weiterer Zersiedlung, was wieder zur Schwächung der Nachbarkommunen beiträgt.
Diese fortschreitende Zersiedlung führt nicht nur zur wachsenden Natur- und Landschaftszerstörung und zu Umweltschäden, sondern auch zu einer mittlerweile wirklich unerträglichen Belastung der Kommunen mit den Lasten von Bau und Unterhalt der Infrastruktur. Bis heute legen Bund, Länder und Gemeinden kaum Rechenschaft darüber ab, welche Folgelasten diese permanente Ausweitung unserer technischen Infrastruktur und der Gemeindebedarfseinrichtungen eigentlich hat. Wir stehen - nicht nur in den ostdeutschen Kommunen, sondern bald auch im Westen - vor einem wachsenden Berg von Unterhalts- und Erneuerungskosten. Der Kollege Welt hat darauf hingewiesen, in welchem Maße gleichzeitig das Potential der Kommunen sinkt, um diesen wachsenden Berg von Infrastrukturkosten abzutragen.
Die mit der Zersiedlung und mit der Eigenheimförderung einhergehende soziale Entmischung nimmt bedrohliche Ausmaße an. Das Stichwort „sozial benachteiligte Stadtteile" gehört inzwischen zum Alltagssprachgebrauch. Die Grundtendenz ist: In den Kernstädten der Ballungsräume und in den Großstädten sammeln sich die sozialen Probleme an; die Schichten mit gesichertem und mit besserem Einkommen ziehen sich in die Umlandsiedlungen zurück. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen; zumindest müssen wir dieser Entwicklung, soweit es irgend möglich ist, gegensteuern.
Für die dringend erforderliche Gemeindefinanzreform bedeutet das: Entlastung der Kommunen zuallererst bei den Kosten für die Sozialhilfe. Bund und Länder müssen endlich mit in die Verantwortung genommen werden. Das Konnexitätsprinzip gilt nicht nur für den Bereich Sozialhilfe, wo wir es als allererstes durchsetzen müssen, sondern natürlich auch für alle anderen Bereiche: vom Kindergartenplatz bis hin zu Jugendeinrichtungen. Darüber ist schon gesprochen worden.
Darüber hinaus: Neuordnung der föderalen Finanzbeziehungen, die die systematische Benachteiligung der Kommunen beendet; Abbau horizontaler Ungleichgewichte zwischen den Kommunen; Sicherung der kommunalen Finanzautonomie. Die gesetzliche Aufbürdung von Lasten bei gleichzeitigem Entzug der Einnahmequellen - Stichwort Gewerbekapitalsteuer - ist unerträglich. So dürfen wir nicht mit den Kommunen umgehen.
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Die Neubestimmung der Gewerbesteuer mit Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und vieles anderes - wir haben eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. Teilweise betreffen sie ganz kleine Bausteine, die aber alle in der gegenwärtigen Konstruktion dazu beitragen, daß die Kommunen geschwächt werden. Wir müssen Schräubchen für Schräubchen entsprechend drehen, um die Kommunen wieder zu stärken und die Tendenz umzukehren.
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Ich möchte unter dem Motto „Einzelhandel in Not" einen zweiten Aspekt ansprechen. Sowohl in der Stadt als auch im Spannungsfeld zwischen Innenstädten und Außenregionen erleben wir inzwischen eine tödliche Konkurrenz zwischen dem kleinen und mittleren Einzelhandel und dem traditionellen Fachhandel auf der einen Seite und den großen Handelsgiganten und Handelsketten auf der anderen Seite. Bereits 1992 betrug der Anteil der zehn größten Unternehmen am gesamten Umsatz des Lebensmittelhandels 60 Prozent. Das ist eine Tendenz, die nicht nur für den Handel selbst, sondern auch für unsere Städte und für ihre Entwicklung wirklich gefährlich ist.
Drei Probleme treffen zusammen: die generell sinkende Kaufkraft auf Grund der stagnierenden Einkommen und der Arbeitslosigkeit, die zerstörerische Konkurrenz der Großmärkte, die bisher sehenden Auges überwiegend - teilweise auch der Bürgermeisterkonkurrenz zuliebe - in Kauf genommen worden ist, und die vielfach überzogenen Gewerbemieten, die zusammen mit fehlendem Mieter- und InvestitiFranziska Eichstädt-Bohlig
onsschutz für die Gewerbetreibenden immer noch als marktwirtschaftliches Regulativ gesehen werden,
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das ich angesichts der Situation, der das kleine und mittlere Gewerbe ausgesetzt ist, für völlig überholt halte.
Aus unserer Sicht sind drei Dinge wichtig: Erstens. Das Instrumentarium zur Eindämmung der Ansiedlung von Verbrauchermärkten und Factory Outlets ist verbessert worden, aber es reicht noch nicht aus. Wir müssen hier endlich eine klare Sprache reden und nicht immer so tun, als würde der Markt alles regeln. Nach unserer Ansicht darf für den Einzelhandel grundsätzlich nur noch in besiedelten Bereichen und an verkehrlich - gerade auch öffentlich verkehrlich integrierten Standorten gebaut werden. Es muß eine wirksame interkommunale Abstimmung gewährleistet sein. Das tut der kommunalen Hoheit keinen Abbruch.
Zweitens. Wir brauchen endlich einen mietrechtlichen Schutz für Gewerbemieter. Wir brauchen einen Mietspiegel wie im Wohnungsbereich, und wir brauchen einen Schutz der gewerblichen Eigeninvestitionen.
Drittens. Ich weiß, daß der nächste Bereich ein völliges Tabu ist. Wir haben das Wettbewerbsrecht gerade novelliert. Aber ich glaube, wir kommen an die Schwelle, an der wir darüber nachdenken müssen, ob wir nicht noch stärkere regionale Schutzinstrumente der Kleinen gegenüber den Großen brauchen. Die momentane Wettbewerbspolitik ist so, als ob bei Boxkämpfen alle Klassen gegen alle kämpfen müßten und so auch irgendwann die Leichtgewichte gegen die Schwergewichte. Wer übrigbleibt, wissen wir.
Meine letzten Stichworte: Eigentumspolitik, Bodenrecht, Planungsrecht, Zersiedlung. Wir erleben in den Innenstädten eine rasante Kapitalisierung und Anonymisierung des Grundbesitzes. Mich wundert eigentlich, wie Konservative und Liberale - na ja, Liberale vielleicht - dies mittragen können. Städtische Parzellen werden zu großflächigen Blocks zusammengefaßt. Die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten fördern diesen Prozeß, sie fördern Immobilienfonds. Im Osten haben wir dies in einer dramatischen Form erlebt. Die Wohneigentumsförderung fördert das kleinteilige Eigentum eigentlich nur noch im Umland. Diese Entwicklung führt zu einer völligen Schieflage zwischen Innenstadt und Außenbereich.
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Ihr Antrag zur Innenstadtstärkung ist wirklich ein bißchen scheinheilig, weil er an dieses Tabuthema gar nicht herangeht.
Um das mit Zahlen zu belegen: Der Bund gibt 7,2 Milliarden DM in die Eigenheimförderung und 720 Millionen DM in die Städtebauförderung, also zehnmal soviel für die Zersiedlung. Man kann doch
nicht glauben, daß die Städtebauförderung dieses Problem kompensieren kann.
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Zum Schluß möchte ich nur noch unsere wichtigsten siedlungspolitischen Forderungen nennen: Erstens geht es uns bei der Eigenheimförderung darum, sie insgesamt schlanker zu gestalten und endlich die Förderung der Altbausanierung wenigstens gleichberechtigt neben die Neubauförderung zu stellen. - Ich komme gleich zum Schluß, nur noch einige Forderungen. - Das zweite ist das Bodenpreisgefälle, ein Thema, das Sie in der Debatte zum Planungsrecht und zum BauGB systematisch ausgeklammert haben. Wir müssen uns mit ,dem Bodenpreisgefälle zwischen Innenstadt und Außenbezirk im Rahmen des Bewertungsrechts, des Steuerrechts und der Subventionen befassen, die wir über Steuern und Grundsteuern leisten.
Letzter Punkt: Im Planungsrecht muß sehr viel stärker, als das in der Debatte zur Novelle des Baugesetzbuches geleistet worden ist, der Vorrang der Innenstadtentwicklung vor der Außenbezirksentwicklung durchgesetzt werden. Ihr Antrag zur Stärkung der Innenstädte setzt auf Chancengleichheit zwischen innen und außen.
Jetzt ist aber wirklich Schluß.
Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja. Letzter Satz.
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Ich sage Ihnen: Wenn wir den Vorrang der Innenstadtentwicklung nicht politisch, planungsrechtlich und systematisch mit allen Instrumenten betreiben, wird es für die Innenstädte bald keine Chance mehr geben, und wir werden dann der uferlosen Zersiedlung zusehen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Zukunft unserer Städte steht im Mittelpunkt der Debatten der abschließenden Woche dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. Das ist sehr gut so, denn wir Abgeordneten sollten uns stets daran erinnern, daß nicht etwa die Städte und Gemeinden ihre Rechte vom Staat Bundesrepublik Deutschland ableiten. Nein, unsere Städte sind viel älter als das Gemeinwesen Deutschland. So ist es richtig, daß Art. 28 unseres Grundgesetzes die Souveränität der Kommunen bestätigt, deren Kernbereich nicht einmal durch einstimmig verabschiedete BundesgeHildebrecht Braun ({0})
setze, denen auch der Bundesrat einstimmig zustimmen würde, berührt werden dürfte.
Ich habe wie viele Kollegen in diesem Haus viele Jahre Kommunalpolitik gemacht, und ich bin für diese Erfahrung sehr dankbar, denn sie prägt mein politisches Denken und Handeln in vielen Bereichen noch heute. Nur allzu leicht machen wir Abgeordnete Gesetze, mit denen wir uns selbst als Wohltäter der Bürger erweisen und die Kosten für die Erledigung der in den Gesetzen übertragenen Aufgaben den Kommunen aufbürden. Ich erwähne nur beispielhaft das Recht auf einen Kindergartenplatz.
Ich will aber einige Themen der Politik für die Städte ansprechen, insbesondere die Revitalisierung der Innenstädte. Diese Themen lassen sich natürlich hintereinander nach einem Gliederungsschema aufreihen, es muß aber deutlich sein, daß der Organismus einer Stadt ein unteilbares Ganzes ist. Kein Teilbereich ist ohne Auswirkung auf viele andere Bereiche. Deswegen müssen unsere Thesen zu Einzelthemen immer das ganze Gefüge der Stadt im Auge behalten.
Lassen Sie mich als gegenwärtiger Vorsitzender der Kinderkommission des Deutschen Bundestages mit der oft mangelnden Kinderfreundlichkeit unserer Städte beginnen. Viele Städte haben die gesetzliche Verpflichtung zur Schaffung von Kindergartenplätzen für jedes berechtigte Kind nicht so ernst genommen, wie sie der Gesetzgeber gemeint hat.
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Hier ist höchste Eile geboten.
Kinderfreundlichkeit bedeutet aber vor allem Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr. Kinder als Fußgänger, als Radfahrer, aber eben auch beim Spiel mit dem Ball haben nicht die Knautschzone eines modernen Pkws. Vorfahrt für Kinder, auch für spielende Kinder, muß das Motto sein.
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Kinderfreundlichkeit bedeutet auch sichere Spielplätze in erreichbarer Nähe. „Sicher", das heißt nicht nur Schutz vor Gefährdungen des Straßenverkehrs, sondern auch Schutz vor ihrer Zweckentfremdung als Hundeklo. „Sicher", das heißt auch Schutz vor der Unduldsamkeit von erwachsenen Nachbarn, die noch immer nicht erkannt haben, daß Kinderlärm Zukunftsmusik ist.
Die Kinderkommission hat in dieser Legislaturperiode eine einzige Reise ins Ausland unternommen, und zwar auf Einladung der Knesset. Bei diesem Besuch machten wir eine beeindruckende Erfahrung in der jungen israelischen Großstadt Ashdod. Der dortige Stadtrat hat dem Kinder- und Jugendparlament einen eigenen Etat von 250 000 DM für ein Jahr eingeräumt. Die Kinder entschieden, den größten Teil dieses Geldes für die Erarbeitung eines Konzepts einer kinderfreundlichen Stadtplanung auszugeben. Sie beauftragten nach einem Wettbewerb einen Architekten, mit dem sie in vielen Sitzungen eine Änderung der städtebaulichen Planung berieten und schließlich beschlossen.
Der Stadtrat übernahm einen großen Teil dieser Anregungen. Ich wünschte mir, daß auch deutsche Städte dem Beispiel von Ashdod folgen würden. Trauen wir unseren Kindern und Jugendlichen mehr zu! Beziehen wir sie ein in die Entscheidungen zur Gestaltung unserer Städte! Es kann der Lebensqualität unserer Städte nur nützen.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Bitte, gern.
Bitte schön.
Herr Abgeordneter, sind Sie sich darüber im klaren, daß Ihre gutgemeinten Vorschläge hier in krassem Widerspruch zur Kommunalpolitik Ihrer Partei in vielen Städten stehen, die gemeinsam mit der Union die absolute Bevorzugung des Automobils gegenüber den Kindern bei den Investitionen im Straßenbau und anderenorts fordert? Das heißt: hier schöne Worte und in der kommunalen Praxis das glatte Gegenteil von dem, was Sie hier sagen.
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Herr Conradi, ich weiß, daß wir gegenwärtig Wahlkampfzeiten haben.
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Ich weiß auch, daß Sie über gewisse kommunalpolitische Erfahrungen verfügen. Sie mögen Erinnerungen an die 60er Jahre, vielleicht sogar noch an die frühen 70er Jahre in diesem Zusammenhang hegen und dort eine gewisse Bestätigung für Ihre These finden.
Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin 24 Jahre in der Kommunalpolitik gewesen, war in der Stadt München lange für Stadtplanung zuständig. Ich kenne viele, viele liberale Kollegen in der Stadtplanung, die genau wie ich die Priorität zugunsten einer kinderfreundlichen Stadtplanung setzen, insbesondere im Bereich des Verkehrs. Da sind wir alle nicht auseinander. Daß wir das Individualverkehrsmittel nicht verteufeln, sondern in gewissem Umfang für notwendig erachten, liegt auf der Hand; aber die Priorität muß - das sehen wir doch gemeinsam - beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs liegen. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Ich weiß gar nicht, warum wir uns hier auseinanderdividieren lassen wollen. Der Deutsche BundesHildebrecht Braun ({1})
tag - nicht etwa die F.D.P. oder die SPD oder die Schwarzen - spricht jetzt über die Kommunalpolitik. Wir machen uns gemeinsam Gedanken. Keine Sorge, Ihre Vorstellungen werden in einigen anderen Punkten, auf die ich noch zu sprechen komme, sicherlich noch bestätigt werden. Machen wir also bitte keinen Wahlkampf!
Lassen Sie mich zum städtischen Verkehr einiges sagen. In München als der größten deutschen Kommune wächst die Zahl der zugelassenen Pkw pro Jahr im Schnitt um 15 000. Aneinandergereiht bedeutet dies pro Jahr eine notwendige zusätzliche Parkfläche von 100 Kilometer Länge, und dabei sind die verschrotteten Pkw bereits berücksichtigt. Da selbstverständlich nur ein kleiner Teil dieser Pkw in Garagen unterkommen kann, müßten wir die Straßen ins Unendliche ausdehnen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Deswegen werden wir speziell zur Bewältigung des ruhenden Verkehrs über kurz oder lang in manchen Innenstädten sogar zu Zulassungsbeschränkungen kommen müssen, wenn wir vermeiden wollen, daß unsere Städte zum Abstellplatz von Blechkolonnen verkommen.
Wir kennen die Belastung der Innenstädte durch den Individualverkehr. Soweit sich dieser als Parksuchverkehr darstellt, hat dies natürlich mit den Parkmöglichkeiten zu tun, die oft in groteskem Mißverhältnis zur Zahl derer stehen, die gerne in der Innenstadt parken würden. Wenn sich aber herausstellt, daß die Erreichbarkeit der Stadtzentren mit dem Pkw von der Kapazität der Straße und von den Parkmöglichkeiten her begrenzt ist, dann muß umgesteuert werden. Das heißt, den öffentlichen Nahverkehr prioritär zu behandeln. Hierbei sind die Kommunen besonders gefragt.
Wer zum Umsteigen vorn Pkw auf den öffentlichen Nahverkehr gebracht werden soll, muß nicht nur ein Mindestmaß an Bequemlichkeit vorfinden. Die Verkehrsmittel müssen auch in einem ansprechenden Zustand sein und gehalten werden. Die Städte müssen dafür sorgen, daß speziell Frauen auch am Abend in U-Bahnhöfen und S-Bahnhöfen keine Angst zu haben brauchen.
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Dies läßt sich nicht alleine durch eine verbesserte Gestaltung der Züge erreichen; es ist auch dadurch zu schaffen, daß man Bahnhöfe nicht in den Besitz von Personen übergehen läßt, deren abweichendes Sozialverhalten und insbesondere deren Trinkgewohnheiten für die Mehrzahl der Nutzer schwer erträglich sind.
Die Sicherheit der Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln und in den Bahnhöfen wird in vielen Städten aus falscher Rücksichtnahme auf Stadtstmicher zu klein geschrieben.
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Wir wollen die Innenstädte durch attraktiven Einzelhandel wieder lebendig machen. Denn der Umwandlungsprozeß der Innenstädte hat viel mit diesem Thema zu tun. Waren es früher die qualifizierten
Fachgeschäfte des Einzelhandels, die sich auf Grund ihrer geschichtlichen Tradition in der Stadtmitte angesiedelt hatten und die auch das Stadtbild prägten, so ist es jetzt zunehmend der Teil des Handels, der die Massenkaufkraft anzieht: Ketten mit Billigwaren, Kaufhäuser mit dem besonders preiswerten Angebot - man könnte auch sagen: Ramschläden -, Schuhhandelsketten und seit einigen Jahren die Sexläden. Diese Branchen können sich die hohen Mieten leisten, während der Facheinzelhandel Schritt für Schritt aus den Innenstädten verschwindet.
Diese Entwicklung muß alle Alarmglocken schrillen lassen. Denn das Allerweltsangebot, nahezu identisch in allen großen Städten nicht nur unseres Landes, lädt nicht zum Verweilen und Flanieren, zum Erleben der Innenstadt ein, sondern zum schnellen Einkauf, der nicht anregt und auch nicht aufregt, sondern eine depressive Grundstimmung verstärkt.
Die beschriebene Entwicklung geht einher mit dem Prozeß des Sterbens der einheimischen Gaststätten, insbesondere der Qualitätsgaststätten. Dies wiederum hat mit Lohnnebenkosten und auch mit dem Beschäftigungsrecht für Ausländer zu tun.
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An ihre Stelle treten Hamburger-Läden wie McDonald's oder Burger King, die die gleichen geschmacklichen Eigenschaften in New York, Neu Delhi und Moskau anbieten. Diese Entwicklung gilt es zu stoppen.
Nichts gegen preiswerte Lokale für junge Menschen, nichts gegen die preiswerten Erwachsenenlokale mit Selbstbedienung und gehobenem Kantinencharakter. Aber alles für Vielfalt statt Einfalt.
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Zu dieser Vielfalt gehören die einheimische, die italienische und die französische Küche, Spezialitätenlokale, aber gerade auch Küche für gehobene Ansprüche.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich noch zwei Sätze sagen; danach gern.
Wenn schon wegen des Verschwindens attraktiver Gastbetriebe kaufkräftiges Publikum wegbleibt, dann werden auch die letzten Geschäfte des Facheinzelhandels bald die Kernstädte verlassen. Denn die Besichtigung des Angebots in Ruhe, die fachmännische Beratung und das gute Essen und Trinken gehören zusammen.
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Bitte sehr.
Herr Kollege Braun, ich stimme Ihrem Wunsch nach mehr Vielfalt in den Städten von Herzen zu
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und bin ebenfalls der Auffassung, daß es sehr bedauerlich ist, daß in unseren Innenstädten die Uniformität zunimmt. Aber können Sie mir bitte sagen, wie man dies verhindern soll? Ich stelle diese Frage vor dem Hintergrund der Entwicklung auf dem Immobilienmarkt: Diejenigen, die das Geschäft, das sie bisher vielleicht selber betrieben haben, nicht mehr weiterführen, wollen aus der Vermietung des Ladenlokals die höchstmögliche Rendite erzielen und vermieten es dann an eine Kette. Dies ist doch die Ursache für die Uniformität in unseren Innenstädten.
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Nach meiner Überzeugung verhält es sich so, daß diejenigen Mittelständler des Einzelhandels, die ausscheiden, denjenigen, die nachkommen, faktisch keine Chance lassen.
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Frau Kollegin, Sie haben natürlich recht, wenn Sie ausführen, daß das Bemühen um den höchsten Mietpreis in der Tat erheblich dazu beiträgt, daß wir diese beklagenswerten Erscheinungen vorfinden. Aber es gibt im Baugesetzbuch schon jetzt die Möglichkeit, über Bebauungspläne mit entsprechenden Vorgaben genau dieser Tendenz entgegenzutreten. Dafür werbe ich auch an dieser Stelle; ich habe dies früher auch im Münchener Stadtrat getan. Ich tue dies in der Hoffnung, daß möglichst viele Planungschefs von Gemeinden dies hören und zur Kenntnis nehmen. Sie sind in dieser Angelegenheit gefragt. Dem einzelnen Eigentümer wird man wohl kaum einen Vorwurf machen können, wenn er sein Haus im Stadtzentrum an denjenigen vermietet, der ihm am meisten zahlt.
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Die Städte können aber vorbeugen, und sie sollen es im Interesse wohlgemerkt der gesamten Stadt auch tun. Das Interesse der gesamten Stadt ist ein anderes als die Summe vieler Einzelinteressen.
Ich glaube, auch in dieser Frage sind wir gar nicht so weit auseinander.
Herr Abgeordneter, es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal von Ihrer Kollegin Schwaetzer.
Bitte sehr, Frau Schwaetzer.
Kollege Braun, könnten Sie mir zustimmen, daß StadtmarketingKonzepte, die inzwischen in vielen Gemeinden Ostdeutschlands aufgestellt worden sind und die bei ihrer Umsetzung auch schon Anfangserfolge zu verzeichnen haben, ein wichtiges Instrument sind,
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um solchen negativen Erscheinungen vorzubeugen bzw. sie einzudämmen?
Frau Schwaetzer, ich stimme Ihnen da ausdrücklich zu. Das bedeutet aber natürlich auch, daß wir in den Städten den Handel, die Polizei, die Politiker, aber auch die Kulturschaffenden zusammenbringen und sie jeweils vor Ort ein Konzept aufstellen müssen,
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die Innenstädte wieder attraktiv zu machen. In München oder Augsburg gibt es das schon. Aber viele Städte hinken dabei hinterher; sie lassen die Entwicklung einfach weiter in die falsche Richtung laufen.
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Es wäre falsch, die Einkaufszentren auf der grünen Wiese in Bausch und Bogen zu verdammen. Möbelhäuser und Läden für Güter, die nicht in Bussen und Straßenbahnen mitgenommen werden können, belasten die Innenstädte durch Individualverkehr. Sicherlich ist die Ansiedlung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben dann problematisch, wenn sie in ihrem Sortiment weitgehend mit dem der Läden in den Innenstädten, die die hohen Mieten zahlen müssen, übereinstimmen. Insbesondere werden sie zur Gefahr für eher statisch als dynamisch erscheinende Geschäfte der Innenstadt, wenn sie den Einkauf zum wirklichen Erlebnis machen. Hierzu gehört die Verbindung mit vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten, mit der Unterbringung von Kindern und dem Baden in nahe gelegenen Badeseen. In diesen Punkten können die Innenstädte natürlich nicht mithalten; weder Badeseen und große Parkplätze noch üppig dimensionierte Zufahrtsstraßen sind möglich.
Es gibt aber eine Vielzahl von anderen Mitteln, die Innenstädte wieder attraktiv zu machen. Dazu gehören auch Ladenöffnungszeiten, die mindestens so großzügig bemessen sein müssen wie bei der Konkurrenz auf der grünen Wiese. Als Liberaler will ich mit aller Deutlichkeit sagen: Hätten wir die Mehrheit, dann würden wir dieses elende Ladenschlußgesetz schlicht streichen. Es wäre kein Schaden für die Menschen und die Städte als Ganzes, wenn Läden so lange offengehalten werden könnten, wie dies nach dem Wunsch der Verbraucher und den Möglichkeiten der Händler realisierbar ist.
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Schon das in dieser Legislaturperiode in bescheidenem Maße geänderte Ladenschlußgesetz hat für die Innenstädte eine segensreiche Wirkung gehabt. Nicht mehr Punkt 18.30 Uhr werden die Gehsteige hochgeklappt und aus lebendigen Innenstädten tote
Hildebrecht Braun ({3})
Geisterstädte. Vielmehr kann jetzt der abendliche Einkauf nahtlos mit dem anschließenden Kino- oder Theaterbesuch verbunden werden. Die Innenstädte sind belebter und schon deshalb sicherer.
Lassen Sie mich etwas zu den kommunalen Finanzen sagen. Es ist gut, daß die Kommunen an der Einkommensteuer ebenso beteiligt sind wie neuerdings auch an der Umsatzsteuer. Gerade die Beteiligung an der Umsatzsteuer als Ausgleich für die Gewerbekapitalsteuer wird die Kommunalpolitik verändern.
Es reicht aber nicht, daß sich auch der Bund um bessere Finanzen bei den Kommunen gekümmert hat. Die Kommunen sind auch selbst aufgefordert, nach dem Prinzip der schlanken Verwaltung die notwendigen Reformen mit Nachdruck anzugehen. Daß allein die Stadt München mehr als 49 000 Bedienstete hat, also mehr als doppelt so viele wie sämtliche Behörden des sogenannten europäischen Wasserkopfs in Brüssel zusammengenommen, macht überdeutlich, daß hier in besseren Jahren mutig Stellen geschaffen wurden, die aber die Haushalte über Gebühr belasten, und zwar nicht nur in den kommenden Jahren, sondern weit in das nächste Jahrhundert hinein.
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Privatisierung von Aufgaben, stete Aufgabenkritik unter dem Blickwinkel, was andere billiger und besser machen könnten, sind angesagt. Wenn - ich bleibe beim Beispiel München - der Preis bei der städtischen Großwäscherei doppelt so hoch ist wie bei privaten Wettbewerbern, obwohl die städtische Großwäscherei jährlich mit Millionenbeträgen aus dem Staatssäckel subventioniert wird,
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dann zeigt dies, wie unmutig bestimmte Kommunalpolitiker sind. Kommunalpolitiker sollten Aufgaben dorthin verlagern, wo sie am besten zum Wohle aller erledigt werden.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Körper?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben eben am Beispiel der Großwäscherei ausgeführt, wie sich öffentliche und private Leistungen kostenmäßig unterscheiden. Angesichts dessen möchte ich Sie fragen: Mit welchen Arbeitskräften wird denn beispielsweise in einer solchen Wäscherei die Arbeit geleistet? Handelt es sich dabei um sogenannte 620-DMVerträge, oder sind das alles sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse?
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Der erste Unterschied besteht darin, daß die städtische Großwäscherei die Wäsche am Eingang des Krankenhauses abliefert, während die privaten Wäschereien sie auf die Station bringen.
Der zweite Unterschied ist, daß die Bediensteten der privaten Großwäscherei nicht Mitglieder der ÖTV sind. Das ist der wesentliche Punkt.
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Wohlgemerkt: Es ist in weiten Bereichen so, daß die Kommunalpolitiker von der Meinung einer bestimmten Gewerkschaft abhängig sind. Die setzt natürlich alles daran, daß das nicht etwa bei der städtischen Großwäscherei - was noch jeder verstehen würde - losgeht und als nächstes die Müllentsorgung und als drittes möglicherweise die kommunalen Kraftwerke und ähnliches drankommen. Das ist der eigentliche Hintergrund und nicht etwa die angebliche Chance, mit 620-DM-Jobs etwas einzusparen.
Was Sie sicherlich vergessen, ist folgendes: Wenn ein Arbeitgeber jemanden auf der Basis eines 620-DM-Jobs einstellt, dann kostet ihn der Arbeitnehmer genausoviel, wie er ihn kosten würde, wenn er ihn auf der Basis eines normalen Anstellungsverhältnisses einstellen würde. Warum? Weil die 20 Prozent pauschalierte Lohnsteuer plus Soli plus Kirchensteuer, die er zu bezahlen hat, mehr sind als der Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung, den er ansonsten zahlen würde.
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So sind die Fakten. Das pflegt nur die SPD normalerweise zu verheimlichen, wenn sie über dieses Thema diskutiert.
Ich komme zum nächsten Thema. Ein großes Problem für unsere Städte ist die Tendenz wohlhabender Schichten, ins Umland abzuwandern. Gerade weil die Kommunen auch an der Einkommensteuer beteiligt sind, führt dieser Trend zu dem nahezu überall zu beobachtenden Ergebnis, daß wir um die größeren Städte herum einen Speckgürtel von kleineren Kommunen haben, die finanziell sehr gut gestellt sind, während die Kernstadt größte finanzielle Probleme hat. Die Umlandgemeinden können durch einen besonders niedrigen Gewerbesteuerhebesatz gar noch Betriebe aus den Städten herauslocken, welche zur Finanzierung der für Stadt und Umland unverzichtbaren Infrastruktur hohe Steuereinnahmen benötigen.
Wir müssen zu Kooperationsmodellen wie beispielsweise in Hannover kommen. Herr Kansy, das Beispiel, das Sie uns damals vorgestellt haben, war wunderbar: Die Stadt Hannover und der Landkreis, der Hannover umschließt, haben sich zusammengetan und ein eigenes Gremium etabliert, das .in bezug auf Wohnen, Gewerbe und Verkehr für beide Verwaltungseinheiten die Entscheidungen trifft. Dieses Modell Hannover sollte von vielen kopiert werden;
Hildebrecht Braun ({2})
denn die Probleme in diesem Bereich werden immer größer.
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Ich komme immer wieder auf das Thema Sicherheit zu sprechen, da Sicherheit - auch aus der Sicht des Einzelhandels - ein zentrales Thema ist. Sichtbare Streifen von Polizisten, die in den Kernstädten zu Fuß unterwegs sind, sind ebenso notwendig wie belebte Innenstädte, die gar nicht erst Freiräume für lichtscheue Gestalten schaffen. Auch deshalb müssen wir die Baunutzungsverordnung ändern. Im Kerngebiet muß Wohnen wieder möglich sein. Im Zuge dieser Reform werden wir die Möglichkeit des Miteinander von nicht störendem Gewerbe und Wohnen verbessern; denn dies führt zu kürzeren Wegen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und damit zugleich zu einer Entlastung der Innenstädte von belastendem Verkehr. Die in den letzten Jahrzehnten vorherrschende Theorie der säuberlichen Trennung von Wohnen und Arbeiten hat ausgedient. Nicht allein die modernen Kommunikationsmittel werden viel dazu beitragen, daß zu Hause gearbeitet wird und Büros im traditionellen Sinn weitgehend überflüssig werden.
Wenn wir Individualverkehr in der Stadt vermeiden wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß möglichst viele Menschen an den Haltepunkten von Massenverkehrsmitteln wie U-Bahnen, S-Bahnen, aber auch leistungsfähigen Straßenbahnen und Bussen wohnen. Dies bedeutet, daß wir die bauliche Verdichtung im fußläufigen Umfeld dieser Haltepunkte fördern müssen. Der gegenwärtige § 34 des Baugesetzbuchs gibt uns hierfür nicht die nötige Handhabe. Wenn wir diesem städteplanerisch richtigen Ziel entsprechen wollen, dann müssen wir entsprechende Bebauungspläne schaffen. Ich glaube, hier ist Nachbesserungsbedarf gegeben. Wir sollten dieses Problem in der nächsten Legislaturperiode angehen.
Ein Aspekt der Baunutzungsverordnung, der mir besonders am Herzen liegt, muß angesprochen werden. Es ist die Kategorie „reines Wohngebiet". Sie wird natürlich von denen, die sich dort Grundstücke leisten können, sehr geschätzt, gibt sie doch die Gewißheit einer ruhigen und attraktiven Wohnumgebung. Nur: Die bisherige Formulierung der Baunutzungsverordnung hat Anlaß zu Entscheidungen von Kommunen gegeben, die von grenzenlosem Egoismus und - ich scheue mich nicht, dies zu sagen - auch von niederträchtiger Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen zeugen. So hat zum Beispiel die Stadtverwaltung von München im Nobelstadtteil Obermenzing den Bau eines Kindergartens unter Hinweis auf das „reine Wohngebiet" untersagt.
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Erst das . Verwaltungsgericht sorgte für eine Korrektur. Oder die Gemeinde Feldafing am Starnberger See untersagte den Bau eines kleinen Altenpflegeheims, da es im „reinen Wohngebiet" nichts zu suchen habe. Andere Entscheidungen gegen Asylbewerberheime und Behinderteninstitutionen haben republikweit für Aufsehen gesorgt.
Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Ein dem Gemeinwohl verpflichteter Deutscher Bundestag kann es nicht zulassen, daß Kinder oder Senioren, Behinderte oder Ausländer in bestimmten Stadtgebieten keine Chance mehr haben sollen, weil Bundesrecht die Interessen von gutverdienenden Bewohnern, die weder Kinder noch Alte, noch Behinderte, noch Andersgläubige sind, privilegieren.
Dieser Hinweis bringt mich zu einem Thema, von dem ich nicht nur mit Kopfschütteln, sondern mit Scham berichten muß. Ein Abgeordneter ausgerechnet aus dem Landkreis Augsburg hat im Bayerischen Landtag den Antrag gestellt, die bayerische Bauordnung möge doch so geändert werden, daß der Bau von Moscheen erschwert werde. Der Landtag hat diesen Antrag nun nicht etwa sofort zurückgewiesen, sondern nach intensiver Debatte in modifizierter Form als Prüfungsauftrag aufrechterhalten. Ich will die heutige Rede dazu nutzen, um mein Unverständnis für ein derartiges politisches Begehren im Deutschen Bundestag auszudrücken. Wie kann ein Abgeordneter einer oft selbst fundamentalistisch anmutenden christlichen Partei wie der CSU zwar darauf bestehen, daß Kruzifixe in Schulen und Gerichtssälen, wo bekanntlich am meisten gelogen wird, zwingend verbleiben, andererseits demjenigen Teil unserer Bevölkerung, den wir zur Sicherung unseres Wohlstands vor Jahrzehnten hergerufen haben, verweigern, ebenso wie Christen für das religiöse Leben Gotteshäuser zur Verfügung zu haben?
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Es ist schon ein starkes Stück, daß wir in unseren Schulen fast nirgends Religionsunterricht für die Angehörigen des Islams vorhalten.
Für die F.D.P. ist es jedenfalls nicht hinnehmbar, daß die gerade in den Städten relativ vielen Mohammedaner nicht Gotteshäuser haben sollen, die auch als solche durch ihre Minarette erkennbar sind. Ich empfehle denjenigen, die glauben, im christlich geprägten Deutschland sei kein Platz für Moscheen, einen Besuch in Damaskus, in Beirut, in Istanbul, ja selbst in Teheran. In all diesen Orten gibt es neben den vielen Moscheen christliche Kirchen.
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Damit sind wir beim Thema der Integration ausländischer Mitbürger. Städte, die es zugelassen haben, daß ganze Stadtviertel von einer nichtdeutschen Nationalität geprägt sind, machen etwas falsch. Es kann nicht richtig sein, wenn wir Kindergärten und Grundschulen, aber auch Hauptschulen und Realschulen haben, wo der Anteil nichtdeutscher Kinder gar 50 Prozent übersteigt. Viele deutsche Eltern werden aus der Angst, ihr Kind könne angesichts der besonderen Aufmerksamkeit, die ausländische Kinder natürlich benötigen, nicht genügend gefördert werHildebrecht Braun ({7})
den, an den Stadtrand oder gar aus der Stadt herausziehen. Wer für einen moderaten Ausländeranteil in Schulklassen ficht, ist nicht etwa jemand, der reserviert gegenüber Ausländern eingestellt ist, sondern er engagiert sich für erfolgreiche Integration von Ausländern, für ein besseres Miteinander von Deutschen und Nichtdeutschen. Dieses Thema ist wahrhaft eines der wesentlichen für unsere Städte.
Es gilt aber nicht nur, die Gefahr von Ghettos für Nichtdeutsche zu verhindern. Auch die traditionelle Politik des sozialen Wohnungsbaus des ersten Förderwegs hat dazu geführt, daß Menschen mit besonderen sozialen Problemen gerade in Neubauvierteln so konzentriert wohnen, daß soziale Probleme übergroß werden. Die F.D.P. lehnt den ersten Förderweg mit allen Fehlentwicklungen, die seit vierzig Jahren zutage treten, grundsätzlich ab.
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Wir haben an seine Stelle unser Konzept des sozialen Wohnens gestellt, das im Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Wohnungsbaugesetzbuch zum Teil seinen Niederschlag gefunden hat. Dieses Konzept, das sehr viele Vorteile gegenüber dem bisherigen Konzept hat, führt auch dazu, daß Familien und Einzelpersonen mit sozialen Problemen verstreut in der Stadt Wohnungen finden. Eine Wohngemeinschaft mit zehn Mietparteien kann eine Partei, die nicht unproblematisch ist, integrieren. Sie kann aber nicht fünf Parteien mit all ihren Problemen verkraften.
Denken Sie bitte immer auch an die Kinder, deren Bezugsgruppen einen positiven Einfluß haben sollen! Soziale Probleme an einem Ort, in einem Häuserblock oder in einer Straßenzeile, zu konzentrieren mag die verwaltungsmäßige Versorgung durch das Sozialamt erleichtern. Für die Kinder, aber auch für die Eltern und für Alleinstehende bedeutet diese Siedlungsstruktur vielfältige Probleme, die wir erst gar nicht entstehen lassen sollten.
Ein Wort zum Wohnen im Alter. Viele glauben, sie täten unseren alten Menschen etwas Gutes, wenn sie sie in Altenwohnheime im Grünen am Stadtrand verpflanzen. Weit gefehlt! Die meisten alten Menschen wollen im Stadtviertel mit seiner vertrauten Umgebung verbleiben, auch wenn es laut ist. Lassen wir die Alten doch selbst entscheiden, was sie wollen und wo sie leben wollen!
Ein letzter Punkt. Unsere Städte unterscheiden sich von den Städten der USA, Kanadas und vielen anderen Ländern dadurch, daß sie in ihrer architektonischen Struktur viele Jahrhunderte alt sind. Speziell die Stadtkerne haben meist einen mittelalterlichen Charakter. Dieser Charakter ist identitätsbildend und für die Bewohner und die Besucher von größter Bedeutung. Deshalb ist der Denkmalschutz für die Attraktivität unserer Städte von unschätzbarem Wert.
Ich freue mich, daß über die Städtebauförderungsmittel des Bundes, die seit Jahren in die Gemeinden und speziell in Deutschlands Osten fließen, auch und gerade die Erhaltung von Denkmälern gefördert wurde. Denkmalschutz ist nicht eine Spielerei für
Wohlhabende. Die meisten Denkmäler sind im Privatbesitz von Menschen, die keineswegs über hohe Einkommen verfügen. Denkmäler sind deshalb oft für die einzelnen eine große Last. Da sie aber für die Einmaligkeit der Städte, für ihre Identität unersetzlich sind, will ich für die F.D.P. erklären, daß wir auch in Zukunft dem Denkmalschutz und seiner notwendigen Unterstützung durch die öffentlichen Hände große Priorität beimessen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die kommunale Selbstverwaltung wird in Sonntagsreden gern als „Schule der Demokratie" gepriesen. Die Bundesregierung lobt sich in ihren Antworten zu den Großen Anfragen von PDS, SPD und Regierungskoalition zur Kommunalpolitik selbst, indem sie wörtlich sagt, „wesentlich zum Gedeihen der kommunalen Selbstverwaltung " beigetragen zu haben.
({0})
Unisono klingt es auch aus den Landeshauptstädten.
Doch der kommunalpolitische Alltag sieht leider anders aus. Es herrscht vorwiegend Zuschauerdemokratie. Selbst die gewählten Gemeinde-, Stadt- und Kreisräte haben tatsächlich über wenig zu entscheiden. Bund, Länder und Europäische Union regieren nämlich nahezu in jedes kommunale Aufgabenfeld hinein. Allein der Bund ist mit fast 5000 Gesetzen und Verordnungen beteiligt, deren Bestimmungen wiederum zu etwa 80 Prozent an die Adresse der Kommunen gehen. Der Kern der kommunalen Selbstverwaltung ist infolgedessen außerordentlich eingeschränkt.
({1})
Kommunale Selbstverwaltung läßt sich jedoch nur verwirklichen, wenn Städte und Gemeinden nicht wie jetzt an den Katzentisch gesetzt werden, sondern in den Parlamenten und anderen Kammern mitbestimmen und mitentscheiden können.
({2}) Das ist derzeitig jedoch nicht der Fall.
Die Kommunen sitzen überdies in einem Turm mit 180 Milliarden DM Kreditmarktschulden; allein in Ostdeutschland sind es 30 Milliarden DM. . Dieser Turm besteht trotz massiver eigener Konsolidierungsanstrengungen der Städte und Gemeinden, trotz drastischen Personalabbaus gerade in Ostdeutschland, wo in den letzten Jahren Hunderttausende aus Kommunalverwaltungen entlassen worden sind oder ihre Tätigkeit beendet haben, und dieser Schuldenturm besteht auch trotz des Verkaufs des kommunalen Tafelsilbers.
Die rigorose Privatisierung, Kollege Braun, ist eben kein geeigneter Weg, die Strukturkrise - es geht ja um eine Strukturkrise - der Kommunalfinanzen dauerhaft zu überwinden.
({3})
Sie ist nur eine Überbrückungsmaßnahme, die, über einen längeren Zeitraum betrachtet, sogar größere Löcher aufreißt.
Zu den drastischen Folgen der kommunalen Haushaltslage gehören schmerzliche Leistungseinschränkungen für die Bevölkerung, gehören explodierende kommunale Gebühren, Tarife und Beiträge. Außerdem: Wer aus Finanznot Jugendklubs schließt, wer Zuschüsse an soziale, soziokulturelle und Behindertenverbände streicht, wer kommunale Kultureinrichtungen auf Sparflamme fährt, wer Pläne für behindertengerechte öffentliche Gebäude auf den SanktNimmerleins-Tag verschiebt, der muß sehenden Auges Frust in Kauf nehmen - Frust, der bei Jugendlichen und sozial Benachteiligten mancherorts leider auch in rechtsradikale Entwicklungen umgeschlagen ist, Entwicklungen, die ich ausdrücklich verurteilen möchte.
Leere Kommunalkassen sind aber auch ein K.-o.Schlag für den Arbeitsmarkt und für die ohnehin arg gebeutelte Bauwirtschaft in Deutschland. Weil kommunale Investitionen seit 1995 um jährlich etwa 10 Prozent heruntergefahren wurden, können die Kommunen ihre Rolle als wichtigster öffentlicher Auftraggeber immer weniger ausfüllen.
Was sind aber nun die Ursachen der kommunalen Finanzkrise? Generell gilt, daß Städte, Gemeinden und Landkreise von den öffentlichen Steuergeldern grundsätzlich nur das bekommen, was Bund und Länder ihnen übriglassen.
({4})
- Ich sagte „grundsätzlich". - Dabei hat sich der Anteil der Steuereinnahmen, der in die Kommunalkassen fließt, bekanntlich ständig rückläufig entwickelt.
({5})
- Ich komme noch darauf. - Im Jahre 1980 lag der Anteil bei 18 Prozent, 1997 waren es nur noch 12 Prozent. Wäre die von Ihnen aus der Koalition so vielgepriesene sogenannte große Steuerreform tatsächlich umgesetzt worden, wären auf die Kommunen Mindereinnahmen in einem Umfang von jährlich 9 Milliarden DM - die kommunalen Spitzenverbände haben das nachgewiesen; Herr Blank, Sie kennen die Zahlen - zugekommen, die Hälfte allein wegen des spürbar rückläufigen Einkommensteueraufkommens.
Die Bundesregierung ist es, die maßgeblich die Verantwortung für die anhaltende Finanzmisere der Kommunen trägt.
({6})
Kontinuierlich wurde die traditionell wichtigste Steuereinnahme der Kommunen, die Gewerbesteuer, ausgehöhlt.
({7})
Für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer wiederum ist bis heute kein vollständiger Ausgleich gesichert,
({8})
trotz vollmundiger Versprechungen. Der Stabilitäts-
und Wachstumspakt, der mit der Euroeinführung schon ab 1. Juli dieses Jahres verbindlich ist, wird den finanziellen Spielraum der Kommunen weiter erheblich beeinträchtigen. Das hat leider keiner meiner Vorredner erwähnt.
Aber auch das ist die Wahrheit: Ausnahmslos alle ostdeutschen Landesregierungen haben dafür gesorgt, daß sich die Finanzlage ihrer Kommunen seit 1995 spürbar verschlechtert hat. Diese Länder haben die teilweise erheblichen Mehreinnahmen aus deren Einbeziehung in den Länderfinanzausgleich vor allem für die Sanierung ihrer eigenen Landeshaushalte
({9})
und nicht, wie beim „Fonds Deutsche Einheit" gesetzlich festgelegt, für die Ausstattung der Kommunen verwendet. Thüringens Kommunen haben durch diese Art und Weise, die zu Lasten der Länder geht, allein 1997 eigene Einnahmen in Höhe von 800 Millionen DM verloren.
Ein weiteres Desaster stellt die Zuordnung ehemals volkseigenen Vermögens an die Ostkommunen dar.
({10})
- Sachsen-Anhalt bildet hier eine geringfügige Ausnahme; aber grundsätzlich trifft die Aussage zu. - Die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der PDS offenbart ihr völliges Unvermögen bei den Kommunalvermögensfragen. Noch immer warten ostdeutsche Kommunen auf zirka 27 Prozent des ihnen zustehenden Vermögens - von Kindertagesstätten bis hin zu Flurstücken. Wann sie diese erhalten, steht noch in den Sternen. Kommunales Eigentum wurde von Treuhandnachfolgeeinrichtungen verscherbelt. Die Bundesregierung selbst hat offiziell bestätigt, daß es sich dabei um Verluste in Höhe von etwa 2 Milliarden DM handelt.
Klipp und klar ist: Eine Kommunalfinanzreform in Deutschland ist dringend erforderlich. Die Kommunalfinanzen müssen endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Hauptsäulen sollten sein: Erhaltung und Revitalisierung der Gewerbeertragsteuer insbesondere unter Einbeziehung kapitalkräftiger Freiberuflerinnen und Freiberufler sowie Vermögensberatungsfirmen, die Erhöhung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer von bisher 15 auf künftig 20 Prozent und der Ausbau der Grundsteuer zu eiDr. Uwe-Jens Rössel
nem Steuerungsinstrument mit wesentlichen ökologischen Komponenten.
Das Wohl der Kommunen, ihrer Einwohnerinnen und Einwohner, ist nicht für partei- und wahltaktische Scharmützel geeignet. Vor Ort in Ostdeutschland wissen und praktizieren das die meisten Menschen und haben daher keine Berührungsängste mit den 6 000 Mandatsträgern der PDS in den Kommunen oder den 192 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der PDS. Die Kommunalpolitik hat sich zu einem wirklichen Kronjuwel der PDS entwickelt. Im Deutschen Bundestag ist die PDS eine Partei, die die prekäre Lage der Kommunen ungeschminkt anspricht, die Ursachen und Verantwortlichkeiten dafür klar benennt und eigene Handlungsalternativen aufzeigt.
({11})
Es war die PDS, die als erste Bundestagspartei und am konsequentesten die vollständige Übernahme der sogenannten Altschulden auf gesellschaftlichen Einrichtungen in Ostdeutschland in den Erblastentilgungsfonds des Bundes verlangt hat.
({12})
Keine andere Fraktion, Kollege Willner, wollte sich 1995 dazu bekennen. Als die Situation schon verfahren war, entdeckten erst die SPD - Kollegin Schulte, Sie belächeln das; aber es war so - und später das Bundeskabinett diese Lösung als Stein der Weisen. Nicht wir aber waren es, die vorschlugen - wie jetzt im Lande Brandenburg praktiziert -, daß die Länder auf Umwegen wieder an dieser Refinanzierung beteiligt werden sollen. Das verurteilen wir ganz ausdrücklich.
({13})
Als einzige Bundestagspartei beantragt die PDS eine kommunale Investitionspauschale, die vom Bund aus unmittelbar an die Städte und Gemeinden fließen soll. Damit könnten die zahlreichen Fördertöpfe - dieser. Förderdschungel von Bund, Ländern und Europäischer Union - aufgelöst werden, und das Geld könnte nach bestimmten Kriterien dahin fließen, wo es wirklich hingehört: vor Ort, und es könnte den Menschen dort zugute kommen. Das wäre ein Schritt zu mehr Demokratie und Dezentralisierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das „Handelsblatt" titelte unlängst: „Deutschlands Kommunen kommen auf den Hund". Auf fast einer halben Seite wird das fast schon krampfhafte Bemühen beschrieben, bei der Suche nach neuen Geldquellen selbst die geringste Kommunalsteuer, die Hundesteuer, zu perfektionieren. Ich glaube, die Story ist traurig und symptomatisch für die Lage der deutschen Kommunen, beschämend für alle politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern und bezeichnend für ihr kommunalfeindliches Verhalten, bedeutet aber zugleich eine Forderung an alle, denen der Verfassungsauftrag zur Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung keine hohle Phrase ist. Sie können fest damit
rechnen, daß die Partei des Demokratischen Sozialismus im kommenden 14. Deutschen Bundestag dazu weitere konkrete Vorschläge vorlegen wird.
Ich bitte Sie zugleich um Zustimmung zu dem Entschließungsantrag der PDS über die Lage der Städte, Gemeinden und Landkreise und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({14})
Es spricht jetzt der Kollege Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In den letzten Jahren nach der Wiedervereinigung hat sich in Deutschland vieles verändert. Nichts ist in Ost und in West mehr, wie es war. Wenn sich ein ehemaliger Mitarbeiter im ZK der SED erlaubt, sich hier hinzustellen und so zu tun, als sei er der Wächter der Kommunen, so ist dies eine Ungeheuerlichkeit.
({0})
Nach der Herausforderung, die Hinterlassenschaften von Kommunismus und Sozialismus in Ordnung bringen zu müssen,
({1})
ist die finanzielle Situation für alle politischen Ebenen in diesem Land schwieriger geworden. Das ist unstrittig.
({2})
Dies gilt auch für die Städte und Gemeinden in Deutschland, und zwar in Ost wie in West.
({3})
In den neuen Ländern waren es die Bürgermeister und die Kommunalpolitiker, die mutig zugepackt haben, um diese Hinterlassenschaften des Kommunismus wieder in Ordnung zu bringen.
({4})
Sie haben mit großartigem Engagement oft aus dem Nichts neue Strukturen aufgebaut. Die Menschen in den neuen Ländern waren es, die sich sehr schnell auf eine neue Situation eingestellt haben. Dies verdient unser aller Respekt.
({5})
- Horst Waffenschmidt hat seinerzeit die Investitionspauschale den Gemeinden an die Hand gegeben. Das war der Start. - Sie von der PDS haben es vorher kaputtgemacht, und deshalb sollten Sie jetzt ganz ruhig sein.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben zur Zeit eine Erholung der Wirtschaft und eine Erholung des Arbeitsmarktes auf breiter Front, ob Ihnen das paßt oder nicht. Die verbesserten Rahmenbedingungen greifen. Sie wirken sich auch auf die kommunalen Kassen positiv aus.
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Herr Rössel, jetzt haben Sie oft genug dazwischengerufen.
Wenn wir mit offenen Augen durch die Dörfer und Städte in den neuen Ländern fahren, sehen wir, was die Menschen dort in wenigen Jahren geschaffen haben. Wir sehen, die Landschaften in den neuen Ländern blühen bereits.
({0})
Wenn noch nicht alles blüht, so sind doch viele Knospen sichtbar.
({1})
Wer das nicht wahrnehmen will, gerät in den Verdacht, an einer positiven Entwicklung in den neuen Ländern nicht interessiert zu sein.
({2})
Wir sollten aufhören, alles mieszureden. Wir sollten vielmehr den Menschen in den Städten und Gemeinden der neuen Länder für die großartige Aufbauleistung Dank sagen.
({3})
Nach unserem Grundgesetz sind die Länder für die Finanzausstattung der Kommunen zuständig. Ich frage mich, wo denn der Redner des Bundesrates heute in dieser Debatte ist.
({4})
- Ich frage auch, ob Sie, lieber Herr Kollege, als Oberbürgermeister nicht wissen, daß die Länder für die Finanzausstattung der Städte und Gemeinden zuständig sind.
({5})
In den vergangenen Jahren hat eine enorme Steuerkraftverschiebung vom Bund auf die Länder stattgefunden, um die politischen Veränderungen, die wir beschlossen haben, durchzusetzen.
({6})
Während die Steuereinnahmen des Bundes seit 1994 um 40 Milliarden DM gesunken sind, sind sie im gleichen Zeitraum bei den Ländern um 70 Milliarden DM gestiegen. Darin sind zum Beispiel auch die Gelder enthalten, die mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz verbunden waren.
({7})
Ich empfehle Ihnen, in Nordrhein-Westfalen einmal bei Ihrem Finanzminister nachzufragen, wo dieses Geld letzten Endes hängengeblieben ist.
({8})
Mit dieser Verschiebung der Steuerkraft ist auch die Verantwortung der Finanzausstattung gegenüber den Kommunen in den Ländern gewachsen. Viele Länder kommen dieser zusätzlichen Verantwortung nicht nach. Dies wird durch ein Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs bestätigt;
({9})
hören Sie gut zu. Danach hat das Land Niedersachsen seine Verfassungsverpflichtung, für eine angemessene Finanzausstattung der Kommunen Sorge zu tragen, mehrfach verletzt.
({10})
Der Kern des Finanzausgleichssystems wurde für verfassungswidrig erklärt. Dieses kommunalfeindliche Vorgehen in Niedersachsen macht deutlich, was den Städten, Gemeinden und Kreisen droht, wenn der niedersächsische Ministerpräsident auf Bundesebene Macht erlangen sollte, was nicht der Fall sein wird.
({11})
Unbeschadet der Rechte und Pflichten der Länder bekennen sich diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen ausdrücklich zu ihrer Mitverantwortung für das Wohl der Kommunen. Dafür sagen wir Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl herzlichen Dank.
({12})
Ein gutes Beispiel ist die Städtebauförderung.
({13})
So sind einschließlich 1997 insgesamt mehr als 14 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden.
({14}) - Ich wäre ganz ruhig.
Wenn Länder wie Brandenburg die vom Bund bereitgestellten Fördermittel den Gemeinden vorenthalten, so ist dies eine Schande. Das Geld fehlt nicht nur den Gemeinden, es fehlt auch der mittelständischen Bauwirtschaft in den neuen Ländern, die es dringend braucht.
({15})
Lassen Sie mich ein anderes Thema, das mir am Herzen liegt, ansprechen.
Darf ich zuvor fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel zulassen?
Nein; von ihm nicht, nein.
({0})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann rede ich auch darüber, wenn Sie es unbedingt haben wollen.
({1})
Ich komme zu den Strukturen bei den Gemeindefinanzen. - Natürlich gehört die Komplementärfinanzierung mit zu den Themen; natürlich ist das ein Problem. Sich aber hier hinzustellen, eine Aufstockung der Fördermittel für die Städtbauförderung einzuklagen und gleichzeitig in den Ländern die nötigen Komplementärmittel nicht zur Verfügung zu stellen, ist eine scheinheilige Diskussion.
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Ein wichtiger Schritt für ein Gemeindefinanzsystem ist die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und die unmittelbare Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer.
Es war diese Bundesregierung, die das durchgesetzt hat - ich sage Ihnen das -, damit die Umsatzsteuer nicht wieder wie in der Vergangenheit über die Länder fließt und dann dort an den klebrigen Fingern hängenbleibt, sondern den Kommunen unmittelbar zugute kommt. Das war eigentlich der Durchbruch in dieser Sache.
Wichtig ist, daß bei der weiteren Ausgestaltung unserer Steuersysteme das Band zwischen den Bürgern und den Kommunen, aber auch das Band zwischen der Wirtschaft und den Gemeinden gestärkt wird. Die Gewerbesteuerumlage wie auch andere in Jahrzehnten gewachsene Systeme im Umlagenbereich gehören auf den Prüfstand. Sie müssen der heutigen Entwicklung angepaßt werden.
Wir müssen auch darüber nachdenken, ob die Grundsteuer in der heutigen Form noch zeitgemäß ist. Wir brauchen auch bei der Grundsteuer eine Reform - genauso wie bei der großen Steuerreform -, die ein einfaches, ein von jedem nachvollziehbares Steuersystem ermöglicht.
Deshalb plädiere ich dafür, daß wir in der kommenden Legislaturperiode die Besteuerung von Grund und Boden kostenneutral, aber radikal vereinfachen. Dann sind auch die Städte und Gemeinden in der Lage, bei entsprechender Finanzausstattung die Erhebungen selbst vorzunehmen. Das wäre eine echte Chance, den Staat ein Stück weit schlanker zu machen und Bürokratie weiter abzubauen.
({3})
Gleiches gilt bei der Sozialhilfe. Inzwischen haben die Sozialhilfelasten - das ist wahr - finanzielle Größenordnungen erreicht, die viele Sozialhilfeträger erdrücken. Ohne die bundespolitischen Entscheidungen lägen die Aufwendungen der Kommunen für Sozialhilfe pro Jahr in Milliardenhöhe über den heutigen Werten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen beschäftigen heute etwa 200 000 der rund 700 000 arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger. Das sind 80 000 mehr als noch vor drei Jahren. Dieses Beschäftigungsangebot der Kommunen muß weiter ausgebaut werden. Dazu gehört auch, daß die Anreize zur Aufnahme von Arbeit weiter verstärkt werden. Jeder der arbeitet, soll mehr verdienen als der, der nicht arbeitet.
({4})
Ich appelliere an den Bundesrat, diese Neuregelung nicht weiter und noch länger zu blockieren; denn es ist immer besser, Arbeit zu finanzieren, als Arbeitslosigkeit zu unterstützen.
({5})
Auch der Umweltschutz gehört zu den wichtigen Themen der Kommunalpolitik. Die Menschen erwarten partnerschaftliches Miteinander beim Umweltschutz und keine Horrorforderungen, die keiner mehr bezahlen kann. Umweltschutz muß ökologisch und ökonomisch sinnvoll sein; dann erfährt er auch in der Bevölkerung die notwendige Akzeptanz.
Die Habitat-Agenda und die Agenda 21 bieten dafür einen ausgezeichneten Handlungsrahmen. Es handelt sich hierbei um einen unmittelbaren Verantwortungsbereich der Kommunen. Ich bin sicher, die Städte und Gemeinden werden ihn positiv und konstruktiv zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern nutzen.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Städte und Gemeinden sind mit der CDU/CSU-geführten Bundesregierung in einer schwierigen Zeit mit vielen großen Herausforderungen sehr gut gefahren. Dafür, daß es auch auf dem Weg ins 21. Jahrhundert so sein wird, lohnt es sich zu arbeiten, und das wollen wir tun.
Vielen Dank.
({6})
Es folgt der Kollege Otto Reschke.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Wer wird dem Satz „Demokratie beginnt in der Gemeinde" nicht zustimmen wollen? Alle unterstreichen diesen Satz ja dort, wo der Bürger unmittelbar mit dem Staat zu tun hat.
({0})
Aber wenn wir genauer hinsehen, lieber Kollege Braun, sind die Selbstverwaltung und die Bürgernähe in den Kommunen gefährdet.
Ich will dazu einige Beispiele nennen. Bei den Städten und Gemeinden ist vieles nicht in Ordnung. Finanznotstand durch leere Kassen, Personal- und Serviceabbau, steigende Ausgaben bei der Sozialhilfe und fehlende Investitionen sind auf kommunaler Ebene vielfach Realität. Seit Jahren stecken die Kommunen in einer Finanzkrise mit gravierenden Auswirkungen: Bäder und Büchereien müssen geschlossen werden. Gebühren werden erhöht. Die Bürger klagen über schlechte Straßen und über vernachlässigte Infrastruktur bei den Schulen und überall dort, wo Investitionshilfen fehlen. Dann lese ich:
Die Bundesregierung ist an leistungsfähigen Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland interessiert.
So bürokratisch und distanziert äußert sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD.
Ich zitiere weiter: Die Bundesregierung
... bekennt sich daher ausdrücklich zu ihrer Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit der Kommunen. Die Bundesregierung hat deshalb im Rahmen einer Vielzahl von Gesetzesnovellierungen die kommunale Selbstverwaltung gefestigt.
Wenn die Regierung dies in einer Gemeindeversammlung vorlesen würde, zum Beispiel am morgigen Mittwoch im Rat der Stadt Essen, erntete sie vor Ort bitteres Hohngelächter. Diese Beschreibung der Situation durch die Regierung geht natürlich völlig an der Realität vorbei.
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Worte und Taten stehen in einem krassen Mißverhältnis. Die große Mitschuld der Bundesregierung an der Misere der Kommunen ist nicht zu verkennen. Immer mehr Lasten hat der Bund auf die Städte und Gemeinden übertragen. Die verfehlte Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl, die sich mit der hohen Arbeitslosigkeit abfindet, hat zu einer Kommunalisierung der Lasten der Arbeitslosigkeit geführt. Diese Last muß den Kommunen dringend wieder abgenommen werden. Die Bundesregierung äußert sich in der Antwort auf die Große Anfrage dazu überhaupt nicht. Das eigene Versagen versucht sie dezent zu verschweigen.
Ich nenne noch einige Fakten und Beispiele: Die Sozialhilfeausgaben weisen in den letzten 15 Jahren im Vergleich zu anderen kommunalen Ausgaben eine weit überdurchschnittliche Steigerungsrate auf. Die größte Steuerquelle der Gemeinden, der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer, reichte 1996 nicht einmal aus, um die Ausgaben für die Sozialhilfe vor Ort zu decken. Nur 90 Prozent dieser Ausgaben für Sozialhilfe waren durch die Lohn- und Einkommensteuer gedeckt bzw. getragen. Vor zehn Jahren lag diese Quote noch bei 130 Prozent. So sieht Ihre Finanzausstattung, die Sie so deutlich loben, in der Realität aus. In der Antwort wird auf diese Entwicklung nicht eingegangen.
Ich möchte noch etwas zitieren, was verdächtig klingt:
... die aus der Entwicklung der Sozialhilfeaufwendungen abgeleitete Forderung nach einer notwendigen Reform der Gemeindefinanzen [ist] nicht sachgerecht. Die Belastungen der Gemeinden im sozialen Bereich müssen vielmehr durch Maßnahmen gemindert werden, die das Volumen der Ausgaben nachhaltig begrenzen.
Im Klartext heißt das doch: Die Bundesregierung sieht bei der Frage der Gemeindefinanzen keinen Handlungsbedarf. Statt dessen will sie weiteren Sozialabbau betreiben. Dies steht in ihrer Antwort auf die Große Anfrage, das müssen wir den Menschen vor Ort in den nächsten Wochen und Monaten deutlich sagen und klarmachen.
({2})
Zum drastischen Anstieg der Soziallasten kommt auf der anderen Seite die Instabilität der kommunalen Steuereinnahmen hinzu. Die Entwicklung der Steuereinnahmen hat sich auf kommunaler Seite vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt; das stellen Sie fest, wenn Sie genauer hinschauen. Die verheerende Steuergesetzgebung der Bundesregierung ist dafür verantwortlich. Die Kommunen sind dem Finanzchaos von Herrn Waigel schlichtweg ausgeliefert. Das müssen Sie doch erkennen. Die immer neuen Steuerausfälle stellen die kommunalen Haushalte vor immer neue und immer größere Probleme. Das kümmert die Koalition überhaupt nicht.
Die Bundesregierung plante mit ihrer Steuerreform Mindereinnahmen für die Kommunen in Höhe von 3 bis 4 Milliarden DM ab 1999 jährlich. Hinzu käme noch einmal eine Belastung in Höhe von 3 bis 4 Milliarden DM, die unmittelbar durch die Folgen des kommunalen Finanzausgleichs auf die Kommunen zugekommen wäre.
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Wenn ich dann noch die Verschätzung des Finanzministers - man könnte sie auch „Steuerschwätzung" nennen; das ist ja keine Steuerschätzung mehr, die diese mittlerweile Regierung vorlegt - hinzunehme,
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komme ich auf einen Betrag von 8 bis 12 Milliarden DM, der den Kommunen fehlen wird.
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Das heißt, den Kommunen, die am Rande des Abgrunds stehen, hätten Sie mit dem Vorhaben, das Sie Steuerreform nennen, den Todesstoß versetzt. Wir haben den Plänen von Herrn Waigel nicht zugestimmt, weil diese Steuerreform, wie wir meinen, nicht erträglich gewesen wäre.
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Städte und Gemeinden haben übrigens einen beachtlichen Beitrag zur Konsolidierung geleistet. Ihre Ausgaben sind real gesunken und sinken weiter. Das kommunale Finanzierungsdefizit lag bei 6,6 Milliarden DM 1996 und sank auf 5,8 Milliarden DM 1997. Die Einhaltung der Maastricht-Kriterien ist vor allem auch durch diese Sparleistung der Kommunen möglich geworden. Doch die Einsparungen haben auch eine Kehrseite: Die kommunalen Investitionen sind dadurch dramatisch zurückgegangen.
Herr Reschke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Bitte schön.
Herr Reschke, Sie sind ein erfahrener Politiker aus Nordrhein-Westfalen. Sie zeichnen hier das Bild einer wirklich beklagenswerten Situation von Kommunen mit sehr vielen Arbeitslosen, mit vielen Sozialhilfeempfängern und mit viel zu wenig Steuereinnahmen. Das Bild mag auf Nordrhein-Westfalen zutreffen. Es trifft sicherlich auf Niedersachsen und das Saarland zu. Nachdem Sie gesagt haben, daß der Grund für die Situation in der Bundespolitik zu suchen sei - sie beeinflußt ja alle gleichermaßen, Baden-Württemberg und Bayern genauso wie das Saarland und auch Nordrhein-Westfalen -, frage ich Sie ganz deutlich: Warum sind denn die Dinge in Ihrer Heimat, in Nordrhein-Westfalen, und speziell im Saarland und in Niedersachsen so viel schlimmer?
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Lieber Kollege, wir müssen im Hinblick auf die Kommunen bundesweit zwei Dinge feststellen: Die Kommunalpolitik spielt sich dort - ebenso wie beim Bund - zwischen Einnahmen-
und Ausgabenseite ab. Auf der Einnahmeseite haben wir eine Abkoppelung der Kommunen von den Steuereinnahmen, auf der anderen Seite müssen wir in bezug auf die Kommunen drei weitere Sachverhalte sehen: Die Kommunen versuchen eine Antwort auf die strukturellen Herausforderungen der heutigen Zeit zu finden. Das zeigen ganz deutlich die stagnierenden Personalausgaben bei den Kommunen. Des weiteren haben wir sinkende Investitionen zu verzeichnen. Das ist eine Reaktion darauf, daß die Kommunen kein Geld haben. Als weiterer Punkt sind die steigenden Soziallasten zu nennen. Sie möchten ja sogar das Wohngeld auf die Kommunen abwälzen. Das ist keine kommunale Aufgabe.
({0})
Insofern müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen, daß die Finanzausstattung der Kommunen in vielen Bereichen bundesweit schlecht ist. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel: In den letzten zehn Jahren mußten bundesweit die Einnahmen der Kommunen aus
der Grundsteuer um fast 100 Prozent erhöht werden, um kommunalpolitisch einigermaßen agieren zu können. Das geschah nicht nur in den Gemeinden Nordrhein-Westfalens, sondern auch in vielen anderen Gemeinden. Ich sage ganz deutlich, daß die Gemeinden ihre Ausgaben für Sachinvestitionen seit 1992 herunterfahren mußten, weil im Grunde genommen die Einnahmeseite der Kommunen nicht mehr in Ordnung ist.
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Die kommunalen Investitionen - das ist die Kehrseite der Einsparungen - sind dramatisch zurückgegangen. Die Sachinvestitionen verringerten sich - ich nannte diesen Punkt schon eben - seit 1992 um 20,1 Prozent und haben jetzt den nominellen Stand von 1988 erreicht. Das entspricht real dem Stand der 60er Jahre. Der Anteil der Sachinvestitionen an den kommunalen Ausgaben ist von 24 Prozent im Jahre 1982 auf nunmehr 15 Prozent gesunken. Die Tendenz ist weiter fallend.
Das hat natürlich Auswirkungen - ich nenne nur ein Beispiel - auf die Bauwirtschaft, die kaum noch öffentliche Aufträge erhält. Wegen dieser Auswirkungen sind 400 000 Bauarbeiter arbeitslos. Für den Anstieg der Beschäftigung ist es unverzichtbar, daß die Investitionsfähigkeit der Kommunen wiederhergestellt wird.
In ihrer Antwort rühmt sich die Bundesregierung einer Gesetzgebung, durch welche die kommunale Selbstverwaltung gefestigt worden sei. Dabei weist sie besonders auf die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer hin. Die finanziellen Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung sind ausdrücklich unter den Schutz der Verfassung gestellt worden. Die Bundesregierung verschweigt aber, daß sie sich lange gegen diese grundgesetzliche Absicherung gewehrt hat und erst nach jahrelangen Verhandlungen einer solchen zugestimmt hat. Diese Absicherung ist ein Erfolg der Entschiedenheit und Beharrlichkeit der SPD.
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Die Bundesregierung stellt dagegen die finanziellen Grundlagen der Kommunen immer wieder in Frage. In der Koalitionsvereinbarung steht nun einmal der Satz, daß „die Gewerbesteuer Schritt für Schritt mit dem Ziel der Abschaffung gesenkt werden soll" .
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In ihrer Antwort auf unsere Frage schweigt die Regierung zu diesem kommunalfeindlichen Vorhaben. Hat die Bundesregierung dieses Ziel aufgegeben oder nicht? - Dazu können Sie doch einmal Stellung nehmen. Es ist doch wichtig, vor den Wahlen zu erfahren, was in welchen Bereichen geschehen soll.
Herr Waigel - oder wer sonst vom Finanzministerium anwesend ist - könnte sich dazu klar und deutOtto Reschke
lich äußern und dafür sorgen, daß solche wahltaktischen Manöver unterblieben.
In der nächsten Legislaturperiode muß eine Gemeindefinanzreform durchgeführt werden, die von dieser Bundesregierung ständig verhindert worden ist. Drei große Punkte stehen an. Erstens: Aufgaben und finanzielle Lasten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden müssen neu geregelt werden, und zwar nicht immer zu Lasten der Gemeinden. Zweitens: Die kommunale Selbstverwaltung muß auf finanziellem Gebiet wiederhergestellt und abgesichert werden, damit kommunale Verwaltung und kommunale Angebote vor Ort auch noch möglich sind. Drittens: Die kommunale Investitionskraft muß wieder gestärkt werden. Sie können sicher sein, wir werden versuchen, dies nach dem 27. September 1998 mit aller Deutlichkeit und Bestimmtheit zu tun.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war nach 18 Jahren parlamentarischer Tätigkeit meine letzte Rede im Deutschen Bundestag, wie für viele in dieser Woche die parlamentarische Arbeit zu Ende geht.
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Ich möchte mich zunächst bei den Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion für die jahrelange gute Zusammenarbeit und Unterstützung bedanken. Ich möchte auch allen Kolleginnen und Kollegen Dank sagen, die nicht meiner Partei angehören und mit denen ich trotz Auseinandersetzungen gut zusammengearbeitet habe. Wir haben ja zuweilen hart gestritten. Ich habe mich bemüht, trotzdem fair zu bleiben. Ausnahmen, die mir unterlaufen sind, seien mir verziehen.
Damit man nicht verdächtigt wird, man lebe nur in eigenem Gedankengut, will ich einmal Adenauer zitieren. Er hat anläßlich seines Abschieds als Bundeskanzler zu Willy Brandt gesagt - ich zitiere -:
Von irgendwelchen persönlichen Konflikten ist mir überhaupt nichts mehr bekannt.
In diesem Sinne möchte ich mich verabschieden. Unserem Land und Ihnen ein herzliches Glückauf!
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Herr Reschke, diesen Dank erwidere ich im Namen der Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages. Sie haben es nach fünf Wahlperioden und 18jähriger Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag - tief verankert in der Kommunalpolitik - so gehalten, wie Sie eben zitiert haben: sich mit einer kritischen Rede ohne persönliche Konflikte verabschiedet. Wir wünschen Ihnen alles Gute.
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Nun ist Kollege Helmut Wilhelm an der Reihe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mich erfreut es schon sehr, daß auf Betreiben der Koalition heute eine Debatte über Stadtentwicklung stattfindet.
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- Gut, noch besser!
Es scheint so, als habe die Regierungskoalition am Ende der Legislaturperiode und wohl am Ende ihrer Regierungstätigkeit noch ein wichtiges Thema entdeckt - wie ich auch den heutigen Reden entnommen habe -, nämlich den Erhalt und die Stärkung der Innenstädte. Plötzlich werden „zwingende Gründe" gesehen, „stadtschädigenden oder sogar stadtauflösenden Tendenzen entgegenzuwirken".
Meine Damen und Herren, diese Problematik sehen wir schon lange. Im Rahmen der BauROG-Novelle haben wir die Bundesregierung und die Koalitionsmehrheit in diesem Haus immer wieder auf diese vorhandenen Tendenzen hingewiesen. Unablässig haben wir darauf gedrungen, die Novellierung dazu zu nutzen, ein Planungsrecht zu normieren, mit dem eine stadtverträgliche Planung auch wirklich umzusetzen ist.
Nutzungsmischung, Verkehrsvermeidung, Innenentwicklung und die Begrenzung des Flächenverbrauchs hätten während der BauROG-Debatte als Leitbilder der städtebaulichen Entwicklung dienen sollen. Statt dessen hat die Koalition auf bedingungslose Deregulierung gesetzt, um Investoren das Bauen zu erleichtern. Da Investoren aber typischerweise jeden Kostenvorteil nutzen, entstehen vermehrt großflächige Einzelhandelsunternehmen und neue Handelsformen wie Factory outlet außerhalb der Kernstädte; diese stellen den Beginn einer weiteren Zersiedelung der Landschaft mit allen bekannten negativen Folgen dar.
Auf all dies haben wir schon in der Debatte vor zwei Jahren hingewiesen; auch darauf, daß die zentralen Forderungen der Agenda 21, nämlich die Begrenzung von Zersiedelung und eine umweit- und damit menschenverträgliche Stadtentwicklung, nicht ohne entsprechende Regularien umzusetzen sind.
Die Bundesregierung hat in der BauROG-Debatte viele der Problemfelder nicht angepackt. Dazu hat meine Kollegin Eichstädt-Bohlig schon Stellung bezogen. Leider gehören dazu auch die Maßnahmen, die vornehmlich der Verkehrsvermeidung und dem Stopp der Zersiedlung hätten dienen können. In diesem Zusammenhang ist die vorrangige Nutzung von Brachen und Baulücken wie auch die vorrangige Ausbildung von Siedlungsschwerpunkten an Haltestellen des schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehrs zu nennen.
Wir wollten, daß in dem neuen „Jahrhundertwerk" Baugesetzbuch festgelegt wird, daß Gemeinden nur dann neues Bauland ausweisen dürfen, wenn sie im Rahmen eines schlüssigen Konzepts den Nachweis erbracht haben, daß und wie sie städtebauliche Brachen und ausgewiesene Baulücken in bereits besiedelten Gebieten nutzen. Das wäre eine geeignete Maßnahme gegen die ausufernde und neuerdings
Helmut Wilhelm ({1})
auch von der Koalition beklagte Zersiedlung der Landschaft gewesen. Statt dessen gibt es Deregulierung und heute Krokodilstränen bei gleichzeitigem Eigenlob für die mißglückte Leistung.
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Das geschieht natürlich unter Schuldzuweisung an die Gemeinden, die auch noch die „Frechheit" besitzen, die ihr durch das neue Baugesetzbuch eingeräumten Möglichkeiten tatsächlich zu nutzen. Das Bedauern der Regierungskoalition wird dann schon ein bißchen unglaubwürdig - genauso unglaubwürdig wie der heutige Ruf der Koalition nach leistungsfähigen ÖPNV-Systemen und Verkehrskonzepten zur Verbesserung der urbanen Funktionen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich begrüße ich die späte Einsicht, wenn es denn wirklich Einsicht sein sollte, was ich im Moment allerdings noch etwas bezweifeln möchte.
Unser Vorschlag lautete damals: Auf allen Planungsebenen soll sichergestellt werden, daß be-plante Gebiete an den öffentlichen Verkehr - vornehmlich an den Schienenverkehr - anzubinden sind. Die Gemeinden sollten veranlaßt werden, übergeordnete Regionalplanung zu betreiben, damit städtebauliche Schwerpunkte vornehmlich an diesen ÖPNV-Trassen gesetzt werden. Anstatt unsere Forderungen zu berücksichtigen, fördert der Bund nach wie vor den Straßenbau und drängt die Ausgaben für die Schiene zurück. Für Schienennahverkehrswege werden davon wiederum nicht einmal diejenigen 20 Prozent aufgewendet, die nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz gesetzlich vorgesehen sind.
Um den Widerspruch zwischen Reden und Handeln dieser Regierung aufzuzeigen, nenne ich ein deutliches Beispiel aus der Hexenküche des Bundesverkehrsministeriums.
({3})
Wie schreibt die Koalition in ihrem Papier „Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte" ach so richtig? Ich zitiere:
Ein leistungsfähiges ÖPNV-System als Alternative zum motorisierten Individualverkehr ist für eine Umwelt- und stadtverträgliche Bewältigung der steigenden Anforderungen an die Mobilität im innerstädtischen Raum von zentraler Bedeutung ... Einen wesentlichen Schritt zur positiven Entwicklung des ÖPNV hat der Bund 1996 vollzogen ...
Es wird dann die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs genannt.
({4}) - Das ist Ihr Zitat.
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Justament zu dem Zeitpunkt, zu dem die Koalitionsparteien diesen Antrag zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte eingebracht haben, versuchte Herr Wissmann, eine Revision der Ausgleichszahlungen für den Schienenpersonennahverkehr nach § 6 des Regionalisierungsgesetzes durchzusetzen. Die jährlichen Ausgleichsmittel zugunsten der Länder sollten seinem Wunsch gemäß von 7967 Millionen DM im Jahr 1998 um jährlich fast 500 Millionen DM bis zum Jahr 2001 gekürzt werden. Allein der Flächenstaat Bayern hätte danach im Gesamtzeitraum dieser vier Jahre 738 Millionen DM für den umweltfreundlichen Nahverkehr auf der Schiene verloren.
Daß das zu einem Kahlschlag im Bereich der Regionalbahnen, zu einem weiteren Anwachsen des Individualverkehrs auf der Straße und zu einer weiteren Belastung der Städte geführt hätte, ist klar. Ich bin deshalb froh, daß der Bundesverkehrsminister auf Grund des Widerstandes der Länder doch noch die Kurve gekratzt und den Streichungsplan in der Schublade versenkt hat - hoffentlich endgültig!
Nicht anders sieht es übrigens bei der zu Recht hochgelobten Städtebauförderung aus. Auch diese hat jedenfalls in den alten Ländern nur durch das Engagement der Länder überlebt. Die Bundesregierung wäre gut beraten, die Methode „Haltet den Dieb" nicht zur politischen Maxime zu erheben und, statt Länder und Gemeinden in ihrem Antrag zum Handeln aufzurufen, in dieser Frage selbst etwas zu leisten.
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Ich rufe jetzt die Kollegin Maritta Böttcher auf.
Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte voranstellen, daß ich Abgeordnete eines Kreistages in Ostdeutschland bin, also weiß, wovon ich rede.
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Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition zur Erhöhung der Attraktivität der Innenstädte ist das offene Eingeständnis, daß die Koalition um die Gunst rechtsradikaler Wähler buhlt. In diesem Antrag wird tatsächlich aggressives Betteln als Sicherheitsrisiko für die Innenstädte eingestuft, welches durch Erhöhung der Polizeipräsenz unterbunden werden muß. Das ist vorhin wiederholt worden.
Es wird die Kriminalisierung von Bagatelldelikten gefordert. Hier möchte ich die Frage aufwerfen: Wollen Sie Brotdieben etwa wieder die Hand abhacken, wie das schon im Mittelalter guter Brauch war? Nach Konzepten gegen aus sozialer Ungerechtigkeit seitens dieser Bundesregierung entstandene Armut habe ich in diesem Antrag vergebens gesucht.
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Ich fand ebenso kein Wort darüber, woher die Städte das Geld nehmen sollen, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben überhaupt erfüllen zu können. Auch erhöhte Polizeipräsenz kostet Geld. Aber für die Finanzausstattung der Kommunen fühlt sich die Regierungskoalition nicht zuständig. Ich suchte in
diesem Antrag auch vergeblich nach der Aussage, daß über die Finanzierung von Jugendeinrichtungen oder anderen soziokulturellen Einrichtungen eine wirksame Kriminalitätsvorbeugung möglich wäre.
In Anbetracht der Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt ist eine Offensive in der Gesellschaft erforderlich. Wer jetzt mit dem Totschlagargument von Haushaltslage und Haushaltssperre zum Beispiel den freien Trägern von Einrichtungen zur politischen Bildung und den örtlichen Initiativen und Projekten der Jugendarbeit das Wasser abgräbt und versucht, den Kampf gegen rechtsextremistische Gewalt und Ausländerfeindlichkeit auf rhetorische Pflichtübungen zurückzustutzen, begeht nicht wiedergutzumachende Fehler.
Wir werden nicht tatenlos zusehen, wenn auf diese Weise die Menschen, die sich ungeachtet unterschiedlicher politischer Orientierung und Parteizugehörigkeit vor Ort in den Kommunen, Verbänden, Vereinen und Initiativen, in Gewerkschaften und Kirchen mit alltäglicher Gewalt und Diskriminierung auseinandersetzen müssen, entmutigt werden.
Gleichzeitig wird in diesem Antrag davon gesprochen, daß der Ausstieg des Bundes aus dem Schienennahverkehr als Erfolg gefeiert werden könne. Kein Wort darüber, daß sich die Bundesregierung damit auch aus ihrer Verantwortung für dessen Finanzierung zurückgezogen hat. Kein Wort darüber, daß sich zahlreiche Kommunen mit der Deutschen Bahn AG nach wie vor über Bahnhofsgebäude streiten, die verfallen und deren Instandsetzung die Bahn verweigert.
An die Stelle einer wirklich tiefgründigen Analyse der Probleme der großen Städte setzt die Regierungskoalition den Ruf nach mehr Polizeipräsenz und ergeht sich in Selbstbeweihräucherung. Dies ist wieder einmal ein Beweis für die absolute Handlungsunfähigkeit der gegenwärtigen Regierung und der sie tragenden Koalition. Da hilft auch kein Schönreden und auch nicht der Verweis darauf, daß Sie alle Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker sind. Ich jedenfalls spüre die verheerenden Auswirkungen der Politik dieser Bundesregierung in der Kommune sehr deutlich. Ich fordere Sie auf, damit endlich Schluß zu machen und eine sozialverträgliche Politik zu betreiben.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Wöhrl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Anfang der Geschichte unserer Städte steht der Handel: Güteraustausch zwischen Bauern und Handwerkern, Händlern und Verbrauchern. Erst durch die Verleihung des Marktrechts stieg ein Dorf zur Stadt auf.
Auch im ausgehenden 20. Jahrhundert prägt der Einzelhandel als wichtiger Faktor für die Attraktivität das Stadtbild. Ohne Handel fehlt eine lebendige und urbane Kultur. Stellt man jedoch heute einen Vergleich zwischen Städten und Umland an, sieht
man, daß bei der Bevölkerungsentwicklung, dem Beschäftigungszuwachs sowie der Entwicklung der Steuerkraft die Kernstädte inzwischen ganz klar den kürzeren ziehen. Ganz deutlich zeigt sich das bei den Zahlen im Handel: Von 1980 bis 1994 blieb die Zahl der Arbeitsplätze im Bereich Handel und Verkehr in den Kernstädten gleich, während sie im Umland um 40 Prozent zugenommen hat, bedingt durch viele große Einkaufszentren, die sich inzwischen auf der grünen Wiese angesiedelt haben.
Mit den geplanten Fabrikverkaufszentren, auf gut englisch „factory outlet centers" genannt, hat das Problem der Verlagerung auf die grüne Wiese eine neue Dimension bekommen. Es kommt damit zu Zerrüttungen unserer gewachsenen Einzelhandelsstruktur, es kommt zu Arbeitsplatzverlusten und zu Ausbildungsplatzverlusten. Man spricht davon, daß bei einem „factory outlet center" pro neugeschaffenem Arbeitsplatz, wobei das hauptsächlich 620-MarkJobs sind, insgesamt zwei bis drei Arbeitsplätze des gewachsenen traditionellen Einzelhandels verlorengehen. Es kommt dazu, daß die Nahversorgung unserer Bevölkerung leidet, was vor allem Bevölkerungsgruppen betrifft, die nicht motorisiert sind, wie zum Beispiel viele Senioren und auch viele, viele junge Menschen.
Es ist aber nicht so, daß hier kein rechtliches Instrumentarium vorhanden ist. Wir haben ein rechtliches Instrumentarium zur Abwehr von FOCs, meine Damen und Herren.
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Das bestätigen auch unsere Handelsverbände, die aber ergänzen, daß es sehr oft an der Bereitschaft fehlt, die Keule, die vorhanden ist, auch auszupakken.
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Deswegen ist es gut, daß sich im Juli unser Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammensetzt, die für den Vollzug der Raumordnung und des Baurechts zuständig sind, um über dieses Thema intensiv zu beraten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen, ist konkretes Handeln, um die Innenstädte wieder attraktiv zu machen. Der Einzelhandel, der die Situation am besten kennt, nennt hier zwei zentrale Anliegen: Erstens, Gegen Kriminalität und Verwahrlosung muß effektiver vorgegangen werden. Zweitens. Die Innenstädte müssen erreichbar sein, und zwar auch mit dem Auto. Ich sage es hier ausdrücklich: auch mit dem Auto.
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Zum ersten Punkt: 68 Prozent der Einzelhändler in Citylagen fühlen sich durch Verunreinigungen, 42 Prozent durch die Drogenszene, 37 Prozent durch aggressives Betteln, 35 Prozent durch alkoholisierte Gruppen und 33 Prozent durch Trick- und Taschendiebstahl in ihrer Geschäftstätigkeit beeinträchtigt. Meine Damen und Herren, es nützen doch alle unsere politischen Bemühungen zur AttraktivitätssteiDagmar Wöhrl
gerung der Innenstädte nichts, wenn es uns nicht gelingt, hier das Sicherheitsgefühl unserer Mitbürger
zu stärken. In diesem Bereich muß angesetzt werden.
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Da geht es nicht nur um die Bekämpfung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, sondern auch um die Einschränkung sonstigen störenden Verhaltens. Die Kommunen haben es hier selbst in der Hand, durch die sogenannte Gefahrenabwehrverordnung eine Rechtsgrundlage zu schaffen, um dagegen vorzugehen und auch den Aufenthalt in den Innenstädten wieder attraktiver zu machen.
Womit kann das Sicherheitsgefühl am besten gestärkt werden? Das geschieht nun einmal durch eine ausreichende Polizeipräsenz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber wenn man wie in Niedersachsen und, noch viel schlimmer, im Saarland bei der Polizei eifrig einen immensen Stellenabbau betreibt,
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kann man keinen Beitrag leisten, um die Innenstädte attraktiver zu gestalten.
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Völlig an den Bedürfnissen des für uns so wichtigen Einzelhandels in den Innenstädten vorbei geht auch die Forderung der Grünen nach einer „Entkriminalisierung" des Ladendiebstahls. Hier wird von einer Bagatellkriminalität gesprochen, meine Damen und Herren. Wer spricht von dem enormen Schaden, der allein durch Ladendiebe verursacht wurde, einen Schaden von 4,5 Milliarden DM im Jahr?
Hier geht es auch noch um etwas ganz anderes. Sie legen als Grenze für Bagatellkriminalität bei einem Diebstahl einen Wert von 100 DM fest. Nehmen wir einmal an, jemand klaut etwas in einem Geschäft und geht bis zur Tür. Die Verkäuferin kommt ihm nach und sagt: Moment einmal, Sie haben etwas genommen! - Antwort: Das kostet 90 Mark! - Wenn dies nach § 127 der Strafprozeßordnung nur noch eine Ordnungswidrigkeit ist, darf ihn die Verkäuferin nicht festhalten. Wo wären wir denn damit hinsichtlich der Sicherheit in unseren Innenstädten hingekommen?
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Nun zum zweiten Punkt. Der Wettbewerbsvorteil der Geschäfte auf der grünen Wiese liegt vor allem darin, daß sie mit dem Auto erreichbar sind. Das wissen wir ganz genau. Deswegen müssen wir die Möglichkeit schaffen, die Innenstädte mit dem Auto mühelos zu erreichen.
Ich finde es scheinheilig, wenn jetzt Mitglieder der Opposition als die großen Unterstützer des innerstädtischen Einzelhandels herausgestellt werden. Es sind doch Ihre Kollegen in den Kommunen, die die Barrikaden aufbauen, die den Hauptschlagadern zu den Herzen der Städte mit Straßenrückbauten, Stolperschwellen und ähnlichem ständige Thrombosen bescheren. Hier wird doch Parkraumbewirtschaftung als das Abschaffen von Parkplätzen verstanden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres trägt auch nicht gerade dazu bei, die Attraktivität der Innenstädte für den Handel und für andere Gewerbetreibende zu steigern: die Stellplatzablösebeträge. Ich spreche dies hier ganz offen und ehrlich an. Es werden immense Beschränkungszonen ausgewiesen. Das heißt, es besteht keine Möglichkeit mehr, Stellplätze zu bauen, aber die Gewerbetreibenden, die die Innenstädte attraktiv machen sollen, werden zu erheblichen Ablösebeträgen herangezogen. Von Existenzgründern will ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen. Das ist ein anderes Thema.
Und was wird mit dem Geld gemacht? Mit dem Geld wird ja kein Parkraum geschaffen, sondern es fließt in die Kassen der Kommunen, wo es dann teilweise liegt. Ich kann Ihnen Kommunen nennen, die in ihren Kassen über 100 Millionen DM alleine von Stellplatzablösebeträgen haben.
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- Ich kann Ihnen nachher gewisse Statistiken geben. Es gibt vernünftige Städte, die inzwischen sagen: Wir verzichten auf dieses Instrumentarium. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind leider immer noch viel zuwenig. Und wenn sie es dann anlegen, dann errichten sie irgendwelche Geister-Park-and-rideAnlagen und verbauen die Mittel völlig unsinnig.
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Frau Wöhrl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schulte?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Wöhrl, erstens wundert es mich, welches Bild Sie von den Kommunen zeichnen, und zweitens will ich von Ihnen konkret wissen, welche Kommune in Deutschland 100 Millionen DM Rücklagen hat, die sie für Stellplätze eingenommen hat?
Ich kann Ihnen das konkret sagen.
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Nürnberg, also meine Heimatstadt, hatte, solange sie rotgrün regiert war, diese Rücklage, weil es den Beschluß gab, keine Parkplätze mehr in der Innenstadt zu bauen. Dieses Geld wurde auch nicht für Parkleitsysteme verwendet. Somit hat es sich aufgestaut,
weil man ja diesem Beschluß nicht zuwiderhandeln konnte, und die Stellplatzablösebeträge wurden weiterhin von allen Bürgern und Gewerbetreibenden eingenommen.
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Zurück zum Thema.
Frau Wöhrl, ich darf Sie darauf hinweisen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Meine Damen und Herren, nichtsdestoweniger verfügen wir heute in Deutschland über lebenswerte, attraktive Innenstädte. Ich glaube, wir alle lieben unsere Innenstädte. Der Einzelhandel ist immer bereit gewesen und wird auch immer bereit sein, seinen Beitrag zur attraktiven Innenstadt zu leisten. Durch eine moderne und nicht ideologiegeprägte Verkehrs-, Sicherheits- und Stadtentwicklungspolitik wollen wir ihn dabei unterstützen.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Mertens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mich in meinem Beitrag auf den Antrag der Koalition „Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte" beziehen. Ich weiß nicht, wer von den Antragstellern der Koalition oder wer von den Beratern in den Ministerien in der Stadt wohnt. Viele können es jedenfalls nicht sein. Denn der Antrag läßt nicht erkennen, daß Sie etwas von dem verstanden haben, was Stadt ausmacht und was die derzeitigen Probleme der Städte sind.
Auf einer viertel Seite skizzieren Sie die Ziele einer zukunftsorientierten Politik für Innenstädte und Stadtteilzentren, die aus unserer Sicht nicht vollständig, aber auch nicht ganz falsch sind. Ebenfalls auf einer viertel Seite werden Ursachen wie soziale Polarisierung und Segregation, Kriminalität, Drogenmißbrauch, stadtunverträgliche Planung usw. aufgezählt. Das, stellen Sie fest, trage zur Minderung von Attraktivität und Niveau vieler Innenstädte bei.
Diese Feststellung ist dann doch ziemlich abgebrüht, so als wären soziale Polarisierung und Segregation vom Himmel gefallen und hätten nichts mit einer Politik zu tun, für die Sie immerhin seit 16 Jahren die Verantwortung tragen. Sie selbst haben sich die Deregulierung so gut wie aller Lebens- und Politikbereiche auf die Fahnen geschrieben und damit bewußt in Kauf genommen, daß sich diese Gesellschaft immer weiter gespalten hat.
Es ist geradezu bezeichnend, daß der Mensch in der Einleitung Ihres Antrags - man glaubt es kaum - nur ein einziges Mal, und dann als sogenannter Stadtbewohner, vorkommt. Nun hat der Antrag zehn Seiten. Da haben Sie - das möchte man meinen - noch genügend Möglichkeiten, nicht Einzelaspekte abzuhandeln, sondern den Menschen in den Mittelpunkt der Stadt zu stellen, vielleicht sogar mit dem Wort Arbeitslosigkeit. Aber weit gefehlt. Auf neuneinviertel Seiten feiern Sie ab, was Sie denn für tolle gesetzliche und sonstige Voraussetzungen geschaffen haben. Wenn denn etwas noch nicht so richtig klappt, dann liegt es natürlich nicht an der Bundesregierung, sondern an den bösen sozialdemokratisch regierten Ländern und Kommunen.
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Haben wir es hier wieder einmal mit einem Fall von selektiver Wahrnehmung zu tun? Steht es vielleicht um die Stadt gar nicht so schlimm? Das kann man denn nun doch nicht feststellen. Das stellen auch Sie nicht fest. Also vertagen Sie die Restgrößen schnell auf das Jahr 1999. Das ist für Regierungsparteien ein ziemlich klägliches Verhalten.
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Der Antrag ist deshalb auch meilenweit davon entfernt, die Probleme der Städte und im speziellen der Innenstädte zu lösen. Sie erwecken zwar den Anschein, als gehe es Ihnen jetzt - ganze 96 Tage vor der Wahl - um ein ehrliches Angebot zur Lösung eines real vorhandenen Problems. Es ist aber nichts weiter als die Aufzählung bereits laufender Maßnahmen, die offensichtlich nicht zum Erfolg geführt haben.
Sie werden auch nicht zum Erfolg führen, auch wenn Sie das schreckliche Wort „ganzheitlich" gleich mehrmals bemühen, weil es eben kein ganzheitliches Konzept ist. Letztlich reduziert sich Ihr Antrag - Frau Wöhrl hat es eben bestätigt - auf den einzigen Zweck: Man will sich kurz vor der Wahl noch einmal einen weißen Fuß bei den ökonomischen Kräften und hier besonders beim Handel machen.
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Deshalb hat man auch immer den Eindruck, als hätten Sie gleichsam aus der Sicht eines Stadtbesuchers ohne persönliches Engagement einen Antrag formuliert. Wer der Stadt politisch aber wirklich helfen will, muß sie nicht nur mögen, er muß sich auch auf ihre Konflikte einlassen und Position beziehen. Für eine zukünftige Stadtentwicklungspolitik ist deshalb eine Orientierung am Alltäglichen viel bedeutender als eine an der Attraktion. Die Attraktion setzt sich von selbst durch und läßt Zufriedenheit nur kurzfristig entstehen. Das ist schlicht und ergreifend unser Marktmechanismus, der darauf ausgerichtet ist, immer wieder mit neuen Produkten eben nur kurzfristig Zufriedenheit zu schaffen. Der Bonner Stadtbaurat hat dazu festgestellt: „Bei Abschreibungszeiten von nur acht Jahren ändern sich die Citybereiche wie Bühnenbilder."
Die Koalition - um zum Antrag zurückzukommen - hat für eine zukunftsorientierte Politik für Innenstädte und Stadtteilzentren einige Punkte genannt. Ein Punkt ist der, daß
die Stadt als Ort vielfältiger Austauschbeziehungen und als alltäglicher Lebensraum für eine weiAngelika Mertens
terhin wachsende Zahl von Stadtbewohnern erhalten bleibt; ...
"Wiederhergestellt wird" wäre hier wohl das richtige Wort. Die Stadtbewohner und die Stadtbesucher tauschen sich eben nicht mehr hinreichend aus und die Stadtbewohner untereinander manchmal auch nicht mehr. Heute sind die Vorzüge der Stadt käuflich geworden. Wer Geld hat, muß nicht in ihr wohnen. Er muß sich auch nicht mehr der Stadt als öffentlicher Einrichtung annehmen.
Zu allen Zeiten gab es in den Städten Quartiere der Armut. In der Vergangenheit waren ihre Bewohner aber immer noch in das Funktionieren der Stadt als Ganzes eingebunden. Dies ist anders geworden. Immer häufiger wird öffentlicher Raum privatisiert. Bestimmte Räume können nicht mehr jederzeit und von jedermann betreten werden. Nichts wäre aber für eine Stadt schlimmer, als zur Kulisse für bestimmte Interessen zu werden. Die europäische Stadt eignet sich nicht für Disneyland.
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Sie sagen, die Rolle der deutschen Städte als Orte sozialer und kultureller Integration, als angstfreie Erlebnisräume, als Quelle des Wachstums und ökonomischen Wohlstands soll gesichert werden. Da stellt sich die Frage, wie ernst Sie es denn mit der sozialen und kulturellen Integration meinen. Wir stellen dazu mehrere Fragen:
Wer hat den sozialen Wohnungsbau auf die Intensivstation gebracht?
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Wer hat gemischte Strukturen bewußt zerstört?. In ganz Europa kann man sehen, daß Konzepte, sozialen Wohnungsbau auf sozial und finanziell Schwache zu reduzieren, gescheitert sind.
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Sie haben vor einigen Monaten vorgeschlagen, im sozialen Wohnungsbau die einkommensorientierte Miete auch im Bestand einzuführen. Wenigstens in diesem Punkt sind Sie lernfähig gewesen. In Ihrem Antrag plädieren Sie nunmehr für Flexibilität beim Verzicht auf die Erhebung der Fehlförderabgabe.
Wer hat die Städtebauförderung in den alten Bundesländern derart heruntergefahren, daß der klägliche Rest von 80 Millionen DM weder zum Leben noch zum Sterben reicht? Eine Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte ist ohne eine Aufstokkung der Mittel und eine Ausweitung der Kompetenzen nicht denkbar.
Wer singt seit 16 Jahren das Hohelied auf das Eigentum mit der Konsequenz von Zersiedlung und vermehrtem Verkehr?
Kommen wir zu einem weiteren Punkt: Wer propagiert, wir seien kein Einwanderungsland, und verhindert dadurch eine soziale und kulturelle Integration, eine längst notwendige Anpassung bei den Deutschen und auch bei den Migranten, die zu einem großen Teil hier geboren sind? Das Ausländerrecht wäre wirklich einmal ein Arbeitsfeld für Deregulierung.
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Wer blockiert notwendige Schritte in der Drogenpolitik, zum Beispiel bei der kontrollierten Heroinabgabe?
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Sie tragen mit dieser Haltung eben nicht dazu bei, daß Räume objektiv oder subjektiv angstfrei genutzt werden können. Eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes würde nicht nur den Süchtigen helfen, sondern auch denen, die als Bewohner, Besucher oder Gewerbetreibende davon betroffen sind.
Sie sagen, Innenstädte und Stadtteilzentren sollen als Standorte für vielfältige, mittelständisch geprägte Einzelhandels-, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe stabilisiert werden. Was wollen Sie da stabilisieren? Die kleinen Handwerker und Einzelhändler sind doch längst aus der Innenstadt verschwunden. Sie haben unsere Vorschläge für eine soziale Bodenpolitik und eine gerechte Bodenbesteuerung stets abgelehnt mit der Folge, daß die Bodenpreise in den Innenstädten explodiert sind.
Schließlich hätten Sie - das haben schon einige Kollegen vor mir gesagt - beim BauROG alle Möglichkeiten gehabt, auch die Factory Outlets von der Liste zu streichen.
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Eine Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte kann nur Teil einer Gesamtstrategie zur nachhaltigen Stadtentwicklung sein. Die Stadt wird entweder gleichzeitig eine ökologische, eine soziale und eine ökonomische sein, oder sie wird eine überbaute Fläche ohne Charakter sein.
Alle Einzelmaßnahmen, so gut sie denn auch gemeint sind und so nützlich sie für den Wahlkampf auch sein mögen, schaden der Stadtentwicklung manchmal mehr, als sie ihr nützen. Die Stadt ist kein Theater, in der Stücke aufgeführt werden, und die Bewohnerinnen und Bewohner sind keine Komparsen und Kulissenschieber für die bunte Welt des Erlebniseinkaufs.
Stadt ist widersprüchlich, und deshalb ist sie faszinierend. Zuviel Schminke verdeckt nur die wahre Identität. Ich möchte deshalb mit Karl Kraus schließen, der gesagt hat:
Ich verlange von der Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.
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Nun hat der Kollege Dietmar Kansy das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Kollege Reschke, stellvertretender Vorsitzender dieses Ausschusses, hat eben seine letzte Rede gehalten. Der Kollege Dörflinger, langjähriger Vorsitzender dieses Ausschusses, hat sich bereits letztes Mal hier verabschiedet. Wir verlieren mit beiden, aber - wenn ich das zu meinem CDUKollegen sagen darf - insbesondere mit dir, Werner, zwei hervorragende Kollegen, die diesem Ausschuß in vorbildlicher Weise mit Sachkenntnis, mit Engagement und großer Fairneß viele Jahre vorgesessen haben. Herzlichen Dank!
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- Das ist heute wahrscheinlich das einzige Mal, daß ich auch Beifall von der Opposition bekomme.
Ich hätte gern Frau Eichstädt-Bohlig, die hier einige unhaltbare Thesen vorgetragen hat, geantwortet;
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aber diese Dame von den Grünen hat geredet und ist verschwunden,
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ohne daß wir miteinander diskutieren können. Ich halte dies nicht für seriös.
Was Sie, Frau Kollegin Mertens, eben vorgetragen haben, kann ich streckenweise nicht mehr nachvollziehen. Nie war die Wohnungssituation in Ost- und Westdeutschland so ausgeglichen wie nach den Jahren, in denen diese Koalition regiert hat. Und Sie sagen, wir hätten auf dem Gebiet des Wohnungsbaus unsere Schularbeiten nicht gemacht.
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Sie bemühen die alte Mär von der angeblich bösen Bundesregierung, und das in einer Zeit, in der wir nach mehr Subsidiarität, geteilter Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und auch Bürgerhandeln rufen. Es ist absurd, für alles, was in den Städten nicht funktioniert, gebetsmühlenartig, weil gerade Wahlkampf ist, die Bundesregierung verantwortlich zu machen.
Ich möchte Ihnen jetzt erläutern, warum wir unseren Antrag gestellt haben. Einer unserer Anträge - wir haben mehrere - heißt „Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte" . In diesem Antrag haben wir Probleme durchaus angesprochen und nicht nur Erfolge aufgezählt. Eine Stadt ist natürlich komplex. Städte und Dörfer bedeuten Wohnen, Arbeiten, Handel, Verkehr, Kultur und Kommunikation und vieles andere. Der Sinn dieses Antrags besteht darin, am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter unübersehbar veränderten Rahmenbedingungen den Versuch zu unternehmen, alles neu zu vernetzen, ohne dabei wieder Milliardenprogramme versprechen zu können.
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Für mich persönlich waren öffentliche Räume, insbesondere unsere Innenstädte, immer mehr als Gegenstände von Stadtplanung und Architektur. Sie sind ein Stück unseres Daseins, auf das wir als Privatmenschen gar nicht verzichten können, wenn wir uns nicht selbst isolieren wollen. Unsere Herausforderung besteht darin, die Spannung zwischen privatem und öffentlichem Raum, die immer - auch in der vielgepriesenen Antike, in den mittelalterlichen Städten und wo auch immer; ich erinnere an die Marktplätze im Süden - vorhanden war, unter veränderten Bedingungen neu zu definieren. Unser Problem heute ist - die Fachdiskussion hierüber, die man im Deutschen Bundestag auch in Wahlkampfzeiten über die Fraktionsgrenzen hinweg nicht ganz ausblenden sollte, bestätigt das - ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, was dazu führt, daß sowohl die Anziehungskraft unserer Städte, insbesondere unserer Innenstädte, und Gemeinden als auch unsere Gestaltungskraft in bezug auf die öffentlichen Räume dieser Innenstädte in Gefahr geraten ist.
Was hier von verschiedenen Seiten gesagt worden ist - schrankenloser Egoismus, totale Privatisierungen, privater Reichtum und öffentliche Armut, Factory-Outlet-Center, rücksichtslose Durchsetzung ökonomischer Interessen in der Architektur -, ist alles nicht ganz falsch. Wir springen aber wesentlich zu kurz, wenn wir nicht das ansprechen, was die PDS eben fast lächerlich gemacht hat, aber dennoch wahr ist: die Besudelung unserer Plätze und Straßen durch Dreck und Graffiti, durch Dealerei, durch Sauferei, durch aggressives Betteln und durch das Wegnehmen von Handtaschen. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, dann können wir Milliarden DM für Stadtbauförderung ausgeben, ohne daß die Städte jemals wieder so werden, wie wir sie haben wollen.
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Was hat die Innenstädte eigentlich einmal so attraktiv gemacht? Es waren der Kauf und Verkauf von Waren, der Umschlag von Informationen, die Diskussion und Kommunikation, aber auch der Ort der Erholung, manchmal auch des Müßiggangs. Kurzum - auch wenn man es nicht mehr sagt -, es war quasi die sinnliche Wahrnehmung von Gemeinschaft, die unsere Innenstädte in der Vergangenheit so attraktiv gemacht hat. Wir müssen uns jetzt fragen, wo vor diesem Hintergrund Ansatzpunkte für eine Neubewertung oder eine Verbesserung sind.
Zum Thema Kaufen und Verkaufen hat meine Kollegin Wöhrl schon gesprochen. Natürlich wollen wir als CDU/CSU den öffentlichen Raum nicht zu einem Basar machen. Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel vor 2000 Jahren war im Grunde sozusagen auch ein Stück Diskussion über öffentliche Räume. In dieser Debatte ist schon gesagt worden, daß Kaufleute und Handwerker heute die Stadtbürger schlechthin sind. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Gruppen wieder die Möglichkeit zu geben, an den
Orten, an denen sie es wünschen, ihr Gewerbe zu betreiben, werden wir die Kurve nicht kriegen. Diese Tatsache hat Frau Wöhrl gerade zum Ausdruck gebracht, und das wird von unserer gesamten Fraktion so gesehen.
({6})
Mit der Kommunikation ist es etwas schwieriger. Hydepark-Atmosphäre kann man im Internet-CafeZeitalter nicht verordnen - auch nicht der jungen Generation. Es muß aber wieder Anreize geben, spazierenzugehen, zu schauen, auf einer Bank Platz zu nehmen und ein kleines Schwätzchen zu halten. Kurzum: Die Menschen sollen nicht nur handels- und zielorientiert die Stadt benutzen; sie müssen sich dort auch geborgen und angeregt fühlen. Das ist die Intention unseres Antrages.
Wenn wir wollen, daß der öffentliche Raum von den Menschen subjektiv als angenehm empfunden wird, dann müssen wir aus diesem Grunde - und nicht, um Ausländerprobleme fälschlicherweise in die Debatte einzuführen - die Diskussion über „nullToleranz" führen. Wer im kommunalen Wohnzimmer - das sind unsere Innenstädte - Schmierern und Zerstörern, Kriminellen und Pöbelern nicht kompromißlos das Handwerk legt, darf sich nicht wundern, wenn sich die Bürger in den Städten nicht mehr wohl fühlen. Das ist die Botschaft, die wir mit unserem Antrag herüberbringen wollen.
Zu diesem Punkt gehört auch, daß Stadtverwaltungen und Landesregierungen entsprechend reagieren. Die Chaostage in Hannover
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- jawohl, die Chaostage in Hannover - waren kein Glanzstück und trugen nicht zur Steigerung der Attraktivität unserer Städte bei. Dafür trägt Ministerpräsident Schröder die Verantwortung.
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Neue Herausforderungen sind schon genannt worden. Zu den wesentlichen Werten, die die Attraktivität und Unverwechselbarkeit der Gemeinden verstärken, gehört eine noch stärkere Pflege unseres baukulturellen Erbes. Noch stärkere Anstrengungen zur Bewahrung unserer historischen Stadtensembles stärken die intensive Bindung an Eigentum, Geschichte, Heimat und Tradition und fördern die von uns angestrebten Ziele.
Nach der Wiedervereinigung haben wir, Frau Kollegin Mertens, 85 Prozent der Städtebauförderungsmittel in die neuen Bundesländer fließen lassen. Frau Kollegin Böttcher, ich will mich an diesem Punkt zwar nicht weiter erregen, aber ich muß sagen: Was Sie hinterlassen haben, bezeichnen die Ostdeutschen selber mit dem Schlagwort „Trümmer schaffen ohne Waffen". Die Trümmer waren das Ergebnis der SEDPolitik.
Allein im Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz" haben wir nach der Wiedervereinigung in über 120 Städten Tausende von Objekten - Wohnhäuser, Geschäftshäuser, Schlösser, Burgen und Kirchen - und fast tausend Straßen und öffentliche Räume saniert. Das war eine Kraftanstrengung, auf die wir gemeinsam stolz sein können.
Dr. Kansy, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Warnick?
Ja, bitte schön.
Kollege Kansy, Sie heben - für meine Begriffe zu Recht - die Städtebauförderung in den Himmel. Auch Kollege Braun hat dies vorhin getan. Es gibt ein Gutachten des RWI, des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, in dem nachgewiesen wurde, daß wir die Städtebaufördermittel von 600 Millionen DM ohne weiteres auf 2 Milliarden DM erhöhen könnten, ohne daß es die Bundesregierung einen einzigen Pfennig zusätzlich kosten würde.
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Das würde 50000 neue Arbeitsplätze schaffen, ohne daß es einen Pfennig mehr kosten würde.
Daraufhin haben wir konsequenterweise die Erhöhung auf 2 Milliarden DM gefordert. Die SPD hat eine Erhöhung auf 1 Milliarde DM gefordert. Wenn Sie die Städtebauförderung so in den Himmel heben: Warum tragen Sie diese Erhöhung nicht mit? Das RWI ist ein Institut, das nicht von der PDS bezahlt wird - es ist somit sehr unverdächtig - und das auf sehr wissenschaftliche Weise dargelegt hat, daß diese Erhöhung ohne weiteres möglich ist.
Herr Kollege Warnick, angesichts der friedlichen Atmosphäre in dieser Debatte verspreche ich Ihnen seitens der CDU/CSU-Fraktion, einem Antrag zuzustimmen, in dem die Erhöhung der Mittel für die Städtebauförderung auf 2 Milliarden DM vorgeschlagen wird, ohne daß uns nachweislich diese Erhöhung eine zusätzliche Mark kostet. Vorher sollten Sie aber zum Wunderdoktor gehen.
({0})
Wir müssen etwas anderes machen: Wir müssen in dieser Zeit knapper Finanzen bei Bund, Ländern und Gemeinden - überall ist die Finanzdecke dünn - den Mut haben, notfalls neue Schwerpunkte zu setzen. Das Setzen neuer Schwerpunkte kann zum Beispiel bedeuten, eine Neugewichtung der öffentlichen Baumittel im Bereich der Städtebauförderung zu Lasten des Wohnungsbaus vorzunehmen - das ist unpopulär -, oder man versucht, Gelder aus dem Fonds für europäische Strukturpolitik mit in die Städtebauförderung einzubauen. Dafür bräuchte man neue Instrumente. Das ist der Weg. Weder Gesundbeten noch neue Milliardenforderungen helfen.
Abschließend folgendes: Bei allem, was wir wollen, sollten wir uns als Bundesparlament nicht überheben. Wir wollen Anstöße geben. Wir wollen uns fragen, was wir tun können. Wir wollen Länder und Gemeinden fragen, was sie mehr tun können.
({1})
Aber letztendlich muß der Bürger handeln.
Es gibt ein schönes Wort von Johannes XXIII., der über sich selbst gesagt hat: Giovanni, nimm dich nicht so wichtig! Wir alle können die Städte und Gemeinden nicht in der Weise beeinflussen, wie wir es wollen, wenn sich der Bürger nicht selber ein Stück mehr engagiert. Wer gerne in der Stadt arbeitet, bevorzugt im Umland wohnt und am liebsten auf der grünen Wiese einkauft, trägt dazu bei, daß wir, trotz dieser Debatte, den richtigen Weg nicht gehen können.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
({2})
Es spricht jetzt die Kollegin Angelica Schwall-Düren.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte zum Thema Stadtökologie und nachhaltige Stadtentwicklung sprechen. Die Stadt ist die beherrschende Siedlungsform unseres Zeitalters. Bereits heute ist fast jeder zweite Erdenbürger ein Stadtbewohner, mit steigender Tendenz. Im Jahr 2025 wird es nach einer Prognose der Vereinten Nationen weltweit 100 Megastädte mit je mehr als 5 Millionen Einwohnern geben, davon die meisten in Entwicklungsländern.
Man mag es kaum noch wiederholen: Erkenntnisse und Forderungen von Habitat II sowie vier Jahre zuvor der Agenda 21 der UN-Konferenz in Rio sind ganz entscheidend dafür, wie sich unsere Kommunen in Zukunft entwickeln. Mit diesen Konferenzen sind die komplexen Problemstrukturen urbaner Siedlungsräume deutlich ins öffentliche Bewußtsein gehoben worden. Dabei spielen sowohl eine globale wie auch eine lokale bzw. regionale Betrachtungsweise eine große Rolle. Denn wenn wir nachhaltige Entwicklung nicht nur als leere Worthülse, sondern als Programm zur Gestaltung unserer Zukunft weltweit und gerade auch unseres Zusammenlebens in den Städten sehen, dann ist es unsere Verantwortung, vom globalen Maßstab bis hinunter zum kleinsten Dorf für eine nachhaltige, zukunftsfähige Gestaltung unserer Lebensweise zu sorgen. Zukunftsfähig meint - meine Kollegin Mertens hat schon darauf hingewiesen - die Etablierung einer Stadtentwicklung, die umwelt-, wirtschafts- und sozial gerecht ist.
Problematische Entwicklungen wie die Verödung der Innenstädte, die Ghettobildung in einzelnen Stadtvierteln, Verkehrsbeeinträchtigung und damit einhergehende Lärm- und Abgasbelastung sowie die Ansiedlung von Einkaufszentren auf der grünen Wiese sind schon mehrfach angesprochen worden.
Die Städte fressen sich von ihren Rändern her immer weiter in die Freiflächen hinein. Die Verkehrswege werden dadurch immer länger. Tagtäglich wälzen sich umgeheure Pkw- und Lkw-Schlangen in die Städte, oft nur noch, Frau Wöhrl - sie ist gar nicht mehr da -, im Tempo der Pferdedroschken zu Beginn unseres Jahrhunderts. Viele Städte stehen vor dem Verkehrskollaps.
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Nach Einschätzung der Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD zum Thema Stadtökologie und nachhaltige Stadtentwicklung weist Deutschland auf Grund einer auch auf kommunaler Ebene etablierten Umweltpolitik im internationalen Vergleich günstige Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung auf. Das ist teilweise richtig. Hier verdienen gerade auch die Kommunen ein dickes Lob, denn sie haben viele Initiativen auf eigene Faust gestartet. Lokale Agendaprojekte beispielsweise werden seit Jahren entwickelt, obwohl von seiten der Bundesregierung bisher herzlich wenig getan wurde, um die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen. Herr Götz, es ist zu billig, hierfür allein den Kommunen die Verantwortung zu überlassen.
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Die Bundesregierung hält stärker regional orientierte Planungsentscheidungen für notwendig und regt Städte der kurzen Wege und der vielfältigen Mischung an. Einverstanden! Doch wo folgen den Theorien der Koalition die dringend notwendigen Taten? Auch Frau Merkel hat in ihrem umweltpolitischen Schwerpunktprogramm vom April dieses Jahres durchaus ambitionierte Ziele für eine ökologische Siedlungs- und Stadtentwicklung formuliert. Doch wir wissen alle, daß dieses Programm für eine nachhaltige Entwicklung in Deutschland mit der jetzigen Bundesregierung keine Chance auf Umsetzung hatte und auch nicht haben wird.
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Ziel unserer Großen Anfrage war es, zu erfahren, wie die Bundesregierung - über nette, kleine Alibiprojekte wie „Die Städte der Zukunft" hinaus - die Erkenntnisse und Forderungen der Agenda 21 und von Habitat II im Rahmen eines nationalen Aktionsplanes zur nachhaltigen Siedlungsentwicklung umsetzt. Kurz gesagt, die Antworten der Bundesregierung lesen sich wie ein mustergültiger Ökoleitfaden mit Happy-End. Die frohe Botschaft darin ist, daß eine umweltpolitisch unermüdliche Bundesregierung das Idealbild der ökologischen Städte von morgen bereits heute verwirklicht hat. Fiktion? Leider ja.
Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, daß die Bundesregierung einzelne publicitywirksame Forschungsprojekte finanziert. Die nötigen Rahmenbedingungen für ökologische Städte werden aber nicht einmal ansatzweise aufgegriffen. Dies wird auch daran deutlich, daß die Bundesregierung fast ausschließlich den Bau- und Umweltressorts die Verantwortung für die nachhaltige Stadtentwicklung gibt, die Vernetzung der verschiedenen Politikbereiche aber nicht existiert. Hat sie denn wirklich nicht beDr. Angelica Schwall-Düren
griffen, welche entscheidenden Auswirkungen beispielsweise die Verkehrspolitik auf die Entwicklung der Städte hat?
Im Bereich des Bodenschutzes und der Eindämmung des Flächenverbrauchs beschwört die Bundesregierung die Notwendigkeit des sparsamen und schonenden Umgangs mit dem Boden. Sie verweist auf die BauROG-Novelle und auf das Bundesbodenschutzgesetz.
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Verschwiegen wird, daß die sogenannte Bodenschutzklausel mehr Programmsatz ist als handfeste rechtliche Handlungsmaxime, daß nach wie vor eine Regelung der Finanzierung von Altlasten und konkrete Instrumente für Entsiegelungsmaßnahmen fehlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch immer ist kein untergesetzliches Regelwerk vorhanden, um das Gerüst des Bodenschutzes mit Leben und konkreten Grenzwerten zu erfüllen.
Frau Schwall-Düren, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Bitte schön, Herr Götz.
Frau Kollegin, sind Sie der Auffassung, daß die kommunale Planungshoheit, die für diese Regierung, aber auch für die sie tragenden Koalitionsfraktionen einen ungeheuer hohen Stellenwert hat, in vielen Bereichen, die Sie gerade kritisch angesprochen haben, durch Staatsdirigismus oder andere Formen, die obrigkeitsorientiert sind, ausgetauscht werden soll? Sind Sie nicht vielmehr der Auffassung, daß die Chancen, die die Städte und Gemeinden gerade im Bereich der Planung im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung haben, von diesen letzten Endes auch genutzt werden sollen?
Sehr geehrter Herr Kollege Götz, selbstverständlich bin ich als langjährige Kommunalpolitikerin nicht der Meinung, daß die Planungshoheit der Kommunen außer Kraft gesetzt werden sollte. Aber Sie haben vielleicht festgestellt, daß ich den Begriff der Rahmenbedingungen mehrmals erwähnt habe. Ich möchte im folgenden dazu Stellung nehmen, was notwendig ist, damit die Kommunen im Rahmen dieser Planungshoheit tatsächlich eine nachhaltige, zukunftsverträgliche Entwicklung voranbringen können.
Ich möchte jetzt von der Kritik zu den Alternativen kommen. Denn was können wir tun, um die Städte nachhaltiger zu gestalten? In unserem Antrag „Stadtökologie" vom Mai dieses Jahres formulieren wir einige Kernforderungen für eine nachhaltig umweltgerechte Entwicklung.
Erstens. Wohnungspolitische Förderinstrumente müssen noch stärker an ökologischen Kriterien ausgerichtet werden.
Zweitens. Die von der Bundesregierung abgeblockten bodenpolitischen Maßnahmen müssen umgesetzt werden. Insbesondere sind mittels bodenpolitischer Instrumente Anreize für die Mobilisierung von Baulandreserven zu schaffen.
Drittens. Ebenso muß die Städtebauförderung verbessert und verstärkt auf ökologische Erfordernisse ausgerichtet werden. Dazu gehören die Förderung der Durchmischung von Wohnen und Arbeiten ebenso wie die Schaffung und Ausdehnung von innerstädtischen Erholungsflächen, die dann erst Stadtflucht und Zersiedelung entgegenwirken.
Viertens. Raumordnung und Städtebau müssen sich in die Diskussion um eine ökologische Finanzreform einmischen. Durch gezielte Energie- und Flächenbesteuerung könnte das Standort- und Verkehrsverhalten von Haushalten und Betrieben entsprechend den Zielen einer nachhaltigen Stadtentwicklung verändert werden. Darüber hinaus müssen ökologisch kontraproduktive Subventionen abgebaut werden.
Fünftens. Ohne einen Finanzausgleich wird man Kommunen im Umland der Städte nicht bewegen können, auf die Ausweisung weiterer Wohn- und Gewerbegebiete und damit auf Einnahmen zu verzichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe, die Uhr rast. Ich hätte noch mehrere Punkte aus unserem Antrag zu nennen; das gelingt mir aber angesichts der Zeit nicht mehr. Daher möchte ich zum Abschluß nur noch einmal betonen, was schon mehrere Kollegen gesagt haben:
Die Kommunen brauchen Geld, um Nachhaltigkeitsprozesse anstoßen zu können. Daher führt bei aller Notwendigkeit eines Sparkurses kein Weg an einer besseren Finanzausstattung der Gemeinden vorbei. Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" fordert die Bundesregierung auf, eine Nachhaltigkeitsstrategie zu formulieren, und gibt dafür die Grundstruktur vor. Wir werden heute abend darüber debattieren. Dabei ist es notwendig, aus liebgewordenen Ressortzuständigkeiten auszubrechen und sich auf eine Politik einzulassen, die immer stärker durch partizipative Elemente geprägt sein muß. Dabei haben die Kommunen durchaus ihren Stellenwert.
Die Kommunen haben nach Meinung meiner Fraktion die ernstgemeinte Unterstützung bei der Umsetzung der Beschlüsse von Rio und Istanbul in eine lokale Agenda 21 verdient; denn nur so können wir den Lebensraum für unsere Zukunft nachhaltig gestalten. Wir werden dafür sorgen, daß nach dem 27. September die Lebensqualität für unsere Stadtbewohner verbessert wird und die Bundesrepublik im Jahr 2000 auf der Weltstädtebaukonferenz „Urban 21 " nicht mit leeren Händen dasteht.
Herzlichen Dank.
({0})
Als nächsten Redner rufe ich den Kollegen Meinrad Belle auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die weichen Drogen sind bei uns auf dem Vormarsch. Auch bei uns im ländlichen Raum, in dem die Welt eigentlich noch heil und in Ordnung ist, weiß der interessierte Kunde, wo er seine weichen Drogen besorgen kann. Die Polizei allein kann hier nicht gegensteuern. Wir brauchen die Hilfe der Gemeinschaft; jeder einzelne muß mithelfen. - Das sagte mir in der letzten Woche ein Polizeibeamter bei einem meiner regelmäßigen Besuche bei der Polizei meines Wahlkreises. Diese Aussage gab mir den letzten Anstoß, heute das Thema Sicherheit in den Kommunen anzusprechen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur Lage der Städte und Gemeinden zu Recht darauf hingewiesen, daß rund 70 Prozent der polizeilich registrierten kriminellen Taten am Wohnort des Täters oder des Opfers oder zumindest in unmittelbarer Nähe begangen werden. Der überwiegende Teil der Kriminalität kann daher am effektivsten vor Ort bekämpft und verhütet werden. Die örtlichen Dienststellen sind mit den spezifischen Problemlagen und den sozialen Brennpunkten in der Kommune am besten vertraut. Daher hat die Kriminalprävention gerade in den Städten und Gemeinden eine besondere Bedeutung.
Die Bundesregierung berichtet auch von den positiven Auswirkungen der Arbeit der kriminalpräventiven Räte und der ressortübergreifenden Arbeitskreise. Besonders bewährt hat sich auch das dreijährige kommunale Pilotprojekt „Kriminalprävention in Baden-Württemberg", das seit März 1997 bei uns nun auch landesweit umgesetzt wird.
Meine Damen und Herren, als positives Ergebnis ist herauszuheben, daß in Gemeinden mit aktiver kommunaler Kriminalprävention ein Rückgang
({0})
bzw. zumindest eine Stagnation bei den Kriminalitätszahlen festzustellen ist.
({1})
- Lieber Kollege Welt, ich kann Sie dann dazu nur beglückwünschen.
({2})
Aus diesem Grunde werbe ich heute auch für die Aktion „Neue Partnerschaft für Sicherheit in Städten und Gemeinden" des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.
({3})
Einige wesentliche Eckpunkte dieser Aktion will ich nochmals herausheben:
Erstens. Die Städte und Gemeinden, auch die kleineren kreisangehörigen Gemeinden, müssen sich im Interesse ihrer Einwohnerschaft und - mit Blick auf
die Standortfrage - auch im wirtschaftlichen Interesse stärker als bisher mit dem Problem der inneren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung beschäftigen. Nach meiner Meinung sollte der Begriff „öffentliche Ordnung" dort, wo er fehlt - wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen -, wieder in das Polizeirecht der Länder eingeführt werden.
Wie der Städtetag Nordrhein-Westfalen zu Recht sagt, erfordert erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung ein gemeinsames Handeln von Polizei, Stadt und Bürgern gerade im Vorfeld von Kriminalität. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung müssen deshalb geahndet werden.
({4})
Die Sicherung der öffentlichen Ordnung ist eine originäre Aufgabe der Polizei.
Zweitens. Eine wirksame Bekämpfung der Kriminalität muß auch nach außen sichtbar werden. Die Polizei muß wieder vor Ort präsent sein. Sie muß zum Beispiel in Fußgängerzonen und an sonstigen neuralgischen Punkten - zum Beispiel auf U-Bahnhöfen usw. - verstärkt Streifendienste leisten und - das ist ganz wichtig - wo nur irgendwie möglich auch direkte Anlaufstellen einrichten. Der Bürger muß den Polizisten wieder als Ansprechpartner wahrnehmen können. Dazu muß die Polizei natürlich auch von bürokratischen Aufgaben entlastet und personell und sächlich ausreichend ausgestattet sein. Zügige Gerichtsverfahren und bessere Ausschöpfung der Strafrahmen sind in diesem Zusammenhang weitere wichtige Stichworte.
Drittens. Wir müssen die staatlichen Organe und gesellschaftlichen Gruppen stärker bündeln. Die notwendige öffentliche Präsenz der Polizei muß auch mit Außeneinsätzen der Gewerbeaufsichtsämter, der Jugend- und Sozialämter und der Ausländerämter verbunden werden. Die Auskunft „Wir sind nicht zuständig" muß aus dem Sprachgebrauch aller Behörden wegfallen.
({5})
Der Öffentlichkeit und dem Bürger sind Zuständigkeitsfragen völlig „schnuppe" . Die Zusammenarbeit aller staatlichen Institutionen und die Bündelung aller Verwaltungskräfte müssen oberstes Ziel sein.
Viertens. In den Städten und auch in den kreisangehörigen Gemeinden sollten kommunale Sicherheitskonferenzen gebildet werden. Neben den natürlich nach wie vor weiterhin in erster Linie zuständigen Polizeibehörden sollten Schulen, Vereine, wirklich alle interessierten Gruppen die Möglichkeit haben, sich an diesen Sicherheitskonferenzen zu beteiligen.
Wir müssen auch das persönliche Engagement des einzelnen Bürgers wecken und stärken. Die bürgerschaftliche Mitverantwortung des Nachbarn in Stadt und Gemeinde muß wieder offenkundig sein. Schluß
mit der Gleichgültigkeit! Das Wegschauen muß ein Ende haben!
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Wir müssen gemeinsam eine Kultur des genauen Hinsehens entwickeln! - So hat es ein Teilnehmer an der Podiumsdiskussion „Für eine sichere und saubere Stadt" bei mir im Wahlkreis in VillingenSchwenningen zutreffend formuliert. Dem kann man nur voll beipflichten.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, daß diese Sicherheitsaktion des Deutschen Städte-
und Gemeindebundes im ganzen Bundesgebiet - nicht nur in den größeren und mittleren Städten, sondern auch in den kleineren Gemeinden - auf gegriffen wird.
Der deutsche Philosoph Wilhelm von Humboldt formulierte im letzten Jahrhundert:
Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Frucht derselben zu genießen;
({7})
denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.
Wir sind alle aufgerufen, diese Erkenntnis in unserem täglichen Handeln umzusetzen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Schulte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag bestätigt heute die Skepsis, die ihm Kommunalpolitiker aus allen Regionen unseres Landes entgegenbringen. In der vorläufig letzten Sitzungswoche des 13. Deutschen Bundestages arbeiten wir noch rasch in zweieinhalb Stunden vier Große Anfragen ab, die sich mit der Lage der Städte und Kommunen befassen. Wenn wir als Wahlkreisabgeordnete oder als Abgeordnete bei den Diskussionen vor dem Städtetag, dem Landkreistag oder dem Städte- und Gemeindebund demnächst gefragt werden, wie ernst wir eigentlich das Thema Kommunen nehmen, Herr Kollege Blank, dann werden wir doch ziemlich still sein müssen angesichts der Tatsache, daß wir dieses Thema hier praktisch an einem der letzten Sitzungstage des 13. Deutschen Bundestages behandeln.
({0})
Das ist selbstkritisch an uns alle gesagt, denn die Großen Anfragen, die ja mit viel Kraft erarbeitet wurden, und die Antworten darauf, die uns als Opposition natürlich in Teilen nicht genügen, für deren Erstellung die Bundesregierung aber viel Zeit aufgewandt hat, hätten es verdient, daß wir uns sorgfältiger damit befassen. Das gilt für jeden der behandelten Themenbereiche.
Eines bescheinigt Ihnen die SPD-Fraktion allerdings heute mit aller Deutlichkeit: Diese Bundesregierung hat die Städte und Landkreise in den letzten Jahren nicht gefördert, auch wenn Sie hier heute das Gegenteil behaupten. Im Gegenteil, die großen Lasten, die durch die wachsende Arbeitslosigkeit auf die Städte und Landkreise zugekommen sind, haben Sie ihnen aufgebürdet; wir haben Sie immer wieder dringend gebeten, doch endlich die kommunalen Haushalte von den wachsenden Sozialausgaben zu befreien.
In der Vergangenheit hatten wir ja auch einmal einen Weg gefunden, Herr Kollege Blank und Herr Kollege Kansy, wenn ich Sie ansprechen darf. Damals wußte selbst ein Land wie Niedersachsen unter Führung des christdemokratischen Ministerpräsidenten Albrecht, daß die ungleiche Gewichtung der Arbeitslosigkeit, die strukturelle Gründe hat, in jenen Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit dazu geführt hat, daß ein Teufelskreis aus steigender Arbeitslosigkeit, niedrigeren Steuereinnahmen und immer weiter wachsenden Sozialausgaben entstand. In Wirklichkeit haben die Einsparungen infolge der Pflegeversicherung jedoch nur ganz kurze Zeit die Haushalte entlastet; die eingesparten Gelder haben nun die steigenden Ausgaben für Langzeitarbeitslose alle wieder aufgefressen.
({1})
- Zu Ihnen komme ich gleich. Wir reden gleich über Niedersachsen und Bayern.
Die Vertreter der Kommunen beklagen sich bei uns Abgeordneten, daß wir an sie neue Forderungen stellen - das haben wir heute zum Teil wieder quer durch die Reihen gemacht -, ohne ihnen die ausreichenden Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Im Gegenteil, die Kommunen der alten Bundesländer haben heute in der Regel nicht einmal das Geld, um die notwendigen Ersatzinvestitionen zu tätigen. Sie strafen damit gleichzeitig auch noch das mittelständische Handwerk, vernachlässigen die öffentlichen Gebäude und gefährden Stadtquartiere.
({2})
Das hat, Herr Kollege, zur Einführung der Strukturhilfe geführt, an der sich so egoistische Länder wie Bayern seit 1989 ausdrücklich beteiligen müssen.
Ein für allemal möchte ich Ihnen allerdings eines ins Stammbuch schreiben: Zwischen den beiden flächenmäßig größten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland, nämlich Bayern und Niedersachsen, die sich in bezug auf die Fläche kaum unterscheiden, gibt es einen entscheidenden Unterschied, Herr Kollege. Er besteht darin, daß in Bayern fast 4 Millionen Menschen mehr wohnen und damit die Steuerkraft dieses Landes, auf die Sie natürlich immer so großen Wert legen, selbstverständlich höher ist. Hätte Niedersachsen diese 4 Millionen Einwohner mehr, bräuchten wir uns heute nicht über die Schwierigkeiten zu unterhalten. Die Solidarität unseres Landes wäre größer. Wir bringen für Infrastruktur
Brigitte Schulte ({3})
und für andere Maßnahmen viel mehr Geld auf, als Sie glauben.
({4})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kansy? - Bitte, Herr Kansy.
Frau Kollegin Schulte, ist Ihnen ein Urteil des bayerischen Verfassungsgerichtshofes bekannt, in dem er der Bayerischen Staatsregierung verfassungswidrigen Umgang mit den bayerischen Städten und Gemeinden vor dem Hintergrund dessen bescheinigt, daß eben genau das der niedersächsische Staatsgerichtshof der Regierung Schröder attestiert hat?
Herr Kollege Kansy, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diese Frage.
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Wenn man das Bückeburger Urteil des niedersächsischen Staatsgerichtshofs liest, dann stellt man fest, daß der Bund und die Länder - das gilt nicht nur für Niedersachsen - den Kommunen neue Aufgaben übertragen haben, für die diese aber nicht genügend Geld bekommen. Der Staatsgerichtshof verlangt - weil er anerkennt, daß das nicht allein die Schuld von Niedersachsen ist - auch nicht, daß das Land Niedersachsen das nachzahlen muß, was es in den letzten Jahren seinen Kommunen nicht gegeben hat, sondern stellt vielmehr fest, daß den Kommunen in Zukunft nur die Aufgaben übertragen werden dürfen, für die ihnen Bund und Länder genügend Geld geben.
({1})
Sie, Herr Kollege Kansy, werden bald feststellen müssen, daß das in der ganzen Bundesrepublik gelten wird. Ich bin deswegen über das Bückeburger Urteil gar nicht so traurig, weil es in bezug auf die Gesetzgebung aller Länder ein Richtmaß bedeutet und uns alle miteinander noch vor große Herausforderungen stellen wird. - Ich bedanke mich sehr für diese Zwischenfrage, die Sie mir gestellt haben. So kann ich klarstellen, wie die Lage ist.
Ich komme auf mein ursprüngliches Thema zurück. Herr Kollege Kansy, wir beiden Niedersachsen wissen selbstverständlich, daß wir trotz gleich großer Fläche wie Bayern, aber 4 Millionen Einwohnern weniger eine ähnliche Infrastruktur unterhalten müssen. Niedersachsen ist nun zum neuen Schlüssel-
und Durchgangsland zwischen Ost und West in Europa geworden. Dafür brauchen wir die Mittel.
Frau Schulte, gestatten Sie eine weitere Frage, nämlich die des Kollegen Götz?
Ja, gern sogar.
Es ist schon interessant, hier im Deutschen Bundestag etwas über Niedersachsen zu erfahren. Können Sie mir vielleicht die Frage beantworten, warum ausgerechnet der kommunale Finanzausgleich des Landes Niedersachsen für verfassungswidrig erklärt worden ist.
Herr Kollege Götz, darauf will ich Ihnen mit dem Hinweis antworten, daß das Land die wachsenden Aufgaben, die wir ihm zum Teil auch als Bundesgesetzgeber übertragen haben, erfüllen muß. Das gilt zum Beispiel auch für den ÖPNV. Dazu ist Niedersachsen nicht in dem Maße in der Lage wie beispielsweise Bayern mit 4 Millionen Einwohnern mehr. Ich könnte auch Ihr Heimatland, Baden-Württemberg, nennen; es hat ebenfalls den Vorteil, daß es 4 Millionen Einwohner mehr als Niedersachsen hat, und das bei einer kleineren Fläche. Die wachsenden Aufgaben sind nicht alle in den kommunalen Finanzausgleich mit einbezogen worden. Man hat zudem den Versuch unternommen, auch den Aufwendungen für die Expo nachzukommen. Das bindet im Moment Mittel, die an anderer Stelle fehlen. Ich wünschte mir, daß diese Bundesregierung die Aufgabe einer internationalen Weltausstellung in bezug auf die Mittelausstattung ernster nehmen würde. Das haben wir früher selbstverständlich gemacht, als die SPD regierte und wir zum Beispiel in München die Olympischen Spiele veranstalteten. Sie müssen einmal die Mittel, die der Bund der Stadt München damals für die Infrastruktur gegeben hat, mit den Mitteln vergleichen, die der Bund heute, nur weil eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung regiert, Niedersachsen für die Infrastruktur zur Verfügung stellt. Das muß ich Ihnen einmal deutlich sagen.
Aber ich möchte Ihnen auch sagen, weil Sie aus Baden-Württemberg stammen: Kommunalpolitiker aus Baden-Württemberg haben sich in Gesprächen mit mir darüber beklagt, daß das Land Baden-Württemberg ihnen die Mittel vorenthielte, die sie dringend bräuchten. Ich habe mir angesichts solcher Äußerungen die Augen gerieben: So wohlhabende Gemeinden, wie es sie in Baden-Württemberg gibt, beklagen sich. Es ist doch ein Problem, daß die wachsende Arbeitslosigkeit auch in Ihrem Lande dazu führt, daß die Gemeinden ihre Haushalte nicht mehr ausgleichen können. Herr Götz. Ich appelliere an Sie - weil ich denke, daß wir uns im nächsten Deutschen Bundestag wiedersehen werden -, daß wir bei diesen Problemen jetzt insgesamt etwas tun müssen.
Eine Zusatzfrage. - Dann kommt noch die Frage von Herrn Blank. Dann lasse ich aber keine Zwischenfragen mehr zu.
Ich möchte gerne noch eine Zusatzfrage zum Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs stellen, den Sie als Grundlage für Ihren Vergleich mit anderen Ländern herangezogen haben. Ist Ihnen bekannt, daß im Rahmen der Bahnreform der Bund den Ländern - und zwar allen LänPeter Götz
dern, auch Niedersachsen - Geld für die Regionalisierung der Bahn und damit für den öffentlichen Personennahverkehr in einer Größenordnung von 15 Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat? Warum ist es möglich, daß diese Gelder in den Ländern, über die wir vorhin diskutiert haben und die von CDU-
und CSU-Ministerpräsidenten geführt werden, für die Regionalisierung der Bahn und für den öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt werden, während das in Niedersachsen offensichtlich ein großes Problem ist?
Herr Götz, es ist ein Problem, weil sie im Gegensatz zu Niedersachsen keine so großen Aufgaben für die Bundesrepublik Deutschland erfüllen müssen. Wir wollen in der Stadt Hannover eine Expo durchführen, die hoffentlich 40 Millionen Menschen nach Niedersachsen und damit nach Deutschland bringen wird. Deswegen müssen wir unsere Infrastruktur modernisieren, die vor der deutschen Einheit in weiten Teilen unterentwikkelter war als die in Süddeutschland, wobei wir natürlich auch keinen so großen Bedarf hatten. Wir müssen fairerweise sagen - Herr Kollege Kansy und ich sind ja Nachbarn -: Wir haben früher gewußt, daß wir, wenn wir das Kamener Kreuz hinter uns hatten oder in einen IC eingestiegen sind, einen Platz in diesem Zug sicher hatten oder daß die Autobahn frei war. Das war kein Problem. Das hat sich seit der deutschen Einheit im Zuge des zunehmenden OstWest-Verkehrs Gott sei Dank geändert. Deswegen hat Niedersachsen in bezug auf die Infrastruktur nachholen müssen.
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß auch bei der Verteilung der Mittel für den ÖPNV das Land gemessen an seiner Einwohnerzahl und seiner Größe nicht annähernd so viel Geld bekommen hat wie BadenWürttemberg mit einer kleineren Fläche.
({0})
Wissen Sie, das ist eines der Probleme, über die wir einmal reden müssen.
Ich hoffe, daß wir Sie dabei auf unserer Seite haben. Beim Kollegen Blank weiß ich das, weil er sehr viel davon versteht. Ich habe aber den Eindruck, daß auch Sie viel davon verstehen.
Wir werden uns nach der Bundestagswahl in bezug auf den Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Kommunen über zwei Dinge Gedanken machen müssen: Erstens. Wir müssen den Kommunen in den neuen Bundesländern, zu denen ich noch gerne etwas sagen würde, Vorrang geben. Zweitens. Wir müssen einen gerechteren Ausgleich innerhalb Westdeutschlands anstreben. Der Finanzausgleich, wie er zur Zeit stattfindet, ist nicht mehr zeitgemäß. Aber täuschen Sie sich nicht: Die Leistung von Baden-Württemberg und Bayern wird höher sein müssen als heute.
Sie finden mich aber an Ihrer Seite, wenn wir gemeinsam darüber diskutieren, welche kommunalen Aufgaben, welche Landesaufgaben und welche Bundesaufgaben wir in der Zukunft streichen könnten. Denn insgesamt möchte ich nicht mehr Mittel von
der öffentlichen Hand, ich möchte sie nur sinnvoller einsetzen.
Herr Blank, ich nehme an, Ihr Fragewunsch besteht immer noch? - Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin Schulte, wir debattieren hier heute im Deutschen Bundestag über die Lage der Städte, Gemeinden und Kreise.
Ist Ihnen entgangen, daß sowohl schon in der letzten Legislaturperiode als auch in dieser von seiten der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen des öfteren der erfolglose Versuch gemacht worden ist, die Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden in einen direkteren Zusammenhang zu stellen, als das nach der derzeitigen Verfassungslage, nach der die Gemeinden ja ein integraler Bestandteil der Länder sind, möglich ist, und daß dies insbesondere bei der Finanzverfassung, die unser Grundgesetz aufzeigt, am einhelligen Widerstand der Länderfinanzminister und der Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer gescheitert ist? Stimmen Sie mir weiterhin zu, daß es notwendig ist, über die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden auch verfassungsrechtlich in einem anderen Sachzusammenhang nachzudenken, als es die derzeit geltende Verfassungsrechtslage darstellt?
Herr Kollege Blank, ich habe doch gesagt, daß Sie von diesem Thema etwas verstehen. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu und bin auch der Meinung, daß wir diese Frage schon 1993 hätten lösen müssen. Erinnern Sie sich nur daran, daß damals die Ministerpräsidenten bei den berühmt-berüchtigten Kamingesprächen mit dem Herrn Bundeskanzler meinten, sie könnten diese Frage klären.
Es ist völlig richtig: Wir brauchen eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und auch der Europäischen Union. Wir beide und viele erfahrene Kommunalpolitiker in dieser Runde sind uns einig, daß wir endlich wahrheitsgemäß sagen müssen: Wir müssen prüfen, welche Aufgaben die Kommunen leisten können. Das sollten sie selbst tun, wir sollten sie nicht so viel reglementieren. Das war immer die Forderung des verehrten Kollegen Waffenschmidt; als er aber dran war, hat er dieses Ziel leider ein bißchen vergessen.
Auf der anderen Seite sollten wir ganz dringend dafür sorgen, daß alles so geschieht, daß die Kommunen ihre Aufgaben wahrnehmen können und daß sie einen gerechteren Ausgleich im Hinblick auf ihre unterschiedliche Infrastruktur erfahren.
Ich möchte meine Redezeit nicht unnötig verlängern. Ich will deshalb nur noch auf drei Dinge hinweisen, die wir bedenken müssen: Mich quält das Problem der Großsiedlungen in den neuen und in den alten Bundesländern. Vor wenigen Wochen hat Karl Ravens, der frühere Bundesbauminister, davor
Brigitte Schulte ({0})
gewarnt, daß in der Bundesrepublik insgesamt die Verslumung und die Abwanderung von potenten Mietern ein Ausmaß erreicht hat, das wir nicht hinnehmen können.
Meine Damen und Herren, es ist nicht so, daß nur in Berlin Stadtquartiere verwahrlosen: Ehrlicherweise muß man doch sagen, daß das auch in anderen großstädtischen Bereichen - in Ost wie in West - der Fall ist. Wir haben sogar festzustellen, daß das von der F.D.P. gepredigte Allheilmittel die Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbestandes, das Problem nicht lösen kann.
({1})
- Sie können die Zahlen nachlesen. Die „Frankfurter Allgemeine" liefert ein gutes Beispiel: Westberlin wollte - der Senat der großen Koalition hat das beschlossen -15 Prozent des öffentlichen Wohnungsbestandes privatisieren; das wären 50 000 Wohnungen gewesen. Was meinen Sie, wie viele sie bislang haben verkaufen können? Was meinen Sie, wie viele davon an Mieter gegangen sind, Herr Kollege van Essen? - Es sind 1500. Damit ist das Problem nicht gelöst. Die Großsiedlungen in den neuen Bundesländern, die wir Ihnen, meine Damen und Herren aus der Nachfolgepartei der SED, zu verdanken haben, sind ein Problem, das uns sehr zu schaffen macht.
({2})
- Ich möchte Ihnen einmal etwas sagen, Herr Kollege Rössel: Dort hat die Käfighaltung des Menschen stattgefunden.
({3})
Die Großsiedlungen haben nichts mit einer ausreichenden Infrastruktur und mit unserer Vorstellung von einem angemessenen Leben zu tun.
Meine Damen und Herren, ich möchte, daß wir - der Bund und die Länder - unser besonderes Augenmerk dringend und überall auf die Kommunen in den neuen Ländern legen. Ich bin der Meinung, daß bei allem, was wir - das ist heute schon einmal gesagt worden - in den letzten Jahren anzuerkennen haben, die Leistung, die die Oberbürgermeister, die Bürgermeister und die Landräte in den neuen Bundesländern in schwieriger Lage erbracht haben, an erster Stelle steht.
({4})
Sie haben immer noch eine völlig unbefriedigende Steuerkraft, und sie sind immer noch auf unsere Solidarität angewiesen.
({5})
Wenn ich mehr Zeit hätte, dann würde ich Ihnen beispielhaft noch ein paar Orte nennen, die das dennoch geschafft haben.
({6})
Deswegen, meine Damen und Herren: Es wird höchste Zeit, daß Sozialdemokraten wieder auf Bundesebene regieren.
({7})
Sie sind eben doch die beste Kommunalpartei. Sie sind diejenigen, die den Kommunen das Entsprechende zukommen lassen werden. Ich glaube, wir werden die Probleme nach den Wahlen in einer sachlichen Atmosphäre gemeinsam lösen können. Einen Gefallen, Herr Kollege Blank, sollten wir uns bitte alle tun: Es darf nicht wieder vier Jahre dauern, bis wir über soviel Papier, das sich mit guten Inhalten befaßt, in zweieinhalb Stunden miteinander diskutieren. Frau Süssmuth, ich rechne in diesem Zusammenhang ein bißchen mit Ihrer Solidarität.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
({8})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Warnick das Wort.
Frau Kollegin Schulte, Ihre Rede war in weiten Teilen von einer hohen Fachkompetenz geprägt. Was Sie aber zu den Großsiedlungen in den neuen Ländern gesagt haben, kann ich so auf keinen Fall stehenlassen.
({0})
Das war eine arrogante Beurteilung.
({1})
Sehen Sie sich bitte einmal die Umfrageergebnisse - wenn Sie sie nicht kennen, kann ich sie Ihnen auch geben - unter den Mieterinnen und Mietern dieser Siedlungen an. Von denjenigen, die dort wohnen, sind 85 Prozent und mehr mit den Wohnverhältnissen zufrieden. Daß in den neuen Ländern gerade in diesen Neubausiedlungen über 600 000 Wohnungen Leerstehen, hat seine Ursache darin, daß nach der Wende 1,3 Millionen Menschen von Ostdeutschland nach Westdeutschland gezogen sind, und zwar vor allem deswegen, weil die Arbeitsplätze weggefallen sind. Das alles nicht zu berücksichtigen und dann in einer solchen Arroganz über die Neubaugebiete zu sprechen, das kann man so nicht hinnehmen.
({2})
Frau Kollegin Schulte.
Lieber Herr Kollege, ich muß Ihnen folgendes sagen: Wenn ich mir die Wahlergebnisse der DVU und der PDS in den Stadtquartieren mit dem sogenannten Wohlgefühl, wenn Sie sich Halle, Neustadt - zumindest in Teilen
Brigitte Schulte ({0})
-- und das zuletzt von mir besuchte Wolfen ansehe, dann fällt mir nichts mehr ein.
({1})
Wir haben versucht, einiges von dem, was da in den letzten Jahren stattgefunden hat, zu korrigieren.
Wenn Sie behaupten, daß dort Wohlgefühl vorhanden sei, wo doch gleichzeitig über 60 Prozent der Stimmen für Parteien abgegeben worden sind, die in diesem demokratischen Rechtsstaat noch nicht angekommen sind, dann kann ich Ihre Meinung überhaupt nicht teilen.
Außerdem - das wäre natürlich der Vorwurf an diese Bundesregierung gewesen, wenn ich noch mehr Zeit gehabt hätte - hat die Regelung hinsichtlich der kommunalen Altschulden dazu geführt, daß mehrere Jahre lang nichts geschehen ist, die Städte also nicht in diese Quartiere investiert haben.
Aber das eigentliche Problem ist - das muß ich einmal sagen -, daß die ehemalige DDR in der Stadt Wolfen, einer Stadt mit 6 000 Einwohnern, Wohnungen für 30 000 Menschen gebaut hat. Ein weiteres Beispiel ist Rostock: von 80 000 auf 300 000 Menschen. Diese Wohnungen hießen in der ehemaligen DDR Arbeiterschließfächer. Sie können mir nicht erzählen, daß das humaner Wohnungsbau war. Dagegen kann ich Ihnen jede Sozialwohnung meines Wahlkreises - allerdings eines ländlichen Wahlkreises - zeigen, die ein völlig anderes Niveau hat. Dies kann es also nicht sein. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, daß dort keine rechtsradikalen Wähler mehr großgezogen werden. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, daß der demokratische Staat dort mitgetragen wird.
Ich bestreite nicht, daß die PDS in der kommunalen Verantwortung heute manches von dem korrigiert, was sie früher gemacht hat. Aber ihre erfahrenen Kommunalpolitiker sagen uns durch die Bank: Es war großer Unsinn, solche Siedlungen zu bauen. Das wissen Sie ganz genau.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Königshofen, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte ist schon mehrfach die Verkehrspolitik angesprochen worden. Auch ich will auf die Verkehrsproblematik noch einmal eingehen.
Unser Antrag zeigt auf, was die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen zur Stärkung der Städte auf diesem Gebiet geleistet haben, zeigt auf, wie Fehlentwicklungen entgegengewirkt werden soll und wie in positivem Sinne Einfluß auf die Entwicklung genommen werden soll.
Wir können hier auf eine eindrucksvolle Leistungsbilanz verweisen. Mit der am 1. Januar 1996 vollzogenen Regionalisierung ist zwar der Schienenpersonennahverkehr in die ausschließliche Zuständigkeit
der Länder übergegangen, aber der Bund fördert den ÖPNV jährlich mit zweistelligen Milliardenbeträgen. So stellt der Bund in diesem Jahr den Ländern rund 12,4 Milliarden DM an Regionalisierungsmitteln zur Verfügung. Darüber hinaus erhalten die Länder in diesem Jahr 3,3 Milliarden DM nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für den Bau von S-, U-
und Stadtbahnen, von Park-and-ride-Anlagen, von zentralen Omnibusbahnhöfen, von Busspuren und Radwegen sowie für die Beschaffung von ÖPNVFahrzeugen. Damit stellt der Bund den Ländern für den öffentlichen Personennahverkehr in diesem Jahr, also 1998, insgesamt 15,7 Milliarden DM zur Verfügung, also noch 700 Millionen DM mehr, als die Summe, die vorhin schon mein Kollege genannt hat.
({0})
Das ist eine Leistung, auf die wir, die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P., stolz sein können.
({1})
Mit dieser außerordentlichen Förderung ziehen wir die Konsequenzen aus unserer Überzeugung, daß ein leistungsfähiges ÖPNV-System in Ballungsgebieten und Städten als Alternative zum motorisierten Individualverkehr von zentraler Bedeutung ist. Für die Attraktivität des ÖPNV sind neben Schnelligkeit und bedarfsgerechter Raumerschließung aber die Sauberkeit und die Sicherheit in den Einrichtungen des ÖPNV entscheidend. Die Bahnen können noch so häufig fahren; wenn der Bürger sie nicht annimmt, weil sie zu schmutzig und unsicher sind, nützt kein Geld dieser Welt.
({2})
Als ständiger Benutzer des ÖPNV im Ruhrgebiet weiß ich, daß hier noch ein großer Nachholbedarf besteht.
Zu einer Politik zur Erhaltung und Stärkung der Städte und Gemeinden gehört auch, daß wir den Durchgangsverkehr aus den inneren Bereichen der Kommunen heraushalten. Daher hat die Bundesregierung mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen im Rahmen der Ortsumgehungsprogramme in den letzten 16 Jahren rund 500 Ortsumgehungen mit einem Investitionsvolumen von rund 16 Milliarden DM finanziert. Weiterhin haben wir im Rahmen des Forschungsprogramms „Stadtverkehr" Verkehrsprojekte gefördert, die zur Verbesserung des Verkehrsangebots und zur Lösung spezieller Verkehrsprobleme in den Städten beitragen. Allein im letzten Jahr standen 8,2 Millionen DM für solche Forschungsvorhaben zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, die Straßenverkehrsordnung schafft die Rahmenbedingungen für die Kommunen, Konzepte für die Gestaltung des innerstädtischen Verkehrs zu entwickeln. So können durch die Städte und Gemeinden zum Beispiel Parkraumbewirtschaftung, verkehrsberuhigte Bereiche und Tempo-30-Zonen eingerichtet werden. Wir sprechen uns allerdings gegen die flächendeckende Einführung des Tempo-30-Limits im ganzen Stadtgebiet aus. Was für Wohnstraßen gut und richtig ist, gilt nicht automatisch für die großen Verkehrsadern einer
Stadt. Hier muß im Interesse der Mobilität und auch des Umweltschutzes der Individualverkehr fließen können. Das Verkehrsaufkommen wird auch in den Städten weiter steigen. Daher wird es immer sinnvoller und auch wirtschaftlicher, den Verkehr in den Städten und Ballungsräumen mit modernen Telematiksystemen zu beeinflussen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß eine wichtige Aufgabe ansprechen, die hier noch nicht erwähnt wurde: Es geht um die Bekämpfung des Verkehrslärms. Zwar haben wir bereits heute im europäischen Vergleich die strengsten Immissionsgrenzwerte für Verkehrslärm beim Neu- und Ausbau von Straßen und Schienenwegen. Die neue Verkehrswege-Schallschutzmaßnahmenverordnung, die im Februar 1997 in Kraft getreten ist, hat die Voraussetzungen für noch wirksameren Schutz vor Verkehrslärm geschaffen. Aber das hilft nicht bei bestehenden Bahntrassen, die in der Regel unsere Städte und Gemeinden durchschneiden. Hier fühlen sich immer mehr Anwohner lärmgeschädigt und fordern zu Recht Lärmsanierungsmaßnahmen an den Strecken.
({3})
Gerade im Hinblick auf eine verstärkte Nutzung des insgesamt umweltfreundlichen Schienenverkehrs, die wir in diesem Hause alle wollen, müssen wir uns in der kommenden Legislaturperiode dieser großen und wichtigen Aufgabe stellen.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die mir zugebilligte knappe Redezeit hilft mir, der Versuchung zu widerstehen, nach 26 Jahren im Bundestag hier die große Abschiedsrede zu halten, all das zu sagen, was ich Ihnen schon immer sagen wollte, in einem gefühlvollen Rückblick und einem mahnenden Ausblick und mit dem Dank an die Freunde und die - „Feinde" sagt man nicht - Gegner. Nichts davon werde ich hier sagen; ich werde zur Sache sprechen, zur Stadt, zu dem Thema, das mich seit vielen Jahren beschäftigt hat und auch zukünftig beschäftigen wird.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben ja recht, wenn sie in ihrem Antrag von „stadtschädigenden, sogar stadtauflösenden Tendenzen" sprechen. Auch Wolfgang Schäuble hat recht, wenn er auf dem Leipziger Parteitag der CDU den Niedergang des innerstädtischen Einzelhandels beklagt. Aber, meine Damen und Herren, Sie regieren seit 16 Jahren,
({0})
und Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, wie es
zu dieser Entwicklung gekommen ist. Was haben Sie
dazu beigetragen? Was haben Sie gegen diese Entwicklung getan?
({1})
- Frau Kollegin, könnten Sie bitte auf die Seite gehen? Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns hier miteinander reden zu lassen? Das wäre sehr freundlich.
({2})
- Danke schön. Ich möchte mich nämlich mit den Damen und Herren Auge in Auge auseinandersetzen, in aller Freundlichkeit.
({3})
- Mit allen!
({4})
- So, jetzt können wir miteinander reden. Vielen Dank.
Wer hat denn in den vergangenen Jahrzehnten der Eigenheimförderung immer Vorrang vor dem Mietwohnungsbau gegeben und damit den Auszug der Mittelschichten aus der Stadt, die Zersiedlung des Umlands und die Entmischung der Stadt befördert?
Wer hat denn den sozialen Wohnungsbau, der früher einmal breiten Schichten des Volkes diente, heute zum Arme-Leute-Wohnungsbau gemacht - mit der Folge der Ghettoisierung ganzer Stadtteile und der Ausgrenzung sozialer Schichten?
Wer hat denn jahrelang vorrangig den Autoverkehr und den Straßenbau subventioniert? Von Frau Wöhrl, die bedauerlicherweise nicht mehr hier ist - ich halte es für ungehörig, hier eine Rede zu halten und dann zu verschwinden -, haben wir gehört, wie die Union es mit dem Autoverkehr hält. Wer hat denn jahrelang den Autoverkehr bevorzugt - mit der Folge, daß Lärm und Gestank viele Menschen aus den Städten hinausgetrieben haben?
Wer hat denn unsere Vorschläge abgeschmettert, den gewerblichen Mietern ein sicheres Mietrecht zu geben und die mittelständischen Einzelhändler besser vor dem Druck der Großen, vor dem Druck der Ketten zu schützen?
Wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kansy zulassen?
Aber gerne! Bei Herrn Kansy doch sowieso.
Herr Kollege Conradi, sollten wir mit den Schuldzuweisungen nicht doch ein bißchen vorsichtiger sein? Hat nicht die politische Linke in Europa in der Charta von Athen die Ideologie einer Stadt aufgebracht, die sich
im Grunde erst nach dem zweiten Weltkrieg umsetzen ließ, mit dem Ergebnis des Auseinanderreißens von Wohnen und Arbeiten, mit den damit zusammenhängenden Verkehrsproblemen und vielen anderen Problemen mehr?
Herr Dr. Kansy, ich bin zwar ein alter Abgeordneter, aber für die Charta von Athen, die ungefähr in meinem Geburtsjahr entstanden ist, bin ich nun wirklich nicht verantwortlich. Ich teile Ihre Meinung, daß sie stadtzerstörerische Wirkung hatte.
({0})
Aber die Frage ist: Wer war es denn, der nicht bereit war, die Errichtung großflächiger Einkaufsmärkte auf der grünen Wiese zu unterbinden, und damit den innerstädtischen Einzelhandel gefährdete?
({1})
Wer hat denn alle Vorschläge abgelehnt, dem inneren Ausbau der Städte Vorrang vor der Außenentwicklung zu geben und damit der Entleerung der Städte entgegenzuwirken? Und wer hat schließlich alle Vorschläge für ein soziales Bodenrecht und für ein gerechtes Bodensteuerrecht abgeblockt, Vorschläge entsprechend Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes, dem zufolge der Gebrauch des Eigentums auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll?
Das alles war Ihre Politik, und jetzt kommen Sie nach 16 Jahren mit vollmundigen Anträgen und bieten uns unverbindliche Handlungsansätze an, eine Initiative zur Rettung der Innenstadt. Leere Worte, Propaganda statt Taten!
({2})
Doch es sind nicht nur diese Versäumnisse und Fehler, die den Zusammenhalt der Städte gefährden. Im Bund, in den Ländern und in den Städten zieht sich die öffentliche Hand unter der irreführenden Parole „schlanker Staat" aus ihren Aufgaben zurück. Vieles, was früher gemeinsam geregelt wurde, wird heute privatisiert: Private Hochschulen statt öffentlicher Bildungsinvestitionen, private Altersvorsorge statt des Generationenvertrages, Privatisierung des Krankheitsrisikos, Privatisierung des staatlichen und kommunalen Bauens, private Autobahnen, private Wachdienste für die Wohlhabenden, Privatisierung der Kultur durch Event-Sponsoren.
Die Wirtschaft wird's schon richten. So hören wir allerorten. Aber die Wirtschaft handelt nach ökonomischen Kriterien. Solidarität mit den Schwächeren, die Würde des Menschen, der bürgerschaftliche Gemeinsinn sind ihre Sache nicht.
Es war gewiß ein Fehler - es war auch mein Fehler -, daß wir in der Vergangenheit zuviel auf den Staat gesetzt haben, daß wir dem Staat zuviel übertragen haben, was andere besser leisten können. Deshalb wollen wir heute alle Leistungen des Staates auf ihre Effizienz prüfen, aber bitte nicht nur auf ihre ökonomische Effizienz, sondern auch im Hinblick
darauf, was sie sozial, was sie kulturell und auch ökologisch bewirken.
({3})
Früher, so scheint es mir, haben wir Stadt und Staat überfordert, jetzt sind wir dabei, sie zu unterfordern. Das Extrem schlägt um in sein Gegenteil, Staat und Stadt werden vorsätzlich arm gemacht, ausgeplündert, entrechtet, privatisiert, abgewickelt.
Die Städte sind daran nicht ohne Schuld. Auch dort wird an vielen Stellen privatisiert und ausgegrenzt, abgebaut und umverteilt. Da werden halb private, halb öffentliche Institutionen mit Millionenbeträgen gefördert, neue Messen, protzige Festivalhäuser, teure Medienzentren und dergleichen Objekte mehr, während gleichzeitig in den Berufsschulen und in der Jugendarbeit das Geld fehlt. Dabei ist offenkundig, daß die Prävention von Jugendkriminalität weit billiger ist als die Repression.
({4})
Das sage ich gerade jenen von Ihnen, die hier auf die Sicherheit in den Städten abgehoben haben. Sie setzen allein auf Repression, zur Prävention tun Sie nichts.
({5})
Die Neoliberalen in der F.D.P. wie in der CDU wollen den Staat und die Stadt entmachten. Das wird sich rächen. Wer den Menschen jahrelang erzählt, der Staat und die Stadt seien unnötig, seien unfähig und dumm, jeder sei sich selbst der Nächste und müsse für sich selbst sorgen, der gefährdet das Gemeinsame, der gefährdet den Gemeinsinn, auf dem unsere staatliche und unsere stadtbürgerliche Gemeinschaft aufbauen.
({6})
Unser Land braucht einen Politikwechsel auch für die Städte. Im 14. Bundestag stehen große Aufgaben an, in der Stadtpolitik, in der Wohnungs- und Verkehrspolitik, im Planungsrecht, in der Finanzpolitik, im Bodenrecht, auch im Bodensteuerrecht. Ein wenig leid tut es mir schon, Herr Präsident, meine Damen und Herren, daß ich an diesen großen Aufgaben hier in diesem Hause nicht mitarbeiten werde. Aber ich wünsche Ihnen, vor allem einer neuen Mehrheit bei der Bewältigung dieser Aufgaben Glück und Erfolg.
({7})
Herr Kollege Conradi, das war gewiß keine der üblichen Abschiedsreden, aber es war aller Voraussicht nach Ihre letzte Rede hier im Parlament.
Ich nutze die Gelegenheit, um Ihnen für 26 Jahre parlamentarische Arbeit zu danken. Sie gehörten - und gehören noch - zu der verschwindend kleinen Minderheit der Kulturpolitiker in diesem Hause. Sie
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
waren ein engagierter Baumeister, der sich um das Baugeschehen des Bundestages hier in Bonn und auch in Berlin große Verdienste erworben hat.
Wir kennen Sie als engagierten Sozialdemokraten, als Querdenker und unabhängigen Geist, streitbar bis zuletzt. Sie waren ein engagierter, überzeugter und überzeugender Parlamentarier. Der Bundestag wird ohne Sie ein bißchen ärmer sein. Danke!
({0})
Das Wort hat der Kollege Gert Willner, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Die Innenstadt soll wieder Heimat der Bürger werden. Zweitens. Wir wollen die Stadtflucht stoppen. Drittens. Wir wollen zu einem besseren Miteinander zwischen Stadt und Umland kommen. Das ist die zentrale Botschaft unseres Antrages „Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte".
Deutschland zeichnet sich durch eine Vielfalt seiner Städte und historisch gewachsene Stadtstrukturen aus. Dies und die Wechselbeziehung zwischen dem ländlichen und dem städtischen Raum machen ein gutes Stück der Lebens- und Standortqualität Deutschlands aus. Weil dies so ist, muß auch die Wiederbelebung der Innenstädte vorangetrieben werden.
Es gibt in vielen Städten Handlungsbedarf. Lieber Kollege Conradi, ich denke, es ist zu einfach, einer politischen Partei etwas so zuzuweisen, wie Sie es gemacht haben. Wir alle unterliegen siedlungspolitischen Leitbildern. Ein Leitbild, das viele Jahre Geltung hatte, war die Gartenstadtbewegung, die auf autarke Arbeitsstädte angelegt war, aber in Schlafstädten endete. Sie gehörte zu den großstadtfeindlichen Leitbildern des 20. Jahrhunderts. Realität ist doch, daß Stadt- und Regionalentwicklung seit Jahrtausenden ein Spiegelbild menschlicher Produktions- und Lebensweisen ist.
Wir sehen also in vielen Städten Handlungsbedarf. Lebendige Städte setzen einen funktionierenden Handel voraus. Städte ohne einen funktionierenden attraktiven und vielfältigen Handel sind ebenso undenkbar wie ein Handel ohne Städte.
({0})
Auch dem traditionellen Einzelhandel muß in den Innenstädten eine Perspektive gegeben werden. Viele Einzelhändler des Mittelstandes werden von Handelsketten verdrängt. Dies wurde schon in der Debatte gesagt.
Dieser Umverteilungsprozeß von kleinen zu großen Betriebsformen muß gestoppt werden.
({1})
Wir wollen alle Chancen nutzen, die Innenstädte als Standorte für vielfältige, mittelständisch geprägte Einzelhandels- und Dienstleistungszentren wieder attraktiver zu machen. Wir müssen alles fördern, was
den Mittelstand entlastet, und alles verhindern, was den Mittelstand belastet;
({2})
denn der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft.
({3})
Er ist die Lokomotive für Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze. Städte brauchen Arbeitsplätze. Städte brauchen den Mittelstand und das Handwerk.
({4})
Die Rahmenbedingungen aber werden nicht nur in Bonn, sondern auch durch die Länder, die Gemeinden und Städte geschaffen. Wir tragen hier ein Stück gemeinsame Verantwortung.
({5})
Gerade durch das neue Baugesetzbuch sind eine Vielzahl von Maßnahmen zur Stärkung der Innenstädte wirksam geworden. Für nicht integrierte Einzelhandelsbereiche, für die „grüne Wiese", ist künftig ein Raumordnungsverfahren vorgesehen. Dies ist Teil eines Handlungsprogramms zur Stärkung der Innenstädte.
({6})
Unsere Anstrengungen müssen auf eine stärkere Mischung von Arbeiten und Wohnen in den Innenstädten, auf eine Nutzungsvielfalt gerichtet sein. Ich hätte mir schon gewünscht, daß die Baunutzungsverordnung mit diesen Überlegungen Geltung erlangt hätte.
({7})
Unbewohnte Innenstädte sind tote Innenstädte. Bewohnte Innenstädte bedeuten vielfältiges Stadtleben. Ich rufe hier das Modell der kurzen Wege in Erinnerung. Eine Stadt der kurzen Wege reduziert den Verkehrsaufwand, ermöglicht überschaubare Lebensbereiche und eröffnet die Chance, auch die Alltagsbedürfnisse von älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern und von Familien mit Kindern zu befriedigen.
Herr Kollege Willner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Willner, ich möchte doch noch eine Frage zu dem Aspekt Nutzungsmischung stellen. Wir alle sind uns darin einig, daß wir eine Änderung der Baunutzungsverordnung wollen. Aber glauben Sie wirklich, daß sich - selbst bei der besten
Novellierung der Baunutzungsverordnung - in den Kernstädten Wohnnutzung realisieren lassen wird, wenn die Bodenpreise 800 DM pro Quadratmeter, 1 000 DM pro Quadratmeter betragen oder bis in die 10 000-DM-Kategorien wie in Berlin gehen? Glauben Sie daran, daß wir angesichts dessen innerstädtisches Wohnen, vielleicht sogar für Haushalte mit niedrigerem oder mittlerem Einkommen, jemals realisieren können?
({0})
Frau Kollegin EichstädtBohlig, ich bin grundsätzlich davon überzeugt, daß es notwendig ist, Wege zu finden, um das Wohnen in den Innenstädten zu ermöglichen. Wir haben unterschiedliche Instrumentarien. Auch die Bodenbevorratung in den Städten und Gemeinden und die Möglichkeit der städtebaulichen Verträge sind Instrumentarien, mit denen Kosten verteilt werden können, mit denen unter dem Stichwort „private-public partnership" sehr wohl manches ausgehandelt werden kann. Ich halte es für möglich, und ich halte es für geboten.
({0})
Stadt und Umland sind aufeinander angewiesen. Wir brauchen bei der interkommunalen Zusammenarbeit noch mehr Miteinander. Auch hier eröffnet das neue Baugesetzbuch durch den ebenfalls neuen regionalen Flächennutzungsplan bessere Chancen der Zusammenarbeit zwischen Städten und dem Nachbarschaftsraum.
Kommunale Selbstverwaltung ist insbesondere auch kommunale Selbstverantwortung. Deshalb haben wir im Baugesetzbuch die Rechte der Städte und Gemeinden gestärkt. Das Baugesetzbuch hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gemeinden und Städte, das Wohnumfeld sowie die Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger. Mit dem Baugesetzbuch haben wir eine ganze Reihe von wichtigen innenstadtwirksamen Regelungen getroffen.
({1})
Ich nenne stichwortartig: erleichterte Befreiungen von den Festsetzungen in den Bebauungsplänen, zum Beispiel bei Dachgeschoßausbauten;
({2})
gesetzliche Verankerung des Baulandkatasters;
({3})
die Milieuschutzsatzung;
({4})
Vorhaben- und Erschließungsplan sowie - das habe
ich eben schon angesprochen - städtebauliche Verträge. Ferner haben wir konsequent Genehmigungs-
und Anzeigepflichten abgeschafft und dadurch die Entscheidungsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden gestärkt.
Mehr Rechte bedeuten allerdings auch mehr Verantwortung für die Kommunen und auch die Verantwortung für Entscheidungen über Art und Ausmaß der Nutzungen. Wir wollen Verantwortung vor Ort. Wir machen Ernst mit dem schlanken Staat, und wir machen Ernst mit der Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.
({5})
Die kommunale Planungshoheit ist für uns ein hohes Gut. Wir werden sie erhalten, haben sie ausgebaut. Wir haben die kommunale Selbstverwaltung gestärkt.
({6})
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Thema Wohnen sagen. Die Probleme des Wohnungsmarktes zählen für die Städte und Gemeinden zu den wichtigsten Fragen kommunaler Daseinsvorsorge. Das geplante Wohnungsbaureformgesetz war eine Chance für neue Wege bei der Wohnraumversorgung, für die Stärkung der Wohnfunktion als Voraussetzung für lebendige Innenstädte. Es ist schade, daß es nicht möglich war, dieses Gesetz durch das Parlament zu bringen.
({7})
Zum Thema Städtebauförderung sage ich: Wir konzentrieren die Städtebauförderung auf die nachhaltige Entwicklung von Innenstadtbereichen und Stadtteilzentren. Das ist unbestritten die richtige Entscheidung; denn Städtebauförderung ermöglicht es auch, soziale Mißstände zu beheben.
({8})
Ich beschränke mich beim Thema Sicherheit auf eine kurze Anmerkung, da der Kollege Belle dazu schon etwas gesagt hat. Die Menschen müssen sich -darin sind wir uns einig - in den Innenstädten sicher fühlen können. Manche Länder versuchen aber immer mehr, polizeiliche Aufgaben auf die Städte und Gemeinden zu übertragen. Polizei ist und bleibt eine Landesaufgabe. Der Bürgermeister darf nicht zum Stadtsheriff werden.
({9})
Nicht beantwortet ist bisher die Frage, welche Auswirkungen moderne technologische Entwicklungen auf die Stadt und die Stadtstruktur haben. Ich erinnere an einen Gedanken von Professor Klaus Töpfer: Die Expo 2000 in Hannover bietet sich an, mit einem weltweiten Städtebaukongreß wegweisend Überlegungen für die Stadt der Zukunft zu erarbeiten, eine Bilanz zu Habitat II und auch zur Agenda 21 Bilanz zu ziehen.
Wir, die CDU/CSU, bieten eine Zukunftsperspektive für leistungsfähige Städte und Gemeinden im 21. Jahrhundert. Dafür haben wir in den vergangenen Jahren wichtige Grundlagen gelegt. Wir werden
dieses Ziel auch im Hinblick auf eine Aufgaben- und Ausgabenverteilung konsequent weiterverfolgen. Es gibt gute Chancen dazu. Nutzen wir sie gemeinsam!
({10})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Landkreise, Städte und Gemeinden haben in unserem Land eine besondere Bedeutung, allein schon deswegen, weil die Bürger am meisten von dem betroffen sind, was in ihrer Stadt, ihrer Gemeinde oder ihrem Landkreis geschieht, was dort beschlossen und umgesetzt wird.
({0})
Wenn man eine Gesamtbetrachtung für die Bundesrepublik Deutschland vornimmt, dann kann man feststellen, daß sich die Städte und Gemeinden letzten Endes überragend entwickelt haben und daß wir aus einem Land mit blühenden Städten und Gemeinden bestehen,
({1})
mehr und mehr auch in den neuen Bundesländern.
({2})
Das ist insgesamt auf die erhebliche Leistungsfähigkeit der Bevölkerung unseres Landes zurückzuführen - was die Bundesebene angeht, auf eine entsprechend gute Politik -, aber auch auf die kommunale Selbstverwaltung. Wenn es die kommunale Selbstverwaltung in unserem Land noch nicht gäbe, dann müßte sie noch heute eingeführt werden.
({3})
In der Tat, es stimmt: Wir haben blühende Städte und Gemeinden, in denen man gerne wohnt und in denen man gerne zu Hause ist. Wir sind ein Volk, das viele Urlaubsreisen ins Ausland macht.
({4})
Wenn man aber zwei oder drei Wochen unterwegs gewesen ist, dann freut man sich, wieder zu Hause zu sein, weil es in unseren Städten und Gemeinden eben besonders schön ist.
({5})
Dieses Zuhause ist aber nicht überall gleich gut. Ich kann mich über die Argumentation der Kollegin Schulte nur wundern, die die bessere Entwicklung in Bayern damit begründet hat, daß dort mehr Einwohner sind. Wenn dies der Grund wäre, dann müßte es in den Kommunen Nordrhein-Westfalens nur üppigen Wohlstand geben.
({6})
Gerade das ist von einem Ihrer Kollegen nachhaltig bestritten worden.
({7})
Daß das Zuhause der Menschen nicht überall gleich gut ist, führe ich auf ganz andere Dinge zurück. In Bayern macht man die Kommunen stark. Da weiß man, was man will. Man macht eine zukunftsorientierte Politik.
({8})
In Niedersachsen und in anderen rotgrün-regierten Bundesländern beschäftigt man sich mehr damit, wie man die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung aus dem Polizeigesetz streicht und die Verbandsklage noch stärken kann.
({9})
Genau das sind die falschen Ansätze, um die Kommunen mit den Finanzmitteln auszustatten, die sie brauchen.
({10})
Eines ist schon wahr: Die kommunale Selbstverwaltung braucht eine entsprechende Finanzausstattung, ohne die sie nicht ausgeübt werden kann.
({11})
Nur, an den Anfang jeder Auseinandersetzung gehört - auch im Deutschen Bundestag - die klare Feststellung, daß nach der Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland für die finanzielle Ausstattung der Kommunen vorrangig die Bundesländer verantwortlich sind.
({12})
Natürlich können die Bundesländer darauf bestehen, daß sie es wiederum sind, die eine entsprechende Finanzausstattung vom Bund erhalten.
({13})
Aber es wagt doch wohl niemand hier im Saal zu bestreiten, daß sich die Bundesländer in den letzten Jahren über den Bundesrat vorzüglich zu ihren Gunsten bei derartigen Verhandlungen durchgesetzt haben.
({14})
Wir sind zwischenzeitlich so weit, daß zum erstenmal seit Einführung der D-Mark, um nicht zu sagen: seit Kriegsende - beides wäre richtig -, die Bundesländer in ihrer Gesamtheit mehr Steuern einnehmen als der Bund.
({15})
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens ({16})
Das ist eine Entwicklung, die angesichts der großen Aufgaben, die der Bund zu bewältigen hat, schon eher als bedenklich zu bezeichnen ist.
Wir haben im Rahmen eines jeden Gesetzespakets, mit dem wir Aufgaben auf die Länder und Kommunen übertragen haben, das Geld mindestens in der Höhe, die als notwendig nachgewiesen werden konnte, zur Verfügung gestellt. Wir haben nicht nur einfach Aufgaben übertragen, sondern auch das notwendige Geld zu deren Bewältigung gegeben.
({17})
Die Erfüllung dieser Aufgaben scheitert besonders in den Bundesländern mangels einer vernünftigen Finanzausstattung der Kommunen, denen man das vom Bund bereitgestellte Geld seitens der Länder nicht entsprechend weitergegeben hat. Hierin liegt der Makel. Die Länder sollten sich wirklich bemühen, ihre Gemeinden mit den entsprechenden Mitteln auszustatten.
Die Kommunen sind auf der staatlichen Ebene sozusagen der Mittelstand. So wie der Mittelstand in der sozialen Marktwirtschaft der Motor ist, so haben die Kommunen, der Mittelstand auf der staatlichen Ebene, besondere Aufgaben. Vor Ort weiß man am besten, was nötig, sinnvoll und umzusetzen ist, wofür man das Geld sinnvollerweise zur Verfügung stellt. Wenn das Geld auf diese Weise vernünftig ausgegeben werden soll, dann muß es in erster Linie dem Mittelstand vor Ort zufließen; denn dieser ist auf die Aufträge der Kommunen geradezu angewiesen. Wenn man diesen Zusammenhang sieht, dann kann man erkennen, daß gerade die Länder eine gute wirtschaftliche Entwicklung genommen haben - ich nenne das Beispiel Bayern -,
({18})
die ihre Kommunen mit einer sehr guten finanziellen Ausstattung bedenken. Das sollte auch für die anderen Länder ein Vorbild sein.
({19})
Zum Abschluß möchte ich sagen: Wir haben in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Glücksfall, die Arbeitsgemeinschaft Kommunalpolitik unter dem Vorsitz von Theo Blank, unter dem stellvertretenden Vorsitz von Gert Willner und unter der tätigen Mithilfe des KPV-Vorsitzenden Peter Götz zu haben, die bei jeder Gelegenheit aufpassen, daß die Interessen der Kommunen in der deutschen Politik nicht zu kurz kommen. Das ist ihnen gut gelungen. Sie hatten es unter dieser Bundesregierung auch nicht schwer; denn wir sehen die Bedeutung der Kommunen und werden sie weiter im Auge behalten.
Danke schön.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Waffenschmidt, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte am Ende von 26 Jahren Mitarbeit im Deutschen Bundestag und von 36 Jahren Abgeordnetentätigkeit in Bund und Land gerade in dieser Debatte noch gerne einige wenige Sätze an Sie richten.
Für uns alle, so meine ich, sollte immer der Leitsatz gelten: Kommunale Selbstverwaltung sichert Bürgerfreiheit. Darum ist sie so wichtig für uns alle.
({0})
Nun ist in dieser Debatte bereits mehrfach angeklungen - das wissen wir alle, die wir selbst in der kommunalen Selbstverwaltung tätig waren und sind -: Kommunale Selbstverwaltung braucht ihre entsprechenden Möglichkeiten, ganz besonders hinsichtlich der Finanzausstattung. Ich will hier aber ganz bewußt sagen: Das Geld ist wichtig, aber es ist nicht alles.
({1})
Auch die Phantasie und die Beteiligung vieler Bürgerinnen und Bürger sind ganz entscheidend und wichtig, manchmal noch wichtiger als das Geld.
({2})
Ich will nach vielen Jahren der Arbeit und des Sammelns von Erfahrung in diesem Metier an Sie alle gerne eine Bitte richten - wenn im neuen Bundestag wieder um das Wohl der kommunalen Selbstverwaltung gestritten wird, sollte man daran denken -: Bauen Sie die direkte Beteiligung der Kommunen an den Steuern aus!
({3})
Hierzu ist mit der direkten Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer in dieser Wahlperiode ein wichtiges Ziel erreicht worden. Ich danke der Bundesregierung und allen, die sich darum sehr bemüht haben.
({4})
Aber dieser Erfolg muß schrittweise weiter ausgebaut werden.
({5})
Im Interesse der kommunalen Selbstverwaltung muß gelten: mehr Steuerbeteiligung und weniger Töpfchenwirtschaft, die nur zur Abhängigkeit führt.
({6})
Nach meinem Eindruck und auch nach vielen Erfahrungen als früherer Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes ist mir wichtig festzustellen: Kommunale Selbstverwaltung ist heute wichtiger denn je. Je mehr Menschen die Globalisierung vieler Lebensverhältnisse in ihrem Alltag erleben und immer mehr davon hören, desto wichtiger werden Heimat und Geborgenheit im örtlichen Bereich.
Wir sollten es auch gar nicht bedauern, daß Heimat wieder „in" ist, daß Heimat für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder ein ganz großer Wert ist.
({7})
Darum gilt: Wer Städten und Gemeinden hilft, dient letztlich dem Wohl des gesamten Volkes.
Dies ist meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich wollte sie ganz bewußt in dieser und nicht in einer anderen Debatte halten; denn ich habe mit dem Einsatz für kommunale Selbstverwaltung in diesem Bundestag begonnen, und ich will auch die wenigen Sätze meiner letzten Rede dieser wichtigen Aufgabe für unser Land widmen.
Ich danke ganz bewußt und auch mit frohem Herzen für die Zeit, die ich im deutschen Parlament mitarbeiten durfte. Meine Damen und Herren, kämpfen wir immer dafür, daß unser Land ein frei gewähltes Parlament hat! Das ist eine ganz wichtige Wert- und Zielvorstellung für die Demokratie.
({8})
Ich bin in einer Zeit groß geworden, in der wir noch kein freies Parlament hatten. Wir alle haben die grauenvollen Wirkungen und Folgen erleben müssen. Der Deutsche Bundestag als frei gewähltes Organ des deutschen Volkes und als erste Gewalt in unserem Staat ist ein großer Wert.
Ich danke für alle gute Zusammenarbeit. Ich will zum Schluß sagen: Noch wichtiger als all unser menschliches Tun ist der Segen Gottes. Deshalb wünsche ich dem Deutschen Bundestag und unserem Volk und Land für die Zukunft Gottes reichen Segen.
Herzlichen Dank.
({9})
Lieber Herr Kollege Dr. Waffenschmidt, ich habe eben noch einmal im „Kürschner" nachgelesen. Sie haben ja ein wirklich reiches politisches Leben gelebt: Sie haben auf kommunaler Ebene, auf Landesebene sowie hier in Bonn als Parlamentarier - und zwar meist als „Parlamentarier zu Pferde", wie man sagt - und als Parlamentarischer Staatssekretär gewirkt. Sie waren in Ihrer Arbeit, soweit ich das verfolgen konnte, immer sachorientiert. Die Kommunalpolitik und die praktische Arbeit vor Ort lagen Ihnen besonders am Herzen. Sie waren übrigens immer ansprechbereit, auch für den politischen Gegner hilfreich, wenn es ging; ich habe es selber erlebt.
Ich glaube, Ihre Verdienste als Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung verdienen es, in dieser Stunde erwähnt zu werden.
({0})
Sie haben Ihr Amt mit dem Willen geführt, den Menschen zu helfen, so gut es ging; es ging ja nicht immer. Aber Sie haben sich um Menschen gekümmert und nicht um ein Problem; das ist ein wichtiger Unterschied.
Was mir an Ihnen - wenn ich das persönlich sagen darf - immer besonders gefallen hat, ist Ihre unverkrampfte Heiterkeit.
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Das ist in der Politik eher selten. Deshalb ist es wohl angemessen, Ihnen heute für 26 Jahre parlamentarische Arbeit zu danken. Alles Gute!
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Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu einer Politik zur Erhaltung und Stärkung der Innenstädte. Das ist die Drucksache 13/11113. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/10536 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Mitteilung der Europäischen Union zur Stadtentwicklung, Drucksache 13/8965. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/ 11135. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPDFraktion abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/11128. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zur Förderung der Stadtökologie und einer nachhaltigen Stadtentwicklung; Drucksache 13/ 10664. Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einer ökologischen und sozialen Stadtentwicklungspolitik; Drucksache 13/ 11088. Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({3})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 1997
- Drucksache 13/10500 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Dehnel, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch ich nehme die Gelegenheit wahr, dem Kollegen Horst Waffenschmidt alle guten Wünsche für seine Zukunft auszusprechen. Ich hatte immer eine sehr freundschaftliche Zusammenarbeit mit ihm. Dafür gilt ihm mein herzlicher Dank. Er hat sich genauso um Probleme der Menschen gekümmert, wie wir das im Petitionsausschuß getan haben.
Wir nehmen heute den Jahresbericht über die Tätigkeit des Petitionsausschusses über Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag im Jahre 1997 zum Anlaß für diese Debatte. Das gibt in der vorletzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode zugleich Gelegenheit, einmal Bilanz über die Arbeit des Petitionsausschusses in dieser Zeitspanne zu ziehen. Auch in der ablaufenden Wahlperiode konnte der Petitionsausschuß in ungezählten Fällen betroffenen Bürgerinnen und Bürgern konkret helfen.
Insgesamt gingen knapp 79 000 Eingaben in den vergangenen vier Jahren beim Deutschen Bundestag ein, durchschnittlich also etwa 19 700 pro Jahr. Dabei waren die meisten Petitionen im Jahr 1995 mit 21 291 Neueingängen zu verzeichnen. Der Jahresbericht für 1997 weist aus, daß insgesamt 20 066 Petitionen neu eingereicht wurden, was gegenüber dem Rückgang im Vorjahr einen Anstieg um zirka 12 Prozent bedeutete. Insgesamt muß aber festgestellt werden, daß die durchschnittliche Zahl der Petitionen in den Jahren 1995 bis 1997 um rund 6 Prozent gegenüber den Eingaben in der vorherigen Wahlperiode zurückgegangen ist.
Die Zahl der eingegangenen Petitionen kann jedoch immer nur ein Indiz für die Zunahme oder Abnahme von Sorgen in der Bevölkerung sein. Große Reformwerke und umfangreiche Gesetzesänderungen, zum Beispiel im Sozialbereich, wie sie die Koalition unter anderem mit der Gesundheitsreform und Rentenreform ergriffen hat, werden schon allein auf Grund der großen Zahl von Betroffenen immer wieder dazu führen, daß auch die Zahl der Eingaben ansteigt - nicht zuletzt deshalb, weil oftmals bis zum
Abschluß eines Gesetzgebungsverfahrens vielen Bürgern noch nicht bekannt ist und zum Teil auch nicht bekannt sein kann,
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welche konkreten Regelungen mit welchen Auswirkungen am Ende geltendes Recht werden. - Sie haben es mit einfacheren Worten gesagt: was hinten herauskommt.
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Oftmals werden Interessenverbände, Gewerkschaften oder andere Zusammenschlüsse ihre Position auch dann noch verfechten und publizieren, wenn eine Kompromißlösung oder eine Abhilfe bereits in den parlamentarischen Beratungen erreicht wurde.
Für bedeutsam halte ich daher, daß unzähligen Bürgern bereits dadurch weitergeholfen werden kann, daß ihnen der Ausschußdienst eine Auskunft etwa über den Stand von Gesetzesinitiativen oder die Rechtslage geben, einen Rat erteilen oder Material übersenden kann. Auch ist es oft sehr hilfreich, wenn die Bürger an die zuständigen Stellen verwiesen werden können. Ich halte es schon für sehr wichtig, daß von den 15 697 Petitionen, die im vergangenen Jahr inhaltlich geprüft wurden, rund 40 Prozent auf diese Weise erledigt werden konnten. Das ist ein Anstieg gegenüber den Vorjahren. Im Mittel der letzten vier Berichtsjahre beträgt der Anteil dieser Erledigungen durch Rat, Auskunft, Verweisung oder Materialübersendung und anderes rund 39 Prozent. Ich glaube, daß sich dieses Ergebnis durchaus sehen lassen kann.
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1183 der inhaltlich überprüften Petitionen des vergangenen Jahres endeten für die Petenten sogar positiv. In vier Jahren waren es über 6 150 Petitionen, bei denen dem Anliegen der Petenten vollständig entsprochen werden konnte. Dies sind im Durchschnitt knapp 10 Prozent, was ich ebenfalls für bemerkenswert halte.
Abgesehen von Petitionen, in denen schwebende oder abgeschlossene Gerichtsverfahren einer sachlichen Prüfung im Wege stehen, von nicht zu prüfenden Meinungsäußerungen, anonymen oder verworrenen Eingaben - im Jahr 1997 waren es immerhin knapp 1 500 - sowie den Fällen, in denen die Eingabe an die Volksvertretung des zuständigen Bundeslandes abgegeben werden kann, gibt es naturgemäß auch eine beträchtliche Zahl von Eingaben, deren Anliegen im Petitionsausschuß nicht entsprochen werden konnte. 7 280 Fälle waren dies im Jahr 1997, 23 719 in den vergangenen vier Berichtsjahren, was rund 37 Prozent der inhaltlich geprüften Eingaben entspricht. Darunter sind nicht wenige von Dauerpetenten mit 200 Petitionen im Jahr sowie kuriose Fälle. Damit wird zugleich deutlich, daß umgekehrt in den weitaus meisten Fällen den Petenten weitergeholfen werden kann.
Zu den kuriosen Fällen zähle ich unter anderem die Petition, in der das Abtragen der Alpen und deren Wiederaufbau in der Sahara gefordert wird, damit dort mehr Wasser niederregnet.
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Ein anderer kurioser Fall war der, daß ein Arzt aus der ehemaligen DDR bei der SED-Kreisleitung beantragt hat, aus der Kirche auszutreten - dieses Begehren ist natürlich nie bei der Kirche angekommen -, und sich heute beschwert, daß er Kirchensteuer zahlen soll. Der Petent sollte lieber ein Stoßgebet an die Kirche senden; das aber können wir für ihn nicht erledigen.
Meine Damen und Herren, knapp 7 Prozent der Eingaben - 4286 Fälle, davon 655 im Jahr 1997 - wurden in den vergangenen Jahren der Bundesregierung überwiesen. In den meisten Fällen geschah dies als Material, um zum Beispiel zu erreichen, daß die Bundesregierung sie in die Vorbereitung von Gesetzentwürfen, Verordnungen oder anderen Initiativen und Untersuchungen einbezieht.
In 144 Fällen wurden im vergangenen Jahr die Petitionen der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen - in den vergangenen vier Jahren waren es 1218-, weil die Eingaben Anlaß dazu gaben, das jeweilige Anliegen noch einmal zu überprüfen und nach Möglichkeiten der Abhilfe zu suchen.
Schließlich hat der Deutsche Bundestag im Berichtsjahr zwölf Petitionen - in den vergangenen vier Jahren waren es ingesamt 209 Petitionen - der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen, weil das Anliegen des Petenten begründet und Abhilfe notwendig erschien.
Auch wenn hier schließlich nicht in allen Fällen eine vollständige Abhilfe geleistet werden konnte, hat der Petitionsausschuß die ihm zustehenden Rechte doch im Interesse des Bürgers vollständig genutzt.
211 Petitionen, die 1997 inhaltlich bearbeitet wurden, wurden den Fraktionen zur Kenntnis zugeleitet; 4 257 waren es in vier Jahren. Häufig geschah dies auch parallel zu einer Überweisung an die Bundesregierung. Durch dieses Verfahren erhalten die Fraktionen des Deutschen Bundestages die Möglichkeit, konkrete Vorschläge bei vorhandenen Initiativen zu berücksichtigen oder sie zum Anlaß für eigene Initiativen zu nehmen. Davon haben in den vergangenen Jahren sämtliche Fraktionen des Hauses immer wieder Gebrauch gemacht.
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages hat im Jahre 1997 wiederum Bürgerinnen und Bürgern in zahlreichen Fällen helfen können, ihr Anliegen durchzusetzen. Allerdings gab es in den Jahren 1991 bis 1993 sowie im Jahr 1995 weitaus mehr Petitionen als im Berichtsjahr 1997.
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1997 wurden insgesamt 19 653 Petitionen behandelt und 15 697 inhaltlich geprüft. Beide Zahlen lagen im Jahre 1996 noch deutlich höher.
1997 waren überdies 14 671 Nachträge zu verzeichnen; das sind weitere Schreiben der Petenten zu ihren registrierten Eingaben. Auch diese Zahl lag im Jahr 1996 mit 16 451 höher.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Anzahl der Bitten zur Gesetzgebung im Verhältnis zu den Beschwerden, also zu den Eingaben, die sich gegen das konkrete Handeln einer Behörde richten, beträchtlich gestiegen ist. Die Zahl der Legislativpetitionen stieg nämlich von 4 865 im Jahr 1996 auf 7 560 im Jahr 1997 an. Demgegenüber ging die Zahl der Beschwerden von 13 049 im Jahr 1996 auf 12 506 im Jahr 1997 leicht zurück.
Auch im Berichtsjahr 1997 hat sich die Tendenz der Vorjahre bestätigt, daß in den östlichen Bundesländern weit mehr Bürgerinnen und Bürger von ihrem Petitionsgrundrecht Gebrauch machen als in den alten Bundesländern. Während in den alten Bundesländern durchschnittlich rund 186 Petitionen auf 1 Million Bürgerinnen und Bürger entfallen, sind dies in den neuen Bundesländern 399 Petitionen, also mehr als doppelt soviel.
Die relativ größte Steigerung, nämlich von 299 auf 527 Petitionen je 1 Million Einwohner - das ist eine Steigerung um fast 78 Prozent -, war im Land Brandenburg zu verzeichnen.
Spitzenreiter ist nach wie vor das Land Berlin, in dem im Jahr 1997 sogar 558 Eingaben auf 1 Million Personen registriert wurden. Das bedeutet zugleich einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr mit 483 Eingaben pro 1 Million Einwohner.
Aus Sachsen gingen im Jahr 1997 - das zum Vergleich -1778 Petitionen ein; das sind 392 Petitionen je 1 Million Einwohner und knapp 9 Prozent aller eingehenden Petitionen.
In den vergangenen vier Berichtsjahren sind aus den neuen Bundesländern insgesamt 21 167 Petitionen eingereicht worden; das sind durchschnittlich 5 292 pro Jahr. Auch aus den Durchschnittszahlen der letzten vier Jahre wird deutlich, daß aus den neuen Bundesländern fast doppelt so viele Eingaben pro 1 Million Einwohner eingereicht wurden wie aus den alten Bundesländern.
Auf den großen Zuspruch, den der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages seitens unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern erfährt, habe ich von dieser Stelle aus auch schon mehrfach hingewiesen. Diesem Ausschuß kommt daher neben den Petitionsausschüssen der Landtage eine besonders große Bedeutung für das Zusammenwachsen unseres Volkes und die Vollendung der inneren Einheit zu.
Zu einem Teil mag die höhere Zahl von Petitionen aus den neuen Bundesländern darauf zurückzuführen sein, daß sich viele Menschen in unserem komplizierten Rechtssystem noch nicht so gut auskennen wie zahlreiche Bürger in den alten Bundesländern, die das Leben in unserem demokratischen RechtsWolfgang Dehnel
staat von klein auf gewohnt sind. An manchen Beispielen läßt sich jedoch auch belegen, daß sich Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern eher scheuen, die möglichen Rechtsbehelfe einzulegen und eventuell sogar vor Gericht ihr Recht zu erstreiten. Demgegenüber waren Eingaben an die ehemalige Staatsführung auch in der DDR weit verbreitet, gerade weil eine unabhängige Justiz nicht existierte und formal bestehende Rechte häufig eine Farce darstellten oder ihre Inanspruchnahme zu Nachteilen führte. Hinzu kam noch, daß die Staatssicherheit solche Petenten entsprechend bespitzelte und letztendlich sogar vor ein Gericht führen konnte.
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Ich bin glücklich, daß dieser Spuk endlich ein Ende hatte, und dazu noch ein friedliches.
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Meine Damen und Herren, die Darstellung aller noch so interessanten Statistiken mit ihrem so nüchternen Zahlenwerk ist kaum geeignet, ein realistisches Bild von der wichtigen Arbeit des Petitionsausschusses zu zeichnen. In über 20 000 Fällen haben sich Mitbürger mit einem Anliegen an den Deutschen Bundestag gewandt. Nichts macht das plastischer als einige Beispiele, die ich hier positiv herausstellen möchte:
So hat sich der Ausschuß bei der Bundesregierung dafür eingesetzt, Verbesserungen im Bereich des Unterhaltsvorschußgesetzes zu ermöglichen, um die vor allen Dingen alleinerziehende Mütter in zahlreichen Fällen beim Petitionsausschuß gebeten hatten.
Schon mehrfach hatte sich der Ausschuß mit der rentenrechtlichen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten beschäftigt, weil einige Petentinnen, die gleichzeitig erwerbstätig waren und ihre Kinder betreuten, dieses gefordert hatten. Das von der Koalition durchgesetzte Rentenreformgesetz 1999 sieht nun vor, daß Kindererziehungszeiten ab dem 1. Juli 1998 zusätzlich zu den bereits vorhandenen zeitgleichen Beitragszeiten in der Rentenversicherung angerechnet werden können. Zusammen mit der gestaffelten Anhebung der Bewertung der Kindererziehungszeiten bis zum Jahr 2000 auf 100 Prozent wurde damit - nicht zuletzt auf Grund der Tätigkeit des Petitionsausschusses - eine wichtige familienpolitische Verbesserung im Rentenrecht erreicht.
Mehrfach hat sich der Petitionsausschuß im Jahr 1997 mit der Frage der Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befaßt. So wurde in einer Petition, die sowohl von tschechischen und slowakischen Bürgern als auch von Bundesbürgern eingereicht worden war, eine individuelle Entschädigung für die überlebenden Opfer des Holocaust in der ehemaligen Tschechoslowakei gefordert. Während einer Delegationsreise in die Tschechische Republik im September 1997 hat der Petitionsausschuß Gespräche mit den Initiatoren geführt, die unter anderem von der Stiftung „Theresienstädter-Initiative" kamen. Dabei haben wir uns intensiv über die Gestaltungsmöglichkeiten der Entschädigung von tschechischen NS-Opfern ausgetauscht, die im Rahmen der Arbeit des Ende 1997 installierten deutsch-tschechischen Zukunftsfonds eine wichtige Rolle spielen sollten.
Zwar wurde in der deutsch-tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 eine individuelle Entschädigung für diese Opfergruppen nicht vereinbart; der Petitionsausschuß vertrat jedoch einhellig die Auffassung, daß über eine mit Mitteln des Zukunftsfonds einzurichtende Stiftung oder über ein Sozialwerk hier Abhilfe geleistet werden könnte. Um dies zu ermöglichen, wurden diese Petitionen Anfang April 1998 vom Deutschen Bundestag der Bundesregierung als Material zugeleitet, damit diese an den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds weitergereicht werden, der sich eingehend damit beschäftigen wird.
Zur Zeit liegen dem Petitionsausschuß außerdem mehr als 24 Petitionen sudetendeutscher Opfer tschechischer Gewalt vor, deren Anliegen sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ebenfalls annimmt. Wir haben im Petitionsausschuß auf eine beschleunigte Bearbeitung und auf eine Gleichbehandlung der Opfergruppen hingewirkt. Nachdem aber diese Petitionen erst sehr spät eingegangen sind, hat es leider einige bedauerliche Verzögerungen bei der Bearbeitung gegeben,
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die jedoch nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden sollten. Diese Petitionen von Opfern müssen nun auf deutscher Seite schnell abschließend bearbeitet werden, damit der Ausschuß sie in der letzten, verbleibenden Sitzungswoche Anfang September noch beraten und der Bundesrat sie beschließen kann. Sie sollten der Bundesregierung ebenfalls als Material zugeleitet werden, damit der deutsch-tschechische Zukunftsfonds die Möglichkeit hat, diese Petitionen in seine Tätigkeit einzubeziehen und dieser Gruppe von Opfern ebenfalls zu helfen.
Auch die Umweltbelastungen und die Waldschäden im deutsch-tschechischen Grenzgebiet waren immer wieder Gegenstand von Petitionen besorgter Bürger. So ging 1997 eine Sammelpetition mit 5000 Unterschriften ein, in der gegen die anhaltende Luftverschmutzung im Erzgebirge protestiert wurde. Die vor allem im sächsischen Bereich zu spürenden Belastungen waren auch Gegenstand von Gesprächen des Petitionsausschusses mit Mitgliedern der tschechischen Regierung sowie mit Vertretern des Parlaments in Prag. Inzwischen konnten durch die gemeinsamen Bemühungen von Bundestag, Bundes-
und Landesregierung deutliche Verbesserungen erreicht werden, so daß bis zum Jahresende 1998 sämtliche Braunkohlekraftwerke auf tschechischer Seite mit Filteranlagen umgerüstet oder stillgelegt sein werden. Darüber freue ich mich als gebürtiger Erzgebirgler besonders.
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Eine Bürgerin begehrte mit ihrer Petition Pflegegeld für ihren vollinvaliden bei ihr in Italien lebenden Vater. Nachdem auf Grund dieser Eingabe das Bundesarbeitsministerium in enger Kooperation mit dem italienischen Arbeits- und Sozialministerium sowie mit der Europäischen Kommission eine gemeinschaftsrechtliche Klärung erreichen konnte, die auch in weiteren Fällen Abhilfe schaffen wird, konnte diese Petition positiv entschieden werden.
Diese wenigen Beispiele belegen erneut deutlich die bürgernahe Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Obwohl die Mitglieder des Petitionsausschusses die oft umfangreichen Berichterstattungen zusätzlich zu ihrer Mitwirkung in den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages übernehmen, können sie auf gute Ergebnisse verweisen. Ich möchte mich an dieser Stelle daher ausdrücklich für die gute und kollegiale Zusammenarbeit mit all meinen Kollegen im Petitionsausschuß bedanken und hoffe natürlich, daß möglichst viele von ihnen als gestandene Mitglieder in der neuen Legislaturperiode wieder dabeisein werden.
In vielen Fällen haben wir von vornherein oder nach der Erörterung im Ausschuß einvernehmliche Voten erzielen können. Es liegt in der Natur der Sache, daß politisch grundsätzlich strittige Fragen in anderen Fällen ein übereinstimmendes Votum nicht ermöglichten. Dieser Meinungsstreit gehört zur Politik wie das Salz zum Brot. Wenn dann im Plenum vornehmlich aus den Reihen der Opposition Änderungsanträge zu Voten des Petitionsausschusses gestellt werden, die dann selbstverständlich mit der Koalitionsmehrheit abgelehnt werden,
({9})
so gehört auch dies zum parlamentarischen Alltag und Brauch. Das ist eine ganz normale Sache; das ist auch ein Gesetz der Demokratie.
Wesentlich ist aber - ich möchte es noch einmal betonen -, daß in über der Hälfte aller Eingaben für die betroffenen Bürger eine Lösung, ein positiver Fortgang ihrer Angelegenheiten oder jedenfalls einer Aufklärung erreicht und sie in zahlreichen weiteren Fällen über die Gründe für bestehende Regelungen informiert werden konnten. Dies alles wäre ohne das unermüdliche Schaffen des Ausschußdienstes nicht denkbar.
({10})
- Ich kann jetzt leider nicht mitklatschen. - Dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möchte ich an dieser Stelle namens meiner Fraktion ganz herzlich danken. Mein Dank möchte ich nicht nur für die Arbeit im Berichtsjahr 1997 aussprechen, sondern für die gesamte Legislaturperiode. Ich möchte auch den Ministern und Staatssekretären für ihre gute Zusammenarbeit mit dem Petitionsausschuß danken.
Dank gilt letztlich auch unserer Vorsitzenden, Frau Nickels, mit der wir alles in allem recht gut zusammengearbeitet haben. Das war auch wichtig, um das große Arbeitspensum bewältigen zu können.
Meine Damen und Herren, der Jahresbericht über die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen
Bundestages im Jahre 1997 wie auch die Bilanz bezüglich der Arbeit des Ausschusses in der ablaufenden Legislaturperiode belegen ganz deutlich, wie wichtig die Funktion des Petitionsausschusses ist.
Die Bilanz ist nach meiner Auffassung recht positiv und unterstreicht auch die Effektivität des Ausschusses, so daß, wie ich meine, kein Bedarf besteht, daneben eine weitere Institution, wie zum Beispiel einen Ombudsmann, zu installieren.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Bernd Reuter, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Wolfgang Dehnel, natürlich schließe ich mich dem Dank für die gute Zusammenarbeit an. Aber mein Dank, insbesondere auch an die Ministerien, fällt spärlicher aus. Gerade das Auswärtige Amt hat uns doch im Ausschuß einige spannende Diskussionen beschert - oder sehe ich das falsch?
({0})
Natürlich muß ein Vertreter der Koalition so reden wie Sie. Aber ein bißchen mehr Kritik an unserer Arbeit und vor allen Dingen an den Ergebnissen mit der Bundesregierung hätte ich schon erwartet.
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- Aber sicher!
Die ... Mitglieder des Petitionsausschusses ... verstehen sich als Anwälte der Bürgerinnen und Bürger, gewissermaßen als deren verlängerter Arm. In ihrem Interesse versuchen sie, bürokratische Hemmnisse und Widerstände zu überwinden und berechtigten Beschwerden zum Erfolg zu verhelfen.
So heißt es in der Informationsschrift des Deutschen Bundestags „ Stichwort Petitionen" .
Die hohe Zahl von Eingaben im Jahr 1997 scheint diesem Selbstverständnis recht zu geben: 20 066 Petitionen - das sind 12 Prozent mehr als im Jahr 1996. Einerseits zeigt diese Zahl, daß die Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit von Politik offensichtlich nicht gänzlich verloren haben. Sie widerspricht damit der so häufig beklagten Politikverdrossenheit.
Andererseits zeigt die Zahl von 20 066 Eingaben im Jahr 1997 aber auch, daß die Bürgerinnen und Bürger zunehmend mit der Politik der Bundesregierung und ihren Auswirkungen unzufrieden sind.
({2})
Wie sonst könnte man den Anstieg der Petitionen gerade im Bereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung sowie im Bereich des Bundesministers für Gesundheit erklären? Gerade in diesen Bereichen sind doch die von der Regierung hochgelobten sogenannten Reformen im Jahr 1997 verabschiedet worden bzw. in Kraft getreten: das sogenannte Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - man nennt es wohl besser „Sozialabbaugesetz" - und die sogenannte Gesundheitsreform. Demgemäß stieg gerade die Zahl der auf den Bereich des Bundesministers für Arbeit entfallenden Petitionen um 33,5 Prozent - um ein Drittel, Herr Kollege Dehnel -; die Zahl der auf den Bereich des Bundesministeriums für Gesundheit entfallenden Petitionen stieg sogar um 70,63 Prozent.
Wenn Sie hier Zahlen zitieren, die Zufriedenheit der Menschen an Hand dieser Zahlen begründen und dann noch Sachsen mit Brandenburg vergleichen, dann ist das alles zwar sehr schön und füllt auch Ihre Redezeit, aber es gibt nicht die Tendenzen und die Entwicklungen wieder, die doch bei unseren Beratungen auftreten.
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- Ich mache nicht unsere eigene Arbeitsstätte schlecht. Vielmehr bin ich der Meinung, daß wir kritisch hinterfragen müssen, ob das, was wir machen, auch sinnvoll ist, gut ankommt und den Menschen in unserem Lande dient, und nicht, ob wir eine Regierung im Amt behalten, die uns diese Sachen beschert. Das ist doch unsere Aufgabe.
({4})
„Offenbar wird die Sozialpolitik der Koalition nicht so kritisch gesehen, wie dies die Opposition so gern öffentlich behauptet", sagte unser CDU-Kollege Helmut Heiderich bei der Diskussion des Jahresberichts 1996. Da muß ich ihm heftig widersprechen.
Auf jeden Fall sehen die Petentinnen und Petenten, die sich in fast 600 Eingaben gegen die rentenrechtlichen Regelungen des sogenannten Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes wandten, dies ganz anders. Sie beanstanden, daß ihre Rente infolge der Neuregelungen um 20 bis 50 Prozent hinter der auf der Grundlage des alten Rechts in Aussicht gestellten Rente zurückbleibe. Die große Zahl dieser Petitionen betrifft Frauen, die einen Lebenslauf aufweisen, der gerade dem Familienbild der CDU/CSU entspricht. Frauen, die wegen Zeiten der Kindererziehung und Familienversorgung aus dem Beruf ausgeschieden sind und daher eine gebrochene Rentenbiographie aufweisen, werden nunmehr durch diese gesetzlichen Neuregelungen abgestraft.
Eine Petentin schreibt zum Beispiel:
Ich habe mir im vorigen Jahr meine Rente ausrechnen lassen, da kam eine Summe von 367,41
DM heraus. Nun habe ich meinen Rentenbescheid bekommen, der beträgt 300,91 DM. Auf meinen Widerspruch bekam ich den Bescheid, daß ab 1. 1. 1997 ein anderes Gesetz besteht. Das kann doch nicht wahr sein, von so einer kleinen Rente noch 66,50 DM abzuzwacken.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition erkannten das Problem zwar, waren aber nicht willens, eine Lösung zu suchen, und schlossen die Petition als ergebnislos ab. Wir wollen das nicht so akzeptieren, meine Damen und Herren.
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Aber Sie von der Koalition können unserem Änderungsantrag auf der Sammelübersicht 363 morgen noch zustimmen, um das Problem zu heilen.
20 066 Petitionen gab es 1997. Doch die Bundesregierung denkt überhaupt nicht daran, die Arbeit des Petitionsausschusses wirklich ernst zu nehmen. Im Jahr 1997 überwies der Deutsche Bundestag der Bundesregierung fünf - ich wiederhole: fünf - Petitionen zur Berücksichtigung. Im Berichtszeitraum wurde keine von ihnen positiv erledigt.
In einem Fall hatte der Petitionsausschuß nach mehrfachen Beratungen in den Jahren 1993, 1994, 1995 und 1997 einstimmig beschlossen, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen. Die Petenten, die Arbeitsgemeinschaft „Ziviles Vogelsang", hatten gefordert, durch Verhandlungen mit der belgischen Regierung auf eine Beendigung der militärischen Nutzung des Truppenübungsplatzes Vogelsang bis zum Jahr 2000 hinzuwirken. Da die zuständigen Minister keine Anstalten machten, der Beschlußempfehlung nachzukommen, machte der Petitionsausschuß von seiner Befugnis Gebrauch und führte eine Anhörung durch. Am Ende der lebhaften Diskussion, in der sich wiederum die Ausschußmitglieder aller Fraktionen für die Auflösung des Truppenübungsplatzes Vogelsang aussprachen, erklärte der Bundesminister der Verteidigung kurz und knapp:
Die Bundesregierung wird keine Verhandlungen mit dem Königreich Belgien zwecks Auflösung des Truppenübungsplatzes Vogelsang führen.
Von den 66 im Jahr 1997 überwiesenen Erwägungsfällen wurden lediglich 18 positiv erledigt. Ich finde, das ist keine überragende Trefferquote.
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Ein besonderes Beispiel für die Mißachtung des Parlaments und seiner Gremien möchte ich an dem Beispiel einer Petition erläutern, die sich gegen den Umzug des Katholischen Militärbischofsamtes von Bonn nach Berlin wandte. Mit großer Mehrheit hatte der Petitionsausschuß dem Plenum empfohlen, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen. Im Plenum wurde die Petition dann auf Antrag der Koalition auf einen Erwägungsbeschluß herabgestuft. Das war übrigens der einzige Änderungsantrag, den die Koalitionsfraktionen in der laufenden Wahlperiode zu Beschlußempfehlungen des Ausschusses eingebracht haben.
Doch selbst diesem von der Koalition herabgestuften Erwägungsbeschluß gedenkt die Bundesregierung nicht nachzukommen. In der Fragestunde am 29. April 1998 antwortete der Parlamentarische Staatssekretär beim Verteidigungsministerium, der Kollege Dr. Klaus Rose, auf die Frage, ob die Bundesregierung ihre Entscheidung zum Berlin-Umzug des Katholischen Militärbischofsamtes getroffen habe, bevor der Petitionsauschuß zu einem abschließenden Ergebnis gekommen sei,
daß die Entscheidung auf Grund verschiedener Umstände von anderen getroffen wurde,
- man hat wohl gemeint: von Militärbischof Dyba daß die Bundesregierung dieser Entscheidung nachkommt und nicht warten kann, bis der Petitionsausschuß irgendwann und irgendwie zu einer entsprechenden Abstimmung kommt.
Eine derartige Äußerung durch einen Staatssekretär beweist, daß diese Bundesregierung überhaupt nicht daran denkt, die 'Beschlüsse des Bundestages zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn umzusetzen. Denn eine Entscheidung des Petitionsausschusses - später bestätigt durch den Beschluß des Bundestages - ist eine Willensbildung des gesamten Parlaments. Ich erwarte von einer Bundesregierung, daß sie einem solchen Beschluß nachkommt und nicht durch falsche Erklärungen und Antworten noch den Eindruck vermittelt, als würden wir im Petitionsausschuß auf den Akten sitzen und nichts tun. So geht das nicht.
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Diese Aussage dokumentiert auch eine grobe Mißachtung des Parlaments und eines seiner Ausschüsse. Gleichzeitig diskreditiert sie damit aber auch die engagierte Arbeit der Mitglieder des Petitionsausschusses, mit der diese nicht selten - darauf hat der Kollege Dehnel zu Recht hingewiesen - auch parteiübergreifend versuchen, ihrem Selbstverständnis als Anwälte der Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden.
Ich muß deutlich sagen: Es muß einmal Schluß sein mit den Sonntagsreden zum Petitionsrecht. Es wird höchste Zeit, daß die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen und Sorgen wieder ernster genommen werden. Diese Regierung ist arrogant und verbraucht, wenn ich mir die Antwort von Klaus Rose vergegenwärtige. Sie ist nicht mehr in der Lage, die Probleme zu lösen.
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- Herr Kollege Hörster, auch wenn Sie jetzt ein Bonbon einschieben, ist das, was ich sage, Tatsache.
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Ich füge hinzu: Wenn wir weniger Petitionen wollen, brauchen wir eine bessere Politik. Eine bessere Politik wird durch eine bessere Regierung gewährleistet. Eine bessere Regierung wieder ist bereit, mehr Entscheidungen des Petitionsausschusses zu beachten. Dafür sollten wir gemeinsam streiten. In diesem Sinne danke ich ihr.
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- Ich kann auch leiser reden, aber manchmal, wenn man engagiert ist, ist es besser, wenn man etwas lauter spricht, weil das die Schläfrigkeit des Parlaments um diese Uhrzeit zu überwinden hilft.
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In diesem Sinne bitte ich diejenigen, die ich mit meiner Stimme in ihren Ohren beleidigt habe, um Entschuldigung.
Schönen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.
Er wischte die Briefe vom Tisch, und es war ihm, als höre er sie dort stöhnen und jammern, sie schimpften und fluchten ihm, da lagen Bitten, und da waren Erbitterung, Drohungen mit Selbstmorden und Drohungen mit Attentaten, das rieb sich, scheuerte und entzündete sich, das wollte leben, wollte Renten, Versorgungen, ein Dach über dem Kopf, wollte Befreiungen, Beihilfen, Straferlasse, eine andere Zeit, das wollte seine Wut loswerden, seine Enttäuschung beichten, seine Ratlosigkeit gestehen oder seinen Rat aufdrängen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kennen das, was hier geschildert wird: Es ist die verzweifelte Klage des Kollegen Keetenheuve aus dem Petitionsausschuß. Keetenheuve war 1953 der tragische Held im Roman „Treibhaus" des Schriftstellers Wolfgang Koeppen. Es war natürlich kein Zufall, daß Wolfgang Koeppen in seinem Bonner ,,Treibhaus" den Abgeordneten Keetenheuve als Mitglied des Petitionsausschusses den Alltag des Deutschen Bundestages erleiden ließ. Keetenheuve war mit seinem Ansinnen, Menschen zu helfen, denen Unrecht widerfahren war, damals schon ein Exot, ein „Menschenrechtsromantiker", wie ihn auch damals schon die Regierenden titulierten.
Der Roman zieht eine bittere Bilanz der ersten Jahre unserer Republik. Keetenheuve ist desillusioniert von der Anonymität politischer Mechanismen und von der Unmöglichkeit, jenseits von Parteiopportunismus zum Wohle der Menschen im Bundestag tätig zu sein. Keetenheuve nimmt sich das Leben.
Am Ende meiner Bilanz steht nicht Keetenheuves Resignation, sondern nach wie vor die Freude an der Arbeit für Bürgeranliegen, meine Lust daran, im Team zusammen mit unserem Ausschußdienst, ohne den unsere Arbeit gar nicht möglich wäre, und zuChrista Nickels
sammen mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu arbeiten.
Wir vom Petitionsausschuß haben im Berichtszeitraum und darüber hinaus in sehr, sehr vielen Einzelfällen helfen können. Allein dafür hat sich unsere Arbeit schon gelohnt.
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Die Abgeordneten und der Ausschußdienst haben eine Fleißarbeit geleistet, die man nicht hoch genug bewerten kann. Die Zahlen wurden hier schon genannt, ich brauche sie nicht zu wiederholen. Unser Ausschuß hat gut gearbeitet. Dafür möchte ich mich noch einmal bei allen bedanken.
Der letzte Jahresbericht der Legislaturperiode gibt Gelegenheit zu einer erweiterten Bilanz und Rückschau, denn dieser Jahresbericht ist auch der letzte Jahresbericht eines Petitionsausschusses der „Bonner Republik" . In diesem Sinne kreist meine Bilanz um denselben Kern wie Koeppens Roman. Zehntausende von Bürgern und Bürgerinnen haben uns ein Bild vom Leben in unserem Land in all seinen Facetten vermittelt. Wir haben erlebt, wie die Politik darauf reagiert.
Nach den vier Jahren frage ich mich: Was passiert eigentlich im Moment mit unserer Demokratie? Was passiert mit der Demokratie, wenn der Einsatz für Menschenrechte, wenn die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an dieser Demokratie als exotisch empfunden wird, wenn das abschätzig als „weiche" Politik bezeichnet wird, die hinter den „harten", als wirklich wichtig eingestuften Politikfeldern zurückstehen muß? Hier die weiche Politik für die „Gutmenschen" und „Menschenrechtsromantiker" im Petitionsausschuß und da die harte Politik für harte Männer, Macher und Durchzocker?
Wir wissen, was passiert. Heute springt nicht mehr der Abgeordnete Keetenheuve von der Brücke, sondern die Bürgerinnen und Bürger verlassen das Schiff und wenden sich von unserer Demokratie ab. Die Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt sind ein deutliches Menetekel dafür, das wir hier nicht ernst genug nehmen können. Es hat sich viel geändert im Deutschen Bundestag, seit sich der Abgeordnete Keetenheuve 1953 im Roman von Koeppen in den Rhein gestürzt hat. Aber leider erleben wir immer noch sehr viel von dem, was in diesem Roman geschildert wird. Die Sorgen und Nöte der Menschen sind nicht weniger geworden. Die Bürokratie folgt dem Bürger wie ehedem auf dem Fuß. Seien wir ehrlich: Auch wir im Petitionsausschuß werden heute noch oft von unseren Kolleginnen und Kollegen im Stich gelassen und belächelt, wenn wir von der Arbeit im „Kummerkasten der Nation" berichten und parlamentarische Aktion einfordern. Der Petitionsausschuß hat bis heute leider immer noch nicht den Stellenwert im Parlament, der ihm zukommen muß.
Darum können wir uns trotz der positiven Bilanz unserer guten Arbeit im Ausschuß nicht zufrieden zurücklehnen. Wir hätten besser sein müssen. Wir hätten besser sein müssen, weil wir Fehler in der Ausschußarbeit erkannt haben und diese nicht beseitigt haben. Wir hätten besser sein müssen, weil wir gemeinsam Fehler in der Gesetzgebung und im Einzelfall erkannt haben, aber nicht genügend Durchsetzungsvermögen mobilisieren konnten, unsere Meinung gegen Widerstände in Parlament und Regierung durchzusetzen. Wir hätten besser sein müssen, weil es eben nicht reicht, im Einzelfall zu helfen, so wichtig und gut das ist, sondern weil der Petitionsausschuß auch eine besondere politische Funktion hat.
Wir haben eine große Verantwortung, denn der Petitionsausschuß ist der einzige Ausschuß im Deutschen Bundestag, in dem die Menschen selbst direkt und unmittelbar am Verfahren des Bundestages teilnehmen und betroffen sind. Die Legitimität von Demokratie, von demokratischer Regierung beruht auf dem Glauben an die Gerechtigkeit des geltenden Rechts und die gerechte Ausübung der Herrschaft der durch das Volk dazu Berufenen. Dort aber, wo sich die Menschen einer undurchsichtigen Schreibtischherrschaft gegenübersehen, die sich der politischen Kontrolle entzieht, verlieren sie den Glauben an das Recht und die Politik.
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Genau an diesem Punkt, dort, wo sich die Bürger einem undurchsichtigen, nicht begreifbaren und dadurch als ungerecht empfundenen Verfahren ausgesetzt sehen, wenden sie sich hilfesuchend an den Petitionsausschuß. Das heißt, daß der Bürger grundsätzlich in diesem Augenblick noch ein Vertrauen in demokratische Verfahren hat, auch wenn er sich im konkreten Fall ungerecht behandelt fühlt oder eine unrichtige Gesetzgebung erkannt hat.
Der Petitionsausschuß hat also an dieser sensiblen Stelle nichts Geringeres zu bewerkstelligen, als dieses Vertrauen in die demokratischen Verfahren, in demokratische Institutionen, in die Lösungskompetenz des Parlaments zu bestätigen und zu festigen. Es hat fatale Folgen, wenn das nicht gelingt, wenn die Menschen auch vom Bundestag den Eindruck gewinnen, daß hier nach ebenso undurchsichtigen, für sie nicht nachzuvollziehenden Verfahren gehandelt und entschieden wird.
Es ist ein hoher Anspruch, den die Verfassung und die Bürger an uns stellen. Unsere Arbeit ist ein dauernder Drahtseil- und Balanceakt zwischen diesen hohen Erwartungen auf der einen Seite und der noch viel zu oft erlebten Mißachtung dieser Arbeit durch Parlament und Regierung. Man hört wohlfeile Sonntagsreden über unseren Ausschuß, aber wenn es darum geht, Tatsachen zu schaffen, sind wir nicht wichtig.
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Wir haben schlechte Debattenzeiten, zu kurze Beratungszeiten im Ausschuß. Ständig wird an den Stellen im Ausschußdienst herummanipuliert. Wie oft mußte der Geschäftsordnungsausschuß angerufen werden, um wenigstens unsere verbrieften Parlamentsrechte einzuklagen.
Es gibt rühmliche Ausnahmen. Die Bundestagspräsidentin, Frau Rita Süssmuth, bemüht sich ebenso wie der Vorsitzende des GO-Ausschusses, Herr Wiefelspütz, die Arbeit unseres Ausschusses zu fördern. Ich möchte auch Frau Mascher, der Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, für die vorbildliche Bearbeitung unserer Eingaben nach § 109 der Geschäftsordnung in ihrem Ausschuß danken. Andere Ausschüsse kooperieren schlecht, und viele Ausschüsse reagieren auf die Bitte um Stellungnahme, die wir ihnen übersenden, mit Gleichgültigkeit. Es scheint, die Bearbeitung ist lästig.
In der kleinen Parlamentsreform war vorgesehen, die Ausschußarbeit insgesamt zu intensivieren und durch erweiterte öffentliche Ausschußsitzungen das Plenum zu entlasten. Das Gegenteil ist eingetreten. Wir haben in unserem Ausschuß durch die hohe Zahl der Petitionen weniger Zeit zur Beratung als je zuvor, und mittlerweile wird selbst der Mittwoch, der Ausschußtag für alle Ausschüsse, häufig durch ein volles Plenumsprogramm verstopft. Die Erfahrungen aus dem Petitionsausschuß zeigen in aller Deutlichkeit, daß und wo die Geschäftsordnung des Bundestages insgesamt dringend verbessert werden muß, wenn wir uns nicht als Parlamentarier unsere Arbeitsmöglichkeiten verstopfen wollen.
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Es hilft keinen Deut weiter, wenn Abgeordnete des Petitionsausschusses selbst Angst vor der eigenen Courage haben.
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Der Petitionsausschuß soll Anwalt der Bürgerinnen
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und nicht Verteidiger der Bundesregierung sein, so wie er auch nicht der Kampfausschuß der Opposition ist. Darum, daß er beides nicht ist, müssen sich die Ausschußmitglieder bemühen.
Wir haben in der überwiegenden Zahl der Petitionen einstimmige Beschlüsse gefaßt. Wir haben im Interesse der Bürgerinnen und Bürger und des Parlaments hart gearbeitet und sehr viele konkrete und kreative Lösungsvorschlage vorgelegt. Wir hätten aber in öffentlichen Ausschußsitzungen für die gute Arbeit, die wir selber leisten, und für die Arbeit des Parlaments werben können. Das haben manche von uns leider bis heute nicht begriffen und diesen Fortschritt, der möglich gewesen wäre, blockiert.
Die Bundesregierung spielt in unserer Arbeit oft eine unrühmliche Rolle. Kollege Reuter hat schon einiges dazu gesagt. Es ist Bürgerinnen und Bürgern nicht erklärbar, wenn Abgeordnete sagen: „An Ihrem Einzelfall zeigt sich deutlich, daß das Gesetz Auswirkungen hat, die der Gesetzgeber nicht wollte" . Der Petitionsausschuß beschließt später einstimmig eine Regelung, und wir sehen uns außerstande, sie durchzusetzen. Das ist ein Beitrag zur Politikverdrossenheit.
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Hier ist schon einiges über die Art und Weise gesagt worden, wie sich der oberste Dienstherr der Bundeswehr, Herr Rühe, in Petitionsangelegenheiten bei der Bevölkerung nicht gerade beliebt macht und keinen Beitrag dazu leistet, die Akzeptanz der Bundeswehr und auch das freundschaftliche Zusammenleben der Standorte mit der Bevölkerung, die das ausdrücklich will - was wir als Petitionsausschuß auch wünschen -, zu fördern. Vogelsang und auch das Katholische Militärbischofsamt wurden hier schon genannt.
Ein Musterbeispiel zur Förderung von Politikverdrossenheit ist auch die Petition zum sogenannten Windpark Nattingen. Hier droht die Bundeswehr, zwei Bauern aus dem ostwestfälischen Borgentreich in den Konkurs zu treiben. Sie verlangt den sofortigen Abriß einer Windkraftanlage, in die die Landwirte 3,8 Millionen DM investiert haben. 400000 DM schoß das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium zu. Angeblich stören die Windmühlen eine nahegelegene militärische Radarstation. Kompromißvorschläge oder wissenschaftliche Gutachten spielen bei der Beurteilung durch das Ministerium keine Rolle. Die ganze Angelegenheit „entpuppt sich nun durch possenhafte Widrigkeiten als Steuergeldvernichter", bemerkt der „Focus".
Ich bin sehr froh, daß wir in dieser Legislaturperiode ein besonderes Kapitel einvernehmlich in die Jahresberichte eingefügt haben, und zwar das der frauenspezifischen Petitionen. Hier wird in der Auswirkung sehr klar, daß die besondere Situation von Frauen und ihre besonderen Erfahrungen im Alltag vom Gesetzgeber oftmals nicht gesehen werden, was sicherlich damit zu tun hat, daß wenige Frauen in den entsprechenden Stellen das Sagen haben. Ich freue mich, daß dies durch dieses Kapitel deutlich wird.
Zwei Themenkomplexe haben mich besonders zornig und traurig gemacht. Einmal ist dies die Gnadenlosigkeit und Härte des deutschen Asylrechts, die durch die Arbeit des Petitionsausschusses auch im Jahre 1997 wieder dokumentiert wird. Wenn man sich die vielen Akten ansieht - wir sind in der glücklichen und manchmal auch bedrückenden Situation, nicht am grünen Tisch zu schwadronieren und über Paragraphen zu reden, sondern auf Grund von vielen, vielen Akten und Einzelschicksalen zu entscheiden -, so muß man sagen, daß sie eine eindeutige Sprache über das jeweilige Schicksal sprechen.
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Das Ausländer- und Asylrecht ist so verfaßt, daß keine Gnaden- und Härtefallmöglichkeit gegeben ist. Offenbar werden auch Menschen, die gefoltert worden sind, zurückgeschickt. Ich finde es sehr bedauerlich, daß sich unser Ausschuß nur in einem einzigen Fall dazu durchringen konnte, ihn der Bundesregierung mit der Bitte zu überweisen, Möglichkeiten der Abhilfe zu schaffen.
Das zweite, das mir nach vielen Jahren - ich bin in der dritten Legislaturperiode hier - immer noch an die Substanz geht, ist der Umgang mit NS-Opfern.
Wir haben, wie Kollege Dehnel schon sagte, durch unsere Arbeit viel erreicht. Darauf können wir stolz sein. Aber -
Frau Kollegin Nickels, es tut mir leid, aber Sie müssen auf die Zeit achten.
Das will ich machen. Wenn Sie mir vielleicht -
Ich gestatte Ihnen noch zwei bis drei Sätze. Aber dann müssen Sie zum Schluß kommen.
Das Problem ist, daß ich mich als Ausschußvorsitzende sehr engagiert in die Arbeit knie und zwei oder drei Punkte gerne noch nennen würde. Dazu werde ich aber zwei Minuten brauchen. Wenn das nicht geht, müßte ich abbrechen.
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Machen Sie einmal weiter.
Danke schön.
Wir haben als Ausschuß insgesamt oftmals den Eindruck, daß im Finanzministerium einige Ministerialbeamte sitzen, für die die Paragraphen wichtiger sind als das, was wir als Ausschuß insgesamt zugunsten der vergessenen Opfer des Nationalsozialismus als änderungsbedürftig ansehen. Es ist erschütternd und tut sehr weh, den lebenslangen Kampf dieser Menschen gegen Ignoranz und Bürokratie zu verfolgen und vom Ausschuß in etlichen Fällen einstimmige Voten zu haben und sie nicht durchsetzen zu können.
In der Frage möchte ich ganz besonders Frau Staatssekretärin Karwatzki danken. Frau Staatssekretärin Karwatzki hat eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt, daß wir gerade in der Frage der Entschädigung und Rehabilitierung der Zwangssterilisierten und Euthanasiegeschädigten in vielen Punkten für diese Betroffenen etwas tun konnten.
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Die Arbeit im Petitionsausschuß ist ein innerparlamentarischer Marsch durch die Institutionen. Wir stehen am Ende dieser Legislaturperiode, aber vor einer neuen Etappe. Mit den Instrumenten der „Bonner Republik" wird der nächste Bundestag nicht auskommen. Das gilt auch für uns im Petitionsausschuß. Die Politik muß sich auf neue Bedingungen einstellen.
Angesichts wachsender Probleme und schwindender Ressourcen wird das Leben für die Menschen in unserem Land schwerer. Aber die Erfahrung im Petitionsausschuß zeigt, daß die Menschen auch in schwierigen Umbruchsituationen eben nicht egoistisch geworden sind. Sie sind bereit, mit eigener Leistung in einem gerechten und sozialen System auch für andere, für Schwache einzutreten. Ohne dieses Engagement ist eine demokratische Zivilgesellschaft nicht denkbar. Diese wertvolle Ressource des uneigennützigen Bürgerengagements müssen wir fördern und nicht verprellen und erschweren.
Die Bürgerinnen und Bürger haben aber auch den Anspruch, bei den sie betreffenden Entscheidungen und Strukturveränderungen gehört und beteiligt zu werden. Unser Ausschuß ist ein Gradmesser für die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich zu engagieren, und die des Parlaments, dies aufzunehmen und in bürgernahe Politik umzusetzen. Wir müssen hier im Parlament noch deutlich nachbessern. Ich hoffe, daß die neue Legislaturperiode die Chance bietet, das 'auch zu tun.
Schönen Dank.
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Ich kann es nicht ändern, aber die Redezeiten sind so, wie sie sind. Wenn ich nun einer Kollegin dreieinhalb Minuten mehr zubillige, werde ich auch bei den anderen Rednern ein kleines bißchen großzügiger sein. Das geht nicht anders.
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Jetzt hat der Kollege Günther Nolting das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, ich werde versuchen, meine Redezeit nicht voll auszuschöpfen, so daß sich die verlängerte Redezeit der Kollegin Nickels wieder ausgleicht.
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So tolerant zeigen wir uns auch in anderer Weise im Ausschuß.
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- Sie können das doch nicht bestreiten. Das ist nun einmal so.
Ich nehme die Diskussion über den Jahresbericht des Petitionsausschusses gern zum Anlaß, auf die meist unspektakuläre, aber doch sehr umfangreiche Arbeit des Ausschusses und seiner Mitarbeiter noch einmal aufmerksam zu machen und diese auch zu würdigen.
Frau Kollegin Nickels, Sie haben das Selbstverständnis des Petitionsausschusses angesprochen, Sie haben den Stellenwert des Petitionsausschusses im Parlament beklagt, und Sie haben Kritik vorgebracht. Ich will Ihnen dazu sagen, daß ich Ihre Kritik in weiGünther Friedrich Nolting
ten Teilen nicht teilen kann. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt darauf eingehen.
Ich bezeichne den Petitionsausschuß nach wie vor als Anwalt des Bürgers. Ich sehe in diesem Petitionsausschuß nach wie vor den Kummerkasten der Nation. Ich denke, daß die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes dies genauso sehen und auch die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Ausschusses erkennen; denn - der Kollege Dehnel hat vorhin schon darauf hingewiesen - wir haben einen zwölfprozentigen Anstieg auf jetzt über 20000 Eingaben. Ich denke, Herr Kollege Reuter, es ist unangebracht, daß Sie diesen Anstieg beklagen. Ich hatte den Eindruck, daß Sie dies beklagen. Ich sage dazu vielmehr - das sage ich auch in Richtung der Kollegin Nickels -: Die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen in die Politik; denn wenn dies nicht so wäre, würden sie sich nicht an den Petitionsausschuß wenden.
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Frau Kollegin Nickels, lassen Sie mich noch eines sagen. Ich nehme Ihnen persönlich das ab, was Sie hier an Sorgen bezüglich der Entwicklung in dieser Demokratie vorgetragen haben. Aber Sie müssen sich auch als Mitglied einer Partei fragen, ob das opportunistische Verhalten Ihrer Partei, die eine Vielzahl von eigenen Beschlüssen über Nacht mit weißer Tünche versieht, in der Öffentlichkeit für mehr Demokratie wirbt oder ob dies für die Demokratie nicht letztendlich schädlich ist.
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Herr Kollege Reuter, ich sage Ihnen noch einmal: Ihre Kritik, die Sie auch gegenüber der Regierung geäußert haben, ist unangebracht. Wir sind das Parlament. Wir sind der Gesetzgeber. Wenn Sie Kritik äußern, dann müssen Sie sie auch in den eigenen Reihen äußern.
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Sie beschädigen mit solchen Aussagen, Herr Kollege Reuter, letztendlich die Arbeit des Petitionsausschusses, was insbesondere deshalb bedauerlich ist, weil mehr als 90 Prozent der Petitionen in diesem Ausschuß einvernehmlich beschlossen werden.
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Wenn Sie die Regierung kritisieren, Herr Kollege Reuter - ich glaube, es gibt keine Parlamentsdebatte, in der die Regierung so vollständig vertreten ist -, dann will ich Ihnen entgegenhalten: Sie sind es, die SPD ist es, die zur Zeit den Bürgerinnen und Bürgern alles verspricht. Ihr Kanzlerkandidat Schröder aber stellt alles unter Finanzierungsvorbehalt nach dem Motto: Alles versprechen, aber nichts halten.
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Wenn sich die Frau Kollegin Nickels Sorgen um die Demokratie macht, dann muß ich sagen: Auch das ist letztendlich nicht förderlich.
Wir haben im Petitionsausschuß im Jahre 1997 eine Vielzahl von Themenschwerpunkten gehabt. Wir haben zahlreiche Eingaben zum Renten- und Sozialrecht behandelt. Wir haben uns mit Beschwerden über die Arbeitsweise der Rentenversicherungsträger beschäftigt. Wir haben uns auch mit der Kritik an der Rentenberechnung im Einzelfall befaßt. Insgesamt besteht in den genannten Bereichen augenscheinlich ein sehr großer Aufklärungsbedarf. Ich denke, der Petitionsausschuß ist sich in Gänze seiner Verantwortung gerade in diesem Bereich bewußt. Wir wollen gerade hier einen weiteren Beitrag zu Transparenz und Bürgernähe leisten.
Daß wir bei einer solch großen Anzahl von Eingaben überhaupt in die Lage versetzt werden, jede einzelne Petition sorgfältig zu prüfen und auch zu bearbeiten, liegt in erster Linie an den tüchtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes, bei denen ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte.
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Ich will auch noch einmal darauf hinweisen, daß dieses Arbeitspensum um so eindrucksvoller ist, wenn man bedenkt, daß es sich bei den über 20 000 Petitionen lediglich um die Gesamtzahl der im Berichtszeitraum neu eingegangenen Eingaben handelt. In dieser Zahl nicht enthalten ist der gesamte Bereich der, ich sage einmal: unzähligen Telefonate mit Bürgern, mit Ministerien, mit Abgeordneten und deren Mitarbeitern, für deren stets freundliche Hilfsbereitschaft ich mich ausdrücklich bedanken möchte.
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In dieser Zahl nicht enthalten sind auch die alten Petitionen aus den vorausgehenden Jahren, die noch mitbearbeitet werden müssen.
Ich möchte mich auch bei den Bürgerinnen und Bürgern für ihre Geduld bedanken; denn sie mußten oftmals mehrere Monate oder noch länger - ich sage dazu: leider - auf einen Endbescheid warten. Bedanken möchte ich mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen für die gute und konstruktive Zusammenarbeit im Petitionsausschuß.
Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Mehr als 90 Prozent der Beschlüsse sind einvernehmlich gefaßt worden - deshalb hat mir die Arbeit sehr viel Spaß gemacht; ich hoffe, daß sie mir auch in der nächsten Legislaturperiode Spaß machen wird -, weil es über Fraktionsgrenzen hinweg möglich war, Lösungsvorschläge im Sinne der Petentinnen und Petenten zu erarbeiten und auch umzusetzen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Frau Vorsitzenden, bei der stellvertretenden Vorsitzenden, bei den Obleuten und auch bei allen anderen Mitgliedern des Petitionsausschusses.
Ich möchte mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten bedanken. Ich denke, vieles von dem, was wir umsetzen wollen und
müssen, ließe sich ohne deren Unterstützung nicht machen.
Ich habe den Petitionsausschuß vorhin schon einmal als Anwalt des Bürgers bezeichnet.
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Ich will noch einmal darauf hinweisen: Dieser Petitionsausschuß ist ein Pflichtausschuß, der nach Art. 17 des Grundgesetzes gebildet werden muß:
Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.
Aber, Frau Kollegin Nickels, die entsprechenden Beschlüsse des Bundestages entfalten aus verfassungsrechtlichen Gründen keine bindende Wirkung gegenüber der Bundesregierung in dem Sinne, daß diese verpflichtet wäre, der jeweiligen Aufforderung des Ausschusses Folge zu leisten.
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Dies sage ich auch im Zusammenhang mit den sogenannten Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüssen.
Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung konsequent und kooperativ alle ihr gegebenen Möglichkeiten ausschöpft, um dem jeweiligen Ersuchen des Petitionsausschusses und so des gesamten Deutschen Bundestages im Sinne der Petentinnen und Petenten Rechnung zu tragen. Dies erscheint mir insbesondere bei Legislativpetitionen wichtig, die unmittelbar Eingang in gesetzliche Neuregelungen, etwa Gesetzentwürfe der Bundesregierung, finden sollen. Ich denke, wir stimmen da überein. Auch der Kollege Dehnel hat vorhin schon darauf hingewiesen.
Ich möchte auf einige wenige Petitionen eingehen. Im Berichtszeitraum konnte der Ausschuß die Eingabe einer Frauenärztin umsetzen, die die Zulassung von Kassenärzten in überversorgten Gebieten auch auf Teilzeitbasis vorgeschlagen hatte. In der Umsetzung konnte mit dem entsprechenden Neuordnungsgesetz im Juli 1997 ermöglicht werden, daß zukünftig auch ein kassenärztlicher Zulassungsplatz im Timesharing für mehrere Ärzte vergeben werden kann.
Ich möchte auch auf eine Petition eingehen, die der Kollege Dehnel schon erwähnt hat. Es handelt sich um die Eingabe einer Bürgerin, deren pflegebedürftiger Vater, ein Bezieher einer deutschen Rente, bei ihr in Italien lebt. Die deutschen Behörden verweigerten Pflegegeld mit dem Hinweis, daß dieses im Gegensatz zur Rente nicht exportiert werden könne, wohingegen die italienischen Behörden Pflegegeld nur für Bezieher einer italienischen Rente gewähren wollten. Auf Grund des Votums des Petitionsausschusses konnte die Bundesregierung in Verhandlungen mit der italienischen Regierung und der Europäischen Kommission eine Lösung herbeiführen, mit der Deutsche und EU-Bürger in Italien zukünftig Pflegegeld erhalten können, sofern sie nach
den dortigen Bestimmungen als pflegebedürftig anerkannt sind.
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Lassen Sie mich noch ein paar andere Eingaben des Berichtszeitraums erwähnen. Im Rentenrecht wurden etliche Verbesserungen angeregt, die einer zunehmenden Anzahl betroffener Menschen zugute kommen werden. Dies gilt beispielsweise für die rentenrechtliche Bewertung von Kindererziehungszeiten beim Zusammentreffen mit Beitragszeiten. Hier gab es eine Vielzahl von überwiegend durch Frauen eingereichten Petitionen, deren Anliegen durch den Gesetzgeber im Rentenreformgesetz aufgegriffen und durch die additive Anrechnung von den Kinderziehungs- und Beitragszeiten umgesetzt wurden.
In zwei konkreten Einzelfällen haben wir dank schneller und unbürokratischer Zusammenarbeit zwischen Petitionsausschuß und Bundesarbeitsministerium geholfen. Der Witwe eines Rentenbeziehers in Israel konnte zu der ihr zustehenden Witwenrente verholfen werden, nachdem der Ausschuß die von ihr vorgelegten Beweismittel über das Bestehen der Ehe positiv bewertet und dem Arbeitsministerium mit einem Erwägungsbeschluß zugeleitet hatte. In einem zweiten Fall konnte das Arbeitsministerium auf Bitte des Petitionsausschusses die italienischen Behörden bewegen, die Auszahlung einer Witwenrente eines verstorbenen italienischen Rentners an die deutsche Hinterbliebene zu beschleunigen.
Im Geschäftsbereich des Familienministeriums konnte der Ausschuß beschleunigte Heranziehung zum Zivildienst bzw. Zurückstellung von demselben erwirken, wenn andersgeartete Entscheidungen für die Betroffenen übergroße Härten für ihre Lebens-
bzw. Ausbildungsplanung bedeutet hätten.
In einem Fall des Arbeitsplatzschutzes für Wehrpflichtige konnte der Ausschuß einem Petenten helfen, dessen Arbeitgeber ihm auf Grund der Heranziehung zum Wehrdienst einen Ausbildungsvertrag verweigern wollte. Durch schnelle Abhilfe seitens des Verteidigungsministeriums konnte einem weiteren arbeitslosen Petenten geholfen werden, der durch zügige Heranziehung zum Wehrdienst seine Situation bei Bewerbungen deutlich verbessert sah.
In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß mir die Beachtung bzw. Nichtbeachtung des Arbeitsplatzschutzgesetzes durch Arbeitgeber der Wirtschaft, aber auch des öffentlichen Bereichs Anlaß zur Sorge bietet. Ich denke, gerade letztere sollten eine Vorbildfunktion erfüllen und junge Menschen bei der Vergabe von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen nicht beteiligen, nur weil diese der gesetzlichen Verpflichtung zum Wehr- oder Zivildienst nachkommen. Ich werde diese Thematik auch als Sprecher der F.D.P.-Bundestagsfraktion im Verteidigungsausschuß in der nächsten Legislaturperiode wieder ansprechen, weil ich denke, daß es in diesem Bereich nicht weiter zu Nachteilen kommen darf.
Ich möchte zum Abschluß noch auf einen Punkt aufmerksam machen. Wir haben in Deutschland eine Fülle von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften.
Selbst sachkundige Bürger haben damit große Probleme. Hierin sehe ich einen entscheidenden Grund für die hohe Zahl von Eingaben. Wenn es um Gesetze und auch Verwaltungsvorschriften geht, sollten wir an die Legislative, also an uns selbst, appellieren. Wir benötigen dringend eine Entbürokratisierung. Die ständig zunehmende Bürokratie schränkt die Chance des einzelnen auf Selbstverwirklichung und selbstverantwortliches Handeln ein.
Ein Bereich, in dem wir ebenfalls etliche Eingaben zu behandeln hatten, war in diesem Zusammenhang das Steuerrecht. Hier wäre - im Gegensatz zum Rentenrecht, das eine Vielzahl von Einzelschicksalen berücksichtigen soll und muß - eine starke Vereinfachung möglich. Dies könnte das System für den Bürger transparenter machen, die Akzeptanz erhöhen und nebenbei auch im Bereich der Verwaltung zu Vereinfachungen führen. Dem Bürger bleibt statt dessen heute in der Konsequenz oftmals nichts anderes übrig, als sich an staatliche Stellen und in der letzten Konsequenz an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages zu wenden.
In diesem Zusammenhang läßt sich aus vielen Eingaben die Forderung nach klaren, unmißverständlichen und von der Verwaltung in schnellen und unbürokratischen Verfahren umgesetzten Gesetze ableiten. Hier müssen wir uns als Gesetzgeber unserer Verantwortung noch stärker bewußt werden und uns dieser Aufgabe, die gerade im Bereich des Petitionsausschusses in zahlreichen Eingaben offen zutage tritt und deren Erledigung eingefordert wird, in Zukunft noch stärker stellen. Ich denke, auch dies ist eine Aufgabe für die nächste Legislaturperiode. Ich hoffe, daß wir sie dann im Deutschen Bundestag gemeinsam angehen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Kollegin Heidi Lüth, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Allein dem nahen Ende dieser Legislaturperiode ist das Novum geschuldet, daß bereits sechs Monate nach Abschluß des Berichtsjahres die Möglichkeit eingeräumt wurde, eine Debatte zur Tätigkeit des Petitionsausschusses im Plenum durchzuführen.
Der Ausschuß hat, wie bereits in den Jahren zuvor - hier schließe ich den Ausschußdienst ausdrücklich mit ein -, auch 1997 eine mehr als umfangreiche Arbeit geleistet. Dies wird allein durch die Statistik in der Anlage zum Jahresbericht deutlich: Danach hat sich die Zahl der Neueingaben bei zirka 20 000 eingepegelt. Um besonders das Pensum des Ausschußdienstes etwas genauer zu umreißen: Durch den Ausschußdienst wurden im Berichtsjahr nicht nur die 20 000 neu eingegangenen Petitionen bearbeitet, sondern auch über 14 000 weitere Schreiben an Petenten verfaßt. Zirka 6 000 Stellungnahmen bzw. Berichte der Bundesregierung galt es zu bewerten. Zirka 3 600 Schreiben an Abgeordnete, Behörden usw. wurden verfaßt und versandt. Insgesamt waren es mehr als 47 000 Postausgänge. Das ist eine meines Erachtens auf jeden Fall anerkennenswerte Leistung insbesondere des Ausschußdienstes.
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Um aber allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gilt mein besonderer Dank der Bundesregierung. Dank ihres unermüdlichen Einsatzes, insbesondere in den Gesetzgebungsverfahren, gelang es ihr immer wieder, die Bürgerinnen und Bürger zu neuen Protesten hinzureißen.
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Das beweisen Bitten und Beschwerden an das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, deren Zahl innerhalb nur eines Jahres um nicht weniger als 38 Prozent anstieg, oder an das BMJ, das BMI und das BMF mit jeweils zirka 12 Prozent Zunahme. Unangefochtener Spitzenreiter der Protestwelle ist im Ergebnis der zweiten und dritten Stufe der Gesundheitsreform allerdings das Bundesministerium für Gesundheit mit einer Steigerungsrate von sage und schreibe über 70 Prozent.
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Einerseits ist die Zahl der Beschwerden gegen Entscheidungen oder Handlungen von Behörden zurückgegangen. Andererseits haben Legislativpetitionen, das heißt Eingaben, die die Änderung konkreter Rechtsnormen nicht nur einfordern, sondern auch Vorschläge unterbreiten, zugenommen: von 1996 auf 1997 um über 55 Prozent.
Damit, lieber Kollege Nolting, ist der Petitionsausschuß nicht mehr nur der Kummerkasten der Nation, sondern er regt die Bürgerinnen und Bürger an, an der Gesetzgebung mitzuwirken. Er ist auch Beweis für eine selbstbewußte, kritische und kluge Bürgerschaft
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- natürlich ist das hervorragend - und eigentlich ein Glück für jeden Staat, der solche Bürger hat.
Aber ganz so glücklich ist die Bundesregierung darüber nicht.
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Denn wie in allen vergangenen Jahren überwies auch 1997 das Plenum des Bundestages auf Empfehlung des Ausschusses Petitionen an die Bundesregierung zur Berücksichtigung. Wer nun annimmt, daß die demokratisch gewählten Volksvertreter in der Bundesregierung die Meinung des Plenums teilten, hat sich gründlich geirrt. Ein Blick in die Statistik erhellt: Und sie bewegt sich doch, aber langsam, denn sie hat schon 16 Jahre auf dem Buckel.
Am 1. Januar 1997 waren insgesamt 186 Überweisungsbeschlüsse aus dem Vorjahr, also von 1996, von der Bundesregierung noch nicht erledigt. Davon wurden im Berichtsjahr 68 positiv entschieden, und die Umsetzung von weiteren 47 Beschlüssen wurde abgelehnt. Aber der Rest hat gemeinsam mit 5 Berücksichtigungs- und 43 Erwägungsbeschlüssen aus 1997 in diesem Jahr vielleicht die seltene Chance, durch eine neue Regierung positiv erledigt zu werden.
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Zugestehen muß man dieser Regierung allerdings, daß im Zusammenhang mit dem Petitionsrecht die Verwirklichung des Art. 5 Grundgesetz in vollem Umfang gewährleistet ist: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern ... "
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In Anspruch genommen wurde das durch folgende Massenpetitionen:
82 000 Proteste für den Erhalt des Palastes der Republik. Der Palast der Republik - auch dazu gab es auf Empfehlung des Ausschusses einen Erwägungsbeschluß im Plenum - wird zwar noch nicht abgerissen, aber die bisherigen Erwägungen der Regierung verdeutlichen anschaulich, daß im Rahmen der Asbestsanierung lediglich die Grundmauern erhalten bleiben sollen.
64 000 Zuschriften mit Kritik am Zweiten Gesundheitseinrichtungen-Neuordnungsgesetz. Der Wegfall präventiver medizinisch-diagnostischer und kurativer Leistungen erfolgt nachweislich zum Wohle der Betroffenen, wie man manchen Stellungnahmen der Regierung zu Petitionen entnehmen kann.
Fast 48 000 Forderungen nach Einführung einer Umlagefinanzierung in der Berufsausbildung. Die Ablehnung der Umlagefinanzierung nützt oder schadet zumindest den Jugendlichen nicht, die ohnehin ohne Lehrstelle oder Ausbildungsplatz sind.
Die Ursache der in den neuen Bundesländern um 20 Prozent zunehmenden Proteste liegt sicherlich keineswegs an der Schreibfreudigkeit der Menschen dort. Vielmehr halte ich das für einen Ausdruck dafür, daß geltende Gesetze und Verordnungen derartig gravierende Einschnitte in das Leben der Menschen nach sich ziehen, daß sie massenhaft Einwände hervorrufen.
Gleichermaßen abenteuerlich ist aus meiner Sicht die Arroganz insbesondere von Abgeordneten der Koalition aus den neuen Ländern in solchen und in vielen anderen Fragen. Denn namens und in Vollmacht ihrer Wählerinnen und Wähler stimmen Sie Gesetzentwürfen und Beschlüssen der Bundesregierung bzw. Ihrer Fraktionen zu, die eindeutig den Interessen Ihrer Wählerschaft zuwiderlaufen.
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Kritiken in Form von Petitionen gibt es bei Ihnen
nicht. Denn nur 7,5 Prozent der eingegangenen Petitionen wurden positiv beschieden. Angesichts dieser Tatsache kann man nicht immer darauf verweisen, daß 90 Prozent der Petitionen einhellig entschieden wurden. Im Mittelpunkt sollte vielmehr das stehen, was positiv erledigt werden konnte.
Allein diese Beispiele belegen die Notwendigkeit, die bestehende Kluft zwischen Wortlaut des Grundgesetzes und dessen tatsächlicher Umsetzung zu überwinden. Die Grundsätze der Menschenwürde, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit sind Verfassungsgebote. Ich bin sehr froh, daß das in der Verfassung auch so steht. Diese Grundsätze müssen daher entschieden stärker im gesellschaftlichen und politischen Leben Realität werden.
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Deshalb schließt unser Eintreten für eine Alternative zur neoliberalen Politik der Regierung die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine unmittelbare Demokratie ein. Wir wollen unter anderem, daß Massenpetitionen nicht mit Einzelpetitionen auf eine Stufe gestellt werden, sondern entsprechend ihrer gesellschaftlichen und vor allem politischen Gewichtung sowohl im Ausschuß als auch im Plenum, vor allem aber von der Bundesregierung behandelt werden.
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Denn nur dann, wenn die vielseitige und unentbehrliche Arbeit des Petitionsausschusses auch für die Bundesregierung Maßstab wird, kann sie, untermauert von den Beschlüssen des Plenums, im Sinne der Demokratie und im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Früchte tragen.
Danke.
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Das Wort hat der Kollege Frederick Schulze, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich für den Ausreißer meines von mir sehr verehrten, besonnenen und weisen Kollegen Reuter entschuldigen. Ich kenne Sie so nicht. Ich habe eigentlich erst durch Sie den Sinn des Petitionsausschusses kennengelernt. Sie haben heute eine unnötige Schärfe in diese Debatte hineingebracht. Das kenne ich von Ihnen nicht. Ich weiß nicht, welche Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist. Aber ich kann mir vorstellen, daß Sie genauso wie ich ganz engagiert werden, wenn es um den Bürger geht. Da kennt man manchmal seine Grenzen nicht. Herr Reuter, ich verzeihe Ihnen diesen Ausrutscher.
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- Herr Kollege, ich wußte nicht, daß Noblesse eine Frechheit ist. Aber bei Ihnen ist das vielleicht so.
Frederick Schulze ({1})
Wir haben gehört, daß die Zahl der Petitionen allgemein um 12 Prozent zugenommen hat. Ich möchte mich auf den Bereich des BMVg beschränken und darauf hinweisen, daß dort der Anstieg der Petitionen - von 718 auf 722 - insgesamt sehr gering ist. Ich meine, dies zeigt, daß es in der Truppe einerseits sicherlich Probleme gibt, aber die Truppe andererseits trotz aller finanzieller Belastungen nicht unzufriedener geworden ist. Ich kann dies auf Grund meiner zahlreichen Truppenbesuche, die ich als Mitglied des Verteidigungsausschusses mache, natürlich sehr gut beurteilen.
Es zeigt aber auch - das möchte ich betonen -, daß bei den Entscheidungen des Bundesministeriums der Verteidigung Transparenz gegeben ist. Ich wünschte mir, dies wäre in allen Bereichen - zum Beispiel auch auf Länderebene - so.
Ich möchte auf einige strukturelle Fragen eingehen, die Inhalte von Petitionen waren. Zum Beispiel haben wir feststellen müssen, daß es - auch im Bereich der öffentlichen Hand - Ausbildungsbetriebe gibt, die damit drohen, daß derjenige, der zum Wehrdienst einberufen wird, seinen Arbeitsplatz verliert. In diesen Fällen reicht der sehr klare Hinweis auf die Vorschriften des Arbeitsplatzschutzgesetzes.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eines erwähnen - darum kümmern sich die wenigsten -: Wir müssen feststellen, daß zahlreiche Kommunen - sie werden zum Großteil von den Sozialdemokraten regiert - nicht bereit sind, die vorgeschriebene Anzahl an Behinderten einzustellen.
({2})
Dies ist eine bedenkliche Tendenz. Angesichts dessen, daß sich die Vorsitzende des Petitionsausschusses Sorgen um die Demokratie macht, ist festzustellen: Das tue auch ich, wenn ich die Äußerungen des Herrn Trittip höre oder die von den angeblichen Zwangsdiensten, die die Kommunisten heute noch immer bekämpfen wollen.
({3})
- Es gibt ein gutes altes Sprichwort: „Getroffener Hund bellt gern".
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Ich komme zu einer weiteren Petition aus dem strukturellen Bereich: Hinsichtlich des Umzuges des Katholischen Militärbischofsamtes stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung an der Entscheidung, ob diese oberste Bundesbehörde ihren Dienstsitz am Sitz der Bundesregierung zu haben hat, zu beteiligen ist oder ob es eine rein innerkirchliche Angelegenheit ist. Hierzu ist eine ergänzende Stellungnahme beim Bundesministerium des Innern angefordert worden, die sicherlich auch - ({5})
- So gehen wir in Kreisen der Koalition aus CDU/ CSU und F.D.P. sowie der Regierungsmitglieder nicht miteinander um. Das ist vielleicht in Nordrhein-Westfalen ein bißchen anders.
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Ich möchte auf den Truppenübungsplatz Vogelsang zu sprechen kommen. Sie wissen genau, daß ich sehr engagiert für die Auflösung dieses Truppenübungsplatzes gekämpft habe. Aber die belgische Seite ist dazu noch nicht bereit. Ich weiß, daß über den Auswärtigen Ausschuß weitere Aktivitäten erfolgen.
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Wenn Sie die Unterlagen für die morgige Sitzung des Petitionsausschusses schon gelesen haben, dann wissen Sie, daß auch die Zivilangestellten eine Petition eingereicht haben, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten.
Weitere Fälle, die gut gelöst wurden: Kreiswehrersatzämter arbeiten sehr kooperativ, wenn es darum geht, Jugendlichen, die arbeitslos sind, die Möglichkeit zu geben, vorzeitig zum Wehrdienst zu kommen. Ich denke da an den Fall eines 20jährigen wehrpflichtigen Kfz-Mechanikers, der auf Grund seines Tauglichkeitsgrades nicht eingezogen werden konnte. Das Kreiswehrersatzamt hat sehr schnell reagiert; dem jungen Menschen wurde geholfen. Aber man muß natürlich auch auf die Belange der Bundeswehr Rücksicht nehmen, und es kann nicht in jedem einzelnen Fall so reagiert werden, wie es der Petent möchte. Ich denke da an ein persönliches Erlebnis: Als ich 1974 nach Schleswig-Holstein versetzt werden sollte, bekam ich auf einmal Post und war plötzlich in Baden-Württemberg, einem Land, in dem Milch und Honig fließen und in dem man früher Lothar Späth wählte und heute Erwin Teufel wählt.
Ein weiterer Fall: Mangelnde Unterkunftskapazitäten an einem Standort haben dazu geführt, daß ein Oberfeldwebel der Bundeswehr, der zu dem Zeitpunkt kasernenpflichtig war, kein warmes Wasser hatte. Da er auf besondere Hygiene angewiesen war, hat er sich beschwert. Daraufhin wurde auf Initiative des Petitionsausschusses eine kleine Baumaßnahme durchgeführt. Dem Petitum konnte also abgeholfen werden, obwohl die finanziellen Möglichkeiten an diesem Standort es eigentlich nicht hergaben.
Des weiteren konnte ein technischer Beamter heimatnah weiterverwendet werden, obwohl seine Versetzung nach Bayern bereits verfügt war. Ein Feldwebel aus den belgischen Streitkräften, der in die Bundeswehr übernommen wurde, konnte in einem adäquaten Dienstgrad eingesetzt werden.
Lassen Sie mich noch einige Worte zur allgemeinen Politik sagen. Aus den Worten des Kollegen Reuter habe ich sehr deutlich herausgehört, daß es ihm um Wahlkampf ging. Das ist eigentlich traurig; denn im Ausschuß haben wir immer sehr gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Aber wenn man jetzt landauf, landab damit Reklame macht, daß man über
Frederick Schulze ({8})
die Dauer des Wehrdienstes sprechen müsse, dann muß man auch sagen, daß das die Aufgabe von Standorten bedeutet. Dann nennen Sie mir bitte einige Standorte, die Sie freiwillig aufgeben wollen!
Wir sollten auch zur sachlichen Diskussion zurückkommen, wenn es um öffentliche Gelöbnisse geht, und nicht in Trittins Fettnäpfchen trampeln oder uns weiterhin mit notariellen oder ähnlichen Erklärungen des Genossen Gysi oder dem Beschluß des Parteitages der Grünen befassen - es geht jetzt nicht um die 5 DM pro Liter Benzin, was man jetzt von der Bildfläche verschwinden lassen wollte -, daß man auf öffentliche Gelöbnisse verzichten will. Vor einigen Tagen gab es eine Wehrpflichtigentagung, auf der einstimmig verlangt wurde, daß die Wehrpflichtigen in der Öffentlichkeit vereidigt werden. Ich glaube, daß wir das diesen jungen Männern schuldig sind.
Ich möchte dem Wissenschaftlichen Dienst danken, insbesondere Herrn Dr. Dr. Tammler, mit dem ich persönlich sehr gut zusammengearbeitet habe. Ich möchte aber auch betonen, daß vieles im Bereich des BMVg natürlich durch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages bereits aufgefangen wurde. Im Gegensatz zu manch anderem weiß ich am Ende ja noch, was ich am Anfang gesagt habe: Es gibt einen ganz geringen Anstieg an Petitionen, die den Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung betreffen. Das liegt an den sehr transparenten und justitiablen Entscheidungen des BMVg. Ich möchte hier sehr deutlich sagen: Das Mutterhaus ist so gut wie die politische und militärische Führung. Als Notenschnitt würde ich „gut" bis „überragend" vergeben. Deshalb ist der Bundesminister der Verteidigung Volker Rühe heute auch der dienstälteste Bundesverteidigungsminister, den wir je hatten. Ich denke, er sollte diese Aufgabe weiterhin wahrnehmen, auch wenn Sie es vielleicht anders sehen. Aber ich bin sicher, daß er es tun wird.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Schulze, ich möchte mich heute eigentlich nicht mehr mit dem Truppenübungsplatz Vogelsang beschäftigen,
({0})
weil ich das schon seit zwei Legislaturperioden mache. Aber ich würde an Ihrer Stelle schon nachdenken darüber, wie der Bundesminister der Verteidigung mit Ihnen in der Anhörung umgegangen ist. Damals hat er uns ja auch erzählt, man werde sich, auch wenn man den Truppenübungsplatz nicht zivil nutzen wolle, für Verbesserungen einsetzen. Wenn Sie sich so engagieren, wie Sie angeben, würde ich
solche Aussagen auch einmal auf den Wahrheitsgehalt überprüfen.
({1})
Ich hatte letzte Woche - gemeinsam mit der zuständigen Abgeordneten Kühn-Mengel - ein Treffen mit der Bürgerinitiative, und wir haben noch einmal besprochen, daß die Aktivitäten erheblich zugenommen haben und daß auch Übungen stattfinden, die dort eigentlich gar nicht stattfinden sollen. Machen Sie sich vielleicht noch einmal kundig.
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Aber ich wollte mich heute - wie gesagt - mit diesem Thema nicht mehr beschäftigen. Ich möchte einmal auf einen anderen Aspekt eingehen, den die Kollegin Nickels hier schon angesprochen hat. Wir haben versucht, einmal Petitionen von Frauen, die sich mit Gleichstellung beschäftigen, statistisch zu erfassen. Man kann sich auch die Frage stellen: Gibt es denn Petitionen, die frauenspezifisch sind, oder kann man sagen, daß Petentinnen in bestimmten Bereichen besonders häufig vorkommen?
Wenn man den Bericht aufmerksam liest, findet man darin eine ganze Reihe von Hinweisen darauf, daß die Rollenverteilung in unserer Gesellschaft zur Benachteiligung von Frauen führt. Noch immer sind weniger Frauen in Führungspositionen, noch immer leben mehr Frauen von der Sozialhilfe, noch immer werden die meisten 620-DM-Jobs von Frauen gemacht, noch immer nehmen die meisten Frauen ihren Erziehungsurlaub, noch immer sind mehr Frauen arbeitslos oder schneller von Arbeitslosigkeit bedroht, und noch immer ist die Rente für Frauen niedriger als die für Männer.
Sie haben in der letzten Legislaturperiode den Abbau des Sozialstaates verschärft, und die Konsequenzen für die Frauen sind wesentlich radikaler als für Männer. Ob im Sparpaket, im Solidaritätspakt oder bei der Gesundheitsreform - die Frauen haben als Ehefrauen, Mütter, Alleinerziehende oder Rentnerinnen mehr Nachteile als Männer.
Mein Kollege Bernd Reuter hat eben in seiner Rede die Kürzungen der Renten für Frauen angesprochen. Ich möchte darauf nicht mehr besonders eingehen. Gleichwohl sind die Auswirkungen des entsprechenden Gesetzes, ohne auch nur eine Übergangsregelung vorzusehen, ein ganz besonderer Skandal. Wir werden deshalb dazu morgen einen Änderungsantrag einbringen.
Wir hatten eine Reihe von Petitionen zum Thema Pflegegeld. Auch hier sind hauptsächlich die Frauen als die Pflegenden betrofffen. Wir hatten Petitionen zum Unterhaltsvorschußgesetz. Wir hatten aber gerade auch im Rahmen von Asylpetitionen sehr viele Beschwerden von Flüchtlingsinitiativen darüber, daß bislang in den Asylverfahren die geschlechtsspezifische Verfolgung zuwenig berücksichtigt wird.
Jutta Müller ({3})
Ich habe auch den Eindruck, daß das Bundesamt, obwohl es einige Verbesserungen gegeben hat, hier immer noch nicht sensibel genug ist. Es wurde heute in die Fächer eine Broschüre des Bundesamtes zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge verteilt. Darin spielt dieses Thema überhaupt keine Rolle.
Hier sollten wir weiter darauf drängen, daß man beispielsweise bei den Befragungen verstärkt Entscheiderinnen einsetzt, weil es für die Frauen oft sehr schwierig ist, einem Mann gegenüber ihre Asylgründe darzulegen. Wir sollten uns überlegen, besondere Abschiebeschutzregelungen jenseits des Asylgesetzes zu schaffen. Alleinstehende Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind und dadurch den Schutz ihrer Familien in den Herkunftsländern verloren haben, sollten einfach nicht mehr in bestimmte Länder abgeschoben werden können.
({4})
Wie auch in den Vorjahren gab es im Jahr 1997 eine ganze Reihe von Eingaben für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ausländerinnen, die mit einem Deutschen oder mit einem Ausländer, der eine Aufenthaltsberechtigung für Deutschland hat, verheiratet sind. Vor kurzer Zeit haben wir eine Novelle des Ausländergesetzes beschlossen. Darin wurde auch eine sogenannte Härtefallregelung für diese Frauen getroffen. Diese Regelung war das Ergebnis eines Vermittlungsverfahrens, und Ergebnisse von Vermittlungsverfahren sind offensichtlich nie besonders schön. Wir können jetzt schon sehen - das gilt auch bezüglich dessen, was uns schon an Schreiben in den Bürgerbüros erreicht und was uns mit Sicherheit noch als Petitionen erreichen wird -, daß diese sogenannte Härtefallregelung in der Praxis nicht greifen wird.
Es dreht sich ja hier um Frauen, die ohne eigenständiges Aufenthaltsrecht gewalttätigen Männern quasi ausgeliefert sind; denn wenn sie ihre Männer verlassen, droht ihnen die Abschiebung.
Wir hatten dieses Thema im übrigen in einer Besprechung mit den Länderpetitionsausschüssen schon einmal behandelt und wurden gerade vom Petitionsausschuß des Landes Nordrhein-Westfalen darauf hingewiesen - die haben sich die Problematik einmal vor Ort angesehen -, daß muslimische Ehefrauen, die ihre Männer verlassen, weil diese gewalttätig sind, in ganz schlimme Situationen kommen, wenn man sie in ihre muslimischen Herkunftsländer abschiebt. Das wäre auch einmal ein Thema für die Innenministerkonferenz, um hier zu Regelungen zu kommen.
({5})
Solange man jedoch die Wirksamkeit der Härtefallregelung daran knüpft, daß die betroffene Frau keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen darf, ist das wie die Wirkung weißer Salbe. In der Realität geht es häufig um Frauen, die nicht berufstätig sind. Was sollen die denn machen, wenn sie vor ihren Männern flüchten,
außer Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen? Hier ist eine Regelung gefunden worden, über die man noch einmal nachdenken muß. Im übrigen habe ich damals dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses nicht zugestimmt.
({6})
Das Unterhaltsvorschußgesetz war ein weiteres Thema, das von den Frauen häufig angesprochen wurde und mit dem wir uns befaßt haben. Wir haben zwar ein Gesetz, das einen Mindestunterhalt während der Kinderbetreuung garantiert, allerdings nur für die Dauer von sechs Jahren und höchstens bis zum 12. Lebensjahr des Kindes. Hier hat der Ausschuß über Parteigrenzen hinweg die Bundesregierung aufgefordert, Verbesserungen für die Betroffenen bei der Vorbereitung weiterer Gesetzentwürfe vorzunehmen.
Wenn man sich des weiteren die Petitionen, die überwiegend von Frauen kommen, ansieht, fällt auf, daß fast alle Petitionen, die sich mit der besseren Anerkennung und Förderung des sozialen Ehrenamtes beschäftigen, von Frauen kommen. Wir wissen ja nun alle, daß ein Ehrenamt meistens viel Amt und wenig Ehre bedeutet. An Hand der vorliegenden Petitionen und der Erfahrungen aus dem Wahlkreis kann man feststellen, daß das Ehrenamt immer mehr zu einem Frauenamt wird. Ein Ehrenamt, bei dem man sich unbezahlt in den Dienst der Gesellschaft stellt, wird offensichtlich sehr gerne den Frauen überlassen.
Der Petitionsausschuß hat sicherlich - das ist hier angesprochen worden - im Berichtszeitraum sehr viel geleistet. Bei einer ganzen Reihe von Fällen konnte geholfen werden, es konnten auch gesetzliche Verbesserungen erreicht werden. Es wurden aber natürlich auch viele Dinge nicht geregelt. Die Neigung der Bundesregierung, Beschlüsse unseres Ausschusses und somit auch des Plenums umzusetzen, ist nun wirklich nicht sonderlich groß. Daß das verfassungsrechtliche Gründe hat, Herr Kollege Nolting, weiß auch ich. Man muß doch trotzdem einmal mit dieser Truppe da reden,
({7})
wie lange sie in der Öffentlichkeit noch den Eindruck erwecken will, daß das Parlament sowieso nichts mehr zu sagen hat. Es ist uns ja so ergangen - der Kollege Reuter hat die Beispiele gebracht -, daß uns entweder ganz platt erklärt wird, man dächte überhaupt nicht daran, Beschlüsse des Plenums umzusetzen, oder - das ist nun wirklich elendig - daß ein für Petenten nicht nachvollziehbares Pingpongspiel zwischen den Ressorts oder zwischen der Bundesregierung und den Länderregierungen angefangen wird.
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Jutta Müller ({9})
Ich erinnere nur an das Trauerspiel um die steuerliche Gleichstellung von Logopäden und Sprachheilpädagogen.
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Es war eine Katastrophe und ist im übrigen immer noch eine Katastrophe, weil das immer noch nicht geregelt ist.
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- Das kann man so nicht sagen; da gibt es auch in den Ressorts völlig unterschiedliche Meinungen. Verbreiten Sie hier keine Unwahrheiten; Sie waren ja bei den Besprechungen dabei.
({12})
Ich möchte allerdings die Bürgerinnen und Bürger ermutigen, uns weiterhin zu schreiben, weil wir mit diesen Petitionen immer ganz deutlich machen können, wie sich Gesetze, die unter sehr schönen Namen
- im Erfinden von Namen sind die jetzige Regierungskoalition und die Bundesregierung Weltmeister
- beschlossen werden, auswirken. In dem Gesetz ist nämlich nie das drin, was als Überschrift drübersteht. Deshalb finde ich es sehr gut, wenn uns die Bürgerinnen und Bürger schreiben, damit man das endlich einmal an den Einzelfällen deutlich machen kann. Das, Frau Kollegin Nickels, ist ganz genau der Grund, warum wir keine öffentliche Ausschußsitzung machen dürfen. Dieses Ansinnen wird von den Koalitionsfraktionen nun schon die gesamte Legislaturperiode, obwohl wir geschäftsordnungsmäßig die Möglichkeit hätten und Petitionen dann schneller bearbeiten und viel schneller zu abschließenden Voten kommen könnten, verhindert.
({13})
- Ich habe schon das Gefühl, daß Sie ein bißchen Angst davor haben, daß die Öffentlichkeit erfährt, was hinter manchem schönen Titel steht.
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Denn wenn Sie gute Gesetze machen würden, dann bräuchten Sie das Licht der Öffentlichkeit nicht so zu scheuen.
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Wenn Sie immer wieder öffentliche Sitzungen des Petitionsausschusses ablehnen, dann muß ich Ihnen sagen: Sie scheuen das Licht der Öffentlichkeit; Sie wissen, daß Sie eine schlechte Politik machen und deshalb so viele Petitionen eingereicht werden.
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Ich möchte nicht vergessen, mich abschließend auch beim Ausschußdienst für die gute Zuarbeit zu bedanken.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hubert Deittert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuß ist wohl der Ausschuß, der im Deutschen Bundestag die breiteste Themenpalette zu bearbeiten hat. Wenn uns im vergangenen Jahr mehr als 20 000 Bürgerinnen und Bürger angeschrieben haben, dann zeigt das, daß die Petenten durchaus Zutrauen in die Lösungskompetenz des Deutschen Bundestages haben.
Die vornehmste Aufgabe des Petitionsausschusses ist es, als Anwalt der Bürger - Frau Nickels, da gebe ich Ihnen recht - Lösungsmöglichkeiten für deren Probleme zu erarbeiten. Wir müssen allerdings sehen, daß diese Lösungsmöglichkeiten nicht jenseits gesetzlicher Vorgaben und sachlicher Notwendigkeiten liegen können. Vielmehr geht es darum, Ermessensspielräume zu suchen und diese zugunsten der Petenten auszunutzen. Das ist uns gemeinsam bei den meisten Fällen in der Vergangenheit gelungen. Das ist schon ein positives Zeichen.
Bevor ich auf einige Einzelbeispiele zu sprechen komme, möchte ich zuerst auf die Beiträge dreier Kolleginnen kurz eingehen. Was ich zu Frau Nickels sagen will, habe ich bereits zitiert. Ich möchte etwas zu Frau Lüth sagen: Wenn Sie als Vertreterin der SED-Nachfolgepartei den Kollegen meiner Fraktion vorwerfen, nicht die Interessen ihrer Wähler zu vertreten, dann muß ich Ihnen entgegenhalten: Es geht im Deutschen Bundestag nicht um das Vertreten von Einzelinteressen, vielmehr geht es darum, Zukunftsentscheidungen für unser Land und für unser Volk zu treffen. Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, daß das Aufräumen der Folgen von 40 Jahren sozialistischer Diktatur nicht mit weißer Salbe zu bewältigen ist, sondern daß dies auch die eine oder andere mutige Entscheidung verlangt.
({0})
Dann möchte ich ganz kurz etwas zu Frau Kollegin Müller sagen, die sich zum „Scheuen der Öffentlichkeit" geäußert hat. Wir haben überhaupt keine Probleme, unsere Politik in der Öffentlichkeit zu vertreten. Da es sich bei Petitionen allerdings sehr oft um Sachverhalte handelt, die äußerste Vertraulichkeit verlangen, und die Erfahrung gezeigt hat, daß das Suchen von Lösungsmöglichkeiten über Parteigrenzen hinweg in der Regel in nichtöffentlichen Sitzungen einfacher ist - der Verlauf der heutigen Debatte zeigt das -, sind wir der Meinung, daß die Sitzungen, bei denen Petitionen behandelt werden, nichtöffentlich bleiben sollten.
Lassen Sie mich einiges zu Sachgebieten sagen, für die ich im Ausschuß vorrangig tätig bin. Zunächst komme ich zum Bereich des Bundesministeriums für
Verkehr. Hier lassen sich mit steigender Tendenz Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern feststellen, die sich über zunehmenden belästigenden Straßen-
und Schienenlärm beklagen. Hier geht es um einen Zustand, der uns nicht zufriedenstellt; wir müssen nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Das betrifft insbesondere den Problembereich bestehender Schienenstrecken der Bahn, der uns erhebliche Sorgen bereitet. Zumindest die Zuständigkeit zwischen dem Bund und den Ländern ist durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften sauber geregelt worden. Im Bereich der Bundesstraßen und Autobahnen sind vor allem Strecken betroffen, die vor 1974 - ohne den entsprechenden Lärmschutz zu berücksichtigen - planfestgestellt wurden. Für diese Strecken besteht kein formalrechtlicher Anspruch auf Lärmschutz. Bei der augenblicklichen Kassenlage müssen wir in aller Deutlichkeit ehrlich sagen, daß wir das Problem nicht in kurzer Zeit lösen können, sondern daß es uns noch eine ganze Zeit beschäftigen wird.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Beispiel nennen, bei dem die eigentliche Problematik des Petitionsausschusses deutlich wird: nämlich wenn zu ganz bestimmten Fällen Petitionen mit genau entgegengesetzter Zielrichtung vorliegen. Ich nenne hierzu ein Beispiel aus der Verkehrspolitik im Raum Bonn.
Wir haben mehrere Petitionen zur B 56 neu, besser bekannt unter „Venusbergtunnel" und „Ennertaufstieg". Wir haben uns sehr ausgiebig mit diesem Problemfall beschäftigt. Wir haben eine Ortsbesichtigung durchgeführt. Es lagen inzwischen zehn Petitionen zu dem Sachgebiet vor, nämlich zwei gegen und acht für den Bau dieser B 56 neu. Der Petitionsausschuß hat nach gründlicher Vorbereitung letztendlich entschieden, die acht Petitionen für den Bau der B 56 neu dem Bundesminister für Verkehr zur Berücksichtigung zu überweisen und die beiden Petitionen gegen den Bau abzuschließen.
Ich will damit deutlich machen, daß sich der Petitionsausschuß nicht ausschließlich an den Wünschen orientieren kann. Vielmehr muß er sachliche Notwendigkeiten berücksichtigen. Wer die Verkehrsverhältnisse hier im Bonner Süden kennt, wird Verständnis für den Beschluß des Petitionsausschusses aufbringen können.
Lassen Sie mich noch einige Beispiele aus dem Bereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten anführen. Wir haben nach wie vor zahlreiche Eingaben, die sich mit den Folgen der SED-Politik in der DDR beschäftigen, und zwar zunächst einmal, was die Auflösung von LPGen angeht. Dabei ist es insbesondere so, daß sich ausscheidende Mitglieder benachteiligt fühlen und es in vielen Fällen auch sind. Hierzu haben wir keine zufriedenstellenden Lösungen. Wir haben allerdings durch die Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes zumindest eine Fristverlängerung für die Betroffenen erreicht, so daß der Rechtsweg nach sorgfältiger Vorbereitung beschritten werden kann. Das
ist eine leichte Verbesserung, aber es ist noch nicht zufriedenstellend.
In einem weiteren Bereich geht es um die Rückgabe von landwirtschaftlichen Grundstücken. Dabei ist es in vielen Fällen so, daß durch die Behörden und Institutionen der DDR Gebäude auf diesen Grundstücken errichtet wurden, die in keiner Weise wirtschaftlich nutzbar sind. Da aber das Grundstück nicht ohne Gebäude zurückgegeben werden kann, entsteht für denjenigen, der es zurückbekommt, ein Riesenproblem; denn er hat nicht einen Wert bekommen, sondern einen riesigen Berg Bauschutt, den er möglicherweise noch als Sondermüll beseitigen muß. Ich denke, wir werden in Zukunft noch stärker darauf achten müssen, ob man auch da noch zu Verbesserungen kommen kann.
Ich will einen Bereich ansprechen, der uns sehr intensiv beschäftigt hat, nämlich Tierschutz und Tiertransporte. Wir haben mehrere Petitionen gehabt, die sich mit dem Transport von lebenden Schlachttieren beschäftigen. Ich denke, das ist ein Problemfeld, bei dem Handlungsbedarf besteht; insbesondere wenn es um den Transport über längere Strecken und durch mehrere Länder geht.
Wir haben eine Sammelpetition als Material an den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überwiesen. Ich will an dieser Stelle sagen: Gerade Minister Jochen Borchert hat sich mit allem Nachdruck - und auch mit Erfolg - bei seinen europäischen Kollegen dafür eingesetzt, daß eine einheitliche europäische Tiertransportrichtlinie erlassen wurde, die zum einen die Einhaltung vernünftiger Transportzeiten und zum anderen die Verwendung vorgeschriebener Transportfahrzeuge vorsieht.
({2})
Ich will noch einen Punkt nennen, der mich persönlich sehr interessiert hat: Ein Petent begehrte die Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes.
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Das war lustig. Ich bin von Beruf Landwirt. Ich habe den Petenten angerufen und mich mit ihm unterhalten. Der Mann hat mit unbeschreiblicher Geduld eine schwarze Gerste gezüchtet und konnte sie nicht in Verkehr bringen. Wir haben die Petition letztendlich dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und gleichzeitig auch dem Europäischen Parlament als Material zugeleitet, mit dem Ziel, bei der Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes, des Saatgutrechtes eine Möglichkeit zu schaffen, daß wertvolles pflanzengenetisches Material für die Zukunft erhalten wird und auch in Verkehr gebracht werden darf. Diese Petition hat mich übrigens nicht nur wegen der Farbe der schwarzen Gerste interessiert. Als Landwirt hat mich vielmehr die Geduld begeistert, die der Landwirt aufgewandt hat.
Zum Schluß möchte ich feststellen: Für mich ist die Arbeit im Petitionsausschuß in den vergangenen vier Jahren eine außerordentliche Bereicherung gewesen. Es ist ein ungeheuer weites Feld, und man bekommt Einblick in soziale Zusammenhänge, vor alHubert Deittert
lem in die direkten Folgen der Gesetzgebung. Ich denke, das sollte für jeden Politiker eine reizvolle Aufgabe sein.
({4})
Herr Kollege, ich bin wegen der schwarzen Gerste schon sehr großzügig gewesen, aber jetzt müssen Sie wirklich Schluß machen.
Abschließend möchte ich den Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich für die kollegiale Zusammenarbeit danken. Ebenso geht ein Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Lüth das Wort.
Herr Kollege Deittert, Sie wissen sicherlich genauso gut wie ich, daß sich die Petitionen, die aus den neuen Ländern kommen, nicht ausschließlich und auch nicht in der Mehrzahl auf die Problematik der Zeit von 1949 bis 1990 beziehen, sondern auf die Zeit danach. Wenn Sie ein Beispiel wie das der Gründung von und des Arbeitens in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften - wie immer sie damals gegründet sein mögen - anführen, dann mögen Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen, daß der Kollege Junghanns, der sich in den Reihen Ihrer Koalition befindet, noch 1989 und auch noch 1990 ein eherner Verfechter gerade dieser Produktionsform in den landwirtschaftlichen Bereichen gewesen ist und als Stellvertreter der Bauernpartei - auch in den letzten Jahren - maßgeblich für diese LPGen gewirkt hat. Auch das möge man bei solchen Gelegenheiten benennen und nicht immer nur diese alten Schlagworte gebrauchen.
({0})
Ich glaube, Sie sollten anerkennen, daß in diesen 40 Jahren auch in der DDR gelebt wurde,
({1})
daß es dort 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger gab.
- Also, Sie haben doch gut gelebt, Herr Dehnel. Sie haben studiert, Sie waren Abgeordneter der CDU. Nun regen Sie sich einmal ab!
({2})
Man muß anerkennen, daß es in der DDR als Völkerrechtssubjekt gesetzliche Regelungen gab, die für diese damals noch in der DDR lebenden 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger in dem Transformationsprozeß in eine neue Gesellschaft über Nacht verändert wurden. Durch dieses Übertragen der Gesetze - ob
sie verträglich waren oder nicht - hat sich doch in den letzten Jahren die Mehrheit der Petitionen ergeben.
Natürlich darf man nicht vergessen, daß ein großer Teil der Petitionen aus dem gleichen Grunde gestellt werden wie in den alten Bundesländern. Ich verweise auf die Problematik, der sich die Kollegin Müller heute besonders zugewandt hat, nämlich auf den Bereich der Frauen. In diesem Bereich gibt es die gleichen Probleme wie in den alten Bundesländern. Gerade diese Punkte, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, haben mit der DDR wenig oder fast gar nichts zu tun.
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Bitte, Herr Deittert.
Frau Kollegin Lüth, ich will mit wenigen Sätzen auf Ihre Kurzintervention antworten. Da Sie diese Kurzintervention abgelesen haben, gehe ich davon aus, daß Sie sie vorher sorgfältig vorbereitet haben.
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Frau Kollegin, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf. Wir erklären uns im Parlament nicht gegenseitig für nicht normal. Das geht nun wirklich nicht.
({0})
Ich habe nicht von normal gesprochen, Frau Lüth. Trotzdem werde ich in aller Ruhe mit wenigen Sätzen auf Ihre Intervention antworten.
Sie, Frau Lüth, sagen, in der DDR hätten die Menschen ebenfalls gelebt. Natürlich, die 17 Millionen Menschen in der DDR haben gelebt, haben genauso fleißig wie wir gearbeitet. Durch die falsche Politik allerdings, die die SED dort betrieben hat, sind die Leute um die Früchte ihrer Arbeit gebracht worden.
({0})
In dieser DDR lag die Volkswirtschaft hoffnungslos am Boden. Wenn man das auf einen Betrieb überträgt, bedeutet das den Konkurs. Wenn das für Sie in Ordnung ist und Sie meine Kollegen motivieren wollen, diese Dinge auch nur in Tendenzen fortzusetzen, dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß wir durch mutige Entscheidungen, durch viel Geduld und durch tatkräftiges Arbeiten die Auswirkungen der falschen Politik, die die SED betrieben hat, wieder in Ordnung bringen können. Wir werden dafür lange arbeiten müssen, werden es aber gemeinsam schaffen.
({1})
Ich erteile jetzt auch der Frau Kollegin Lüth einen Ordnungsruf, weil sie den Satz, den Frau Kollegin Fuchs gebraucht hat, wiederholt hat.
Ich möchte Sie herzlich bitten, daß wir diesen Stil hier nicht einreißen lassen. Es geht nicht an, daß wir uns gegenseitig für nicht normal erklären.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Hiller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, was das letzte Scharmützel mit dem Bericht des Petitionsausschusses zu tun hat. Ich kann keinen Zusammenhang erkennen.
Herr Kollege Nolting, Sie haben zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen, wie gut die Bundesregierung vertreten ist. Jetzt müssen wir leider feststellen, daß ein Großteil der Bundesregierung während der Debatte abgetreten ist und den Saal schon verlassen hat.
({0})
- Herr Kollege Nolting, ich bin lange Mitglied im Petitionsausschuß. Ich habe noch nie erlebt, daß die Bundesregierung bei einer solchen Debatte gut vertreten war.
({1})
- Nein. Darüber können wir unterschiedlicher Meinung sein. Ich möchte aber jetzt zu meiner eigentlichen Rede kommen.
Der Petitionsausschuß - darauf wurde schon hingewiesen - spielt im Grundgesetz eine wichtige Rolle und hat Verfassungsrang. Das Petitionsrecht gilt nicht nur für Deutsche, sondern auch für Ausländer. Das spiegelt sich in der täglichen Arbeit dieses Ausschusses auch entsprechend wider. Der Petitionsausschuß ist Gradmesser von Unzulänglichkeiten im Verhältnis zwischen deutschen und ausländischen Mitbürgern hier in Deutschland. Aus den Petitionen erkennt man die enormen Probleme im Zusammenleben zwischen den Menschen in diesem Lande.
Wir lesen im Jahresbericht von einem iranischen Staatsbürger, der 17 Jahre, Herr Kollege Nolting, um seine Einbürgerung unter Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft kämpfen mußte. 17 Jahre - das muß man sich einmal vorstellen -, weil sein Heimatland ihn nicht aus der Staatsbürgerschaft entlassen wollte.
Im Petitionsausschuß mußte jahrelang mit dem Innenministerium gekämpft werden. Letztlich hat der Bundesinnenminister seine Zustimmung gegeben. Das ist gut. Dafür danken wir ihm. Ich sage aber ganz deutlich: Es hat viel zu lange gedauert, es wurde viel zuviel Papier produziert, was man manchmal gar nicht mehr lesen kann, weil es eine kalte
Sprache beinhaltet und nicht auf den Einzelfall eingeht.
Das Wichtigste ist: Ich kenne viele Parallelfälle dieser Art, speziell von Iranern, die Sie lösen können. Ich bitte Sie, dieses jetzt auch noch zu tun. Darauf kommt es an.
({2})
Es gibt Fälle, in denen sogar in Deutschland geborene Iraner noch nicht die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen haben. Das muß man sich einmal vorstellen. Die Kinder gehen hier zur Schule. Bei diesen Kindern kann man gar nicht mehr erkennen, welche Eltern sie haben, jedenfalls nicht an der Sprache.
Wenn man in diesem Bereich so viele Einzelfälle hat, Herr Kollege Nolting,
({3})
sollte man ernsthaft darüber nachdenken, sich dazu durchzuringen, jetzt auch im gesetzgeberischen Bereich die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft einzuführen.
({4})
Da spreche ich Sie ganz besonders an, weil ich in der Zeitung gelesen habe, daß Sie dies immer unterstützen, aber dann, wenn die Nagelprobe kommt, diese Unterstützung letztlich versagen.
Meiner Meinung nach stößt hier das Petitionsrecht an eine natürliche Grenze. Diese natürliche Grenze ist der politische Wille der jetzigen Regierung,
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die sich in diesem Bereich einfach nicht bewegen will. Dies dokumentiert sich natürlich auch in der Ausschußmehrheit. Da gibt es in der Regel auch keine anderen Mehrheiten, obwohl ich sagen muß, daß Sie in vielen Einzelfällen mit uns gemeinsam - Sie haben darauf hingewiesen - geholfen haben. Das will ich hier herausstreichen. Ich will auch positiv sagen, daß dies einen Teil der Freude an der Arbeit in diesem Ausschuß ausmacht.
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Aber es ändert nichts daran, daß ein enormer Lösungsbedarf existiert, der mit der jetzigen Koalitionsmehrheit im Ausschuß und der Bundesregierung nicht bewältigt werden kann; ich habe Ihnen ein Beispiel genannt.
Ein anderes Beispiel - das ist noch grausamer - läßt sich zur Entschädigung und Wiedergutmachung von NS-Opfern und Opfern der SED-Diktatur anfühReinhold Hiller ({7})
ren. Wir hatten einen Fall, bei dem ein NS-Opfer die Rente der Antifaschisten, wie es in der DDR hieß, nicht erhalten konnte, weil es auch zum Gegner des SED-Regimes wurde und in die Bundesrepublik kam. Dieser Fall ist nicht gelöst. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie in diesem Einzelfall politisch vertreten können, daß dies gerecht ist.
Wir wissen alle: Wenn man Wiedergutmachung leisten muß, ist es kompliziert. Aber gerade der Petitionsausschuß kann Einzelfälle aufzeigen, bei denen ich dann auch erwarte - insbesondere wenn sie Gegenstand von Debatten und Anträgen hier im Parlament sind -, daß die Regierung darüber nachdenkt und Vorschläge macht, wie man das Gesetzeswerk verbessern kann. Ich unterstelle keinen bösen Willen, aber wenn Sie die Akte dieses Menschen lesen würden, würden Sie sagen: Dem Menschen muß geholfen werden. Aber, verdammt noch mal, dann muß es auch Juristen in der Regierung geben, die nicht immer nur sagen, da können wir nichts machen, das war schon immer so, sondern die dann auch einmal Hilfestellung geben, wie man einen Schritt weiterkommt.
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Meine Damen und Herren, die Verwaltung empfindet Petitionen häufig als sehr lästig. Das merkt man. Das kann man den Papieren entnehmen, die uns immer auf den Tisch gelegt werden. Ich halte das eigentlich nicht für in Ordnung. Man sollte Freude empfinden, wenn man dazu beitragen kann, die Situation in diesem Lande im Gesetzgeberischen, aber auch in Einzelfällen zu verbessern. Demokratie ist kompliziert und mit Arbeit verbunden, aber Demokratie sollte uns nicht lästig werden. Das würde dem Grundverständnis des Petitionsausschusses widersprechen.
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Sie müssen nicht jedes Papier, das Sie uns vorlegen, wirklich vorlegen, weil es in der Regel in der Sache nicht weiterhilft. Es ist hier schon angesprochen worden: Oft ist es ein Pingpongspiel ohne Ergebnis, so daß man manchmal in Einzelfällen das Engagement und die Lust verliert, dies noch weiterzumachen. Man sollte sich am Anliegen des Bürgers oder der Bürgerin orientieren und hier versuchen, eine Lösung zu finden.
Die Verwaltung hat zum Beispiel, weil sich die Petitionen aus dem Bereich des BGS häuften, an den Standorten bekanntgegeben, daß sich die Angehörigen des BGS nicht direkt an den Petitionsausschuß wenden sollten, sondern an das Ministerium oder daß sie den Dienstweg beschreiten sollten.
({10})
Ich meine, es ist ein ganz starkes Stück, daß so etwas gemacht wird.
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Vielleicht hätten wir sonst ein paar Petitionen mehr. Frau Kollegin Nickels, Sie haben Herrn Kanther damals angeschrieben.
({12})
- Im Namen von allen. Ob dies abgestellt wurde, weiß ich nicht. Ich sage nur, daß dies als abschrekkendes Beispiel zumindest in den nächsten Jahresbericht aufgenommen werden sollte.
({13})
Ich kann Ihnen noch ein anderes Beispiel nennen: Durch einen Federstrich im Finanzministerium ist ein mittelständisches Unternehmen mit 25 Mitarbeitern totgemacht worden. Die sitzen auf der Straße. Wir haben letzte Woche die Petition zur Erwägung beschlossen. Wir alle hoffen, daß dieser Fall korrigiert wird, nachdem der Bundesfinanzminister bereits von der EU-Kommission in dieser Sache gerügt wurde. Das ist auch ein schlimmes Beispiel von Bürokratenwillkür - so will ich das hier einfach einmal bezeichnen -, von dem ich mir auch wiederum nicht vorstellen kann, daß die politische Führung so etwas deckt. Denn bei der großen Zahl von Arbeitslosen müssen nicht auch noch Verwaltungsbeamte dafür sorgen, daß Unternehmen den Bach hinuntergehen.
({14})
Umgekehrt sollte man prüfen, wie man diesen Mitarbeitern helfen und dieses Unternehmen letztlich erhalten kann.
Wir haben einen einstimmigen Beschluß gefaßt. Wenn dem nicht entsprochen werden wird, werden wir im Parlament auf jeden Fall noch einmal auf diesen Fall zu sprechen kommen. Das kann ich Ihnen jetzt schon versprechen.
Im wesentlichen stimme ich also dem zu, was Frau Kollegin Nickels zum Grundsätzlichen gesagt hat. Die Sonntagsreden gehen mir allmählich auf den Geist. Heute ist Gott sei Dank nicht darauf hingewiesen worden, wie früh wir aufstehen und was wir in den Ferien tun. Ich empfinde das als die selbstverständliche Arbeit eines jeden Parlamentariers im Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern und als nichts anderes. Das ist ein ganz normaler demokratischer Vorgang. Ich würde mich freuen, wenn in diesem Parlament noch mehr dies so sähen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Das kann man jetzt bei der Bundesregierung erkennen, aber auch im gesamten Hause, bei den einzelnen Fraktionen mehr oder weniger.
({15})
Reinhold Hiller ({16})
- Das ist so, und wir müssen darüber nachdenken - hier stimme ich der Ausschußvorsitzenden zu -, wie wir dies ändern können.
Ich persönlich arbeite gerne in diesem Ausschuß, auch wenn ich jetzt sehr viele negative Dinge dargestellt habe und sehr viele Schwierigkeiten mit der Arbeit verbunden sind. Ich halte diese Arbeit, so wie Sie das auch formuliert haben - ich will es nicht wiederholen -, ebenfalls für äußerst sinnvoll und hoffe, daß ich diesem Ausschuß nach der Bundestagswahl - dann in der fünften Periode - wieder angehören werde.
({17})
Ich schließe damit die Aussprache.
Nach dieser Debatte möchte ich den Mitgliedern des Petitionsausschusses im Namen des ganzen Hauses für ihre viele Arbeit danken. Sie tun diese Arbeit ja für uns alle. Viele von uns greifen auf die Ergebnisse dieser Arbeit zurück und freuen sich, daß Sie das machen.
({0})
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ursula Burchardt, Marion Caspers-Merk, Michael Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsetzung der Empfehlungen der EnqueteKommission Schutz des Menschen und der Umwelt" durch die Bundesregierung
- Drucksachen 13/6705, 13/9714 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung"
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Rolf Köhne, Eva Bulling-Schröter und der Gruppe der PDS zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung"
Konzept Nachhaltigkeit
Fundamente für die Gesellschaft von morgen
Drucksachen 13/1533, 13/7400, 13/7414 ({3}), 13/8545, 13/10168Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Reichard ({4}) Marion Caspers-Merk
Birgit Homburger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben soeben die Berichte des Petitionsausschusses gehört, der Anwalt der Bürger und Bürgerinnen im Parlament ist. Nunmehr diskutieren wir den Zwischen- und nach einer gestrigen, sehr langen Sitzung gleichzeitig auch den Endbericht einer Enquete-Kommission, die quasi ein Runder Tisch im Parlament ist, an dem Expertinnen, Experten und Abgeordnete gleichberechtigt zusammenarbeiten und versuchen, langfristige Politikberatung zu machen. Bei unserem Thema bedeutet dies: Nachhaltigkeit - was heißt das überhaupt? Wie können wir Nachhaltigkeit im Deutschen Bundestag nach vorne bringen, wie können wir diese als Leitbild in der Gesellschaft verankern?
Unser Endbericht trägt den Titel „Konzept Nachhaltigkeit - vom Leitbild zum Handeln", und dies ist auch der programmatische Anspruch der gesamten Kommission. Wir wollen im Gegensatz zu anderen Arbeiten zum Thema Nachhaltigkeit im Endbericht konkret werden. Dies bedeutet, daß wir nicht weiterhin viele Umweltziele sammeln, ohne zu sagen, wie denn diese Umweltziele erreicht werden sollen. Wir haben uns vielmehr um deren Umsetzung bemüht und stellen ganz konkrete Forderungen. Denn das „Weiter so wie üblich" ist gerade bei der Nachhaltigkeit ein großes Risiko. Wir haben uns deshalb vor allen Dingen vorgenommen, in drei Beispielfeldern ganz konkrete Antworten zu geben.
Was heißt Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit heißt, daß wir nicht mehr vom Naturkapital leben wollen, sondern von den Zinsen der Natur, und daß wir unseren Kindern eine lebenswerte Umwelt hinterlassen wollen. Dies bedeutet einen neuen Ansatz, ein neues Politikverständnis. Deswegen ist es auch so schwierig, dieses sperrige Thema der Nachhaltigkeit im Deutschen Bundestag zu verankern.
Wer also eine nachhaltige Entwicklung will, muß drei Fragen beantworten: Was soll erreicht werden? Das heißt: Wie sind die Ziele? Zweitens: Wie, mit welchen Instrumenten und Maßnahmen, soll etwas erreicht werden? Drittens: Wer ist dabei jeweils verantwortlich?
Wir haben uns am Anfang zu einem sehr mutigen Leitbild entschlossen und uns darauf geeinigt, daß wir von der künftigen Bundesregierung eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie einfordern wollen. Das ist das Wie. Wir wollen ebenfalls sagen, wer eine tragende Rolle haben wird. Deswegen machen wir den Vorschlag, einen Rat für nachhaltige Entwicklung
neu zu gründen. Diesem Rat wird eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieses Leitbilds zugestanden. Wir fordern aber nicht, daß eine weitere Institution ins Leben gerufen wird. Vielmehr erheben wir auch mahnend den Zeigefinger und sagen: Das derzeitige institutionelle Arrangement hier im Bundestag, bei der Bundesregierung, aber auch generell ist reform-und überarbeitungsbedürftig im Sinne der Nachhaltigkeit.
({0})
Es gibt derzeit insgesamt - das muß man sich einmal vorstellen - 538 verschiedene Beratungsgremien mit über 7000 Mitarbeitern - in der Mehrzahl sind es Männer in einem bestimmten Alter -, die den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung beraten. Wir haben es mit einer Gremienvielfalt zu tun, in der diese Querschnittaufgabe der Nachhaltigkeit unseres Erachtens zu kurz kommt. Auch deswegen haben wir den Beschluß gefaßt, die Einsetzung eines Rats für nachhaltige Entwicklung vorzuschlagen, aber gleichzeitig keine Bestandsgarantie für bestehende Gremien auszusprechen. Vielmehr sagen wir: Die bestehende Gremienlandschaft muß durchforstet werden. Es macht doch keinen Sinn, daß wir jedes Jahr über 130 Berichte mehr oder weniger zur Kenntnis nehmen, daß wir fast 20 Berichte allein im Umweltbereich zur Kenntnis nehmen müssen, ohne daß diese Querschnittaufgabe der Nachhaltigkeit ausreichend thematisiert wird.
({1})
Wir haben neben der Nachhaltigkeitsstrategie und dem Vorschlag zur Einsetzung des Rates drei konkrete Beispielfelder erarbeitet. Wir haben versucht, für diese Felder an Hand von Umweltzielen Vorschläge für Handlungsmaßnahmen und für Instrumente zu machen.
Beim Thema Bauen und Wohnen sagen wir: Der derzeitige Flächenverbrauch von 120 Hektar pro Tag ist viel zu hoch. Wir brauchen deshalb eine deutlichere Reduzierung des Flächenverbrauchs, eine Abkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Flächenverbrauch und eine Zurückführung des Verbrauchs auf 10 Prozent des heutigen Wertes. Das ist ein langfristiges und sehr anspruchsvolles Ziel.
({2})
Wie sollen diese Ziele erreicht werden? Diese Ziele haben wir schon in vielen Berichten lesen können. Wir geben nun drei strategische Antworten. Die erste ist: Wir wollen eine Stadt der kurzen Wege. Wir sprechen uns dagegen aus, daß sich nach wie vor Flächenteppiche bis in das Umland der Städte hinein ausbreiten, so daß wir im Prinzip kaum mehr eine Stelle in der Bundesrepublik Deutschland haben, an der kein Verkehrslärm zu hören ist, an der nicht durch Zerschneidung und Zerstörung Lebensräume bedrohter Tiere und Pflanzen aktuell gefährdet sind. Deswegen sagen wir: Neben der Reduktion des Flächenverbrauchs brauchen wir Vorrangflächen für den Naturschutz und müssen diese vernetzen. Auch dazu hat sich die Kommission geäußert.
Neben dem strategischen Ziel „Stadt der kurzen Wege" haben wir als zweites eine Orientierung am Gebäudebestand vorgeschlagen. Wir wollen das „Weiter so" beim Neubau brechen und fordern eine Ausrichtung aller Fördermaßnahmen am Bestand. Dies schafft erstens Arbeitsplätze, weil die Altbausanierung beispielsweise mehr Menschenarbeit als Maschinenarbeit mit sich bringt. Eine solche Politik wäre gerade in der derzeitigen Lage geboten. Zweitens ist sie vernünftig, was den Flächenverbrauch angeht. Drittens tun wir auch etwas zur Erreichung des Klimaschutzzieles, wenn wir endlich Altbauten vernünftig renovieren und nicht nur eine „Pinselsanierung" vornehmen.
Wir haben uns als zweites Handlungsfeld die Versauerung von Böden herausgegriffen. Hier ist leider festzuhalten, daß wir in der Enquete-Kommission nicht zu einem gemeinsamen Votum gekommen sind. Es ist uns gelungen, die Probleme einmütig zu beschreiben. Wir haben uns dem EU-Ziel, wonach die versauerte Fläche zu halbieren ist, angeschlossen. In bezug auf die Maßnahmen und Instrumente ist die Koalitionsseite leider hinter den Forderungen ihrer eigenen Umweltministerin zurückgeblieben. Ich finde das ein bißchen schade, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen - dies sage ich bei aller guten Zusammenarbeit -, die Chance gehabt hätten, der künftigen SPD-geführten Bundesregierung einige Aufgaben ins Stammbuch zu schreiben. Ich finde es schade, daß Sie diese Chance nicht genutzt haben.
({3})
Wir haben uns als drittes Feld das Thema Informations- und Kommunikationstechnologie vorgenommen und haben diesbezüglich meiner Meinung nach Pionierarbeit geleistet. Jeder redet über die neuen Technologien. Keiner kann aber abschätzen, ob sie nachhaltig sind und was sie dazu beitragen. Diese Abschätzung haben wir vorgenommen. Wir haben mittlerweile gemerkt, daß diese Technologien Chancen und Risiken beinhalten. Es kommt darauf an, die Chancen der Technologien zu nutzen. Dies bedeutet für uns eine Umorientierung in Richtung Nachhaltigkeit. Dies wollen wir durch vier strategische Optionen durchsetzen.
Die erste strategische Option ist, daß wir beim Ressourcenverbrauch bei den Geräten selbst ansetzen. Jeder kennt das Problem Stand-by. Jeder kennt das Problem, daß zum Beispiel bei einem PC 90 Prozent des Energiebedarfs schon in der Herstellungsphase entstehen. Wenn wir also künftig etwas tun wollen, müssen wir in diesem Feld wirklich deutlich draufsatteln.
Wir wollen zweitens eine verbesserte Anwendung der Geräte. Wir wollen drittens als strategische Orientierung, daß wir mit den Ressourcen insgesamt schonender umgehen. Wir wollen viertens die informierte Gesellschaft mit einem breiten Zugang der Bevölkerungsschichten beim Thema Informations-
und Kommunikationstechnologie.
Lassen Sie mich abschließend unsere Arbeit bewerten. Ich meine, wir haben gerade in einer umMarion Caspers-Merk
weltpolitisch schwierigen Zeit weitgehend im Konsens zukunftsweisende Ziele ausgearbeitet und auch Wege und Lösungen erarbeitet, die sich sehen lassen können.
Ich möchte mich als Vorsitzende bei den Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Mein Dank gilt auch den still im Hintergrund arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats. Ich hoffe, daß unser Bericht, der in 67 Sitzungen erarbeitet wurde und über 1 Million Zeichen hat, nicht nur einen Platz auf Bücherregalen findet, sondern intensiv diskutiert wird. Ich hoffe, daß die Kolleginnen und Kollegen mich bei diesem Anliegen unterstützen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Paul Laufs.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Empfehlungen der Enquete-Kommission für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zeigt eindrucksvoll die vielfältigen Bemühungen des Gesetz- und Verordnungsgebers, der staatlichen Verwaltungen, der Wirtschaft und von gesellschaftlichen Gruppen, Beiträge zu diesem für unsere Industriegesellschaft äußerst wichtigen Strukturwandel zu leisten. Dabei werden insbesondere die außerordentlich zahlreichen nationalen und internationalen Aktivitäten der Bundesregierung dargestellt und sichtbar.
Nachhaltigkeit umfaßt zwingend drei Dimensionen: Ökologische, ökonomische und soziale Aspekte sowie deren Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen sind gemeinsam zu betrachten. Die Antwort der Bundesregierung auf die vorliegende Große Anfrage der SPD spricht die Komplexität der Zusammenhänge an und zeigt, daß die Möglichkeiten der staatlichen Regulierung begrenzt sind. Sie konzentriert sich auf die Bemühungen um eine umweltgerechte Entwicklung, also die ökologische Dimension.
Auch der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" dieser Wahlperiode ist es leider nicht gelungen - was sie im Abschlußbericht einvernehmlich und selbstkritisch vermerkt -, ökologische, ökonomische und soziale Ziele, Qualitäts- und Handlungsziele für besondere Beispielfelder hinreichend wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich fundiert zu erarbeiten. Vor allem ist noch überhaupt nicht darstellbar, wie soziale Kriterien systematisch und ausreichend einbezogen werden können. Es bleibt viel zu tun, um im Sinne der Agenda 21 Nachhaltigkeitsstrategien zu entwerfen, die das Leitbild der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung in konkrete Ziele und Maßnahmen umzusetzen vermögen. Es ist ein wenig eine Verlegensheitslösung - so habe ich das immer empfunden, Frau Caspers-Merk -, die Hoffnung nun vor allem auf einen neu einzurichtenden Nachhaltigkeitsrat zu setzen.
Der Zugang zu einer integrativen Politik der Nachhaltigkeit erfolgt bisher über ökologische Zielsetzungen. Auch mit dieser Selbstbeschränkung sind die Zusammenhänge und gegenseitigen Beeinflussungen der Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft höchst schwierig zu benennen und zu bewerten. So müssen nationale Anstrengungen auch internationale Entwicklungen berücksichtigen, sich in sie einfügen und vorantreiben. Wenn zum Beispiel 85 Prozent der Bekleidungstextilien importiert werden, kann es nicht ausreichend sein, allein in Deutschland das gesundheitliche und ökologische Gefährdungspotential durch Textilien, Farbstoffe und Textilhilfsmittel sehr gering zu halten - wozu sich die deutsche Industrie gemäß ihrem Klassifizierungskonzept selbst verpflichtet hat.
Die hier debattierte Große Anfrage und die Entschließungsanträge haben natürlich die politische Zielsetzung, vor allem die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Wir stimmen darin überein, daß es eine bedeutende Aufgabe der Bundesregierung ist, eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zu fördern, Anstöße zu geben, für sie zu werben und auch die richtigen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen zu setzen.
Es gehört zum parlamentarischen Rollenspiel, daß die Opposition mit den Erfolgen der Regierung nicht zufrieden ist. Bei allen verständlichen Forderungen sollte aber zumindest unsere Verfassung respektiert werden. Da wird die Bundesregierung etwa gefragt, mit welchen Maßnahmen sie die Kontrolldefizite bei der Chemikalien-Verbotsverordnung abbauen und mit welchen Mechanismen sie die Verwertung und Entsorgung von PVC-Produkten überwachen will. Nach dem Grundgesetz ist der Vollzug allein Ländersache. Fragen Sie gleich bei den Landesregierungen nach!
Da wird die Bundesregierung auch nach ihrem Beitrag zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Alkalien-, Chlorwasserstoff- und Primärchlorproduktionen gefragt. Unsere Wirtschaftsordnung beläßt es immer noch in der Verantwortung der Unternehmen am Markt, im Rahmen des geltenden Rechts den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen. Hier wird aber der prinzipielle Unterschied zwischen den politischen Vorstellungen sichtbar. Die zentrale Frage ist, wo die Grenze der persönlichen Freiheit und Verantwortung verläuft, wo Subsidiarität - also helfende und ergänzende Stützung durch den Staat - und wo unmittelbarer staatlicher Zwang zur Gefahrenabwehr und Vorsorge gefordert ist.
Wir in der Koalition erwarten und streben an, daß die nachhaltige Gestaltung der Industriegesellschaft ganz überwiegend durch eigenverantwortliches Handeln der einzelnen Akteure im Wirtschaftsgeschehen und in der Gesellschaft erfolgt. Wir sind überzeugt, daß wir auf die große Anpassungsfähigkeit der Marktwirtschaft setzen können und dafür unternehmerische Handlungsspielräume offenhalten müssen. Ein Beispiel ist das Konzept der Bundesregierung für die IT-Altgeräte-Verordnung, die eine Kombination der von den IT-Geräteherstellern angebotenen kooperativen Maßnahmen und von ordDr. Paul Laufs
nungsrechtlichen Anforderungen an die Rücknahme, Verwertung und Beseitigung gebrauchter IT-Geräte vorsieht.
Wir halten es für einen geschichtlich nun wirklich hinreichend markierten Irrweg, vor allem durch unmittelbare staatliche Eingriffe und Zwangsmaßnahmen eine nachhaltige Entwicklung umfassend steuern und erzwingen zu wollen. Die rotgrünen Rezepte und Programme sind durchdrungen von einer Staatsgläubigkeit, wie sie in allen modernen Industriegesellschaften dieser Welt als längst überholt, verfehlt und schädlich zu den Akten gelegt worden ist.
({0})
Mit einer staatlichen Umweltplanwirtschaft können wir die Gesellschaft von morgen nicht herbeizwingen. Die integrative Politik der Nachhaltigkeit setzt vielmehr auf die verantwortliche Mitwirkung von Produzenten und Konsumenten. Sie fördert das Umweltbewußtsein und gibt Anreize für Innovationen zugunsten von ressourcen- und emissionsarmen Produktionen und Produkten, die sich durch Langlebigkeit, Reparaturfreundlichkeit, geringen Material-und Energieeinsatz bei Ge- und Verbrauch und optimale Verwertungs- und Beseitigungsmöglichkeiten auszeichnen.
Integrative, nachhaltige Politik sucht nach neuen Kooperationen zwischen Wirtschaft, Bürgerschaft und staatlichen Institutionen.
Da Sie, Frau Caspers-Merk, es so sehr bedauert haben, daß wir uns bei den Handlungsempfehlungen nicht einig werden konnten, muß ich Ihnen sagen: Die Opposition liegt mit ihren, wie ich meine, etwas phantasielosen Rufen nach immer neuen Steuern und Abgaben, nach weiteren, vielfach rigorosen Grenzwertverschärfungen und staatlichen Bürokratien völlig falsch.
({1})
Das ist exakt das, was die Opposition gefordert hat. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Rochlitz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In meiner letzten Bundestagsrede möchte ich mein Bedauern und auch meinen Unmut darüber ausdrücken, daß hier nochmals der Zwischenbericht und nicht der Endbericht der Enquete-Kommission auf der Tagesordnung steht. Eigentlich ist es üblich, daß die Endberichte von Enquete-Kommissionen so rechtzeitig fertiggestellt werden, daß sie in den letzten Sitzungswochen der Legislaturperiode debattiert werden können. Dies ist in diesem Fall nicht gelungen. Ich möchte nicht so weit gehen, der Koalition zu unterstellen, daß sie dies beabsichtigt hat. Aber ich kann
mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie kein Interesse daran hatte, diese Debatte jetzt zu führen.
({0})
Herr Laufs, wenn Sie jetzt die ökologische Steuerreform ansprechen, dann muß ich Ihnen sagen: Sie haben völlig übersehen, daß in unseren Debatten, auch in denen der Enquete-Kommission, immer von einer Aufkommensneutralität die Rede war.
({1})
Die Arbeit in dieser Enquete-Kommission hat mir gezeigt, wie dringend nötig - gerade in einer Phase andauernder Massenarbeitslosigkeit - Anwälte von Natur und Umwelt sind, die sich von niemandem, auch nicht von Vertretern einer angeblichen Realpolitik, einschüchtern lassen. Denn innovative Umweltpolitik - darum geht es, Herr Laufs - schafft auch Arbeitsplätze. Deswegen werde ich die Umweltpolitik nicht an den Nagel hängen. Ich werde außerparlamentarisch versuchen, der Regierung und der Opposition, aber auch ein klein bißchen meiner eigenen Partei, umweltpolitisch Beine zu machen.
({2})
In einer Zeit, in der die weltweite Zerstörungsbilanz eines einzigen Tages nicht nur durch die Vernichtung von 55 000 Hektar Tropenwald, sondern auch durch das Aussterben von 100 bis 200 Arten und einer Belastung der Atmosphäre durch 60 Millionen Tonnen CO2 gekennzeichnet ist, in einer Zeit, in der in Deutschland der tägliche Verbrauch freier Fläche von zirka 120 Hektar zugunsten von Siedlungs-
und Verkehrsmaßnahmen tatenlos hingenommen wird, in der weder wirkungsvolle Maßnahmen gegen die zunehmende Versauerung der Böden noch gegen die in jedem Sommer wiederkehrende zu hohe Ozonbelastung unternommen werden, in einer Zeit, in der unsere Kinder zwar wissen, daß seit ihrer Geburt der Bundeskanzler Kohl heißt, aber nicht mehr erleben können, wie Glühwürmchen zu Sommernächten im Grünen gehören, wie Wiesen und Feldraine wirklich bunt blühen und wie vielstimmig das Gezwitscher im Frühling überall sein könnte - um nur diese Beispiele zu nennen -, in einer solchen Zeit brauchen wir Abgeordnete, die sich nicht damit abfinden und die für das Konzept der Nachhaltigkeit und für die Fundamente der Gesellschaft von morgen kämpfen.
Angesichts der Tatenlosigkeit oder der Unvollkommenheit der ergriffenen Maßnahmen in der nationalen und internationalen Politik der Nachhaltigkeit hat die zentrale Aussage der Brundtland-Kommission in ihrem Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft" von 1987 immer noch höchste Aktualität:
Die Hoffnungen, die unsere Kommission an die Zukunft setzt, sind indessen an die Bedingung geknüpft, daß ein entschlossenes politisches Vorgehen möglichst bald die Voraussetzungen für eine umfassende Verwaltung der Umweltressourcen schafft.
Sie sprach eine dringliche Warnung aus:
Eine dringliche Warnung, die auf neuesten und modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, und deren Hauptaussage darin besteht, daß die Zeit reif ist, um die für die Erhaltung der Lebensgrundlagen dieser und künftiger Generationen notwendigen Entscheidungen zu treffen.
Ich bedaure sehr, daß es die Umweltpolitiker in dieser Legislaturperiode nicht gekonnt, aber auch nicht gewollt haben, über Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam in diesem Sinne die notwendigen Entscheidungen zu treffen - wenn nötig auch gegen die eigene Fraktion. Leider haben sie es nicht verstanden, sich gegen den Trend der Entpolitisierung des Umweltthemas zu stellen.
({3})
Von meinen Kolleginnen und Kollegen in der Enquete-Kommission hätte ich diesen Mut noch eher erwartet als von denen im Umweltausschuß, denn in der Enquete-Kommission sollten Konzepte für eine Politik erarbeitet werden, die über die Legislaturperiode hinausweisen. Aber auch in der Enquete-Kommission wurde mehrheitlich eher an einem schwachen Bild der Nachhaltigkeit gefeilt als an einem Bild der Nachhaltigkeit im Sinne der Brundtlandschen Warnung, das die notwendige grundlegende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zum Inhalt hat.
Nachhaltigkeit lediglich als regulative Idee zu verstehen, als Basis eines Such- und Lernprozesses, der im Wettbewerb der Marktwirtschaft seine ökonomische Ausprägung erfährt, bedeutet für mich einen weiteren Schritt in Richtung Abwertung zur Floskel. Für mich war es da nur folgerichtig, die Problemlagen der Nachhaltigkeit in einem Sondervotum zum Grundsatzkapitel des Endberichts darzulegen.
Es ist leider festzustellen, daß sowohl die gegenwärtige nationale und internationale Umweltpolitik als auch die kümmerlichen Ansätze angeblicher Nachhaltigkeitspolitik von der ökologischen Notwendigkeit weit entfernt sind, ganz zu schweigen von einer wirklichen Zukunftsfähigkeit. Dies belegen verschiedene Institutionen, wie Umweltbundesamt, Sachverständigenrat für Umweltfragen, Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch usw. Das Umweltbundesamt hat im letzten Jahr unübertrefflich dargelegt - ich zitiere -:
Wenn Politik Nachhaltigkeit gezielt gestalten will, dann muß sie die Tragekapazität der Umwelt als letzte unüberwindliche Schranke für alle menschlichen Aktivitäten zur Kenntnis nehmen.
Abschließend möchte ich allen Umweltpolitikern für die nächste Legislaturperiode mehr Mut und mehr gemeinsame Konsequenz in Richtung Nachhaltigkeit wünschen. Ich hoffe und wünsche Ihnen sehr, daß diese Zielvorstellung nicht schon in der nächsten Legislaturperiode bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wird.
Lassen Sie mich zum Abschluß die Gelegenheit wahrnehmen, insbesondere den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Sekretariate der Enquete-Kommission und des Umweltausschusses für ihre vorzügliche Zuarbeit ganz herzlich zu danken.
Zu danken ist ebenfalls den Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, mit denen zum Schluß unserer Arbeit eine gute rotgrüne Zusammenarbeit gelang.
Auch die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition in beiden Gremien möchte ich von der Danksagungszeremonie nicht ganz ausnehmen, Frau Hellwig. Allerdings fällt dieser Dank etwas subtiler aus, Frau Homburger. Er gilt Ihren an Deutlichkeit mitunter nicht zu überbietenden Worten der Ablehnung einer nicht nur von mir eingeforderten konsequenten Umweltpolitik.
Danke schön.
({4})
Jetzt hat die Kollegin Birgit Homburger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" hat gestern ihren Abschlußbericht beschlossen. Er kann somit der Präsidentin übergeben werden. Wir haben es schon gehört: Es gibt allein mehr als 130 Berichte an die Bundesregierung. Dazu kommen noch mehr als 500 Gremien und Kommissionen, die ebenfalls Berichte erstellen. Da stellt sich natürlich die Frage: Was hat da Bestand außer Tonnen von Papier? An was erinnert man sich? Welche Entwicklungen wurden angestoßen?
Die Vorgängerin der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" in der letzten Legislaturperiode, die sich mit Stoffströmen beschäftigt hat, hat etwas sehr Wichtiges, Grundlegendes entwickelt: die sogenannten Managementregeln, bei denen es um den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und Stoffen geht. Die jetzige Enquete-Kommission hat diese Managementregeln aufgegriffen und weiterentwickelt. Bis zu ihrem Zwischenbericht hat sie sich im wesentlichen mit der Formulierung von Umweltzielen im Bereich Böden, Ressourcen und Stoffeinträge beschäftigt.
Im Endbericht machen wir nun klar, daß die Formulierung von Umweltzielen nur ein erster Schritt sein kann. Nur zusammen mit ökonomischen und sozialen Zielen wird daraus eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung entstehen. Das heißt, daß Umwelt, Soziales und Wirtschaft gleichrangige Säulen einer nachhaltigen Entwicklung sind. Jede der Säulen ist für das Gesamtgebäude unabdingbar. In diesem Sinne wird es in der Zukunft eine vorrangige Aufgabe sein, nicht nur Umweltpolitik, sondern auch alle anderen Politikbereiche unter Nachhaltigkeitsaspekten zu beleuchten; auch Wirtschafts- und Sozialpolitik muß auf Dauer nachhaltig zukunftsverträglich sein.
({0})
Ich denke, daß wir hier noch Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die Mitglieder der Enquete-Kommission werden sicherlich auch nach Beendigung ihrer Arbeit, jede und jeder an ihrem bzw. seinem Platz, dazu beitragen.
Bei der Formulierung der Ziele einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung war es der F.D.P. stets ein besonderes Anliegen, daß die Bedürfnisse der Menschen angemessen berücksichtigt werden. Vor allem - Herr Rochlitz, Sie haben es gerade selber angesprochen - die Grünen würden die Ziele noch immer gerne von oben vorgeben, sozusagen Umweltschutz par „ordre du mufti". Es ist halt einfacher, den Bürgerinnen und Bürgern seine Vorstellungen von einem nachhaltigen Konsum- und Produktionsstil zu verordnen, als wirklich darüber zu sprechen und einen Prozeß durchzuführen. Dahinter steckt nichts anderes als das alte staatliche Obrigkeitsdenken, wonach vorgeschrieben werden soll, wer was wo und wie produzieren und verwerten kann. Ein solches Regelungsdickicht - das haben Sie selber vorhin sehr deutlich gesagt - und eine solche Bevormundungspolitik lehnt die F.D.P. ab.
Statt dessen haben wir uns insbesondere in der Enquete-Kommission der vorangegangenen Legislaturperiode - dies betrifft also meine Vorgänger in dieser Enquete-Kommission; ich war ja nur in dieser Legislaturperiode Mitglied - der konzeptionslosen „Stoffdes-Monats-Politik" entgegengestellt und versucht, den Nachhaltigkeitsgedanken in Politik und Gesellschaft einzubringen.
Wichtig auf dem Weg zu einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung ist die Überprüfung der bisherigen Entscheidungsstrukturen in Staat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen auf die Integration der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension. Die F.D.P. hat sich massiv dafür eingesetzt, daß die Enquete-Kommission feststellt, daß sich eine Politik nicht in der Errichtung neuer Gremien, Ausschüsse und Umweltbeauftragter verlieren darf, sondern vielmehr den Grundsätzen des schlanken Staates folgen muß. Ich bin dankbar, daß auch von Frau Caspers-Merk, der Vorsitzenden der Enquete-Kommission, vorhin ausgeführt worden ist, daß es nicht nur darum geht, neue Gremien zu schaffen, sondern auch darum, darüber nachzudenken, welche alten Gremien man abschaffen kann. Auch das gehört dazu, wenn man in der Sache Effektivität erreichen will.
Für die F.D.P. ist klar, daß zur Erreichung des Ziels einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung auch die Chancen des technischen Fortschritts genutzt werden müssen. Eine nachhaltige Entwicklung ohne Innovationen ist nicht realisierbar. In diesem Punkt gab es innerhalb der Enquete-Kommission einen sehr deutlichen Dissens insbesondere zwischen den Grünen und den anderen Fraktionen. Das Potential von Markt- und Wettbewerbsprozessen als Motor für Kreativität und damit als Anstoß für nachhaltige Innovationen muß genutzt werden.
({1})
Auch bei der SPD war nicht immer vollständig klar, daß Deutschland nicht durch Kooperation an runden Tischen, sondern durch Wettbewerb erfolgreich wurde.
Der im vergangenen Jahr vorgelegte Zwischenbericht ist als Vorarbeit zum Endbericht anzusehen. Die Berichte und Anträge, die der heutigen Debatte zugrunde liegen, sind fast vollständig überholt.
({2})
Besonders ärgerlich ist jedoch der Entschließungsantrag der PDS zum Zwischenbericht, der vor allem viele Fragen enthält, die bei kontinuierlicher Mitarbeit in der Kommission hätten besprochen werden können. Zum Schluß lediglich ein Sondervotum abzuliefern ist deutlich zuwenig.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Köhne.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast vier Jahre hat die Enquete-Kommission gearbeitet. Dabei hat sie im Detail durchaus beachtliche Ergebnisse erzielt. Die Kollegin und Vorsitzende der Kommission, Frau Caspers-Merk, hat das vorhin vorgetragen. Die Fakten, die zum Flächenverbrauch, zur Versauerung von Böden und auch zum Thema Informations- und Kommunikationstechnologien zusammengetragen wurden, sind durchaus erwähnenswert. Das muß man an dieser Stelle würdigen. Das tue auch ich.
Dennoch kommen wir zu einer anderen Gesamtbewertung. Ich halte diesen Gesamtbericht nach wie vor für nicht richtungsweisend im Sinne einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß selbst dann, wenn den dort gemachten Vorschlägen gefolgt würde, das Ziel nicht erreicht und die bedrohlichen zukunftsunfähigen Basistrends eher noch verstärkt würden. Grund für diese negative Haltung zu diesem Bericht ist im wesentlichen das Kapitel 2, das ein Loblied auf die sogenannte soziale und ökologische Marktwirtschaft singt, das aber völlig an der eigentlichen Thematik vorbeigeht, indem überhaupt nicht berücksichtigt wird, welche Zusammenhänge in der Realität zwischen Wirtschaft, Sozialem und Umwelt bestehen.
Frau Kollegin Homburger, ich erinnere gerade in diesem Zusammenhang an folgendes: Es hat in der Kommission zu diesem Thema eine einzige Debatte gegeben, und zwar im November 1996. Es wird daher deutlich, daß es in diesen Fragen einen grundlegenden Dissens gibt und daß auf dieser Basis eine Einigung nur sehr schwer möglich sein wird. Man hätte an den Fragen, die damals aufgeworfen worden sind, weiterarbeiten müssen.
({0})
- Natürlich. Man muß sich darüber Gedanken machen, wie Wirtschaft und Sozialwesen der Bundesrepublik Deutschland auf lange Sicht umgebaut werden können.
({1})
Im Moment jedenfalls läuft es darauf hinaus, daß Sie versuchen, die Ökonomie dieses Landes unverändert zu lassen. Weil aber diese Ökonomie, die Sie beibehalten wollen, letztlich die angesprochenen Basistrends wie Umweltzerstörung, Armut in der dritten Welt und Arbeitslosigkeit hervorruft, gibt es hier ein grundlegendes Problem.
({2})
- Das ist genau das Problem. Das möchte ich noch einmal unterstreichen.
In diesem Zusammenhang möchte ich das Buch von Fritz Reheis „Die Kreativität der Langsamkeit" anführen. In ihm wird herausgearbeitet, daß die Produktion zum Zwecke der Geldvermehrung statt einer Produktion für den tatsächlichen Bedarf der Fehler im System ist, der dazu führt, daß wir weltweit diese Umweltzerstörung haben. Der Ansatz der Kommissionsmehrheit - das ist von Ihnen beim „Novemberputsch" im letzten Jahr durchgedrückt worden - läuft darauf hinaus, die Ursache zu belassen und sich nur insoweit ein bißchen anzupassen, als alles noch eine Weile weitergehen kann.
({3})
Dagegen wäre es notwendig gewesen, eine grundlegende Änderung der Produktions- und Lebensweisen herbeizuführen. Die Lebensinteressen der Menschen und der Natur, also die sozialen und die ökologischen Erfordernisse, sind die harten Bedingungen, an die das Gesellschaftssystem und die Wirtschaft angepaßt werden müssen. Dieser Gedankengang findet sich im wesentlichen eigentlich nur noch in dem Minderheitenvotum des Abgeordneten Professor Dr. Jürgen Rochlitz. Deswegen habe ich mich diesem Minderheitenvotum angeschlossen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Hellwig.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn etwas von dieser Kommission in die Öffentlichkeit dringen und auch öffentlich diskutiert werden wird - ich hoffe das -, dann ist es die Erweiterung der rein ökologischen Managementregeln in Richtung auf ökonomische und soziale Regeln. Darin ist natürlich auch gleich das gesamte Spannungsfeld enthalten. Diese Managementregeln sind zunächst einmal sehr abstrakt. Trotzdem sind sie gut, weil sie meines Erachtens geeignet sind, das allgemeine Problembewußtsein darüber weiter zu schärfen, ob unser Produzieren und Konsumieren sowohl nach Umweltkriterien als auch nach ökologischen und sozialen Kriterien nachhaltig genug ist.
Mein lieber Herr Köhne, Ihre lockeren Sprüche besagen, man müsse das ganz anders angehen und hier härtere Vorgaben machen. Das geht aber in einer freiheitlichen Demokratie und in einer Marktwirtschaft nicht. Das ist der Unterschied zu gewalttätigen Formen von rechts und links, wo geglaubt wird, man könne dem Bürger zu seinem eigenen Wohl irgend etwas fest vorschreiben. Die Demokratie ist mühselig. Wir alle, soweit wir den die Demokratie tragenden Parteien angehören, müssen immer wieder gemeinsam um die Zustimmung zu diesem mühseligen Weg ringen. Deswegen ist es auch von dem allgemeinen Problembewußtsein, das wir mit den Managementregeln günstigstenfalls schärfen werden, noch ein sehr weiter Weg bis zur persönlichen Verantwortlichkeit des einzelnen. Dann kommt immer noch der nächste Schritt, nämlich die tatsächliche Verhaltensveränderung. Diese Verhaltensveränderung wird also zum einen persönlich initiiert, wobei - wir alle erleben das jetzt im Wahlkampf; wir diskutieren darüber ja auf allen Ebenen sehr intensiv - dann sehr schnell die Verantwortungsverschiebung kommt und es heißt, die anderen, die Großen seien noch viel schlimmer, weshalb man sich selbst auch nicht ändern müsse. Zum anderen muß auch die erzwungene Verhaltensveränderung, die durch die Rahmenbedingungen von außen vorgegeben wird, akzeptiert werden. Um diese zweifache Akzeptanz zu ringen ist nicht einfach.
Ich finde es sehr beruhigend und gut, daß sich diese Managementregeln eben nicht nur an den Staat richten. Das ist deswegen gut, weil die Erwartungen an den Staat, der einem alle Sorgen abnimmt und möglichst auch noch den ökologischen Ablaß erteilt, zum Teil so sehr überzogen sind, daß die Enttäuschung schon vorhersehbar ist. Erwartung und Enttäuschung liegen hier viel zu dicht beisammen.
In einer sozialen Marktwirtschaft wie der unseren - das sollte man immer wieder betonen - haben natürlich auch die Tarifpartner entsprechende Verantwortung; auch die sozialen Organe haben Verantwortung. Bezüglich der Tarifpartner möchte ich solch ein Beispiel nennen. Unter den Bedingungen einer freiheitlichen repräsentativen Demokratie können auch die Tarifpartner nicht ohne den Dialog mit ihren jeweiligen Mitgliedern irgend etwas in Vereinbarungen festlegen.
Ich nehme jetzt einmal das Spannungsfeld, in dem die Kommission ja notgedrungen noch sehr wortkarg war, zwischen den drei Säulen, den drei Managementregeln als ein Beispiel. Wir haben die Wettbewerbsfähigkeit ausdrücklich in einer schönen Formulierung definiert: Die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft in ihrem Produktiv-, Sozial- und Humankapital muß im Zeitablauf zumindest erhalten bleiben. Das ökonomische System muß Bedürfnisse effizient befriedigen. Die Preise müssen entsprechende Lenkungsfunktionen haben, und die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs müssen eingehalten werden.
Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit auch gegenüber den Nachbarn, den konkurrierenden Wirtschaften muß erhalten bleiben. Das bedeutet, daß bei der Vereinbarung der Tarifpartner die Verteuerung der Produkte, die auf dem deutschen Markt hergestellt werden, nicht unbegrenzt möglich ist, weil sonst die Wettbewerbsfähigkeit - insofern auch gegen die Forderung der Nachhaltigkeit - kaputt ist.
Jetzt tritt hier eben doch ein Spannungsfeld auf; denn ich kann einerseits Produkte dadurch verteuern, daß ich die Produktion umweltfreundlicher gestalte. Umweltfreundlichere Produktion verlangt zunächst einmal Investitionen. Gleichzeitig müssen aber auch die Tarifpartner die Bedürfnisse des Menschen nach Lohnerhöhung befriedigen. Hier entsteht im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit ein gewisses Spannungsfeld. Es geht nicht beides in gleichem Maße. Hierin steckt ein gewisses Entweder-Oder. Es geht darum, für den Bürger akzeptabel zu machen, daß es hier kein Sowohl-als-auch gibt.
Man kann nicht sagen - so wird das ja in gigantischem Selbstbetrug im Programm der Grünen sehr deutlich -: Wir fordern für alle ein Grundgehalt, ganz gleich, ob Sie arbeiten oder nicht; wir wollen im Sozialbereich soweit gehen wie möglich, aber wir wollen gleichzeitig optimale ökologische Bedingungen erreichen.
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Dies ist nicht möglich, wenn ich die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftens erhalten will. Die Grünen begehen einen gigantischen Selbstbetrug. Ich finde, wir sollten uns mit dieser Frage durchaus intensiver befassen; denn dieses Maß an ehrlicher Diskussion ist in unserer Bevölkerung gar nicht so einfach durchzusetzen. Das wissen wir alle.
Lassen Sie mich zum Beispiel Wohnen nur ein Stichwort sagen: Es wird nicht einfach sein, das, was wir an Forderungen, an Verbesserungen des ökologischen Wohnens für sinnvoll halten, tatsächlich bei der Bevölkerung durchzusetzen.
Zu Innovationen - meine Redezeit läuft leider ab - kann ich nur noch ein Stichwort nennen: Ich will mich darauf konzentrieren, daß meines Erachtens das Internet und das Fernsehen eine Art Ersatzmobilität schaffen. Ich bringe ein ganz konkretes Beispiel: Jetzt, während der Fußballweltmeisterschaft, sitzen so viele vor dem Fernseher, daß das Autofahren bis zu einem gewissen Grade reduziert worden ist - Ersatzmobilität durch Beschäftigung mit Fußballspielen in Frankreich.
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Zum Internet noch eine letzte Bemerkung:
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Die Arbeit in unserer Kommission hat durch einen sehr hohen Papierverbrauch eine nicht unbeträchtliche Umweltbelastung bewirkt. Ich werde am Ende dieser Legislaturperiode Berge von Leitz-Ordnern
wegwerfen können. Deswegen empfehle ich dringend, unseren sehr umfangreichen Bericht nicht nur in Form von Papier zu veröffentlichen, sondern im Internet. Das ist auf jeden Fall umweltfreundlicher, als ihn jetzt in Papierform weiterzuverbreiten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Hinter dem beschaulichen Titel „Schutz des Menschen und der Umwelt" verbirgt sich die gesamte Brisanz der aktuellen Debatte über Reformstau, gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven und Innovationsbedarf. Bei mir steht das Thema Innovation ganz oben und nicht erst am Schluß der Rede. Es wird sich durch die ganze Rede durchziehen.
In unserem Abschlußbericht haben wir Eckpunkte für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie formuliert. Das ist nichts anders als das Anforderungsprofil für eine gesellschaftliche Innovationsstrategie in Grundzügen. Die vier wichtigsten Essentials und Botschaften aus der Sicht meiner Fraktion sind diese.
Die erste Botschaft lautet: Eine kluge strategische Politik muß den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, die Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die gerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen als gemeinsames Ziel verfolgen und dies auch mit Blick auf unsere Kinder und Enkelkinder tun.
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Wir haben damit - und zwar im Konsens - die Grundvoraussetzung für Zukunftsfähigkeit, wie sie die erste Enquete-Kommission schon festgeschrieben hat, nochmals bekräftigt. Ich betone dies, weil die ökologische Dimension zwischenzeitlich heftig unter Beschuß geraten ist. Das geschah mit einer sehr durchsichtigen Begründung: Zu lange Zeit habe die Ökologie im Vordergrund gestanden; nun käme es darauf an, sich wieder stärker mit den wahren, den wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu beschäftigen. Keine Frage, Massenarbeitslosigkeit und reale Einkommensverluste weiter Kreise der Bevölkerung sind drängende Probleme und machen auch uns ganz ernsthafte Sorgen. Nun werden diese Sorgen mißbraucht, soziale Anliegen und Umweltfragen gegeneinander ausgespielt; lachende Dritte sind die Lobbyisten einzelwirtschaftlicher Interessen. Das behindert Problemlösungen und ist die eigentliche Innovationsblockade.
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Meine Damen und Herren, untauglich ist auch der Versuch, unsere Ergebnisse mit dem Hinweis abzutun - wir haben gerade schon die ersten Versuche erUrsula Burchardt
lebt -, wir hätten uns vorwiegend nur mit Ökologie beschäftigt. Nein, ganz im Gegenteil: Im Bericht ist zum Beispiel festgeschrieben, daß soziale Stabilität, soziale Gerechtigkeit und Solidarität unverzichtbare Eckpfeiler für eine zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung und Voraussetzung für die individuelle Freiheit sowie für gleiche und gerechte Entwicklungschancen eines jeden einzelnen sind. Mit Blick auf die nachwachsende Generation haben wir das auch konkretisiert. Das heißt dann zum Beispiel: mehr Bildung und weniger Staatsverschuldung. Darüber bestand Konsens. Genauso bestand Konsens hinsichtlich der Forderung, die Marktwirtschaft auf die Bedürfnisse der Menschen hin zu justieren. Sozialer Ausgleich und Naturerhalt - so die gemeinsame Formulierung - müssen gesamtwirtschaftliche Ziele sein. Nicht Shareholder Value, sondern faire Wettbewerbsbedingungen, das heißt klare Zielvorgaben und ökologisch ehrliche Preise sichern die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Innovationskraft.
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Die zweite Botschaft lautet: Um den technischen Fortschritt voranzutreiben und dadurch Chancen für mehr Lebensqualität zu nutzen, müssen die Risikopotentiale minimiert werden. Deswegen haben wir einvernehmlich eine weitere Managementregel formuliert. Sie lautet: Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit durch anthropogene Einwirkungen sind zu vermeiden. Die Vorgänge um die Castor-Transporte belegen die Aktualität und die Notwendigkeit dieser Handlungsmaxime. Frau Kollegin Homburger, wer Bürgerinteressen tatsächlich ernst nimmt, weniger staatliche Eingriffe und weniger Staatsausgaben, aber mehr Technikakzeptanz will, der muß langfristig auf Atomenergie verzichten.
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Die dritte Botschaft, die wir für bemerkenswert und wichtig halten, leitet sich automatisch aus der Bestandsaufnahme ab. Sie lautet: Ein „Weiter so wie bisher" führt in eine Sackgasse; ein Kurswechsel ist überfällig. Ursache des vielbeklagten Reformstaus und der mangelnden Innovationsfähigkeit ist eine Politik, die Entscheidungen auf kurze Sicht trifft, ohne langfristige Folgen und Wechselwirkungen zu bedenken. Wenn der Bericht jetzt fordert, das Ziel Nachhaltigkeit in jede Ressortarbeit zu integrieren, faktisch und nicht semantisch entsprechende Strukturen zu verändern, dann heißt dieses doch nichts anderes, als daß sich mindestens seit Rio nichts Entscheidendes getan hat.
Die Große Anfrage, die wir gestellt haben, hatte vor allem das Ziel, daß sich die Bundesregierung mit den Ergebnissen der ersten Enquete-Kommission auseinandersetzen mußte. Die Antwort auf diese Anfrage und das Mehrheitsvotum in der vorliegenden Beschlußempfehlung sind allerdings weiße Salbe. Die von Ihnen, Herr Kollege Laufs, angeführten Beispiele wie die hochgelobte IT-Geräteverordnung sind leider nur unzureichend und nicht geeignet, die Probleme tatsächlich zu lösen.
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Nun kann man Frau Merkel beim besten Willen nicht vorwerfen, Ökologiepolitik pur zu betreiben. Diesen Vorwurf erheben ja gelegentlich ihre eigenen Freunde. Manchmal gerät man als Opposition in die Not, Frau Merkel vor ihren eigenen Freunden in Schutz nehmen zu müssen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Weil Wirtschafts-, Verkehrs-, Finanz-und Landwirtschaftspolitik noch immer so betrieben werden, als sei man auf dem ökologischen Auge blind, gilt Umwelt nach wie vor als Begrenzungsfaktor und eben nicht als Innovationsmotor.
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Auch wenn tatsächlich die Notwendigkeit besteht, Frau Kollegin Hellwig, individuelle Verantwortung zu übernehmen und individuelles Verhalten zu verändern, ist doch innovatives Regieren gefordert. Die Kernelemente einer nachhaltigen Innovationsstrategie sind klare, langfristig gesetzte Umweltziele, ein Instrumentenmix aus modernisiertem Ordnungsrecht, kontrollierbaren und sanktionierbaren Selbstverpflichtungen, eine ressourcenschonende Steuer-und Infrastrukturpolitik sowie eine Bildungsoffensive. Nur so lassen sich die gesellschaftlichen Kräfte bündeln, Kapital und Know-how mobilisieren, neue Qualifikationen und neue Kooperation fördern, die wir alle doch wollen. Die SPD ist einen Schritt weitergegangen. Wir haben dieses Konzept bereits zum Bestandteil unseres Regierungsprogramms gemacht.
Die vierte Botschaft lautet: Globalisierung kann eine große Chance sein, wenn sie als Gestaltungsaufgabe verstanden wird. Wir haben uns in der Kommission mit den Fakten befaßt, und schon die ersten Ergebnisse stellen die Standortdebatte vom Kopf auf die Füße. Weder verhindern ferne Mächte den Schutz von Böden, Wasser und Ökosystemen noch blockieren sie eine nachhaltige Siedlungs-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik. Nein, es sind pure Lobbyinteressen, die sogar die Arbeit unserer Enquete-Kommission behindert haben. Es gab einzelne Beamte von Ministerien, von denen man den Eindruck hatte, daß sie klare Aufträge hatten, wie sie die Ergebnisse der Enquete-Kommission beeinflussen sollten.
Selbst für den Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik - meine Kollegin Caspers-Merk hat darauf hingewiesen; wir haben da Pionierarbeit geleistet - stellt sich heraus: Es gibt nicht nur nationalen Handlungsbedarf, sondern auch genügend Gestaltungsspielräume für eine konsequente Nachhaltigkeitspolitik.
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Es ist wie beim Fußball - die Analogie drängt sich in diesen Tagen auf -: Es gibt ein begrenztes Spielfeld; es gibt die eigene Mannschaft, Gegenspieler, und gewinnen kann man nur, wenn man die DekUrsula Burchardt
kung verläßt und in die Offensive geht. Nur waren dazu die Koalitionsfraktionen an den entscheidenden Stellen leider nicht bereit.
Einen großen Teil der Handlungsempfehlungen haben wir als Sondervotum formulieren müssen. Es ist schon bemerkenswert, daß das Mehrheitsvotum insbesondere in bezug auf das Thema „Versauerung" hinter die Ziele früherer Enquete-Kommissionen, hinter unseren gemeinsamen Zwischenbericht und hinter die Empfehlungen der Landesumwelt-
und -agrarminister sowie - das ist besonders pikant - hinter die Schwerpunkte von Frau Merkel zurückfällt. Das ist ein klassisches Eigentor. Weltmeister wird man so nicht.
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Wer wie die PDS das Spielfeld verläßt - Herr Köhne, wir alle haben Sie heute tatsächlich noch erkannt, obwohl Sie so lange nicht mehr in der Kommission gewesen sind - und Fundamentalopposition betreibt, der wird noch nicht einmal einen Blumentopf gewinnen.
Fazit: Es muß eine neue, frische Mannschaft her, ein gutes offensives Spielkonzept, dann ist die Zukunft zu gewinnen.
Zum guten Schluß danke auch ich allen Kolleginnen und Kollegen in der Enquete-Kommission ganz herzlich für die nicht immer ganz einfache - dazu habe ich vielleicht auch beigetragen -, aber faire Zusammenarbeit. Einen genauso herzlichen Dank richte ich an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Unterstützung unserer Arbeit.
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Eine Kurzintervention des Kollegen Köhne.
Frau Kollegin Hellwig, es geht nicht darum, daß ich gewaltsam oder auf eine irgendwie undemokratische Art und Weise - wie Sie behauptet haben - Umweltschutz, Nachhaltigkeit oder soziale Ziele durchsetzen will. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß die im Grundgesetz garantierten bürgerlichen Freiheitsrechte und das Demokratiegebot von mir nicht in Frage gestellt, sondern - im Gegenteil - gegen Ihre Angriffe verteidigt werden.
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Ein weiterer Punkt. Die ökonomische Realität dieses Landes - die kapitalistische Marktwirtschaft - ist im Grundgesetz nicht festgeschrieben. Vielmehr steht sie teilweise im Widerspruch dazu, zum Beispiel was die Sozialverpflichtung des Eigentums betrifft. Sie können wohl auch nicht behaupten, daß die Arbeitslosigkeit irgendwie mit der Würde des Menschen vereinbar sei.
Möchte jemand antworten? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Klinkert das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Caspers-Merk, Sie haben im Gegensatz zur letzten Rednerin fast ohne Wahlkampftöne über die Arbeit der von Ihnen geleiteten Enquete-Kommission berichtet. Ich möchte Ihnen, den Mitgliedern der Enquete-Kommission, den Sachverständigen und den Mitarbeitern herzlich für eine engagierte und sachkompetente Arbeit danken, die das BMU mit Interesse begleitet hat und deren Abschlußbericht wir nach seiner Vorlage intensiv auswerten werden. Ich kann Sie also beruhigen: Im BMU wird der Abschlußbericht nicht nur im Bücherregal stehen.
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Unbestritten ist - das wird auch von der EnqueteKommission bestätigt -: Durch die Umweltpolitik der Bundesregierung ist in den letzten Jahren viel erreicht worden. Die Schadstoffbelastungen von Luft und Gewässern sind in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen. Visionen wie „Lachs 2000" oder die Berufsfischerei in der Elbe werden Realität werden. Trotz Zunahme der Anzahl der Pkw in einer Größenordnung von 5,5 Millionen, einer Steigerung der Wirtschaftsleistung von 12 Prozent in den letzten Jahren und weiterer Faktoren gab es einen deutlichen Rückgang beim Ausstoß von Luftschadstoffen: SO2 um zwei Drittel, NO„ um ein Drittel, Kohlenwasserstoffe um 40 Prozent.
Als besondere Leistung möchte ich in diesem Zusammenhang den ökologischen Aufbau der neuen Bundesländer herausstreichen.
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Mehr als 700 Kläranlagen wurden gebaut, 13 000 Kilometer neue Abwasserleitungen wurden verlegt. Wenn ich an die Modernisierung oder den Neubau der Kraftwerkstechnik denke, dann meine ich, daß das nahezu als eine geschichtliche Leistung zu betrachten ist.
In Summe hat die Umweltpolitik der Bundesregierung zu mehr Standortqualität geführt, hat Umwelt selbst zum Standortfaktor für Deutschland und übrigens auch zum Wirtschaftsfaktor gemacht. Ich denke dabei an die fast 19 Prozent von Umweltprodukten und Umweltdienstleistungen im Welthandel, die den Stempel „Made in Germany" tragen.
Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission hat nicht nur den Umweltschutz schlechthin zu ihrem Ziel gemacht. Sie hat ein umfassendes Konzept der Nachhaltigkeit bei Beachtung ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele eingefordert. Das bedeutet, die Enquete-Kommission sieht im Sinne der Nachhaltigkeit unser heutiges Wirken mit seinen Auswirkungen auf künftige Generationen als globales Problem. Dieses Ziel der Nachhaltigkeit wird durch den Schritteprozeß und den Entwurf des umParl. Staatssekretär Ulrich Klinkert
weltpolitischen Schwerpunktprogramms, die von Frau Umweltministerin Merkel initiiert und in sechs Arbeitskreisen erarbeitet wurden, aufgegriffen.
Mehr als 130 Vertreter verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen waren an diesem Prozeß beteiligt. Wichtige Themen wie der Klimaschutz und der Schutz des Naturhaushaltes wurden kritisch bewertet und weiterentwickelt. Dabei wurde konsensual festgestellt, daß Deutschland auch im internationalen Maßstab viel erreicht hat, der Durchbruch zur Nachhaltigkeit aber noch erhebliche Anstrengungen und Umdenkprozesse erforderlich machen wird. Dies wird nicht über Gebote und Verbote oder über übertriebene Ökosteuern zu erreichen sein, sondern zum Beispiel durch marktwirtschaftliche Anreize oder ein intelligentes Steuersystem
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und auch das nur im gesamtgesellschaftlichen Konsens.
Meine Damen und Herren, ich lade Sie herzlich ein, dies zu erreichen. Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung" . Das ist die Drucksache 13/10168 Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht auf den Drucksachen 13/7400 und 13/715 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Umweltausschusses zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS zu dem genannten Bericht. Das ist die Drucksache 13/10168 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/8545 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS angenommen, wobei sich Bündnis 90/Die Grünen enthalten hat.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/11141. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt worden, wobei sich die SPD enthalten hat.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 24. Juni 1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.