Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/17/1998

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Verehrte Abgeordnete, das furchtbare Eisenbahnunglück in Eschede hat uns alle jäh innehalten lassen. Es geschah, was wir in unserer Vorstellungswelt bisher verdrängt hatten: Am späten Vormittag des 3. Juni entgleiste auf der Strecke Hannover - Hamburg der Intercity-Expreß „Wilhelm Conrad Röntgen" und zerschellte bei der Stadt Eschede an einer Brücke. Die Brücke stürzte ein und begrub Teile des Zuges unter sich. Die grausige Bilanz des Unglücks erschloß sich erst im Verlauf der mehrere Tage dauernden Bergungsarbeiten. Hundert Menschen fanden bereits in den Trümmern oder nach dem Unglück den Tod. Einige ringen noch immer um ihr Leben. Mehr als 80 Personen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt; viele Fahrgäste werden noch in den Krankenhäusern behandelt. Niemand, der die Berichte über das Unglück und die Bilder der meterhoch ineinander verkeilten und zerborstenen Wagen des Intercity-Expreß gesehen hat, kann sich von dem Eindruck dieses Unglücks mit seinem unausdrückbaren Leid für so viele freimachen. Die Wucht des Geschehens wühlt uns immer noch auf, wirkt in uns nach. Das bisher schwerste Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist zugleich der erste schwere Unfall mit einem IntercityExpreß. In das Entsetzen und die Trauer über das Ausmaß der Katastrophe mischt sich die jähe Erkenntnis, daß auch bei diesem sicheren Verkehrsmittel die moderne Hochgeschwindigkeitstechnik vor Unfällen nicht gefeit ist. Im Namen des Deutschen Bundestages spreche ich den Angehörigen der Opfer und allen Betroffenen unsere tiefempfundene Anteilnahme aus. Sie alle brauchen in diesen Tagen und Wochen des Schmerzes und der Verzweiflung Beistand und Kraft. Unsere Gedanken sind auch bei den Verletzten; ihnen wünschen wir baldige Genesung. Den beteiligten Rettungsmannschaften und den vielen freiwilligen Helfern und Helferinnen, die spontan und in unermüdlichem Einsatz um das Leben der Verunglückten kämpften und Opfer geborgen haben, gilt ebenso wie den Seelsorgern, die Angehörige und Helfer betreuten und betreuen, unser aller Dank. Die Arbeit, die sie im Angesicht des Grauens geleistet haben, war übermenschlich. In diesen Stunden der Erschütterung und Trauer in ganz Deutschland haben viele Menschen, auch außerhalb unseres Landes, Anteil genommen. Wir danken ihnen dafür. Wir trauern um die Opfer. Wir verneigen uns vor den Hinterbliebenen und empfinden mit ihren Verlust. Wir hoffen, daß die Verletzten und die Betroffenen die traumatischen Folgen des Erlebten überwinden. Angesichts der Schwere des Unglücks, der vielen Todesopfer und des unermeßlichen Leids der Hinterbliebenen und Verletzten bitte ich Sie um ein gemeinsames stilles Gedenken. Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer des Unglücks von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte erweitert werden: 1. Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" - Drucksache 13/10978 2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Einrichtung eines Deutschen Koordinierungsrats für Menschenrechte - Drucksache 13/109753. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Verstärkung deutscher Beiträge zur Konfliktverhütung und Friedenserhaltung in Afrika - Drucksache 13/10980 4. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Freilassung aller politischen Häftlinge und Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Nigeria - Drucksache 13/109795. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Brenner-Blockade auf den deutschen und europäischen Transitverkehr Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß im Anschluß an die Menschenrechtsdebatte eine Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Brenner-Blockade auf den deutschen und europäischen Transitverkehr" beginnt und sich die Fragestunde daran anschließt. Sodann teile ich mit, daß der Abgeordnete Josef Vosen am 3. Juni 1998 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Sein Nachfolger, Abgeordneter Gerd Bauer, hat am 4. Juni 1998 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich. ({0}) Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 1 auf: Beratung des Anrags der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an der von der NATO geplanten Operation zur weiteren militärischen Absicherung des Friedensprozesses im früheren Jugoslawien über den 19. Juni 1998 hinaus ({1}) - Drucksache 13/10977 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({2}) Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß Eine Aussprache ist heute nicht vorgesehen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/10977 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Beratung des Schlußberichts der EnqueteKommission Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" - Drucksache 13/11000 Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich einige einleitende Bemerkungen und Worte zum nationalen Gedenktag des 17. Juni sagen; denn angesichts der Probleme des Tages schwindet allzuleicht das Empfinden für das Grundsätzliche und die notwendige Pflege des Gedenkens. Lassen Sie mich deshalb den Vorschlag der Enquete-Kommission aufgreifen, auch in Zukunft dafür Sorge zu tragen, daß der 17. Juni im öffentlichen Bewußtsein nicht verlorengeht. ({3}) Die Erhebung am 17. Juni 1953, der wir im Deutschen Bundestag oft gedacht haben, war ein erstes sichtbares Fanal, daß sich die Menschen in der DDR mit Willkür und Unterdrückung nicht abfinden wollten und nicht bereit waren, sich widerstandslos der kommunistischen Herrschaft zu beugen. In der Erinnerung an die ersten massiven Widerstände gegen die Diktatur der kommunistischen Einheitspartei und ihrer Opfer bleibt der 17. Juni 1953 ein nationaler Gedenktag für uns alle. Dieser Tag mahnt uns zur Wachsamkeit. Er steht für die Aufforderung an uns alle, jeder Form von Diktatur eine Absage zu erteilen. Der Aufstand des 17. Juni scheiterte. Er wurde gewaltsam niedergeschlagen; aber er war nicht umsonst. 36 Jahre später, als auf den Einsatz von Gewalt verzichtet wurde, setzte sich die Freiheit in der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 durch. Deshalb gehören der 17. Juni 1953 und der 9. November 1989 untrennbar zusammen. Vor allem der ungebrochene Freiheitswille, die Kraft und der Mut der Bürgerrechtler in der DDR und der Menschen in den Bürgerbewegungen, die auf den Straßen zur Volksbewegung anschwollen, waren es, die das SED-Regime hinwegfegten und uns Deutsche in die gemeinsame Freiheit und in die staatliche Einheit führten. Dieses herausragende Ereignis unserer jüngsten Geschichte, dessen Bedeutung durch den Alltag auch in Zukunft nicht verschüttet werden darf, hat uns zugleich verpflichtet, uns intensiv mit Geschichte und Folgen der SED-Diktatur auseinanderzusetzen, auch um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Der Deutsche Bundestag hat diese Pflicht nicht zuletzt als eine zentrale Aufgabe der Politik und des Parlaments angesehen. So haben in sechs Jahren zwei Enquete-Kommissionen eine beeindruckende Fülle von bedeutsamen Erkenntnissen zutage gefördert und uns wichtige Empfehlungen für künftige Handlungen und Maßnahmen gegeben. Wir haben heute allen Grund, den Abgeordneten und den Sachverständigen in beiden Kommissionen für ihre wichtige, unverzichtbare und verdienstvolle Arbeit sehr herzlich zu danken. ({4}) Ihnen, lieber Herr Kollege Eppelmann, gilt als dem Vorsitzenden beider Enquete-Kommissionen unser besonderer Dank. ({5}) Nun gebe ich der Kollegin Vera Lengsfeld als erster Rednerin das Wort. Sie spricht als Zeitzeugin und zugleich als Opfer dieser Jahre von Unterdrükkung und Willkür. Frau Lengsfeld.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am heutigen 17. Juni, dem 45. Jahrestag des Volksaufstandes gegen die brutale Willkürherrschaft der SED, wird besonders deutlich, daß mit der Betrachtung von 40 Jahren DDR-Geschichte kein abgeschlossenes historisches Kapitel zu behandeln ist, sondern eine bis heute fortwährende deutsche Teilungsgeschichte, die im Jahr 1933 ihren Ausgangspunkt hatte, eine Geschichte, in der Stasi- und SED-Macht zu marginalen Schwierigkeiten des Einigungsprozesses heruntergespielt zu werden drohen, weil die SED-Nachfolgepartei zu einem unverzichtbaren Faktor im machtpolitischen Spiel von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geworden ist. ({0}) Die Verharmlosung der Verbrechen des SED-Regimes hat inzwischen System. Deshalb spreche ich heute über die Menschen der zweiten deutschen Diktatur, die Widerstand gegen die sowjetische Fremdherrschaft und das SED-Regime - verbunden mit der Erfahrung von Flucht, Ausbürgerung und Repression - leisteten. Ich will den Bogen von den Anfängen der sowjetisch besetzten Zone nach 1945 bis zum Zusammenbruch der DDR 1989 aus der Sicht derer spannen, die heute allzugern beiseite geschoben werden, um die Biographien der Täter zu schonen. ({1}) Nachdem die letzten überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen die deutschen KZs in Richtung Gulag verlassen hatten, wo viele von ihnen, die der deutschen Hölle entkommen waren, an der erbarmungslosen Kälte und dem Hunger verreckten, wurden aus den KZs Speziallager der Sowjetmacht. Mit terroristischen Methoden gingen sowjetische und deutsche Geheimpolizei gegen Andersdenkende und vor allem gegen Menschen vor, die sich der Sowjetisierung widersetzten. Sie wurden kriminalisiert und politisch abgeurteilt. Nach offiziellen sowjetischen Angaben waren in den Speziallagern der sowjetisch besetzten Zone 157 837 Menschen gefangen, davon 122 671 Deutsche, 34 706 sowjetische Staatsbürger und 460 weitere Ausländer, die meisten von ihnen Polen. Allein diese Zahlen sprechen gegen die immer wieder verbreitete Auffassung, zirka 75 Prozent der Häftlinge seien Funktionsträger der NSDAP gewesen. Zu den von den sowjetischen Behörden Verurteilten gehörten auch viele Frauen, die, wie Alexandra Dust-Wiese, zusammen mit ihren Brüdern zum Kreis von Arno Esch in Rostock gehörend, nach erlebter Nazirepression in den kommunistischen Unterdrükkungsapparat gerieten. Nach der Zerschlagung der Gruppe um Esch wurde Alexandra Wiese verhaftet und zu dreimal 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Während ihre Brüder und die zum Tode Verurteilten in die Sowjetunion deportiert wurden, kam sie im April 1950 nach Hoheneck. Im Mai 1951 erfuhr sie von der Verhaftung und Deportation ihrer Mutter wegen Spionage. Nach Beteiligung an einem Hungerstreik wurde sie 1953 als Rädelsführerin nach Brandenburg-Görden ins Zuchthaus verlegt und erst im Mai 1956 nach einer weiteren Verlegung in den „Roten Ochsen" nach Halle begnadigt und entlassen. Am 7. Januar 1957 konnte sie in den Westen fliehen. Zu den Existenzbedingungen der SED-Diktatur gehörte die schon 1947 einsetzende militärische Absicherung der Zonen und späteren Staatsgrenze zur Verhinderung von Flucht bzw. Ausreise. Von 1950 bis Jahresende 1988 haben insgesamt 3,2 Millionen Menschen die DDR verlassen. Bis Ende 1989 folgten ihnen noch einmal 344 600 Personen. Der größte Teil der Flüchtlinge, 2,6 Millionen, hatte sich schon in den 50er Jahren bis zum Mauerbau 1961 retten können. 1949, nach Gründung der DDR, wurde parallel zum Aufbau des Sozialismus die Grenzsicherung verstärkt. Bis zum Ende der DDR blieben die Versuche des „ungesetzlichen Grenzübertritts" das dominierende Delikt der politischen Strafjustiz. Die unmenschliche Perfektion des Grenzregimes erschließt sich freilich erst aus dem „rücksichtslosen Schußwaffengebrauch" und dem „überall gewährleisteten einwandfreien Schußfeld", den Minensperren aus Erdminen und dem pioniertechnischen Ausbau der Grenze durch Errichtung von Streckmetallzäunen zur Anbringung der richtungsgebundenen Splitterminen. Aus den Dienstvorschriften über den Schußwaffengebrauch und den übereinstimmenden Schilderungen von Überläufern der DDR-Grenztruppen ergibt sich, daß das Ziel der Fluchtvereitelung um jeden Preis und mit jedem Mittel angestrebt werden sollte, wenn eine Festnahme mit dem Ziel der strafrechtlichen Inanspruchnahme des Flüchtlings nicht mehr möglich war. Unter bestimmten Voraussetzungen lag der Zweck des Schußwaffengebrauchs allein in der physischen Vernichtung des Grenzverletzers. 900 tote Flüchtlinge sind zu beklagen, darunter mehr als 40 Kinder und Jugendliche. Das letzte Maueropfer, Chris Gueffroy, war 20, als er erschossen wurde. Klaus-Peter Eich versuchte am 12. Oktober 1961 im Alter von 20 Jahren, durch einen Doppeldrahtzaun nach Westberlin zu entkommen. Ohne vorherige Warnrufe und Warnschüsse warteten die Grenzer auf eine für sie günstige Schußposition und feuerten ihre Schüsse auf seinen Rücken. Durch einen lebensgefährlichen Schuß verletzt, erlitt er eine Querschnittslähmung, mußte zwei Jahre im Krankenhaus verbringen und ist seitdem dauerhaft an den Rollstuhl gefesselt. Heute muß er sich in den Medien als verbittert titulieren lassen, wenn er berechtigterweise darum kämpft, daß die Gedenktafel am geplanten Mauermuseum in Berlin auch an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft erinnert. Aus „ästhetischen und technischen" Gründen sollte darauf verzichtet werden. Seit gestern habe ich die definitive Zusage sowohl in Berlin als auch in Bonn erhalten, daß die Inschrift an die Maueropfer erinnern wird. ({2}) Damit sind wir alle knapp der Peinlichkeit entronnen, daß sich ausgerechnet am Mauerdenkmal das Geschichtsbild der PDS durchsetzt. Täter und Opfer waren eben nicht gleichermaßen Betroffene des kalten Krieges. Es gibt vielmehr konkrete VerantwortliVera Lengsfeld che für das zu SED-Zeiten verübte Unrecht, und die müssen immer wieder klar benannt werden. ({3}) - Das können Sie mir nun nicht vorwerfen. Sie sollten ein bißchen mehr Respekt vor dem haben, was ich hier zu sagen habe. ({4}) Der erste Volksaufstand im sowjetischen Imperium am 17. Juni 1953, der sich heute jährt, verdeutlicht, daß das SED-Regime nur durch sowjetische Panzer zu stabilisieren war. Die Aufständischen des 17. Juni formulierten in aller Deutlichkeit ihren Anspruch auf Einheit und Freiheit. Der Volksaufstand war keineswegs auf Berlin beschränkt. Zum Beispiel gab es auch in Thüringen, in Jena, einen Schwerpunkt der Erhebung. 20 000 Demonstranten waren dort am 17. Juni auf der Straße. Mit Alfred Diener wurde ein vom Repressionsapparat ausgemachter Rädelsführer in Jena verhaftet. Am 18. Juni wurde er im Alter von 26 Jahren von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt und durch Offiziere der Roten Armee hingerichtet. Das Gedenken an die Opfer des 17. Juni wird vernachlässigt. Weder wurden bislang die 21 standrechtlich erschossenen Arbeiter gewürdigt, noch kennt man die Namen der 18 russischen Soldaten und Offiziere, die damals den Einsatz der Waffe verweigerten und hingerichtet wurden. Ich unterstütze nachdrücklich die Initiative des Berliner CDU-Abgeordneten Toepfer, die Namen der sowjetischen Soldaten zu ermitteln und die noch lebenden Verwandten zum Gedenktag im nächsten Jahr einzuladen. ({5}) Sie sollten auch dabeisein, wenn endlich ein zentrales Denkmal für die Opfer des 17. Juni eingeweiht wird. Es muß ja gar nicht überdimensioniert sein. Es gab immer wieder Menschen, die dem SED-Regime nach dem Vorbild des Widerstandes gegen die Nationalsozialisten trotzten. 1955 wurde zum Beispiel in Weimar der stellvertretende Direktor der PestalozziSchule verhaftet. Gerhard Benkowitz hatte mehrere Jahre unter anderem Namen von Inhaftierten nach West-Berlin übermittelt. Diese Widerstandstätigkeit wurde in fürchterlichen Verhören, die mit Gewaltanwendung verbunden waren, kriminalisiert. Ihm und seinen Freunden unterstellte man, daß sie eine Reihe von Brücken oder sogar die Saaletalsperre sprengen wollten. Noch vor der Gerichtsverhandlung verlangten seine Kollegen, die Abteilung Volksbildung beim Rat der Stadt, der Pädagogische Rat der Friedrich-Engels-Schule und viele andere in öffentlichen Erklärungen, daß ihn die schwerste Strafe treffen soll. Obwohl der Oberste Gerichtshof feststellte, daß Benkowitz niemals Sprengstoff besessen hat, verfügte eine Kommission des Politbüros unter der Leitung des Schreibtischtäters Klaus Sorgenicht, daß der Generalstaatsanwalt die Todesstrafe zu beantragen habe. Durch persönliches Eingreifen Ulbrichts wird zudem gegen einen Freund von Benkowitz eine weitere Todesstrafe verhängt. Beide Urteile werden in Dresden am Münchener Platz in der ehemaligen Hinrichtungsstätte der Gestapo mit dem Fallbeil vollstreckt. Bis heute ist noch nicht einmal die weniger als vier Monate andauernde Haftzeit zwischen Verhaftung und Hinrichtung entschädigt worden, weil das Häftlingshilfegesetz derart kurze Haftzeiten nicht berücksichtigt. Weder Schreibtischtäter noch Richter sind belangt worden. Auch an der Weimarer Schule ist nichts zur Ehrenrettung des ehemaligen stellvertretenden Direktors erfolgt. Bis heute erinnert nicht einmal eine Gedenktafel an ihn. Trotz dieser Erfahrungen gab es in der DDR auch nach dem Mauerbau im Jahre 1961 Menschen, die auf eine Entstalinisierung hofften. Vieles von dem wird mit dem 11. Plenum der SED im Jahre 1965 zunichte gemacht. Mit dem Verbot von 11 DEFA-Filmen und der öffentlichen Ausgrenzung von Robert Havemann und Wolf Biermann schwanden die Illusionen über ein „Tauwetter". Die Beteiligung der SED an der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings machte dann unerbittlich klar, daß die kommunistischen Diktaturen statt auf Reformen auf militärische und geheimpolizeiliche Gewalt setzten. Das Jahr 1976 markierte eine weitere Zäsur auf dem Weg zum Ende der SED-Herrschaft. Es war nicht nur das Jahr der Biermann-Ausbürgerung, sondern auch das Jahr der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz. Er starb am 18. August 1976 nach dem Beispiel der buddhistischen Mönche in Saigon und Jan Pallachs in Prag. Auf dem Transparent am Ort seiner Selbstverbrennung war zu lesen: Die Kirche der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen, an Kindern und an Jugendlichen. Die Vertreter der Evangelischen Kirche in der DDR identifizierten sich jedoch keineswegs mit diesem Fanal für die Freiheit. Schon sieben Stunden später saß Oberkonsistorialrat Manfred Stolpe mit Vertretern der Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen und dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, in Magdeburg zusammen, um Einzelheiten für den Erhalt geordneter Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu erörtern. Im Zusammenhang und in der Folge der Biermann-Ausbürgerung gerieten nicht nur sich solidarisierende Künstler, sondern auch viele jüngere Leute aus verschiedenen oppositionellen Gruppen in das Visier des Stasiapparates. Einer davon war Matthias Domaschk, der am 12. April 1981 in Gera in der Stasihaft sein Leben verlor. Wie viele andere war Domaschk nach der Ausbürgerung Biermanns zum Objekt der Stasimaßnahmen von Zuführung, Haussuchung und Einleitung von operativen Vorgängen und schließlich Stasihaft geworden. „Anderthalb Stunden verbringt" - so das Protokoll - „der operative Mitarbeiter Oltnt. Horst Köhler allein mit Matthias", also bis 14.00 Uhr. „Um 14.15 Uhr ist Matthias tot." Alle Vorgänge hinter den Gefängnismauern können wohl nie aufgeklärt werden: zum Beispiel, warum Stasi-Häftlinge wie Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro und etliche andere an einer Art Krebs erkrankt und zum Teil gestorben sind, die nach Meinung von Experten durch einen Jahre zurückliegenden Empfang einer Überdosis radioaktiver Strahlung entstanden sein könnte. Aber es gab nicht nur Verbrechen an Gefangenen in der DDR. DDR-Leistungssportler wurden Menschenverachtenden medizinischen Manipulationen ausgesetzt. Kinder in der DDR wurden bereits im Kindergarten einem systematischen Screening unterzogen, bei dem festgestellt wurde, welches Kind im Erwachsenenalter für welche Sportart die Idealmaße haben würde. Danach wurden die Kinder ein Vierteljahr lang mehrmals in der Woche auf ihre Eignung hin getestet. Dann wurde den Eltern mitgeteilt, daß ihre Kinder in eine Kinder- und Jugendsportschule übernommen werden könnten. Voraussetzung war, daß sich die Eltern mit dem Trainingsplan und allen notwendigen ärztlichen Maßnahmen durch Unterschrift einverstanden erklärten. Wie die systematische Aufrüstung von Kinderkörpern für den Hochleistungssport aussah, wird gerade bei den Dopingprozessen beleuchtet. Mit vierzehneinhalb Jahren wurde die DDR-Schwimmerin Christiane Knoche einer Behandlung unterzogen, die der DDR-Verbandsarzt Lothar Kipke alias „IM Rolf" zynisch den „Großversuch" genannt hat: Muskelmast mit Hormonen wie der berüchtigten Pille Oral-Turinabol, im Fachjargon „OT" genannt. Ein Jahr später durchbrach die Fünfzehnjährige, inzwischen mit Möbelpackerkreuz, starker Beinbehaarung und anderen Merkmalen der Vermännlichung ausgestattet, als erste Frau bei 100 Meter Schmetterling mit 59,78 Sekunden die Minutengrenze. Seit die Dopingpraktiken in ihrer ganzen menschenverachtenden Dimension bekanntgeworden sind, vermisse ich den Aufschrei der Medien. Im Gegenteil, nachdem die Schwimmerin Carola Beraktschjan in einer noblen Geste ihre Medaillen zurückgab und sich aus der Weltrangliste streichen ließ, traf sie die subtile, arrogante Häme des Kultmoderators der „Tagesthemen", Ulrich Wickert. Er fand kein Wort des Respekts für die Tat der Sportlerin, sondern wertete sie als bloße „Auseinandersetzung mit einem autoritären Regime" ab. „Wirklich mutig" wären nach den Worten von Ulrich Wickert nur jene, die sich jetzt als im Westen „freiwillig gedopt" outen würden, sich also dafür hergäben, der Öffentlichkeit zu suggerieren, es sei in der DDR alles nicht so schlimm gewesen, gedopt werde schließlich überall. Wer die SED-Nachfolgepartei als Mittel zum Regierungswechsel benutzen will, der für die PDS ja erklärtermaßen ein Machtwechsel sein soll, muß natürlich vorher die Vergangenheit ins Harmlose entsorgen. Deshalb dürfen wir nicht müde werden, immer wieder daran zu erinnern, was wirklich geschehen ist. ({6}) Ich möchte diese Rede nicht beenden, ohne auf eine fast vergessene Gruppe von Verfolgten hinzuweisen, die der besonders perfiden Praxis der Zwangsadoption ausgesetzt waren. Für viele Schicksale steht das von Gisela Mauritz. Die junge Chemnitzerin wurde im Jahr 1974 - übrigens zur Hochzeit westdeutscher Entspannungspolitik - am Grenzübergang Marienborn verhaftet, als sie mit ihrem vierjährigen Sohn die DDR illegal verlassen wollte. Ein Gericht verurteilte sie zu viereinhalb Jahren Haft, die sie bis auf den letzten Tag im Zuchthaus Hoheneck, einem der fürchterlichsten Gefängnisse der DDR, verbüßen mußte. Während ihrer Haftzeit wurde ihr Sohn von einem linientreuen Ehepaar zwangsadoptiert. Allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz nahm Gisela Mauritz nach ihrer Entlassung die Suche nach ihrem Kind auf. Dafür wurde sie zum zweiten Mal verhaftet und zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Nach ihrer Entlassung wurde ihr eine Aufenthaltsbeschränkung in der sächsischen Provinz auferlegt, gekoppelt mit dem Verbot, die Hauptstadt der DDR zu betreten, wo sich ihr Sohn befand. Nach fünf Jahren konnte Frau Mauritz von der Bundesregierung freigekauft werden. Erst nach 14 Jahren fand sie ihren Sohn mit Hilfe des Fernsehmagazins „Report" wieder. Der Achtzehnjährige hatte keine Erinnerung mehr an seine Mutter. - Was Gisela Mauritz und ihrem Sohn widerfuhr, entsprach der sozialistischen Gesetzlichkeit der DDR, einem System, das nach Willen der PDS auch heute nicht ein Unrechtssystem genannt werden dürfte. Es ist für die heutige Wahrnehmung notwendig, darauf zu verweisen, daß es in den mehr als 40 Jahren der zweiten deutschen Diktatur immer Menschen gab, die sich dem System entzogen oder ihm widerstanden. Ohne die moralische Kraft des deutschen Widerstandes wäre nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ein demokratischer Neuanfang in Deutschland nicht möglich gewesen. Die friedliche Revolution der Deutschen in der DDR vom Herbst 1989 schuf die Grundlage für die freiheitliche Demokratie im vereinten Deutschland. Widerstand und Opposition gegen die Diktaturen sind wichtiger Teil des demokratischen und freiheitlichen Erbes aller Deutschen. Wir werden die Geschichtsschreibung und die Definitionsmacht nicht den Tätern überlassen. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, eine Anmerkung: Wahrheit tut weh, ist schwierig, muß aber sein, wenn wir den Opfern und auch unserer eigenen Selbstverpflichtung gerecht werden wollen. Deswegen ist, verehrter Kollege, „Scheinheiligkeit" kein Zwischenruf, der hier hinpaßt. ({0}) Herr Kollege Vergin.

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Sachverständige und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Enquete-Kommission! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich eine ganz persönliche Genugtuung, heute, am 17. Juni 1998, im Deutschen Bundestag als frei gewählter Abgeordneter vor Ihnen zu stehen. Und es ist mir eine besondere Freude, heute in meiner letzten Bundestagsrede über die Überwindung der Folgen der SED-Diktatur sprechen zu können. Daran war vor 45 Jahren, am 17. Juni 1953, in meinem damaligen mecklenburgischen Heimatort nicht zu denken. Freiheit und Demokratie hatten wir als junge Deutsche in der DDR bis dahin nicht selbst erlebt. Aber wir waren bereit, uns dieses Menschenrecht zu erkämpfen. Die Ereignisse am und um den 17. Juni 1953 öffneten mir die Augen, wiesen mir den Weg letztendlich in die Freiheit, meine dritte Heimat. Heute, am 45. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni, sind meine Erlebnisse jener Zeit wieder präsent. Am heutigen Tag wird meine Erinnerung konkret. Welche Kraft können Gedenktage haben, wenn man sie nicht nur kalendermäßig nimmt! Darum möchte ich eine der Empfehlungen der Enquete-Kommission gerade heute betonen: Wir wollen den 17. Juni zu einem lebendigen Gedenktag in ganz Deutschland machen und dabei insbesondere Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur würdigen. Dieses Gedenken muß darüber hinaus sichtbar werden in einem Denkmal an dem Ort, an dem die Berliner am 17. Juni 1953 freie Wahlen forderten, vor dem Haus der Ministerien, dem künftigen Bundesfinanzministerium. ({0}) Ich appelliere an Bundesregierung und Berliner Senat, ihre Finanzzusagen einzulösen und für eine zügige Errichtung des Denkmals zu sorgen. ({1}) Wir denken heute auch an den Mut derer, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen und riefen: Wir sind das Volk! ({2}) Auf diese friedliche Revolution für die Freiheit können die Ostdeutschen besonders stolz sein. Sie ist die größte und wirkliche Errungenschaft der DDR; denn sie hat unser aller Freiheitstradition in Deutschland bereichert und gestärkt. Wie aber können wir die Erinnerung daran wachhalten? Was ist zu tun, um Aufarbeitung von Vergangenheit zu fördern? Das waren die wichtigen Fragen, die uns in den letzten Jahren in der Enquete-Kommission beschäftigt haben. Die Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit, die Frage nach Schuld und Verantwortung, die Bereitschaft, zu lernen und zu versöhnen, sind Teil und ein Stück weit Bedingung der gewonnenen Freiheit. In meiner langjährigen politischen Arbeit in der Bundesrepublik habe ich selbst erfahren, wie schwer wir uns mit der Aufarbeitung der NS-Diktatur taten. Die Aufhebung der NS-Unrechtsurteile vor wenigen Tagen hat dies noch einmal dokumentiert. ({3}) Willy Brandt war es, der uns bei der ersten Bundestagsdebatte zur Einsetzung der Enquete-Kommission gemahnt hat, nicht ähnliche Versäumnisse wie nach 1945 zu begehen. Ich danke an dieser Stelle unserem Obmann Markus Meckel, daß er mit seiner vollen Kraft die Einsetzung der beiden Enquete-Kommissionen letztendlich durchsetzte. Es ist bedauerlich, daß er heute bei dieser Debatte nicht hiersein kann. Die Arbeit der zweiten Enquete-Kommission hat unser aller Wissen über die DDR-Diktatur vergrößert. Dieses genaue Wissen über die Diktatur und ihre Herrschaftsmechanismen ist Voraussetzung dafür, aus der Vergangenheit lernen zu können. Für die Fraktion der SPD bedanke ich mich bei all jenen, die an dieser Arbeit mitgewirkt haben, sei es in Anhörungen und Diskussionen oder einfach dadurch, daß sie uns Abgeordneten die Meinung gesagt oder geschrieben haben. Der Dank gilt auch den Sachverständigen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros, in den Fraktionen und insbesondere im Sekretariat der Enquete-Kommission. ({4}) Wir haben heute ein differenzierteres Bild von der Lebenswirklichkeit der Menschen in der DDR. Wir erkennen, wie lange und tiefgehend Prägungen aus dieser Zeit fortwirken. Sicherlich kann man Leben und Leistung von 16 Millionen Menschen der DDR nicht auf einen Begriff bringen. Aber eines können wir nach zwei Enquete-Kommissionen klar und unmißverständlich auf den Punkt bringen: Der Staat DDR war von Anfang an eine Diktatur. ({5}) Ich erinnere daran, daß es zuerst die Arbeiter waren, die sich im Juni 1953 gegen die SED erhoben, die ihre Diktatur gegen die Arbeiter und die Bürger in der DDR errichtete. Eines tat sie seit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD im Jahre 1946 bis zum Zusammenbruch 1989: Sie bekämpfte erbittert - offen und geheim - die Partei des demokratischen Sozialismus, die deutsche Sozialdemokratie. ({6}) Wie schlecht müssen sich eigentlich diejenigen fühlen, die sich in ihrem Namen mit einer Idee schmükSiegfried Vergin ken, deren Vertreter sie bis zum Herbst 1989 verhaftet und verfolgt haben? ({7}) Ich frage aber auch: Ist aus der Geschichte gelernt worden, wenn man mit dem Symbol der Zwangsvereinigung Wahlkampf machen will? ({8}) Wir Deutschen müssen am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen leben. Als einzige Nation in Europa haben wir selbst die Diktaturen der beiden großen totalitären Bewegungen in diesem Jahrhundert erfahren. Diese beiden Bewegungen, die kommunistische und die nationalsozialistische, verband die Feindschaft gegen Rechtsstaat und Demokratie; sie waren Feinde der Freiheit und einer offenen Gesellschaft. In der Auseinandersetzung mit dieser doppelten Diktaturerfahrung können wir unseren Blick und unser Bewußtsein für Freiheit, Recht und Demokratie schärfen. Das ist der Kern des antitotalitären Konsenses und der demokratischen Erinnerungskultur in Deutschland. ({9}) Ein solch geschärfter Blick zeigt uns auch die Dimension der Diktaturen und ihrer Verbrechen und macht klar: Eine Gleichsetzung von SED-Diktatur und NS-Terrorherrschaft verbietet sich. Und vergessen wir nie: Es war die von uns Deutschen herbeigeführte Diktatur des Nationalsozialismus, die ganz Europa mit Völkermord und Vernichtungskrieg überzog. Zum antitotalitären Konsens gehört auch, die Opfer der Diktaturen nicht gegeneinander aufzurechnen oder auszuspielen. Man darf sie auch nicht einfach aufaddieren. ({10}) Den Opfern der Diktaturen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - das war ein leitender Gedanke der Arbeit in der Enquete-Kommission. Diese Gerechtigkeit zeigt sich nicht nur in angemessenen Entschädigungsleistungen und materiellen Hilfen, sondern auch an den Orten ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung. Die Einrichtung von Gedenkstätten an authentischen Orten ist darum ein Zeichen moralischer Rehabilitierung der Opfer. Wir betonen in unserem Abschlußbericht die Bedeutung von Gedenkstätten als Orten der Aufklärung und Bildung, der Dokumentation und Forschung. Die Gedenkstätten an den authentischen Orten zur Erinnerung an die NS-Diktatur und an die SED-Diktatur sind die stärksten Pfeiler in unserer demokratischen Erinnerungskultur. Als Orte der offenen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Diktaturen sind sie nicht nur Lernorte der Geschichte, sondern auch Orte der Demokratiesicherung. Es ist daher konsequent, daß die Enquete-Kommission die Unterstützung und Förderung der dezentralen und pluralen Gedenkstättenlandschaft in der Bundesrepublik fordert. Der Bundestag schuldet allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten Respekt und Anerkennung für ihre Arbeit. ({11}) Wir benennen in unserem Bericht auch die Verantwortung für die Gedenkstätten außerhalb Deutschlands. Wo würde diese Verantwortung besser sichtbar als in der Unterstützung der Gedenkstätten in Auschwitz oder Treblinka? Wäre es nicht wirklich eine Zukunftsaufgabe der Versöhnung, die Gedenkstätten in Theresienstadt und Lidice durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zu fördern? Die Empfehlungen der Enquete-Kommission für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes sind ein wichtiger und entscheidender Fortschritt. Vor vier Jahren habe ich an dieser Stelle bedauert, daß sich die Regierungskoalition nicht bereit fand, die Arbeit der Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung in ganz Deutschland wirklich zu sichern. Heute, nach drei Jahren Arbeit in der Enquete-Kommission, sind wir uns einig und empfehlen Bundestag und Bundesregierung, Gedenkstätten an historisch herausragenden Orten in Ost- und Westdeutschland künftig dauerhaft durch den Bund und das jeweilige Sitzland zu fördern. Ich möchte mich an dieser Stelle bei dem Obmann der CDU/CSU-Fraktion, dem Kollegen Hartmut Koschyk, bedanken. Sie, lieber Herr Koschyk, haben erkannt - Sie haben auch für die Umsetzung dieses Gedankens geworben -, daß es wichtig ist, die Erfahrungen der Diktaturen den Nachgeborenen gerade in den Gedenkstätten zu vermitteln. Dies spreche ich hier in aller Offenheit aus. ({12}) Ich glaube, das ist der richtige Stil des Umgangs mit diesem Thema. Ich selbst werde dem nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören. Daher möchte ich den Verantwortlichen hier im Hohen Hause, aber auch in den Ländern und Kommunen unsere Gedenkstättenkonzeption ans Herz legen. Sorgen Sie alle dafür, daß die wichtige Arbeit der Gedenkstätten für unsere Demokratie gesichert und fruchtbar gemacht werden kann. Richten Sie wieder einen Unterausschuß für Kultur zur parlamentarischen Kontrolle und zur Beratung der Regierung auch im Hinblick auf andere gesamtstaatliche Kulturaufgaben ein! Meine Damen und Herren, heute enden sechs Jahre parlamentarische Aufarbeitung durch zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages; aber keineswegs endet die Aufarbeitung unserer doppelten Diktaturgeschichte. Die Aufarbeitung bleibt eine Aufgabe von Bürgerschaft, Politik und Wissenschaft. In diesen Wochen beginnt die von der EnqueteKommission initiierte Bundesstiftung zur AufarbeiSiegfried Vergin hing der SED-Diktatur ihre Arbeit. Sie soll die wertvolle Arbeit der Aufarbeitungsinitiativen und -vereine fördern. Wenn es ebenso erfolgreich gelingt, unsere Vorschläge für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes parlamentarisch umzusetzen, dann hätte diese Enquete-Kommission ihren Zweck, den antitotalitären Konsens und die demokratische Erinnerungskultur in Deutschland zu fördern und zu festigen, erfüllt. Ist damit aber der Erinnerung und des Gedenkens Genüge getan? Im vorgelegten Bericht heißt es: Die Glaubwürdigkeit des Gedenkens mißt sich am politischen Handeln im Alltag. Ich habe die große Sorge, daß bei vielen in den neuen Bundesländern die Freude an der gewonnenen Freiheit und Einheit hinter der Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Jugend zurücktritt. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muß daher unsere wichtigste Aufgabe sein. Denn Arbeitslosigkeit macht Angst, und Angst ist ein schlechter Ratgeber. Angst ist der Nährboden für Vorurteile und die stärkste Quelle der radikalen Rattenfänger. ({13}) Ängste abbauen und Vertrauen wachsen lassen - das sind die Aufgaben verantwortungsvoller demokratischer Politik. Das kostet Geld, im Großen wie im Kleinen. Aber der Verlust von Vertrauen in die Demokratie und die Aufgabe der Freiheit wären ein weit höherer Preis. ({14}) Der Blick in unsere Geschichte, besonders auch bei dem Besuch einer Gedenkstätte, zeigt, welchen Preis Menschen zahlen mußten, die in Freiheit leben wollten und für die Freiheit anderer kämpften. Eine lebendige Demokratie, eine gerechte und solidarische Republik - das kostet uns heute nicht mehr als das Wollen ehrlicher Politik. Unser Land und unsere Demokratie sollten uns das wert sein. Meine Damen und Herren, was hätten wir am 17. Juni 1953 dafür gegeben! ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Kollege Gerd Poppe.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der Meinung, daß diese Debatte nicht für den Wahlkampf genutzt werden sollte. ({0}) Deshalb: Es ist sicher richtig, daß die Kollegin Lengsfeld hier noch einmal an die Opfer erinnert hat. Die Angriffe auf die SPD-Fraktion und auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen jedoch spiegeln in keiner Weise die kollegiale Zusammenarbeit zwischen allen Fraktionen wider, auf die hier auch der Kollege Vergin hingewiesen hat. ({1}) Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission hatte die anhaltenden Folgen der SED-Diktatur zu untersuchen, festzustellen, inwieweit der Transformationsprozeß zu ihrer Überwindung beigetragen hat, wo die Defizite liegen und welche Empfehlungen sich daraus für den Gesetzgeber ableiten lassen. Sie hat überwiegend zu gemeinsamen Bewertungen der DDR-Vergangenheit gefunden. Das spricht für die feste Verankerung des Konsenses der demokratischen Parteien, und zwar unabhängig von der Westoder ostdeutschen Herkunft der Beteiligten. Gleichwohl wissen wir, daß dies nicht immer für die Gesamtheit der Gesellschaft gilt. Der Erfolg von Parteien, die die demokratischen Grundwerte negieren oder zumindest relativieren, gibt uns Anlaß zur Beunruhigung. Wenn Demagogen aller Schattierungen verflossene Diktaturen schönreden oder erneut den autoritären Staat herbeirufen wollen, so ist das für die Demokraten Grund genug, sich weiter mit der diktatorischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. ({2}) Betrachten wir einmal den Antrag der PDS. Ich finde es schon erstaunlich, daß ausgerechnet die PDS mit ihrer Vorgeschichte der Kommission „Ideologisierung der Geschichtsschreibung" vorwirft. Ebenso fragwürdig ist der Versuch, gleich alle Ostdeutschen zu vereinnahmen, indem die PDS behauptet, daß eine „ausgewogene, differenzierte Geschichtsbewertung, in der sich auch die Bürgerinnen und Bürger der DDR wiederfinden können", in der Kommission nicht möglich gewesen sei. Ganz abgesehen davon, daß Sie wohl meinen, es gäbe sie noch, die Bürgerinnen und Bürger der DDR, frage ich Sie, wie lange Sie Ihren Alleinvertretungsanspruch gegenüber den Ostdeutschen noch aufrechterhalten wollen. ({3}) Sie sprechen von einer „offensichtlichen Diskrepanz" zwischen den Ergebnissen zahlreicher Expertisen und angeblich „verkürzten oder tendenziös zusammengefaßten Wertungen" der Kommission. Nun gibt es für Politiker und Historiker zweifellos die Möglichkeit, aus vorgelegten Expertisen unterschiedliche Schlußfolgerungen zu ziehen. Wie sollte es auch anders sein, zumal bei einem Forschungsgegenstand, der auch im achten Jahr der deutschen Einheit nicht abschließend zu behandeln ist. Die PDS hatte wie die Fraktionen Gelegenheit, ihre abweichenden Positionen ausführlich darzustellen, was sie auch getan hat. Schon deswegen sind Sie von der PDS im Unrecht, wenn Sie die Schlußfolgerungen der Fraktionen als tendenziös bezeichnen. Wir können mit unterschiedlichen Bewertungen historischer Ereignisse und politischer Zusammenhänge gut leben. Es ist nicht unsere Sache, dem Bürger ewige Wahrheiten zu verordnen. Das war der AnGerd Poppe spruch der Kommunisten. Er führte zur Unterdrükkung der Meinungsfreiheit und zur Verfolgung der Personen, die die jeweiligen Weisheiten der Parteiführung nicht unwidersprochen hinnehmen wollten. Sie beklagen, daß solche DDR-Historiker, die sich mit den Leitbildern und Zielen des Sozialismus identifiziert haben, zuwenig zu Wort kamen. Die Kommission hat allerdings Wert darauf gelegt, die Öffentlichkeit weniger mit der Apologetik der Hofberichterstatter von Ulbrichts und Honeckers Gnaden zu behelligen, als diejenigen unabhängigen ostdeutschen Experten zu Wort kommen zu lassen, denen Ihre Vorgängerpartei damals den Mund verboten oder noch Schlimmeres angetan hat. ({4}) Es ist einfach nicht wahr, daß der Osten in der Kommissionsarbeit unterrepräsentiert war. Wie in der vorigen Wahlperiode stammen viele Expertisen von ostdeutschen Autoren, wurde eine große Zahl ostdeutscher Zeitzeugen gehört, waren ostdeutsche Abgeordnete weit überproportional beteiligt. Eine letzte Anmerkung an Ihre Adresse, meine Damen und Herren von der PDS: Sie reden von Willkürjustiz bzw. von politischer Strafverfolgung in Ostdeutschland. Aber Sie meinen damit nicht etwa die DDR-Justiz, sondern die heute in Ostdeutschland tätigen Gerichte und Staatsanwaltschaften. Sie verlieren keine Silbe über die Opfer der Diktatur; nein, mit Ihrem Angriff auf den Rechtsstaat verhöhnen Sie die Opfer der Diktatur ein weiteres Mal. ({5}) Sie verwischen ganz bewußt den Unterschied zwischen den Entscheidungen der politischen Strafjustiz in der DDR und den Entscheidungen unabhängiger Gerichte in einem demokratischen Staat. Sie wollen den Ostdeutschen suggerieren, daß man ihnen ihre Biographien nehmen, ihr damaliges Leben für wertlos erklären, sie sogar kriminalisieren will und daß einzig die PDS sie vor dem drohenden Identitätsverlust bewahren kann. Dabei wissen Sie ganz genau, daß der Kommission nichts ferner lag, als den Wert des individuellen Lebens - auch in einer Diktatur - in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil: Wir haben auch über das Alltagsleben und über die vielen Menschen gesprochen, die trotz solch widriger Umstände ein Leben in Würde und in Wahrheit geführt haben. Diese Tatsache grundsätzlich voraussetzend, haben beide Enquete-Kommissionen in der 12. und in der 13. Wahlperiode die Möglichkeiten des Parlamentes zur Aufarbeitung genutzt und dabei eine breite Öffentlichkeit einbezogen. Im Unterschied zur im wesentlichen übereinstimmenden Bewertung der DDR-Vergangenheit sind - bezogen auf den Transformationsprozeß und die Empfehlungen für die heutige Politik - die Kommissionsmitglieder der verschiedenen Fraktionen zu teilweise unterschiedlichen Ergebnissen gekommen, die sich aus den verschiedenen Sondervoten ablesen lassen. Die Lesbarkeit des Berichts leidet darunter, und ich hätte mir in manchen Fällen gewünscht, daß die eine oder andere große Fraktion es über sich gebracht hätte, auf eine wahlkampfgerechte Zuspitzung der Formulierungen zu verzichten. Wenn einerseits die Koalition polemisch gegen die SPD-Entspannungspolitik argumentiert, dagegen den Kanzler und Gorbatschow durchgängig ob ihrer weisen und einsamen Entscheidungen bejubelt, wenn andererseits von der SPD die von der Bundesregierung seit 1990 zweifellos gemachten Fehler schwerer gewogen werden als die traurige Hinterlassenschaft des SED-Staats, dann stellt sich mitunter die Frage, ob nicht manche Berichtsteile nach einem zu groben Muster gestrickt wurden. Aber das ist das politische Geschäft. Wir werden zu manchen Passagen des Berichts die Kritik des sachkundigen Lesers zu Recht ertragen müssen. Dennoch bleibt festzustellen, daß das Parlament die selbstgestellte Aufgabe erfüllt hat. Viele mittel- und osteuropäische Parlamentarier haben diesen deutschen Sonderweg der Aufarbeitung mit einer gewissen Verwunderung und mit Respekt kommentiert. Sie haben uns erklärt, daß sie sich wünschten, sich mit ihrer Vergangenheit auf eine ähnliche Weise auseinanderzusetzen, was der demokratischen Erneuerung ihrer Staaten dienen würde. Eine derartige Feststellung sollte uns Mut machen, das erreichte Ergebnis nicht kleinzureden. Am Ende des parlamentarischen Großversuchs der Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur liegt - wie schon nach der vorigen Wahlperiode - eine umfangreiche Materialsammlung vor. Wir hoffen auf deren intensive Verwendung durch die Wissenschaft und die demokratische Öffentlichkeit. Eine wesentliche Grundlage dafür hat der Bundestag selbst mit dem Beschluß über die Einrichtung der Stiftung zur Aufarbeitung geschaffen. Das ist eine gelungene Antwort des Parlaments auf die ewigen Schlußstrichzieher und Verharmloser. Schon deswegen hat sich unsere Arbeit gelohnt. ({6}) Mir bleibt nur noch, im Namen meiner Fraktion den vielen Beteiligten zu danken, den sachverständigen Mitgliedern der Kommission, den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, den Zeitzeugen und Autoren, den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Fraktionen und vor allem auch dem Sekretariat der Enquete-Kommission. Ich möchte mich schließlich auch bei Ihnen, Frau Präsidentin, ganz besonders für die Förderung bedanken, die Sie der Arbeit dieser Kommission immer haben zuteil werden lassen. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Professor Dr. Ortleb.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001657, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Stunde vermutlich der Dritte, der zu Ihnen im Rahmen seiner letzten Rede im Deutschen Bundestag spricht. Ich habe 1990 in der ehemaligen DDR die Aufgabe, Abgeordneter der Volkskammer zu werden, mit Dankbarkeit als Auftrag angenommen. Ich halte es heute genauso wie damals: Ich möchte meine Redezeit nicht überstrapazieren. Die Frau Präsidentin möge mich sonst bitte darauf hinweisen. Ich halte hier nicht etwa mein Redemanuskript in der Hand, sondern ich werde es wie in der alten Volkskammer machen: Ich war bekannt dafür, von einer Briefmarke zu reden. Die habe ich heute nicht mit. Ich habe nur das alte Protokoll der Sitzung der Volkskammer der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vom 17. Juni 1990. Manchmal habe ich den Eindruck, daß mein Leben - ich bin vor wenigen Tagen 54 Jahre alt geworden - nur aus 17. Junis bestanden hat. So will ich meine Rede gliedern. Ich werde einen ersten, einen zweiten und einen dritten 17. Juni schildern: Der 17. Juni 1953 - der eigentliche - war der erste, den es geben konnte. Damals war Rainer Ortleb neun Jahre alt. An diesem Tage wurde in Dresden verbreitet - dort wohnten meine Eltern -, daß es im zentralen Kaufhaus in der Innenstadt Bettwäsche gäbe. Daraufhin bin ich mitgegangen. Denn damals war die Regel: Es wird soviel Bettwäsche ausgeteilt, wie Hände ausgestreckt werden. Also war ich als Kind verpflichtet, dieser Aufgabe nachzukommen. An der Hand meiner Mutter fuhr ich, neunjährig, mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Zirka vier, fünf Haltestellen vor der Innenstadt blieb die Straßenbahn stehen. Das waren wir damals gewöhnt: Stromsperre usw. Nur die Kette der Straßenbahnen gab zu denken. Dann kam ein älterer Mann und sagte zu meiner Mutter: „Junge Frau" - das war sie damals -, „gehen Sie mit Ihrem Kind heim! Es wird geschossen." Und dann haben wir schon die Schüsse gehört. Meine Mutter war kriegserfahren; es war ja erst 1953. Sie wußte genau, was man tun muß, wenn so etwas passiert. - Das war mein erster 17. Juni. Jetzt rede ich über den zweiten. Ich habe schon angekündigt: Das war Sonntag, der 17. Juni 1990. - Liebe Frau Präsidentin, Sie waren damals Gast der Volkskammer. Das steht jedenfalls so im Protokoll: Begrüßung der Bundestagspräsidentin, Frau Prof. Dr. Süssmuth, und des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Dr. Vogel. - So ist das damals gewesen. Ich sehe in die Runde. Ich habe mir die Liste genau angesehen. Leider treffe ich nicht alle Kollegen, die damals geredet haben. Bitte, verzeihen Sie mir: Der einzige von damals, der auch heute hier ist, ist Herr Maleuda. - Nein, jetzt ist er wieder weg. Fürchterlich ärgerlich! Dann ist etwas Seltsames passiert. Ich lese vor: Die Volkskammer beschließt mit Mehrheit, den Antrag der Fraktion der DSU an den Ausschuß Deutsche Einheit federführend, den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Verfassung und Verwaltungsreform zu überweisen. Welcher Antrag war das? - Es war der Antrag, sofort, am 17. Juni, nach Art. 23 beizutreten. Damals hat der Abgeordnete Rainer Ortleb, damals Fraktionschef, anders votiert - Rainer Eppelmann, du warst dabei, du kannst dich gut erinnern -, weil wir damals keine Einheit mit Hast haben wollten. Wir sind damals dieser Überzeugung gewesen. Da gibt es einen Satz von mir, den ich zitieren darf: Er ist die Konsequenz aus dem gewesen, daß für lange Nachbesserungen, Veränderungen und andere Dinge nicht mehr die Zeit ist, nachdem die Ereignisse und die Dynamik des Prozesses so gelaufen sind. Das war damals die Situation. Und trotzdem! Ich hatte formuliert: Vernunft hat uns bisher davon abgehalten, das sofort und unter Ausschaltung des Denkwerkes zu tun. Das war eine Formulierung von damals. Und dann gab es noch eine etwas ulkige Geschichte. Herr Schulz ist auch hier. Herr Schulz, wir hatten einen kleinen Disput, und der ging wie folgt. Ich hatte formuliert - wegen der Frage Einheit -: Drum prüfe, wer sich ewig bindet! ({0}) Aber ich hatte dann hinzugefügt: ... der Spruch heißt nicht: Drum prüfe ewig, wer sich bindet. Und da haben Sie mich gefragt, ob ich geheiratet hätte, und ich habe wörtlich geantwortet: Nein, nein, Herr Schulz, ich hatte schon. Das war für mich der 17. Juni Nummer zwei. Es war ein spannender Tag. Herr Schulz, Sie geben mir sicherlich recht - und da unsere Parteien normalerweise total über Kreuz sind: wenn ich Sie als Zeugen benenne, weiß jeder, daß es ehrlich gemeint ist -: Es war eine spannende Zeit, die wir als Laien mühsam gemeinsam bewältigt haben. Ich danke Ihnen auch ganz persönlich dafür. Und unsere Wortspiele waren ja in der Volkskammer bekannt. Jetzt komme ich - noch in diesem Teil, ehe ich zu dem anderen übergehe - auf etwas, was mich damals sehr betroffen gemacht hat. Frau Lengsfeld, ich bin - das erkläre ich Ihnen - ein geborener Feigling. Ich habe in der DDR versucht, das Beste aus der Geschichte zu machen, die damals war. Ich habe mich in kein Gefängnis begeben, aber wenn Sie meine Studenten aus Rostock oder Dresden fragen: Ich habe immer ein offenes Ohr für Probleme gehabt und habe immer meine Flügel ausgebreitet, wenn es sein mußte. Trotzdem: Ich bin ein geborener Feigling. Ich erkläre das. Warum erkläre ich das jetzt? Weil ich bei aller Aufarbeitung von Vergangenheit eines wohl nicht vergessen werde - ich berufe mich wieder auf das Protokoll -: Ein Abgeordneter Opitz erklärte sich dann: Haben Sie Zweifel, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands in Ordnung sei? Damit wurde ein Abgeordneter Modrow angesprochen. Dieser Abgeordnete Opitz hat dann wenige Wochen später ein schlimmes Schicksal erfahren: Man hat ihn verdächtigt, Zuträger der Staatssicherheit gewesen zu sein. Weil der Name Opitz in Deutschland nun weiß Gott kein ungewöhnlicher Name ist, hat er Wochen und Monate gebraucht, bis er rehabilitiert war. Also, bei aller Aufarbeitung: Gerechtigkeit muß auch sein! ({1}) Jetzt komme ich zum dritten und letzten 17. Juni, und das ist der heutige. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß ich ausgerechnet an diesem Tag, dem 17. Juni, hier in diesem Bundestag reden kann. Ich streife das ganze Publikum. Frau Enkelmann, seien Sie mir nicht böse, wenn ich mir jetzt einen Scherz erlaube: Sie sind praktisch das Nationalste, was wir haben; Sie laufen immer in Schwarzrotgold. ({2}) Sie wissen, worauf ich angespielt habe. Ich gehe die Runde durch: Ich danke Herrn Hilsberg, Herrn Vergin; ich will keine weiteren Namen nennen; Sie wissen alle, daß Sie angesprochen sind. Gerd Poppe, wir haben uns zusammengerauft, und das war ziemlich gut; Werner Schulz, Gerald Häfner, auch wir waren nicht schlecht als Truppe. Ich darf mich auch gegenüber der CDU verneigen. Mein Verbindungsmann dort ist insbesondere Rainer Eppelmann gewesen, ein Pfarrer, den ich als meinen persönlichen immer gerne gehabt hätte. Und dann bedanke ich mich bei meinen eigenen Freunden. Ich darf mich verabschieden. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bevor ich dem Abgeordneten Professor Dr. Elm das Wort gebe, zwei Anmerkungen: Die drei letzten Redner haben selbst gesagt, das sei ihre letzte Rede. Ich möchte im Namen des Deutschen Bundestages für Ihre Arbeit danken, insbesondere für das, was Sie in der EnqueteKommission beigetragen haben. Wir werden auch Ihr Zeugnis nicht vergessen. ({0}) Kollege Larcher, ausweislich des Protokolls haben Sie sich hinreißen lassen, offenbar gegenüber der CDU/CSU-Fraktion zu sagen: Ihr seid ein Pack! Das kann ich nicht ungerügt stehenlassen. Dafür muß ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilen. ({1}) - Das steht so im Protokoll. Das paßt heute auch überhaupt nicht in die Debatte. Aber Ordnung muß sein. Es spricht jetzt der Kollege Elm.

Dr. Ludwig Elm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002646, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission Deutsche Einheit schließt ihre rund dreijährige Tätigkeit ab. Ich gestehe, daß mich die Mitarbeit in der Kommission politisch und wissenschaftlich bereichert und der eigenen andauernden Selbstverständigung wichtige Impulse gegeben hat. Nicht selten war es schmerzhaft, wenn dunkle, auch verbrecherische Seiten der Politik der SED und der Geschichte der DDR zur Sprache kamen. Andererseits wurde oft der eigene Widerspruch herausgefordert. Gerade unter dem Eindruck des vorliegenden Berichtes ist absehbar, daß es weitere Gründe und Themen zum Streiten geben wird. Das heutige Datum steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Gegenstand und den Problemstellungen der Kommission. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 verdient nicht nur geschichtliches Interesse als Aufbegehren für soziale und politische Interessen in einer krisenhaften Situation der DDR oder auch als Würdigung der damals Widerständigen und der Opfer. In den repressiven und autoritären Methoden zur Bewältigung der damaligen Erschütterungen durch die SED und die sowjetische Militärmacht offenbarten sich bereits grundlegende Defizite im Verhältnis zu politischen und persönlichen Freiheiten, zu Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten, zur Würde der Persönlichkeit eines jeden. ({0}) Die Unverzichtbarkeit von Gewaltenteilung und einer kritischen Öffentlichkeit, wirklicher Pluralismus also, aber auch die Notwendigkeit steter Erneuerung demokratischer Legitimation - das sage ich ausdrücklich als persönliches Ergebnis des Nachdenkens während der letzten Jahre - sind Lehren des 17. Juni und der darauffolgenden Entwicklungen bis zum Scheitern des Realsozialismus. Die im Bericht vorliegende Bilanz der EnqueteKommission verdient eine differenzierte Würdigung. Pauschale Herabsetzungen werden ihr ebensowenig gerecht wie euphorische Überhöhungen. Es liegen nunmehr weiterführende Analysen vor, und es gab produktive Kontroversen. Auch Passagen im Bericht der Mehrheit oder in Sondervoten der anderen Parteien sind für mich zustimmungsfähig, beispielsweise zur internationalen Politik beider deutscher Staaten, zur politischen Repression in der DDR, zur Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgungen, zur Umweltpolitik, zur Archivsituation, oder auch das Votum der SPD zur Gedenkstättenpolitik. Warum lehnen wir den Schlußbericht insgesamt ab? In diesem Rahmen möchte ich drei Gesichtspunkte hervorheben: Erstens. In der Gesamtdarstellung werden die Herkunft, die Gesellschaft und die vielgestaltige widersprüchliche Lebenswirklichkeit der DDR nach meiner Einschätzung nicht angemessen erfaßt, sondern weithin verzerrt dargestellt. Voreingenommenheit, Pauschalurteile und davon beeinflußte selektive Betrachtungsweisen verabsolutieren die für sich genommen unbestreitbaren Momente der Bevormundung, der Repressionen und der Verfolgungen. Es ist zutreffend, daß Chancen und Lebenswertes nur gegen das System erlangt oder bewahrt werden konnten. Zweitens. Mitglieder der Kommission und manche Experten und Zeitzeugen trugen dazu bei, daß die tendenzielle Parallelisierung von DDR und nationalsozialistischem Verbrecherstaat heute in Politik, Medien, in Teilen von Bildung und Wissenschaft nahezu alltäglich und unwidersprochen stattfindet. Sie vergiftet das politische Klima, indem Feindbilder aus den kältesten Jahren des kalten Krieges wiederbelebt und übrigens - ob beabsichtigt oder fahrlässig - tendenziell die nazistische Eroberungs- und Ausrottungspolitik verharmlost wird. Manche Aussagen und Beschlüsse der Kommission förderten politische Diskriminierung und Sonderrechte in Ostdeutschland. Drittens. Es verstärkt die bestehenden Asymmetrien der Geschichtsdiskussion und die Verzerrung des Bildes der Zeitgeschichte seit 1945, daß in beiden Enquete-Kommissionen die Bundesrepublik und ihre Gesamtgeschichte nur peripher und vorwiegend recht unkritisch in die Untersuchungen und Wertungen einbezogen wurden. Die häufigen Vergleiche zwischen Aufarbeitung von Vergangenem nach 1945 und nach 1989/90 bleiben in diesen gesamten Debatten häufig hinsichtlich der Nachkriegsperiode oberflächlich und unscharf. Ich schließe mich der heute und hier bereits geäußerten kritischen Bewertung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der Nachkriegsperiode ausdrücklich an. Mit unserem Entschließungsantrag wollen wir im Kontext des vorliegenden Berichts auf Probleme im gegenwärtigen Verlauf der Geschichtsdiskussion im Lande hinweisen und Erwartungen an die künftigen Bemühungen auf diesem wichtigen und schwierigen Feld ausdrücken. Die Vertreter der PDS haben sich am gesamten Arbeitsprozeß der Kommission beteiligt und eine Reihe von Einzelvoten für den Schlußbericht eingebracht. Ungeachtet diskriminierender Momente, denen wir verschiedentlich ausgesetzt waren, würdige ich diese Möglichkeit der Mitwirkung, die die SED ihren Kritikern und den oppositionellen Minderheiten nicht eingeräumt hat. Allerdings muß auch die Diskriminierung heute abschließend benannt werden: vom Ausschluß aus den vorbereitenden Gesprächen zur Einsetzung einer Kommission und bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs für eine Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, von der Verweigerung des Stimmrechts für uns in der Kommission bis zu den ausgrenzenden Regelungen in der Satzung dieser Stiftung, die sich ausschließlich gegen die PDS richten. Unter der zuletzt genannten Voraussetzung werden wir uns bei der anschließenden Wahl der Vertreter des Bundestages im Stiftungsrat der Stimme enthalten. Wir haben keinen Grund, gegen die von den Fraktionen benannten Persönlichkeiten zu votieren. Sie müssen uns aber zubilligen, daß wir keiner Wahl zustimmen können, bei der die politisch willkürliche Diskriminierung der PDS ein wesentlicher Bestandteil ist. Lassen Sie mich mit einer treffenden Aussage von Lothar de Maizière aus den letzten Tagen abschließen. Ich zitiere: Solange den Ostdeutschen - und eben nur diesen - ständig ihre Vergangenheit vorgehalten wird, wird es die innere Einheit nicht geben. Er fuhr fort: Was mich irritiert: Von diesen Vorhaltungen profitieren in unserem politisch vereinten Land nur wenige. Und dennoch beteiligt sich daran die Mehrheit - stumm und gleichgültig. Bleiben wir zuversichtlich, daß es nicht bei dieser Situation bleibt und daß schließlich auch durch die internationale Diskussion um die Bilanz und die Lehren des zu Ende gehenden Jahrhunderts neue Horizonte und neue Perspektiven erschlossen werden. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht in der Debatte der Kollege Rainer Eppelmann.

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe anwesende Mitglieder der Enquete-Kommission! Liebe Mitarbeiter des Sekretariats! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit einigen Tagen liegt die deutsche Übersetzung des „Schwarzbuches des Kommunismus" immer griffbereit in meiner Nähe, damit ich jeweils dann, wenn ich Zeit dazu habe, ein Stück weiter in dieser Chronik des Schreckens blättern und lesen kann. Ganz am Ende dieses dicken Buches wird aus einem Text von Wassilij Grossmann zitiert. Er war Kriegskorrespondent in Stalingrad und ein Schriftsteller, der erleben mußte, wie der KGB das Manuskript seines Hauptwerkes „Alles fließt ... " konfiszierte. In diesem erst nach Grossmanns Tod veröffentlichten Buch stehen jene Sätze, mit denen das „Schwarzbuch des Kommunismus" schließt und die mich einfach nicht mehr loslassen wollen. Da heißt es in unerbittlicher Einfachheit: Alles Unmenschliche ist sinnlos und vergebens. Ja, ja, in der Zeit der totalen Unmenschlichkeit wurde offenbar, daß alles mit Gewalt Geschaffene sinnlos und vergeblich ist, ohne Zukunft lebt, spurlos bleibt. Wir haben uns in der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" oft gefragt und fragen lassen: Wo ist der Schlüssel zu finden, der uns den Zugang öffnet zu jener Vergangenheit, die im Herbst 1989 an ihr Ende kam? Wie können wir verstehen, was da mit 16 Millionen Menschen geschah, zu denen doch auch wir gehörten? Waren die mehr als 40 Jahre DDR wirklich verlorene Jahre? Wie bringen wir zusamRainer Eppelmann men, daß es da soviel guten Willen gab und dann dieses große Scheitern? Was war der Grundfehler jenes Systems, an dem wir je mehr gelitten haben, je länger es bestand, und von dem wir doch wußten, daß viele seiner überzeugten Vertreter von der Vision einer Zukunft vorangetrieben wurden, in der der Mensch endlich ganz zu sich selbst kommen sollte? Weshalb diese große Pleite bei so großem Einsatz? Wassilij Grossmann gibt die so schrecklich einfache, aber einfach richtige Antwort: Alles Unmenschliche ist sinnlos und vergebens. Alles mit Gewalt Geschaffene ist sinnlos und vergeblich, lebt ohne Zukunft und bleibt spurlos. - Die Wahrheit dieser Sätze müssen wir begreifen und zum Maßstab all unseres Handelns machen. Lassen Sie mich ein wenig darüber nachdenken, was diese Sätze des russischen Schriftstellers für uns heute sagen könnten. Erstens. Am Ende unseres Jahrhunderts, das eine Epoche der totalitären Diktaturen gewesen ist, müssen wir begreifen: Unmenschlichkeit lohnt sich einfach nicht. Was mit den Mitteln des Terrors und der Gewalt durchgesetzt wird, hat keinen Bestand. Die Regime, die sich auf Unmenschlichkeit und Gewalt stützten, konnten keine Zukunft haben. Sie waren von Anfang an zum Untergang verurteilt, selbst dann, wenn dies in grausiger Gegenwart manchmal noch anders auszusehen scheint. Zweitens. Ich glaube, es gehört zu den großen Hoffnungszeichen unserer Zeit, daß Unmenschlichkeit und Gewalt mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit überwunden wurden und überwunden werden können. Als wir im Herbst 1989 in der DDR aus den Kirchen hinaus auf die Straßen mit dem Ruf „Keine Gewalt!" gingen, wußten wir nichts von Wassilij Grossmanns einfacher Wahrheit. Manche von uns hatten vielleicht das Wort Jesu von der Bergpredigt im Kopf, nach dem die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden. Die meisten von uns wußten nur: Wo soviel Gewalt der Sicherheitskräfte, des Staatssicherheitsdienstes, der Kampftruppen und der Nationalen Volksarmee präsent ist, da hat, wenn überhaupt etwas, nur Gewaltlosigkeit eine Chance. Drittens. Wenn Wassilij Grossmann recht hat - ich bin zutiefst davon überzeugt, daß alles Unmenschliche und mit Gewalt Geschaffene sinnlos und vergebens ist -, dann sollten sich von dieser Einsicht gerade auch diejenigen ansprechen lassen, die bis zuletzt darauf hofften: „O Gott, laß doch den Kommunismus siegen!" So hat es Wolf Biermann in seinem großen Kölner Konzert im November 1976 gesungen, worauf die SED-Machthaber nur noch mit der Ausbürgerung des Liedersängers zu antworten wußten. Damals begann das Ende der SED-Diktatur. Wieder einmal war es ein November, in dem deutsche Weichenstellungen vorgenommen wurden. „O Gott, laß doch den Kommunismus siegen!" Das war doch die große Hoffnung auf einen Kommunismus ohne Unmenschlichkeit, Gewalt, Menschenverachtung, Gängelei, Staatssicherheitsdienst und Mauer. Die SED-Machthaber konnten diese Hoffnung nicht ertragen und verjagten deshalb den Liedersänger aus ihrem Land. Deshalb entließen sie so viele aus der Staatsbürgerschaft des ersten sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden. Deshalb bespitzelten Hunderttausende ihre Mitmenschen, und deshalb mußten so viele in die Gefängnisse. Erst ganz zum Schluß begriffen wenigstens einige der SED-Machthaber in unserem ummauerten Land mit seinen 16 Millionen eingesperrten Menschen: Alles Unmenschliche und mit Gewalt Geschaffene ist sinnlos und vergebens. Vielleicht gab es deshalb in der DDR keine „chinesische Lösung". Der Alexanderplatz wurde nicht zum Platz des Himmlischen Friedens. Mit der Politik der runden Tische im ganzen Land begann die friedliche Revolution, die eine Einladung zur Mitwirkung an alle die einschloß, die bereit waren, menschlich und gewaltlos mitzuarbeiten. Diese Einladung besteht weiter; sie richtet sich besonders an diejenigen, die vom Sozialismus in den Farben der DDR alles erhofft hatten und für die im Herbst 1989 eine ganze Welt und ihre ganze Zukunft zusammenstürzte. Wo Menschlichkeit und Gewaltlosigkeit als Grundlagen unseres gemeinsamen Handelns anerkannt sind, da können wir sinnvoll, ereignisreich und bleibend zukunftsorientiert arbeiten, so mühevoll auch immer dieser Weg sein mag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozeß der deutschen Einheit ist schwieriger, als viele von uns zunächst geglaubt haben. Erst einige Zeit, nachdem die Mauer gefallen war, begriffen wir, wie weit wir uns auseinandergelebt hatten. Über Jahrzehnte waren unsere Lebensperspektiven so völlig unterschiedlich. Das gemeinsame Fernsehprogramm ersetzte nicht das tatsächliche Zusammenleben, so sachkundig wir uns in der DDR in allen Problemen des Westens auch fühlen mochten. Die Menschen in Westdeutschland kannten sich doch besser in Rom, Washington und Neu-Delhi aus als in Görlitz, Dresden, Halle oder gar Warschau, Prag und Moskau. Die nationale Freude beim Fall der Mauer glich der freudigen Begegnung von Verwandten, die sich lange nicht gesehen hatten. Erst danach lernte man sich näher kennen. Nun geht es uns im vereinigten Deutschland wie in einer richtigen Familie: Der gemeinsame Alltag ist anstrengend. Wo man sich nicht darum bemüht, dem anderen zuzuhören und auch die nicht ausgesprochenen Sätze sorgfältig zu registrieren, da kommt es schnell zu Mißverständnissen. Das tut gerade dann weh, wenn man weiß, daß wir eigentlich zusammengehören. Ich sage all das nicht aus großer Enttäuschung, sondern weil ich uns noch mehr Mut zum Realismus machen möchte. In einer Familie wird ja gerade deshalb manchmal so heftig gestritten, weil man weiß: Wir gehören zusammen, wir sind uns nicht gleichgültig. Daß dieses Wissen vorhanden ist, dessen bin ich mir völlig sicher. Verhalten wir uns im vereinten Deutschland nicht wie jede normale Familie? Wenn es ernst wird, wenn die Ortschaften an der Oder im Wasser versinken oder ein ICE in die Katastrophe rast, dann stehen wir zusammen. So ist es doch. Ich möchte Mut machen, wahrzunehmen, daß das so ist, auch wenn die gegenseitigen Enttäuschungen, Mißverständnisse und Überforderungen Anlaß zu Ärger und Sorge geben. Wir müssen auch darin die Tatsache anerkennen, wie weit die Normalisierung im vereinten Deutschland bereits vorangeschritten ist. Das alles verdeckt nicht die tatsächlichen Schwierigkeiten, mit denen wir noch immer zu kämpfen haben. Die Pleite der SED-Diktatur - sie war in jeder Hinsicht eine ganzflächige: im juristischen, moralischen, ökonomischen, ökologischen, finanztechnischen und wirtschaftlichen Bereich - verursacht Folgekosten in Billionenhöhe, die wir alle gemeinsam tragen müssen. Die Umstellung der Lebensverhältnisse verlangt den Menschen in den neuen Ländern viel ab. Besonders ältere Menschen sehen sich da überfordert. Die Opfer der SED-Diktatur fragen, ob ihre Leistungen materiell und moralisch wirklich ausreichend anerkannt werden. Viele Menschen zweifeln, ob der demokratische Rechtsstaat wirklich in der Lage ist, das SED-Unrecht juristisch befriedigend aufzuarbeiten. Mit Trauer sehen viele, daß manches, was in der DDR mit viel Mühe aufgebaut und gegen die Machthaber durchgesetzt wurde, heute nicht fortgeführt werden kann. Mit Erbitterung wird registriert, wenn Funktionsträger des überwundenen Systems sich wieder ein warmes Plätzchen sichern konnten, während andere, die sich damals nicht beugten, heute dem Konkurrenzdruck nicht standhalten können. Die Folgen der SED-Diktatur lasten auf uns allen im vereinten Deutschland. Wir sind sehr unterschiedlich davon betroffen, aber zu tun haben wir alle damit. Ich glaube, es ist an der Zeit, uns das offen einzugestehen. Eine Last, über die offen geredet wird, läßt sich meist leichter tragen. Wichtig ist dann aber auch, daß wir keine Taschenspielertricks dulden und daß kein Verwischen von Verantwortlichkeiten stattfindet. Wir haben es bei allen Schwierigkeiten im vereinten Deutschland heute vornehmlich damit zu tun, die Folgen der SED-Diktatur aufzuarbeiten. So wie wir nach dem Ende des von der ersten deutschen Diktatur ausgelösten Krieges unser zerstörtes Land wieder aufbauen mußten, so müssen wir heute nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur als Folge der vielen Fehlentscheidungen der Regierenden der SED-Diktatur die neuen Länder gemeinsam wieder aufbauen. Wir sollten in der aktuellen Diskussion zum einen die Antwort auf die Frage nach der Schuld und zum anderen die Notwendigkeit, uns durch Erinnern vorwärts zu bewegen, nicht vergessen. ({0}) Ein Volk, das sich seiner Geschichte nicht erinnert, begibt sich zumindest in die Gefahr, die einmal gemachten Fehler zu wiederholen. So dumm sollten wir nicht sein. ({1}) Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" hat versucht, sich all den Problemen, den kritischen Fragen, der Empörung, der Trauer und der Resignation zu stellen. Das Aufzeigen von Problemen war uns wichtiger als das Herzeigen von Erfolgsbilanzen. Ich wünsche mir manchmal, daß wir uns im Zusammenhang mit der Beurteilung dessen, was in den letzten acht Jahren tatsächlich geleistet worden ist, auch einmal vorstellen würden, wie es den Franzosen heute ergehen würde, wenn sie 1990 beschlossen hätten, aus eigener Kraft die Lebensverhältnisse und die Lebenschancen der Polen den französischen anzugleichen. Vieles von dem, was wir in den gut drei Jahren unserer Arbeit gehört und gelernt haben, steht in unserem Bericht. Mehr noch werden Sie in den umfangreichen Materialien der Enquete-Kommission nachlesen können, die etwa in einem halben Jahr im Druck vorliegen werden. Wir haben nicht alles geschafft, was wir erreichen wollten. Wir haben uns auch gestritten. Die Sondervoten in unserem Bericht machen dies deutlich. Wichtig aber ist mir, daß wir zumindest in vier Bereichen, die für die Zukunft wichtig sind, weitgehende Übereinstimmung erreichen konnten: Erstens. Auf Vorschlag und nach intensiver Vorarbeit der Enquete-Kommission hat der Deutsche Bundestag die Gründung einer Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beschlossen. Wir wissen, daß die akademische Forschung inzwischen voll im Gange ist. Trotzdem waren wir der Meinung, daß all den unabhängigen Gruppen und Opferverbänden eine Basis geschaffen werden muß, auf der sie ihre wichtige Arbeit fortsetzen und für die Zukunft sichern können. Wenn jenes Gespräch weitergeführt werden soll, das zum Gelingen der deutschen Einheit notwendig dazugehört, dann darf die Stimme der unabhängigen Gruppen und Opferverbände nicht verstummen. Dann muß möglichst großzügig und sensibel dafür gesorgt werden, daß ihr Erbe einen angemessenen Platz findet. Zweitens. Mit großer Sorgfalt hat sich die Kommission mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir im vereinten Deutschland mit den Gedenkstätten umzugehen haben. Die Gedenkstätten halten die Erinnerung an Unmenschlichkeit und Gewalt in unserer Erinnerung fest. Sie ehren das Andenken der Opfer. Sie bezeugen, daß es im Gegenüber zu Unmenschlichkeit und Gewalt immer auch Opposition und Widerstand gegeben hat. Mit besonderer Sorgfalt haben wir uns an den Orten zu bewegen, die mit der Erinnerung an die Opfer beider deutscher Diktaturen verbunden sind. Wir dürfen den unterschiedlichen Charakter der Diktaturen nicht verwischen. Wir dürfen die Situation der Opfer und die Motive von Widerstand und Opposition nicht egalisieren. Wir müssen aber an solchen Orten einer „doppelten Vergangenheit" in der Erinnerung wachhalten, daß diese Orte, die ja zugleich auch die Friedhöfe vieler Opfer sind, Brennpunkte von Unmenschlichkeit und Gewalt waren. Diese Orte wären ohne Sinn und Zukunft, wenn wir sie nicht zu Lernorten werden lassen. Drittens. Die Enquete-Kommission hat den Blick immer wieder auch auf das östliche Europa gerichRainer Eppelmann tet. Was wären Opposition und Widerstand in der DDR ohne die vielfältigen Verbindungen nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Ungarn und gelegentlich auch in die Sowjetunion gewesen? Wir haben uns von unseren Freunden über ihre heutigen Probleme berichten lassen. Wir haben sie gefragt, wie sie mit der Aufarbeitung einer Vergangenheit umgehen, die auch bei ihnen noch qualmt. Wir wissen: Sie haben es sehr viel schwerer als wir, aber noch immer können wir von ihnen lernen. Ich glaube aber auch, wir haben ihnen gegenüber eine Verpflichtung. Sie haben uns nicht nur beigestanden, als wir die ersten Schritte auf dem Weg von Opposition und Widerstand machten, sondern sie haben auch ein deutliches Ja gesagt, als ihnen die Frage vorgelegt wurde, ob es wieder ein vereinigtes Deutschland in Europa geben solle. Diese unsere Freunde im östlichen Europa hätten alle gute Gründe gehabt, sich angesichts der historischen Erfahrungen zu verweigern. Sie haben uns und der demokratischen Bundesrepublik vertraut. Dieses Vertrauen verpflichtet uns auf Dauer. Dabei geht es nicht nur um materielle Hilfe. Zu unserer europäischen Zukunft gehören die Freunde im Westen wie im Osten, im Süden wie im Norden. Sie schauen auf uns mit Sympathie, aber wohl auch mit Aufmerksamkeit. Sie haben vor dem Hintergrund ihrer historischen und gegenwärtigen Erfahrungen Grund zu beidem. Viertens und letztens. Schließlich möchte ich auf die übergreifenden Stellungnahmen zum Sondervotum der PDS zum Bericht der Enquete-Kommission hinweisen, wo es heißt - ich zitiere -: Beschämend wie unkritisch ist die für die heutige Geisteshaltung der PDS bezeichnende Fragestellung, ob denn „jede in der DDR straffällig gewordene Person heute als >Opfer< beurteilt und geehrt werden" muß. Besonders bedrückend ist dabei die Tendenz, die politischen Opfer zu bagatellisieren und zu relativieren, um auf diese Weise die Unrechtsdimensionen des SED-Systems zu verharmlosen. Ich erkläre dazu: Eine Partei, die sich so zu den Opfern der SED-Diktatur äußert, hat den Boden des antitotalitären Konsenses der demokratischen Parteien noch nicht erreicht ({2}) und kommt deshalb bis auf weiteres für parlamentarische Bündnisse und Absprachen auf Regierungsebene nicht in Betracht. ({3}) Darum ist meiner Meinung nach eine Erinnerung an den historischen Händedruck nicht platter Wahlkampf, sondern hat tatsächlich etwas mit Erinnerung an unsere Geschichte zu tun. ({4}) Es sollte daran erinnert werden, daß dieser Händedruck damals ein Zwangshändedruck war, heute aber freiwillig etwas in dieser Art vollzogen worden ist. Darin liegt der entscheidende Unterschied. ({5}) Zum Schluß möchte ich allen Mitgliedern der Enquete-Kommission, insbesondere auch ihren Sachverständigen, für die geleistete Arbeit danken. Ich danke dem Bundespräsidenten und der Präsidentin des Deutschen Bundestages, die die Enquete-Kommission in bemerkenswerter Weise unterstützt haben. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Sekretariat der Kommission und in den Fraktionen, ohne die die pünktliche Fertigstellung des heute vorgelegten Berichtes sicher sehr schwierig geworden wäre. Ich bitte Sie alle herzlich: Tragen Sie dazu bei, daß die umfassende Aufarbeitung der Folgen der SEDDiktatur auch weiterhin als die Grundaufgabe im Prozeß der deutschen Einheit begriffen wird. Diese Aufgabe können wir nur gemeinsam lösen. ({6}) Wenn wir uns dieser Aufgabe stellen, dann nützen wir uns allen im vereinten Deutschland am meisten. Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Hilsberg.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von Ihnen, der einmal in einer Enquete-Kommission mitgearbeitet hat, wird die Fragen, die sich einem nach so langer und durchaus stressiger Arbeit zum Schluß stellen, kennen: Was haben wir da geleistet? Hat sich das überhaupt gelohnt? Auf der Habenseite der Bilanz der Enquete-Kommission „Deutsche Einheit" stehen zweifellos die bereits installierte Bundesstiftung für Aufarbeitung und das parteiübergreifende Bekenntnis zur dauerhaften Mitfinanzierung vieler Gedenkstätten - auch durch den Bund -, die an die Opfer der zweiten deutschen Diktatur erinnern sollen. Aber es gibt auch Defizite. Niemandem wird entgangen sein, daß das Interesse an der öffentlichen Arbeit, also an den Anhörungen unserer Kommission, in den vergangenen zwei Jahren spürbar nachgelassen hat. Das war in der ersten Kommission ganz anders. Damals lautete die bange Frage: Kann der Bundestag, können die unterschiedlichen Parteien die Vergangenheit der deutschen Teilung und der SED-Diktatur denn überhaupt gemeinsam aufarbeiten? Der Nachweis gelang uns erstaunlich gut. Deshalb bekam die Nachfolgekommission einen ehrgeizigeren Auftrag, nämlich den, nicht nur die Teilungsgeschichte selbst, sondern auch deren Überwindung aufzuarbeiten. Diese Aufgabe haben wir nur zum Teil bewältigt. Wohl haben wir uns mit der Rehabilitierung der Opfer, der Bilanz der strafrechtlichen Aufarbeitung, dem Bildungswesen, der Wissenschaft und Forschung, der Wirtschaft, dem Sozialwesen und nicht zuletzt dem Alltag beschäftigt. Wohl haben wir in allen Fällen hochinteressante und nachlesenswerte Anhörungen durchgeführt und sicher auch gewichtige Berichte verfaßt sowie bedenkenswerte Ratschläge für das nächste Parlament erarbeitet. Doch zur eigentlich spannenden Frage der Nachwirkungen der SED-Diktatur in der politischen Kultur und im Rahmen der weiterwirkenden kommunistischen oder auch postkommunistischen Traditionen und ihrer Geltungsansprüche, die nicht selten verlogen sind und Ressentiments erzeugen, sind wir nur selten - ich meine, zu selten - vorgestoßen. Dies hat damit zu tun, daß die Kommission nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart aufarbeiten wollte. Hier schlummern Konflikte, die eine außerordentliche Sprengkraft entfalten können. Deutschland befindet sich in einer schwierigen Phase seiner Vereinigungsgeschichte, die wir alle als unsere Gegenwart erleben. Gespräche zwischen Ost und West finden nur selten statt, ja man tüftelt noch an den Vorzeichen, unter denen sie stehen sollten. Die einen sprechen von Versöhnung und Amnestie; andere malen abgehackte Hände auf Plakate; dritte schreien nach Umverteilung; wieder andere versuchen immerfort, ostdeutsche Biographien zu schützen. Wer soll sich denn da noch zurechtfinden? Statt eine klare übersichtliche Situation zu präsentieren, überlagern dichte Nebelschwaden das Bild der politischen Kultur in Deutschland. ({0}) Das muß geklärt, muß aufgeklärt werden. Dabei geht es nicht nur um die alte, untergegangene und nicht wiederherstellbare SED-Diktatur, um ihre Erben und ihr Erbe. Dabei geht es vielmehr auch um Selbstverständnisse, besser gesagt: Mißverständnisse der alten Bundesrepublik. Es geht nicht einfach nur um Sünden, die begangen wurden und die man sich um die Ohren haut - oder auch mit Absicht nicht, was man dann Versöhnung nennt. Es geht auch nicht um ein verbindliches Erklärungsangebot für alle gemeinsam; denn hier würde Gemeinschaft und Gesellschaft verwechselt werden. Es geht überhaupt nicht um Erklärungen. Es geht vielmehr um ein anderes Klima. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, in dem Tabus aufgebrochen werden können, keine Verdrängungen verordnet werden und in dem sich alle Menschen zu ihren Erfahrungen bekennen können, ohne Gefahr zu laufen, an den Pranger gestellt zu werden. ({1}) Ein solches freies, den Mut zur Freiheit - der Freiheit der Entscheidung - vermittelndes gesellschaftliches Klima hat viel mit Aufarbeitung zu tun. ({2}) Deshalb ist es so wichtig, daß auch in Zukunft Opfer von ihren traumatischen Erlebnissen berichten können, daß man auch in Zukunft die Staatssicherheit natürlich als eine verbrecherische, kriminelle Vereinigung bezeichnen kann. Man muß darüber sprechen können, daß die Entspannungspolitik natürlich auch Schattenseiten hatte und der Händedruck von Kohl und Honecker das Siechtum der DDR verlängerte. Man muß auch darüber sprechen können, daß der anhaltend große Einfluß der PDS den dringend notwendigen Modernisierungsprozeß in Ostdeutschland behindert und möglicherweise auch teurer macht. Aufarbeitung ist die geistige Auseinandersetzung mit jenem Prozeß, den wir Geschichte nennen. Das Schicksal jedes einzelnen von uns ist darin eingebettet. Deshalb kann die Geschichte als einzige eine Erklärung dafür liefern, warum wir uns an jenem ganz spezifischen Ort namens Gegenwart befinden. Diesen aber müssen wir kennen, wenn wir uns mit Tatkraft in das Erbe von uns selbst gewählter politischer oder religiöser Traditionen stellen wollen, um von hier aus sowohl unser eigenes Leben zu meistern als auch politischen Einfluß auszuüben. Aufarbeitung kann Identität vermitteln, kann die Gesellschaft und ihre Kräfte transparent machen und kann so alte Fragen neu beantworten. „Aufarbeitung", sagt Erhart Neubert deshalb, „ist Zukunftsgestaltung!" Recht hat der Mann. Wichtig ist daher die Aufarbeitung an den Schulen. Heute gehen zum Beispiel in Ostdeutschland noch immer unglaublich viele junge Menschen zur Jugendweihe, weshalb manche nicht müde werden, dies als ein Symptom von Ostidentität zu bezeichnen. Ich aber habe das Gefühl, daß den jungen Menschen nicht ein einziges Mal erklärt wurde, daß die Kommunisten in den 50er Jahren die Jugendweihe nur deshalb so propagiert und mit Druck durchgesetzt hatten, weil sie damit den Einfluß der evangelischen Kirchen auf die Jugend in der DDR brechen wollten. ({3}) Viele Menschen in Ostdeutschland glauben, daß der Kommunismus nur schlecht realisiert worden, in Wirklichkeit aber eine famose Idee gewesen sei. Wer sagt ihnen eigentlich, daß das eigentliche Problem in der skrupellosen, machtpolitischen Instrumentalisierung der kommunistischen Idee bestanden hat? Die Kommunisten waren doch nicht deshalb so schlimm, weil sie die Klassengesellschaft überwinden wollten, sondern deshalb, weil sie dafür millionenfaches Unrecht, Tod und Vertreibung hingenommen und sogar für historisch notwendig gehalten haben. Die PDS aktiviert bis heute Ressentiments gegen den Rechtsstaat, was man daran erkennen kann, daß sie die Gewaltenteilung abschaffen will. Da will ich das Recht haben, auch in Zukunft öffentlich mein Mißtrauen in ihr Demokratieverständnis zu äußern. ({4}) - Herr Heuer, Sie haben ja selber den Verfassungsentwurf der PDS geschrieben und wissen genau, wovon ich spreche. - Ich will auch in Zukunft sagen können, daß Ihr faktischer Vorsitzender, Gregor Gysi, ein Stasi-Spitzel war. ({5}) Diesem Urteil muß sich ja nicht jeder anschließen. Aber dann sollte er sich zumindest gegen alle Tabuisierungsversuche wehren, wie sie die PDS gegenwärtig betreibt. Niemand will die PDS zum Verstummen bringen, wohl aber zum Eingeständnis der Wahrheit. ({6}) - Ich komme schon noch zu Ihnen von der CDU. Halten Sie sich einmal zurück. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Hilsberg hat das Wort.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist niederträchtig, wie diese Partei mit den Gefühlen der Menschen in Ostdeutschland spielt und sich geschickt in die Rolle des Märtyrers zu bringen versteht. Nur dann, wenn wir mutig und beherzt diese strategischen Spielchen offenlegen und zur Sprache bringen, werden sie ins Leere laufen. ({0}) Ich kann auch gelassen mit der Rote-Hände-Kampagne der CDU umgehen. ({1}) Heute, Herr Schäuble, ist der letzte Vorsitzende der Bauernpartei Mitglied der Gruppe der PDS. Er ist heute nicht da; er wird wahrscheinlich wissen, warum. Sein Stellvertreter, Herr Junghanns, sitzt mitten unter Ihnen in der Bundestagsfraktion der CDU/ CSU. ({2}) Deshalb, Herr Schäuble, schießt sich Ihr Generalsekretär, Herr Hintze, mit seiner gegenwärtigen Kampagne nur selbst ins Knie. ({3}) Ein Teil der alten Nationalen Front aber ist ganz gut in diesem Bundestag gelandet. Es kann sein, daß dies die Mehrheit der Ostdeutschen gar nicht mehr juckt, weil sie in erster Linie berechtigtermaßen den wirtschaftlichen und sozialen Anschluß an die besseren Verhältnisse in den alten Bundesländern wollen. Doch der ist mit Geld alleine nicht zu erreichen. Wichtig scheint mir zu sein, daß wir uns in Zukunft mehr an der Lösung unserer Probleme als an unseren Ansprüchen orientieren sollten. Wir brauchen mehr Vertrauen in unsere eigene Tatkraft, aber auch Vertrauen in den Sozialstaat. Auch diese Erkenntnis ist übrigens ein Ergebnis der Vergangenheitsaufarbeitung. Wer in die Geschichte Deutschlands schaut, wird feststellen, daß es den Deutschen immer dann gutging, wenn dem einzelnen genügend Freiheit gegeben war, sich zu verwirklichen, und gleichzeitig ein genügend starkes soziales Netz zur Wiederaufrichtung der Schwachen und Bedürftigen existierte. ({4}) Mit diesem Rezept können wir sowohl den Wiederaufschwung der ostdeutschen Entwicklung erreichen als auch die Einigungskrise überwinden. Wer diese Erkenntnis verinnerlicht hat, der kann auch in Ostdeutschland vor die Menschen treten und ihnen sowohl begründete Hoffnung vermitteln als auch an ihre Tatkraft appellieren. Insofern können wir froh sein, daß die Enquete-Kommission mit dem heutigen Tag ihre Arbeit einstellt, denn die Aufarbeitung muß von allen geleistet werden. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht in der Debatte der Kollege Gerald Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Prozeß der Aufarbeitung ist nicht beendet - das, so glaube ich, ist uns allen zum Ende dieser Debatte klar -; wir stehen vielmehr mittendrin. Mir persönlich war es von Anfang an wichtig, den Schwerpunkt meiner Arbeit in der Enquete-Kommission nicht so sehr auf die Fragen der historischen Aufarbeitung zu legen, und zwar auch deshalb, weil ich meine, daß es Kollegen im Hause und außerhalb gibt, die dazu weitaus berufener sind, als ich dies gewesen wäre. Ich habe mich insbesondere den Fragen zugewendet, von denen ich glaubte, daß dieser Bundestag da noch eine zwingende Aufgabe der Gesetzgebung und auch der Gestaltung hat. Es gab eine ganze Reihe solcher Aufgaben: von der VerbesseGerald Häfner rung der meines Erachtens unzureichenden Entschädigungs- und Rehabilitierungsgesetze bis zur Verstetigung des Prozesses der Aufarbeitung und gleichzeitigen Förderung von Beiträgen zur Aufarbeitung aus der Mitte der Gesellschaft durch die Errichtung einer Bundesstiftung. Ich muß sagen: Dies alles ist gelungen. Wir hatten nach anfänglichen Unsicherheiten und gelegentlichen Spannungen in dieser Enquete-Kommission ein Klima und einen Stil, die ich dem ganzen Deutschen Bundestag für alle seine Sitzungen und Entscheidungen wünschen möchte. Wir haben eine Vielzahl notwendiger Änderungen in den Gesetzen, einschließlich der Errichtung dieser so notwendigen Stiftung, zum Teil auch gegen anfänglichen Widerstand in Fraktionen und Bürokratie durchgesetzt. Das ist eine Leistung, auf die die Kommission stolz sein kann. ({0}) Ich will einen weiteren Punkt beispielhaft hier nur kurz andeuten: Während wir schon mit der Formulierung unseres Abschlußberichtes beschäftigt waren, gab es noch einen weiteren, vorher in dieser Form nicht absehbaren Vorgang, der gar nicht originär in die Zuständigkeit unserer Enquete-Kommission fällt. Es ging dabei um den Verkauf des Hauses der Demokratie in Berlin. Sie wissen, das Haus der Demokratie ist ehemaliger Sitz der SED-Kreisleitung und ist auch der Ort, wo seit 1989 die Bürgerbewegung und ihre Nachfolgeorganisationen, die so lange keine Möglichkeit hatten, sich zu treffen und zu beraten, ihren Sitz hatten. Dieses Haus sollte verkauft werden. In Berlin war keine Lösung mehr absehbar. Wir haben uns in die Gespräche eingeschaltet, und zwar nicht durch öffentliches Trara, sondern indem wir uns mit allen Beteiligten in unzähligen Gesprächen an einen Tisch gesetzt haben. Wir haben auch hier eine Lösung gefunden, die, wie ich meine, allen Seiten - dem Erwerber, den Mietern und Nutzern des Hauses wie auch der künftigen, aus der EnqueteKommission heraus initiierten Stiftung - gerecht wird; denn diese Stiftung wird ihren Teilsitz im Haus der Demokratie haben. Ich glaube, daß dies eine kluge Entscheidung ist. Welchen besseren Ort für die Stiftung könnte es geben, abgesehen von der Lage Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, als diesen ehemaligen Sitz der Hauptstadt-Nomenklatur-Kader der SED - diese wird übrigens häufig bei der Debatte über die Stasi als der eigentliche Drahtzieher und Befehlsgeber vergessen -, heute: Haus der Demokratie? Auch ich halte heute meine letzte Rede im Deutschen Bundestag und möchte deshalb, wenn Sie erlauben, zum Schluß noch einen Gedanken aussprechen. Nur 53 Jahre liegt das Ende des Nationalsozialismus hinter uns, neun Jahre das Ende des DDR-Totalitarismus. Noch kann man die Spuren sehen, nicht nur in den kilometerlangen Akten, in den Geruchsproben und Handschriftensammlungen, die die Stasi angelegt hat. Ich empfehle allen, die das noch nicht getan haben, sich diese schrecklichen Dokumente eines totalitären Wahns einmal anzusehen. Nein, man kann es nicht nur dort sehen, nicht nur an den Gebäuden und an den Grabsteinen der Opfer. Man sieht es auch in den Gesichtern der Lebenden. Diktaturen hinterlassen ihre Spuren für die, die in Gesichtern lesen können, unauslöschlich, ein Leben lang. Erst wenn ich in die Gesichter dieser Menschen blicke, auf ihre Biographien, dann weiß ich, was für ein unendliches und im übrigen auch völlig unverdientes Glück ich hatte und viele hier im Hause hatten, jetzt mehr als 40 Jahre lang mit einem im Weltmaßstab doch ungewöhnlich großen Maß an persönlicher Freiheit, Frieden, sozialer und materieller Sicherheit und Demokratie aufgewachsen sein zu dürfen. Ich glaube, daß nicht nur der Blick in die eigene Geschichte, sondern auch der Blick um uns herum - aktuell etwa nach Kosova, nach Bosnien - zeigt, wie dünn doch das Eis ist, auf dem diese menschliche Kultur lebt, die wir alle eigentlich schon als selbstverständlich voraussetzen. Dieses Innewerden macht meines Erachtens zugleich auch deutlich: Jeder einzelne von uns hat die Verpflichtung, mutig dafür zu sorgen, daß nicht nur im eigenen Umkreis, sondern daß weltweit Frieden, Freiheit, Demokratie und Solidarität erkämpft und gesichert werden. Das ist, glaube ich, die Konsequenz, die wir aus der Aufarbeitung des Totalitarismus ziehen können. Ich meine, daß wir auch die Begriffe prüfen müssen, mit denen wir umgehen und nach denen wir unsere Entscheidungen treffen; denn - auch dies ist eine Erfahrung - das Böse kommt in der Regel nicht bewußt und gewollt in die Welt, sondern es ist häufig die Verzerrung eines ursprünglichen Ideals, eines guten Willens. Es ist für mich eine besondere Tragik, zu erkennen, daß das Schlimmste, was in der Weltgeschichte angerichtet worden ist, meistens von Menschen angerichtet worden ist, die sich ein System ausgedacht hatten, mit dem sie glaubten, menschliche Gesellschaft, so wie sie sie verstanden haben, für die Menschen richtig und glückhaft organisieren zu können. Ich glaube, die Konsequenz daraus ist, sich weniger ein abstraktes Bild vom Menschen zu machen, als die konkreten Menschen vielmehr so zu akzeptieren, wie sie sind. Ich glaube, daß eine zweite Konsequenz daraus folgt - das sei der letzte Gedanke -: Die französische Revolution hat die drei großen Ideale Freiheit, Gleichheit - man könnte auch sagen: Demokratie - und Brüderlichkeit - man könnte auch sagen: Solidarität - formuliert. Vieles an Vereinseitigung in der Geschichte liegt meines Erachtens daran, daß immer wieder versucht worden ist, von diesen dreien, die nur gemeinsam verwirklicht werden können, das eine auf Kosten des anderen zu erreichen, also möglichst viel Gleichheit zu erreichen und dabei die Freiheit der Menschen absolut mit Füßen zu treten. Aber auch in der anderen Richtung gibt es Vereinseitigungen. Gegenwärtig habe ich mehr Angst vor der anderen Vereinseitigung als vor dieser. Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns versuchen, bei all den Entscheidungen, die vor uns und vor Ihnen, die Sie hier im Parlament weiter wirken werden, liegen, diese Trias, die Gemeinsamkeit dieser drei Ideale zu begreifen und immer die Balance zwischen Freiheit, Demokratie und Solidarität, die Integration dieser drei zum Maßstab zu nehmen. Jeder Versuch der Vereinseitigung in dieser Trias ist meines Erachtens der Anfang von Unterdrückung und von Systemen, die sich gegen die Menschen kehren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich danke insbesondere Ihnen, Frau Präsidentin, dafür, daß Sie mit der Redezeit großzügig waren. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich danke auch Ihnen, Herr Häfner. - Ich rufe jetzt den Kollegen Reinhold Hiller auf.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die meisten meiner Voredner haben eine Biographie aus der damaligen DDR. Insofern trifft der Vorwurf nicht, daß dieser Aspekt bei der Arbeit der Enquete-Kommission, aber auch in der heutigen Debatte nicht berücksichtigt worden ist. Ich komme aus Westdeutschland. Ich bin in Lübeck geboren und hatte die Grenze nach Ostdeutschland seit meiner Geburt ständig vor Augen. Ich muß sagen, daß mir diese Grenze immer etwas Irrationales, etwas Unerklärliches gewesen ist. Nun mache ich einen Sprung - dies ist in der Debatte bisher nicht erwähnt worden -: Seit 1983 gehöre ich dem Deutschen Bundestag an. Wie es sich für jemanden, der aus der größten deutschen Stadt an der Grenze kommt, gehört, habe ich versucht, meine Arbeit im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu gestalten. Dieser Ausschuß hat sich im wesentlichen damit beschäftigt, die Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik unter verschiedenen Gesichtspunkten zu verbessern. Ich sage dies bewußt so, weil die Situation in der DDR in der westdeutschen Erinnerung völlig zu verblassen drohte. Aus Umfragen an Schulen weiß man, daß viele Menschen in der Bundesrepublik nicht wußten, wo die bedeutenden Städte in der DDR gelegen haben. Diesbezüglich gab es immense kulturelle und geographische Aufgaben in der Bundesrepublik. Es gab auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sich so viele Menschen wie möglich aus Ost und West begegnen konnten. Ich will noch etwas anführen, das heute in Vergessenheit geraten ist: Es gab Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland, die sich vor der Hochrüstung auf beiden Seiten fürchteten. Es gab viele Demonstrationen in der Bundesrepublik; es gab die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen" in der DDR. Ich meine, daß damals durchaus eine gemeinsame Gemütslage und eine gemeinsame politische Zielsetzung vorhanden war. Das war die starke Angst der Menschen vor der Überrüstung in Ost und West. ({0}) Ich erwähne dies deshalb, damit die Motivation eines Politikers im Westen nachvollzogen werden kann. Wir haben an jedem 17. Juni im Deutschen Bundestag - nicht in diesem Hause, sondern im alten Plenarsaal dort drüben - meistens sehr unkonventionelle Reden zur Deutschlandpolitik gehört, die häufig eine Diskussion über die Fraktionsgrenzen hinweg ausgelöst haben. Wir haben im Deutschen Bundestag sehr häufig zu existentiellen Fragen der Deutschlandpolitik gemeinsame Resolutionen parteiübergreifend verabschiedet. Daran möchte ich erinnern, weil dies mit zu dem Erleben der deutschen Teilung bis zur Wiedervereinigung gehört. Nicht zur Eskalation, sondern zu Sicherheit und Abrüstung sowie zur Begegnung in Europa gab es einen politischen Konsens in diesem Hause. Das möchte ich hier feststellen. ({1}) Genauso wie die Politik Konrad Adenauers, die die Westintegration ermöglichte, dürfen wir die Denkschrift der EKD, den deutsch-polnischen Vertrag und den Kniefall von Willy Brandt nicht vergessen. Auch das gehört mit in diese Debatte. ({2}) Genausowenig dürfen wir den Besuch von Erich Honecker vergessen. Ich meine das jetzt selbstkritisch: Die Liste derjenigen aus allen Fraktionen, die ihn gern treffen wollten, war immens lang. Auch das muß man hier selbstkritisch mit anfügen. ({3}) Es kommt noch etwas hinzu - dazu gibt es im Minderheitenbericht der SPD-Fraktionsmitglieder einen Hinweis -: Auch in der Bundesrepublik hat es in den 50er Jahren politisches Strafrecht gegeben. Vielen eifrigen Behördenmitarbeitern reichten das Tragen von roten Nelken zum 1. Mai, die Durchführung von Ferienlagern in der DDR und der Bezug von Publikationen aus der DDR schon aus, um Ermittlungsverfahren und Strafverfahren einzuleiten. Das gab es. Ich meine, auch in diesem Punkt ist Selbstkritik angebracht. Man sollte nicht nur immer die jeweils andere Seite in den Blick nehmen. ({4}) Denn Sie, Herr Eppelmann, haben richtig gesagt: Nur wenn man sich an die eigenen Fehler erinnert, wird man auch in dieser Hinsicht stark sein und den demokratischen Rechtsstaat, den wir alle wollen, festigen. ({5}) Deshalb haben wir dies in den Bericht mit hineingeschrieben. Reinhold Hiller ({6}) Wir haben auch etwas zum „Sozialdemokratismus" hineingenommen. ({7}) Ich glaube, Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sollten es vermeiden, auch heute noch wie schon 1949 Plakate zu kleben, die die deutsche Sozialdemokratie diffamieren. ({8}) Sie wissen ganz genau, daß die Sozialdemokratische Partei über eine genügend große demokratische Substanz verfügte und verfügt, so daß sie zwei Diktaturen widerstehen konnte. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Von Karl Valentin stammt der Satz: Es ist alles gesagt, nur noch nicht von allen. In diesem Sinne möchte ich mich bemühen - und das, ohne daß ich das, was vorhin schon gesagt wurde, an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen -, in gewisser Weise noch einmal unsere Kommissionsarbeit der letzten vier Jahre zusammenzufassen. Es ist sicher gut, wenn wir am Ende der Arbeit dieser Enquete-Kommission des Bundestages feststellen, daß wir uns in den demokratischen Fraktionen des Bundestages in weiten Teilen hinsichtlich der Bewertung der SED-Diktatur, aber auch hinsichtlich des Prozesses hin zur deutschen Vereinigung einig gewesen sind. Verschiedene Redner haben schon ausgeführt, was sie dazu bewogen hat, in dieser Enquete-Kommission mitzuarbeiten. Mich hat folgendes bewogen: Man hat einer ganzen Generation in Deutschland den Vorwurf gemacht, den demokratischen Neuanfang nach 1945 nicht zu einer radikalen, tiefgehenden und weitreichenden Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in den Jahren 1933 bis 1945 genutzt zu haben. Als jemand, der 1959 in Westdeutschland geboren ist, habe ich als Abgeordneter dieses Parlamentes bei der Mitarbeit in dieser Enquete-Kommission meine Rolle darin gesehen, einer jungen Generation, die die SED-Diktatur und den Prozeß der deutschen Einheit aus der Rückschau betrachten wird, deutlich zu machen, daß es über zwei Legislaturperioden eine Kommission im Bundestag gegeben hat, die sich in großer Verantwortung und mit viel Mühe und Arbeit diesem Aufarbeitungsprozeß gestellt hat. ({0}) Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir als Bundestag nicht ein Monopol für diese Aufarbeitung für uns in Anspruch nehmen. Selbstverständlich kann die Aufarbeitung nicht mit der Übergabe dieses Abschlußberichtes abgeschlossen sein. Wir sind uns einig gewesen, daß dieser Aufarbeitungsprozeß fortgesetzt werden muß. Das reicht von den Formulierungen zur Gedenkstättenkonzeption - ich möchte mich bei Ihnen, Herr Vergin, bedanken, daß wir das einvernehmlich beschließen konnten - bis hin zu dem Einvernehmen, daß die Aufarbeitung in einer Stiftung fortgesetzt werden muß. Mit der Zustimmung aller demokratischen Fraktionen dieses Hauses haben wir deshalb ein entsprechendes Stiftungsgesetz verabschiedet. Ich möchte mich beim Kollegen Häfner bedanken, dem es gelungen ist, in der schwierigen Frage eines Teilsitzes dieser Stiftung im Haus der Demokratie in Berlin einen Konsens mit allen notwendigen Organisationen zu erreichen. Aber es ist auch gut und richtig, daß dieser Bericht deutlich macht, wo wir uns gestritten haben, wo wir nicht einig sind. Deshalb möchte ich namens meiner Fraktion das Sondervotum der SPD zum Prozeß der wirtschaftlichen und sozialen Transformation zurückweisen. Liebe Kollegen von der SPD, Sie tun dort so - Gerd Poppe hat dies vorhin auf den Punkt gebracht -, als lägen die Verantwortlichkeiten für das, was bis heute im Prozeß der wirtschaftlichen und sozialen Aufarbeitung noch nicht erreicht worden ist, eher bei dieser Bundesregierung als bei denjenigen, die diese Erblast verschuldet haben. Das ist nicht gut. Es ist auch deshalb nicht gut, weil Sie den Blick dafür verstellen, was alles erreicht worden ist. ({1}) In einer beeindruckenden Solidarleistung der Deutschen sind die Veränderungen, die auf die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern zugekommen sind, in Gang gebracht worden. Ein Wort zur PDS: Wir haben jemanden wie Herrn Schürer in diese Enquete-Kommission eingeladen und gehört. Er hat uns eindrucksvoll belegt, daß die Außenverschuldung der DDR 1989 eine nicht mehr beherrschbare Höhe angenommen hatte und schon deren bloßes Anhalten zu einer Verringerung des Lebensstandards um 30 Prozent geführt hätte. Es war Herr Schürer, der ehemalige Vorsitzende der Plankommission der DDR, der in dieser Enquete-Kommission gesagt hat: Die Marktwirtschaft hat sich geschichtlich in ihrer Innovationskraft der von uns praktizierten Art der zentralen Planwirtschaft als überlegen erwiesen. Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen zu dem Disput, wie wir mit der PDS umgehen. Ich habe in vielen Diskussionen in der CDU/CSU-Fraktion den schmerzlichen Prozeß des Umgangs mit der Geschichte bei denjenigen erlebt, die in der ehemaligen DDR als Teil der Blockparteien Mitglied der CDU waren oder gar Verantwortung getragen haben. Das ist ein schmerzhafter Prozeß, dem sich die Union gestellt hat. Sie müssen nur einmal nachlesen, was Leute wie Arnold Vaatz und andere in dem Prozeß des Umgangs mit dieser Vergangenheit bewirkt haben. ({2}) Das muß ich Ihnen jetzt einmal sagen: Sie müssen schon auseinanderhalten können - und auch aushalten können -, daß es ein Unterschied ist, ob jemand in einer Partei, die zu den Blockparteien gehört hat, nur Mitglied gewesen ist oder aber auch Verantwortung getragen hat. Bei einem demokratischen Neuanfang - die Wiedervereinigung war sicherlich ein solcher; auch Ihre Partei ist da nicht frei von beeindruckenden Beispielen - müssen Sie jedem das Recht auf einen demokratischen Neuanfang zubilligen. Es gibt das Recht auf politischen Irrtum. Dem, der keine individuelle Schuld auf sich geladen hat und sagt „Das System war falsch", müssen Sie dieses Recht zugestehen. ({3}) Ich finde es etwas traurig, daß Sie hier so tun, als gäbe es diese Diskussion in Ihrer Partei nicht. Viele von Ihnen haben die PDS in ihren heutigen Debattenbeiträgen richtig als das charakterisiert, was sie ist: Sie ist die Fortsetzungspartei der SED, mit all ihren Tricksereien und Schiebereien, die der 2. Untersuchungsausschuß in seinem Abschlußbericht über die Verschiebung von Vermögenswerten festgestellt hat. Sie ist die Partei der Trickser, Täuscher und Lügner. Es ist wirklich. ein Unterschied, ob ein Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Bauernpartei in der ehemaligen DDR angehört hat oder ob Sie in Magdeburg mit einer Partei, die keinen Anspruch darauf hat, in den demokratischen Verfassungsbogen einbezogen zu werden, eine stille Koalition eingehen. ({4}) Sie sind übrigens auch den Mitgliedern Ihrer Partei, die das nicht mittragen, eine Auseinandersetzung darüber schuldig. Lieber Herr von Larcher, der Historiker Heinrich August Winkler, Mitglied Ihrer Partei, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, hat dazu Bemerkenswertes geschrieben. Tun Sie nicht so, als sei das nur eine Wahlkampfauseinandersetzung. Hochangesehene Mitglieder Ihrer Partei setzen sich mit Magdeburg auseinander. Der frühere Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Herr Kissel, hat Ihre Partei nach 42 Jahren Mitgliedschaft wegen Magdeburg verlassen. Sie sollten daher nicht so tun, als gehörte dies nicht in eine Debatte über einen Abschlußbericht einer Enquete-Kommission, in der wir uns um des antitotalitären Konsenses in Deutschland willen einig werden und in der wir darüber streiten müssen, wie wir in Deutschland, in der Demokratie, mit einer Partei umgehen, die sich nicht selbstkritisch von der Staatspartei getrennt hat, die - das haben wir einvernehmlich formuliert - für die Diktatur, für dieses große Unrecht und das Leiden der Menschen in der ehemaligen DDR verantwortlich war. Der Versuch, die zu verabscheuende Partei DVU in Magdeburg mit Hilfe der PDS zu bekämpfen, heißt, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Das kann nie gelingen. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Der Kollege Professor Heuer hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Der liebe Kollege Koschyk hat eben gesagt, die PDS sei eine Partei der Täuscher, Trickser und Lügner. ({0}) Er sagt es einfach so dahin; er macht auch nicht den Ansatz einer Begründung. Das ist einfach nur parlamentarische Beschimpfung. Das kann man nicht ernst nehmen. Er hat außerdem gesagt, daß wir uns mit unserer Vergangenheit nicht kritisch auseinandersetzten. Das ist einfach unwahr. Wenn Sie lesen, was meine Kollegen und ich schreiben, und hören, was wir hier sagen, erkennen Sie, daß das einfach nicht richtig ist. Meinen Sie, daß ernsthafte Menschen nach einem solchen Zusammenbruch nicht über seine Ursachen nachdenken? Das ist doch absurd. Natürlich denken wir darüber nach, warum das System gescheitert ist. Natürlich setzen wir uns mit den Ursachen dafür auseinander. Es gibt keine einzige Partei, die so viel über ihre Vergangenheit und Geschichte nachdenkt wie unsere - mit Grund; das ist wahr. Aber wir tun es auch. Was Sie uns in Wahrheit vorwerfen, ist, daß wir diese Vergangenheit nicht in Bausch und Bogen verwerfen. Es ist wahr: Das tun wir nicht. Wir halten am Ideal des Sozialismus fest und sind der Meinung, daß wir ein Recht dazu haben.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Koschyk, möchten Sie etwas erwidern? - Nein. Herr Kollege Braune, ich gebe Ihnen das Wort.

Tilo Braune (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002635, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Koschyk, Sie wissen, daß ich Sie sehr schätze. ({0}) Ihrer Bemerkung vom Recht auf politischen Neuanfang kann man sehr gut folgen. Ich glaube aber, dies sollten Sie jedem einräumen, auch wenn er in einer Partei ist, deren Position auch ich nur sehr begrenzt oder überhaupt nicht teile. Eine Bemerkung zur Motivation, die mich bewogen hat, in der Enquete-Kommission mitzuarbeiten, deren holprigen Namen ich selten benutzt habe. Ich habe sie viel lieber „Enquete-Kommission deutsche Einheit" genannt. Nach der verdienstvollen Arbeit der Enquete-Kommission in der vergangenen Legislaturperiode ist es in dieser Enquete-Kommission entscheidend gewesen - das war meine Motivation -, aus der Beschreibung der Geschichte der Ausgangslage der zugrunde gegangenen DDR 1989 plus der Beschreibung der Fehler, die im TransformationsTilo Braune prozeß gemacht worden sind, Folgerungen für politische Handlungsansätze der Zukunft abzuleiten. Wir sind keine Historiker, sondern politisch tätige Menschen. Es geht darum, Lehren aus dem Zusammenbruch eines politischen Systems, Lehren aus einem Transformationsprozeß zu ziehen, der - teils durch die historischen Umstände, teils aber auch durch politische Determination derer bedingt, die es mitzubestimmen hatten - zumindest zum Teil nicht effektiv gelaufen ist. Dies zu verbessern und hieraus Lehren für künftiges politisches Handeln zu ziehen, ist für mich das Entscheidende gewesen. In dieser Enquete-Kommission haben viele kluge Menschen gearbeitet. Das Ergebnis, das wir vorgelegt haben, ist beachtlich, bleibt für mich allerdings hinter den Erwartungen zurück. Die Ursache, die ich sehe, ist, daß das Ziel, einen Beitrag zur Gestaltung der deutschen Einheit zu leisten, zumindest in den letzten anderthalb bis zwei Jahren aus naheliegendem Grund parteipolitisch instrumentalisiert wurde und damit nur partiell erreicht werden konnte. Die CDU/CSU ist nicht der Verlockung entgegengetreten, die aktuellen Schwierigkeiten, die wir im Einigungsprozeß haben, nahezu ausnahmslos auf die Zeiten der SED-Diktatur zurückzuführen. Die Position und das retrospektive Argumentieren von Frau Lengsfeld zu Beginn der Debatte zeigen das sehr deutlich. Die PDS dagegen schiebt in allzu selbstgerechter Verdrängung eigener schuldhafter Anteile an DDR-Geschichte alle heutigen Probleme häufig nur auf die Nachwendepolitik der Koalition. Beides hält kritischer und konstruktiver Prüfung nicht stand. Dies ist für uns auch die Motivation gewesen, an verschiedenen Stellen des Abschlußberichtes mit eigenen Sondervoten zu agieren. Der Einigungsprozeß hatte nicht nur unter erheblichen Geburtsfehlern zu leiden, die noch heute negativ wirken, sondern in ihm findet sich eine Abfolge von Fehlern, die es politisch auszugleichen gilt. Die historische Chance zur Schaffung eines neuen geeinten Deutschlands, einer Berliner Republik im besten Sinne, wurde schon in verschiedenen historischen Schritten vertan, zumindest in Frage gestellt. Dies beginnt damit, daß man den Prozeß der deutschen Einheit nicht als wirkliche Einigung zweier unterschiedlicher Teile vollzogen hat, sondern als Beitritt. Der Satz, der von der PDS immer wieder bemüht wird, nämlich „Die Sieger der Geschichte schlucken die Verlierer der Geschichte", beschreibt eine ganz schwierige Situation, die wir umgangen hätten, wenn wir eine wirkliche Einigung vollzogen hätten. ({1}) Bei Sicht auf die politischen Systeme mag dieser Eindruck nicht falsch sein, bei Sicht auf die handelnden Menschen jedoch ist es mit Sicherheit falsch, daß dies so gemacht wurde. Die Wende in der DDR hat nicht die Bundesrepublik ({2}) vollzogen, sondern die haben die Bürgerrechtler - also wir - in der DDR selbst vollzogen. ({3}) Die Rückgewinnung des aufrechten Ganges, ein emanzipatorischer Prozeß einer Gesellschaft, wurde nach meiner Wahrnehmung in der Wendezeit kurzsichtigen und wahltaktischen Erwägungen des Kanzlers und der CDU geopfert. Mit der Fiktion von den blühenden Landschaften wurden naive Hoffnungen auf ein schnelles Erreichen westlichen Wohlstands genährt. ({4}) Daß dies nicht objektiv eintreten konnte, hat jeder gewußt, der ein wenig politisch gedacht hat. Das hat auch Kanzler Kohl gewußt. Dieser emanzipatorische Prozeß, von dem ich sprach, wurde damit letztlich unterbrochen. Vielleicht war er auch manchem konservativen Politiker nicht ganz geheuer. Die Folgen sehen wir jetzt. Vieles, was erreicht worden ist, wird folgerichtig von manchem durch eine negative Brille gesehen. Das gute Gefühl, gemeinsam etwas Neues zu schaffen, ist dem Eindruck, vereinnahmt worden zu sein, allzuoft gewichen. Ich glaube, wir haben eine historische Chance vertan. Diese Schilderung, die ich Ihnen jetzt aus grundsätzlichen Erwägungen vorgetragen habe, gilt auch für verschiedene Arbeitsbereiche, die wir in der Enquete-Kommission gebildet haben. Ich habe mich im wissenschaftlichen Bereich engagiert, weil ich denke, hier haben wir Erhebliches nachzuholen. Ich glaube, ganz entscheidend ist für dieses Feld und auch für viele andere politische Felder eine Debatte über gesellschaftliche Werte in dieser neuen Republik. Wenn wir diese Debatte konstruktiv führen, wenn wir konstruktiv weitermachen an dem Punkt, wo wir heute zunächst eine Zäsur setzen, dann haben wir die reale Chance, die Folgen von 40 Jahren DDR und die Folgen einer Kette von Fehlleistungen im Transformationsprozeß zu beseitigen und zu guter Letzt doch noch zu einem Erfolg in der deutschen Einheit zu kommen. Dies jedoch, meine Damen, meine Herren, wird wohl ab September einer SPD-geführten Regierung vorbehalten sein. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/10974. Wer diesem Entschließungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Entschließungsantrag mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Dann rufe ich den Zusatzpunkt 1 auf: Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" - Drucksache 13/10978 Es liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/10978 vor. Ich bitte diejenigen, die diesem interfraktionellen Wahlvorschlag zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Wahlvorschlag mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Damit sind die Mitglieder des Stiftungsrates nach § 6 Abs. 1 des Gesetzes über die Errichtung der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" gewählt. Es wird gebeten, formell darüber abzustimmen, daß der Schlußbericht der Enquete-Kommission zur kenntnis genommen wird. Ich habe das deswegen nicht formell zur Abstimmung gestellt, weil ich mir gesagt habe: Wenn wir über den Bericht diskutieren, müssen wir ihn notgedrungen zur Kenntnis genommen haben. Aber ich bin ganz einverstanden. Es wird Kenntnisnahme des Berichtes gewünscht. ({0}) Wer den Bericht zur Kenntnis nimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann ist das einstimmig geschehen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis j sowie die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf: 3. Menschenrechtsdebatte a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Umsetzung des Schlußdokuments der 2. Menschenrechtsweltkonferenz „Wiener Erklärung und Aktionsprogramm" vom Juni 1993 - Drucksachen 13/8254, 13/9595 - b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel, Rudolf Bindig, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel, Brigitte Adler, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beschneidung von Mädchen und Frauen - Menschenrechtsverletzungen in Entwicklungsländern und Industrieländern - zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Amke Dietert-Scheuer, Dr. Angelika KösterLoßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genitialverstümmelungen ächten, Mädchen und Frauen schützen - Drucksachen 13/6937, 13/8281, 13/9401, 13/9335, 13/10682 Berichterstattung: Abgeordnete Ilse Falk Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Heidemarie Lüth Irmingard Schewe-Gerigk Hanna Wolf ({2}) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung 4. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen - Drucksachen 13/8861, 13/10688 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Krautscheid Volker Neumann ({4}) Dr. Irmgard Schwaetzer d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({5}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen - Drucksachen 13/6400, 13/9056 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Krautscheid Volker Neumann ({6}) Ulrich Irmer e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Unterstützung der weltweiten Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe - Drucksachen 13/6060, 13/9055 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Krautscheid Volker Neumann ({8}) Dr. Irmgard Schwaetzer f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Waltraud Schoppe, Rita Grießhaber, Gila Altmann ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchsetzung des Fakultativprotokolls zum „Übereinkommen zur Beseitigung jeVizepräsident Dr. Burkhard Hirsch der Form der Diskriminierung der Frau" ({10}) - Drucksache 13/10068 g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt ({12}), Dr. Edith Niehuis, Verena Wohlleben, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frauenrechte weltweit stärken - Reform des auswärtigen Dienstes - Drucksachen 13/3151, 13/7210 Berichterstattung: Abgeordnete Rita Grießhaber Rosel Neuhäuser Ortrun Schätzle Ulla Schmidt ({13}) h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({14}) zu dem Antrag der Gruppe der PDS Amt eines/einer Menschenrechtsbeauftragten des Deutschen Bundestages und Einrichtung eines beratenden Gremiums „Rat für Menschenrechte" - Drucksachen 13/4749, 13/7547 - Berichterstattung: Abgeordneter Dieter Wiefelspütz i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Adler, Doris Barnett, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Umsetzung der Aktionsplattform von Peking - Frauenpolitik der Vereinten Nationen stärken - Drucksachen 13/7070, 13/10061 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Erika Schuchardt Dr. Elke Leonhard Waltraud Schoppe Dr. Irmgard Schwaetzer j) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Errichtung eines Menschenrechtsinstituts - Drucksache 13/10882 ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Einrichtung eines Deutschen Koordinierungsrats für Menschenrechte - Drucksache 13/10975 ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Verstärkung deutscher Beiträge zur Konfliktverhütung und Friedenserhaltung in Afrika - Drucksache 13/10980 - ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Freilassung aller politischen Häftlinge und Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Nigeria - Drucksache 13/10979 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil.

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich befinden wir uns nicht am Anfang der Menschenrechtsdebatte, sondern mittendrin; den ersten Teil haben wir soeben hinter uns, und ich würde das Fazit ziehen: Demokratie und Menschenrechte gehören zusammen. ({0}) Wenn wir jetzt Menschenrechte und Menschenwürde erneut aufgreifen, dann deshalb, weil es sich nicht nur um eine der wichtigsten geistes- und verfassungsgeschichtlichen Traditionen Europas handelt, sondern weil dadurch, daß die Vereinten Nationen nach den beiden Weltkriegen den Schutz der Menschenrechte zu einem ihrer vier Hauptziele erklärt und am 10. Dezember 1948 eine 30 Artikel umfassende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erlassen haben, diese Tradition Weltstandard erhalten hat. 50 Jahre später, an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend, stellen sich hier Fragen von beiden Seiten, von jener der europäischen Tradition und von jener der universellen Geltung. Die ideengeschichtliche Entwicklung der Menschenrechte in Europa beginnt mit den Sophisten im griechischen Altertum, die bereits eine individualisierte Sicht von Freiheit und Gleichheit aller Menschen betonten und wie Hippias naturrechtliche Ideen vertraten. Die römische Antike verstärkte mit der Stoa von Cicero bis Seneca die Idee der metaphysischen Würde des Menschen und seiner individuellen Selbstbestimmung bis hin zu einer kosmopolitischen Vision. Die christliche Phase Europas verstärkt insbesondere in der scholastischen Philosophie diesen Denkansatz mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und seiner daraus resultierenden Würde. Die Aufklärung hat schließlich diese naturrechtlichen Ideen säkularisiert, die liberale Idee der Gewissensfreiheit hinzugefügt und in die Verfassungsdebatte im Rahmen der amerikanischen Unabhängigkeit und der Französischen Revolution getragen. Schließlich hat der Kampf um die tatsächliche Realisierung der Menschenrechte - von der Sklavenfrage in den Vereinigten Staaten bis zur sozialen Frage in Europa - die Umsetzung in konkrete Politik als stete Aufgabe erkennen lassen. Um diese Tradition wissen heißt aber zugleich, einen nicht zu vereinbarenden Gegensatz zu kennen: vom Widerstand gegen die Tyrannis in der Spätantike über die Virginia Bill of Rights als Kampfmittel gegen die englische Kolonialherrschaft zur Erklärung von 1789 als Protest gegen den französischen Absolutismus. Die Idee der Staatsallmacht ist mit der Menschenrechtsidee unvereinbar, nicht nur in ihrer totalitären Spielart, sondern auch in der Form eines Rechtspositivismus, der Menschenrechtsverletzungen dann zulassen würde, wenn sie nur mehrheitlich beschlossen würden. Hier greift die wichtigste im Grundgesetz verankerte Einsicht, nämlich daß der Gesetzgeber keine Gesetze beschließen darf, die ein Grundrecht verletzen. Ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte kann zum Widerstand des Bürgers gegen den eigenen Staat berechtigen. Es gibt neben der Unvereinbarkeit von Staatsallgewalt und Menschenrechten noch eine zweite Unvereinbarkeit, nämlich mit der absoluten staatlichen Souveränitätslehre, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten. Das Interventionsrecht fremder Staaten bei Verletzung von Menschenrechten hat bereits der spanische Theologe Vitoria im 16. Jahrhundert postuliert. Die konsequente Weiterentwicklung dieses internationalen Widerstandsrechts wird das beherrschende Thema des nächsten Jahrhunderts beim Zusammenwachsen der Welt sein. Gerade weil in Deutschland Nationalismus, Positivismus, Totalitarismus und Menschenrechtsverletzungen schrecklichster Art durchlebt und durchlitten wurden, müssen wir uns der Gegensatzpaare ideengeschichtlicher Entwicklungen bewußt bleiben. Ich hoffe, daß im nächsten Jahr - beim Jubiläum „50 Jahre Grundgesetz" - auch dieser Aspekt gebührend deutlich werden wird. Die Kehrseite der Medaille der Diskussion um Menschenrechte ist die Frage der Universalität. Fraglos hat zwar die ideengeschichtliche Entwicklung Europas nicht nur über die Vereinten Nationen, sondern auch über die Verfassungsgeschichte aller Länder dieser Welt universelle Auswirkungen gehabt. Das Selbstbewußtsein staatlicher Führungseliten anderer Kulturen hat aber dazu geführt, diesen ideengeschichtlichen Siegeszug mit Skepsis zu betrachten, sozusagen als philosophischen Kolonialismus. Die Debatte um die Definition von Menschenrechten aus der Sicht der jeweils eigenen Kultur haben wir heute nicht nur in fundamentalistisch-islamischen Staaten, sondern etwa ebensosehr in China. Ich warne davor, diese Reaktionen zu leicht zu nehmen. Natürlich können Menschenwürde und Menschenrechte nicht nach Staaten und Kulturen unterschiedlich interpretiert werden. Was ich meine, ist etwas anderes: Auch in Europa ist Menschenrechtsbewußtsein sehr langsam entstanden. Während das Christentum einen entscheidenden Impuls, wie gesagt, über die Gottesebenbildlichkeit der Menschen beisteuerte, haben die Kirchen im Kampf um die Idee der Wahrheit - sei es in Religionskriegen, sei es in der Inquisition - zu schwersten Menschenrechtsverletzungen beigetragen. Trotz Jeffersons Satz über die Menschenrechte bei der Unabhängigkeitserklärung von 1776 dauerte es fast 100 Jahre, bis in den Vereinigten Staaten die Sklaverei abgeschafft werden konnte. Trotz der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 kam es im Zuge der Französischen Revolution zu den entsetzlichsten Menschenrechtsverletzungen. Die größte Schwierigkeit gab es bei der Umsetzung der sozialen Menschenrechte im 19. Jahrhundert - von den totalitären Entgleisungen unseres Jahrhunderts ganz zu schweigen. Die Durchsetzung der Menschenrechtsidee ist bei uns Ergebnis von Nachdenken und Erleben, von Versuch und Irrtum, von Spannung und Kompromiß. Genau diese Entwicklungen finden wir natürlich auch in den großen Weltkulturen. Vor einigen Wochen konnte ich an einem Seminar des Instituts für Auslandsbeziehungen „Deutsch-islamischer Mediendialog" in Jordanien teilnehmen, das in beeindruckender Weise Spiegelbilder unserer eigenen Entwicklung in der islamischen Geschichte zeigte. Unsere stereotype Vorstellung des fundamantalistischen, unbeweglichen Islams ist falsch. ({1}) Auch hier gibt es ideengeschichtliche Stränge, die zu Toleranz, Menschenwürde und Menschenrechten führen bis hin zu Männern und Frauen, die dafür gestorben sind. Ich glaube, daß der Kulturdialog unerläßlich ist, wenn Menschenrechtspostulate und ihre Umsetzungen weltweit verinnerlicht werden sollen. ({2}) Das müssen wir mit bedenken, wenn wir heute früh lesen konnten, daß Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen in 141 Staaten der Welt berichtet, wenn wir heute über 14 Vorlagen mit 24 Drucksachen debattieren, wenn wir uns bemühen, uns Gedanken über Reaktionen von der Konfliktschlichtungshilfe über Interventionen bis hin zur internationalen Menschenrechtsgerichtsbarkeit, einer der wichtigsten Durchsetzungsmethoden, zu machen. Mir war es nur ein Anliegen, auch diesen Aspekt in unsere Diskussion einzubringen. Er hat Konsequenzen für die deutsche auswärtige Kulturpolitik und die Arbeit ihrer Mittlerorganisationen. Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anschließen. Wir werden in dieser Woche noch eine entwicklungspolitische Diskussion bestreiten - wenn auch zu spätnächtlicher Stunde. Ich habe in der ideengeschichtlichen Darstellung der Entwicklung der Menschenrechte die Schwierigkeit aufgezeigt, von der Deklaration zur Realisierung zu gelangen, insbesondere im sozialen Bereich. DieAlois Graf von Waldburg-Zeil selbe Frage stellt sich heute auf Weltebene. Wenn wir die Idee von Menschenwürde und Menschenrechten von unserer Verfassung her als akzeptierte Wertgrundlage ansehen, dann kann der Versuch, diese Rechte universell durchzusetzen, natürlich nicht bei der Deklaration enden und die soziale Frage auf Weltebene ausklammern. ({3}) Natürlich hat Entwicklungspolitik auch Komponenten eigenstaatlichen Interesses, die man der Akzeptanz halber im eigenen Land nicht unter den Teppich kehren sollte. Die Grundlage aber ist eine Auffassung von der Würde des Menschen, die nicht nur jedem Deutschen, nicht nur jedem Europäer, sondern jedem Menschen zusteht, der Menschenantlitz trägt. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Graf von Waldburg-Zeil, ich habe mir sagen lassen, daß das Ihre letzte Rede in diesem Hause zu einem wirklich einem solchen Ereignis angemessenen Thema war. Sie gehören dem Deutschen Bundestag seit 1980 an, also seit 18 Jahren. Sie haben sich außerordentliche Verdienste im Bereich von Bildung und Wissenschaft, aber auch im Zusammenhang mit dem Menschenrechtsthema erworben. Wir haben Ihre ruhige Art vorzutragen immer sehr genossen. Ich möchte Ihnen den Dank des Hauses für Ihre Arbeit aussprechen. ({0}) Ich gebe dem Abgeordneten Rudolf Bindig das Wort.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schwerwiegende Menschenrechtsprobleme in vielen Ländern der Welt und einige herausragende Jahrestage sind Anlaß genug, eine der letzten inhaltlichen Debatten des Bundestages in dieser Legislaturperiode dem Thema Menschenrechte zu widmen. Die Debatte ist ein Beitrag des deutschen Parlaments zum 50. Jahr der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sie findet auf den Tag genau 45 Jahre nach dem 17. Juni 1953 statt, dem Tag, an dem die Menschen in Ostdeutschland für ihre politischen und bürgerlichen, aber insbesondere auch für ihre sozialen Menschenrechte auf die Straße gegangen sind, und fünf Jahre nach der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz, auf der ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Menschenrechte verabschiedet worden ist - alles wichtige Ereignisse auf dem Weg zur Durchsetzung der Menschenrechte. Der Rückblick zeigt, daß eine Reihe erheblicher Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte erreicht worden ist. - Der Kollege Volker Neumann wird dies näher ausführen. - Ein Blick auf die reale Situation macht allerdings sofort deutlich, was und wieviel noch zu tun ist, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Heute morgen hat Amnesty International unter dem Titel „Proklamiert - nicht realisiert" seinen Jahresbericht 1998 vorgelegt und aufgezählt, in wie vielen Staaten es zu extralegalen Hinrichtungen, „Verschwindenlassen", Folter und Mißhandlungen, unfairen Gerichtsverhandlungen, Gefangennahmen gewaltlos politisch Agierender, Haft ohne Anklage, Freiheitsentzug in Arbeitslagern, Vollstreckung und Verhängung der Todesstrafe, Geiselnahmen, Folter und Morden an Zivilisten durch bewaffnete politische Gruppen gekommen ist. Als Tendenzen hinter diesen Zahlen wird aufgezeigt, daß die Anzahl der politisch Gefangenen leicht und kontinuierlich zurückgehe, dagegen politische Morde und „Verschwindenlassen" zunähmen und Folter unverändert häufig angewendet werde. Wahrlich, Zeit zu handeln. Aufgabe der Politik ist es, die Mißstände nicht nur zu beschreiben und zur Kenntnis zu nehmen, sondern immer wieder aufs neue Anläufe zu unternehmen, die Lage zu verbessern, wobei Bemühungen zur Durchsetzung der Menschenrechte immer auch ein Bemühen zur Verbesserung der Welt sind. Es sollte uns schon zu denken geben, daß in Deutschland das Wort „Weltverbesserer" eher einen utopistisch-idealistischen und ironisch-negativen Beigeschmack hat und fast wie ein Schimpfwort gebraucht wird. Eigentlich sollte es eine Ehrenbezeichnung sein. ({0}) Zur Bestandsaufnahme der Lage der Menschenrechte gehört neben der Darstellung des Ausmaßes der Verletzung der zivilen und politischen Menschenrechte auch eine Darstellung der Defizite bei der Umsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Hier geht es darum, wie viele Menschen in Armut leben, wie viele ihre elementaren Grundbedürfnisse an Essen, Trinken, Wohnung und Bildung nicht befriedigen können. Es geht um Arbeitslosigkeit, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, Sklavenarbeit und Kinderarbeit. Eine stärkere Einbeziehung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte in die Debatte zur Menschenrechtspolitik, auch hier im Bundestag, ist dringend geboten. ({1}) Zwar wird verbal immer wieder betont, daß alle Menschenrechtsbereiche gleichberechtigt seien, tatsächlich liegt in der praktizierten Menschenrechtspolitik jedoch ein eindeutiges Schwergewicht auf den bürgerlichen und politischen Menschenrechten. So wichtig es ist, daß Individuen „frei von Angst" leben können, so gehört zur Verwirklichung der Menschenrechte doch auch, daß sie „frei von Not" leben können. Auch in Deutschland ist es bisher kaum üblich, Defizite im sozialen und wirtschaftlichen Bereich als nicht realisierte Menschenrechte anzusehen und zu diskutieren. Bei der Durchsetzung von Menschenrechten denkt man mehr ans Ausland und reduziert das Thema auf die Durchsetzung der individuellen Freiheitsrechte. Dies geschieht im BeRudolf Bindig wußtsein, daß die letzteren im Inland durch die demokratische Grundordnung und die Rechtsordnung garantiert und umgesetzt seien. Soziale Probleme als Menschenrechtsfragen zu behandeln heißt - dies ist politisch sicherlich eher unbequem -, einzusehen und einzugestehen, daß es auch in unserem Land erhebliche Defizite bei der Durchsetzung sozialer Menschenrechte gibt. ({2}) Neben dem gleichberechtigten Einsatz für alle Menschenrechtsbereiche sollte die Menschenrechtsfrage auch stärker mit der Globalisierungsdebatte verbunden werden. Globalisierung wird uns immer wieder dargestellt als ein quasi technisch ablaufender Prozeß, dem man sich schicksalhaft anpassen müsse, wobei die Anpassung im Abbau erreichter wirtschaftlicher und sozialer Standards liegt. Globalisierung so dargestellt führt zu einer Beeinträchtigung oder Bedrohung sozialer Menschenrechte. Globalisierung kann neben den Gefahren einer rein wirtschaftlich orientierten Anpassungsglobalisierung aber auch Chancen für eine umfassendere Realisierung der Menschenrechte eröffnen. Neben einer Globalisierung der Kommunikation, einer Globalisierung der Wirtschaft und einer Globalisierung der Finanzen hat auch die Globalisierung von Ideen über gute Lebensbedingungen, gutes Leben und die menschliche Entwicklung begonnen. Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten und in den internationalen Menschenrechtsverträgen konkretisierten Menschenrechte sollten dabei als Maßstab der ethischen Fundierung der Globalisierung gelten. Das internationale Menschenrechtssystem ist der breiteste Set von Standards und vertraglichen Verpflichtungen, der existiert. Es ist ein universeller Konsens, den die Staatengemeinschaft für den Schutz von Menschen erreicht hat, auch wenn dies von einzelnen Regierungen im Interesse des eigenen Machterhalts und unter dem Vorwand kultureller Eigenheiten manchmal bestritten wird. Die Menschenrechte bilden faktisch ein globales Ethos. Politisch gilt es, mehrere Diskussionsstränge, die sich in den letzten Jahren weltweit herausgebildet haben, zusammenzuführen: Aus der ökologischen Perspektive heraus ist das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung entstanden; aus der entwicklungspolitischen, sozialen und humanitären Perspektive ist - vor allem ausgehend vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP - das Konzept des Index für die menschliche Entwicklung entstanden, und im Bereich der Wirtschaft und der Finanzen existiert seit längerem das Leitbild des freien Handels, des freien Dienstleistungs- und Finanzverkehrs. So wie auf nationaler Ebene wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte im Leitbild der ökosozialen Marktwirtschaft auf der Basis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zusammengeführt werden, müssen auch die international entstandenen Leitbilder auf eine Wertbasis gestellt werden. Diese Aufgabe können die bürgerlichen und politischen, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte übernehmen, wie sie im Weltmenschenrechtssystem entstanden sind. Ein solchermaßen integriertes Leitbild für nationale und internationale Entwicklungen kann auch der Bundesregierung die Richtung für ihre Menschenrechtspolitik weisen. Für die wertorientierte Zielsetzung bedeutet dies, daß die Bundesregierung ihr Engagement stärker als bisher auf die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte ausrichten muß. Um sich in allen Bereichen aktiv für die Menschenrechte einsetzen zu können, muß sie ihre operativen Möglichkeiten ausbauen. Konkrete politische Menschenrechtsarbeit ist eine komplizierte Aufgabe; ihr Rahmen muß organisatorisch und institutionell so gestaltet werden, daß ein vielfältiges Instrumentarium eingesetzt werden kann. Die traditionelle diplomatische Demarche oder die Teilnahme an Konferenzen und Sitzungen internationaler Gremien macht nur einen Teil dieser Arbeit aus. Daneben tritt die Notwendigkeit, beratende Dienste durchzuführen, Menschenrechtsfeldoperationen vorzunehmen, menschenrechtsorientierte Projekte zu konzipieren und zu realisieren, Präventivmaßnahmen einzuleiten und dafür geeignetes Fachpersonal zu rekrutieren. Zur Wahrnehmung all dieser Aufgaben reicht das bisher existierende Instrumentarium der deutschen Menschenrechtspolitik nicht aus. ({3}) Wir haben die Bundesregierung deshalb schon mehrmals darauf hingewiesen, daß sich in vielen Politikbereichen - von der Entwicklungspolitik über die Forschungspolitik und Sozialpolitik bis hin zur Umweltpolitik - Systeme aus Beiräten, Institutionen oder spezialisierten Durchführungsorganisationen gebildet haben. Wir haben gefordert, daß eine ähnliche Umfeld- und Vorfeldentwicklung im Bereich der Menschenrechte angestrebt werden sollte. Wenn die Bundesregierung in der Menschenrechtsarbeit wirklich einen Schwerpunkt sieht, muß sie ihre operativen Möglichkeiten verbessern. ({4}) In diesem Zusammenhang ist unser Vorschlag zu sehen, ein unabhängiges deutsches Institut für Menschenrechte nach dem Vorbild anderer europäischer Länder einzurichten. Bereits in der 12. Wahlperiode hatten wir hierzu erste Überlegungen angestellt. In der 13. Wahlperiode ist sorgfältig an der Konkretisierung der Idee gearbeitet worden. Gemeinsam haben wir eine Anhörung durchgeführt. Obwohl Konsens darüber besteht, daß die national und international gewachsene Dimension des Politikbereichs Menschenrechte sowohl eine organisatorische Stärkung als auch eine engere Vernetzung der bestehenden Strukturen erfordert, sind die Koalitionsfraktionen jetzt leider nicht bereit, den Antrag auf Errichtung eines Menschenrechtsinstituts mitzutragen. Dies ist bedauerlich. Die Koalitionsfraktionen haben nunmehr in einem eigenständigen Antrag die Schaffung eines deutRudolf Bindig schen Koordinierungsrates für Menschenrechte gefordert. Der vorgeschlagene Koordinierungsrat kann aber den Bedarf nicht abdecken und die Funktionen nicht wahrnehmen, welche das Menschenrechtsinstitut erfüllen soll. Wenn der Koordinierungsrat all die im Antrag genannten Aufgaben wahrnehmen soll, braucht er zudem eine institutionelle Grundlage, das heißt, er braucht einen kleinen Apparat und damit eine Organisationsstruktur sowie eine Finanzierungsgrundlage. Damit liegt er dann schon wieder in der Nähe des von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Menschenrechtsinstituts. ({5}) Unserer Meinung nach ist der Vorschlag der Koalitionsfraktionen nicht hinreichend durchdacht, mit ihm bleiben sie auf halbem Wege stehen. Wir laden die jetzigen Koalitionsfraktionen schon jetzt dazu ein, noch die andere Hälfte des Weges zurückzulegen und sich dann der neuen Mehrheit im Bundestag anzuschließen. ({6}) Was die Menschenrechtspolitik in der nächsten Legislaturperiode angeht, so fordert das Forum Menschenrechte eine konkrete Verpflichtung der deutschen Menschenrechtspolitik auf die Beachtung folgender Zieldefinition: Von jeder Regierung ist eine konsistente, nicht selektive, transparente, nicht instrumentalisierende, und umfassend ressortübergreifende Menschenrechtspolitik nach innen wie nach außen zu verlangen, die sich unabhängig von anderen politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder geostrategischen Erwägungen gleichermaßen intensiv für die unteilbaren und in gegenseitiger Abhängigkeit stehenden Menschenrechte einsetzt. Dies ist eine anspruchsvolle Zieldefinition. Der Deutsche Bundestag und die neue Bundesregierung werden sich anstrengen müssen, diese Forderung umzusetzen. In Anlehnung an Willy Brandt möchte ich sagen: Wir wollen uns bemühen. In dieser Debatte halten - zum Teil ist das schon geschehen - einige Kollegen, welche seit Jahren im Menschenrechtsbereich arbeiten, Staatsminister Schäfer, der Kollege Graf von Waldburg-Zeil und der Kollege Lummer, ihre letzte Bundestagsrede. Über Differenzen in Einzelfragen hinweg haben wir gemeinsam für die Durchsetzung der Menschenrechte gekämpft. Ich möchte den Kollegen Dank für ihre Arbeit und Respekt für ihr Engagement aussprechen. Ich wünsche Ihnen für Ihre private Zukunft alles Gute. Bleiben Sie weiter im Kreis der Weltverbesserer! ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Auf der Tribüne haben der Präsident der Nationalversammlung der Republik Burundi, Herr Léonce Ngendakumana, und seine Delegation Platz genommen. Ich möchte Sie im Hause herzlich begrüßen. ({0}) Sie besuchen Deutschland zu einem Zeitpunkt, da in Ihrem Land große Schritte zu einem friedlichen Zusammenleben und zur Versöhnung unternommen werden. Sie haben in der vergangenen Woche eine Übergangsverfassung in Kraft gesetzt und eine Übergangsregierung gebildet, in der sich die großen politischen Kräfte Ihres Landes die Verantwortung für die Zukunft des Landes teilen. Zu Beginn dieser Woche haben in Arusha international vermittelte Friedensgespräche begonnen, um zu einer friedlichen Zukunft des Landes zu gelangen. Der Bundestag beobachtet diese Entwicklung mit großem Interesse und Sympathie. Wir wünschen Ihnen und Ihrem Land viel Erfolg auf dem Weg zu Frieden, Verständigung und Wohlstand. In diesem Sinne möchte ich Sie noch einmal herzlich willkommen heißen. ({1}) Ich gebe das Wort der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer.

Amke Dietert-Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002640, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben es schon erwähnt: In diesem Jahr jährt sich die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum 50. Mal. Die Instrumente des internationalen und auch des regionalen Menschenrechtsschutzes wurden seitdem beständig erweitert, konkretisiert und in vielen Fällen durch Überwachungsmechanismen auch wirksamer gemacht. In dieser Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes hat auch die Bundesregierung immer eine aktive Rolle eingenommen. Hervorzuheben ist hier insbesondere das Engagement von Gerhart Baum als deutschem Vertreter bei der UN-Menschenrechtskommission. Aktuell wird die Debatte um die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes für Menschenrechte geführt. Auch in diesem Punkt - ich betone das ausdrücklich - begrüße ich die Position von Bundesaußenminister Kinkel. Er fordert - wie es auch im Unterausschuß für Menschenrechte allgemeiner Konsens ist - einen Strafgerichtshof, der politisch unabhängig ist und eigenständig Ermittlungen aufnehmen kann. Aber wenn es nicht mehr um die Verabschiedung von Konventionen, sondern um ihre konkrete Durchsetzung geht, sieht es mit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung anders aus. Im 4. Menschenrechtsbericht - wie auch in den vorangegangenen Berichten - werden zwar zahlreiche Beispiele aufgeführt, wo Menschenrechtsverletzungen gegenüber den dafür verantwortlichen Regierungen angesprochen werden - ein Konzept für eine umfassende und wirksame Menschenrechtspolitik ist aber nicht zu erkennen. Ein aktives Eintreten für die Umsetzung vorhandener Mechanismen - wir haben es zum Beispiel im Falle der Türkei immer wieder gefordert - wird von der Bundesregierung verweigert. Wir müssen immer wieder feststellen: Das Eintreten der Bundesregierung gegen Menschenrechtsverletzungen wird von politischen Verbundenheiten sowie von wirtschaftlichen und strategischen Interessen abhängig gemacht. Wenn wirtschaftliche Nachteile befürchtet werden, tritt der Einsatz für Menschenrechte zurück, egal, ob es sich um China, Nigeria oder andere Länder handelt. Gleiches gilt für den Rüstungsexport. Seit Jahren fordert Amnesty International, hier zumindest eine Menschenrechtsklausel einzuführen. Die Bundesregierung lehnt dies ab. Wenn die Wahrung von Menschenrechten nicht konsequent und unparteiisch eingefordert wird, verliert sie insgesamt an Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Darauf weist auch unser gemeinsamer Antrag zur Ächtung der Todesstrafe hin. Solange zur Todesstrafe in den USA geschwiegen wird, wird man auch eine Änderung der diesbezüglichen Politik in China oder im Iran nicht durchsetzen können. Zu einer effektiven Menschenrechtspolitik gehört auch die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. In ihrer Antwort auf unsere gemeinsame Große Anfrage erklärt die Bundesregierung, sie räume diesen Rechten eine hohe Priorität ein. Konsequenzen in der konkreten Politik sind aber nicht feststellbar. Auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien wurde das Recht auf Entwicklung als Menschenrecht anerkannt. Die Industriestaaten, auch die Bundesrepublik, waren allerdings sehr darauf bedacht, dieses Recht als Anspruch der Menschen gegen ihren eigenen Staat zu interpretieren, nicht aber als ein Recht auf Entwicklungshilfe. Sicherlich: Oft sind die Regierungen in Staaten des Südens durch Korruption und Mißwirtschaft selbst für die Verarmung ihrer Bevölkerung mit verantwortlich. Aber auch die Industriestaaten des Nordens dürfen sich von ihrer Verantwortung für die sozialen Rechte aller Menschen nicht zurückziehen. Die Selbstverpflichtung der Industriestaaten, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe bereitzustellen, wird nicht eingehalten, auch nicht von der Bundesregierung. Der Entwicklungshilfeanteil im Bundeshaushalt ist von 0,42 Prozent im Jahre 1990 auf den heutigen Tiefststand von 0,29 Prozent gesunken. Noch trauriger sieht die Bilanz bei den besonders wichtigen Projekten zur selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung aus. Auf sie entfallen nur 15 Prozent des ohnehin schon bescheidenen Entwicklungshilfebudgets. Gerade diese Ansätze wären aber besonders wichtig für die Förderung sowohl der sozialen als auch der politischen Menschenrechte. Die Menschenrechtslage im Empfängerland ist auch in unserer Politik ein Kriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe. Den größten Anteil an deutscher Entwicklungshilfe erhalten jedoch Staaten, in denen die Menschenrechte in gravierender Weise verletzt werden: Ägypten, Türkei, Indien, Indonesien und China. Man kann sich da des Eindrucks nicht erwehren, daß es eher um politische und wirtschaftliche Interessen als um den Einsatz für Menschenrechte geht. Fazit: So begrüßenswert die Bemühungen der Bundesregierung auf der Ebene der internationalen Organisationen sind, so ernüchternd ist ihr konkretes Handeln. Das gilt ebenso für die Menschenrechte von Frauen, die einen wesentlichen Teil unserer heutigen Debatte ausmachen. Der Hervorhebung der notwendigen Verbesserung der Menschenrechtssituation von Frauen in allen Politikfeldern steht die politische Praxis der Bundesregierung kraß entgegen. Im März dieses Jahres haben in New York die Verhandlungen über das Fakultativprotokoll zur UN-Konvention zur Abschaffung der Diskriminierung von Frauen stattgefunden. Die Delegation der Bundesrepublik vertrat in diesen Verhandlungen eine äußerst konservative und restriktive Haltung, auch im Vergleich zu den anderen EU-Delegationen. Sie ist offensichtlich bemüht, das Beschwerderecht bei Verstößen gegen die Konvention so eng wie möglich zu fassen. ({0}) Die Genitalverstümmelung an Frauen ist ein Thema, mit dem sich unsere Fraktion in dieser Legislaturperiode intensiv beschäftigt hat. Wir begrüßen es daher ganz besonders, daß wir uns hier auf einen interfraktionellen Antrag einigen konnten, der erhebliche Fortschritte bringt. ({1}) Darin wird Genitalverstümmelung klar als Menschenrechtsverletzung und als Verstoß gegen die gesetzlich geschützte körperliche Unversehrtheit benannt. Die Bundesregierung wird aufgefordert, Projekte zu unterstützen, die gegen die Genitalverstümmelung kämpfen, sowie Beratungs- und Hilfsangebote für betroffene Frauen bereitzustellen - sowohl in den Ländern, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, als auch für Frauen, die bei uns leben. Ein positiver Schritt ist die Aufforderung, im Asyl- und Ausländerrecht drohende Genitalverstümmelungen zu berücksichtigen und betroffenen Frauen und Mädchen Schutz zu gewähren, auch wenn wir uns hier eine präzisere rechtliche Festlegung gewünscht hätten. Immerhin ist es aber zu diesem wesentlichen Schritt gekommen. Damit komme ich zu dem Punkt, der in der Menschenrechtsbilanz der Bundesregierung weitgehend fehlt, zu der Verwirklichung der Menschenrechte in Deutschland, also in unserem Land. ({2}) Während die Bundesregierung in ihren Erklärungen der Durchsetzung der Menschenrechte von Frauen höchste Priorität einräumt, sieht es in der Praxis anders aus. Auf internationaler Ebene wird der Schutz von Frauen hochgehalten. Wenn sie aber Schutz bei uns suchen, heißt es, frauenspezifische Verfolgung sei dann keine politische oder gezielte Verfolgung, wenn alle Frauen in dem betreffenden Land diese Unterdrückung hinnehmen müßten. Die menschenverachtende Praxis in der Asylpolitik betrifft allerdings nicht nur Frauen. Es mutet geradezu zynisch an, wenn sich die Bundesregierung in ihrem 4. Menschenrechtsbericht rühmt, einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Unversehrtheit des Lebens politisch Verfolgter geleistet zu haben. Sicherlich, die Bundesregierung hat es zwar ermöglicht, daß viele Flüchtlinge aufgenommen wurden. Sie ist aber federführend daran beteiligt, die Grenzen der EU für Flüchtlinge immer unüberwindbarer zu gestalten. Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik verweigert den Schutz von Menschen vor Folter und bei Gefahr für Leib und Leben für den Fall, daß diese Gefahr nicht vom Staat ausgeht. Das betrifft, wie bereits gesagt, die geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen, aber auch andere politische Flüchtlinge bzw. Flüchtlinge vor Bürgerkriegssituationen. Wir können hier die Rechtsprechung nicht korrigieren. Dringend notwendig ist aber eine gesetzliche Klarstellung, die den umfassenden Schutz aller verfolgten und an Leib und Leben bedrohten Menschen garantiert. Abgesehen von dieser rechtlichen Fragestellung haben die Bundesregierung und die Länder keine Hemmungen, Menschen trotz drohender Folter abzuschieben. Kürzlich ist wieder bekanntgeworden, daß ein kurdischer Flüchtling nach seiner Abschiebung in die Türkei schwer gefoltert wurde. Konsequenzen werden daraus nicht gezogen. Angeblich handele es sich um einen Einzelfall. Wir haben im vergangenen Jahr eine ganze Liste solcher angeblicher Einzelfälle dokumentiert. Alle diese Informationen werden in zynischer Weise weggewischt, um Abschiebungen weiter praktizieren zu können. Mit ihrer Hetzkampagne gegen Flüchtlinge und Ausländer zu Wahlkampfzwecken trägt die Bundesregierung bzw. tragen bestimmte einzelne Mitglieder der Bundesregierung zum erneuten Anstieg fremdenfeindlicher Gewalttaten bei. ({3}) In der Antwort auf die Große Anfrage zur Umsetzung der Wiener Erklärung wird diese Problematik in unzulässiger Weise verharmlost. Einen absoluten Tiefpunkt hat der Umgang mit Menschenrechten im Rahmen der aktuellen Pläne zur Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes erreicht. Damit wird hier lebenden Menschen, die oft aus guten Gründen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, praktisch das Existenzrecht entzogen. ({4}) Menschenrechtspolitik fängt im eigenen Land an. Nur so ist sie glaubwürdig und damit ein Element effizienter internationaler Menschenrechtspolitik. Diese Sätze gehören inzwischen zum Standardrepertoire der Menschenrechtsberichte der Bundesregierung. An deren Umsetzung fehlt es aber leider nach wie vor. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist eine Bilanz der Menschenrechtsarbeit des Deutschen Bundestages der vergangenen vier Jahre am Ende dieser Legislaturperiode. Wir haben mit der Bundesregierung nicht nur einen intensiven Dialog geführt, sondern durch eine Fülle eigener Initiativen immer wieder dem wachsenden Interesse vor allen Dingen seitens der jungen Generation, aber auch seitens vieler engagierter Bürger der Bundesrepublik Deutschland an Menschenrechtsfragen Rechnung getragen. Ich muß feststellen, daß das Interesse des Deutschen Bundestages an diesen Fragen bedauerlicherweise zu gering ausgefallen ist. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage aller Fraktionen dieses Hauses zum Thema „Umsetzung des Schlußdokuments der 2. Menschenrechtsweltkonferenz 'Wiener Erklärung und Aktionsprogramm' vom Juni 1993" macht deutlich, daß die Menschenrechtsarbeit auch in der Bundesregierung einen deutlich höheren Stellenwert gefunden hat. Es hat eine Entwicklung der Integration der Menschenrechtspolitik nicht nur in die Außenpolitik, sondern auch in die Entwicklungspolitik stattgefunden, die wir nur begrüßen können. Zu fordern ist jedoch, daß die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung auch mit anderen Ressorts - hier nenne ich speziell das Innenministerium - verbessert wird. Allerdings halte ich, Frau Kollegin Dietert-Scheuer, die Ausführungen, die Sie gerade gemacht haben, für überzogen und ziemlich daneben, was die Menschenrechtslage in der Bundesrepublik Deutschland anbelangt. ({0}) Einen weiteren Wunsch habe ich an die Bundesregierung: Es geht mir für die nächste Legislaturperiode um eine intensivere Abstimmung mit Fragen des Außenhandels. Auch dieses Instrument kann zur Durchsetzung von Zielen eingesetzt werden; denn wir haben festgestellt, daß wir zwar eine Fülle von Instrumenten gerade auf der internationalen Ebene, im Bereich der Vereinten Nationen entwickelt haben, uns dann aber gegenüber bestimmten Ländern doch wieder die Hände gebunden sind. Als Beispiel hierfür nenne ich Nigeria. Über viele Jahre haben wir uns auch in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages überlegt, wie wir den Diktator - ich glaube, man kann ihn auch als Schlächter bezeichnen - Abacha dazu bringen können, Menschenrechte in seinem Land besser zu beachten. Durch seinen plötzlichen Tod ist dort eine Veränderung möglich geworden. Wir werden heute ja auch einen Antrag verabschieden, der nicht nur die Freilassung von General Obasanjo begrüßt, sondern auch die Freilassung des Wahlsiegers von 1993, Herrn Abiola, fordert. Hier ist noch einiges zu tun. Lassen Sie mich noch etwas zum Instrumentarium sagen: Die Wiener Menschenrechtserklärung von 1993 ist nach der Erklärung, deren 50jährige Wiederkehr wir in diesem Jahr feiern, das wichtigste Dokument, weil sie, auch was ihr Aktionsprogramm angeht, von allen Staaten anerkannt und bis heute von keinem Staat außer Kraft gesetzt worden ist. Sie ist die Berufungsgrundlage für alle Staaten, die sich in Sachen Menschenrechte anderen Staaten gegenüber engagieren. Nicht nur ist in der Erklärung von 1993 die Universalität der Geltung der Menschenrechte festgeschrieben worden, um deren Anerkennung wir allerdings immer wieder kämpfen müssen, sondern es ist auch festgeschrieben worden, daß es sich bei der Verletzung von Menschenrechten nicht um innere Angelegenheiten handelt. Dieser Punkt wird immer wieder diskutiert, derzeit wieder im Hinblick auf den Kosovo. In diesem Zusammenhang muß ich uns alle aber daran erinnern, daß wir uns auch in Fragen der Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen - auch wenn es noch so schwerfällt - immer an unsere eigenen rechtsstaatlichen Grundlagen halten müssen. Zurück zum Instrumentarium: Mit der Wiener Erklärung ist nicht nur das Amt des Hochkommissars eingeführt worden, der allerdings immer noch ein etwas kümmerliches Dasein im System der Vereinten Nationen führt und besser ausgestattet werden muß, es ist auch das Amt der Sonderberichterstatterin für Frauenfragen eingeführt worden. Dies sehe ich als einen Durchbruch der vergangenen Jahre an, ist uns doch viel zu lange vorgehalten worden, es gebe keine frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen. Dies ist glücklicherweise überwunden, und auf dem Weg der Beachtung frauenspezifischer Rechte müssen wir weitergehen. ({1}) Im Bereich der Abkommen ist noch einiges zu tun. Es gibt noch kein UN-Abkommen gegen Folter und andere grausame und unmenschliche Strafen. Das Abkommen innerhalb der Europäischen Union kann und muß hier sicherlich Beispiel sein. Aber die Tatsache, daß Folter und Todesstrafe weltweit massiv zugenommen haben, wir aber im Bereich der Vereinten Nationen noch kein Instrument in Form eines Abkommens haben, um dagegen vorzugehen, macht deutlich, wo wichtige Bereiche zukünftiger Arbeit liegen. Wir haben einen interfraktionellen Antrag zur Abschaffung der Todesstrafe verabschiedet. Ich begrüße an dieser Stelle, daß mit der Aufnahme in den Europarat viele osteuropäische Länder nicht nur ein Moratorium für die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe zugesagt haben und einhalten, sondern auch beginnen, ihre Gesetze zu ändern. Hier wird innerhalb des Europarates Nachdruck nötig sein. Wir werden allerdings auch - hierzu fordere ich die Bundesregierung ausdrücklich auf, aber auch uns selber in der Auseinandersetzung mit Kollegen des Kongresses der Vereinigten Staaten - das Bewußtsein dafür schärfen müssen, daß Todesstrafe eine erniedrigende Strafe ist, die in einem demokratischen Rechtsstaat keine Berechtigung findet. ({2}) Die Zunahme der Zahl der Vollstreckungen der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten ist für uns nicht akzeptabel. Vor allen Dingen ist nicht akzeptabel, daß diese bereits an Kindern vollstreckt wird. Wir müssen einer alten traditionellen Demokratie wie den Vereinigten Staaten, die weltweit eine Signalfunktion innehaben, versuchen zuzureden, von dieser Praxis abzuweichen. Der Völkermord in Ruanda und der Krieg in Bosnien haben uns klargemacht, daß Strafgerichtshöfe und die Aufarbeitung der Verbrechen eine wichtige Voraussetzung dafür sind, daß innerer Frieden auch nach Bürgerkriegen wachsen kann. Deswegen ist die Bundesregierung in ihrem Bemühen zu unterstützen, die Verhandlungen über einen internationalen Strafgerichtshof fortzuführen und auf einen glücklichen Abschluß hinzuwirken. Dabei ist es meines Erachtens wichtig, daß dieser Strafgerichtshof überhaupt zustande kommt. Erst in zweiter Linie wäre mir wichtig, daß er ein möglichst breites Spektrum von Verbrechen behandelt. Ich denke, daß Bosnien hier beispielgebend sein könnte. Noch ein letztes Wort zu frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen - die Redezeit ist bereits abgelaufen -: Wir haben einen interfraktionellen Antrag gegen die Beschneidung von Frauen verabschiedet. Ich denke, daß wir auch innenpolitisch gefordert sind, klarzumachen, daß es sich hierbei um einen strafrechtlich relevanten Tatbestand handelt; denn es ist nicht nur eine Menschenrechtsverletzung, sondern eine schwere Körperverletzung. Wir sollten aber vor allen Dingen international darauf hinwirken, daß die Staaten ihre Verpflichtung aus der Pekinger Erklärung ernst nehmen und nicht nur Beschneidungen verbieten, sondern Beschneider auch innerstaatlich verfolgen. Dies hat nichts mit Tradition zu tun. Es geht vielmehr darum, die Universalität von Menschenrechten einzufordern. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir zu dem Thema „Glaubwürdigkeit in der Menschenrechtspolitik" in der vergangenen Legislaturperiode wichtige Diskussionen geführt haben. Ich hoffe, daß wir auf diesem Weg in der nächsten weitermachen können. Danke schön. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Steffen Tippach das Wort.

Steffen Tippach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002820, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vielzahl der anläßlich der heutigen Debatte aufgesetzten Abstimmungsvorlagen zeigt einerseits, wie intensiv die Befassung mit dem Thema Menschenrechte seitens aller Parteien dieses Parlaments ist. Andererseits wird aber auch deutlich, wie selten letztendlich dann auch darüber diskutiert wird. Ein zentraler Bestandteil der heutigen Diskussion ist zweifellos die Drucksache 13/8861 mit dem sperrigen Namen „4. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen". Der Name ist schon deswegen so sperrig, weil sich die Bundesregierung nach wie vor weigert, Menschenrechtsverletzungen im Inland zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn darüber Bericht zu erstatten. Seit der Vorlage des letzten Menschenrechtsberichts hat sich leider nicht allzuviel zum Positiven verändert, weder an der Form des Berichts noch an der weltweiten Intensität von Menschenrechtsverletzungen und schon gar nichts an den Antworten der Bundesregierung darauf. Sicherlich gibt es einige Fortschritte, die im Bericht auch ausgiebig dargestellt werden. Da wäre zum Beispiel die Deklaration zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger, die nach 13 Jahren nun endlich vor einer Ratifizierung stehen könnte. Ob die Erklärung allerdings mehr wert ist als das Papier, auf dem sie steht, wird sich auch in der Bundesrepublik bald zeigen, nämlich dann, wenn es um Asyl für verfolgte Menschenrechtsverteidiger geht, zur Not auch in den Botschaften im Ausland. Ein verstärktes Engagement der Bundesregierung beim Schutz von Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten gegen den weltweit verbreiteten Terror auch von nichtstaatlichen Akteuren ist dabei ebenfalls gefordert. Positiv sind auch die Fortschritte bei der Ächtung der Todesstrafe, zumindest die Bemühungen darum, zu bewerten. Symptomatisch für die Selektivität des gesamten Berichts ist allerdings, daß die USA als selbsternannter Verteidiger der vielzitierten westlichen Wertegemeinschaft mit keinem Wort erwähnt werden, obwohl sie nach China zu den Hauptanwendern dieser barbarischen Strafe zählen, und das mit steigender Tendenz. Auch die Bemühungen um die Einrichtung eines ständigen internationalen Staatsgerichtshofs im Rahmen der Vereinten Nationen sind eine wichtige Unterstützung im weltweiten Kampf zur Stärkung der Menschenrechte. Zu hoffen bleibt, daß sich die Bundesregierung bei der seit Anfang dieser Woche in Rom tagenden Abschlußkonferenz tatsächlich für eine handlungsfähige Institution einsetzen wird, wie vom Außen- und vom Justizminister erneut beteuert. Die offenkundigen Mängel und Versäumnisse, die sich an Hand des 4. Menschenrechtsberichts zeigen, sind nach wie vor leider ungleich zahlreicher. Immer wieder wurde hier im Parlament und durch die im Forum Menschenrechte vertretenen Nicht-Regierungsorganisationen kritisiert, daß in diesem Bericht erstens die menschenrechtliche Relevanz der Innenpolitik völlig ausgeblendet wird und zweitens die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte ein Schattendasein führen. Daß diese regelmäßige Kritik keinerlei Wirkung auf die Bundesregierung zu haben scheint, relativiert auch die Ernsthaftigkeit der immer wieder geäußerten Lobpreisungen der Arbeit der Nicht-Regierungsorganisationen. Wie ernst die Bundesregierung ihr Bekenntnis zur Unteilbarkeit der Menschenrechte nimmt, wird immer dann klar, wenn es um eine Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte geht, die seit jeher ein stiefmütterliches Dasein fristen. Bislang zieht sich die Bundesregierung in ihrem Einsatz für die überfällige Einrichtung eines Fakultativprotokolls für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf die Position zurück, daß zu bezweifeln sei, ob ein Individualbeschwerdeverfahren nach dem vorliegenden Entwurf zur verbesserten Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beitragen werde, und daß diese Rechte im übrigen nicht justitiabel seien. Einmal abgesehen davon, daß letzteres nicht für alle Rechte zutrifft, ist kaum zu erwarten, daß sich mit diesem Maß an Engagement jemals ein Stellenwert erreichen läßt, der diesen Rechten gebührt. Nachdem auf der letztjährigen Menschenrechtskonferenz in Genf den Mitgliedstaaten das Fakultativprotokoll im Entwurf zugeleitet wurde, hat sich gerade die Bundesregierung bemüht, die Schaffung justitiabler Grundlagen zu verhindern, indem sie das Protokoll als maximalistisch und nicht umsetzbar denunziert hat. Hier halte ich ein Umdenken für dringend geboten, gerade auch angesichts der Skrupellosigkeit, mit der große Bevölkerungsgruppen weltweit ihrer mickrigsten Lebensgrundlagen beraubt werden. Erinnert sei nur an das perfekte Zusammenspiel der nigerianischen Machthaber mit Shell auf Kosten der Ogoni und an Berichte, nach denen die kolumbianische Armee ebenfalls von Ölkonzernen finanziert werde, womit das Volk der U'wa dem im Falle der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen angekündigten Selbstmord einen Schritt näher sein dürfte. All dies läßt nicht erwarten, daß die Staaten plötzlich dem umfassenden Schutz der Bevölkerung nachkommen, auf den sie sich vor 20 Jahren im Sozialpakt verpflichtet haben. Ähnliches gilt für die Rechte der Frauen. Wenn die Bundesregierung die Ergebnisse von Peking und Wien ernst nehmen würde, müßte sie als erstes ihre Asylpraxis ändern. Abschiebungen traumatisierter Vergewaltigungsopfer nach Bosnien dürften ja wohl kaum nachdrückliche Gegenmaßnahmen gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen sein, wie sie das Abschlußprotokoll von Wien forderte. ({0}) Dies gilt auch für die zynischen Ablehnungsbegründungen bei Asylanträgen afghanischer Frauen, in denen auf die Nichtsingularität ihres Schicksals verwiesen wird, ganz zu schweigen von der menSteffen Tippach schenverachtenden Regelung, mißhandelten ausländischen Ehefrauen kein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu gewähren, es sei denn, ihnen ist durch die erduldete Gewalt beispielsweise ein Körperglied abhanden gekommen, was dann unter Umständen als Härtefall gelten kann. Generell ist gerade die deutsche Asylpolitik Kritikpunkt zahlreicher internationaler Organisationen, gerade auch der Vereinten Nationen. Erst vor wenigen Wochen äußerte sich das Antifolterkomitee der Vereinten Nationen besorgt über die Zahl der Mißhandlungen in deutschem Polizeigewahrsam. Zudem kritisierte das Komitee die Behandlung von Ausländern in Abschiebehaft. Auch ist die Bundesregierung nach wie vor nicht bereit, die UN-Kinderrechtskonvention vollständig umzusetzen. Ebenso trägt die Bundesregierung durch etliche Vorbehaltserklärungen zu diversen Menschenrechtsabkommen nicht dazu bei, daß ihre Menschenrechtspolitik als durchgängig glaubwürdig empfunden wird. Von Glaubwürdigkeit in der Durchsetzung der vielgepriesenen Querschnittsaufgabe Menschenrechte ist ebenfalls nichts zu spüren, wenn man die grundsätzliche Politik der Bundesregierung gegenüber Folterstaaten wie Indonesien und der Türkei betrachtet. Dabei wird deutlich, daß sich hinter der Menschenrechtsrhetorik eine gegensätzliche, an handfesten strategischen und wirtschaftlichen Interessen orientierte Politik verbirgt, so etwa, wenn Bundeskanzler Kohl dem indonesischen Diktator noch nach seinem Rücktritt ein Telegramm sendet, in dem er dem „lieben Freund" Suharto für den „wichtigen Beitrag zur Stabilität" des Landes dankt, eine Stabilität, die auf Hunderttausenden von Toten errichtet wurde. Sowohl Indonesien als auch die Türkei sind zudem Beispiele dafür, daß aus Sicht der Bundesregierung Rüstungsexporte in Menschenrechte verletzende Länder kein Problem darstellen. Fazit der an Hand des Berichts dokumentierten deutschen Menschenrechtspolitik ist, daß die Übereinstimmung von Wort und Tat nach wie vor bei weitem nicht gegeben ist. Der heute ebenfalls vorliegende Antrag der PDS-Gruppe zur Einrichtung eines Amtes eines Menschenrechtsbeauftragten des Bundestages könnte diese Diskrepanz durchaus überbrücken helfen. Ich werbe um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich für die Bundesregierung das Wort dem Staatsminister Helmut Schäfer.

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 17. Juni bleibt ein unvergeßliches Datum der deutschen Geschichte. Ich finde es gut, daß wir an diesem Tag, den wir in diesem Hause jahrelang feierlich als Gedenktag begangen haben, nicht nur an den gewaltfreien Aufstand deutscher Bürger gegen Unterdrückung und Gewalt, sondern auch an die Einhaltung der Menschenrechte weltweit erinnern. Gerade auf Grund der schrecklichen Erfahrungen der jüngsten deutschen Geschichte sind wir uns doch wohl alle in diesem Parlament darin einig - bei allen Gegensätzen -, daß das Thema Menschenrechte für uns einen ganz besonders hohen Stellenwert hat, und zwar sowohl für unseren Staat selbst als auch für unsere Außenpolitik. „Die Würde des Menschen ist unantastbar" - das ist das erste Gebot unserer Verfassung und unserer Politik. Als ich vor einigen Monaten im Ermeler-Haus in Berlin mit dem Sonderberichterstatter für die Vereinten Nationen, Amor, sprach, ging es dabei um Deutschland. Es spielte unser Verhältnis zu den Minderheiten in unserem Land eine Rolle, auch unsere politische Einstellung zu religiösen Gruppierungen, die im Vergleich zu den etablierten Kirchen in diesem Land nicht immer die gleiche Behandlung zu erfahren meinen. Ich habe versucht, Herrn Amor meine Meinung zu den Problemen, die es bei uns gibt, sehr offen zu sagen, ich habe deutlich gemacht, daß hier sicherlich auch manches Defizit bestehen mag und daß vielleicht manche Aufgeregtheit, die es in letzter Zeit gegeben hat, überflüssig war. Immerhin - das sollten Sie vielleicht auch einmal als positives Ergebnis zur Kenntnis nehmen - hat der Bericht, den der Sonderberichterstatter nach einer sehr ausgedehnten Reise durch Deutschland und nach Gesprächen, die er mit allen Seiten und allen Fraktionen geführt hatte, verfaßt hat, ein sehr positives Bild gezeichnet. Das heißt, er hat sehr deutlich gemacht, daß Behauptungen, die ja größtenteils aus Deutschland selbst kommen und die dann in der Welt den Eindruck erwecken, daß die Situation bei uns viel schlechter sei, als sie tatsächlich ist, nach seiner Beurteilung der Lage so nicht stimmen. Es ist andererseits natürlich richtig, daß wir, bevor wir in vielen Ländern der Welt auf die Einhaltung der Menschenrechte drängen können, die Lage bei uns in Ordnung bringen müssen. In diesem Zusammenhang ist mir, Kollege Bindig, beim Wort vom „Weltverbesserer" immer noch nicht so ganz wohl. Ich mag das nicht so sehr. Weil es ja bei dem Wort „Weltverbesserer" so etwas gibt wie die moralische Apriori-Vorstellung, man habe etwas zu verbessern, das heißt, man sei besser. Daran habe ich mich immer ein bißchen gestoßen: Wenn die Moral zu groß wird, wenn dieses „Ich weiß, was ihr machen müßt" zu stark in den Vordergrund tritt, dann kommen allerdings auch manche Vorbehalte gegenüber den Deutschen auf. Das sollten wir bitte nicht vergessen - bei allem anderen, das Sie natürlich inhaltlich auch mit diesem Wort verbinden. ({0}) - Ja, nur bei aller Liebe zu dem, was Sie wollen - sollten wir das Wort „Weltverbesserer" nicht unbedingt als den entscheidenden Begriff in den Mittelpunkt stellen. ({1}) Nun glaube ich, daß wir sicher, bevor wir in vielen Ländern der Welt auf die Einhaltung der Menschenrechte drängen können, zu Hause dafür zu sorgen haben, daß Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keine Chance haben. Ich glaube aber, daß sich das nicht darin erschöpfen darf, sich auf die Bekämpfung mehr oder weniger starker rechtsradikaler Gruppierungen zu konzentrieren. Vielmehr haben wir etwas stärker die Wurzeln dieses Übels anzugehen. Ich glaube, daß die Ignoranz und die Verrohung von Jugendlichen in Deutschland, die oft zu solchen fremdenfeindlichen Ausschreitungen geführt haben, mehr mit mangelnder Erziehung und fehlenden Vorbildern als möglicherweise mit der Kenntnis von „Mein Kampf" zu tun haben. Es ist sicherlich nicht ganz in Ordnung, wenn das immer in eine völlig andere Verbindung gestellt wird. ({2}) Es hat auch etwas zu tun mit der erschreckend wachsenden Zahl von Analphabeten in diesem Land. Ich habe neulich bei der „Stiftung Lesen" in Mainz zur Kenntnis nehmen müssen, daß der Anteil der sekundären Analphabeten unter unseren Jugendlichen etwa 15 Prozent beträgt, mit wachsender Tendenz. Die Vermittelbarkeit in Lehrstellen wird nicht deshalb immer schwieriger, weil die Industrie keine Stellen hat, sondern weil einige auf Grund dieser Tatsache nicht mehr vermittelbar sind. Ich glaube, hier, bei der zunehmenden Ignoranz, müssen wir ansetzen und nicht immer nur bei der Frage rechtsradikaler Gefahren. Schließlich gehört dazu auch - ich weiß, daß das wieder entsprechend aufgenommen wird -: die wachsende Veroberflächlichung unserer Jugend durch immer anspruchsloser werdende Medienangebote. Die Verharmlosung von Gewalt in unseren Medien führt zu der dumpfen Vorstellung - hier ist vom Schutz der Frauen gesprochen worden -, daß Gewalt etwas mit männlicher Kraftmeierei zu tun habe. Dies zeigt sich bis hin zur Mode. Ich halte diese Gefahr für mindestens so groß wie die Befürchtung, daß extremistische Parteien wieder Zulauf bei der Jugend finden. Zwischen der Beachtung der Menschenrechte in einer Gesellschaft und der Sicherheit der Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, besteht ein enger Zusammenhang. Arbeit für die Menschenrechte leistet daher einen wichtigen Beitrag zu internationalem Frieden und Sicherheit. Das hat die Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Frau Robinson, hier in Bonn am 26. Mai 1998 auf einem großen internationalen Symposium zu Menschenrechtsfeldmissionen gesagt, zu dem die Bundesregierung eingeladen hatte. Frau Robinson ist sich bewußt, daß ihr Amt auch deshalb zustande gekommen ist, weil sich die Bundesregierung für die Schaffung dieses Amtes eingesetzt hat. Insofern ist sie sehr gerne nach Deutschland gekommen; denn sie weiß, wie stark wir bei aller Kritik auf diesem Felde aktiv sind. Das Treffen war ein Erfolg, weil es ein wichtiger Gedankenaustausch war zu neuen Wegen, wie wir diese Missionen verbessern und stärken können. Frau Robinson hat natürlich recht, wenn sie sagt: Menschenrechtspolitik ist Friedenspolitik. Wo Krieg ist, werden die Menschenrechte immer mit Füßen getreten. Wir behandeln in dieser Woche erneut die Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an der SFORFriedensmission im ehemaligen Jugoslawien. Ich glaube, daß Bundeswehr und SFOR geholfen haben, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Menschen in Sarajevo, in Mostar, in Brcko wieder zu ihrem Recht auf eine friedvolle Zukunft ihrer angestammten Heimat kommen. Wir danken dafür unseren Soldaten. ({3}) Es wäre hilfreich, wenn Ihre Fraktion, Frau Kollegin Dietert-Scheuer - Sie haben ja vorhin sehr heftige Kritik an unserer Politik geübt -, mit einer Sprache sprechen würde, wenn es um die Leistung unserer Soldaten geht. Ich habe die Schreie des Herrn Trittin in Berlin am vergangenen Mittwoch noch in übler Erinnerung. ({4}) Es fällt mir sehr schwer, zu verstehen, daß auf der einen Seite Herr Trittin vor einer Masse von Menschen, die mit Mao-Fahnen aufgetreten sind - eine etwas überholte politische Vorstellung -, gegen die Bundeswehr auftritt und auf der anderen Seite Herr Fischer den Einsatz im Kosovo fordert. Das ist schon etwas widersprüchlich. ({5}) - Herr Kollege Poppe, ich habe nie begriffen, daß sich das Bündnis 90 überhaupt als Teil dieser Fraktion verstanden hat. ({6}) UNO-Generalsekretär Kofi Annan hat völlig zu Recht gefordert, das kommende Jahrhundert zum „Zeitalter der Vorbeugung" zu machen. Er meint damit natürlich die Konfliktprävention. Daß der Schutz der Menschenrechte eine ganz wesentliche Prävention von Konflikten ist, wissen wir. Dabei ist uns aber bewußt, daß die Förderung und der Schutz der Menschenrechte keineswegs nur die Aufgabe von Bundesregierungen sein kann, sondern daß das Parlament eine ganz entscheidende Rolle spielt. Das haben Sie getan. Ich danke Ihnen gerade an diesem Tag ausdrücklich für das, was Sie geleistet haben, gleichgültig aus welcher Fraktion Sie stammen. Sie haben gemeinsam - wir haben es zum Teil auch gemeinsam erlebt - im Ausland wesentlich dazu beigetragen, die Arbeit der Bundesregierung zu unterstützen. Hier darf aber nicht nur das Parlament gelobt werden. Auch die Nicht-Regierungsorganisationen haben in dem Zusammenhang einen ganz großen Beitrag geleistet. Aber im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Bindig - ich habe das in der Anhörung gesagt -, habe ich Bedenken, wenn Sie eine weitere bürokratische Institution mit hohen Bundeszuschüssen schaffen wollen. Da machen sich ausgerechnet die unabhängigen Nicht-Regierungsorganisationen vom Haushalt des Bundes abhängig. Ich weiß nicht, ob das ihrer Arbeit auf Dauer nutzt und tatsächlich dazu beitragen wird, neue Zusammenfassungen zu schaffen. Ich habe immer ein bißchen Angst bei der Schaffung solcher Institutionen, in denen man unter einem gemeinsamen Dach versucht, zum Teil sehr unterschiedliche Politiken zu betreiben, die man dann vom Staat finanzieren läßt. Möglicherweise unterscheiden wir uns in verschiedenen Punkten nicht, Herr Bindig, in diesem Punkt aber schon. Lassen Sie mich noch einmal sagen, daß der 4. Menschenrechtsbericht, der hier zum Teil kritisiert worden ist, auch erhebliche Erfolge und Fortschritte nachweisen kann. Die vertraglichen und politischen Verpflichtungen zur Durchsetzung und Sicherung der Menschenrechte sind erheblich verbessert worden. Ich darf als jüngstes Beispiel die Deklaration zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern erwähnen, die gerade auf der 54. Versammlung der Menschenrechtskommission in Genf angenommen worden ist. Das heißt, damit gibt es eine wichtige Berufungsgrundlage und auch größere Sicherheit für alle, die sich oft auch unter Lebensgefahr für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzen. Meine Damen und Herren, Menschenrechtsnormen allein genügen nicht. Menschenrechtsverletzungen müssen verfolgt und bestraft werden. Sie haben das zum Ausdruck gebracht. Ich hoffe mit Ihnen, daß auf der Staatenkonferenz in Rom, die vorgestern eröffnet wurde, Fortschritte bei der Errichtung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs erzielt werden. Wir setzen uns dort mit großem Nachdruck für die baldige Errichtung eines effektiven, funktionsfähigen und unabhängigen internationalen Strafgerichtshofs ein, der über die vier Kernverbrechen, nämlich Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des Angriffskrieges, zu Gericht sitzen soll, wenn nationale Gerichte diese Verbrechen - aus welchen Gründen auch immer - nicht verfolgen. Der Aufbau einer ständigen internationalen Strafgerichtsbarkeit soll zu mehr Gerechtigkeit und dadurch auch zur Sicherung des Friedens in unserer Welt beitragen. Die Politik der Bundesregierung und ihrer Partner in der Europäischen Union zielt über ein Moratorium auf die weltweite Abschaffung der Todesstrafe. Ich teile das, was dazu gesagt worden ist. Auch hier kann - wie in anderen Fällen - nicht Doppelmoral unsere Politik bestimmen. Wir müssen überall für die Abschaffung der Todesstrafe eintreten. ({7}) Wir haben uns auch als Europäische Union in verschiedenen Staaten immer wieder eingesetzt, wenn es darum ging, Menschen vor der Todesstrafe zu retten. Das ist die Politik der Europäischen Union. Sie wird in enger Zusammenarbeit mit den Nicht-Regierungsorganisationen fortgesetzt. Es geht uns auch um eine weltweite Ächtung der Folter. Die Zahl der Folterungen ist noch immer sehr hoch. Oft werden gerade die, die für die Menschenrechte eintreten, erniedrigt, gequält und gefoltert. Zum Kampf gegen die Folter gehört auch die Fürsorge für die Opfer, denen unser Mitempfinden und unsere Hilfe gelten. Mit dem für die Betreuung von Folteropfern geschaffenen Fonds der Vereinten Nationen konnten im vergangenen Jahr rund 59 000 Menschen unterstützt werden. Seit vielen Jahren leistet die Bundesregierung Beiträge zu diesem Folteropferfonds und unterstützt die Arbeit von deutschen Behandlungszentren für Folteropfer. Am 26. Juni, dem Gedenktag der Vereinten Nationen für Folteropfer, wird erstmals weltweit der vielen Männer und Frauen gedacht, die Opfer von Folter geworden sind. Ich bin beeindruckt von dem außerordentlichen Engagement, mit dem die Mitarbeiter in allen deutschen Behandlungszentren ihre schwierige und oft sehr belastende Arbeit verrichten. Wir sollten ihnen unsere besondere Anerkennung aussprechen. ({8}) Schließlich komme ich zu dem Thema, das meine Vorrednerinnen und Vorredner angesprochen haben, dem Schutz der Menschenrechte von Frauen, das heißt dem Schutz von Frauen vor Gewalt, Benachteiligung und Diskriminierung. Das ist Gott sei Dank ein wachsendes Anliegen der Völkergemeinschaft. Es darf nicht sein - ich gebe Ihnen da völlig recht -, daß traditionelle, soziale, religiöse oder kulturelle Besonderheiten immer wieder für die Rechtfertigung der Diskriminierung von Frauen herhalten müssen. Weltweit sind Frauen auf Grund solcher Behauptungen und Gepflogenheiten immer noch schlimmsten Diskriminierungen ausgesetzt. Als ein besonders scheußliches Beispiel weise ich noch einmal auf die fast völlige Entrechtung der Frauen in den von Taliban-Milizen kontrollierten Gebieten in Afghanistan hin. Das ist unerträglich und von uns nicht hinzunehmen. ({9}) Daß die Bundesregierung dem Schutz von Kindern besondere Aufmerksamkeit widmet, wissen Sie vor allen Dingen dadurch, daß wir bei dem Stockholmer Aktionsprogramm zum Schutz vor sexueller Ausbeutung von Kindern eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben. Wir haben auch die Initiative ergriffen, damit im April dieses Jahres, also erst vor kurzem, in Straßburg die erste internationale Nachfolgeveranstaltung zu diesem sehr wesentlichen Thema durchgeführt werden konnte. Wir unterstützen den Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Kinder in bewaffneten Konflikten, Otunnu, finanziell und politisch. Im Frühjahr konnten in Genf die Verhandlungen über ein den Schutz von Kindern vor Krieg ausweitendes Zusatzprotokoll zur Kinderkonvention fast abgeschlossen werden. Die Bundesregierung beteiligt sich aktiv an den Beratungen der Internationalen Arbeitsorganisation über eine Konvention zur Abschaffung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit und setzt ihre finanStaatsminister Helmut Schäfer zielle Förderung des Programms der Internationalen Arbeitsorganisation zur Bekämpfung der Kinderarbeit fort. Der 50. Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in diesem Jahr gibt uns nicht nur Anlaß, dieses Jubiläum feierlich zu begehen, sondern gleichzeitig auch darüber nachzudenken und mit besten Kräften dazu beizutragen, wie der Menschenrechtsschutz künftig weiter gestärkt werden kann. Dies war auch Ziel des internationalen Kolloquiums auf dem Petersberg vor wenigen Wochen unter Leitung des Bundesaußenministers. Die Menschenrechtsfeldmissionen haben eine wichtige Aufgabe übernommen: in den verschiedenen Ländern zu helfen, Ursachen und Folgen der Krisen zu bekämpfen, und auch gemeinsam mit nationalen Menschenrechtsinstitutionen Hilfe für den Aufbau und die Stärkung des Rechtsstaats zu leisten. Erste Erfolge konnten in Ruanda und Burundi - wir haben den Parlamentspräsidenten hier gehabt -, im ehemaligen Jugoslawien, in Georgien, Kambodscha und Kolumbien erzielt werden. Die Menschenrechtshochkommissarin benötigt aber dringend weitere finanzielle Mittel - das ist nicht das einzige; es wurden hier heute andere Felder angesprochen -, da rund 1 Prozent des regulären UN-Haushalts für Menschenrechte nicht ausreichend sind. Denken wir daran: Präventive Menschenrechtspolitik ist immer besser als die spätere Beilegung bewaffneter Konflikte. Sie ist natürlich auch - wenn man das in dem Zusammenhang sagen darf - kostengünstiger. Das sollte man immer bedenken. Zum Schluß: Der Schutz der Menschenrechte bleibt auch in Zukunft ein ganz wesentlicher Teil unserer Politik. Dies wird nicht nur mit Verurteilungen und öffentlicher Brandmarkung, mit Resolutionen und Attacken gehen können. Dies wird natürlich auch den Dialog, die Verständigung mit den Kräften in Ländern brauchen, die die Menschenrechte scheinbar total verletzten. Sie wissen, daß auch ein Dialog mit China und dem Iran sinnvoll ist. Es ist wichtig, daß wir uns dann, wenn es einen Neuanfang wie zur Zeit in Nigeria gibt, dafür einsetzen, daß sich die Verhältnisse nachhaltig bessern. Ich habe während meiner außenpolitischen Tätigkeit als Beauftragter für humanitäre Hilfe und Menschenrechte in bescheidenem Umfang an dieser Politik Anteil genommen. Es ist klar, daß das nicht furchtbar viel sein konnte. Dies war auch nur ein Teil meiner Tätigkeit. Aber es war vielleicht ein ganz besonders herausragender Teil. Ich darf Ihnen allen herzlich für Ihre große Unterstützung, gelegentlich aber auch für die Geduld, die Sie da oder dort mit mir hatten, danken. Ich werde in meiner neuen Heimatstadt Berlin von der Tribüne des Reichstages aus ihre weiteren Bemühungen um die Menschenrechte mit großem Interesse verfolgen. Danke schön. ({10})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatsminister Schäfer, Herr Kollege Bindig hat vorhin bereits Abschiedsworte an Sie gerichtet. Was kann einem Vertreter der Bundesregierung Besseres passieren, als wenn ihm am Ende einer langen Tätigkeit ein Vertreter der Opposition Dankesworte ausspricht? Sie sind seit 1977 Mitglied des Hauses, dabei die ganze Zeit Vorderbänkler: Zehn Jahre außenpolitischer Sprecher der Fraktion und zehn Jahre Staatsminister. Sie als Staatsminister zu verabschieden ist Sache des Bundeskanzlers. Aber im Namen dieses Hauses möchte ich Ihnen herzlich danken. ({0}) Damit gebe ich das Wort der Abgeordneten Ilse Falk.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, fünf Jahre Schlußerklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz, der ja immerhin 171 Staaten zugestimmt haben - solche Gedenktage - heute schon oft erwähnt -, solche Jubiläen erinnern uns aber auch daran, daß die weltweite Achtung der Menschenrechte noch immer in weiter Ferne liegt. Also eigentlich kein Grund zum Feiern. Dennoch würdigen wir es hier. Denn jede Erklärung, jedes Dokument, jede Konferenz bringt Fortschritte für die klassischen Menschenrechte. Sie stärken das Bewußtsein der internationalen Staatengemeinschaft, daß der universelle Charakter der Menschenrechte und Grundfreiheiten außer Frage steht und daß es die Pflicht der Staaten ist, sie einzuhalten und zu verwirklichen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn sie in der Rechtsordnung des einzelnen Staates verankert sind und ihre Verletzung Sanktionen nach sich zieht. Das aber ist genau das Problem der vielfachen Menschenrechtsverletzungen, die überall auf der Welt traurige Realität sind. Welche konkreten Einflußmöglichkeiten hat die Staatengemeinschaft denn nun tatsächlich, wenn Staat und Recht des einzelnen Landes die Menschenrechte nicht sichern oder sogar verletzen? Welchen Stellenwert haben die historischen, kulturellen und religiösen Besonderheiten der Nationen, ihre politische und wirtschaftliche Ordnung? Über welche Rechte reden wir? Ich will hier noch einmal Bundespräsident Roman Herzog zitieren, der das ja klar formuliert hat: Es gibt „Essentials, die nicht verhandelbar sind". Dazu gehören die Würde des Menschen, die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens, das Verbot der Folter, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Freiheit des Gedankens und der Religion. Sie sind gültiges Menschenrecht, auch und gerade dann, wenn sie verletzt werden. Die Genitalverstümmelung von Frauen in Afrika und Teilen Asiens, die Verweigerung medizinischer Versorgung und schulischer Bildung für afghanische Frauen, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind keine kulturellen Besonderheiten, sondern schwerste Menschenrechtsverletzungen an Frauen. ({0}) Damit komme ich zu dem, was heute mein Anliegen ist, die Achtung der Frauenrechte als Menschenrechte, international und national. Wir haben im Dezember letzten Jahres in erster Lesung die Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen in 28 Ländern der Erde thematisiert. Nach äußerst positiven interfraktionellen Gesprächen - das wurde hier auch erwähnt - können wir Ihnen heute einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorlegen, für den ich um Ihre Zustimmung bitte. Auf vier Punkte will ich besonders hinweisen, und zwar deshalb, weil sie aus meiner Sicht auch deutlich machen können, wie wir zum Beispiel mit dem Thema frauenspezifischer Verfolgung umgehen können, was sich sicherlich nur sehr schwer oder gar nicht in gesetzlichen Verankerungen fassen läßt; aber in Einzelfallbewertungen müßte dies immer wieder möglich sein, in einem Beispiel ganz besonders. Erster Punkt. Die Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen wird als ein Verstoß gegen das Grundgesetz und als Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit bewertet. Das wurde gesagt. Damit sind die Ächtung der Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane als Menschenrechtsverletzung und die konsequente Anwendung unseres Strafrechtes in Fällen, wo die Eingriffe in Deutschland erfolgen, deutlich und unmißverständlich formuliert. Zweitens. Die Bewertung als Menschenrechtsverletzung soll in der praktischen Anwendung des Ausländerrechts und des Asylrechts berücksichtigt werden, so unter anderem in der Aus- und Fortbildung der Einzelentscheiderinnen und Einzelentscheider des Bundesamtes. Bei entsprechenden Anhaltspunkten sind vor allem - und das ist uns besonders wichtig - die Anhörungen weiblicher Flüchtlinge durch weibliche Entscheider vorzunehmen. In Deutschland ist die Anzahl der Asylbegehren wegen drohender Beschneidung zahlenmäßig gering. Die größte Schwierigkeit ist wie in vielen Fällen der geschlechtsspezifischen Verfolgung die Tabuisierung dieses Themas und - der zweite Punkt -, daß die Verfolgung dem Staat zuzurechnen sein muß. Deshalb müssen wir darauf dringen, daß die Möglichkeit eines humanitären Bleiberechts Anwendung findet, das bei schwerwiegender Menschenrechtsverletzung wie der Genitalverstümmelung greift, ohne daß hierbei die explizite staatliche Verfolgung nachgewiesen werden muß. Drittens. Die Praxis der Verstümmelung soll in die Länderberichte des Auswärtigen Amtes aufgenommen werden. Diese von uns angeregte Maßnahme dient unserer Meinung nach auch der Aufklärung und Bewußtmachung dieser Menschenrechtsverletzungen, national und international. In diesem Zusammenhang steht die Forderung im Antrag, im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in den jeweiligen Heimatländern Aktionen und Projekte zu unterstützen, die zur Lösung der Problematik beitragen sollen. Es zeigt sich am Beispiel einer Initiative der Landfrauen im Senegal, daß die Unterstützung von außen durch Aufklärungskampagnen relativ schnell zum Erfolg führen kann. Mit großer Mehrheit haben sich dort 13 000 Frauen aus 14 Dörfern gegen die Verstümmelung entschieden und haben ein solches „Fest" sowie Rituale mit Unterstützung der Dorfchefs abgeschafft. Viertens. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheits- und Sozialdienst, in Flüchtlingsheimen sowie in Beratungs- und Begegnungszentren sollen Frauen und Mädchen unterstützen und beraten. Bund und Länder werden aufgefordert, Konzepte zu entwickeln, die dem Bedürfnis von Migrantinnen und Flüchtlingen nach Informationen stärker Rechnung tragen. Da es in Beratungseinrichtungen in der Regel an Erfahrung speziell im Umgang mit der Problematik der Genitalverstümmelungen mangelt, herrscht dringender Aufklärungsbedarf. Daß in die aufklärende Arbeit besonders auch betroffene Frauen einzubeziehen sind, halte ich für ganz wichtig, denn sie haben am ehesten die Chance, gehört zu werden. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 'hat zum Thema „Genitalverstümmelung" eine Broschüre für Ärztinnen und Ärzte sowie für Beratungsstellen herausgegeben. In ihr wird ausführlich Stellung zur Sache und zur Rechtslage genommen und wird besonders auf die Gesundheitsschäden, Folgeschäden und Möglichkeiten ihrer Behebung eingegangen. Achtung der Frauenrechte als Menschenrechte - auch in unserem Land müssen wir immer wieder Verletzungen dieser Rechte feststellen, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied gegenüber dem gerade angesprochenen Thema, daß Staat und Gesellschaft sie in keiner Weise tolerieren. „Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter" - so hieß eine Kampagne, die das Bundesfrauenministerium von 1993 bis 1996 durchgeführt hat. Gewalt gegen Frauen reicht von der alltäglichen Belästigung auf der Straße und im Berufsleben über vielfältige Formen der Mißachtung, der Herabwürdigung zum Objekt, der Mißhandlung und des sexuellen Mißbrauchs bis hin zu Vergewaltigung, Menschenhandel, Zwangsprostitution und Tötung. Die Bundesregierung hat eine Vielzahl von wichtigen gesetzlichen Änderungen zum besseren Schutz von Frauen und Mädchen vorgenommen. Ich will nur aus den letzten Jahren die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, die 6. Strafrechtsreform mit Neuerungen im Sexualstrafrecht, das eigenständige Aufenthaltsrecht für ausländische Ehefrauen im Ausländergesetz sowie das Zeugenschutzgesetz nennen. Die von der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking verabschiedete Aktionsplattform hat deutlich klargestellt: Frauenrechte sind Menschenrechte. Gewalt gegen Frauen ist Menschenrechtsverletzung. Die Aktionsplattform nennt die Defizite und zeigt Handlungsstrategien auf, wie die Gewalt gegen Frauen wirksam bekämpft werden kann. Bundesministerin Claudia Nolte hat hierzu 1997 die Nationalen Strategien zur Umsetzung der 4. Weltfrauenkonferenz vorgelegt. Bundesregierung und Bundesfrauenministerium messen dem Schutz von Frauen vor Menschenrechtsverletzungen und Gewalt auch international herausragende Bedeutung zu. Die Bundesrepublik verpflichtet sich in einer Vielzahl von völkerrechtlichen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und öffnet sich damit gleichzeitig internationalen Kontrollen. Abschließend möchte ich noch ein Wort zu der Problematik der internationalen Einmischung bei Menschenrechtsverletzungen sagen. Es wird uns aus dem asiatischen und dem islamischen Raum häufig vorgeworfen, wir wollten unsere westliche Lebensweise und unsere Rechtsvorstellungen anderen Nationen aufzwingen, womöglich um eine Art Vorherrschaft in Politik, Wirtschaft und Kultur zu erreichen. Darin kommt zum Ausdruck, daß es natürlich die unterschiedlichsten Vorstellungen in den Kulturen und Nationen darüber gibt, welche Rechte dem Individuum wie der Gruppe zugestanden werden. Um es zugespitzt zu formulieren: Während in vielen Länder der Erde elementare und für uns selbstverständliche Grundrechte noch nicht fest verankert sind oder sogar - das zeigen viele rassisch oder religiös begründete Konflikte - wieder abgeschafft werden, diskutieren wir in den Industrienationen sogenannte soziale Teilhaberechte als Menschenrechte, wie das Recht auf Arbeit, eine intakte Umwelt, soziale Sicherheit, Mindesteinkommen und menschengerechte Wohnung. Zwischen diesen beiden Extremen liegen im wahrsten Sinne des Wortes Welten. Überzogene Forderungen, die der Staat auch kaum gewährleisten kann und will - jedenfalls nicht in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung -, helfen uns dabei so wenig weiter wie Bevormundung anderer Völker in Fragen der Menschenrechte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte kommen Sie zum Schluß.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sinnvoller sind allemal die sensible Beobachtung der Entwicklung in den einzelnen Ländern und die Stärkung der Eigenkräfte durch Unterstützung und Aufklärung. Gegenseitiger Austausch und Gespräche haben größere Aussicht auf Erfolg als Drohung und Abbruch der Beziehungen zwischen den Völkern. Allerdings muß dabei die Verletzung der Menschenrechte klar angesprochen werden dürfen. Die internationalen Menschenrechtsvereinbarungen

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- helfen uns dabei. Zu ihnen haben sich immerhin fast alle Staaten selber bekannt. Lassen Sie uns die Menschenrechte auf der Tagesordnung behalten. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe der Abgeordneten Heide Mattischeck das Wort.

Heide Mattischeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001441, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Die vielen Jubiläumsanlässe, die heute schon genannt worden sind, sind ja - so denke ich mir - der beste Anlaß, Bilanz zu ziehen. Durch Rückschläge sollten wir uns nicht entmutigen lassen. Positive Ergebnisse - darauf wird der Kollege Neumann nachher noch eingehen - sollten uns immer ein Ansporn sein. Auf keinen Fall dürfen Würdigungen von Jahrestagen Anlaß sein, lediglich zu feiern und nicht darüber nachzudenken, was gewesen ist. Die Bundesregierung wird für die vergangenen Jahre Rechenschaft ablegen müssen, und auch wir Abgeordnete selbst werden uns fragen müssen und uns fragen lassen müssen, zu welchem Anlaß wir vielleicht lauter und deutlicher Unrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätten ansprechen müssen, ob wir gleiches Unrecht auch immer mit gleichen Maßstäben bewerten oder ob wir mitunter nicht doch doppelte Standards anlegen. Seit 1987, also seit drei Legislaturperioden, werden nach unserer Geschäftsordnung die Menschenrechte in einem Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses behandelt. Durch diese organisatorische Zuordnung ist der Unterausschuß für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe fast ausschließlich für die Menschenrechte in anderen Ländern zuständig. Mit Menschenrechtsfragen in der Bundesrepublik selbst sind dagegen in erster Linie der Rechts- und der Innenausschuß befaßt. Daß diese strikte Trennung nicht der Realität entspricht, sieht man am besten auch daran, daß im 4. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen der Zusammenhang zwischen der Menschenrechtslage in verschiedenen Regionen der Welt und der Notwendigkeit, Asylsuchenden und Flüchtlingen Schutz und Aufenthalt bei uns zu gewähren, aufgezeigt wird. Die Universalität und die Unteilbarkeit von Menschenrechten verbieten im Grundsatz die Trennung von Menschenrechts-Außenpolitik und Menschenrechts-Innenpolitik. Entscheidend für den Erfolg oder den Mißerfolg von Menschenrechtsarbeit sind die Glaubwürdigkeit und die Kontinuität und der erkennbare Wille, zum Beispiel zu einer gemeinsamen europäischen Menschenrechtspolitik zu kommen. Hierzu hat die Bundesregierung meines Erachtens erkennbar nicht in ausreichendem Maße beigetragen. Der 4. Menschenrechtsbericht, der in weiten Teilen Passagen seiner Vorgänger wiederholt, zählt zwar Menschenrechtsvergehen und -probleme in vielen Regionen der Welt auf und beschreibt, was man tun müßte, sagt aber sehr wenig darüber aus, wo die Bundesregierung selbst Schwerpunkte gesetzt hat oder gedenkt, sie künftig zu setzen. Die SPD-Fraktion hat diese Kritik bereits 1996 in zehn Punkten in einem Antrag zum Ausdruck gebracht. Die Beschlußempfehlung, über die heute abgestimmt werden wird, bringt den Willen der Mehrheit des Unterausschusses zum Ausdruck, nämlich, diese zehn Punkte abzulehnen. Trotz aller unterschiedlichen politischen Positionen der Fraktionen im Unterausschuß ist es erfreulicherweise immer wieder gelungen, in bestimmten Fragen zu gemeinsamen Auffassungen und Stellungnahmen zu kommen, die dann auch von einer breiten Mehrheit hier im Bundestag getragen wurden und getragen werden. Ich erinnere nur an die vielbeachtete Tibet-Resolution aus dem Jahre 1996. Auch der Antrag „Unterstützung der Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe", der heute zur Abstimmung steht, gehört auf die Positivseite der Arbeit des Unterausschusses. Bereits in der ersten Lesung des von der SPD-Fraktion eingebrachten Antrages hat sich abgezeichnet, daß diese Initiative von allen Seiten dieses Hauses grundsätzliche Unterstützung finden würde. Nach einem langen, intensiven und, wie wir gesehen haben, ergebnisorientierten Abstimmungsprozeß werden wir diesen Antrag heute - davon gehe ich aus - mit breiter Mehrheit verabschieden. Damit bekommt die Bundesregierung einen klaren Auftrag zur Fortsetzung und zur Verstärkung ihrer Bemühungen, die Todesstrafe weltweit zu ächten und abzuschaffen. Die kritische Beleuchtung der Todesstrafe - ich mache einen kurzen Ausflug in die Historie - taucht in Europa bereits im letzten Jahrhundert auf. So schaffte die Verfassung der Französischen Republik von 1848 - wir haben es also mit einem weiteren Jubiläum zu tun - die Todesstrafe „in politischen Angelegenheiten" ab. Die allerdings nie in Kraft getretene Paulskirchen-Verfassung beinhaltete: Die Todesstrafe, ausgenommen, wo das Kriegsrecht sie vorschreibt und im Fall von Meuterei sie zuläßt, ist abgeschafft. Es war ein weiter Weg bis zur Abschaffung der Todesstrafe in allen Ländern der EU. Und wie sieht es heute in anderen Regionen aus? Im 4. Bericht der Bunderegierung, der schon genannt wurde, steht leider kein Wort dazu, daß die Vereinigten Staaten weit davon entfernt sind, eine kritischere Haltung zur Todesstrafe einzunehmen. Kein anderer Rechtsstaat läßt sie so häufig vollstrecken. Schlimmer noch: In Wahlkämpfen wird sie gelegentlich offensiv befürwortet. So hat die Zahl der legalen Morde in den USA mit 74 Hinrichtungen im vergangenen Jahr den höchsten Stand seit der Aufhebung des Moratoriums 1997 erreicht. Mehr als 3300 Menschen sind in den Todestrakten der Gefängnisse in den USA inhaftiert, darunter Personen, die zum Zeitpunkt der Tat Jugendliche waren. Wie paßt das zusammen? Die USA machen sich weltweit stark für die Menschenrechte, stimmen aber gemeinsam mit China gegen eine Forderung der UN-Menschenrechtskommission nach einer weltweiten Vollstreckungspause von zwei Jahren als einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Diese Praxis hat bedauerlicherweise einen erheblichen negativen Einfluß auf die Rechtssituation in anderen Ländern. Viele Regierungen rechtfertigen ihr Festhalten an der Todesstrafe mit der Rechtslage der Vereinigten Staaten. Hier hat die Koalitionsregierung, insbesondere ihr Außenminister, in den bilateralen Beziehungen zu den USA erkennbar nichts erreicht. Gleiches trifft auch auf die Ukraine zu. Die Ukraine ist seit November 1995 Mitglied des Europarates und hatte sich bei ihrer Aufnahme verpflichtet, die Todesstrafe innerhalb von zwei Jahren abzuschaffen und keine Hinrichtungen mehr vorzunehmen. Dennoch waren 1996 mehr als 160 und im ersten Quartal 1997 weitere 13 Personen hingerichtet worden. Ein Antrag auf Ausschluß der ukrainischen Delegation von der Sitzung des Europarates wurde im Geschäftsordnungsausschuß des Europarates als nicht zulässig zurückgewiesen, weil die Europastatuten die Abschaffung der Todesstrafe nicht als Voraussetzung für eine Mitgliedschaft vorschreiben. Nach dieser Auslegung können sich nun auch andere Länder Versäumnisse bei der Umsetzung ihrer Beitrittsauflagen erlauben. Daß besonders häufig in China hingerichtet wird, ist eine Tatsache, die bekannt ist. Die Todesstrafe diene der Abschreckung, so argumentieren immer wieder ihre Verfechter. Das ist kein Argument, sondern eine Behauptung, die sich nicht durch Tatsachen belegen läßt. Die Todesstrafe ist zur Verbrechensbekämpfung kein geeignetes Mittel; noch nie ist die Verbrechensrate nach der Abschaffung der Todesstrafe in einem Land gestiegen, noch nie ist sie nach ihrer Einführung gesunken. In dem vorliegenden Antrag wird ausdrücklich auf die erfolgreichen Bemühungen der letzten Jahre hingewiesen, ebenso wie auf die Tatsache, daß es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 enthaltene Recht auf Leben durch Pakte, Konventionen, Übereinkommen und Verträge in bezug auf eine gemeinsame Position zahlreicher Staaten, was die Mindestforderungen auf dem Weg zu einer völligen Abschaffung der Todesstrafe angeht, zu ergänzen und zu präzisieren. Ähnliche Formulierungen finden sich auch in unserem Antrag wieder. Darüber hinaus gibt es erstmalig eine gemeinsame EU-Position bezüglich der Maßnahmen zur weltweiten Bekämpfung der Todesstrafe. In der Erklärung des Europäischen Rates ist zum Beispiel von Demarchen die Rede, die von seiten der EU im Falle verhängter Todesstrafen und drohender Hinrichtungen in multilateralen Gremien und gegenüber Drittländern ergehen sollten. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, mit diesem jetzt gemeinsam eingebrachten Antrag werden viele Schritte aufgezeigt, mit denen wir dem erklärten Ziel, die Todesstrafe als eine die Menschenwürde zutiefst verachtende Bestrafung weltweit abzuschaffen, ein Stück näher kommen können. Danke schön. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich Lummer.

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur eine Anmerkung machen und vielleicht eine Anregung geben. Ich habe jüngst in einer großen deutschen Zeitung einen Beitrag von einem namhaften amerikanischen Wissenschaftler gelesen, der sich als Kommunitarist bezeichnet. Etzioni heißt er. Er hat sich in diesem Beitrag darüber Gedanken gemacht, welche Rolle Deutschland nach der Wiedervereinigung in der zukünftigen Weltpolitik spielen solle. Das Ergebnis seiner Überlegungen war die Empfehlung an uns, gewissermaßen die Rolle des moralischen Gewissens der Welt zu spielen, die Menschenrechte zum zentralen Staatsziel zu erheben und darauf unsere gesamte Außenpolitik aufzubauen. Im ersten Moment dachte ich, das ist ja wunderbar. Getreu dem Motto „Edel sei Deutschland, hilfreich und gut" spielen wir die Rolle der Unbefleckten in der Politik. Gerade bezogen auf unsere Vergangenheit wäre das ausgezeichnet. Im zweiten Moment dachte ich: Dieser Schuft! Er will bloß, daß wir das Gewissen der Welt spielen, und die anderen machen die guten Geschäfte. Dann fiel mir ein Beitrag aus dem niedersächsischen Landtag in die Hände, in dem sich der dortige Ministerpräsident zu diesem Thema geäußert hat. Im Protokoll heißt es da: Außenpolitik ist in erster Linie Außenwirtschaftspolitik. Das hört sich ganz anders an. Das ist natürlich das Gegenteil zu dem oben Gesagten. Diese Bemerkung ist im Niedersächsischen Landtag im Rahmen der Debatte um den Besuch von Lukaschenko von den Grünen heftig kritisiert worden. ({0}) Ich will daran nur deutlich machen, daß es hier eines von vielen Gegensatzpaaren gibt - Graf Waldburg-Zeil hat ja darauf hingewiesen -, mit denen wir in der praktischen Politik fertig werden müssen. In Wahrheit ist es doch so, daß derjenige, der die Menschenrechte in der Außenpolitik ganz groß schreibt, Gefahr läuft, schlechte Geschäfte zu machen und ökonomische Nachteile zu haben. Es gibt fast täglich irgendwelche Fälle. Gerade hat die Französische Nationalversammlung festgestellt, daß die Türken seinerzeit einen Völkermord an den Armeniern verübt haben. Die prompte Antwort der Türkei war, daß sie Verträge aufgekündigt hat. ({1}) - Aber selbstverständlich doch, Herr Kollege. Diese Problematik kennen wir schon seit dem Röhren-Embargo. Wir haben im Fall Mykonos einen Prozeß bis zum Ende geführt; wir kamen bis zu dem Punkt, wo der Staat Iran auf der Anklagebank saß. Das hat uns in gewisser Weise Schaden eingebracht. Die Österreicher und die Franzosen haben die Leute einfach ausgewiesen, weil sie Ärger und diesen Schaden vermeiden wollten. Auch wir hätten die Möglichkeit gehabt, haben es aber nicht getan. Es gibt eine Fülle von Beispielen. Betrachten Sie das Verhalten der Staatenwelt gegenüber China: Die Konfliktsituation, die da immer wieder zum Ausdruck kommt, ist nicht eindeutig zu lösen. Beim österreichischen und französischen Verhalten blieb im Falle Mykonos die Gerechtigkeit auf der Strecke. Wir haben um der Gerechtigkeit willen bestimmten Schaden in Kauf genommen. Wenn das große Geschäft winkt, dann wird der Einsatz für die Menschenrechte - das ist in der Außenpolitik offenbar immer noch so - geringer. Fast überall ist das so. Die Frage ist, ob das normal und richtig ist. Wünschenswert wäre natürlich, Herr Kollege Bindig, der Zustand, daß alle Länder gleiche Maßstäbe haben und sie gleichermaßen anlegen, so daß solche Probleme gar nicht auftauchen. Aber so ist die Welt nicht, in der wir leben. Ich fürchte, sie wird auch noch auf relativ lange Sicht anders sein. Die Universalität der Menschenrechte in diesem Sinne durchzusetzen ist ein mühsamer Prozeß. Wir müssen versuchen, mit der heutigen Situation fertig zu werden. Sollen wir uns einen wirtschaftlichen Ruin einhandeln, wenn andere Länder mit bösen Staaten gute Geschäfte machen? Das ist ein Problem. Dann denkt eben der Herr Schröder an Conti und die Arbeitnehmer in Peine und nicht an die Menschenrechte. Menschenrechtsverletzungen tauchen in der Welt leider immer wieder auf. Wir müssen versuchen, eine Balance zu finden. In der praktischen Politik ist bis heute kein Raum - ich sage es einmal so - für Schillersche Unbedingtheiten. Man kann nicht einfach sagen: Das ist richtig, und das tue ich; sei's drum.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Neumann?

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich. Bitte schön.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lummer, halten Sie es für möglich, daß wir mit China gute Wirtschaftsbeziehungen pflegen und dennoch in Menschenrechtsfragen eine klare und deutliche Sprache sprechen?

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich halte ich es für möglich, eine klare und deutliche Sprache zu sprechen. Aber Sie wissen genau, wie empfindlich die Chinesen manchmal sind. Ich will in diesem Zusammenhang gar nicht auf Deutschland rekurrieren, sondern darauf, daß in bestimmten Fällen die Amerikaner ihre Politik um des Geschäftes willen geändert haben. Herr Kollege, Sie wissen doch genausogut wie ich: In der Praxis sind wir gehalten, eine sinnvolle Balance zu finden, die der jeweiligen konkreten historischen Situation angemessen ist, solange das von Herrn Bindig als Weltverbesserer und von mir angestrebte Ziel der absoluten Universalität der Menschenrechte nicht erreicht ist. Mit der heutigen Situation müssen wir leider leben und fertig werden. Ich kann natürlich nicht sagen - das will ich gar nicht und auch Herr Schröder möglicherweise nicht -: Im Zweifelsfalle zählt nur das Geschäft. Aber ich kann auf der anderen Seite nicht umgekehrt sagen: Im Zweifelsfalle zählen nur die Menschenrechte. Ich muß die Interessen meines Landes gegenüber den Nachteilen, die mit dem Durchsetzen der Menschenrechte verbunden sind, abwägen. Wenn ich die Jahre, die hinter uns liegen, Revue passieren lasse, dann kann ich feststellen, daß Deutschland, die Regierung und das Parlament, immer die richtige Balance gefunden hat. Ich kann nur hoffen, daß dies auch in Zukunft so sein wird. In der Frage der Menschenrechte gibt es natürlich Raum für Streit, Konflikte und Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang wird die Opposition immer eine andere Rolle spielen als die Regierung. Das ist ganz klar. Aber wir müssen dabei immer die Grundfragestellung beachten und uns daran orientieren. - Das war meine Anmerkung. Ich komme nun zu meiner Anregung. Der Unterausschuß für Menschenrechte existiert seit der 11. Legislaturperiode. Es war damals eine Besonderheit, daß im Parlament ein eigenes Gremium für die Fragen der Menschenrechte zustande kam. Das ist in vielen anderen Parlamenten nicht der Fall. Die Einrichtung dieses Unterausschusses war zweifellos eine gute Entscheidung. Als ich damals in diesen Unterausschuß ging, wurde eine Frage aufgeworfen - ich räume ein, daß ich mich sehr darum bemüht habe, diese Frage anzusprechen -, nämlich die Frage der Religionsfreiheit in den osteuropäischen kommunistischen Ländern. Dieses Thema ist auch durch Wissenschaftler bearbeitet worden, und wir haben eine Dokumentation erstellt, mit dem Ziel daß Handlungsanleitungen für die Politik geschaffen werden, denn die Frage der Religionsfreiheit - wir haben das vorhin wieder gehört; auch der Bundespräsident hat sich in diesem Sinne geäußert - ist eine der wichtigen Fragen. Damals bildete diese Frage das Schwerpunktthema, und sie ist auch für die Zukunft wichtig. Vielleicht ist sie sogar eine der Gretchenfragen, weil sie mit Demokratie und ihren Grundsätzen zu tun hat. Ich sage das gerade jetzt, weil es um Religionsfreiheit in einer anderen Region mit anderen Konfliktfeldern geht, nämlich im Bereich des Islam. Die erste Frage, die sich stellt, ist die Frage nach der Volkssouveränität. Wer ist souverän in einem Staate? Wir in einer Demokratie - nicht so aber der extreme Islam - gehen davon aus, daß es das Volk ist. Für den Islam sind es Allah und der Koran. Das Parlament hat keine Entscheidungsfreiheit, allenfalls Interpretationsmöglichkeiten des Koran. Im Bereich des Islam stellt sich also die Grundfrage nach der Volkssouveränität. Die zweite Frage behandelt das Verhältnis zwischen Religion und Staat. Die dritte Frage beinhaltet den Pluralismus. Dies sind die Grundfragen, die beantwortet werden müssen. Von der freiheitlichen Demokratie glauben wir, daß sie mehr als jede andere Staatsform den Frieden sichert und menschliches Zusammenleben ermöglicht. Natürlich lauert dahinter irgendwo auch die Frage des Fundamentalismus, die Huntington aufgeworfen hat. Das ist nicht der ganze Islam; jeder weiß das. Aber solche Strömungen gibt es. Wir, die wir in Mitteleuropa leben und vom Norden Afrikas einem Bevölkerungsdruck, einer Migrationsproblematik ausgesetzt sind, werden uns dem nicht entziehen können. Wir, die wir den ganzen Mittelmeerraum als unseren Schicksalsraum betrachten, werden uns dieser Problematik nicht entziehen können. ({0}) Deshalb sollte man sich dieser Frage mit Intensität widmen. Wir haben gestern in unserer Fraktion ein Gespräch mit einigen Sachverständigen geführt, die im Iran, im Sudan und auch in der Türkei leben, und haben zum Beispiel über die dortige Situation der Christen gesprochen. Da erfährt man manchmal Dinge, die nicht nur für die Christen und vielleicht in bezug auf die Frage, ob sie verfolgt oder benachteiligt werden oder nicht, interessant sind, sondern die hinsichtlich der Grundfragen der Demokratie Relevanz haben. Ich meine - das ist die Anregung -, der nächste Deutsche Bundestag sollte sich damit beschäftigen. Da gibt es viel Raum für die Verbesserung der Welt. Wichtig dabei ist - deshalb hat dieser Begriff so einen Beigeschmack, Herr Bindig -, daß man nicht mit der Einstellung darangeht: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen! und daß man nicht mit dem Zeigefinger auf andere zeigt oder die apodiktische Reinheit der Politik propagiert. Das funktioniert in der Praxis nicht. In einem bestimmten Sinne wollen wir alle Weltverbesserer sein - gemeinsam, hoffe ich. Ich darf mich für die vielen Gemeinsamkeiten, die wir im Ausschuß hatten, bedanken. Vielleicht werde ich demnächst mit dem Kollegen Schäfer auf derselben Bank sitzen und zuhören, wie weit sich diese Gemeinsamkeit entwickelt hat. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Lieber Herr Kollege Lummer, ich habe gehört, daß das heute Ihre letzte Rede im Parlament war. Sie waren jetzt drei Wahlperioden Abgeordneter im Parlament und haben im Auswärtigen Ausschuß wertvolle Arbeit geleistet. Ich habe das selbst erlebt, als ich dort noch tätig war. Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihren Vizepräsidentin Michaela Geiger großartigen Einsatz. Wir werden Sie in diesem Parlament sehr vermissen. Herzlichen Dank! ({0}) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf, SPD-Fraktion.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf Herrn Lummer möchte ich nicht eingehen, aber auf Frau Falk. Frau Falk, Sie haben mit Recht angesprochen, daß es zum Thema Menschenrechte viele gemeinsame Anträge gegeben hat. Sie haben heute auch unseren gemeinsamen Antrag gegen die Genitalverstümmelung von Frauen vorgestellt. Ich bin sehr froh, daß wir diesen gemeinsamen Antrag erreicht haben. Sie haben aber in einem Punkt die Lorbeeren etwas zu großzügig verteilt. Diese Anträge sind zustande gekommen, well sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier zusammengesetzt haben, um bei diesem Thema etwas voranzubringen, nicht die Bundesregierung. ({0}) Das gleiche gilt natürlich auch für das Thema Vergewaltigung in der Ehe. ({1}) Ich möchte aber diese Debatte für ein anderes Thema nutzen und ein Beispiel für eine Menschenrechtsverletzung in unserem Land einbringen. Ich setze auf diese Debatte heute und hoffe, daß es vielleicht möglich ist, in diesem Fall noch zu helfen und Schlimmeres zu verhindern. Ich spreche von einem Einzelfall, der mich sehr bewegt, und ich hoffe, wie gesagt, daß wir ihn von hier aus noch beeinflussen können. Wenn nicht, müßte ich mich für diese Republik und für das Land Bayern sehr schämen. Es geht um den Fall der Kurdin Tülay O. und um den § 19 des Ausländergesetzes, den wir vor einigen Wochen hier verändert haben. Frau O. lebt in Kempten. Ihre zwei Kinder sind in Kempten geboren. Sie kann sich und ihre Kinder selbst versorgen. Sie ist integriert. Ihr Ehemann hat sie physisch und psychisch mißhandelt. Er hat ihr die Nahrung vorenthalten, sie einer ungeheizten Wohnung ausgesetzt, sie mit dem Messer bedroht und verletzt. Er hat sie krankenhausreif geschlagen und jahrelang wie eine Sklavin gehalten. Deshalb hat sie sich von ihm scheiden lassen und so ihr abhängiges Aufenthaltsrecht verloren. Ein Bleiberecht oder gar ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wird ihr von der Bayerischen Staatsregierung vorenthalten. ({2}) Der bayerische Innenstaatssekretär diese Woche: Frau O. ist vollziehbar ausreisepflichtig und daher abzuschieben. Und weiter: Es besteht daher kein Raum für ein Zuwarten bis zu einer endgültigen Entscheidung durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Das Opfer wird also auch noch bestraft. Meine Damen und Herren, für welche Fälle haben wir eigentlich die Härtefallklausel in § 19 des Ausländergesetzes geändert? ({3}) Selbst nach dem Gesetzentwurf der Koalition vom 18. Juni 1996 ist dies ein Härtefall. Dort heißt es unter anderem: Fälle einer außergewöhnlichen Härte können insbesondere dann gegeben sein, wenn der nachgezogene Ehegatte wegen physischer oder psychischer Mißhandlung durch den Ausländer die eheliche Lebensgemeinschaft aufgehoben hat. Über den Geist dieser Härtefallklausel waren wir uns also in diesem Hause einig. Trotzdem stuft das bayerische Innenministerium diese Mißhandlungen lediglich als „sehr unglückliche Ehe" ein. Welch ein Eheverständnis! Warum aber kann die Bayerische Staatsregierung so menschenverachtend handeln? Überfällige Durchführungsvorschriften fehlen. Hier hat die Bundesregierung eben nicht gehandelt. Sie hat verschleppt, verzögert - wohl auch aus Rücksicht auf die CSU. In keinem anderen Bundesland würden diese Mutter und ihre beiden Kinder abgeschoben. ({4}) Bayern kann sich also offenbar wieder einen Sonderweg erlauben. Daher sage ich: Die Bundesregierung verletzt Menschenrechte. Sie schützt Frauen nicht vor Gewalt, wenn sie Ausländerinnen sind. Menschenrechte aber sind unteilbar. ({5}) - Deswegen appelliere ich hier heute, Einfluß dahin gehend zu nehmen, daß in diesem Falle ein Gesetz, das wir gemeinsam verabschiedet haben, zur Ausführung kommt. In dem Bericht der Vierten Weltfrauenkonferenz von Peking heißt es in Kapitel IV: Der Begriff „Gewalt gegen Frauen" bezeichnet jede Handlung geschlechtsbezogener Gewalt, die der Frau körperlichen, sexuellen oder psychischen Schaden oder Leid zufügt oder zufügen kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung in der Öffentlichkeit oder im Privatleben. Auch hier haben wir alle zugestimmt, auch Frau Ministerin Nolte. Hanna Wolf ({6}) Für die Interpretation der Bayerischen Staatsregierung ist dies aber bedeutungslos. Die Frau muß drei Jahre in Deutschland verheiratet sein, und sollte sie das Ende dieser drei Jahre nicht erleben, hat sie eben Pech gehabt. Ich kann dies nur so drastisch ausdrücken, weil der Zynismus, der uns hier begegnet, nicht mehr zu überbieten ist. Die CSU geriert sich landauf, landab geradezu als Erfinderin des Opferschutzes. Was tut sie aber wirklich? Sie bestraft Opfer, in diesem Fall eine Mutter und ihre zwei Kinder. Sie versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor der Rechtsweg ausgeschöpft ist. ({7}) Sie verhindert eine ordentliche Rechtsfindung. In ihrer paronoiden Angst vor Gesetzesmißbrauch verhindert sie einen vernünftigen Gebrauch gültiger Gesetze. ({8}) - Nein, nicht wider besseres Wissen. In Bayern ist man empört. In Kempten gibt es eine Bürgerinitiative. Der Stadtrat hat eine Resolution verabschiedet, in der er an den bayerischen Innenminister appelliert, der Mutter und ihren Kindern wenigstens Aufschiebung zu gewähren, damit das Unrecht nicht Rechtskraft bekommt. ({9}) Hier wird ein Exempel statuiert und eine Frau nicht vor Gewalt geschützt, die auch in ihrem Heimatland sehr gefährdet ist und deren Kinder dort keine Zukunft haben.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da frage ich nach. dem Verständnis der Bayerischen Staatsregierung vom Schutz der Familie. Dieser gilt anscheinend nur für deutsche Familien. Deswegen erfolgte in dieser Menschenrechtsdebatte dieser Beitrag von mir. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Kommen Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist weit überschritten. ({0})

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bei meinem letzten Satz. Erlauben Sie mir, daß ich mich angesichts dieses Falles hier errege. Es geht darum, daß wir noch einmal auf die Bayerische Staatsregierung Einfluß nehmen. Ich bitte die Bundesregierung und das Parlament, daß dieser Mutter und ihren Kindern nicht Unrecht geschieht und sie in Deutschland bleiben können. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Neumann, SPD-Fraktion.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann sehr gut verstehen, Hanna Wolf, daß du hier erregt sprichst. Denn der Einsatz für Menschenrechte gilt überall, nicht nur in der Welt draußen, sondern natürlich auch im eigenen Land. ({0}) Vielleicht gibt uns diese Schilderung Anlaß, in der nächsten Legislaturperiode darüber nachzudenken, ob es nicht doch sinnvoll ist, einen eigenen Menschenrechtsausschuß zu bilden. Diese Diskussion gab es immer am Anfang einer Legislaturperiode. Vielleicht sollten wir noch einmal darüber nachdenken. Ich möchte aber, wie es schon angekündigt worden ist, am Ende etwas Versöhnliches sagen. Auf einer internationalen Konferenz zu Tibet und Burma, die vor kurzem aus Anlaß des 350. Jahrestages des Westfälischen Friedens in Osnabrück stattfand, hat ein Teilnehmer aus Burma gesagt, „große Hoffnungen und Bescheidenheit in Einklang bringen", das sei Voraussetzung für Menschenrechtsarbeit. Da liegt auch unser persönliches Problem bei den Bemühungen um den bestmöglichen Weg zur Durchsetzung von Menschenrechten: „große Hoffnungen und Bescheidenheit in Einklang bringen." In dieser Woche gehöre ich dem Bundestag seit 20 Jahren an, wenn auch mit Unterbrechungen. Von Anfang an habe ich im Unterausschuß für humanitäre Hilfe, wie er zuerst hieß, und dann im Unterausschuß für humanitäre Hilfe und Menschenrechte mitgearbeitet und durfte auch vier Jahre lang in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates mitarbeiten. Dessen Arbeit wird in unserem Parlament nicht richtig gewürdigt, obwohl es kaum eine Institution gibt, die soviel wie diese für Menschenrechte und Demokratie in Europa tut. Ich bin froh, daß die Präsidentin Leni Fischer an dieser Debatte teilnimmt. ({1}) Ich habe inzwischen gelernt, daß nicht nur Bescheidenheit und Geduld, sondern auch ein langer Atem auf dem mühsamen Weg der kleinen Schritte zur Verwirklichung der Menschenrechte gehören. Menschenrechte und Demokratie sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir haben in den Debatten der letzten 20 Jahre und auch heute wieder stets „gefordert, appelliert, angemahnt, gerügt, verurteilt und kritisiert". Deshalb möchte ich denen, die nach uns diese Arbeit machen, ja machen müssen, ein bißchen Mut maVolker Neumann ({2}) chen und ihnen sagen, daß wir in den letzten Jahren Erfolge erzielt haben. Ich sage dies auch mit etwas Stolz, übrigens auch mit Stolz auf den gesamten Bundestag; denn wir sind in Menschenrechtsfragen immer dann stark gewesen, wenn wir gemeinsam gehandelt haben, und schwach gewesen, wenn wir uns gestritten haben. ({3}) Da stehen einzelne Menschen beispielhaft für diese Erfolge; diese Menschen haben aber viele, uns oft unbekannte Weggefährten gehabt. Ich denke etwa an Nelson Mandela, Vaclav Havel, Kim Dae Jung und Lech Walesa; auch Cory Aquino auf den Philippinen und Andrej Sacharow gehören dazu. Mandela, Havel, Walesa, Aquino und Kim Dae Jung sind Staatsoberhäupter geworden. Andere sind befreit worden, vor kurzem etwa Wei Jingsheng und Wang Dan in China, in Indonesien unser früherer Parlamentskollege Sri Bintang Pamungkas und der Gewerkschafter Muchtar Pakpahan. Das alles waren Erfolge der Solidarität der demokratischen Parlamente. Wir begleiten auf ihren schweren Wegen den Dalai Lama aus Tibet, Bischof Belo aus Osttimor und Aung San Suu Kyi aus Burma. Auch dies sind nur Beispiele. An dieser Stelle darf aber auch die für mich schlimmste Niederlage nicht verschwiegen werden, die wir erlitten haben: der Mord an Ken Saro Wiwa und seinen Freunden. ({4}) Doch auch wenn wir manchmal hilflos und wütend zusehen müssen, wie Menschen inhaftiert, gefoltert oder auch getötet werden, nur weil sie Menschenrechte für ihr Volk einfordern, so zeigen doch diese kleinen Erfolge, daß sich das Engagement der Demokraten lohnt. ({5}) Auch das Menschenrechtssystem hat sich nach dem Zusammenbruch eines Teils des kommunistischen Machtbereichs - ich nehme ausdrücklich China, Nordkorea, Vietnam und Kuba aus - ständig verbessert. Wenn es stimmen sollte, daß der Fortschritt eine Schnecke ist, so gilt das insbesondere für das internationale Recht. Aber das Individualbeschwerderecht der Menschen ist vervollkommnet worden, die Antifolterkonvention gilt - übrigens auch im UN-System -, wir machen, wenn auch viel zu langsame, Fortschritte beim Kampf gegen die Todesstrafe, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird am 1. November seine Arbeit aufnehmen. Besonders wichtig ist, daß die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte nach der Wiener Konferenz in der Welt kaum mehr ernsthaft bestritten werden. Wir haben ein Menschenrechtszentrum in Genf und eine Hochkommissarin erreicht; Herr Staatsminister Schäfer hat darauf hingewiesen. Die Nichtregierungsorganisationen erhalten immer mehr Stimme und Gewicht, und zwar nicht nur bei der Menschenrechtskommission, sondern auch bei unseren Beratungen im Bundestag. Auch eine andere Institution, von der wir nie geglaubt hätten, daß sie Wirklichkeit wird, könnte eingerichtet werden. Seit Montag tagt in Rom die Konferenz zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Es ist ein großer Fortschritt, daß wir 53 Jahre nach den Nürnberger Prozessen endlich soweit gekommen sind. Ich hoffe sehr, daß die Konferenz erfolgreich verläuft. Jetzt müssen wir - da meine ich insbesondere die Regierung - alles Mögliche tun, damit es zu einer Einigung kommt. Denken wir an die Opfer der schrecklichen Verbrechen in Ruanda und Jugoslawien, aber auch im Sudan und in Kambodscha, dann wird klar: Die Welt braucht dringend einen internationalen Strafgerichtshof, der unabhängig ist, der effektiv ist und bei dem sich einzumischen keinem Staat erlaubt ist. Wir brauchen keinen Papiertiger. ({6}) Jetzt hat die internationale Gemeinschaft die Chance, die Grundlage für mehr Gerechtigkeit in der Zukunft zu legen. So sind wir: Am Ende habe auch ich wieder gefordert. Wahrscheinlich müssen wir es alle lernen: „große Hoffnungen und Bescheidenheit in Einklang bringen". Ich bedanke mich. ({7})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Ich bitte die Kollegen um etwas Geduld, da es jetzt eine ganze Reihe von Abstimmungen geben wird. Wir kommen zunächst zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Beschneidung von Mädchen und Frauen auf Drucksache 13/10 682. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage zur Beschneidung von Mädchen und Frauen, Drucksache 13/10682, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/9401 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ächtung von Vizepräsidentin Michaela Geiger Genitalverstümmelungen und zum Schutz von Mädchen und Frauen, Drucksache 13/10682, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/9335 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem 4. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen, Drucksachen 13/8861 und 13/10 688. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Regierungserklärung zur Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen, Drucksache 13/9056. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/6400 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Unterstützung der weltweiten Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe, Drucksache 13/9055. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 6060 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Durchsetzung der Frauendiskriminierungskonvention, Drucksache 13/10068. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur weltweiten Stärkung der Frauenrechte, Drucksache 13/7210. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3151 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Bestellung eines Menschenrechtsbeauftragten des Deutschen Bundestages und zur Einrichtung eines Rates für Menschenrechte, Drucksache 13/7547. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4749 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/ CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Umsetzung der Aktionsplattform von Peking auf Drucksache 13/10061. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7070 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Errichtung eines Menschenrechtsinstituts, Drucksache 13/10 882. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Einrichtung eines Deutschen Koordinierungsrats für Menschenrechte auf Drucksache 13/10975. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. zur Verstärkung deutscher Beiträge zur Konfliktverhütung und Friedenserhaltung in Afrika, Drucksache 13/10980. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur Freilassung aller politischen Häftlinge und Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Nigeria, Drucksache 13/10 979. Wer stimmt für diesen Antrag? -Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Damit sind wir am Ende der zahlreichen Abstimmungen. Ich bedanke mich und rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Brenner-Blockade auf den deutschen und europäischen Transitverkehr. Ich eröffne die Aussprache und weise nochmals darauf hin, daß eine Redezeit von maximal fünf Minuten vorgesehen ist. Das Wort hat der Abgeordnete Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was wir am vergangenen Wochenende am Brenner erlebt haben, war nur ein Anfang. Es war der Anfang vom Ende der Geduld der Menschen, die seit Jahren den zunehmenden Transitverkehr über die Alpen ertragen müssen, die seit Jahren wachsende Verlärmung und Luftverschmutzung hinnehmen müssen, denen seit Jahren regelmäßig Versprechungen hinsichtlich einer Beschränkung der Lkw-Lawinen gemacht wurden, die ebenso regelmäßig nicht eingehalten wurden. Tatsächlich hat die Zahl der Lastwagen, die auf der Brenner-Achse durch die Alpentäler donnern, seit 1990 fast um die Hälfte, nämlich auf 1,2 Millionen Fahrzeuge pro Jahr, zugenommen. Den Prognosen zufolge soll sie sich bis zum Jahre 2010 noch einmal mehr als verdoppeln. Deshalb ist es nicht nur verständlich, sondern richtig und notwendig, wenn die Menschen dagegen protestieren, und zwar auch mit spektakulären Maßnahmen. ({0}) Wen wundert es, daß zahlreiche Gemeinden, Verbände, sämtliche Parteien - der Bischof von Innsbruck, meine lieben Kollegen von den Christsozialen, sprach von einem Aufschrei der betroffenen Menschen -, daß alle unter der Führung des Transitforums wenigstens für einige Stunden eine symbolische Notbremse gezogen haben, indem sie diese Achse blockierten, was übrigens keineswegs zu dem befürchteten Chaos geführt hat? Wen wundert es? Es wunderte den deutschen Verkehrsminister. Es wunderte ihn nicht nur, sondern es veranlaßte ihn dazu, sich höchstselbst einzumischen. Per Telefax meinte Herr Wissmann im Tonfall eines römischen Statthalters in der Provinz Austria intervenieren zu müssen, indem er seinen österreichischen Kollegen Caspar Einem in einem Fax darum bat, „alles in Ihrer Macht Stehende zu veranlassen," - so hat er geschrieben - „um die Blockade zu unterbinden." Diese behindere den freien Warenverkehr. Man stelle sich einmal den umgekehrten Fall vor: Der österreichische Verkehrsminister fordert den deutschen Verkehrsminister dazu auf, Castor-Transporte per Bahn zu unterbinden, weil sie die Gesundheit der Menschen gefährden. Ich kann mir den Aufschrei der Empörung bei der deutschen Bundesregierung lebhaft vorstellen. ({1}) Sodann fühlte sich Minister Wissmann dazu berufen, die Forderungen der Speditionswirtschaft nach Schadenersatz öffentlich für berechtigt zu erklären. ({2}) Seine bayerischen Kollegen Otto Wiesheu und Adolf Dinglreiter sekundierten, indem sie die Österreicher der Erpressung und der Geiselnahme von Touristen beschuldigten. ({3}) Herr Brunnhuber, dies zeigt nur, wie wenig Sie Parteichristen von dem berechtigten Anliegen der Menschen überhaupt verstanden haben - nämlich gar nichts. Denn die Bewohner der Alpentäler sind es doch, die vom Straßenverkehr als Geiseln genommen werden, indem sie Tag und Nacht Lärm und Gestank ertragen müssen. Bei wem können diese Menschen eigentlich ihre Schadenersatzansprüche für die erlittenen Einbußen an Lebensqualität und Gesundheit einklagen? - Das wäre die Frage, die sich Wissmann einmal stellen sollte. ({4}) Aber das ist noch nicht alles. Auch an anderer Stelle, nämlich beim Alpentransit durch die Schweiz, als eine Einigung zwischen der Europäischen Union und der Alpenrepublik nach mühsamen Verhandlungen zustande gekommen war - und zwar bewegte sie sich an der untersten Grenze dessen, was für die Schweiz überhaupt noch tolerabel war -, war es niemand anders als der deutsche Verkehrsminister, der mit seinem Veto diese Einigung maßgeblich torpediert hat - und zwar mit so blöden Sprüchen wie: Die Schweiz wird schließlich von Europa umgeben und nicht umgekehrt. ({5}) Ich kann Ihnen, Herr Brunnhuber, nur sagen: Mit solchen Äußerungen hat sich Ihr Minister zum Stichwortgeber der europafeindlichen Rechtsaußen in der Schweiz gemacht, die schon immer gewußt haben wollen, daß man von Europa nur gedemütigt wird. Er hat im Umgang mit der Schweiz und mit Österreich nicht nur verkehrspolitisches, sondern auch europaund außenpolitisches Porzellan zerschlagen. Das ist die Realität. ({6}) - Sie sollten allmählich begreifen, daß geographische und politische Fragen eine unterschiedliche Sensibilität erfordern. Die Bundesregierung ist mit ihrer Transitpolitik gescheitert. Statt sich endlich für eine europaweite Schwerverkehrsabgabe stark zu machen, ({7}) damit durch faire Transportpreise die Güter von Rotterdam bis Genua, von Hamburg bis Milano auf die Schiene kommen, ({8}) machen Sie sich zum Büttel der Speditionswirtschaft, statt endlich Vorfahrt für die Gesundheit der Menschen zu verlangen, stellen Sie ein falsch verstandenes wirtschaftliches Interesse an die oberste Stelle, und statt dazu beizutragen, daß die Brenner-Eisenbahn mit ihren Zulaufstrecken schleunigst auf das technisch Mögliche an Kapazität ausgebaut wird - das wäre mehr als das Doppelte der heutigen LeiAlbert Schmidt ({9}) stungsfähigkeit -, phantasieren Sie als Alibi fürs Nichtstun von einem Basistunnel, von dem dieser Minister genau weiß, daß er überhaupt nicht bezahlbar ist. Die Menschen in Tirol durchschauen dieses Spiel - und nicht nur die Menschen in Tirol. Sie werden sich wieder und immer wieder auf die Autobahn setzen - so lange, bis sich endlich diese falsche europäische Verkehrspolitik ändert. Wir werden an ihrer Seite sein - und das ist ganz wörtlich gemeint. Das vergangene Wochenende, liebe Kolleginnen und Kollegen, war nur ein Anfang. ({10})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat nun der Abgeordnete Claus-Peter Grotz, CDU/CSU- Fraktion.

Prof. Claus Peter Grotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000736, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der Beitrag des Kollegen Schmidt hat deutlich gemacht, weshalb die Fraktion der Grünen diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Denn von der Forderung „5 DM für den Liter Benzin" über eine Kontingentierung von Urlaubsflügen bis hin zur Sympathie für eine rechtswidrige Verkehrsblockade führt ein roter Streifen. Ich kann nur davor warnen, eine solche grüne Verkehrspolitik, die häufig in Koalitionen von der SPD geduldet wird, hinzunehmen. ({0}) Was am vergangenen Wochenende stattfand, war ein klarer Rechtsbruch. Der Rechtsbruch bestand doch auch darin, daß zum Teil die Polizei die Straßen vor den Blockierern abgesperrt hat. Österreich ist, als es Mitglied der Europäische Union wurde, Verpflichtungen eingegangen. Es kann ja wohl nicht angehen, daß ein Mitgliedsland der Europäischen Union mit der einen Hand alles nimmt, was die Europäische Union gibt, und mit der anderen Hand eine Politik der Kleinstaaterei und - so sage ich es mal - einen Rückfall in mittelalterliche Wegelagerei betreibt. ({1}) Worum geht es? Auf Grund der Sensitivität von Österreich als Transitland gibt es ja mittlerweile die bewährte Ökopunkteregelung - eine Regelung, die dazu geführt hat, daß insbesondere das deutsche Speditions- und Transportgewerbe seine Fahrzeugflotte aufwendig nachgerüstet hat, so daß heute 98 Prozent der Lkws, die nach und durch Österreich fahren, als lärm- und schadstoffarm eingestuft sind. Das war eine große Leistung. Darüber hinaus gibt es die Brenner-Maut, die vergangene Woche - ich glaube, das war ein wichtiges Datum - zu einer Anklage wegen Vertragsverletzung durch die Europäische Kommission geführt hat. Ich halte das für richtig. Wir brauchen Österreich als Transitland. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, dies deutlich zu machen. Insofern unterstütze ich die Reaktion des Bundesministers, ({2}) der seinen österreichischen Kollegen darauf hingewiesen hat, daß die Verträge der Europäischen Union Freizügigkeit vorsehen, und den zuständigen Kommissar in Brüssel aufgefordert hat, das Recht durchzusetzen. Denn die Verkehrsbelastungszahlen in Österreich sind, verglichen mit denen bundesdeutscher Straßen, gering. Während es in Österreich um eine Verkehrsbelastung von 30 000 Fahrzeugen pro Tag geht, beträgt die Verkehrsbelastung beispielsweise an einem Brennpunkt wie dem Leonberger Dreieck 117 000 Fahrzeuge. Es ist also nicht so, daß die Verkehrsbelastung in Österreich höher ist. ({3}) - Das ist kein Trost, aber es zeigt die Relationen. Es kann nicht die Lösung des Problems sein, daß sich ein Mitgliedsland der Europäischen Union ausklinkt und so die anderen quasi blockiert. Denn Verkehr bedeutet für Österreich auch Entschließung und Entwicklung. Ein Wirtschafts- und Tourismusland wie Österreich sollte vorsichtig sein, daß es sich hierbei nicht in das eigene Fleisch schneidet. Mein Umkehrschluß ist anders als der Ihre: Ich frage, was das österreichische oder das schweizerische Gewerbe sagen würde, wenn wir ähnliche Blokkaden machten, mit denen wir ausschließlich das jeweils andere Land treffen, während das einheimische Gewerbe bevorzugt wird. Insofern halte ich die Reaktion der Bundesregierung für richtig, für angemessen. Ich erwarte von der Bundesregierung, daß sie ganz klar die Interessen unseres Landes und die Interessen des Gewerbes, für das eine solche Blockade wirtschaftliche Einbußen bedeutet, vertritt. Vielen Dank. ({4})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat die Abgeordnete Angelika Graf, SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es gleich eingangs: Ich bin sehr unglücklich darüber, daß die Sperrung der Brenner-Autobahn am vergangenen Wochenende stattgefunden hat, unglücklich darüber, daß es soweit gekommen ist. ({0}) Aber ich teile die Meinung des BUND-Vorsitzenden, Hubert Weinzierl, der gesagt hat: Eine lahmgelegte Autobahn ist die Folge einer lahmen Verkehrspolitik. - Recht hat er. ({1}) Angelika Graf ({2}) Kaum jemand abseits der Strecke hätte - auch das muß man sehen - das Problem der unaufhaltsam wachsenden Verkehrsströme in dieser Region wirklich wahrgenommen, wenn es nicht diese Sperrung gegeben hätte. Tatsache ist, daß der Grund für diese Demonstration auf der Autobahn nicht von heute auf morgen vom Himmel gefallen ist. 73 Prozent der Tonnage im Straßengüterverkehr von der Bundesrepublik nach Italien liefen 1994 über den Brenner. 1990 wurde die Anzahl der Lkw-Transitfahrten über den Brenner mit 850000 angegeben; 1997 waren es mehr als 1,2 Millionen Fahrten. Das ist eine Steigerung um 43 Prozent innerhalb von sieben Jahren. Stündlich sind das im Durchschnitt 170 Lkws, die an den Menschen vorbeidonnern - alle 20 Sekunden einer. Diese Belastungen sind der Grund dafür, daß die Menschen über alle Parteigrenzen hinweg dort buchstäblich auf die Straße gehen. Kein Politiker in Tirol - da gebe ich dem Kollegen Schmidt ausdrücklich recht - kann diese Belastung auf die Dauer negieren und es sich leisten, die Belange der Bevölkerung nicht wahrzunehmen. Die Menschen sehen auch, daß die im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der EU ausgehandelten Ziele zur Reduzierung der Schadstoffbelastung im Prinzip nur warme Luft waren. Der Anteil der Schiene am Gütertransport ist erschreckend gering. Nur knapp über 30 Prozent werden auf der Schiene befördert. Deswegen teile ich die Ansicht derjenigen, die fordern: Die europäischen Verkehrspolitiker sollten endlich erkennen, daß der Tag und Nacht durch die Täler donnernde Transitverkehr eine ganz andere Qualität hat als der in der Ebene und daß wir für dieses Problem gesamteuropäische Lösungen suchen müssen. Diese Lösungen müssen kurz- oder zumindest mittelfristig eine Entlastung auf dieser Strecke bringen. Der Brenner-Basistunnel bedeutet derzeit keine Entlastung; denn er wird frühestens im Jahre 2010 fertiggestellt werden können. Bis dahin hat sich der Transitverkehr über die Alpen aber verdoppelt. ({3}) Deswegen ist es maßlos arrogant, wenn der deutsche Verkehrsminister seinen österreichischen Kollegen auffordert, die Demonstration zu unterbinden, die übrigens so illegal nicht war, wie Sie uns gerne glauben machen möchten. Immerhin hat die konservative Landesregierung von Tirol ihre Zustimmung erteilt. Auch Ihr Parteifreund Wendelin Weingartner hat dort gesprochen. ({4}) Im übrigen weise ich darauf hin, daß die Sperrung der Autobahn, liebe Kollegen speziell von der CSU, wahrhaftig kein Novum ist. Im Februar 1984 zum Beispiel haben Fuhrunternehmer wegen der Zollabfertigung in Italien den Grenzübergang Kiefersfelden gesperrt. ({5}) Sie wurden dort besucht - man höre und staune - von dem örtlichen Bundestagsabgeordneten Graf Huyn ({6}) und von Franz Josef Strauß. Wenn man dem „Kölner Stadt-Anzeiger" traut, kann man sagen: Er hat ihnen gut zugeredet, sich da entsprechend einzusetzen. Die heutige Verkehrssituation am Brenner verlangt eine kurzfristige Lösung, das heißt günstige Trassenpreise, besseres Wagenmaterial, modernere Lokomotiven, die das Umspannen am Brenner unnötig machen, und eine zügige Abwicklung des Gütertransports in Richtung Italien. ({7}) Versorgen Sie die sensiblen Bahnstrecken in Deutschland mit einem obligatorischen Lärmschutz, damit die Menschen, die an diesen Strecken wohnen, den Schienenverkehr dort auch akzeptieren. Sorgen Sie dafür, daß durch streckenabhängige Lkw-Gebühren in Europa endlich der Anreiz geschaffen wird, lange Strecken von Nord nach Süd auf der Schiene zurückzulegen. ({8}) Kämpfen Sie mit uns gegen unsinnige Transporte und für eine Akzeptanz der Schienentransporte. Vor allem: Polemisieren Sie nicht gegen Menschen, die sich ihrer Haut wehren. Vergessen Sie nicht: Europa heißt für manche Menschen in diesen Tälern: stündlich 170 Lkws vor dem Schlafzimmerfenster. Ändern wir die Transitsituation im Alpenverkehr, dann klappt es in dieser Region vielleicht auch mit Europa. ({9})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat der Abgeordnete Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Albert Schmidt hat eröffnet: Das war nur der Anfang. ({0}) Man muß allerdings fragen: Mit welchen Mitteln soll es weitergehen? ({1}) Ist tatsächlich jedes Mittel gerecht? ({2}) Ist jedes Mittel legitimiert? Das ist im Endeffekt der Prüfstein. ({3}) Es ist fast ein Treppenwitz der Geschichte, daß man sich in dem Land, in dem zwei Drittel des kompletten EU-Verkehrs stattfinden, mit dem erhobenen Zeigefinger von außen sagen lassen muß: Aber wehren dürft ihr euch gegen Maßnahmen, die eure Wirtschaft, die die Freizügigkeit des Verkehrs betreffen, eigentlich nicht. Ihr müßt akzeptieren, daß andere bei der Zusammenarbeit in Europa etwas machen, was - zumindest aus meiner Sicht - an der Grenze der Legalität ist. - Der europäische Wirtschaftsraum braucht ein leistungsfähiges europäisches Verkehrsnetz. Man muß es aber auch verwirklichen. Die streckenbezogene Lkw-Gebühr in der EU ist nicht am Widerstand Deutschlands gescheitert - wenn ich recht informiert bin -, sondern an dem Widerstand anderer, die uns in Sonntagsreden erklären, wie es funktioniert. Warum führen wir diese Gebühr in Europa dann nicht ein? ({4}) Es scheitert nicht an uns, die zeitbezogene Lkw-Vignette in eine streckenbezogene Lkw-Gebühr umzuwandeln. ({5}) Liebe Freunde, meine Damen und Herren, die mit dem Alpentransit verbundenen Fragen füllen inzwischen dicke Aktenordner, waren immer wieder Gegenstand großer und kleiner Debatten. ({6}) Daß nun ausgerechnet die Grünen eine Aktuelle Stunde beantragt haben, um hier ihre Vorstellungen von Verkehrspolitik - wenn man sie so nennen darf - zu plazieren und dem Bundesverkehrsminister und der Koalition Vorwürfe zu machen, verwundert im Endeffekt nicht; ({7}) denn sie springen derzeit auf jeden Protest auf, der sich im Verkehrsbereich regt. Ab und zu stürzen Sie auch ab. ({8}) Wenn sich ein großer Teil der Anstrengungen gegen den Straßenverkehr richtet, bekämpfen Sie unter Hintanstellung bestimmter Prüfmechanismen, die ich gern empfehlen würde, auch den Widerstand und die Frage, die lautet: Welches ist die Konsequenz in Form von Schadensersatz- und anderen berechtigten Forderungen derer, die sich dadurch gestört fühlen? Herr Kollege Schmidt, das Problem ist folgendes: Eine Blockade des Brenners durch verschiedene Organisationen - wenn eine konservative Partei aus Österreich daran teilnimmt, macht das das Ganze nicht besser - ist aus meiner Sicht ein ernst zu nehmender Vorgang. Wir, die F.D.P., haben uns dazu öffentlich geäußert. Die Blockade hat allen Beteiligten und Betroffenen geschadet. ({9}) Das ist aus unserer Sicht kein legitimes Mittel der Politik. Herr Kollege Schmidt, die wirklich Leidtragenden waren die Anwohner der Umwegstrecken, die Transportunternehmer, die Lkw-Fahrer und deren Familien, die Touristen und die Tourismuswirtschaft und letztlich der gesamte Prozeß der europäischen Einigung in bezug auf eine gleichmäßige Verteilung der Ströme. Wer eine solche Blockade organisiert und genehmigt, muß aus meiner Sicht zwischen Demonstrationsfreiheit einerseits ({10}) und volkswirtschaftlichem und politischem Schaden andererseits abwägen und maßhalten. Wir, die F.D.P., haben den Eindruck, daß die Blockade unangemessen war, daß sie ein negatives Signal insbesondere vor dem Übergang der EU-Ratspräsidentschaft auf Österreich war. Ein Land, das sich anschickt, die Präsidentschaft zu übernehmen, sollte sich erst recht fragen, mit welchen Mitteln welche politischen Ziele durchzusetzen sind. ({11}) Wer - wie die Grünen - die Blockade mit Begriffen wie Notwehr gegen alltägliche Körperverletzung zu rechtfertigen versucht, ({12}) macht klar, daß er ein gestörtes Verhältnis zu Mehrheiten und vor allen Dingen zu Gewalt hat. Das ist die eigentliche Botschaft. ({13}) Aus meiner Sicht zeigt sich wieder einmal, daß die sonst so pazifistischen Grünen nicht zimperlich sind, wenn es um die Durchsetzung und Verbreitung ihrer politischen Ziele geht. Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit. ({14})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, PDS, das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Belastungen am Brenner, aber auch an der Tauernautobahn und an anderen alpenquerenden Straßen sind unerträglich. Man kann als Formel für den Brenner nehmen, daß sich die Tonnage und die Zahl der brennerquerenden Lkw alle zehn Jahre verdoppelt hat, von 2,7 Millionen Tonnen im Jahre 1965 auf 26 Millionen Tonnen im Jahre 1997. Dagegen hat die Bahn ihren Anteil von 50 Prozent im gleichen Zeitraum auf ungefähr ein Viertel reduziert. Dies ist kein Resultat einer steigenden Lebensqualität in Europa. Es ist vor allem Resultat einer steigenden Transportintensität, wo der gleichen Zahl von Gütern eine bedeutend größere Menge von Tonnenkilometern, von Fahrtkilometern inkorporiert wird. Das Beispiel der permanent wachsenden größeren Arbeitsteilung in Europa ist bekannt. Ein extremes Beispiel ist Schweinefleisch aus den Niederlanden, das tonnenweise nach Südtirol gefahren wird, dort mit dem Stempel „Geselcht in Südtirol" versehen wird und zurück nach Deutschland oder in die Niederlande gelangt. Die Zustandsbeschreibungen in Flugblättern des Transitforums sind zutreffend. Herr Grotz, ich möchte darauf verweisen, daß Leonberg nicht mit dem Brenner verglichen werden kann. Ich zitiere aus dem Flugblatt: In der extremen Alpenregion Tirol sind beispielsweise nur 4 % ({0}) der Landesfläche eben. Auf dieser Fläche leben 80 % der Bevölkerung, konzentrieren sich 90 % der Arbeitsplätze sowie der Großteil der Autobahnen, Bundesstraßen und Eisenbahnen. ... Der grenzüberschreitende Verkehr ({1}) auf der Strecke Kufstein-Brenner hinterläßt täglich ({2}) rund 50 000 kg an Abgasen. ... Zuviel für die Menschen und die Natur in diesem Lebensraum. ({3}) Der Widerstand der Menschen wächst, wie es von einer Rednerin und einem Redner dargestellt wurde. Die erste Erfahrung war übrigens eine technische, als im Jahre 1990 die Kufstein-Autobahnbrücke wegen - wie es so hübsch hieß - Auskolkung - was eher ein Problem des dort verwandten Spannbetons war - geschlossen war. Damals war in Südtirol ein Jahr lang Ruhe. Die Menschen haben festgestellt: Der Tourismus hat in diesem Bereich nicht gelitten. Aber sie haben eine himmlische Ruhe verspürt. Wenn jetzt, im Jahre 1998, das deutsche Transportgewerbe sagt, dies war „kollektive Nötigung" und dies von zwei Rednern der Koalition so ähnlich dargestellt wurde, halte ich das für eine peinliche Entgleisung. Eine Nötigung ist im Grunde das, was die Kfz- und Lkw-Lawine anrichtet. Eine Nötigung ist diese Art von zerstörerischem Verkehr. ({4}) Es war Luis Dunnwalder von der SVP, der Südtiroler Volkspartei, der gesagt hat: Brüssel muß eine Lösung zur Reduktion des alpenquerenden Auto- und Lkw-Verkehrs finden, sonst wird das Volk hier rebellieren. SVP - konservative Partei! Ich habe im Jahr 1995 die Blockade selber mitgemacht. Ich habe damals mit Rudi Benedikter, Gemeinderat der Grünen in Bozen, folgendes Interview geführt. Meine Frage lautete: „Was für Leute waren das gestern bei der Blockade?" - Rudi Benedikter: „Es war ein Gemisch von Anrainern - der Bevölkerung aus dem Wipptal, darunter 19 Bürgermeister aus dem Tal. Die kamen mit ihren Musikkapellen anmarschiert. Und dann waren da die Aktiven aus all den Umweltverbänden und Pfarrer. Im Vordergrund aller Reden, auf den Transparenten usw. stand nicht die Maut, sondern die Forderung: Schluß mit der Transitbelastung! Die Stimmung war prima, ,hetzig', wie wir hier sagen." So war es auch in diesem Jahr: Volksfestcharakter, breite Unterstützung der gesamten Bevölkerung. Wenn da von Nötigung die Rede ist, ist das völlig daneben. Wir sagen ausdrücklich: Wir begrüßen solche Aktionen jetzt und zukünftig. Wir sagen: Die Lösung wird nicht leiserer Verkehr und sauberer Verkehr sein, auch nicht der Brennerbasistunnel, weil diese Verbesserungen, die technisch wünschenswert sind, nicht Schritt halten mit dem permanenten Anstieg des Transitvolumens. Die Lösung wird auch nicht sein, die Schweiz noch massiver zu erpressen, wie es hier vom Kollegen Schmidt dargestellt worden ist. ({5}) Im Gegenteil, es ist notwendig, daß der Druck von der Schweiz genommen wird, wie er durch die Tiroler Aktionen heruntergenommen wurde. Ich glaube, die Lösung muß sein, daß insgesamt Verkehr reduziert und vermieden wird, vor allem die Transporte per Lkw, daß Schienenwege ausgebaut werden und daß Verbote, Nachtfahrverbote und andere, auferlegt werden und daß vor allem eine Schwerverkehrsabgabe eingeführt wird. Die „Süddeutsche Zeitung" hat vorgerechnet, daß unter den jetzigen Bedingungen die Zahl von ungefähr 100 Zügen pro Jahr bei entsprechenden Ausbaumaßnahmen auf 200 Züge pro Jahr verdoppelbar wäre. Nur geschieht momentan das absolute Gegenteil auf der Route. Ein Beispiel zum Schluß. In diesem Jahr mache ich zum viertenmal ein Seminar in Bad Dreikirchen vis-à-vis von Seis am Schlern mit ungefähr 40 Leuten, mit der Auflage, daß nur mit dem Zug angereist werden darf. Jedes Jahr verschlechtert sich die Möglichkeit, mit der Bahn dort hinzukommen. Vor fünf Jahren konnte man noch in Waidbruck aussteigen, dann nur noch in Klausen, jetzt nur noch in Brixen, ungefähr 40 km weg von dem Ort. In diesem Jahr hat mir der Gastwirt gesagt: „Es ist für Sie billiger und günstiger, sich mit dem Bus in München abholen zu lassen, als mit der Bahn zu fahren. Das ist teurer."

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke schön, letzter Satz. - Das heißt, solche Aktionen müssen unbedingt verstärkt werden. Diese Brennerblockade kann nur ein Anfang gewesen sein. Danke schön. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat in der Tat die Blockade der Brennerautobahn bei Schönberg in Tirol für den Schwerverkehr am 12./ 13. Juni dieses Jahres durch österreichische Umweltschutzgruppen und ihre offensichtliche Billigung durch regionale staatliche Stellen ausdrücklich und nachdrücklich verurteilt. ({0}) Weil dies kritisiert worden ist, nutze ich gerne die Gelegenheit, zu begründen, warum wir das getan haben. ({1}) - Die Spannung wird ähnlich groß sein wie unsere Spannung auf Ihre Rede, Herr Kollege Schmidt. Die zweitägige Blockade, die zusammen mit dem Feiertags- und Sonntagsfahrverbot am 14. Juni zu einer viertägigen Unterbrechung des Lkw-Verkehrs auf der wichtigsten Route im Alpentransit geführt hat - nicht für wenige Stunden, wie Sie zu formulieren für angemessen gehalten haben, Herr Kollege Schmidt -, stellt einen massiven Eingriff in den freien Warenverkehr und damit eine Maßnahme gegen eines der wichtigsten völkerrechtlich vertraglich verbindlich vereinbarten Ziele der Europäischen Union dar. Das wird man als Sachverhalt doch feststellen dürfen. Nach Art. 7 des EG-Vertrages ({2}) umfaßt der EU-Binnenmarkt, dem Österreich zum 1. Januar 1995 beigetreten ist, „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren gewährleistet ist". Dies ist keine Zumutung von Nachbarstaaten gegenüber den Österreichern, das ist eine vertragliche Verpflichtung, die der österreichische Staat mit seinem selbst angestrebten Beitritt selber auf sich genommen hat. Die Brenner-Autobahn ist, wie wir wissen, die wichtigste Route im Alpentransit; Ausweichmöglichkeiten, die auch nur annähernd vergleichbar oder gleichwertig wären, sind nicht gegeben. Blockaden, wie die am 12. und 13. Juni, gefährden nicht nur die Mobilität, sondern sie gefährden auch die Sicherheit im Straßenverkehr, verursachen erhebliche wirtschaftliche Schäden und können mittelständische, kleine Unternehmen des Transportgewerbes in ihrer Existenz bedrohen. Ich kann die Angaben nicht überprüfen, aber betroffene Transportunternehmen machen immerhin einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe geltend. ({3}) Es ist für die Bundesregierung völlig inakzeptabel, daß in einem freien europäischen Binnenmarkt durch gezielte Blockaden, auch in Nachbarländern, Produktions- und Versorgungsengpässe zu Lasten ganzer Volkswirtschaften entstehen können. ({4}) Das ist völlig unabhängig von der Frage, ob man Verständnis für Anliegen von Anliegern und Betroffenen hat. Vielmehr geht es um die Frage: Wie geht diese Europäische Gemeinschaft mit den eigenen rechtlichen Verfahren um, auf die sie sich verständigt hat, wenn es um die Abwägung solcher Interessen geht. ({5}) - Ich bewundere Ihr souveränes Urteilsvermögen. Wir werden nachher möglicherweise noch eine zweite Gelegenheit zur ausführlichen Besichtigung desselben haben. Ich mache noch einmal deutlich: Es geht nicht darum, daß zwischen dem einen und dem anderen Anliegen jetzt in einer Entweder-Oder-Alternative zu entscheiden wäre - wie Sie das offenkundig zu sehen belieben -, ({6}) vielmehr geht es darum, ob die Verfahren gelten, zu denen wir uns, wie die Österreicher auch, als Mitglieder ein und desselben Binnenmarktes und als Unterzeichnerstaaten derselben Römischen Verträge verpflichtet haben. Natürlich muß das Recht der Versammlungsfreiheit gewahrt werden, aber es muß - wie andere Rechte auch - unter Beachtung der VerParl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert hältnismäßigkeit und nicht auf Kosten unbeteiligter Dritter wahrgenommen werden. ({7}) Deswegen hat sich der Bundesverkehrsminister mit vollem Recht nicht nach, sondern vor den angekündigten Brenner-Blockaden sowohl an den zuständigen EU-Kommissar Kinnock als auch an den österreichischen Kollegen Einem mit der Bitte gewandt, alles in ihrer Macht Stehende zu veranlassen, um die Blockade zu unterbinden. Dabei, Herr Kollege Schmidt, geht es nicht um römische Stadthalterattitüden, sondern es geht um die Römischen Verträge ({8}) und um die Verpflichtungen, die wir, wie die Österreicher, in diesen Verträgen eingegangen sind. Wir bedauern sehr, daß es dennoch - und sogar mit Billigung von regionalen Verwaltungsstellen in Tirol und Vorarlberg - zu der erheblichen Beeinträchtigung des internationalen Straßengüterverkehrs durch die Brenner-Blockade gekommen ist, auch deshalb, weil damit natürlich die Wiederholung solcher Aktionen eher begünstigt als vermieden wird. Gerade vor diesem Hintergrund muß man in der Tat großes Verständnis für die Haltung von Spediteuren haben, ihre durch die Brenner-Blockade entstandenen Schäden gegebenenfalls im Wege der Klage geltend zu machen. Wenn Sie sich hier hinstellen und ausdrücklich sagen: Das war keine einmalige Aktion, die wir nach gründlicher Überlegung auch nicht für angemessen halten, sondern das war der Beginn einer Reihe von Folgeaktivitäten, dann ist es nur folgerichtig, wenn diese von Ihnen ausdrücklich Angesprochenen auch in gleicher Weise ausdrücklich ihre Rechte geltend machen, die beispielsweise in den einschlägigen Verträgen festgelegt sind. ({9}) Natürlich ist sich die Bundesregierung der Probleme bewußt, die ein steigender Transitverkehr für Mensch und Natur mit sich bringt. ({10}) Uns muß doch niemand erzählen, welche Belastungen sich durch ein steigendes Verkehrsaufkommen ergeben. ({11}) Es gibt kein Land in Europa, das in stärkerem Maße vom Transitverkehr betroffen ist als die Bundesrepublik Deutschland. ({12}) Wer stellt sich eigentlich mit dem Anspruch hierher und sagt, daß wir darüber erst mühsam aufgeklärt werden müßten? Deswegen sind wir beispielsweise auch - weil hier natürlich ein wichtiger inhaltlicher Zusammenhang besteht - gegen jede Aufweichung des Wochenendund Feiertagsverbots für Lkws, wie sie die EU-Kommission in ihrem vor wenigen Wochen vorgelegten Richtlinienvorschlag vorgesehen hat. Das Wochenend- und Feiertagsverbot, das wir in Deutschland seit mehr als drei Jahrzehnten haben, ist Ausdruck unseres besonderen Verständnisses der Sonntagsruhe, die sich seit jeher auf den Tag und die Nacht erstreckt. Deswegen werden wir uns aus vielen Gründen - und hoffentlich mit allgemeiner Unterstützung - gegen eine entsprechende Veränderung wehren. ({13}) Einmal davon abgesehen, fällt dies nach unserem Verständnis auch unter das Subsidiaritätsprinzip. Eine Notwendigkeit zur Regelung auf europäischer Ebene ist dafür überhaupt nicht zu erkennen. In bezug auf die besonderen Verkehrsverhältnisse im Alpenraum will ich darauf hinweisen, daß die berechtigten ökologischen Belange Österreichs schon bei seinem Beitritt in die EU - mit der Einführung des Ökopunktsystems für Lkw über 7,5 t im Transitverkehr - berücksichtigt worden sind. Das heißt, daß man in diesem Zusammenhang nicht nur auf die steigende Zahl der Fahrzeuge einfach verweisen darf, sondern man muß auch darauf hinweisen, daß hier im Rahmen des Ökopunktsystems jedes Jahr nur ein bestimmtes Kontingent verfügbar ist. Danach gilt: Je mehr Stickoxide ein Laster ausstößt, desto mehr Ökopunkte verbraucht er. Wenn die Punkte verbraucht sind, sind keine weiteren Fahrten mehr möglich. ({14}) Weil soviel von Zahlen die Rede war: Die EU-Kommission hat erst kürzlich einen Bericht vorgelegt, aus dem sich ergibt, daß sich trotz weiter steigenden Transitverkehrs durch die Öffnung Osteuropas der Ökopunkteverbrauch und damit der Schadstoffausstoß 1997 wiederum um 6,6 Prozent vermindert und keineswegs gesteigert hat. ({15}) Hauptgrund dafür ist der vermehrte Einsatz umweltfreundlicher Fahrzeuge. So sind inzwischen mehr als 98 Prozent aller Brenner-Lastwagen als lärm- und schadstoffarm eingestuft. Ich empfehle jedenfalls sehr, die Sachverhalte nicht selektiv darzustellen, sondern bitte, das eine und das andere gleichzeitig zu verdeutlichen. ({16}) In den vier Jahren von 1993 bis 1997 sind die durchschnittlichen NOT-Emissionen bei Lkw, die Österreich durchqueren, um mehr als 27 Prozent zurückgegangen. Das wird auch von der EU-Kommission ausdrücklich als ein ganz wesentlicher und substantieller Fortschritt gewertet. Wir haben Verständnis für die Interessen von Menschen, wir haben auch Verständnis dafür, daß sich diese Interessen artikulieren wollen. ({17}) Aber wir müssen schon großen Wert darauf legen, daß das durch Schaffung entsprechend vereinbarter Rahmenbedingungen geschieht. Ich will noch gern einmal in Erinnerung rufen, daß frühe deutsche Bemühungen, Herr Kollege Schmidt, auch und gerade mit den Österreichern beispielsweise Vereinbarungen über die Ertüchtigung von Schienenwegen zur Verlagerung des Verkehrs herbeizuführen, nicht - vorsichtig formuliert - aufgegriffen worden sind, um nicht zu sagen, mit erhobenen Händen dankend zurückgewiesen worden sind. ({18}) Deswegen muß bitte schön auch den Österreichern klar sein, daß sie ihre berechtigten ökologischen Belange auch künftig wirksam nur auf dem Wege gemeinsamer, konstruktiver Verhandlungen im Rahmen der EU geltend machen können. Es kann nicht nach dem Prinzip verfahren werden: „Jeder nimmt die Vorteile einer Europäischen Gemeinschaft in Anspruch, und wenn bestimmte Interessen für vorrangig gehalten werden, dann gilt das Prinzip der Selbsthilfe". ({19}) Damit werden dann nämlich faktisch Vereinbarungen und Verpflichtungen der europäischen Verträge außer Kraft gesetzt. ({20}) Die Europäische Union ist nicht der Wilde Westen, in dem die jeweiligen eigenen Interessen - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - notfalls auf eigene Faust durchgesetzt werden können. Gerade deshalb, weil Sie, Herr Kollege Schmidt, es für angemessen gehalten haben, in diesem Zusammenhang anzukündigen, dies sei erst der Anfang, muß zu dieser fröhlichen Ankündigung der ernste Hinweis erfolgen: Wehret den Anfängen. ({21})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Frau Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich, SPD-Fraktion.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Misere des Alpentransits ist die Misere falscher Verkehrspolitik. Die Blockade, von der hier soviel die Rede ist, scheint mir auch die Blockade in den Köpfen dieser Bundesregierung zu sein, dies zum Anlaß zu nehmen, über eine Verkehrspolitik nachzudenken, die europaweit zu einer Veränderung der Transportströme von der Straße auf die Schiene beiträgt. ({0}) Der alpenquerende Güterverkehr ist von 97 Millionen Tonnen 1986 auf 138 Millionen Tonnen 1996 angestiegen. Bis zum Jahr 2010 werden Steigerungen von bis zu 130 Prozent erwartet. 73 Prozent der Transporte zwischen der Bundesrepublik und Italien - meine Kollegin hat schon darauf hingewiesen - laufen über den Brenner und natürlich auf der Straße. Man hat den Eindruck, die Alpen kommen unter die Räder, und die Menschen wollen dies einfach nicht länger so hinnehmen. Das haben sie am letzten Wochenende auch demonstriert. Es wurde hier schon viel von Rahmenbedingungen und von Veränderung dieser Rahmenbedingungen geredet. Wir haben als Bundesrepublik die Alpenkonvention mit unterzeichnet, und dies muß den Menschen wie Hohn in den Ohren klingen. ({1}) Diese Sonntagsreden können sie sich auf Dauer nicht mehr anhören. ({2}) Darin wird ja auch das Ziel festgeschrieben, möglichst große Teile des alpenquerenden Verkehrs auf der Schiene und im Kombiverkehr abzuwickeln. Es wird auch darauf hingewiesen, leistungsfähige Eisenbahntransversalen und ausreichend Verladeterminals zu schaffen. Dieser Blockade, die ein Hilferuf der Menschen vor Ort an EU-Verkehrsminister war, sollten nach diesen vielen Worten über schöne Rahmenbedingungen endlich Taten folgen. ({3}) Ein erster Schritt in die richtige Richtung hätte die Vereinbarung zwischen der EU-Kommission und der Schweiz sein können. Die gestaffelte Anhebung der Transitgebühren wäre eine Grundlage für ein einheitliches Gebührensystem gewesen, und zwar im gesamten Alpenraum. ({4}) Wir hätten hiermit endlich auch für die Bahn vergleichbare Wettbewerbsbedingungen geschaffen. Diese Vereinbarung hätte auch dazu beigetragen, Umfahrungsverkehre im Alpenraum zu vermeiden und für vergleichbare Transitrouten auf der Straße und auf der Schiene zu sorgen. Dies hätte sein können! Es war Verkehrsminister Wissmann, der schon im Vorfeld der EU-Ministerratstagung im März alles getan hat, um diese Vereinbarung zu kippen. ({5}) Anstatt die Menschen, die den Brenner blockiert haben, zu verurteilen, sollte hier darüber nachgedacht werden, warum dieses Scheitern der Verhandlungen zu einem Stillstand der Verkehrsprobleme im gesamten Alpenraum geführt hat. ({6}) Wir brauchen eine Verlagerung, die nicht erst am Alpenrand beginnt; vielmehr müssen wir auch schon bei uns beginnen, Verkehre auf die Schiene zu verlagern. In der Bundesrepublik müßten endlich die Voraussetzungen für Zulaufstrecken zur neuen Alpentransversale geschaffen werden. Erst dann könnte der Sonntagsredensatz „Güter gehören auf die Schiene" von den Menschen endlich auch geglaubt werden. ({7}) Herr Minister Wissmann hat im Rahmen dieser Schwierigkeiten am Brenner die Transporteure gebeten, verstärkt ihre Transporte auf die Deutsche Bahn zu verlagern. Ich möchte den Bundesminister, der ja auch wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU ist, fragen, ob er eigentlich nicht weiß, wonach die Transporteure entscheiden, welches Transportmittel sie benutzen. Wenn man für den Transport mit der Bahn zirka 50 Pfennig pro Kilometer zahlen muß, für den Transport auf der Straße jedoch nur 20 Pfennig, dann ist die Entscheidung doch klar. Wer den Alpenraum schützen will, der muß endlich für günstigere Rahmenbedingungen sorgen, das heißt, er muß das Thema Kostenwahrheit im Güterverkehr und faire Preise der einzelnen Verkehrsträger auf die Tagesordnung setzen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein letzter Satz. Wir fordern die Bundesregierung auf: Beendigen Sie die Blockade in Ihren Köpfen und tragen Sie dazu bei, Lösungen für den gesamten Alpenraum zu finden, Güter auf die Bahn zu bringen, Umfahrungsverkehre zu vermeiden, die Menschen und die Umwelt zu entlasten und für faire Preise im gesamten Straßengüterverkehr zu sorgen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Dionys Jobst, CDU/CSU- Fraktion. ({0})

Dr. Dionys Jobst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001029, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Kollege Schmidt, der mich eben angesprochen hat, ist gut im Sprücheklopfen; das hat er heute wieder bewiesen. Seine Ankündigung aber, daß es sich nur um den Anfang gehandelt habe, ist unverantwortlich. Eine solche Blockade darf sich nicht wiederholen! ({0}) Das Faustrecht im Straßenverkehr, das Sie hier gepredigt haben, ist der verkehrte Weg. Das Hohe Haus hat sich heute den ganzen Nachmittag mit Menschenrechten befaßt. Ich glaube, daß auch durch diese Blockade die Menschenrechte in eklatanter Weise verletzt worden sind ({1}) - wenn man an die betroffenen Menschen, die im Verkehrsstau standen, denkt. Denken Sie an die Familien, denken Sie an die Kinder, denken Sie an die Reisenden, die gefährliche Umwege machen mußten. Das ist nicht zu verantworten. ({2}) Ich habe Verständnis für die betroffenen Menschen. In den engen Tälern und in den nahe an der Autobahn liegenden Ortschaften wirken sich der Lärm und die Abgase sehr störend aus. Der Alpentransit ist dort für viele zu einem Alptraum geworden. Aber geredet, vereinbart und abgestimmt wurde viel, getan wurde von dem betroffenen Land, nämlich von Österreich, praktisch nichts. Österreich hat nur höhere Gebühren und Restriktionen, die hauptsächlich die ausländischen Transporteure und die Pkw-Fahrer benachteiligen, eingeführt, aber keine praktikablen Lösungen zustande gebracht. Ich denke an die Brenner-Maut, die deutlich erhöht worden ist, und an die Einführung der Vignette. ({3}) Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß Deutschland als zentrales Durchgangsland in Europa weitaus größere Belastungen auf den Autobahnen zu tragen hat. Ich denke nur an den Ballungsraum Rhein-Ruhr oder an die Autobahn A 9 von Nürnberg nach München, auf der täglich 140 000 Fahrzeuge fahren. Ich habe Verständnis für Demonstrationen gegen unzumutbare Belästigungen, aber nicht in dieser Form. Die Blockade ist unverantwortlich; die Blockade war ein eindeutiger Rechtsbruch. ({4}) Die Blockade in Österreich hat gegen das EU-Recht verstoßen, das ungehinderten Reiseverkehr und Warenaustausch gewährleistet. Die EU muß dafür sorgen, daß sich solche Blockaden nicht mehr wiederholen. Auf die Prognosen der Entwicklung des VerDr. Dionys Jobst kehrs über den Brenner haben weder Österreich noch die Gemeinschaft angemessen reagiert. Die Probleme eines Transitlandes sollen nicht verkannt werden, aber in erster Linie bleibt es Aufgabe des Transitlandes, alle Anstrengungen für eine Lösung zu unternehmen. Die ungünstige geographische Lage kann nicht als Rechtfertigung für Forderungen an die Nachbarn und an die Gemeinschaft dienen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Blockade hat einen großen Schaden für die deutschen Transportunternehmen herbeigeführt, sie hat den Tourismus erheblich benachteiligt. ({5}) Wir müssen daraus und sicherlich auch aus den gegebenen Umständen Folgerungen ziehen. ({6}) Ich bin der Meinung, daß wir verstärkt an der Umsetzung der Zielvorstellung, die wir schon immer hatten, arbeiten müssen, nämlich mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Dabei füge ich aber hinzu, daß auf den Straßenverkehr mit Lkw und Pkw nicht verzichtet werden kann. Die Bahn allein könnte das Verkehrsaufkommen überhaupt nicht bewältigen. ({7}) Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß der Straßenverkehr, insbesondere der Lkw-Verkehr, erheblich umweltfreundlicher geworden ist. Die Verwirklichung des Brenner-Basistunnels, der hier wiederholt angesprochen worden ist, ist noch in weiter Ferne. Über die Kosten kann man sich nicht so leicht einigen. Aber die Bundesrepublik Deutschland hat sich bereit erklärt, im Rahmen einer solchen Maßnahme die Vorleistungen zu erbringen, indem die Leistungsfähigkeit der Zulaufstrecken zum Brenner erhöht wird. ({8}) Der Bundesverkehrsminister hat angekündigt, daß die Bundesrepublik dafür 3 Milliarden DM zur Verfügung stellen würde. Die Bahn muß auch attraktivere Angebote für den Huckepack- und den Kombiverkehr machen. Natürlich muß die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten werden. Ich stimme auch zu, daß die Kapazität der Brenner-Strecke durch Übergangslösungen zu verbessern ist. Aber eine Verteuerung oder Abschaffung des Straßengüterverkehrs - so wie es in einigen Diskussionsbeiträgen heute, vor allem dem des Kollegen Schmidt, durchgedrungen ist

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Die Redezeit ist zu Ende.

Dr. Dionys Jobst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001029, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ja -, wäre der falsche Weg. Ich räume ein: Handlungsbedarf besteht, aber Maßnahmen dürfen nicht durch eine Blockade des gesamten Verkehrs erzwungen werden. Die Anwendung des Faustrechts auf den Straßen ist ein gefährlicher Weg. Davor kann ich nur warnen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat der Abgeordnete Helmut Wilhelm, Bündnis 90/ Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich bin in großer Sorge um die Zukunft der Alpenregion und ihrer Bevölkerung, sowohl im deutschen Raum wie auch in anderen Alpenstaaten. Durch die starke Verkehrsbelastung in den Alpentälern ist die Lebenssituation von vielen Tausenden von Menschen in unerträglicher Weise beeinträchtigt. Wegen der derzeitigen europäischen Verkehrspolitik ist zukünftig sogar mit einer weiteren Verschlechterung der Lage dieser Menschen zu rechnen. Denn der Wille, das Verkehrsaufkommen effektiv und nachhaltig zu beschränken bzw. zu verlagern, ist in keiner Weise erkennbar. ({0}) Die EU hat angesichts der auffälligen Beeinträchtigungen der Alpenregion zwar erkannt, daß eine Verbesserung der Eisenbahninfrastruktur unumgänglich ist, um Güter von der Straße auf die Schiene zu bekommen. Allerdings folgt der von der EU genehmigte Plan der transeuropäischen Netze der Logik von gestern: Durch den Neubau hochrangiger Verkehrsinfrastrukturen will man weiterhin eine Wirtschaftspolitik der Zentralisierung und der Spezialisierung fördern, eine Politik also, die für den enormen Zuwachs des Güterverkehrs über die Alpen in hohem Maße mitverantwortlich ist. Im Jahre 1970 wurden 28 Millionen Nettotonnen an Gütern über die Alpen befördert - davon 78 Prozent auf der Schiene und nur 22 Prozent auf der Straße. Infolge des Straßen- und Autobahnbaus waren es im Jahre 1995 bereits 112 Millionen Nettotonnen - nunmehr nur noch 38 Prozent auf der Schiene und 62 Prozent auf der Straße. Für den starken Güterverkehrszuwachs gibt es nur eine Erklärung: Die auf möglichst hohen Warenaustausch fixierte Wirtschaftspolitik bringt ein enormes Volumen des Transports von Halbfertigprodukten mit sich, die zum Teil mehrfach hin und her kutschiert werden, bevor sie dem Markt zugeführt werden: niederländische Schweine nach Südtirol, Südtiroler Speck nach Holland, nordeuropäische Milch nach Apulien, italienischer Mozzarella zurück in die Ursprungsländer. Welch ein Wahnsinn! ({1}) Ausgesiedelte Produktionsstätten und niedrige Kosten für den Transport auf der Straße führen dazu, daß der Lkw vielfach als mobiles Depot fungiert, weil es billiger ist, mit halbvollem Lkw herumzufahren, als kostspielige Lager zu unterhalten. Darum habe ich vollstes Verständnis für die Blockade der Brenner-Autobahn, die von 72 Prozent der Tiroler BevölHelmut Wilhelm ({2}) kerung gutgeheißen wurde und die unter anderem von 20 Gemeinden Nordtirols und der Stadt Innsbruck sowie von vier Südtiroler Gemeinden getragen wurde. Diese Blockade ist als Zeichen der Notwehr einer ganzen Region zu begreifen. Sie war legal, weil genehmigt. ({3}) Das Problem „Alpentransit" kann somit nur insgesamt und nicht isoliert auf den Brenner-Paß gesehen werden. Bereits 1996 hat meine Fraktion mit einer Kleinen Anfrage auf Blockaden am Reschenpaß und in der Schweiz hingewiesen. Von Nord nach Süd überqueren fünf wichtige Verkehrswege - auch auf Schienen - die Alpen, und zwar Mont Cenis, Simplon, Gotthard, Brenner und Tarvis. Bei Betrachtung der tatsächlich beförderten Gütermengen auf der Eisenbahn zeigt sich, daß die Eisenbahn derzeit nur etwa ein Drittel der Verkehre befördert, die bei Modernisierung der Strecken möglich wären. Nach einem Bericht der Ferrovie dello stato, der italienischen Staatsbahnen, von 1996 verkehren über den Brenner nur 116 Züge am Tag. Möglich wären nach heutigem Ausbauzustand 140 Züge. Verkehrsverbesserungen wären möglich durch Erweiterung der Kurvenradien, Ausbau des Blocksystems, Ausbau der Schwachstelle Kufstein-Innsbruck, wo sich OstWest- und Nord-Süd-Verkehre überlagern, und insbesondere Einsatz von Mehrsystemloks zur Einsparung von Lokwechseln am Brenner. ({4}) Allein dadurch wäre nach Angaben der Internationalen Alpenschutzkommission eine Steigerung der Beförderungsmengen auf das Dreifache möglich. Sollten alle fünf Eisenbahntransversalen auf einen modernen Stand gebracht werden, würde die Transportkapazität von 38 auf 125 Millionen Tonnen pro Jahr steigen. Das ist mehr, als heute auf Straße und Schiene gemeinsam rollen. Dabei ist ein wirksamer Lärmschutz im Rad-Schiene-System wesentlich leichter möglich, da sich die Lärmquelle in Höhe der Schienenoberkanten befindet und deshalb niedrige Schutzmauern genügen würden. Demgegenüber ist der Bau des Brenner-Basistunnels keine Alternative. Eine optimistisch kalkulierte Fertigstellung bis 2022 bei Baukosten von noch optimistischer kalkulierten 12,5 Milliarden Ecu würde den Anwohnern nichts mehr nützen, allenfalls der nächsten Generation.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluß. Den Leidtragenden des Verkehrs gilt unsere volle Sympathie und Unterstützung. Wer heute deren legitimen Protest verteufelt, sei daran erinnert, daß Franz Josef Strauß - Gott hab' ihn selig! - eine frühere Brenner-Blockade ausdrücklich unterstützt und mit seinem Besuch geadelt hat, allerdings aus dem gegenläufigen, verfehlten Motiv der Förderung des Straßengüterverkehrs. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat die Abgeordnete Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde, die von den Grünen beantragt wurde, ist eigentlich genauso unnötig wie die Brenner-Blockade. Meines Erachtens haben sich die Grünen jetzt entlarvt. ({0}) Nach der heutigen Aktuellen Stunde weiß, glaube ich, ganz Deutschland, was auf die Menschen zukäme, wenn die Grünen hier das Sagen bekämen, nämlich eine Totalblockade Deutschlands. ({1}) Denn die Brenner-Blockade ist der vollkommen falsche Weg. Eine Blockade löst keine Probleme, aber sie schafft viele neue. Auch Österreich hat den EU- Vertrag unterschrieben, nach dem der freie Austausch von Waren zu gewährleisten ist. Österreich muß sich vertragsgetreu verhalten. Hoffentlich findet diese Blockade keine Nachahmer. Denn sie hat nicht dem Zusammenwachsen innerhalb der EU gedient, sondern hat das Verhältnis erheblich gestört. Jetzt sage ich etwas plakativ: Was sollte denn Bayern als Transitland Nummer eins in Deutschland machen? ({2}) Vielleicht auch einmal die Wege für durchfahrende Pkws oder Lkws sperren? Freizeit mit dem Pkw oder Urlaubsverkehr muß vielleicht nicht unbedingt stattfinden, oder drastischer ausgedrückt: Man kann auch zu Hause oder vor Ort bleiben. Bündnis 90/Die Grünen wollen uns sowieso einen autofreien Sonntag bescheren oder den Benzinpreis auf 5 DM erhöhen. ({3}) Aber der Wirtschaftsverkehr - darauf ist der Standort Deutschland dringend angewiesen - nimmt Schaden. Der Schaden für die deutsche Transportwirtschaft wird mit zirka 15 Millionen DM beziffert. Man kann also leicht hochrechnen, welcher Schaden bei künftigen Blockaden entstehen würde. Diese Blockaden sind ja schon angekündigt worden. Denkt Bündnis 90/Die Grünen eigentlich nicht daran, daß Arbeitsplätze gefährdet sind oder aufs Spiel gesetzt werden? ({4}) Auf totales Unverständnis stößt bei mir, daß die Verwaltung des Landes Tirol mit der Blockade einverstanden war, ja sogar vom österreichischen Verkehrsminister großes Verständnis für den Protest gezeigt wurde. ({5}) Blockaden bringen in der Sache nicht weiter. Der Verkehr von und nach Italien läßt sich nicht einfach wegdemonstrieren. Wir brauchen eine stärkere Verlagerung des Güterverkehrs auf die Bahn, und auch der Brenner-Basistunnel muß so rasch wie möglich gebaut werden. ({6}) Allerdings müssen die Österreichischen Bundesbahnen auch schnellstens prüfen, ob ihre sehr hohen Trassenpreise nicht doch gesenkt werden können, ({7}) um mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen. ({8}) Außerdem sollten die verschiedenen Bahnen besser zusammenarbeiten und auch mehr Raum für private Initiativen lassen, zum Beispiel für private Gesellschaften wie die Bayerische Trailerzug Gesellschaft, die mit neuer Technik Huckepackverkehr zwischen München und Verona anbietet, jedoch hohe Trassen- und Traktionspreise zahlen muß. Hier sollte Österreich einmal handeln. Zudem müssen organisatorische Maßnahmen zur Verkürzung der Dauer des Transports auf der Schiene ergriffen werden. Auf den Zulaufstrecken zum Brenner ist bereits viel geschehen und auch in Gang. Eine Anmerkung: Der Lkw-Verkehr durch Österreich hat eine mit der EU vertraglich vereinbarte Obergrenze. Die dafür vereinbarte Ökopunkteregelung hat dazu geführt, daß auf der Brenner-Strecke bevorzugt schadstoffarme und lärmarme Lkws eingesetzt werden. Dies ist auf vielen Strecken in Bayern nicht der Fall. Gerade Ostbayern kann ein Lied davon singen. ({9}) Dieser massive Eingriff in den freien Warenverkehr geht zu Lasten der Transportwirtschaft und ist eine Maßnahme gegen ein wichtiges Ziel der Europäischen Union. Wir fördern den kombinierten Verkehr. ({10}) Ein solches Konzept sollte auch auf europäischer Ebene erstellt werden. Eine Schutzzaunpolitik oder trotziges Reagieren mit Blockaden bringt uns wirklich nicht voran. Allerdings kosten umweltsensible Regionen auch Geld. Dieses Geld muß auch Österreich, gefördert von der Europäischen Union im Rahmen der transeuropäischen Netze, in die Hand nehmen. ({11}) Blockaden bringen absolut nichts. Sie behindern den Wirtschaftsverkehr sowie den Freizeit- und Urlaubsverkehr. Das sollte sich Österreich einmal überlegen. ({12})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat die Abgeordnete Jutta Müller, SPD-Fraktion.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es natürlich schon ein bißchen schade, daß unser Kollege Jobst im Moment einen wichtigen Termin hat und deshalb nicht anwesend sein kann. Denn die Art und Weise der Worte, wie er über die Protestaktion am Brenner gesprochen hat, fand ich, ist ein starkes Stück. ({0}) Hier von Faustrecht, Rechtsbruch und Verletzung der Menschenrechte zu sprechen, das war wirklich ein starkes Stück. Ich glaube, daß das, was die Menschen dort getan haben, schlicht und ergreifend Notwehr war. Denn auch die Frauen und Männer und vor allen Dingen die Kinder, die in dieser Region leben, haben Menschenrechte, und die werden durch den dortigen Verkehr stark beeinträchtigt. Ihre Protestaktion ist natürlich eine Reaktion auf die anhaltende Ignoranz von Politikern in Deutschland und in ganz Europa. Die Anwohner der Brenner-Autobahn haben einfach kein Vertrauen mehr in die Versprechen der EU-Bürokraten. Ich halte es deshalb für völlig unangemessen, wenn Herr Wissmann in der Art und Weise reagierte, daß er von einem Eingriff in den freien Warenverkehr spricht. Ich würde gerne einmal sehen, wie er selbst reagierte, wenn dieser schöne freie Warenverkehr einmal vor seiner Haustür stattfinden würde. Vom freien Warenverkehr war überhaupt keine Rede, als der damalige Umweltminister Klaus Töpfer 1991 in Salzburg die Alpenkonvention unterschrieben hat. Ich möchte unseren Verkehrsminister, aber auch unsere Umweltministerin auf dieses verbindliche Abkommen aller Alpenländer ausdrücklich hinweisen. In diesem Protokoll verpflichten sich die Vertragsparteien, der Umwelt bei allen Maßnahmen der Infrastruktur in den Alpen einen höchsten StellenJutta Müller ({1}) wert einzuräumen. Die Alpenkonvention stellt Menschen, Tiere und Pflanzen unter besonderen Schutz. Auch Luft, Böden und Bergwälder sollen geschützt werden. Die Alpenkonvention fordert ausdrücklich eine Umweltverträglichkeitsprüfung bei allen Maßnahmen der Verkehrsplanung. ({2}) So steht es auf dem Papier. Die Realität sieht anders aus. Nach dem Motto „Augen zu und durch" belasten jährlich 8 Millionen Lkws und Pkws diesen hochsensiblen Lebensraum. Zwar zwingen die österreichischen Umweltplaketten zur Senkung des Schadstoffausstoßes - inzwischen sind die meisten Lkws umgerüstet -, aber die Zahl der Fahrten hat sich erhöht. Außerdem, Herr Staatssekretär, wissen Sie genauso gut wie ich, daß das System der Umweltplaketten im Moment gar nicht funktioniert. ({3}) Das elektronische System ist derzeit nicht in Betrieb. Das EU-Recht verbietet der Polizei eine wirksame Kontrolle. So kommt es denn auch, daß ungefähr 40 Prozent der Lkws die vorgesehenen Ökopunkte überhaupt nicht entwerten. Hier zu sagen, man habe ein tolles Mittel gefunden, ist nicht ganz richtig. ({4}) Die Brenner-Route tangiert im übrigen vier Nationalparks mit einer Fülle von Pflanzen und Tieren, die auf der Liste der aussterbenden Arten stehen. Frau Merkel hätte hier nach ihrem Castor-Debakel die Möglichkeit gehabt, Punkte zu sammeln. ({5}): Ökopunkte!) Warum hat sie sich nicht geäußert? Warum hat sie sich nicht an die Seite österreichischer Umweltschützer gestellt? ({6}) Warum hat sie nicht den österreichischen Verkehrsminister unterstützt, der gesagt hat: „Wir brauchen eine Umkehr in der Verkehrspolitik; so kann es nicht weitergehen."? Aber Frau Merkel hat dazu natürlich geschwiegen. Die Interessen der Umwelt wurden wieder einmal mit Füßen getreten. Die Lkws und auch die deutschen Transportunternehmer sind - das richte ich ganz ausdrücklich an die Reihen der Union - keine unbeteiligten Dritten, sondern die Verursacher des Debakels. ({7}) Ich würde mich freuen, wenn wir hier zu einem Dialog kämen. Diese „Weiter so!"-Politik kann doch langfristig auch nicht im Sinne der Spediteure sein, weil ihre Fahrzeuge irgendwann nur noch stehen. Werden die Verkehrsprognosen Wirklichkeit, wird sich kein Rad mehr drehen, sondern werden alle nur noch im Stau stehen. Deshalb müßten die mit dem Gütertransport befaßten Unternehmen daran interessiert sein, daß man hier zu besseren Lösungen kommt. Leider ist meine Redezeit jetzt zu Ende. Deshalb betone ich zum Abschluß noch einmal: Die Verkehrspolitik wird zur Zeit am Brenner nicht von den Bürgerinnen und Bürgern, sondern von sich selbst blokkiert. ({8})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber, CDU/ CSU-Fraktion.

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Österreich ist mit der Bundesrepublik Deutschland gut befreundet, und wir alle sind mit vielen Kolleginnen und Kollegen in Österreich befreundet. ({0}) Als Vorsitzender der deutsch-österreichischen Parlamentariergruppe ({1}) nehme ich an, berechtigt zu sein, einige kritische Worte an unsere österreichischen Kollegen und Freunde zu richten; denn eine Freundschaft ist dazu da, einem Freund, wenn er einen Fehler macht, auch zu sagen, was daran kritisch betrachtet wird. Herr Schmidt und alle anderen, die hier heute diese Blokkade befürwortet haben, tun den Österreichern keinen Gefallen, wenn sie den Eindruck erwecken, daß das, was bei dieser Blockade geschehen ist, Rechtens wäre. ({2}) Es wird für Österreich sehr teuer. Ich bin davon überzeugt, daß die Schadensersatzansprüche an Österreich gerichtlich eingeklagt werden. Hier gebe ich auch meine volle Unterstützung den Spediteuren und Unternehmen, die gar nichts dafür können und hier in Haftung genommen werden, obwohl sie doch nur Produkte transportieren, die wiederum Arbeitsplätze sowohl in Norditalien als auch in Deutschland sichern. ({3}) Allein den Speditionsunternehmen in Bayern sind Schäden in Höhe von 15 Millionen DM entstanden, unabhängig davon, daß sehr viele Güter und Produkte nicht rechtzeitig ans Ziel gekommen sind. ({4}) Deshalb ist es falsch, Herr Schmidt, den Österreichern eine solche Blockade zu erlauben. Die Regreßansprüche werden gestellt. ({5}) Ein Zweites: Die Verkehrsbelastung wurde hier dramatisiert. Es ist nicht in Ordnung, wenn verkehrspolitische Experten, wie Sie von der Opposition sie sein wollen, etwas dramatisieren, was vielleicht subjektiv als stark empfunden wird, aber objektiv in keinster Weise so dramatisch ist. Wenn in Österreich über den Brenner täglich zwischen 3000 und 4000 Lkws und Omnibusse fahren, dann mag das, subjektiv empfunden, viel sein. Im Vergleich zu der Belastung, die täglich auf fast jeder Autobahn in Deutschland zu finden ist, ist es nur ein Zehntel. Auf der A 3 fahren täglich 40 000 Lkws und Busse mitten durch Köln. Da kommt niemand von Ihnen auf die Idee zu blockieren. Was sagen Sie denn den dort lebenden Menschen, Herr Schmidt? ({6}) Ich finde, Sie sind hier sehr doppelzüngig und teilweise auch zynisch, weil Sie in Österreich etwas unterstützen, was Sie sich hier nicht trauen würden. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kommt ein Drittes hinzu: Wir alle kennen den Landeshauptmann von Tirol, Wendelin Weingartner. Natürlich ist es durchaus angebracht, auch mit ihm kritisch ins Gericht zu gehen. Ich lasse einmal offen, ob es eine rechtswidrige Handlung war. Auf jeden Fall wurde der EWG-Vertrag verletzt. Wenn es stimmt, was in der „Berliner Zeitung" stand, daß nämlich Wendelin Weingartner diese Blockade mit organisiert, weil er mit der österreichischen Verkehrspolitik nicht einverstanden ist, dann ist es zuviel des Guten, wenn er dafür deutsche Spediteure und deutsche Urlauber in Haftung nimmt. Das muß man ihm sagen; das darf man nicht durchgehen lassen. Noch eine Zahl: Die Güter, die über den Brenner transportiert werden, machen bei den Italienern 6 Prozent ihres gesamten Bruttosozialprodukts aus. In Baden-Württemberg und Bayern ist der Anteil eher noch größer. Auf beiden Seiten der Alpen hängen etwa 1 Million bis 1,5 Millionen Arbeitsplätze davon ab. Man kann nicht so mit links sagen: Das alles ist sehr schwierig. ({8}) Ein Allerletztes: Kein Mensch hier hat etwas dagegen, daß mehr Verkehr auf die Schiene kommt. ({9}) Aber das sollen doch zunächst einmal die Österreicher selber klären. Das ist doch nicht Aufgabe der anderen! ({10}) Innerhalb der EU gilt die Vereinbarung, daß jedes Land für seine Verkehrspolitik selber verantwortlich ist. Deshalb müssen die Österreicher sich selber an die Nase fassen und gemeinsam mit den Italienern zu einer Lösung kommen. Ich kann dazu nur eines sagen. Wenn der Basistunnel zu teuer ist, dann sollen sie nach anderen Lösungen suchen. ({11}) Es gibt eine Machbarkeitsstudie, die besagt, daß der Transrapid über die Alpen geführt werden kann. Das werden Sie natürlich nicht gerne hören. Ich bin froh, daß unsere Bundesregierung sich jetzt gerade in Brüssel um weitere Forschungsgelder bemüht, um auszuloten, inwieweit der Transrapid hier tatsächlich eine Entlastung bringen kann. ({12}) Lieber Herr Schmidt, Sie haben mich vorhin bei Ihren Ausführungen an den Ötzi erinnert, der vor 5000 Jahren über die Alpen, über den Brenner gehen wollte. Er ist dabei erfroren. ({13}) So altbacken und eingefroren ist Ihre Politik. Im Grunde genommen ist es eine Ötzi-Politik, die die Grünen betreiben. Das kann nicht die Zukunft unserer Verkehrspolitik sein. Ich empfehle den Österreichern in aller Freundschaft, zu vernünftigen politischen Diskussionen und zu einer politischen Lösung zurückzukehren. ({14}) Eines nämlich ist sicher: Mit dieser Art von Politik ist weder den Österreichern

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- noch irgend jemand anderem gedient; ganz im Gegenteil. Deshalb mein freundschaftlicher Rat: Kehren wir wieder an den Verhandlungstisch zurück! Am Schluß wird die Politik entscheiden - nicht die Blockierer. Danke. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Als letzter Rednerin im Rahmen der Aktuellen Stunde erteile ich der Abgeordneten Elke Ferner, SPD-Fraktion, das Wort.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich muß sagen: Hier läuft teilweise wirklich eine Art Gespensterdebatte. ({0}) Wenn man sich einige Äußerungen noch einmal vor Augen führt, dann fühlt man sich wirklich in Kolonialzeiten zurückversetzt. Der Kollege Grotz hat hier wörtlich gesagt: Wir brauchen Österreich als Transitland. Ich muß einmal fragen: Was ist denn das für eine Auffassung gegenüber einem europäischen Nachbarland? Der Kollege Brunnhuber glaubt, daß es für seine Infrastruktur ganz alleine zuständig sei, und nach den Worten von Herrn Grotz brauchen wir Österreich für unseren Transitverkehr. Das ist wirklich schon ziemlich arrogant und zeugt nicht unbedingt von guter Nachbarschaft. ({1}) Nun zu der Demo. Hier wurde immer von Rechtswidrigkeit usw. gesprochen. Man kann sich vielleicht darüber streiten, welche Demonstrationen an welcher Stelle von welchen Behörden hier in Deutschland genehmigt worden wären. Wir haben aber festzustellen, daß die österreichischen Behörden diese Demonstration an dieser Stelle genehmigt haben. Insofern kann man zwar sagen, daß man selber in der gleichen Situation anders entschieden hätte. Man kann aber nicht kritisieren, daß die Behörden in Österreich sagen, daß das Demonstrationsrecht an dieser Stelle ausgeübt werden kann. ({2}) Es waren doch keine wildgewordenen Horden von Randalierern, die dort demonstriert haben. Das waren Menschen wie du und ich, Männer, Frauen, Kinder, Bürgermeister, Konservative, Linke, Grüne usw. Ein breites Spektrum der Bevölkerung hat protestiert. Dieser Protest hat ja auch eine Ursache. Er ist doch nicht um des Protestes willen erfolgt. Es steht uns einfach nicht zu, andere in der Art und Weise zu belehren, wie Sie es eben mit Ihren Redebeiträgen getan haben. 1984 hat in Bayern eine Blokkade stattgefunden, die von der halben Bayerischen Staatsregierung inklusive Ministerpräsidenten bewallfahrtet und mit Unterstützungsparolen versehen worden ist. Ich glaube, es hängt immer von dem Ziel der Demonstration ab, ob Sie oder wir oder auch wir gemeinsam das für gut oder schlecht halten und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen. Auch das ist in der Debatte, die wir eben geführt haben, deutlich geworden. Das Schlimme ist aber, daß die Menschen in der Alpenregion offenbar kein Vertrauen mehr in die Lösungskompetenz der Europäischen Union, insbesondere des Verkehrsministerrats, haben und auch keine Lösungskompetenz auf der deutschen Seite sehen. Das, was eben von seiten der Koalition gesagt worden ist, war in großen Teilen - bis auf ganz wenige Ansätze - im Prinzip pure Polemik. Sie haben kaum etwas zu konkreten Lösungsansätzen gesagt - und das nach 16 Jahren Regierung. Ich denke, es ist wirklich Zeit, daß Sie abgelöst werden. ({3}) Wir brauchen eine Lösung für die gesamte Alpenregion; das heißt aus unserer Sicht: nicht isoliert nur für die Schweiz, nicht isoliert nur für Österreich, sondern auch für Frankreich, für Norditalien und auch für den süddeutschen Raum, der im Alpenvorland liegt und auch zu einer sensiblen Region gehört. Die Bundesregierung aber blockiert auf der europäischen Ebene eine Lösung, die dazu führt, daß wenigstens in diesen sensiblen Räumen auch nur ansatzweise externe Kosten eingerechnet werden, weil man einen Unterschied machen kann, ob LkwSchlangen in der Tiefebene fahren oder ob sie durch eine sensible Naturregion fahren, die auf Grund von Taleinschnitten sehr eng ist, so daß sich der Lärm stärker auswirkt als in flacheren Gebieten. Auch die Vergleiche, die der Kollege Brunnhuber angestellt hat, und seine Aussagen, daß man sich einmal die Belastungen auf der A 61 angucken solle und die Österreicher sich nicht so haben sollen, waren zynisch. Hier jetzt Länder gegeneinander auszuspielen kann ja wohl nicht Sinn und Zweck der Übung sein. ({4}) Die Bundesregierung kürzt ständig die Schienenbaumittel, obwohl es zwischen München und Kiefersfelden kaum ein Überholgleis und eine alte Signaltechnik gibt und der Transport von Wechselbehältern von München nach Verona 16 Stunden dauert. Die Frage Straße oder Schiene ist auch, aber nicht nur eine Frage des Preises; vielmehr ist es eine Frage, die davon abhängt, was wir an Infrastruktur zur Verfügung stellen. Da blockiert die Bundesregierung, weil sie ständig die Mittel kürzt. ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wollen eine Lösung, die allen Beteiligten gerecht wird. Es ist hier gesagt worden, die Blockade sei erst der Anfang gewesen. Ich hoffe, daß es der Anfang zu einer Umkehr in der deutschen und europäischen Verkehrspolitik war. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Fragestunde - Drucksachen 13/10 938, 13/10 954 Wir kommen zuerst zu den Dringlichen Fragen, und zwar zunächst zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht uns Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung. Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Wolfgang Schmitt, Bündnis 90/Die Grünen, auf: Welches ist angesichts der Differenz zwischen dem Bundesminister des Auswärtigen, der bisher an der Position festhält, eine eventuelle NATO-Intervention im Kosovo bedürfe zwingend eines UN-Mandats, und dem Bundesminister der Verteidigung, der jetzt von dieser ursprünglich von ihm geteilten Meinung abgegangen ist und eine Intervention auch ohne UN- Mandat für möglich hält, die Position der Bundesregierung? Bitte schön, Herr Staatsminister.

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Frau Präsidentin! Herr Kollege, die Bundesregierung unterstützt die britischen Bemühungen zur Erreichung eines Mandats im UN-Sicherheitsrat.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Zusatzfrage, Kollege Schmitt? ({0}) Herr Abgeordneter Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, die Frage des Kollegen Schmitt enthält, wenn ich sie richtig gelesen habe, etwas mehr. Ich freue mich natürlich, daß sich das Kabinett jetzt auf die Meinung des Außenministers geeinigt hat. Nur, als diese Dringliche Frage gestern eingebracht wurde, stand in der „FAZ", daß der Verteidigungsminister nach anderen Rechtsgrundlagen sucht und gesagt hat, es sei jetzt nicht die Stunde des Streits unter Juristen. Interpretiere ich dies richtig, wenn ich sage, daß sich Ihr Minister gegen den Verteidigungsminister im Kabinett durchgesetzt hat?

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Herr Kollege, ich kann nur sagen, daß natürlich zunächst einmal die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Kosovo-Konflikts in politischer Hinsicht im Mittelpunkt stehen und nicht die Frage, die spekulativ im Raum war: Was könnte, wenn es zu einem militärischen Einsatz kommt, überhaupt geschehen, und auf welcher Grundlage muß das geschehen? Da gab es durchaus verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Sie erinnern sich daran, daß in der SPD der Kollege Scharping eine andere Meinung vertrat als der Kollege Schröder, der Kollege Lafontaine und andere mehr. Es ist ein schwieriges Feld. Von Tag zu Tag verändern sich ja offensichtlich nicht nur Meinungen, sondern auch Erkenntnisse, so daß ich davon ausgehen kann, daß insbesondere nach dem gestrigen Tag, an dem ja Herr Milosevic in Moskau doch immerhin eine ganze Reihe wichtiger Zugeständnisse gemacht hat - das muß man sehen -, eine Art Entwarnung gegeben werden kann - so hoffen wir. Das heißt, wir werden in jedem Falle alles tun, um diese Krise politisch zu lösen. Wir wollen es nicht unbedingt zu einem Militäreinsatz kommen lassen, der das allerletzte Mittel darstellen würde. Sie wissen, daß es auch innerhalb der NATO-Staaten eine klare Meinungsbildung zum Beispiel in der Frage des UN- Mandats gegeben hat. Ich nenne hier die Äußerungen des französischen Präsidenten in Cardiff; es gab auch noch andere entsprechende Äußerungen von den Außenministern. Ich glaube auch, daß sich die Frage im Augenblick so nicht stellt. Wir dürfen aus Interpretationen, die in verschiedenen Zeitungsartikeln gegeben werden, nicht herauslesen, daß es zwischen Bundesverteidigungsminister Rühe, der ja zu Beginn der Debatte eine außerordentlich zurückhaltende Position vertreten hat, und Bundesaußenminister Kinkel jetzt gravierendste Meinungsverschiedenheiten gibt. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Eine zweite Frage ist nicht möglich. Wir kommen jetzt zu der zweiten Dringlichen Frage; sie betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Wilz zur Verfügung. Ich rufe die Dringliche Frage 2 des Abgeordneten Wolfgang Schmitt, Bündnis 90/ Die Grünen, auf: Auf welche Weise hat der Bundesminister der Verteidigung, um sich von dem Verdacht freizuhalten, dem Deutschen Bundestag Entscheidungen aufzuoktroyieren, gegenüber den NATO-Verteidigungsministern seine Zustimmung zu den Manövern über Albanien und Mazedonien unter einen Vorbehalt gestellt, welcher dem Umstand Rechnung trägt, daß aus diesen Manövern ein militärischer Einsatz der NATO im Kosovo folgen kann, bei dem eine deutsche Beteiligung an die verfassungsrechtliche Bedingung des konstitutiven Parlamentsbeschlusses vor einem Militäreinsatz gebunden ist?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Frau Präsidentin! Herr Kollege Schmitt, ich gebe folgende Antwort: Der Bundesminister der Verteidigung hat seine Zustimmung zu der Übung unter keinen Vorbehalt gestellt, da im Zusammenhang mit dieser NATO-Übung zu keiner Zeit ein Einsatz im Kosovo beabsichtigt war. Die Verteidigungsminister hatten bei ihrem Treffen am 11. Juni den NATO-Militärbehörden Weisung erteilt, eine geeignete Übung der Luftstreitkräfte im Luftraum über Albanien und Mazedonien so bald wie möglich mit der Zustimmung dieser Länder durchzuführen, um die Fähigkeit des Bündnisses darzustellen, Kräfte in der Region rasch zur Wirkung kommen zu lassen. Die Übungsanlage sah ausdrücklich die Einsatzregeln für den Friedensflugbetrieb sowie einen Sicherheitsabstand zur Grenze zur Bundesrepublik Jugoslawien vor. Die für diese Übung zusätzlich nach Italien verlegten Luftfahrzeuge der Bundeswehr sind inzwischen an ihren Heimatstandort zurückgekehrt.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Keine Zusatzfrage des Abgeordneten Schmitt. Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Lippelt. Bitte schön.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es hat ja inzwischen viele PfP-Manöver gegeben. Können Sie, Herr Staatssekretär, mir ein einziges nennen, das stattgefunden hat, während es gleichzeitig so erregte Diskussionen über ein mögliches Eingreifen bei Menschenrechtsverletzungen - ich spiele das gar nicht herunter; ich frage nur nach der Rechtsgrundlage - in einem anderen Staate gegeben hat? Würden Sie mir vielleicht zustimmen, daß man gerade angesichts des singulären Charakters dieses PfP-Manövers sich daran erinnert fühlen könnte, daß in früheren Zeiten Generalmobilmachungen durchaus Kriege ausgelöst haben?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege Lippelt, ich darf zunächst darauf hinweisen: Es handelte sich in keiner Weise um eine Mobilmachung. Vielmehr ging es hier um eine ganz normale Übung, um eine Übung über dem Luftraum von zwei Partnern, die an PfP beteiligt sind. Dies ist ein normaler Vorgang. So etwas kann die NATO selbstverständlich zu jeder Zeit durchführen. Wir machen solche Übungen zur Aufrechterhaltung des Friedens. Ich glaube, daß sich dies sehr bewährt hat. Sie sehen ja, daß immerhin 13 Staaten daran beteiligt waren. Das spricht wohl dafür, daß alle in der gleichen, der richtigen Überzeugung gehandelt haben. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wilz. ({0}) - Nein, eine weitere Frage ist nicht mehr zulässig. ({1}) - Herr Dr. Lippelt, ich kann dem Staatssekretär nicht vorschreiben, was er zu antworten hat. ({2})

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege Lippelt, Sie haben sehr viel gefragt; Sie haben drei oder vier Fragen gestellt. Es mag sein, daß ich auf eine Frage nicht geantwortet habe. Ich will jetzt aber feststellen: Es wird nicht der Fall eintreten, daß zwei Situationen absolut identisch und gleichwertig sind. Das ist so im Leben. Wir können uns gern darüber unterhalten, wo es Ähnlichkeiten gibt. Zwei Situationen, die identisch sind, gibt es nicht. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich bedanke mich bei Staatssekretär Wilz für die Beantwortung der Fragen. Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Gernot Erler aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich bedanke mich auch bei Staatsminister Schäfer. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Die Abgeordnete Annette Faße hat für die Fragen 1 und 2 um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Die Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich hat für die Fragen 3 und 4 um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der Abgeordnete Klaus Hagemann hat für die Fragen 5 und 6 um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Wir kommen damit zum Bereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Staatsminister Bernd Schmidbauer zur Verfügung. Die Frage 7 des Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt wird auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe Frage 8 des Abgeordneten Helmut Lippelt auf: Warum wurde diese Neuakzentuierung deutscher Europapolitik *) nicht im Kabinett erörtert, zumindest aber mit dem Bundesministerium des Auswärtigen abgestimmt? Bitte schön, Herr Staatsminister. *) siehe Anlage 3

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Herr Kollege Dr. Lippelt, der gemeinsame Brief des Bundeskanzlers und des Präsidenten der Französischen Republik im Vorfeld des Europäischen Rates in Cardiff stellt keine Neuakzentuierung der europäischen Politik dar. Eine weitere Beantwortung Ihrer Frage erübrigt sich damit. Sie kennen die Antwort auf die Frage 7.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, nachdem wir uns geeinigt hatten, daß die Frage 7 schriftlich beantwortet wird, weil das Thema morgen behandelt wird, und ich auf eine Beantwortung hier verzichtet habe - insofern darf ich sagen, daß Ihr Nein fundamental war -, komme ich jetzt zu einer Zusatzfrage zu Frage 8: Wie erklären Sie sich, daß in allen überregionalen Zeitungen - von der „FAZ" über die „Süddeutsche" bis zur „Frankfurter Rundschau" - diese Betonung der Subsidiarität als eine Umwertung deutscher Europapolitik interpretiert worden ist?

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Das kann schon sein, aber bei Kenntnis des Briefes, in dem es darum geht, eine starke und handlungsfähige Europäische Union zu schaffen, auf die Vielfalt der politischen, kulturellen und regionalen Traditionen hinzuweisen, muß man zu dem Schluß gelangen, daß es keine Veränderung der Politik darstellt, wenn man dies als Besonderheit Europas herausstellt. Das ist eine Festigung der Position der Bundesregierung. Die Inhalte dieses Briefes hat Bundeskanzler Helmut Kohl in den letzten Jahren sehr nachhaltig vertreten. Wenn er sagt, daß es um die Perspektive dieses Europas geht und darum, eine offene Aussprache anzuregen, dann ist dies in der Tat keine neue Europapolitik, sondern liegt in der Kontinuität unseres Kanzlers im Hinblick auf den Gipfel in Cardiff.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Eine zweite Zusatzfrage, bitte, Herr Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, wenn ich den Zeitungsberichten folge, dann hat der Bundeskanzler dieses Thema mit dem Hinweis eingeführt, daß es überflüssig sei, solche Dinge wie das Verbot der Tabakwerbung europäisch zu regeln. Finden Sie nicht, daß - angesichts der Milliardenklagen in Amerika und eines riesigen Fonds, der in diesem Zusammenhang gebildet wurde und Individualklagen dennoch nicht abgewehrt hat - der Bundeskanzler unter dem Deckmantel der Subsidiarität eine sehr massive Lobbypolitik betrieben hat und dies insofern schon interessant und durchaus neu war?

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Herr Dr. Lippelt, der Brief beschäftigt sich nicht mit dieser Form der politischen Verbalakrobatik, die tagespolitisch mal dem einen und mal dem anderen wichtig erscheint. Hier ging es um den Integrationsprozeß. Hier ging es um die zukünftigen Perspektiven, die bereits alle formuliert sind. Hier ging es darum, eine offene Aussprache über die anstehenden Prozesse zu führen. Aber es ging nicht um irgendwelche Egoismen. Es ging darum, gemeinsam mit dem Präsidenten der Französischen Republik den Kollegen im Rahmen dieses Gipfels die Perspektiven unserer hochmodernen Europapolitik klarzumachen und mit ihnen darüber zu diskutieren. Das war Sinn und Zweck dieses Gipfels. Es ging nicht um Neuformulierungen. Sie haben vorhin im Rahmen einer anderen Frage die Position des Außenministers dargestellt. Es ist dankenswert, daß Sie das Bundeskanzleramt als großes Koordinationsinstrument sehen und darauf hinweisen, daß das eine oder andere nicht abgestimmt werden muß, weil es nach einem langen Prozeß bereits seitens der Regierung abgestimmt wurde. Wir müssen uns um diese Dinge also keine Sorgen machen. Wenn ich Ihnen das sagen darf, Herr Dr. Lippelt: Im übrigen kann es Pannen geben. Sie sind zu schlau, um dies nicht bereits registriert zu haben. Wenn das der Hintergrund Ihrer Frage war, möchte ich Ihnen sagen: Ich habe in meiner Antwort darauf hingewiesen, daß der Einigungsprozeß, die Integration in vielen Feldern dichter werden muß, daß die Dichte in anderen Fällen aber viel zu hoch ist und geregelt gehört. Sie haben das mit dem Begriff „Subsidiarität" umschrieben. Ich glaube, daß wir beide damit leben können, daß dies eine hochmoderne Europapolitik dieser Bundesregierung ist.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Vielen Dank, Herr Staatsminister. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundeskanzleramtes. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Die Frage 11 des Abgeordneten Hans Büttner ({0}) sowie die Fragen 12 und 13 des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung. Die Frage 14 des Abgeordneten Hans Büttner ({1}) wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf: Treffen meine Informationen zu, daß sich hochrangige thailändische Wirtschaftsmanager bei ihrer Ankunft in Deutschland auf dem Frankfurter Flughafen einer intensiven Kontrolle durch Beamte des Bundesgrenzschutzes ({2}) unterziehen mußten, und wenn ja, wie wird dieses Verhalten begründet? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Herr Abgeordneter, mir lieParl. Staatssekretär Manfred Carstens gen zu der von Ihnen gestellten Frage keine Erkenntnisse bzw. Informationen vor. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich möchte eine Feststellung zur Geschäftsordnung treffen. Ich vermute, der Herr Staatssekretär hat damit auch meine zweite Frage beantwortet, so daß mir jetzt vier Zusatzfragen zustehen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Staatssekretär, entspricht dies den Tatsachen?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich habe eine ähnliche Antwort auf die zweite Frage des Kollegen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann sollte er diese Frage noch beantworten. Anschließend werde ich meine Zusatzfragen stellen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Gut, dann rufe ich Frage 16 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf: Treffen meine Informationen zu, daß das o.a. Verhalten der Beamten des BGS gegenüber Wirtschaftsmanagern aus NichtEU-Staaten zu derartigen Verstimmungen geführt hat, daß geplante Wirtschaftsabschlüsse und Investitionen nicht getätigt wurden?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Mir liegen keine Erkenntnisse vor, daß eingehende Außengrenzkontrollen, die im übrigen an allen Schengen-Außengrenzen vorgeschrieben sind, Anlaß waren, daß geplante Wirtschaftsabschlüsse und Investitionen nicht getätigt wurden.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte schön, Herr Koppelin, Sie haben jetzt vier Zusatzfragen.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, ich bin gern bereit, Ihnen einen konkreten Fall zu nennen, von dem ich durch unsere Botschaft gehört habe. Der Geschäftsführer einer sehr bekannten thailändischen Brauerei, der Singha-Brauerei, die in Sachsen eine andere Brauerei gekauft hat, ist bei seiner Ankunft in Deutschland vom Bundesgrenzschutz kontrolliert worden. Auf die Frage des BGS, was er in Deutschland wolle, hat der thailändische Geschäftsmann wahrheitsgemäß geantwortet: ein Flugzeug kaufen. - Daraufhin ist er wirklich ganz intensiv kontrolliert worden.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich tue mich schwer, darauf jetzt konkret einzugehen,

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Sie können das ja schriftlich machen.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

- weil das, was man zu einem solchen Einzelfall sagt, schwerwiegender Natur sein kann. Ich möchte hier im Deutschen Bundestag aber zum Ausdruck bringen, daß man die dort tätigen Beamten zumindest insoweit in Schutz nehmen muß, als daß wir für alle Personen, die nicht aus dem Schengen-Bereich kommen, klare Vorgaben der Behandlung haben. Wir in Deutschland bestehen darauf, daß sich auch alle anderen Länder aus dem Schengen-Bereich an das halten, was vereinbart worden ist. Da kann es natürlich zu Überprüfungen kommen, die nicht für jedermann angenehm sind. Man sollte sich aber bemühen, zumindest höflich zu sein und freundlich zu bleiben. Nachdem ich jetzt weiß, was Sie meinen, Herr Kollege Koppelin, werde ich der Sache eingehend nachgehen und Ihnen dann gerne schriftlich Auskunft geben.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann will ich gern zu meiner zweiten Zusatzfrage kommen: Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, sich auf dem Frankfurter Flughafen selbst anzusehen, wie sich der Bundesgrenzschutz verhält, wenn dort morgens zum Beispiel ein Flugzeug aus Asien ankommt? Ich habe es mir selbst schon einmal angeschaut: Sieben BGS-Beamte stehen stark bewaffnet teilweise direkt am Ein- bzw. Ausstieg des Flugzeuges - teilweise können diese BGS-Beamten kein Englisch - und holen sich die Leute mit einer entsprechenden Handbewegung heraus. In den Flugzeugen ist es üblich - vielleicht kennen Sie das -, daß die Passagiere der 1. Klasse zuerst herauskommen, dann die der Business class und dann die anderen. Die Beamten greifen sich gleich die ersten Passagiere heraus. Das sind meistens die Geschäftsleute, die in der 1. Klasse fliegen. Im Flugzeug entsteht ein Rückstau. Diese Passagiere werden im Detail darauf kontrolliert, ob sie ein Visum haben, und werden gefragt, was sie in Deutschland wollen. Danach kommt die nächste Kontrolle.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Jetzt hätten wir gern die Frage.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, welchen Eindruck dieses Verhalten der BGS-Beamten auf die Geschäftsleute macht?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich höre eine solche Beschreibung jetzt das erstemal. Man sollte im Deutschen Bundestag die Beamten nicht ohne Not in Schwierigkeiten bringen. Sie müssen gute Arbeit leisten, selbstverständlich freundlich und höflich. Ich habe bislang nur Entsprechendes gehört. Aber, Herr Kollege Koppelin, falls Sie Wert darauf legen, einen bestimmten Vorgang aufzugreifen, gehe ich ihm gern nach, auch wenn Sie selbst dabei sein möchten.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Dritte Zusatzfrage.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, dann möchte ich weiterfragen, ob Sie etwas, das andere Staaten gerade für solche Geschäftsleute machen, als Anregung aufgreifen und als Empfehlung an Ihren Minister weitergeben könnten, nämlich daß die Botschaften in der Lage sind, diesen Geschäftsleuten ein sogenanntes VIP-Visum zu geben.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich will das gern überprüfen. Wenn beispielsweise Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland Einladungen aussprechen, gibt es ohnehin Ausnahmemöglichkeiten. Diese werden aber von den Verfassungsorganen selten genutzt. Das ist klar. Aber ich greife Ihre Anregung gern auf. Wir werden überprüfen, ob das für uns ein möglicher Vorgang ist.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Letzte Zusatzfrage, bitte.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, wenn Sie meine Angaben überprüfen - davon gehe ich aus, so wie ich Sie kenne - und sich herausstellen sollte, daß meine Angaben korrekt sind - ich habe meine Informationen von Angehörigen der deutschen Botschaft in Thailand -, wären Sie dann bereit, sich im Namen des Innenministeriums bei dem Geschäftsführer der Singha-Brauerei, der in Deutschland studiert hat, dessen Familie bereits in der vierten Generation in Deutschland lebt, der sehr intensive Kontakte zu unserem Land hat, perfekt Deutsch spricht, für das Verhalten der BGS-Beamten zu entschuldigen?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Wir werden den Vorgang ordnungsgemäß überprüfen. In dem Brief wird alles stehen, was für erforderlich gehalten wird. Wenn es erforderlich wäre, hätten wir auch keine Schwierigkeiten, uns zu entschuldigen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern. Ich bedanke mich beim Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Irmgard Karwatzki zur Verfügung. Es wären jetzt die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Manfred Kolbe an der Reihe. Ich sehe den Fragesteller nicht. Dann wird verfahren wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Die Beantwortung entfällt. Die Fragen 19 und 20 der Abgeordneten Gisela Schröter sowie die Fragen 21 und 22 der Abgeordneten Helga Kühn-Mengel werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Juni 1998, 9 Uhr ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist geschlossen.