Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/16/1995

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich eröffne die Sitzung. ({0}) - Wir hier oben sind vollzählig. ({1}) Ich komme zunächst zu den amtlichen Mitteilungen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Zusatzpunkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. 1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer, Ludger Volmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform und Stärkung des Nichtweiterverbreitungsvertrages für Atomwaffen und das Mandat der Bundesregierung für die Verlängerungskonferenz in New York - Drucksache 13/537 - 2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile - Drucksache 13/547 - 3. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Wahlverfahren von Gremien - Drucksache 13/542 - 4. Wahlen zu Gremien a) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({2}) - Drucksachen 13/557, 13/570 - b) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Schuldenausschusses bei der Bundesschuldenverwaltung gemäß § 6 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Errichtung einer Schuldenverwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes und § 2 der Verordnung über die Bundesschuldenverwaltung - Drucksache 13/562 - c) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu bestimmenden Mitglieder des Kontrollausschusses beim Bundesausgleichsamt gemäß § 313 Abs. 1 und 2 des Lastenausgleichsgesetzes - Drucksachen 13/563, 13/572 - d) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder gemäß § 11 des Gesetzes über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens - Drucksachen 13/564, 13/573 - e) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden Mitglieder des Programmbeirats der Deutschen Bundespost gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des Beirats zur Bestimmung der Anlässe für die Ausgabe von Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag der Deutschen Bundespost ({3}) - Drucksache 13/ 565 - f) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden Mitglieder des Kunstbeirats der Deutschen Bundespost gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des Beirats für die graphische Gestaltung der Postwertzeichen der Deutschen Bundespost ({4}) - Drucksache 13/566 - g) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" - Drucksachen 13/567, 13/574 - h) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR" - Drucksachen 13/568, 13/575 - i) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Parlamentarischen Beirats der Stiftung für das sorbische Volk - Drucksache 13/569 - j) Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses nach Artikel 53a des Grundgesetzes - Drucksachen 13/558, 13/559, 13/560, 13/561, 13/571 ({5}) 5. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Hilfen für die neuen Bundesländer - Erfolgreicher Aufbau Ost 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS: Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - Drucksache 13/535 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weltsozialgipfel - Drucksache 13/539 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Wolfgang Vogt ({6}) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P.: Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - Drucksache 13/556 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Widerspruchsrecht für die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksache 13/352 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Politik der Bundesregierung gegenüber der Türkei - Drucksache 13/538 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 11. Erste Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts ({7}) und strafprozessualer Regelungen bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen - Drucksache 13/536 12. Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften Ober parlamentarische Gremien - Drucksache 13/543 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({8}), Annelie Buntenbach, Andrea Fischer ({9}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aktionsprogramm Arbeitspolitik - Drucksache 13/578 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem ist vereinbart worden, die Vorlagen zur Wehrkraftzersetzung, Tagesordnungspunkt 8a und b, abzusetzen. Die Beratungen ohne Aussprache werden nach der Debatte über den Weltgipfel für soziale Entwicklung aufgerufen. Daran anschließend findet gegen 17.15 Uhr die Fragestunde statt. Weiterhin mache ich auf Änderungen von Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Auf die Mitberatung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu nachfolgenden Vorlagen soll verzichtet werden. Die Überweisung an den Innenausschuß bleibt unverändert. Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Arne Börnsen ({10}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Garantie des Bestandes der ARD - Drucksache 13/396 - Entschließungsantrag des Abgeordneten Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur vereinbarten Debatte zu dem Thema: „Strukturreform der ARD" - Drucksache 13/404 - Sind Sie mit den interfraktionellen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie den Zusatzpunkt 1 auf: 3. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Francke ({11}), Peter Kurt Würzbach, Dr. Friedbert Pflüger und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Karsten D. Voigt ({12}), Uta Zapf, Gernot Erler und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Olaf Feldmann, Roland Kohn, Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann und der Fraktion der F.D.P. Unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Nichtverbreitungs-Vertrages - Drucksache 13/398 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Heinrich Graf von Einsiedel, Willibald Jacob und der weiteren Abgeordneten der PDS Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Nichtverbreitung von Kernwaffen - Drucksache 13/429 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer, Ludger Volmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reform und Stärkung des Nichtweiterverbreitungsvertrages für Atomwaffen und das Mandat der Bundesregierung für die Verlängerungskonferenz in New York - Drucksache 13/537 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so. Es beginnt der Kollege Klaus Francke.

Klaus Francke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von Professor Weidenfeld stammt die Feststellung: „Wir durchleben eine Zwischenzeit ohne dominierende Konstellation, ohne prägendes Muster." Diese Feststellung gilt in einem ganz besonderen Maße für die Sicherheitspolitik. In der früheren, bipolaren Landschaft waren die nuklearpolitischen Akteure bekannt, die Verfügungsgewalt in ihrem politischen Einflußbereich war mindestens berechenbar. Diese Eindeutigkeit ist heute nicht mehr vorhanden. Die Welt ist in vielen Bereichen noch komplizierter geworden. Sie fordert von uns neue und differenzierte Konzepte. Es mag Bereiche geben, wo wir uns mit der Anpassung an die neuen Entwicklungen noch etwas Bedenkzeit lassen können. Ein Bereich, der dies jedoch absolut nicht zuläßt, ist die Kontrolle der nuklearen Rüstung; denn die Menschen in unserem Land brauchen dringend Lösungsansätze, die ihren Ängsten und Befürchtungen begegnen. Anlaß unserer Debatte ist die anstehende Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, der seit dem Jahr 1970 in Kraft ist. Der NVV hat heute mit einer Zahl von 170 Vertragsstaaten eine annähernd universelle Geltung. Dabei ist insbesondere der Beitritt der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans zu begrüßen, die dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beigetreten sind und damit ihre Bereitschaft unterstrichen haben, daß die noch auf ihrem Gebiet lagernden sowjetischen Gefechtsköpfe nach Rußland abgezogen werden. 25 Jahre nach dem Inkrafttreten des NVV soll nun eine Mehrheit der Vertragsstaaten auf einer für Mitte April anberaumten Verlängerungskonferenz über eine unbegrenzte oder befristete Weitergeltung entscheiden. Aus diesem Anlaß liegt Ihnen heute der von mir initiierte, dann aber von CDU/CSU, SPD und F.D.P. gemeinsam eingebrachte Antrag vor, der die Bundesregierung dazu auffordert, sich für eine unbeKlaus Francke ({0}) fristete und unkonditionierte Verlängerung des NVV einzusetzen. Nur so kann dauerhafte Stabilität erreicht und der Wesensgehalt des Vertrages gesichert werden. Bei einer befristeten Verlängerung besteht die Gefahr, daß immer wieder Wünsche nach Vertragsveränderungen aufkommen oder Partikularinteressen den Bestand des Ganzen gefährden. Wir unterstützen damit die bisherige Position der Bundesregierung, die bereits von vielen Vertragspartnern geteilt wird. Dennoch bleibt das Ziel weit gesteckt. Wir alle wissen, daß es bislang unter den Vertragspartnern keine Mehrheit für eine unbefristete Verlängerung gibt. Noch müssen die Kritiker einer unbefristeten Verlängerung überzeugt werden. Der NVV kann nur eine der Säulen des Nichtverbreitungsregimes sein. Seine Wirksamkeit ist eng mit Fortschritten im Umfeld des NVV und der gesamten Rüstungskontrollpolitik verbunden. Hiervon hängt auch der Erfolg der Verlängerungskonferenz ab. Die Bundesregierung sollte daher wie bisher aktiv auf den Abschluß eines verifizierbaren und umfassenden Teststoppabkommens hinarbeiten. Obwohl mit einem Abschluß nicht vor Ende 1995 zu rechnen ist, haben die USA mit der Verlängerung ihres Teststoppmoratoriums bis zum Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens bereits ein deutliches positives Zeichen gesetzt. Besonders China ist aufgefordert, hier dem amerikanischen Beispiel zu folgen und sich endlich zu einem Testmoratorium durchzuringen. ({1}) Fortschritte in der nuklearen Abrüstung sind wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einer unbefristeten Verlängerung des NVV. Insbesondere die rasche Umsetzung von START I und die baldige Ratifizierung von START II würden eine zügige Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses sichern. Das Nichtverbreitungsregime steht immer wieder vor der grundlegenden Aufgabe, den Befürchtungen der Nichtkernwaffenbesitzer zu begegnen, im Austausch für ihre Selbstbeschränkung im Rahmen des NVV nicht genügend an Sicherheit dazuzugewinnen. Die Bundesrepublik als Nichtkernwaffenstaat und NATO-Mitglied ist in der glücklichen Lage, unter dem Schirm der Allianz Sicherheit zu finden. Wenn aber denjenigen Staaten, die sich vertragstreu verhalten, verbindliche Sicherheitsgarantien der Kernwaffenstaaten gegeben würden, könnte dies der Versuchung der Entwicklung eigener Atomprogramme effektiv entgegenwirken. ({2}) Bislang zeichnen sich in dem Genfer Verhandlungsausschuß für den Nichteinsatz von Atomwaffen durch die Kernwaffenstaaten noch keine positiven Ergebnisse ab, so daß die Bundesregierung auch hier zu weiterem aktiven Engagement aufgefordert ist. Meine Damen und Herren, ein wichtiger weiterer Punkt im Umfeld des NVV, mit dem den Ängsten der Nichtkernwaffenstaaten und Nicht-NATO-Mitgliedern begegnet werden könnte, ist unsere Anregung zur Errichtung eines Kernwaffenregisters bei den Vereinten Nationen, wie es im übrigen Außenminister Kinkel bereits im Dezember 1993 vorgeschlagen hat. ({3}) Durch Transparenz in bezug auf diesen Waffenbestand könnte ein weiterer Baustein für Vertrauen in die nukleare Abrüstung gelegt werden, da dann der Abbau genau nachzuvollziehen wäre. Wir wollen dabei gegenüber den Kernwaffenbesitzern nicht als Lehrmeister auftreten. Ich denke aber, daß die Nichtkernwaffenbesitzer zu Recht bei pflichtbewußter Erfüllung des NVV auch von den Kernwaffenstaaten ein Zeichen der Bereitschaft zur Offenlegung ihrer Bestände einfordern können. Das Nichtverbreitungsregime würde auch dadurch gestärkt werden, wenn ein Sanktionsmechanismus im Falle der Verletzung des Vertrages entwickelt würde. Es muß klar sein, daß eine Vertragsverletzung nicht ohne Folgen bleibt. Dies bedeutet nicht nur die Befassung des UN-Sicherheitsrats, der den Vertragsverletzer klar benennt, mit dem Vorgang. Der Sicherheitsrat hat ja bereits mit seiner Erklärung vom 31. Januar 1992 den ersten Ansatz eines Sanktionsmechanismus aufgezeigt, ({4}) wonach die völkerrechtswidrige Herstellung oder der Erwerb von Nuklearwaffen mit Sanktionen belegt werden muß. Ziel, meine Damen und Herren, muß aber letzten Endes die Reduzierung der Bedrohung, nicht die Strafe an sich sein. Dreh- und Angelpunkt des Nichtverbreitungsvertrages ist jedoch die Verifikation der Vertragseinhaltung. Der Deutsche Bundestag hat schon in seiner Entschließung vom Juni 1993 Anstrengungen zur Stärkung der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien eingefordert, was ich hier erneuern möchte. Der Konflikt um das nordkoreanische Atomprogramm hat bereits einen Modellfall für das Recht der IAEO auf Ad-hoc-Inspektionen geschaffen, das aber weiter gestärkt und ausgebaut werden muß. Auch der Zugang der Behörde zu Informationen muß ausgeweitet und institutionalisiert werden; und sie muß darüber hinaus personell und finanziell in die Lage versetzt werden, die ihr gesetzten Aufgaben zufriedenstellend erfüllen zu können. Die Zusammenarbeit mit Euratom sollte verstärkt werden. Der Ansatz für kontrollrelevante signifikante Mengen an nuklearem Material übersteigt heute nach den neueren technischen Entwicklungen die zur Herstellung von Atomwaffen nötige Menge und kann deswegen niedriger festgelegt werden. Eine Neufestsetzung darf allerdings der friedlichen Nutzung und der Erforschung der Kernenergie, wie sie bisher betrieben wird, nicht entgegenstehen. Klaus Francke ({5}) Mit diesem Forderungskatalog wollen die Antragsteller dazu beitragen, ein dauerhaftes, engmaschiges Netz der Nichtverbreitung zu knüpfen, und damit einen unerläßlichen Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten. Atomwaffen dürfen auch in Zukunft nur politische Waffen sein. Die Anzahl derer, die über sie verfügen, muß weiterhin sorgfältig begrenzt werden. Es gilt nun, ein Klima von Sicherheit und Stabilität zu schaffen, um auch die dem NVV noch fernstehenden Staaten in den Krisenregionen dieser Welt zum Beitritt zu ermutigen. Insbesondere Israel als einer der entscheidenden Akteure im Nahost-Friedensprozeß sollte sich auf diesen Vertrag zubewegen. Der Nahe Osten könnte ein solches Signal auf seinem jetzigen schmalen Grat zum Frieden dringend brauchen. Aber auch ein Beitritt von Indien und Pakistan, die sich bereits an den Teststoppverhandlungen beteiligen, wäre ein wertvoller Beitrag für die regionale Stabilisierung, und damit wäre der Weg zu einer tatsächlichen universellen Geltung des Vertrages vorgezeichnet. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Wochen - genau: am 17. April 1995 - beginnt in New York eine Konferenz, die über das Schicksal des Vertrages über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen entscheiden wird. Die Frage ist: Welches Signal, welche Botschaft soll der Deutsche Bundestag im Vorfeld dieser Konferenz aussenden? Die Frage ist anscheinend einfach zu beantworten. Der Nichtverbreitungsvertrag besteht jetzt 25 Jahre. Die Zahl der Vertragsstaaten steigerte sich von 95 im Jahre 1968, als der Text vereinbart wurde, bis auf 172 Staaten heute - sicherlich ein Zeichen für wachsende Zustimmung zu einem der wenigen tatsächlich wirksamen, teilweise auch erfolgreichen Rüstungskontrollverträge. So wundert es denn auch nicht, daß keine der im Bundestag vertretenen Parteien einem Auslaufen des Nichtverbreitungsvertrages oder gar einem Verzicht auf ihn das Wort redet. Ich halte ausdrücklich und mit Genugtuung fest: Im Bundestag gibt es keine Position, die den Vertrag etwa auf der Basis deutscher atomarer Begehrlichkeit in Frage stellt. ({0}) Trotzdem gibt es Unterschiede. CDU/CSU, F.D.P. und SPD unterstützen gemeinsam eine unbefristete, an keine weiteren Voraussetzungen gebundene Verlängerung des Vertrages; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dagegen verlangen, daß sich die Bundesrepublik für eine Veränderungskonferenz einsetzt, mit dem Ziel, einen ganz anderen Vertrag mehrheitsfähig zu machen; und die PDS will aus ähnlichen Beweggründen, daß nur eine begrenzte Verlängerung der Geltungsdauer unterstützt wird. Diese unterschiedlichen Voten bezüglich der weiteren politischen Vorgehensweise sollten nicht zu einem falschen Eindruck führen. Tatsächlich besteht im deutschen Parlament eine große Einigkeit darüber, daß atomare Waffen und die Fähigkeit, sie zu bauen, nicht weiterverbreitet werden dürfen, ({1}) sondern daß weitere entscheidende Schritte zur atomaren Abrüstung notwendig sind und von der Bundesregierung unterstützt werden sollten. Auf dieser gemeinsamen Basis lohnt es sich durchaus, den Charakter, die Funktion und die erkennbaren Defizite des Nichtverbreitungsvertrages kritisch zu beleuchten und zu diskutieren. Geht man einmal ohne Pathos an das „Geschäft" heran, das vor 25 Jahren abgeschlossen wurde, dann kann man es mit folgenden Worten beschreiben: Die fünf Kernwaffenstaaten erreichten eine Verzichtserklärung zahlreicher Nichtkernwaffenstaaten, ihrem privilegierten Status nachzueifern und selber Atomwaffen zu bauen oder sich zu verschaffen, durch zwei feierliche Versprechen, nämlich die atomaren Habenichtse bei der zivilen Nutzung der Kernenergie nach Kräften zu unterstützen und selber auf die weitere Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten und statt dessen entschlossene Schritte hin zum Ziel einer vollständigen atomaren Abrüstung zu unternehmen. Dieses „Geschäft" spiegelt die Vorstellungen und Ängste der Nichtkernwaffenstaaten aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre wider. Auf keinen Fall wollte man abgekoppelt werden von der zivilen Nutzung der Kernenergie, die zu dieser Zeit noch unterschiedslos als Zukunftstechnologie schlechthin angesehen wurde, und man wollte auf Dauer auch nicht als gottgegeben hinnehmen, daß fünf privilegierte Staaten sich das Recht auf nicht kontrollierbare Atomwaffen und damit auf nicht sanktionierbare Machtentfaltung - sie spiegelt sich bis heute im Vetorecht dieser fünf Mächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wider - sicherten. Auf eine zeitliche Festlegung, bis wann diese Privilegien abgebaut werden sollten, verzichtete man damals. Dahinter steckte ein unausgesprochenes und zeitlich befristetes Einverständnis mit einem internationalen politischen System, dessen Stabilität sich im Zeichen des Kalten Krieges auf die wechselseitige atomare Abschreckung zwischen Ost und West gründete. Nur die Balance zwischen dem Entwicklungs- und Beschaffungsverzicht einerseits und dem erwähnten doppelten Versprechen andererseits überwandt die schon zur Entstehungszeit des Vertrages aufkommen den Bedenken, das Nonproliferationsregime könnte die Welt auf Dauer diskriminatorisch in Besitzer und Nichtbesitzer von Nuklearwaffen einteilen und damit zugleich Entwicklungs- und Machtchancen definitiv ungerecht verteilen. Diese schon 1970 virulenten Bedenken haben die Erweiterung der Zahl der Vertragsstaaten nicht verhindert, verstummt sind sie aber bis heute nicht. Heute haben wir eine ganz andere politische Situation. Atomwaffen werden nicht mehr zur Aufrechterhaltung eines Sicherheitspatts zwischen Ost und West gebraucht. Ihre Brauchbarkeit als Abschrekkungsinstrument in regionalen Konflikten muß nach einigen verlustreichen Erfahrungen zumindest in Zweifel gezogen werden. Die Beispiele des Falkland- und des Golfkriegs haben das gezeigt. Man sollte meinen, diese veränderte Funktion von Atomwaffen müßte ihre Verminderung und Beseitigung, wie sie der NVV postuliert, erleichtern und beschleunigen. Tatsächlich gibt es Abrüstungserfolge; der Kollege Francke hat soeben schon darauf hingewiesen. Der 1987 beschlossene INF-Vertrag hat bis 1991 zur Eliminierung einer ganzen Sorte von Nuklearwaffen geführt. START I, seit dem 4. Dezember 1994 endlich und mit einer Verspätung von dreieinhalb Jahren in Kraft, wird innerhalb von sieben Jahren die Zahl der bestehenden Atomwaffen um 40 reduzieren. START II sieht vor, daß im Jahre 2003 „nur" noch 3 500 bzw. 3 000 atomare Sprengköpfe bei den beiden Supermächten übrigbleiben. Das Wort nur steht natürlich in Anführungsstrichen, weil auch diese Potentiale die Erde mehrfach unbewohnbar machen können. Neuerdings mangelt es weniger an der „redlichen Absicht" beim Verhandeln, den der Nichtverbreitungsvertrag fordert, sondern eher an ausreichenden technischen und finanziellen Mitteln, um die verabredeten Abrüstungsmaßnahmen auch zeitgerecht verwirklichen zu können. Aber auch im Jahre 2003, 33 Jahre nach Vertragsabschluß, wird jener „Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle", wie ihn Art. VI des NVV fordert, noch lange nicht in Sicht sein. Das heißt aber auch, das diskriminatorische Manko des Vertrags bleibt ohne eine dramatische Beschleunigung der Abrüstungsprozesse, die nicht zu erwarten ist, noch lange als Stolperstein für potentielle und neue Vertragsstaaten und damit als Herausforderung für alle Mitgliedstaaten bestehen. Aber die atomare Klassengesellschaft ist nicht das einzige Problem, das bei der Fortentwicklung des Nonproliferationsregimes bisher nicht überzeugend gelöst wurde. Zum Erbe der Vertragsentstehungsgeschichte gehört ein unangemessenes Vertrauen in die verläßliche Trennbarkeit von militärischer und ziviler Nutzung der Kernkraft und der dazugehörigen Brennstoffkreisläufe. Längst hat sich erwiesen, daß diese Trennung trotz der Weiterentwicklung der internationalen Kontrolle durch das IAEO-Safeguard-Regime nicht ausreichend funktioniert. An der Schwelle zwischen dem Nichtkernwaffen- und dem Kernwaffenstatus steht regelmäßig ein als zivil ausgegebenes Reaktorprogramm mit offenen und verborgenen Brücken zur Gewinnung militärisch nutzbarer Spaltmaterialien. Gerade die letzten Tage und Wochen haben für dieses ungelöste Problem Beispiele geliefert. Die Vereinigten Staaten haben sehr nachdrückliche Anstrengungen unternehmen müssen, um die Volksrepublik Korea von ihrem eingeschlagenen Reaktorpfad abzubringen. Es wird vier Milliarden Dollar kosten, bis die vorhandenen Reaktoren Pjöngjangs mit ihren fragwürdigen Fähigkeiten zur Ausscheidung waffenfähigen Plutoniums durch unbedenklichere Leichtwasserreaktoren ersetzt sein werden. Parallel dazu führt die amerikanische Regierung schweres Geschütz gegen die russischen Pläne auf, Siemens-Nachfolger als Bestücker des iranischen Reaktorkomplexes Buschir zu werden. Die Gefahr, daß sich hier ein Proliferationsfenster für das schon lange mißtrauisch beobachtete Nuklearprogramm Teherans öffnet, wird in Washington sehr ernst genommen. Nur darf man aus all diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen nicht die falschen Schlußfolgerungen ziehen. Jeder Versuch, diese Probleme durch eine Vertragsrevision und dies auch noch ein paar Minuten vor der Entscheidung über die Fortexistenz des Vertrages lösen zu wollen, ist fragwürdig und äußerst gefährlich. ({2}) Niemand sollte vergessen, welche enormen Anstrengungen es gekostet hat, das Vertragswerk überhaupt zu sichern. 19 Jahre dauerte es, bis die letzten der 98 Erstunterzeichner von 1970 ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt haben. Und auch heute, 1995, wird es noch größter Anstrengungen bedürfen, um eine Mehrheit der Vertragsstaaten für eine uneingeschränkte Verlängerung zu gewinnen. Erst 70 der 172 Mitgliedsländer haben sich positiv festgelegt. Das heißt, daß noch mindestens weitere 17 in den nächsten Wochen für die Fortsetzung der Nonproliferation gewonnen werden müssen. Es ist die amerikanische und westliche Linie, ohne Rückfallposition in die New Yorker Konferenz zu gehen, damit keine Zersplitterung der Gruppe derjenigen erfolgt, die im Prinzip an der Weiterentwicklung der Nonproliferation interessiert sind. Diese Alles oder-nichts-Position ist nicht ohne Risiko, sie macht aber jede Vorstellung unrealistisch, eine mögliche Veränderung und Reform des Vertrages sei jetzt, im Kontext mit der Verlängerungskonferenz, erreichbar. Die Hürde für eine solche Veränderung ist' auch kaum überwindbar hoch: Art. VIII Abs. 2 des Vertrages verlangt, daß eine solche Änderung gleichzeitig die Zustimmung der Mehrheit aller Vertragsstaaten sowie aller Kernwaffenstaaten und aller Mitglieder des Gouverneursrats der IAEO erhält. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzt sich in ihrem Antrag leider über diese Fakten hinweg und kommt, was ich bedauere, zu einer in sich widersprüchlichen Position. Da wird von UnglaubwürdigGernot Erler keit des Vertrages, ja sogar von Vertragsbruch seitens der Atomwaffenstaaten gesprochen. Ein paar Zeilen später aber fordert man alle Staaten, die noch nicht Vertragspartei sind, nachdrücklich auf, dem NW beizutreten. Warum sollten weitere Länder einem unglaubwürdigen Nichtverbreitungsregime beitreten, das auf Vertragsbruch aufbaut? ({3}) Nein, es gibt unseres Erachtens keine Alternative dazu, jetzt für eine unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Vertrages zu kämpfen, ({4}) aber gleichzeitig und parallel dazu mit weiteren entschlossenen Schritten den Abrüstungskonsens zu erweitern, um den NVV sozusagen wie ein Flaggschiff mit einem Konvoi weiterer Abrüstungsfahrzeuge zu umgeben, die ihn absichern und ihm freie Fahrt sichern. ({5}) Der gemeinsame Antrag der drei Fraktionen nennt hierzu die entscheidenden Punkte: allen voran ein umfassendes Teststoppabkommen einschließlich der freiwilligen Atomtestmoratorien, eine überzeugende Realisierung von START I und START II, ein verbindliches Kernwaffenregister, eine Erweiterung des Safeguard-Systems, den Cut-off-Vertrag. Herr Francke hat diese Punkte des Vertrages hier alle schon aufgezählt. An der Gewichtung der Einzelmaßnahmen muß dabei erkennbar werden, daß es sich nicht um die Stabilisierung eines in sich nicht legitimierbaren atomaren Klassensystems handelt, sondern um Schritte zu einer Welt, die ohne Atomwaffen mehr Frieden und Sicherheit organisiert, als das heute angesichts von noch immer etwa 23 000 auf mindestens acht Länder verteilten Atomsprengköpfen möglich ist. Die Bundesrepublik Deutschland kann zu dieser umfassenden Absicherung eines dauerhaften Nichtverbreitungssystems einiges tun. Unbestritten ist die konstruktive Rolle unseres Landes in der jetzigen entscheidenden Vorphase der New Yorker Konferenz, bei der es darum geht, möglichst viele Länder, auf die wir Einfluß haben, von der Notwendigkeit der Unterstützung des NVV zu überzeugen. Auch der Deutsche Bundestag wird seinen Beitrag zu diesen Bemühungen leisten. Als Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle kann ich Ihnen mitteilen, daß wir uns gleich zu Beginn der Konferenz im April mit einer eigenen Delegation und mit einer deutlichen inhaltlichen Botschaft in die internationale Meinungsbildung einschalten wollen. ({6}) Aber - und ich kann nicht ausschließen, daß hier die Gemeinsamkeiten der drei antragstellenden Fraktionen enden - Deutschland kann auch in eigener Verantwortung wichtige Initiativen zugunsten der atomaren Nichtverbreitung und Abrüstung ergreifen. ({7}) Warum verzichtet die Bundesregierung z. B. nicht auf jede Produktion und Nutzung von hochangereichertem Uran ({8}), u. a. dadurch, daß sie die Konzeption des geplanten Garchinger Forschungsreaktors FRM II ändert? ({9}) Diese Maßnahme ist durch den jüngsten amerikanischen Verzicht auf die Nutzung von ANS ({10}) für den Reaktor am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee nur noch dringlicher geworden. Die Behauptung, ein Hochtechnologieland wie die Bundesrepublik müsse an der zumindest forschenden Nutzung von HEU festhalten, schadet den Nichtverbreitungszielen. Warum steigt die Bundesregierung nicht aus der Plutoniumnutzung aus, beendet die Wiederaufarbeitungsverträge mit dem Ausland und verzichtet auf die weitere Mischoxidnutzung, um damit ein Signal an die Länder zu senden, für die Plutoniumkreisläufe noch immer Signets erstrebenswerter, reichtumversprechender High-Tech-Gesellschaften ist? ({11}) Warum verschärft die Bundesregierung nicht die Exportkontrolle für sensible und Dual-use-Güter oder verteidigt nicht wenigstens die erreichten deutschen Standards, ({12}) sondern unternimmt immer neue Anläufe, unter dem Deckmantel der sogenannten europäischen Harmonisierung und unter Nutzung von äußerst fragwürdigen Arbeitsplatzargumenten das Kontrollregime Schritt für Schritt aufzuweichen? Wer sich im eigenen Haus von solchem Egoismus leiten läßt, kann bei anderen nur mit gebremster Überzeugungskraft für proliferatorische Zurückhaltung werben. ({13}) Warum beweist die Bundesregierung nicht durch einen Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernenergie und eine umfassende Anstrengung zur Etablierung modernster regenerativer Energietechnologien, daß der ganze Streit um den freien Zugang zur zivilen Kerntechnik als Entréebillet zu Modernität und Prosperität ein Anachronismus ist und daß das Privileg der nächsten Generation die Unabhägigkeit und nicht die Abhängigkeit von Kernreaktoren und Atomtechnologie sein wird? ({14}) Das wäre eine unschätzbare Entlastung für einen Konflikt, der immer wieder zum Hindernis für die Nichtverbreitung wird. Schließlich: Warum leistet die Bundesregierung nicht einen angemessenen finanziellen Beitrag - ich freue mich, daß Herr Kinkel jetzt gerade da ist -, um die technischen Schwierigkeiten bei der Realisierung der atomaren Abrüstung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu überwinden? Es ist einfach lächerlich, wenn in den Bundeshaushalt für die Abrüstungshilfe nur 13 Millionen DM für das Jahr 1995 eingestellt werden, ({15}) wenn man weiß, daß die Russische Föderation allein zur Erfüllung der bisher vertraglich zugesagten Abrüstungsverpflichtungen schätzungsweise 400 Milliarden Dollar wird aufwenden müssen, von denen bisher niemand weiß, woher sie kommen sollen. ({16}) Ich komme zum Schluß: Aus der Sicht der SPD heißt mehr Verantwortung in der Welt wahrnehmen, bei dem Ziel Nonproliferation und atomare Abrüstung mit gutem Beispiel voranzugehen, ein Vorbild zu sein ({17}) Im Augenblick geht es darum, alles zu tun, damit der Nichtverbreitungsvertrag in diesem Frühjahr die Hürde der unbefristeten Gültigkeit nimmt und zu einer sicheren Leitplanke aller künftigen Abrüstungsanstrengungen wird. Wir werden aber noch oft Gelegenheit haben, den Konsens auszuweiten auf weitere mutige und kreative Schritte. Ohne diesen Konsens kann die Nonproliferation auf Dauer nicht Bestand haben. Ich hoffe, daß sich dann die prinzipielle Einigkeit wiederholen läßt, die wir heute hier in der Frage des Nichtverbreitungsvertrages haben. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste hat das Wort Angelika Beer. ({0})

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den die Koalition und die SPD einbringen, hat positive Aspekte. Das wollen wir überhaupt nicht bestreiten. Zum Beispiel halten wir es für sehr unterstützenswert, daß die Verifikationsproblematik überhaupt genannt und als wichtig bewertet wird und daß die Fragen nach Sanktionen angesprochen werden. Allerdings geht der Antrag der Koalition und der SPD nicht auf Widersprüche im Vertragswerk ein. Ich glaube - das sage ich an die SPD gerichtet -, daß die Problematik der Atomwaffennutzung und des nach wie vor drohenden Einsatzes von Atomwaffen zu wichtig ist, als daß man darauf verzichten könnte, dieses Vertragswerk besser auszugestalten. Koalition und SPD erwähnen in ihrem gemeinsamen Antrag weder die Weigerung der Atomwaffenstaaten, ihre Atomwaffen vollständig abzurüsten, noch wird das Kernproblem, nämlich das der zivilen Nutzung der Atomenergie, angesprochen. ({0}) - Das, lieber Gernot Erler, könnte die Antwort der GRÜNEN auf Ihre Fragen sein, die Sie soeben an die Bundesregierung gestellt haben. Die Bundesregierung ist nicht bereit, von der zivilen Nutzung der Atomenergie abzusehen. Sie ist nicht bereit, diese Nutzung zu beenden. Sie ist offensichtlich, genauso wie die SPD - dies sage ich, weil dies heute ein gemeinsamer Antrag ist -, nicht bereit einzugestehen, daß es keine friedliche Nutzung von Atomenergie gibt. Aus den genannten Gründen ziehen wir die Schlußfolgerung, daß der Vertrag reformiert und verbessert werden muß, um wirksam Proliferation zu verhindern bzw. einen substantiellen Abrüstungsprozeß zu beginnen. Ich möchte die Kritik der GRÜNEN am Vertragswerk präzisieren: Erstens. Das Hauptziel des Vertrages ist die Verhinderung der Atomwaffenproliferation. Er läßt aber die fortgesetzte Weiterentwicklung von Kernwaffen in den Atomwaffenstaaten zu. Zweitens. Die Atomwaffenstaaten haben Art. VI mißachtet und sind ihrer wichtigsten Verpflichtung im Rahmen des Vertrages nicht nachgekommen, nämlich in „redlicher Absicht" - so steht es im Vertragswerk - zu einem „baldigen Zeitpunkt" wirksame Maßnahmen auszuhandeln, um das nukleare Wettrüsten zu stoppen und ihre Atomarsenale abzurüsten. Wenn man den Vertrag wörtlich nimmt, kann man daraus schließen, daß die unterzeichnenden Atomwaffenstaaten den Vertrag gebrochen haben. Dies läßt sich daran aufzeigen, daß die Zahl der Atomwaffen - Gernot Erler hat es vorhin genannt - seit 1970 zugenommen und nicht abgenommen hat. Drittens. Atomwaffenstaaten, die bei der Entwicklung von Atomwaffen zusammenarbeiten, werden ebensowenig mit Sanktionen belegt, wie die Vertragsverletzungen von Art. VI durch die Atomwaffenstaaten selbst mit Sanktionen belegt werden. Dies ist ein Punkt des Vertragswerkes, der verbesserungswürdig ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Probleme im Zusammenhang mit dem Vertrag müssen beseitigt werden, damit die Unterzeichnung durch möglichst viele Staaten gesichert ist und ein besserer Vertrag zustandekommt. Aber es ist nicht nur die Unvollkommenheit des NVV, die wir kritisieren und die zu Problemen führt. Im zurückliegenden Verhandlungsprozeß hat die Bundesregierung versucht, sich verschiedene Optionen für Atomwaffen offenzuhalten. Auf die Frage nach einem Verzicht auf nationale Optionen hat die Bundesregierung bis heute keine Antwort gegeben. Der Verzicht im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist eine Bekräftigung des Verzichtes Adenauers. Dieser wiederum ist an die inzwischen ohnehin schon beendete Kontrolle deutscher Militärmacht durch die WEU gebunden. Das heißt: Wenn die WEU in die GASP aufgelöst werden sollte, hat der Verzicht auf Atomwaffen seine Grundlage verloren. Wenn „mensch" sich überlegt, für wie unwahrscheinlich wir alle es noch vor einigen Jahren gehalten haben, daß Out-of-area-Optionen durchgesetzt werden, die inzwischen verfassungsrechtlich abgesichert sind, sollte „mensch" dem jetzigen „Konsens" zwischen SPD und Regierung hinsichtlich des Verzichts auf nukleare Teilhabe nicht allzusehr vertrauen. Nicht nur Greenpeace warnt davor, daß Deutschland eine Atommacht im Wartestand ist. Ein Mitarbeiter des US-amerikanischen, regierungsnahen Think tanks bezeichnet Deutschland als „virtuelle Atommacht". ({1}) Der Verdacht, daß die Bundesregierung eine Option auf Atomwaffen oder zumindest eine nukleare Teilhabe erreichen möchte, erscheint uns durchaus berechtigt. Wir setzen dem eine grundsätzliche Forderung entgegen, die nicht nur mit dem Vertragswerk des NVV zu tun hat. Wir halten es für notwendig, daß Deutschland in der jetzigen verantwortlichen politischen Position eigene, national umsetzbare Maßnahmen ergreift. Das heißt: Wir fordern den grundgesetzlich verankerten Verzicht auf Besitz von und Verfügungsgewalt über Atomwaffen. Dieser nationale Schritt ist verbunden mit unserer Forderung, daß Sie sich innerhalb der NATO dafür einsetzen, eine international vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der die NATO, der wir angehören, als Verteidigungsbündnis sofort und definitiv darauf verzichtet, Atomwaffen als erste einzusetzen. Dieser Schritt würde sehr viel mehr Sicherheit schaffen als das Beharren auf einem unveränderten Vertrag, der ganz wesentliche Lücken, wie aufgezeigt, beinhaltet. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Aspekt der zivilen Nutzung der Kernenergie, der in Ihrem gemeinsamen Antrag leider mit keinem Wort erwähnt wird, wird in unserem zweiten Beitrag durch meinen Kollegen Ludger Volmer erläutert werden. Gernot Erler, Sie haben unsere Bedenken bestätigt. Sie sollten sich in den Ausschußberatungen über beide Anträge überlegen, ob nicht unser Antrag zutreffender ist als der der Koalition. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nächster Redner ist der Kollege Olaf Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen ist eines der drängendsten Probleme der internationalen Politik. Wir haben uns schon wiederholt hier im Deutschen Bundestag damit befaßt. Frau Kollegin Beer, Sie waren in der letzten Zeit hier nicht dabei. Nehmen Sie daher zur Kenntnis: Die Bundesregierung hat für Deutschland mehrfach klipp und klar auf Herstellung, Besitz und Gebrauch von Atomwaffen verzichtet. Das, was Sie ihr immer wieder vorwerfen, ist unfair und falsch. ({0}) Die F.D.P. begrüßt, daß die Proliferationsthematik auch für die Bundesregierung erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Das zeigt die Zehnpunkteinitiative von Außenminister Kinkel, das zeigt auch seine Teilnahme an der heutigen Debatte. Die Bundesrepublik nimmt als führende westliche Industrienation und zugleich Nichtkernwaffenstaat eine wichtige Mittlerrolle ein. Das wurde bereits von einigen Kollegen erwähnt. Trotz der Kritik möchte ich hier feststellen: Der Atomwaffensperrvertrag hat zu einer wesentlichen Verbesserung der qualitativen wie quantitativen Rüstungskontrolle im Nuklearbereich geführt. Bereits 171 Staaten sind heute Mitglied des NVV. Weitere haben ihre Aufnahme in die Wege geleitet. Natürlich gibt es Probleme: Die Verlängerung des NVV ist noch nicht gesichert. Viele Staaten machen sie von Fortschritten beim Teststopp abhängig. Hier sind die Atommächte gefordert - Herr Kollege Francke hat bereits darauf hingewiesen -, vor allem China. Ich habe mich schon seit langem und immer wieder für den sofortigen Stopp aller Atomtests ausgesprochen. Gemeinsam haben wir hier 1993 eine Allparteienentschließung für dieses Ziel gefaßt. Wie auch die Vorredner begrüßt die F.D.P. die Verlängerung der freiwilligen Atomtestmoratorien der USA, Frankreichs und Rußlands. Diese müssen aber auch weiterhin, über 1995 und 1996 hinaus, Geltung behalten. Vor allem China, das sich dieser Politik noch verschließt, muß mil Nachdruck überzeugt werden, sich den Testmoratorien anzuschließen. Ziel bleibt: Die Genfer Verhandlungen müssen zu einem umfassenden, verifizierbaren Teststoppabkommen führen. ({1}) Ein weiteres zentrales Problem ist die Frage der Sicherheitsgarantien für die Nichtkernwaffenstaaten. Ich stimme dem Kollegen Francke zu: Die Atommächte sollten sich zu solchen Garantien durchringen. Sie tragen hier eine besondere Verantwortung. Denn der Verzicht auf Kernwaffen darf nicht mit weniger Sicherheit, sondern muß mit mehr Sicherheit verbunden sein. Dies erhöht die Attraktivität des NVV. Dazu gehört auch die Schaffung eines Kernwaffenregisters. Eine Dokumentation der weltweiten Kernwaffenbestände durch die Vereinten Nationen würde das Vertrauen in die nukleare Abrüstung stärken. Auch das Kontrollregime muß effizienter gestaltet werden. Eine Ausweitung der Inspektionsrechte der IAEO ist unabdingbar. Die IAEO muß personell, aber auch finanziell besser ausgestattet werden, auch wenn dies mehr kostet. Dies sind Investitionen in unsere eigene Sicherheit. ({2}) Ich meine, die große Verantwortung der Nuklearmächte sollte auch bei der Finanzierung noch deutlicher werden. Der Versuch von Nichtkernwaffenstaaten, sich Atomwaffen zu verschaffen, wird zunehmend als Bedrohung des Weltfriedens und damit als Verstoß gegen die UN-Charta angesehen. Die entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates muß weiterentwickelt werden. Das Beispiel Nordkoreas hat die Risiken deutlich gezeigt. Nukleare Proliferation muß als Bedrohung des Weltfriedens konsequent mit empfindlichen Sanktionen geahndet werden. Der NVV hat einen globalen Anspruch: Neben der Verlängerung und qualitativen Verbesserung ist auch eine Ausweitung nötig. In Südamerika zeichnet sich eine erfreuliche Entwicklung ab; ich möchte extra darauf hinweisen. Wir begrüßen ausdrücklich den kürzlich erfolgten Beitritt von Argentinien. Wie bereits erwähnt, geben auf der anderen Seite Indien, Pakistan, aber auch Israel Anlaß zur Sorge. Wir müssen da noch große Anstrengungen unternehmen, diese, aber auch andere Staaten zum Beitritt zum NVV zu gewinnen. Dazu kann - entgegen Ihren Vorstellungen, Frau Beer - auch die wissenschaftliche Kooperation bei der zivilen Nutzung der Kernenergie beitragen. Frau Beer, die nicht diskriminierende internationale Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist ausdrücklich in Art. IV des NVV garantiert. Es ist eben die militärische Nutzung und nicht die zivile Forschung und Nutzung, die gebremst werden sollen. Zwischen diesen beiden Punkten besteht kein Widerspruch, wie Sie meinen, sondern sie ergänzen sich. Insofern ist Ihre Kritik ungerechtfertigt und überzogen, Frau Beer. ({3}) Einen wichtigen Beitrag zur Begrenzung der Proliferation leistet auch die vom Kollegen Erler bereits erwähnte Abrüstungshilfe. Herr Erler, Sie werden verstehen, daß die F.D.P. es begrüßt, daß der Titel „Abrüstungshilfe" im Etat des Auswärtigen Amtes auf 13 Millionen DM erhöht wurde. Wir können uns ja gemeinsam mit der Union für eine Verdoppelung einsetzen. Das würde der Sache wirklich guttun. Diese Millionen - da stimmen wir, glaube ich, überein - können uns helfen, im Verteidigungsbereich Milliarden zu sparen. Investitionen in die Abrüstung sind Investitionen in unsere eigene Sicherheit. ({4}) Abrüstungshilfe ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Abrüstungspolitik. Langfristiges Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt. Ich möchte zum Schluß feststellen: Der NVV und die dazugehörigen Kontrollregime sind noch lange nicht vollkommen. Insofern haben Sie natürlich recht, Frau Beer. Das Thema ist aber sehr komplex und läßt sich hier nicht mit großen Worten abtun. Fortschritte sind eben nur durch eine Politik der behutsamen, kleinen, aber stetigen Schritte zu erreichen. Eine weltweit akzeptierte Nuklearordnung kann nur das Ergebnis einer klugen, vorausschauenden Zusammenarbeit der Staaten sein, die nuklearpolitisch besondere Verantwortung tragen. Es gibt keine realistische Alternative zur international vereinbarten, garantierten und kontrollierten Politik der Nichtverbreitung von Atomwaffen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Andrea Lederer.

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Atomwaffensperrvertrag war und ist ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Die Nichtatomwaffenstaaten erklärten in Art. II ihre Bereitschaft, auf Kernwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber zu verzichten, die Atomwaffenstaaten in Art. VI ihre Bereitschaft, nuklear abzurüsten und in Verhandlungen über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle einzutreten. Mehrfach - da kann ich mich meiner Kollegin Angelika Beer anschließen - ist hier erwähnt worden: Es sind auch die Atomwaffenbesitzer, die gegen ihren Teil der Verpflichtung verstoßen haben. Noch heute kann keine Rede davon sein, daß ernsthaft über eine allgemeine und vollständige Abrüstung verhandelt und - vor allem - diese umgesetzt wird. Das zeigt, daß die Atomwaffenstaaten nach wie vor nicht bereit sind, auf dieses Teufelszeug ein für allemal und komplett zu verzichten. So sehr die Abrüstungsverträge zu begrüßen sind, so zeigen sie auch, welche wahnwitzigen Potentiale in der Zeit des Kalten Krieges aufgehäuft wurden und daß der verbleibende Rest, vor allem künftige Atomwaffen, modernisiert und „effektiviert" werden soll. Die verbleibenden Atomwaffen reichen aus, um die Welt mehrmals zu vernichten. Deshalb sind wir der Auffassung, daß es dringend notwendig ist, in regelmäßigen Abständen international zu kontrollieren, wie es um die Umsetzung des Vertrages steht. - Ich komme gleich noch auf die Problematik einer Befristung oder einer nicht befristeten Verlängerung zurück. Es bedarf der Weiterentwicklung und Verbesserung des Atomwaffensperrvertrages. Es bedarf vor allem der Aufgabe jeglicher bundesdeutscher Vorbehalte. Ich will noch einmal darauf eingehen: Es ist festgeschrieben worden, daß Deutschland von „keiner Entwicklung in der Kernforschung" ausgeschlossen bleiben soll. Die Entwicklung solcher Technologien impliziert eben auch eine Entwicklung in militärischer Hinsicht. Es ist 1975 seitens der Bundesregierung erklärt worden, daß keine Auslegung des Vertrages die weitere Entwicklung der Europäischen Union behindern darf. ({0}) - Ich komme gleich noch einmal auf diesen problematischen Punkt zurück. Der Vertrag enthält das Paradoxon, daß er einerseits - zu Recht - die Proliferation verhindern will, aber andererseits die Förderung der sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie vorsieht. Nur: Wer die Entwicklung einer Atomwirtschaft zuläßt, versetzt solche Staaten über kurz oder lang, je nach Stand der Technologie und Ökonomie, auch in die Lage, zumindest über die Technologie der militärischen Entwicklung und Nutzung der Kernenergie zu verfügen. Ein prägnantes Beispiel dafür ist dieses Land, die Bundesrepublik. Auf die Frage, welcher europäischer Nichtkernwaffenstaat in der Lage wäre, ein Atomwaffenarsenal aufzubauen, das dem französischen und dem britischen ebenbürtig wäre, antworteten die beiden führenden Nichtverbreitungsexperten der regierungsnahen „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik", Erwin Häckel und Karl Kaiser, wie folgt: Vorauszusetzen wären ein hohes technologisches Entwicklungsniveau, eine breite industrielle Basis, eine erhebliche volkswirtschaftliche Belastbarkeit sowie ein umfangreicher Militärapparat mit konversionsfähigen Trägerwaffen. Unter den Nichtkernwaffenstaaten - so die beiden Experten Europas könnte diese Bedingungen auf absehbare Zeit wohl nur Deutschland erfüllen. ({1}) - Ich komme darauf noch zurück. Ich will auf einen weiteren Aspekt bundesdeutscher Doppeldeutigkeiten in der Atompolitik eingehen. Sie legen nahe, daß sich die Bundesregierung zumindest die Option auf nukleare Verfügungsgewalt offenhalten will. Die Frage nach der Rolle der französischen und britischen Atomwaffen im Rahmen einer europäischen „Sicherheitsunion" stand im Mittelpunkt eines Berichts des WEU-Verteidigungsausschusses im Mai 1994. Darin wird problematisiert - Zitat -: In diesem Zusammenhang - gemeint ist die Glaubwürdigkeit der US-Atomwaffengarantie muß für Deutschland eine glaubwürdige atomare Abschreckung gewährleistet werden, damit es sich nicht gezwungen sieht, seine eigene atomare Abschreckung aufzubauen. Und weiter: Eine auf Frankreich und Großbritannien beschränkte atomare Zusammenarbeit könnte von Deutschland als eine Kraft wahrgenommen werden, die es auszubalancieren gilt, und es gäbe starke Widerstände gegen eine solche Zusammenarbeit, wenn die Deutschen nicht in der einen oder anderen Weise zur Beteiligung eingeladen würden. Diese Schlußfolgerung aus der derzeitigen Situation wurde 1994 im WEU-Verteidigungsausschuß gezogen. Diese Einschätzung kommt nicht von ungefähr. Ich will die Öffentlichkeit ergänzend auf folgende Äußerung des Kollegen Lamers vom 10. März 1991 aufmerksam machen - Zitat -: Wenn wir eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik schaffen, müssen die nuklearen Waffen einbezogen werden. Und wenn diese Politik wirklich eine gemeinsame ist, dann heißt das natürlich auch, daß die Deutschen ein Mitwirkungsrecht bekommen müssen. So Kollege Lamers von der CDU im Jahr 1991. Im Jahre 1994 wird in der WEU offenkundig diese Art von Bestrebungen auf europäischer Ebene so ernst genommen, daß man darüber diskutiert, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung der US-Atomwaffen, verstärken zu müssen, um zu verhindern, daß letztendlich auf europäischer Ebene doch eine deutsche nukleare Verfügungsgewalt dazukommt. Wir haben deshalb vorgeschlagen, sich für die Verlängerung des Vertrages auf 25 Jahre einzusetzen; das fordern wir auch von der Bundesregierung. Kollege Erler, das heißt natürlich nicht, daß man sich auf das Vabanquespiel einlassen sollte, jetzt eine Veränderung des Vertrages herbeizuführen, sondern das heißt, daß sich die Vertragsunterzeichner innerhalb dieser 25 Jahre intensiv darum bemühen sollten, die Widersprüche und offenen Stellen dieses Vertrages zu schließen und sich für die Ziele einzusetzen, die Sie am Ende Ihrer Rede erwähnt haben. Hier sind wir in guter Gesellschaft. Organisationen wie IPPNW und IALANA schließen sich solchen Forderungen an, weil sie meinen, daß vor allem Nichtatomwaffenstaaten einen Hebel haben müssen, um auf Atomwaffenstaaten einzuwirken, damit diese ihren Verpflichtungen nachkommen, nämlich abzurüsten, Proliferation zu verhindern und Kooperation mit Staaten aufzugeben, die unter Umständen in der Lage sein werden, selbst über ein Atomwaffenarsenal zu verfügen. Es kann doch wirklich nicht um die Festschreibung des Status quo gehen! Es muß vielmehr um eine Ausweitung und um eine Verbesserung dieses Vertrages gehen, um die Schließung solcher Lücken. ({2}) Deshalb fordern wir - ich komme zum Schluß -: Die Bundesregierung muß auf jegliche nukleare Option verzichten. Dazu gehört - erstens - die Absage an die sogenannte nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO. Zweitens. Es kommt darauf an, daß die Bundesregierung endlich erklärt - hierzu fordere ich den Außenminister, der anwesend ist, auf -, daß jeglicher Vorbehalt im Hinblick auf die europäische Entwicklung ungültig ist, und daß sie bereit ist, tatsächlich auch auf europäischer Ebene auf die Verfügungsgewait über europäische Atomwaffen zu verzichten. Wir fordern, daß der Atomwaffenverzicht, wie er hier von allen lautstark gefordert wird, endlich im Grundgesetz verankert wird. ({3}) Drittens. Wir fordern dazu auf, endlich die Zweideutigkeiten in Verbindung mit dem Bundeslager in Hanau aufzugeben. Wozu die Geheimniskrämerei? Warum geben Sie das Material, das dort lagert, nicht in internationale Obhut? Viertens. Steigen Sie endlich aus der gefährlichen und gefährlich doppeldeutigen Atomwirtschaft aus! Verzichten Sie auf die Wiederaufarbeitung! Die MOX-Technologie darf nicht weiterverfolgt werden. Es darf keine Atomdeals geben, auch nicht mit Rußland! Die Förderung des Forschungsreaktors in Garching muß sofort eingestellt werden! ({4}) Schließlich: Schluß mit jeglicher Atom-Connection mit potentiellen Nuklearwaffenstaaten. Immer wieder gibt es Pressemeldungen, daß es insbesondere die deutsche Wirtschaft ist, die kein Pardon kennt und immer wieder in der Lage ist, Lücken zu finden und damit dazu beizutragen, daß es weitere Atomwaffenstaaten gibt. Der interfraktionelle Antrag enthält zwar einige richtige Punkte; er geht uns aber nicht weit genug. Vor allem: Einerseits handelt es sich zum Teil um wohlklingende Deklarationen. Andererseits aber sieht man mit an, wie sich die Bundesregierung stetig, Jahr für Jahr, weigert, einen Atomwaffenverzicht ins Grundgesetz zu nehmen. Zudem erklärt sie weder die Vorbehalte für ungültig, noch will sie den Ausstieg aus der Atomtechnologie. - Deshalb sind wir der Auffassung, daß es noch sehr viel Überzeugungskraft auch gegenüber der Bundesregierung bedarf, um diese davon zu überzeugen, daß das der einzig richtige Weg ist. Ich danke. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Dr. Dregger.

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dem Antrag, den wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, heute zu meiner Freude zusammen mit der SPD und der F.D.P. vorgelegt haben, geht es um mehr als nur um Friedenssicherung. Es geht letztlich um die Befreiung der Welt von Waffensystemen, die nicht nur Städte und Landschaften verheeren können, sondern die Welt als Ganzes. Während des Kalten Krieges konnten wir noch davon ausgehen, daß die Atomwaffen gerade wegen ihrer Unanwendbarkeit einen Beitrag zur Friedenssicherung leisten konnten. Weil es Atomwaffen gab und beide Supermächte sich mit ihnen wechselseitig zerstören konnten, entschieden sie sich gegen jede direkte militärische Konfrontation; denn diese hätte zur atomaren Auseinandersetzung führen können. Wir in Europa und insbesondere in Deutschland, das nicht über Atomwaffen verfügt und nicht über Atomwaffen verfügen will - meine Damen und Herren, darüber herrscht Konsens -, ({0}) waren sehr darauf bedacht, von dieser nuklearen Sicherheit unseres strategischen Partners USA nicht abgekoppelt zu werden. Darum ging es damals in der sogenannten Nachrüstungsdebatte. Nur so konnten wir das konventionelle Übergewicht der mitten in Europa stehenden großen Masse angriffsbereiter sowjetischer Streitkräfte aushalten. Aber, meine Damen und Herren, gilt das noch heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Ich meine, nein. ({1}) Die Lage hat sich grundlegend verändert. Die alte Funktion der Atomwaffen als politische Waffen der wechselseitigen Abschreckung, um damit eine politische Lösung der Konflikte zu erzwingen, ist mit der bipolaren Weltordnung entfallen. ({2}) Können Atomwaffen heute dennoch eine friedenssichernde Funktion wahrnehmen? Ich glaube das nicht. Sie vermitteln keine militärische Sicherheit, allenfalls eine trügerische. Denn was wir im Ernstfall für unsere Sicherheit bräuchten, das müßten wir dann so auch einsetzen können, und dazu sind Atomwaffen nicht geeignet. ({3}) Auch die Aufgabe der Kriegsverhinderung erfüllen sie nicht mehr. Saddam Hussein hat im Golfkrieg seine - wie er es nannte - „Mutter aller Schlachten" gegen eine Koalition geführt, der nicht weniger als drei AtomwaffenDr. Alfred Dregger staaten angehört haben, darunter die atomare Supermacht USA, und mit Duldung der Sowjetunion, die damals noch bestand, wenn auch in Agonie. Im Golfkrieg haben die Atomwaffen den Atommächten USA, Frankreich und Großbritannien die bewaffnete Auseinandersetzung nicht erspart. Die Atomwaffen haben damals weder den Krieg verhindert noch ihn entschieden. Was aber wäre gewesen, wenn Saddam Hussein seinerseits über Atomwaffen verfügt hätte? - Das lag doch im Bereich des Möglichen, hätten die Israelis nicht Jahre zuvor den Reaktor Osirak bombardiert. - Hätte Saddam Hussein die gleichen Konsequenzen aus seinem Atomwaffenbesitz gezogen, wie dies die Atomwaffenstaaten bisher getan haben? Wäre er wie sie zu genereller Mäßigung einschließlich des Verzichts auf den Gebrauch von bewaffneter Macht bereit gewesen? - Es fällt schwer, diese Frage zu bejahen. Die Geschäftsgrundlage der wechselseitigen atomaren Abschreckung im Kalten Krieg war ja doch der gemeinsame Wille zum Überleben. Das war der kleinste gemeinsame Nenner der Antagonisten. Hätte Saddam Hussein diesen kleinsten gemeinsamen Nenner akzeptiert, oder hätte er in Erwartung größtmöglichen Gewinns auch das höchstmögliche Risiko in Kauf genommen? Ich halte das für wahrscheinlich; zumindest ist es nicht auszuschließen. Die wirkliche Gefahr, in der wir leben, ist, daß morgen Gewaltmenschen, Hasardeure, Diktatoren und Potentaten, die völlig anderen Wertvorstellungen folgen als die klassischen Atommächte und keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegen, zu jedem Risiko bereit sein könnten, um ihre politischen Ziele rücksichtslos durchzusetzen, d. h., daß sie Atomwaffen offensiv gebrauchen könnten. Heute muß es unsere größte Sorge sein - ich glaube, auch darüber besteht Konsens -, daß Atomwaffen in die falschen Hände geraten. Dafür bleibt Abschreckung oder, wie die Franzosen sagen, „Abhaltung" geboten. Ein Minimalbestand an Atomwaffen zur Abschreckung solcher politischer Desperados bleibt notwendig. Die große Masse der Atomwaffen aber kann und sollte so bald wie möglich verschwinden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolf?

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bitte, Herr Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Dregger, Sie haben in Ihrem Beitrag gesagt, daß der Diktator Saddam Hussein kurz davor stand, Atomwaffen zu haben. 1st Ihnen bekannt, daß er vor dieser Schwelle auf Grund der Beihilfe deutscher Firmen stand, darunter Rhein-Bayern, Kaufbeuren, und die damals in bayerischem Staatsbesitz befindliche Firma MBB, die die Rakete Condor 2 entwickelt hat, und daß damit ein direkter Zusammenhang zwischen dem Thema Proliferation und deutsche Hilfe besteht?

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese alten Kamellen werde ich in meinem Vortrag nicht behandeln. Wir wollen vielmehr über die Grundsatzfragen der Atompolitik sprechen. ({0}) Sind die Ergebnisse so - das ist die nächste Frage -, daß wir mit dem bisherigen System der Nichtverbreitung von Atomwaffen zufrieden sein können? Natürlich müssen wir das, was wir jetzt haben, nämlich den Nichtverbreitungsvertrag, behalten, verbessern und verlängern, möglichst auf unbegrenzte Zeit und unter Beteiligung möglichst vieler. Aber selbst wenn das gelingen sollte, bestünde zur Zufriedenheit kein Anlaß. Nach 25 Jahren Geltung des Nichtverbreitungsvertrag es gibt es mehr Atomwaffenstaaten als 1970, dazu noch viele sogenannte Schwellenländer, und exorbitant mehr Atomwaffen als damals. Nicht um den Nichtverbreitungsvertrag in Frage zu stellen, den wir selbstverständlich verabschieden, sondern nur deshalb, weil uns die Ergebnisse nicht zufrieden machen können, die Frage: Was können wir über das Bisherige hinaus tun, um die atomare Gefahr weiter zu verringern? Die Ausgangslage ist heute anders: Der Kalte Krieg ist vorüber. Das alte Blocksystem existiert nicht mehr. Die Atomwaffen sind in einer Größenordnung geblieben, wie sie auch im Kalten Krieg zu keinem Zeitpunkt notwendig und sinnvoll gewesen war. Es war wohl ein nicht nur militärischer, sondern auch technischer Rausch, Atomwaffen dieser Zahl und Perfektion anzuhäufen. Aber es gibt nicht nur negative Aspekte. Die Möglichkeiten und Chancen internationaler Zusammenarbeit haben mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zugenommen. Wir sollten diese Möglichkeiten nutzen, um dem Wahnsinn der Vergangenheit zu steuern und die atomare Abrüstung zur Nichtverbreitungspolitik auf eine noch breitere und erfolgversprechendere Grundlage zu stellen. Der aussichtsreichste Ansatz für eine neue Nichtverbreitungspolitik besteht nach meiner Überzeugung darin, den Anreiz zum Erwerb von Atomwaffen zu mindern, den Besitz dieser Waffen möglichst unattraktiv zu machen. Das trägt weiter als alle Kontrollsysteme, die naturgemäß immer nur von begrenzter Wirksamkeit sein können. Der Schlüssel zu dem Erfolg oder Mißerfolg eines solchen Vorgehens liegt bei den klassischen Atommächten. Solange sie eine Politik betreiben, die den Eindruck erweckt, sie wollten ihren Bestand an Atomwaffen wegen politischer Vorteile, die damit verbunden sind, erhalten, wird es immer atomare Habenichtse auf dieser Welt geben, die gleichziehen wollen, um sich ebenfalls diese vermeintlichen Vorteile zu sichern, ({1}) die deshalb alles daransetzen, um geheim oder weniger geheim in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Das ist die große Gefahr. Durchbrochen werden kann dieser fatale Kreislauf nur mittels einer wirksamen Einhegung der Atomwaffen durch die Völkergemeinschaft, an der sich alle beteiligen, auch die klassischen Atommächte. Diese müssen sogar vorangehen. Sie sollten selbst die Initiative ergreifen. ({2}) Die Frage ist: Würde das für diese klassischen Atommächte einen unzumutbaren Verlust an Sicherheit und an internationaler Handlungsfähigkeit bedeuten? Nein. Kein Staatsmann, der bei Verstand ist und ein Minimum an Verantwortung empfindet, wird nach den Erfahrungen von Hiroschima, Nagasaki, aber auch Tschernobyl Atomwaffen einsetzen. Atomwaffen sind keine Waffen des militärischen Sieges, keine Waffen der Schlacht, ({3}) sie gehören erst recht nicht auf das Gefechtsfeld, und auf eigenem Territorium sind sie Selbstmordwaffen. ({4}) Es darf daher keine militärische Strategie und keine militärische Doktrin mehr geben, die, und sei es als Ultima ratio, den Einsatz von Atomwaffen vorsieht. ({5}) Fazit: Kein Land kann seine Sicherheit und die seiner Partner auf Waffen gründen, die niemand in seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen einsetzen könnte. In letzter Konsequenz heißt das: Die Atomwaffenstaaten sollten sich fragen, ob die, wie ich meine, fragwürdigen Vorteile des Besitzes von Atomwaffen das Risiko wettmachen, sich und die Welt der atomaren Vernichtung preiszugeben. ({6}) Es gibt keine politischen und militärischen Gefahren, denen die jetzigen Atommächte nicht auch ohne Atomwaffen begegnen könnten. Den Golfkrieg haben die Atomwaffenstaaten nicht durch Atomwaffen gewonnen, sondern durch ihre Präzisionswaffen. Das sollte es ihnen erleichtern, auf Atomwaffen weitgehend zu verzichten und zu einschneidender Selbstbeschränkung bereit zu sein. Die von mir vorgeschlagene Selbstbeschränkung bei Atomwaffen bedeutet leider nicht volle Beseitigung aller Atomwaffen. Das wäre illusorisch. Man kann das Rad nicht ein zweites Mal erfinden. Die Waffe ist da, ebenso wie das Wissen, wie sie produziert wird. Der von mir vorgeschlagene Verzicht bedeutet aber Abrüstung auf einen Minimalbestand, der notwendig ist, urn politische Desperados, die sich in den Besitz von Atomwaffen gebracht haben, abzuschrekken. Dafür würden nur wenige Atomwaffen gebraucht. Die Begrenzung auf diesen Zweck der, nennen wir es: Minimalabschreckung würde eine weltweite Abrüstung der ungeheuren Massen von Atomwaffen, die es noch gibt, auf einen sehr geringen Bestand ermöglichen, weit mehr als das, was in den bisherigen Verträgen vorgesehen ist. Bei einer Neuordnung dieser Art sollten alle Atomwaffen mit ihren Trägern und ebenso alle atomaren Anlagen einer internationalen Kontrolle im Auftrag der UNO unterstellt werden, und zwar alle der gleichen Kontrolle. ({7}) Privilegien im Kontrollregime sollte es nicht mehr geben, weil auch daran die notwendigen Vereinbarungen scheitern könnten. Die von mir vorgeschlagene Neuordnung würde den Anreiz, Atomwaffen zu besitzen, wesentlich vermindern. Hinzu käme bei Ländern der Dritten Welt die Möglichkeit, Verzicht auf Atomwaffenbesitz zu belohnen ({8}) - ähnliches gibt es ja bereits -: durch Hilfen bei der Energiegewinnung, auch bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie, wenn ein Sicherheitsstandard gewährleistet werden kann, der unseren Maßstäben entspricht. ({9}) Meine Damen und Herren, Vorbild für eine Nichtverbreitungspolitik dieser Art könnte der BaruchPlan von 1947 sein. Damals haben die USA, noch ganz unter dem Eindruck der Atombombenangriffe auf Hiroschima und Nagasaki, die sich heute zum 50. Mal jähren, das Einmalige, das Besondere der Atomwaffen erkannt: daß mit ihnen die Schöpfung vernichtet werden könnte, aber kein Krieg geführt werden kann. Damals waren die USA bereit, ihre Atomwaffen im Dienste einer neuen Friedensordnung der internationalen Kontrolle der eben neu geschaffenen UNO zu unterstellen. Gleichzeitig sollte sich die UNO nach dem Baruch-Plan im Interesse der gesamten Menschheit stärker um die friedliche Nutzung der Kernenergie kümmern. Heute ticken in bezug auf die entfesselte Atomenergie zwei Zeitbomben: die Atomwaffen und die Atommeiler mit unzureichenden Sicherheitsstandards, letztere vor allem auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion. ({10}) Es war die Sowjetunion, die damals den Baruch-Plan abgelehnt hat, weil Atomwaffen ihrer expansiven Politik die entscheidende Stütze geben sollten. Heute ist kein sowjetisches Veto mehr zu erwarten. Deshalb meine ich, die Staatengemeinschaft sollte einen neuen Anlauf nehmen. ({11}) Mit einer gemeinsamen Initiative der dem Nichtverbreitungsvertrag angehörenden Atomwaffenstaa ten in der UNO könnten diese den Weg frei machen für eine neue und wirksamere Nichtverbreitungspolitik, über die Bestimmungen und die Reichweite der jetzigen Verträge weit hinaus. ({12}) Und noch einen Vorteil: Wenn das geschähe, wird es auch leichter sein, daß die Chemiewaffen, die wir geächtet haben, nicht als die Massenvernichtungsmittel des kleinen Mannes nun noch eine neue Karriere machen können. Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die von mir vorgetragenen Überlegungen prüfen, vielleicht aufnehmen würden. Eine gemeinsame Initiative in dieser Existenzfrage unseres Lebens und unserer Politik könnte vielleicht den Erfolg erleichtern. Danke schön. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt die Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Herrn Dregger für die Ausführungen, die er hier gemacht hat, sehr dankbar. ({0}) Ich denke, Sie haben eine ganze Menge an Vorurteilen eingestürzt, die wir gegenüber einer Politik, wie wir sie bisher von Ihnen kennen, gehabt haben. Ich glaube, keiner von uns hätte erwartet, daß Sie in diesem Parlament jemals einen Satz wie diesen sagen: Es darf daher keine militärische Strategie und keine militärische Doktrin mehr geben, die, und sei es als Ultima ratio, den Einsatz von Atomwaffen vorsieht. ({1}) Ich kann Ihnen sagen, Herr Kollege Dregger - ich habe gestern abend Ihren Aufsatz gelesen und war sehr erstaunt -: Wir stimmen sicher nicht in jeder Einzelheit, insbesondere nicht in der Frage der zivilen Nutzung der Kernenergie - was Sie ja verstehen werden -, überein, aber ich denke, Sie haben einen noch größeren Schritt auf die Position der SPD zu gemacht, als es Ihre Kolleginnen und Kollegen getan haben, was sich auch in dem Antrag, den wir hier beraten, niederschlägt. Aber dieser Antrag ist wiederum ein weiteres Aufeinanderzugehen seit 1993. Ich begrüße dies ausdrücklich, weil in diesem Antrag nun Forderungen, die beim letztenmal noch abgelehnt und als abweichendes Votum von uns niedergelegt worden sind, akzeptiert worden sind. Ich halte dies für einen ausgesprochen wichtigen Vorgang; denn die Frage, wie wir mit dem Atomwaffensperrvertrag umgehen, aber wie wir auch mit dem Nichtverbreitungsregime um den Atomwaffensperrvertrag herum weiterverfahren, ist von entscheidender Bedeutung. Deshalb halte ich es für von ausschlaggebendem und wichtigem politischen Gewicht, daß eine überwiegende Mehrheit dieses Hauses die hier vorliegende Initiative beschließt; denn dies wird eine große und überragende politische Bedeutung haben. Ich weise darauf hin, daß 1993 unsere gemeinsame Initiative, eben weil es eine gemeinsame Initiative war, hohe Aufmerksamkeit auch international erregt hat und die Vorschläge, die wir gemacht haben, durchaus bei den internationalen Verhandlungen mit bedacht werden. Dies halte ich für eine gute Sache. Wir hatten 1993 als SPD in einer gutachterlichen Stellungnahme im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle unsere weitergehenden Vorstellungen formuliert. Ich werde in der weiteren Diskussion noch darauf zurückkommen. Es besteht hier auch ein breiter Konsens, die unbegrenzte und unkonditionierte Verlängerung zu unterstützen. Im Unterschied zu anderen Verträgen ist der NPT zeitlich begrenzt, u. a. auch, weil die Bundesrepublik Deutschland seinerzeit keine unbegrenzte Dauer wünschte. Die Forderung nach unbegrenzter Verlängerung ist nicht unumstritten. Von den Atommächten, den NATO-Mitgliedstaaten, den Mitgliedern der OSZE und einigen anderen wird sie befürwortet. Aber eine ganze Reihe von Nichtatomwaffenstaaten erhebt schwere Bedenken, weil sie sehen, daß die Atomwaffenstaaten ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag verletzt haben. Herr Feldmann, ich teile nicht Ihre Auffassung ({2}) - hören Sie doch erst einmal zu, zu welchem Punkt -, daß der Atomwaffensperrvertrag zur Abrüstung geführt hat. Die Amerikaner haben kürzlich in einem Papier, das auf diese Konferenz zielt, die jetzt stattfindet, ausdrücklich gesagt, nicht der Atomwaffensperrvertrag sei das, was sie zur Abrüstung bewegt habe, sondern ihre eigenen nationalen Sicherheitsinteressen. Ich glaube, auch das gehört zur Ehrlichkeit in einer Diskussion. Das mindert nicht den Wert dieses Vertrages, Herr Feldmann. Nur dürfen Sie es nicht so ausformulieren. ({3}) - Darin sind wir uns einig. ({4}) Noch ist die notwendige Anzahl an Teilnehmerstaaten für eine unbefristete Verlängerung nicht erreicht. Nach interner US-amerikanischer Zählung werden sich bisher nur 70 Teilnehmerstaaten dieser Forderung anschließen. Im Moment sind aber 87 Stimmen erforderlich, weil es 172 Mitgliedstaaten gibt. Möglicherweise werden - das ist ein erfreulicher Vorgang, den wir in den letzten Jahren beobachten - bis zu dieser Konferenz noch weitere Staaten beitreten. Es wäre aber fatal, meine Damen und Herren, sollte die Verlängerungskonferenz ausgehen wie die Überprüfungskonferenz: ohne Ergebnis. Diese Überprüfungskonferenz scheiterte an dem Unvermögen oder dem mangelnden Willen der Atommächte, eine formale Verpflichtung zum Abschluß eines Teststoppvertrages einzugehen. Zwar würde ein Scheitern der Konferenz nicht automatisch das Ende des Nichtverbreitungsregimes bedeuten - die Konferenz könnte sich bis zu einer absehbaren Entscheidung vertagen; der Vertrag bliebe in Kraft -, aber der politische Schaden für das Nichtverbreitungsregime wäre groß. Staaten, die Atomwaffenprogramme planen, würden sich veranlaßt sehen, ihre Pläne zu forcieren. Andere könnten mit Planungen zur Nuklearrüstung beginnen - und sei es nur aus Angst vor der Nuklearrüstung ihrer Nachbarn. Die nukleare Abrüstung würde ernsthaft gefährdet. Weitere Abrüstungsbemühungen würden unmöglich gemacht. Die „Non-Aligned Group" - das sind alle, die noch Bedenken haben - hat immer wieder ihre Frustration über die Nichterfüllung der Verpflichtungen aus Art. VI formuliert. Sie versuchen, durch Drohung mit einer Nichtverlängerung einen Hebel zu finden, um die Nuklearmächte zu ihrer Abrüstungsverpflichtung zu zwingen. Diese Staaten weisen mit Recht darauf hin, daß die Zahl der Nuklearwaffen heute größer ist als zur Zeit des Inkrafttretens des Vertrages. ({5}) Sie weisen darauf hin, daß sowohl die Versprechungen in der Präambel - nämlich das Testverbot in der Atmosphäre in ein allgemeines Testverbot zu überführen - als auch die Einstellung der Produktion von Atomwaffen bis heute Versprechungen geblieben sind. Sie weisen auch auf die Verpflichtung in Art. VI hin, die lautet: ... in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle. So erfreulich die Erfolge bei den Abrüstungsbemühungen bisher gewesen sind - das ist hier auch von Vorrednern schon angeführt worden -: Es bleiben noch immer zu viele Atomwaffen übrig. Für uns ist ein Erfolg von atomarer Abrüstung erst dann gewährleistet, wenn wir keinerlei Atomwaffen mehr haben. An dieser Position halten wir fest. ({6}) Nach dem heutigen Stand, wenn alle Abrüstungsverpflichtungen eingelöst sind - auch START II, das noch nicht ratifiziert ist -, verbleiben bei den Supermächten noch immer je 3 500 Systeme. Ich denke, das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den wir politisch auch noch gemeinsam bearbeiten müssen. Frankreich, China und Großbritannien sind zu Abrüstung bislang nicht bereit. Im Gegenteil: Sie modernisieren ihre Arsenale. Auf Israel, Indien und Pakistan als Defacto-Atommächte wurde hier auch schon hingewiesen. ({7}) - Ich bin mir darüber im klaren, daß unsere Bruder- und Schwesterparteien nicht in allen Punkten in voller Harmonie mit uns sind. Auch da werden wir sicher noch viel Arbeit zu leisten haben, Herr Feldmann. ({8}) Wer ernsthaft an nukleare Abrüstung denkt, kann allerdings nicht ernsthaft an der Option des nuklearen Einsatzes - geschweige an der des Ersteinsatzes - festhalten. Die NATO hat diese Strategie aber erneut festgeschrieben. Auch andere Staaten halten an ihr fest. Ein Minimalschritt zur Stärkung der Glaubwürdigkeit eines ernsten Abrüstungswillens wäre die Erklärung, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen: also eine No-First-Use-Erklärung. Meine Damen und Herren, leider haben wir in diesem Punkt einen tiefen Dissens. Für die SPD ist das Ziel nach wie vor eine atomwaffenfreie Welt. Die Ungeduld der nuklearen Habenichtse hat sich Jahre nach der Beendigung des Kalten Krieges verstärkt, und sie beklagen, daß sie bisher vergeblich auf einen allgemeinen Teststopp gewartet haben. Angesichts der Tatsache, daß die Verhandlungen zu einem „Comprehensive Test Ban Treaty" bis vor kurzem in der Sackgasse steckten und sich die versprochenen Verhandlungen über einen Stopp der Produktion atomwaffenfähigen Spaltmaterials - cut-off - auf die Formulierung eines sehr engen Mandats reduzieren, ist diese Haltung sehr verständlich. Die Debatte über eine Verbesserung des Nichtverbreitungsregimes muß jedoch außerhalb der Debatte um eine Verlängerung des Vertrages ausgetragen werden. Unkonditionierte Verlängerung kann aber nicht bedeuten, die Nuklearmächte aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Sie müssen eine deutliche Perspektive für baldige weitere Abrüstungsverhandlungen aufzeigen. Das Teststoppabkommen ist eine unabdingbare Vora ussetzung dafür, daß das Nichtverbreitungsregime auch in Zukunft funktioniert. Solange es Tests gibt, wird es auch neue Atomwaffen geben. Zur Sicherheit der bestehenden Atomwaffen bedarf es keiner Tests; dazu gibt es andere technische Verfahren. In der Frage des Atomteststopps gibt es in diesem Haus breiten Konsens. Wir alle wollen nicht nur ein Moratorium, sondern eine Beendigung des Testens. Es gibt einen weiteren erfreulichen Fortschritt zu verzeichnen. Konnte beim letzten gemeinsamen Antrag kein Konsens in der Forderung nach einem ProUta Zapf duktionsverbot für waffenfähiges Spaltmaterial erzielt werden, so wird diese Forderung jetzt von Ihnen mitgetragen. Ich nehme an, daß Sie von der KinkelInitiative inspiriert sind, und diese scheint mir wiederum von der Clinton-Administration inspiriert zu sein. Wir begrüßen diese Sinnesänderung ausdrücklich. ({9}) Sorge bereitet allerdings in diesem Zusammenhang, daß die USA eine neue Tritium-Fabrik bauen wollen. Ein Produktionsstopp allein beendet ja noch nicht die Gefahr des Baus neuer Nuklearwaffen, denn die vorhandenen Vorräte reichen bis in das Jahr 2012. Auch die Forderung nach Einrichtung eines Kontrollregisters für Atomwaffen und von internationalen Überwachungsmaßnahmen bei der Abrüstung ist ein erfreulicher Fortschritt. Dennoch bleibt unsere Forderung bestehen, solche Waffen weiterhin internationaler Überwachung zu unterstellen. Dies ist auch in dem neuen Antrag nicht enthalten, obwohl Herr Dregger diese Position ganz offensichtlich teilt. Ein weiterer Dissens, den ich für wichtig halte, bleibt: Die SPD fordert nach wie vor den freiwilligen Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf die Nutzung sensitiver Nukleartechnologien wie Wiederverarbeitung und Plutoniumnutzung. Wir brauchen diese Technologien nicht. Sie sind weder wirtschaftlich noch vernünftig. ({10}) Ein freiwilliger Verzicht würde ein positives Signal sein. Wir können doch nur wünschen, daß diese ambivalente zivilmilitärische Kerntechnologie insgesamt eingestellt wird, um Proliferationsängste zu mindern. Wir wollen keine Kernwaffenoptionen offenhalten. Ein Verzicht würde unsere Glaubwürdigkeit steigern. ({11}) Wir dürfen doch nicht glauben, daß es keine Proliferationsängste mehr gegenüber der Bundesrepublik Deutschland gibt, nachdem Deutschland den Vertrag nur unter dem Vorbehalt unterzeichnet hat, daß er nur so lange für die Bundesrepublik Gültigkeit habe, wie es keine europäische Verteidigung gibt, die dann zwangsläufig auch nuklear sei. Noch ist auch die heftige Debatte über atomare Teilhabe in der Mitte der achtziger Jahre in Erinnerung, die im Zusammenhang mit einer europäischen Option stand, Herr Feldmann - um wieder auf die französischen Sozialisten zu kommen. Damals war es der Generalsekretär der französischen Sozialisten, der bejammert hat, daß Deutschland nicht in die atomare Option einbezogen ist. Der im Zwei-plusVier-Vertrag ausgesprochene Verzicht mag die Ängste lindern, aber nicht ganz beseitigen. Ich weise hier nochmals auf unsere Forderung nach Einrichtung eines Fonds zur Förderung alternativer und erneuerbarer Energien bei der UNO hin, um Entwicklungsländern eine Alternative zur Kernenergie zu bieten. Dies wäre ein wesentlicher Beitrag zur Verhinderung der Weiterverbreitung. Ich will noch eine Anmerkung zum Punkt 6 des Antrags, zu den Sanktionen, machen. Natürlich macht ein Nichtweiterverbreitungsregime ohne Sanktionen keinen Sinn. Aber, meine Damen und Herren, ich sage hier noch einmal ganz ausdrücklich: Gedankenspielereien über präventive militärische Schläge oder Counterproliferation, d. h. militärische Optionen lehnen wir ab. Wir sind in dieser Hinsicht auch nicht mit dem einverstanden, was in der ZehnPunkte-Initiative ausgeführt worden ist. ({12}) - Nicht einverstanden mit diesem Punkt der militärischen Optionen bei Sanktionen. Allerdings muß ein Sanktionssystem ausgebaut werden; denn wir sehen ja, daß Sanktionen sinnlos sind, wenn sie durchlöchert werden. Wir sehen es bei Jugoslawien, und wir haben es auch anderswo gesehen. Damit sind wir einverstanden, nur müssen es zivile Mittel sein, bis hin zur völligen wirtschaftlichen und anderen Isolation von Staaten. ({13}) - Sie wissen, daß ich selbst und auch die SPD für die militärische Überwachung von Embargos plädieren. Das wäre ja ein militärischer Schritt, aber kein militärischer Schlag, wie er in den Gedankenspielen der Zehn-Punkte-Initiative enthalten ist. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Unterschied. Die SPD hat z. B. auch dazu Vorschläge gemacht, daß gegenüber Sanktionsbrechern Sanktionen ergriffen werden müssen, daß es einen Fonds geben muß, um diejenigen, die unter Sanktionen wirtschaftlich leiden, mit Kompensationen versehen zu können. Denn ich kann ja wohl nicht erwarten, daß jemand, der wirtschaftlich über die Wupper geht, nicht den Gelüsten erliegt, solche Sanktionen zu durchbrechen. Meine Damen und Herren, wir werden sicher noch weiter über die Verbesserung des Nichtverbreitungsregimes diskutieren. Die Diskussion muß weitergehen; sie wird weitergehen, weil der Atomwaffensperrvertrag nur dann Bestand haben wird, wenn bei der Abrüstung und Kontrolle weitere Fortschritte gemacht werden. Trotz aller Mängel des Vertrages stelle ich fest: Er ist ein guter Vertrag, der wesentlich dazu beigetragen hat, Proliferation zu verhindern. Ich danke Ihnen. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es einmal ganz klar zu sagen: Wenn wir den vorliegenden Vertrag kritisieren, weil er uns nicht hinreichend erscheint, so möchte ich dennoch erklären: An uns wird die Ratifizierung der Verlängerung nicht scheitern. Das ist völlig selbstverständlich. ({0}) Nur meinen wir: Die Probleme, die es in diesem Vertrag gibt, müssen auf internationaler Ebene einmal thematisiert werden können, damit wir der Lösung der Probleme näherkommen. ({1}) Ich behaupte, Herr Erler - darin unterscheiden sich unsere Auffassungen -, daß die sogenannte zivile Nutzung der Atomkraft - das ist natürlich nicht unwichtig - kein Randproblem ist, sondern eines der Kernprobleme ist und eines der Zukunftsprobleme sein wird. ({2}) Denn die Hauptgefährdung im atomaren Bereich wird sich nicht mehr dadurch ergeben, daß die hochgerüsteten Blocksysteme irgendwelchen Drittstaaten Atomwaffen übergeben, um ihre eigene Machtposition auszubauen, sondern die Gefährdung wird darin liegen, daß sehr viele kleinere Staaten und sehr viele kriegslüsterne Despoten sich Atomwaffen auf dem freien Markt verschaffen können. Der freie Markt für Plutonium ist das Problem der Zukunft. Das muß man ins Auge fassen, wenn man die Nichtverbreitung von Atomwaffen durchsetzen möchte. ({3}) Die sogenannte friedliche Nutzung ist in den Vertrag eingeführt worden, um die Zustimmung sehr vieler Drittweltländer zu bekommen. Mittlerweile wissen wir, daß diese Technik energiewirtschaftlich eine Sackgasse ist. Wir wissen aber mittlerweile auch, daß die zivile von der militärischen Nutzung überhaupt nicht mehr zu trennen ist, seitdem es Nukleartechnologien wie die Anreicherung und die Wiederaufbereitung gibt. Es gibt mindestens 19 Schwellenstaaten, die, wenn sie genügend Plutonium hätten, sofort die Bombe bauen könnten. Wenn weiterhin, wie es heute geschieht, auf zivilem Wege hochangereichertes Uran produziert wird, dann wird es im Jahre 2010 die Kapazität für 71 000 neue Atombomben geben. Das ist doch die Gefährdung, der wir einen Riegel vorschieben müssen. ({4}) Daß es sich hierbei nicht um ein Nebenproblem handelt, zeigt doch auch das sich anbahnende Zerwürfnis zwischen den USA und Europa, insbesondere Euratom. Die USA sind zum Glück zu einem Zeitpunkt mit einem Stopp der Plutoniumproduktion vorangegangen, als Herr Töpfer nach Rußland reiste, um dort die MOX-Technologie anzudienen, worauf ein anderer Minister dorthin reisen mußte, um sich über den Plutoniumschmuggel zu beschweren. Der Plutoniumschmuggel ist das Problem der Zukunft. Wir müssen dafür sorgen, daß die Handelswege unterbrochen und die Produktion gestoppt wird. Auch dann, wenn auf internationaler Ebene nichts durchzusetzen ist, kann die Bundesregierung mit einseitigen Maßnahmen vorangehen. Wir fordern Sie auf: Machen Sie Ihre Haltung dadurch glaubwürdig, daß Sie die Plutonium-Wirtschaft in der Bundesrepublik sofort unterbinden. Stoppen Sie die Planung von Garching; stoppen Sie die MOX-Anlagen in Hessen. Liefern Sie die deutschen Plutoniumvorräte an ein internationales Überwachungsregime aus. Das sind die Möglichkeiten, die Sie jetzt schon wahrnehmen können. Nehmen Sie die Gelegenheit wahr, in letzter Minute für die Berliner Energiekonferenz Vorschläge vorzubereiten, wie man ohne Plutonium, ohne die sogenannte zivile Nutzung der Atomkraft Energie zur Verfügung stellen kann. ({5}) Daß so etwas geht, ist bewiesen worden. Daß so etwas einseitig geht, ist ebenfalls bewiesen worden. Dafür, daß sie gegen die aggressive Wirtschaftspolitik der Firma Siemens alles darangesetzt haben, die Produktion dieses fürchterlichen Teufelszeugs und Bombenstoffs in den Atomfabriken von Hanau möglichst zu behindern und einzudämmen, sollte nicht nur die hessische Bevölkerung, sondern auch die Bevölkerung in der ganzen Bundesrepublik der hessischen Landesregierung und insbesondere den grünen Umweltministern danken. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Herr Abgeordnete Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Fischer hat eben in einem Zwischenruf bei der Rede des Ehrenvorsitzenden unserer Fraktion Dr. Dregger gesagt, das sei eine Ostermarschrede gewesen. ({0}) Ich stehe zwar in dieser Frage ein bißchen rechts von Herrn Dregger, ({1}) möchte aber sagen: Wenn der Zwischenruf des Kollegen Fischer so zu verstehen ist, daß demnächst die GRÜNEN Ostermärsche zur Unterstützung der Position unseres Ehrenvorsitzenden organisieren, dann sind wir in der CDU/CSU darüber sehr erfreut. ({2}) Meine Damen und Herren, der Nichtverbreitungsvertrag ist der wichtigste Damm gegen die Proliferationsflut. Wenn er scheitert, dann droht nicht eine Ara der nuklearen Abrüstung, wie wir sie uns alle nach 1989 erhofft haben, sondern dann droht eine Ära der nuklearen Weiterverbreitung. Angesichts des nuklearen Erbes der Sowjetunion muß es einfach gelingen, eine Mehrheit für die Verlängerung des Vertrages zustande zu bringen. Im Moment gibt es diese Mehrheit nicht. Das bedeutet für uns, d. h. sowohl für die Parlamentarier wie für die Regierung, daß wir in den nächsten zwei Monaten überall auf der Welt, wo es unentschlossene Staaten gibt, anfangen zu werben, und zwar zu werben in einer Art und Weise, die sich nicht nur auf schriftliche Demarchen beschränkt. Vielmehr müssen wir versuchen, die Argumente mancher Entwicklungsländer gegen die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages ernst zu nehmen und uns mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen. Was sind diese Argumente? Einer der wesentlichen Gründe, der immer wieder angeführt wird, ist, daß viele Entwicklungsländer glauben, mit dem Atomwaffensperrvertrag und der Einteilung in Kernwaffenbesitzer und -nichtbesitzer würde es eine internationale Statuseinteilung geben. In den 60er Jahren, als der Vertrag geschlossen worden ist, war es ja in der Tat in der damals bipolaren Welt so, daß die Frage des Besitzes oder Nichtbesitzes von Kernwaffen Aufschluß über den Standort eines Landes in der internationalen Rangordnung gab. Das ist aber inzwischen nicht mehr der Fall. Gerade die Bundesrepublik Deutschland als Kernwaffennichtbesitzer oder ein Land wie Japan zeigen, daß es heute, wenn es um Prestige und Einfluß geht, auf ganz andere Dinge ankommt: z. B. auf wirtschaftlichen Erfolg, auf Beiträge zur Entwicklung und zum Umweltschutz. Umgekehrt zeigt Rußland, daß der Besitz von Kernwaffen keineswegs von vornherein den Status eines Landes in der internationalen Staatengemeinschaft garantiert. Der zweite wesentliche Grund, der immer wieder vorgebracht wird, ist, daß die Kernwaffenbesitzer ihre Verpflichtungen zur Abrüstung nicht eingehalten hätten. Das haben wir heute auch von Frau Beer, von Frau Zapf und von Frau Lederer in dieser Debatte gehört. Ich würde sagen, daß das für 20 der 25 Jahre Geltungsdauer auch wirklich zutreffend ist. Vor fünf oder sechs Jahren hätte ich genau das gleiche Argument gebraucht. Aber, Frau Kollegin Lederer und Frau Kollegin Beer, Sie können doch wirklich nicht die gewaltigen Abrüstungsfortschritte in den letzten fünf Jahren verkennen! Wenn es überhaupt Bemühungen gegeben hat, dann doch in den letzten fünf Jahren mit dem START-Vertrag, mit dem INF-Vertrag und jetzt natürlich auch mit den Cut-OffVerhandlungen und den Verhandlungen über einen umfassenden Atomteststopp. Das sind doch Fortschritte, die Sie nicht einfach leugnen können! Vielmehr sollten Sie versuchen, gegenüber den Staaten der Dritten Welt umgekehrt zu argumentieren: Guckt doch, hier ist jetzt Bewegung hineingekommen, so daß ihr zustimmen könnt! Das dritte Argument, das immer wieder angeführt worden ist, sind die mangelnden Sicherheitsgarantien. Auch dieses Argument müssen wir in der Tat sehr ernst nehmen. Denn seien wir doch einmal ehrlich: Wäre denn die Bundesrepublik Deutschland dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, wenn wir nicht den NATO- und USA-Schutzschirm gehabt hätten? Wir konnten nur deshalb beitreten, weil wir uns in einem Bündnis befanden, das uns eine Sicherheitsgarantie gegeben hat. Deshalb sollten wir das Argument mancher Entwicklungsländer aufnehmen und dafür werben, daß es zumindest negative Sicherheitsgarantien gibt, etwa durch eine Erklärung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Im ganzen gesehen liegt es im Interesse aller Staaten, sowohl der Kernwaffenbesitzer wie der Nichtwaffenbesitzer, daß der Vertrag verlängert wird. Ich behaupte: Die Kernwaffenbesitzer haben sogar ein geringeres Interesse an der Vertragsverlängerung; denn wenn sich der eine oder andere Staat in der Dritten Welt oder das eine oder andere Schwellenland Nuklearwaffen besorgt, dann entsteht dadurch noch nicht eine fundamentale Bedrohung der kern-waffenbesitzenden Staaten. Im Gegenteil: Sie haben die finanziellen Mittel, dann „Counter-Proliferation" zu machen, d. h. über neue Rüstungen neuen Bedrohungen entgegenzutreten. Die wirklichen Verlierer bei einer Nichtverlängerung des Atomwaffensperrvertrages sind die Staaten der Dritten Welt, weil in dem Moment, in dem das ganze Proliferationsregime zusammenbricht, sie es sind, die neue Rüstungswettläufe machen werden, da sie fürchten, der Nachbar könnte nuklear rüsten. Sie sind es, die dann Gelder für Rüstung statt für den Erhalt der Regenwälder, für Entwicklung, für die Bekämpfung von Hunger und Krankheit ausgeben. Deshalb ist es im fundamentalen Interesse gerade der Entwicklungsländer, diesem Vertragswerk zuzustimmen. Auf diese Weise sollten wir versuchen - vielleicht in Form einer Sondermission eines Staatsministers -, in den nächsten zwei Monaten in die Welt hinauszugehen und mit guten Argumenten und ohne moralisch erhobenen Zeigefinger zu werben. Dann werden wir den Vertrag auch verlängern. Erst dann geht unsere Arbeit hier richtig los, denn der Vertrag ist nichts mehr als die Grundlage für ein dann zu schaffendes Netz von weiteren Vereinbarungen, die die Proliferation von Nuklearwaffen verhindern oder erschweren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Außenminister Dr. Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen stellt eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dar." Mit diesem Beschluß hat der UNO-Sicherheitsrat auf seinem Gipfel am 31. Januar 1992, übrigens auf deutschen Vorschlag hin, unmißverständlich auf eine Entwicklung reagiert, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, des Kalten Krieges zum Sicherheitsrisiko Nummer eins geworden ist. Heute gibt es immerhin noch schätzungsweise über 50 000 Atomsprengköpfe mit einer millionenfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Nach derzeitigen Schätzungen arbeiten bis zu 20 Staaten an nuklearfähigen Trägersystemen oder verfügen schon über solche. Auch die Zahl der potentiellen Lieferländer für Kernwaffen- und Trägertechnologien wächst. Die im letzten Jahr in Deutschland aufgedeckten Fälle von Nuklearschmuggel, insbesondere die Beschlagnahme von waffenfähigem Plutonium in München, waren ein Alarmsignal. Nukleare Weiterverbreitung ist wie eine ansteckende Krankheit. Wenn es bei der Vielzahl der regionalen Brandherde nicht gelingt, diese Gefahr zu bändigen, dann gehen wir schwierigen - ich würde sogar sagen: schlimmen - Zeiten entgegen. Deshalb gibt es für die Bundesregierung nur eines: alles zu tun, um die Zahl der Staaten, die Kernwaffen besitzen, und das Risiko des Nuklearterrorismus zu begrenzen. ({0}) Die Bewahrung einer verläßlichen „nuklearen Weltordnung" ist zum kategorischen Imperativ der globalen Sicherheits- und Abrüstungspolitik geworden. Das ist ganz zweifellos ein Mehrfrontenkampf. Der Nichtverbreitungsvertrag bleibt und muß Eckpfeiler bleiben. Dieser Vertrag war, ist und bleibt ein Erfolg, auch als Garant für eine friedliche Nutzung der Kernenergie unter der Kontrolle der IAEO. Ihm gehören inzwischen 171 Staaten an. Wir setzen alles daran, auch die letzten noch abseits stehenden Staaten in dieses Vertragswerk einzubeziehen. ({1}) Natürlich stehen wir vor einer entscheidenden Weichenstellung. Auf der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz in New York wird im April über die Fortgeltung dieses vor 25 Jahren abgeschlossenen Vertrags zu entscheiden sein. Die Bundesregierung tritt dabei gemeinsam mit ihren Partnern im Bündnis und in der OSZE für seine unbegrenzte und unkonditionierte Verlängerung ein. Jede Neuverhandlung des Vertrages, auch nach befristeter Verlängerung, ginge zu Lasten seiner Universalität und damit auch zwangsläufig seiner Wirksamkeit. Meine Damen und Herren, vergessen wir nicht: Ohne diesen Vertrag wäre es in den letzten Jahren wohl kaum gelungen, in Staaten wie Südafrika, der Ukraine und Nordkorea gefährliche Entwicklungen hin zu einer weiteren Verbreitung von Kernwaffen aufzuhalten und umzukehren. Bei dem, was uns bevorsteht, kommt Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Wir haben völkerrechtlich ein für allemal und absolut verbindlich erklärt, daß wir auf Massenvernichtungswaffen aller Art verzichten. ({2}) Das schenkt unserem Appell an andere auch eine besondere Glaubwürdigkeit, und das in doppelter Hinsicht: Wir stehen nämlich als Deutsche nicht im Verdacht, Sonderrechte verteidigen zu wollen. Wir sind Beispiel dafür, daß der Verzicht auf Kernwaffen keinerlei Nachteile bringt. ({3}) Wir haben dieses Guthaben gemehrt und genutzt. So wurden die Verhandlungen über die Chemiewaffenkonvention 1992 unter deutschem Vorsitz erfolgreich zum Abschluß gebracht. ({4}) Die Einrichtung der internationalen Wissenschafts- und Technologiezentren in Moskau geht auf deutsche Initiative zurück. Von dort werden seit 1994 4 000 Wissenschaftler in bisher 76 Projekten unterstützt. ({5}) Die von mir am 15. Dezember 1993 vorgestellte Zehn-Punkte-Initiative zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen hat ebenfalls unser besonderes Engagement auf diesem Gebiet gezeigt. Meine Damen und Herren, der atomare Geist ist aus der Flasche entwichen. Ob wir ihn jemals wieder ganz zurückbringen werden, ist fraglich, aber ihn zu zähmen müssen wir jedenfalls mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen. ({6}) Der Erhalt des Nichtverbreitungsvertrags ist bei diesem Zähmungsversuch von allergrößter Bedeutung. Wir haben unsere EU-Präsidentschaft im letzten halben Jahr genutzt, um mit zum Teil weltweiten Demarchen noch zögernde Staaten für unsere Ziele zu gewinnen. Ich werde heute in Bonn mit dem ägyptischen Außenminister Moussa zusammentreffen und unsere Position erläutern und versuchen, ihn für eine kompromißbereite Haltung Ägyptens und der gesamten Arabischen Liga zu gewinnen. Leider wird dort noch gezögert. Eine EU-Troika-Delegation hat auf Ministerebene vergangene Woche in Israel und in anderen Staaten der Region ebenfalls für eine solche Haltung geworben. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich vor, Sie stünden hier Präsidentin Dr. Rita Süssmuth vorne. Ich denke, die Höflichkeit gebietet es, auch noch vor der Abstimmung zuzuhören. ({0})

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Noch vor Beginn der NVV-Konferenz wird der Abrüstungsbeauftragte der Bundesregierung in einigen für die Verlängerungsentscheidung wichtigen Ländern unseren Standpunkt nochmals mit Nachdruck darlegen. Eine wirksame nukleare Nichtverbreitungspolitik setzt erstens eine zügige Umsetzung der vereinbarten Abrüstungsmaßnahmen voraus. Wir haben Rußland und der Ukraine substantielle Abrüstungshilfe geleistet. Nach START II werden von den ursprünglich 22 000 Nukleargefechtsköpfen in den interkontinentalen Raketenarsenalen beider Vertragspartner nur noch etwa 6 500 übrigbleiben. ({0}) Die Abrüstungsverpflichtung in Art. VI des Nichtverbreitungsvertrags muß weiter ernst genommen werden, schon damit wir dem Vorwurf begegnen können, es gehe um die Verewigung einer Zweiklassengesellschaft.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Erler?

Dr. Klaus Kinkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein! ({0}) - Das Plenum nimmt ja auch auf mich - ich verstehe das - vor den Abstimmungen keine Rücksicht. ({1}) Zweitens. Wir halten es für sehr wichtig, daß noch vor Beginn der NVV-Konferenz in New York hinsichtlich der Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaffenstaaten eine zufriedenstellende Lösung gefunden wird. ({2}) - Ich diskutiere nachher gerne mit Ihnen. Drittens: Abschluß eines nuklearen Teststoppvertrags möglichst noch 1995. Viertens. Auch die Arbeiten an einem Verbot der Produktion von Spaltmaterial der Kernwaffen oder anderer Kernsprengkörper müssen vorangetrieben werden. Die Verabschiedung des Verhandlungsmandats ist jetzt dringlich. Fünftens. Wie ich in meiner Zehn-Punkte-Initiative gefordert habe, sollen das aus der Abrüstung freiwerdende Kernmaterial sowie das Kernmaterial, das bisher in Nicht-NVV-Staaten nicht kontrolliert wurde, den Sicherungsmaßnahmen der IAEO unterstellt werden. ({3}) Präsident Clinton hat das angeboten, und wir hoffen, daß dieses Angebot von anderen Kernwaffenstaaten, insbesondere auch von Rußland, übernommen wird. Sechstens. Das Instrumentarium der Internationalen Atomenergieorganisation muß im Lichte der Irak-Erfahrungen weiter gestärkt werden. ({4}) Im Vordergrund steht dabei das Recht, in nicht deklarierten Anlagen Sonderinspektionen durchzuführen. Siebtens. Der UN-Sicherheitsrat muß seine Rolle als eigentlicher Hüter der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen voll wahrnehmen. Meine Damen und Herren, Bill Gates, einer der Pioniere des neuen Informationszeitalters, spricht von der Welt der unbegrenzten Chancen. Tun wir alles, damit wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht in eine Welt der unbegrenzten Risiken kommen. ({5}) Dazu gehört, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Die Bundesregierung ihrerseits wird alles tun, um ihren Beitrag dafür zu leisten. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/398, 13/537 und 13/429 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so. Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile - Drucksache 13/547 ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Wahlverfahren von Gremien - Drucksache 13/542 Bevor wir zur Wahl der Mitglieder der Gremien kommen, müssen wir das Verfahren zur Berechnung der Stellenanteile beschließen. Dazu liegen ein Antrag der Fraktion der SPD sowie ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. vor. Interfraktionell ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. - Ich sehe und höre auch dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Joachim Hörster.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wähler hat bei den Bundestagswahlen am 16. Oktober des vergangenen Jahres entschieden, daß die Koalition der Mitte von CDU/CSU und F.D.P. ({0}) in diesem Hause die Mehrheit hat. ({1}) Bei der Besetzung der Ausschüsse und Gremien des Deutschen Bundestages muß sich diese vom Wähler getroffene Entscheidung widerspiegeln, d. h. Mehrheit muß Mehrheit bleiben. Dies ist ein verfassungsrechtiches Gebot. ({2}) Bei der Umrechnung von 47,7 Millionen Zweitstimmen in 672 Abgeordnetenmandate braucht man Zählverfahren ebenso wie bei der Umsetzung von 672 Abgeordnetenmandaten in 41, 32, 17 oder, wie beim Vermittlungsausschuß, 16 Ausschußsitze. Dies ist ganz einfach darin begründet: Wenn man die Zahlen in das Verhältnis setzte, könnte es passieren, daß auf eine Fraktion 9,3, auf eine andere 8,5 und auf eine Gruppe vielleicht 0,8 Mandate entfielen. Das würde wiederum ein Clearing-Verfahren erfordern, wie denn nun mit den Restsummen zu verfahren wäre. Deshalb braucht man Zählverfahren. Diese Zählverfahren haben ausschließlich den Zweck, die vom Wähler getroffenen Mehrheitsentscheidungen auch in den parlamentarischen Gremien umzusetzen. Kernpunkt ist nicht die Vereinheitlichung der Zählverfahren, sondern daß dem Wählerwillen bei der Umsetzung in den Gremien Rechnung getragen wird. ({3}) Deswegen hat bisher auch niemand daran Anstoß genommen, daß wir bei der Umsetzung der Wählerentscheidung bei der Bundestagswahl das Zählverfahren Hare-Niemeyer anwenden, aber bei den regulären Ausschüssen des Deutschen Bundestages ein anderes Zählverfahren, nämlich das Verfahren St. Lague-Schepers anwenden. Mit jedem dieser beiden Zählverfahren war gesichert, die Wählermeinung umzusetzen. Nun stellt sich bei einer Reihe von Gremien heraus, daß das Verfahren St. Lague-Schepers nicht geeignet ist, eine Zusammensetzung der Gremien so zu ermöglichen, daß die vom Wähler getroffene Mehrheitsentscheidung widergespiegelt wird. ({4}) Dies ist beim Vermittlungsausschuß der Fall. Wenn wir dort das Verfahren St. Lague-Schepers anwenden, käme es zu einem Patt zwischen Regierung und Opposition auf der Bundestagsbank. Daß es dieses Patt nicht gibt, werden wir gleich bei der Abstimmung sicherstellen. ({5}) Um dem Wählerwillen Rechnung zu tragen, ist es erforderlich, das Zählverfahren auszusuchen, das die Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt. Das ist das Verfahren nach d'Hondt. Dies ist der Grund dafür, warum wir heute diese Geschäftsordnungsabstimmung durchführen. Wir müssen im übrigen auch deswegen ein anderes Zählverfahren wählen, weil wir bei diesem und anderen Gremien nicht frei über die Zahl der Mandate verfügen können. Wir haben bei den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages - die Kollegen Geschäftsführer wissen das - handverlesen die Ausschußgrößen festgelegt, damit auch das Zählverfahren St. Lague-Schepers immer zu den erforderlichen Mehrheiten führt. Beim Vermittlungsausschuß, beim Postregulierungsrat und bei anderen Gremien können wir dies nicht, weil hier die Zahlen gesetzlich feststehen wie auch beim Richterwahlausschuß oder bei den Wahlmännern für das Bundesverfassungsgericht. Für die letzten beiden Fälle schreibt das Gesetz das Zählverfahren d'Hondt vor. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Begehren der Koalition in ihrem Antrag, das Zählverfahren anzuwenden, das in jedem Gremium des Deutschen Bundestages auf der Bank des Bundestages die Mehrheit des Parlamentes, die der Wähler gewollt hat, widerspiegelt, ist sachlich begründet, gerechtfertigt und entspricht einem verfassungsrechtlichen Gebot. Deswegen ist es für mich unverständlich, daß die Sozialdemokraten diesem nicht Rechnung tragen wollen. ({6}) Dies um so mehr, als sie selbst von der Anwendung des Zählverfahrens überhaupt nicht betroffen sind und ausgerechnet denen, mit denen sie zumindest nach den Erklärungen ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden Scharping eigentlich gar nichts zu tun haben möchten, zu einem Sitz verhelfen, indem sie dem verfassungsrechtlichen Gebot nicht Rechnung tragen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Dr. Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies war wieder eine typische Rede des Kollegen Hörster. ({0}) - Ich habe dies natürlich nicht positiv gemeint. Herr Kollege Hörster, wir Sozialdemokraten verfahren nicht nach dem Prinzip, daß die Größenordnung der Gremien danach bestimmt wird, ob es einem gefällt oder nicht. Wir verfahren nach dem Prinzip, sie nach dem Wählerwillen zusammenzusetzen. ({1}) Das ist übrigens auch am 24. November 1994 von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages so beschlossen worden. Es war eine konsequente Entscheidung, dieses Berechnungsverfahren anzuwenden, das die kleinen Fraktionen bevorzugt, wenngleich ich mir als Mitglied einer großen Fraktion vorstellen kann, ein anderes Verfahren anzuwenden. Aber ich weiß, daß Sie in der Pflicht gegenüber den ganz Kleinen sind. Wir waren auch einmal in solchen Pflichten, das möchte ich nicht verschweigen. Ein Verfahren, das uns bevorzugt, würde mir schon sehr gefallen. Allerdings haben wir etwas anderes beschlossen. Dabei sollten wir dann gefälligst auch bleiben. Eines darf nicht passieren, daß nämlich immer dann, wenn ein solches Zählverfahren zu einem Ihnen politisch unliebsamen Ergebnis führt, Sie sich ein anderes Verfahren ausdenken. So geht das nicht. ({2}) Sie setzen sich über schwere rechtliche Bedenken hinweg. Die CDU/CSU verliert einen Sitz im Vermittlungsausschuß. Das ist genau der Grund, warum Sie sagen: Jetzt müssen wir einmal anders rechnen, und zwar so, daß wir unseren Sitz behalten. Dabei ist es im Grunde völlig egal, ob Sie acht oder sieben Bundestagsabgeordnete im Vermittlungsausschuß haben. Es ist verlorene Liebesmühe, darum zu kämpfen; denn - das sage ich mit Stolz - die Wähler in Bund und Ländern haben dafür gesorgt, daß die SPD - egal, ob die CDU/CSU acht oder sieben Mitglieder in den Vermittlungsausschuß entsendet - dort immer eine deutliche Mehrheit hat. ({3}) Sie schaffen mit Ihrem Verfahren nur ein Kuddelmuddel und ein Durcheinander. Aber das ist ja ohnehin ein Kennzeichen Ihrer Regierungspolitik. ({4}) Wir sagen deshalb: Es muß bei einem einheitlichen Verfahren bleiben. Diese Entscheidung ist nicht willkürlich, sondern folgt einem Prinzip: Das Verfahren, das beschlossen worden ist, muß gelten, selbst wenn einem dann die Besetzung von Gremien politisch nicht genehm ist. Ich will Ihnen noch einen letzten Satz sagen, Herr Kollege Hörster: Mir gefällt auch nicht, daß dann der Vertreter einer Gruppe in den Vermittlungsausschuß käme. Aber ich bin dann schon der Auffassung: Wenn man ein Prinzip hat, muß man sich ungeachtet dessen, ob einem jemand, der in der Sitzung dabeisitzt, gefällt oder nicht, an das Prinzip halten. Das ist für mich Demokratie. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vertretung und Mitwirkung der PDS im Vermittlungsausschuß - darum geht es ja vor allen Dingen - ist keine Frage des Zählverfahrens, sondern eine Frage des politischen Willens. Meine Fraktion will, daß die Gruppe der PDS volle parlamentarische Rechte und volle Arbeitsmöglichkeiten erhält, d. h. auch Mitwirkung in allen Gremien, einschließlich Vermittlungsausschuß. Die PDS ist in allen ostdeutschen Landtagen vertreten. Das ist Fakt. Die PDS ist fast in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten. Auch das ist Fakt. Wir sind der Meinung, daß man unverkrampft mit Fakten umgehen sollte. ({0}) Denn es ist wichtig, daß die PDS dort dabei ist, wo die schwierigen Probleme des Zusammenwachsens diskutiert und entschieden werden. Sie ist längst schon selbst ein Vermittlungsfall geworden. ({1}) Denn sie hat das Kunststück vollbracht, problemlos aus der führenden Rolle in die Märtyrerrolle zu schlüpfen. ({2}) Wir sollten sie aus diesem Schmollwinkel herausholen, weil ihr sonst die Perspektive auf die Pflicht der Wiedergutmachung verstellt wird. Die PDS schindet Mitleid heraus und findet damit Zustimmung. Ich glaube, wir sollten sie - das sage ich an die Mehrheitsfraktionen der Koalition - in die Pflicht der Mitarbeit nehmen; denn weder das Zählverfahren nach St. Lague-Schepers noch nach d'Hondt kann diesen Konflikt zwischen Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse und der Repräsentanz aller politischen Kräfte im Parlament auflösen. Hier ist meine Frage an die PDS: Wo ist eigentlich Ihr Antrag auf ein Grundmandat? Das wäre die Lösung des Konfliktes; diesen Antrag müssen Sie stellen. ({3}) Wie man das macht, haben wir Ihnen bei der Wahl der Vizepräsidenten gezeigt. ({4}) Werner Schulz ({5}) Ich glaube, Sie müssen sich noch stärker in die parlamentarische Arbeit knien. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster der Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die F.D.P. sind in dieser Debatte zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Wir sind für eine politische Auseinandersetzung mit der PDS und gegen alle Versuche, sie mit Tricks und dergleichen aus dem normalen politischen und parlamentarischen Leben herauszuhalten. ({0}) Ich habe mich deshalb in der Runde der parlamentarischen Geschäftsführer von Anfang an dafür eingesetzt, daß auch die PDS im Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53a des Grundgesetzes einen Sitz erhalten wird, obwohl dieser Artikel des Grundgesetzes ausdrücklich nur von Fraktionen spricht, die Vertreter in das Notparlament entsenden. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, daß die PDS im Wahlprüfungsausschuß eine beratende Stimme erhält, und zwar schon deshalb, weil der wichtigste Wahlprüfungsfall in besonderer Weise die PDS tangiert. Für das immer wieder aufgeführte Rührstück „ungerechtfertigte Benachteiligung der PDS" fehlt damit wirklich jede Grundlage. ({1}) Ich weise zweitens darauf hin, daß wir als kleine Fraktion uns immer in besonderer Weise dafür eingesetzt haben und uns auch in Zukunft dafür einsetzen werden, daß bei der Besetzung von Gremien das Verfahren nach St. Lague-Schepers zur Grundlage gemacht wird. Wir haben das im übrigen im November auch so beschlossen. Das wird in dem Antrag der Koalitionsfraktionen bestätigt, in dem dieser Grundsatz noch einmal ausdrücklich hervorgehoben wird. Aber wie Sie wissen, sagt eine alte Volksweisheit, daß Ausnahmen die Regel nicht widerlegen, sondern Ausnahmen die Regel bestätigen. ({2}) Hier gibt es einen guten Grund dafür. Das Bundesverfassungsgericht hat im sogenannten WüppesahlUrteil - der Kollege Struck hat das wohl nicht gelesen; ich empfehle ihm die Lektüre ({3}) die Gründe für unseren heutigen Antrag deutlich herausgestellt. Es sagt, daß sich die politische Gewichtung innerhalb des Parlaments in den Ausschüssen widerspiegeln muß. Das Bundesverfassungsgericht stellt also klar fest: Die Mehrheit im Plenum muß auch die Mehrheit in den Ausschüssen sein. ({4}) Zu dem gleichen Ergebnis kommt im übrigen ein Gutachten der Bundestagsverwaltung, das insbesondere auf eine Monographie zum Vermittlungsausschuß hinweist. Ein genaues Zitat möchte ich mir verkneifen, da die Formulierung so juristisch ausgefallen ist, daß es erst einer Übersetzung ins Deutsche bedürfte. Aber der Gedanke, der dabei geäußert worden ist, ist einleuchtend: Zum Demokratieprinzip gehört auch das Mehrheitsprinzip. Deshalb kommt diese wissenschaftliche Arbeit zu dem Ergebnis, daß der Bundestag nicht gezwungen werden kann, bei der Besetzung des politisch so bedeutsamen Vermittlungsausschusses auf eine Abbildung seiner Mehrheitsverhältnisse, hier also der Mehrheit der Koalition, zu verzichten. Daß das eine die Regel und das andere die Ausnahme ist, ergibt sich im übrigen auch aus der heutigen Gremienwahl. Lediglich drei Wahlen erfolgen nach dem Wahlverfahren dort - wir haben im übrigen schon Gremien nach diesem Wahlverfahren besetzt -, aber sieben nach dem Verfahren St. LagueSchepers. Wir als F.D.P. werden sorgfältig darauf achten, daß es bei der Regel, also bei St. Lague-Schepers bleibt. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Vorschlag der Koalition. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter hat der Abgeordnete Manfred Müller das Wort.

Manfred Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002740, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die bisherige Debatte hat schon deutlich gemacht: Es geht überhaupt nicht um das Zählverfahren, sondern um die weitere Ausgrenzung der PDS. ({0}) Lieber Kollege Schulz, dieses Haus hat bis heute noch nicht über unseren Antrag entschieden, die Geschäftsordnung dahin gehend zu ändern, daß auch wir den Fraktionsstatus erhalten. Diese Entscheidung steht noch aus. Heute wird sich der Ältestenrat zum erstenmal damit befassen. Dann werden wir möglicherweise auch die Frage des Grundmandats noch einmal neu diskutieren. Jetzt aber geht es darum, den Fraktionsstatus durchzusetzen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abgeordneten der PDS werden dem Antrag der SPD zur Anwendung des Zählverfahrens nach St. Lague-ScheManfred Müller ({2}) pers für die folgenden Gremienwahlen zustimmen, entspricht dieser doch unserem jüngsten Antrag, der damals noch die Zustimmung der SPD-Fraktion fand. Dieses Zählverfahren wurde seit Beginn der 9. Wahlperiode regelmäßig für die auch heute zu wählenden Gremien des Deutschen Bundestages angewandt, und zwar gerade deswegen - der Kollege Struck hat es schon gesagt -, weil es für alle Parteien bei ihrer Berücksichtigung für die Gremienbesetzung im Verhältnis ihrer Stärke zu den anderen im Bundestag vertretenden Parteien die gerechteste Lösung darstellt. Dieses Verfahren vermeidet vor allem die überproportionale Bevorteilung der großen Fraktionen, d. h. insbesondere die der Regierungskoalition, heute der CDU/CSU. Eine Differenzierung der Zählwerte für die einzelnen Fraktionen oder Gruppen mag durchaus verfassungsgemäß sein, wenn sie sich nicht vermeiden läßt und auch sachlich gerechtfertigt ist. Das von der SPD beantragte Zählverfahren weist bei dieser Differenzierung die geringsten Nachteile und Abweichungen gegenüber den anderen Zählverfahren, gerade auch gegenüber d'Hondt auf. Es hat sich jahrelang bewährt. Und jetzt will die Regierungskoalition auf die Fälle von d'Hondt zurückgreifen, wo sie mit Schepers keine Mehrheit in den heute zu wählenden Gremien mehr behält. Mit d'Hondt will sie sich den Sitz aneignen, den die Abgeordneten der PDS mit Schepers im Vermittlungsausschuß und im Regulierungsbeirat erhalten würden. Dagegen sprechen wir uns aus. ({3}) Die CDU/CSU will damit erreichen, daß die PDS aus wichtigen Bundestagsgremien herausgehalten wird, und würde damit gleichzeitig erreichen, daß sie sich in den genannten Gremien eine überproportionale Mehrheit aneignet, die ihr gar nicht zusteht. Im Vermittlungsausschuß würde sie eine Mehrheit von neun zu sieben erhalten, eine weitaus deutlichere Mehrheit als sie sie im Bundestag hat. ({4}) Berücksichtigt man noch die höchst zweifelhaften Überhangmandate der CDU/CSU, dann ist schon gar nicht mehr einsichtig, wieso gerade diese Partei verlangt, in allen Ausschüssen eine deutliche Mehrheit zu haben, also zusätzlich zu ihren Mandaten im Plenum überproportional beteiligt zu werden. Dabei ist es ihr völlig gleichgültig, ob und welche verfassungsmäßigen Rechte von Abgeordneten sie verletzt, von Abgeordneten, die durch Millionen von Wählerinnen und Wählern demokratisch legitimiert wurden, ob dies nun einigen hier im Hause paßt oder nicht. Das Manöver der CDU/CSU-Fraktion ist ganz klar die Ausschaltung der PDS aus wichtigen Gremien und die Erringung zusätzlicher politischer Vorteile in diesen Gremien, die ihr sonst nicht zustehen würden. Für mich ist damit auch offenbar: Die Änderung des bisherigen Zählverfahrens ist ein verfassungswidriger Willkürakt der Regierungskoalition. Sie ist durch nichts gerechtfertigt, schon gar nicht durch einen sachlichen Grund. ({5}) Auf Grund der realen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und erst recht im Bundesrat hat die CDU/ CSU-Fraktion überhaupt keinen Anspruch, in jedem Ausschuß auch tatsächlich die Mehrheit zu haben. Ein Patt in einigen Ausschüssen ist vielmehr gerade durch die knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament begründet und gerechtfertigt. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/547. Es ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich weise darauf hin, daß Sie nur die neuen Plastikkarten der 13. Wahlperiode verwenden dürfen. Alle anderen sind ungültig. Außerdem möchte ich Sie vor der Eröffnung der Abstimmung dringend bitten, daß Sie nach der namentlichen Abstimmung nicht den Saal verlassen, weil danach eine Reihe von weiteren Abstimmungen, zu der volle Präsenz erforderlich ist, stattfinden. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch jemand im Hause, der seine Stimme nicht abgegeben hat? - Haben jetzt alle ihre Stimme abgegeben? Kann ich die Abstimmung schließen? - Damit schließe ich den Abstimmungsvorgang und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zur Berechnung der Stellenanteile auf Drucksache 13/547 bekannt. Abgegebene Stimmen: 651. Mit Ja haben gestimmt: 314. Mit Nein haben gestimmt: 336. ({0}) Es gab 1 Enthaltung und keine ungültigen Stimmen. Vizepräsident Hans Klein Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 650; davon: ja: 314 nein: 335 enthalten: 1 Ja SPD Adler, Brigitte Andres, Gerd Antretter, Robert Bachmaier, Hermann Bahr, Ernst Barnett, Doris Barthel, Klaus Becker-Inglau, Ingrid Behrendt, Wolfgang Bernrath, Hans Gottfried Bertl, Hans-Werner Bindig, Rudolf Blunck, Lilo Börnsen ({1}), Arne Brandt-Elsweier, Anni Braune, Tilo Dr. Brecht, Eberhard Büttner ({2}), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter Dr. Däubler-Gmelin, Herta Deichmann, Christel Diller, Karl Dr. Dobberthien, Marliese Dreßen, Peter Dreßler, Rudolf Duve, Freimut Eich, Ludwig Enders, Peter Erler, Gernot Ernstberger, Petra Faße, Annette Ferner, Elke Fischer ({3}), Lothar Fograscher, Gabriele Follak, Iris Formanski, Norbert Freitag, Dagmar Fuchs ({4}), Anke Fuchs ({5}), Katrin Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, Norbert Gilges, Konrad Gleicke, Iris Gloser, Ganter Dr. Glotz, Peter Graf ({6}), Günter Graf ({7}), Angelika Grasedieck, Dieter Großmann, Achim Haack ({8}), Karl-Hermann Hacker, Hans-Joachim Hagemann, Klaus Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel Hartenbach, Alfred Hasenfratz, Klaus Dr. Hauchler, Ingomar Heistermann, Dieter Hemker, Reinhold Hempelmann, Rolf Dr. Hendricks, Barbara Heubaum, Monika Hiksch, Uwe Hiller ({9}), Reinhold Hilsberg, Stephan Höfer, Gerd Hoffmann ({10}), Jelena Hofmann ({11}), Frank Holzhüter, Ingrid Horn, Erwin Hovermann, Eike Maria Anna Ibrügger, Lothar Ilte, Wolfgang Imhof, Barbara Irber, Brunhilde Iwersen, Gabriele Jäger, Renate Janssen, Jann-Peter Janz, Ilse Dr. Jens, Uwe Jung ({12}), Volker Kaspereit, Sabine Kastner, Susanne Kastning, Ernst Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun Klose, Hans-Ulrich Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbow, Walter Kressl, Nicolette Kröning, Volker Krüger, Thomas Kubatschka, Horst Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Kunick, Konrad Kurzhals, Christine Labsch, Werner Lange, Brigitte Larcher, Detlev von Lehn, Waltraud Leidinger, Robert Lennartz, Klaus Dr. Leonhard, Elke Lörcher, Christa Lohmann ({13}), Klaus Lotz, Erika Dr. Lucyga, Christine Maaß ({14}), Dieter Mante, Winfried Marx, Dorle Mascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meckel, Markus Mehl, Ulrike Meißner, Herbert Mertens, Angelika Dr. Meyer ({15}), Jurgen Mogg, Ursula Mosdorf, Siegmar Müller ({16}), Michael Müller ({17}), Jutta Müller ({18}), Christian Neumann ({19}), Volker Neumann ({20}), Gerhard Dr. Niehuis, Edith Dr. Niese, Rolf Odendahl, Doris Oesinghaus, Günter Onur, Leyla Opel, Manfred Ostertag, Adolf Palis, Kurt Papenroth, Albrecht Dr. Penner, Willfried Dr. Pfaff, Martin Pfannenstein, Georg Dr. Pick, Eckhart Poß, Joachim Purps, Rudolf Rappe ({21}), Hermann Rehbock-Zureich, Karin Renesse, Margot von Rennebach, Renate Reschke, Otto Reuter, Bernd Dr. Richter, Edelbert Rixe, Günter Robbe, Reinhold Rübenkönig, Gerhard Dr. Schäfer, Hansjörg Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter Scharping, Rudolf Scheelen, Bernd Dr. Scheer, Hermann Schild, Horst Schily, Otto Schloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer ({22}), Horst Schmidt ({23}), Ursula Schmidt ({24}), Dagmar Schmidt ({25}), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina Schmitt. ({26}), Heinz Dr. Schnell, Emil Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Dr. Schubert, Mathias Schütz ({27}), Dietmar Schuhmann ({28}), Richard Schulte ({29}), Brigitte Schultz ({30}), Reinhard Schultz ({31}), Volkmar Dr. Schuster, R. Werner Dr. Schwall-Düren, Angelica Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa Sielaff, Horst Simm, Erika Singer, Johannes Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland Spanier, Wolfgang Dr. Sperling, Dietrich Spiller, Jörg-Otto Steen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Tauss, Jörg Dr. Teichmann, Bodo Teuchner, Jella Dr. Thalheim, Gerald Thierse, Wolfgang Thieser, Dietmar Thönnes, Franz Tröscher, Adelheid Urbaniak, Hans-Eberhard Verheugen, Günter Vogt ({32}), Ute Voigt ({33}), Karsten D. Vosen, Josef Wagner, Hans Georg Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weis ({34}), Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen ({35}), Gert Welt, Jochen Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge Dr. Wieczorek, Norbert Wieczorek ({36}), Helmut Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, Dieter Wittich, Berthold Dr. Wodarg, Wolfgang Wohlleben, Verena Wolf, Hanna Wright, Heide Zapf, Uta Dr. Zöpel, Christoph Zumkley, Peter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Altmann ({37}), Gisela Altmann ({38}), Elisabeth Beck ({39}), Marieluise Beck ({40}), Volker Beer, Angelika Berninger, Matthias Buntenbach, Annelie Dietert-Scheuer, Amke Eichstädt-Bohlig, Franziska Dr. Eid, Uschi Fischer ({41}), Andrea Fischer ({42}), Joseph Grießhaber, Rita Häfner, Gerald Hermenau, Antje Heyne, Kristin Höfken-Deipenbrock, Ulrike Ilustedt, Michaele Dr. Kiper, Manuel Dr. Köster-Loßack, Angelika Lemke, Steffi Dr. Lippelt, Helmut Metzger, Oswald Müller ({43}), Kerstin Nachtwei, Winfried Nickels, Christa Özdemir, Cem Poppe, Gerd Probst, Simone Dr. Rochlitz, Jürgen Saibold, Halo Scheel, Christine Vizepräsident Hans Klein Schewe-Gerigk, Irmingard Schlauch, Rezzo Schmidt ({44}), Albert Schmitt ({45}), Wolfgang Schönberger, Ursula Schoppe, Waltraud Schulz ({46}), Werner Steenblock, Rainder Steindor, Marina Sterzing, Christian Such, Manfred Dr. Vollmer, Antje Volmer, Ludger Wilhelm ({47}), Helmut Wolf-Mayer, Margareta PDS Bierstedt, Wolfgang Bläss, Petra Böttcher, Maritta Bulling-Schröter, Eva Graf von Einsiedel, Heinrich Dr. Elm, Ludwig Dr. Enkelmann, Dagmar Dr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, Gregor Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla Dr. Knake-Werner, Heidi Köhne, Rolf Kutzmutz, Rolf Lederer, Andrea Lüth, Heidemarie Dr. Luft, Christa Dr. Maleuda, Günther Müller ({48}), Manfred Neuhäuser, Rosel Dr. Rössel, Uwe-Jens Schenk, Christina Tippach, Steffen Warnick, Klaus-Jürgen Dr. Wolf, Winfried Zwerenz, Gerhard Nein CDU/CSU Adam, Ulrich Altmaier, Peter Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter Basten, Franz Peter Dr. Bauer, Wolf Baumeister, Brigitte Belle, Meinrad Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter Dr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, Maria Börnsen ({49}), Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang Bohl, Friedrich Borchert, Jochen Bosbach, Wolfgang Brähmig, Klaus Braun ({50}), Rudolf Breuer, Paul Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler ({51}), Klaus Buwitt, Dankward Carstens ({52}), Manfred Carstensen ({53}), Peter H. Dehnel, Wolfgang Deittert, Hubert Dempwolf, Gertrud Deft Albert Diemers, Renate Dietzel, Wilhelm Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Eichhorn, Maria Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eßmann, Heinz Dieter Eylmann, Horst Eymer, Anke Falk, Ilse Dr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, Jochen Dr. Fell, Karl H. Fink, Ulf Fischer ({54}), Dirk Fischer ({55}), Leni Francke ({56}), Klaus Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G. Fuchtel, Hans-Joachim Geiger, Michaela Geis, Norbert Dr. Geißler, Heiner Glos, Michael Glücklich, Wilma Dr. Göhner, Reinhard Götz, Peter Dr. Götzer, Wolfgang Gres, Joachim Grill, Kurt-Dieter Gröbl, Wolfgang Gröhe, Hermann Grotz, Claus-Peter Grund, Manfred Günther ({57}), Horst Frhr. von Hammerstein, Carl-Detlev Haschke ({58}), Gottfried Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer Hauser ({59}), Otto Hauser ({60}), Hansgeorg Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, Manfred Dr. Hellwig, Renate Hinsken, Ernst Hintze, Peter Hörster, Joachim Hollerith, Josef Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, Hubert Jacoby, Peter Jaffke, Susanne Janovsky, Georg Jawurek, Helmut Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, Egon Jung ({61}), Michael Junghanns, Ulrich Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Kanther, Manfred Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker Keller, Peter Klaeden, Eckart von Dr. Klaußner, Bernd Klein ({62}), Hans Klinkert, Ulrich Köhler ({63}), Hans-Ulrich Königshofen, Norbert Dr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Koslowski, Manfred Kossendey, Thomas Krause ({64}), Wolfgang Krautscheid, Andreas Kriedner, Arnulf Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Dr. Kues, Hermann Dr. Lamers ({65}), Karl A. Lamers; Karl Dr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut Laschet, Armin Lattmann, Herbert Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl Josef Lensing, Werner Lenzer, Christian Letzgus, Peter Limbach, Editha Link ({66}), Walter Lintner, Eduard Dr. Lippold ({67}), Klaus W. Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann ({68}), Wolfgang Louven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Maaß ({69}), Erich Dr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Marten, Günter Dr. Mayer ({70}), Martin Meinl, Rudolf Horst Dr. Meister, Michael Dr. Merkel, Angela Merz, Friedrich Meyer ({71}), Rudolf Michelbach, Hans Michels, Meinolf Dr. Müller, Gerd Müller ({72}), Elmar Nelle, Engelbert Neumann ({73}), Bernd Nitsch, Johannes Nolte, Claudia Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm Oswald, Eduard Otto ({74}), Norbert Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich Pfeifer, Anton Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pflüger, Friedbert Philipp, Beatrix Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald Dr. Pohler, Hermann Polenz, Ruprecht Pretzlaff, Marlies Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, Dieter Rachel, Thomas Raidel, Hans Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf Rauber, Helmut Rauen, Peter Harald Regenspurger, Otto Reichard ({75}), Christa Reichardt ({76}), Klaus Dieter Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Richter, Roland Richwien, Roland Dr. Rieder, Norbert Dr. Riedl ({77}), Erich Riegert, Klaus Dr. Riesenhuber, Heinz Rönsch ({78}), Hannelore Röttgen, Norbert Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm Dr. Rose, Klaus Rossmanith, Kurt J. Roth ({79}), Adolf Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker Dr. Rüttgers, Jürgen Sauer ({80}), Roland Schätzle, Ortrun Dr. Schäuble, Wolfgang Schauerte, Hartmut Schemken, Heinz Scherhag, Karl-Heinz Scheu, Gerhard Schindler, Norbert Schlee, Dietmar Schmalz, Ulrich Schmidbauer, Bernd Schmidt ({81}), Christian Dr.-Ing. Schmidt ({82}), Joachim Schmidt ({83}), Andreas Schmiedeberg, Hans-Otto Schmitz ({84}), Hans Peter Schmude, Michael von Schnieber-Jastram, Birgit Dr. Schockenhoff, Andreas Dr. Scholz, Rupert Dr. Schuchardt, Erika Vizepräsident Hans Klein Schütze ({85}), Diethard Schulhoff, Wolfgang Dr. Schulte ({86}), Dieter Schulz ({87}), Gerhard Schulze, Frederick Schwalbe, Clemens Dr. Schwarz-Schilling, Christian Sebastian, Wilhelm-Josef Seehofer, Horst Seibel, Wilfried Seiffert, Heinz-Georg Seiters, Rudolf Selle, Johannes Siebert, Bernd Sikora, Jürgen Singhammer, Johannes Sothmann, Bärbel Späte, Margarete Spranger, Carl-Dieter Steiger, Wolfgang Steinbach, Erika Dr. Freiherr von Stetten, Wolfgang Dr. Stoltenberg, Gerhard Storni, Andreas Straubinger, Max Stübgen, Michael Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon Teiser, Michael Dr. Tiemann, Susanne Dr. Töpfer, Klaus Tröger, Gottfried Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar Vogt ({88}), Wolfgang Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen Wetzel, Kerstin Wilhelm ({89}), Hans-Otto Willner, Gert Wilz, Bernd Wimmer ({90}), Willy Wissmann, Matthias Wittmann ({91}), Simon Wöhrl, Dagmar Wonneberger, Michael Wülfing, Elke Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia Zeitlmann, Wolfgang Zierer, Benno Zöller, Wolfgang F.D.P Albowitz, Ina Dr. Babel, Gisela Braun ({92}), Hildebrecht Bredehorn, Günther van Essen, Jörg Dr. Feldmann, Olaf Frick, Gisela Friedhoff, Paul K. Friedrich, Horst Funke, Rainer Genscher, Hans-Dietrich Dr. Gerhardt, Wolfgang Günther ({93}), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Dr. Haussmann, Helmut Heinrich, Ulrich Hirche, Walter Dr. Hirsch, Burkhard Homburger, Birgit Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich Dr. Kinkel, Klaus Kleinert ({94}), Detlef Kohn, Roland Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Lanfermann, Heinz Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine Lühr, Uwe Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer Peters, Lisa Dr. Rexrodt, Günter Dr. Röhl, Klaus Schäfer ({95}), Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard Dr. Schwaetzer, Irmgard Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Stadler, Max Thiele, Carl-Ludwig Dr. Thomae, Dieter Türk, Jürgen Dr. Weng ({96}), Wolfgang Enthalten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lengsfeld, Vera Der Antrag ist damit abgelehnt. ({97}) - Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas Ruhe, damit wir die weiteren Abstimmungen vornehmen können. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Wahlverfahren von Gremien - Drucksache 13/542 - Wir stimmen über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 13/542 ab. Wer stimmt für den Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Wahlen zu Gremien a) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({98}) - Drucksachen 13/557, 13/570 - b) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Schuldenausschusses bei der Bundesschuldenverwaltung gemäß § 6 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Errichtung einer Schuldenverwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes und § 2 der Verordnung über die Bundesschuldenverwaltung - Drucksache 13/562 - c) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu bestimmenden Mitglieder des Kontrollausschusses beim Bundesausgleichsamt gemäß § 313 Abs. 1 und 2 des Lastenausgleichsgesetzes - Drucksachen 13/563, 13/572 - d) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder gemäß § 11 des Gesetzes über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens - Drucksachen 13/564, 13/573 - e) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden Mitglieder des Programmbeirats der Deutschen Bundespost gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des Beirats zur Bestimmung der Anlässe für die Ausgabe von Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag der Deutschen Bundespost ({99}) - Drucksache 13/565 - f) Wahl der vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden Mitglieder des Kunstbeirats der Deutschen Bundespost gemäß §§ 1 und 2 der Geschäftsordnung des Beirats für die graphische Gestaltung der Postwertzeichen der Deutschen Bundespost ({100}) - Drucksache 13/566 - g) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" - Drucksachen 13/567, 13/574 - h) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Kuratoriums der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR" - Drucksachen 13/568, 13/575 - Vizepräsident Hans Klein i) Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Parlamentarischen Beirats der Stiftung für das Sorbische Volk - Drucksache 13/569 - j) Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses nach Artikel 53a des Grundgesetzes - Drucksachen 13/558, 13/559, 13/560, 13/561, 13/571 - Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuß. Dazu liegen ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor. Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/570 ab. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der PDS? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. auf Drucksache 13/557 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Damit sind die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuß gewählt. Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Schuldenausschusses bei der Bundeschuldenverwaltung. Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 13/ 562 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des Kontrollauschusses beim Bundesausgleichsamt. Dazu liegen ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor. Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/572 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. Wir stimmen über den gemeinsamen Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. auf Drucksache 13/563 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir wählen jetzt die Mitglieder des Regulierungsrates beim Bundesminister für Post und Telekommunikation. Auch hierzu liegen ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor. Wir stimmen über den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/573 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. auf Drucksache 13/564 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der gemeinsame Wahlvorschlag ist angenommen. Wahl der Mitglieder des Kunstbeirats des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation. Wir stimmen über den gemeinsamen Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 13/566 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir kommen zum Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor. Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/574 ab. Wer stimmt für diesen Vorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. Jetzt stimmen wir über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 13/567 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir kommen zu der Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung „Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR". Auch hier liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/575? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt. Dann stimmen wir über den gemeinsamen Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 13/568 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir wählen die Mitglieder des Parlamentarischen Beirates der Stiftung für das Sorbische Volk. Es liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 13/569 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Wahlvorschlag ist angenommen *). Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses nach Art. 53 a des Grundgesetzes. Dazu liegen getrennte Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der F.D.P. sowie der PDS vor. Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 13/558 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. *) Korrektur auf Seite 1474. Vizepräsident Hans Klein Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/559 ab. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/560. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Abstimmung über den Wahlvorschlag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 13/561. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist angenommen. Wir kommen zum Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/571. Wer stimmt für diesen Vorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Vorschlag ist abgelehnt. ({101}) Das, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, bedeutet, daß wir die Wahl eines ordentlichen und eines stellvertretenden Mitglieds, für die die PDS kandidiert hatte, zu einem späteren Zeitpunkt erneut durchführen müssen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Hilfen für die neuen Bundesländer - Erfolgreicher Aufbau Ost Dazu liegt ein Entschließungsantrag der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich dem Bundesminister Rexrodt das Wort gebe, bitte ich die Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen wollen oder können, den Saal möglichst rasch zu verlassen, damit wir in geordneter Weise weiterfahren können. Zur Abgabe einer Regierungserklärung erteile ich dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte über die Verwendung von Fördergeldern in Ostdeutschland soll es keinen Zweifel geben: Der Steuerzahler in Ost und West hat Anspruch darauf, daß allen Vorwürfen über Mißbrauch und Fehlverwendungen konsequent nachgegangen wird. ({0}) Dies gilt für die Bundesregierung und ihre Förderprogramme; dies gilt auch für die Länder und die Kommunen, die im Zuge unseres föderalen Systems einen sehr gewichtigen Teil der Förderentscheidungen selbst treffen. Wir werden die einzelnen Förderinstrumente genau durchleuchten und gegebenenfalls Konsequenzen ergreifen. Ich komme darauf noch zu sprechen. Um es gleich an der richtigen Stelle zu sagen: Was dazu von einigen sogenannten Sachkennern und von Presseorganen in die Welt gesetzt wird, ist in seiner Verallgemeinerung und Übertreibung unverantwortlich. ({1}) Die von ihnen genannten Zahlen in Milliardenhöhe sind nicht zu belegen. Sie sollen schockieren. Einige verfolgen damit offensichtlich das politische Ziel, Ressentiments bei den Bürgern in Ost und in West gleichermaßen zu erzeugen. ({2}) So gibt es in einem Artikel eines Hamburger Magazins dieser Woche ein Bild über ein Gewerbegebiet in Radeburg mit der Unterschrift „Das Geld fließt postwendend nach Westen zurück" . Die Stadt erklärt dazu jedoch: Dies ist ein äußerst gelungenes Beispiel für die schnelle Erschließung eines neuen Gewerbegebiets mit Arbeitsplätzen, wie wir sie uns gewünscht haben. Das Gewerbegebiet ist gut belegt, und die westdeutschen Gesellschaften, die daran mitgewirkt haben, haben vorzüglich gearbeitet. ({3}) Meine Damen und Herren, in diesem Artikel „Baggern statt denken" steht geschrieben, daß auf Hinweis der Unternehmensberatung Kienbaum der Vorschlag an das sächsische Innenministerium erging, im Bereich Zivilschutz 44 Stellen und im Bereich Landesgeheimschutz 65 Stellen zu sparen. In Wirklichkeit - so wird mir vermittelt - sei der Vorschlag ergangen, drei Stellen zu sparen. Allerdings sei es richtig, daß das Referat Zivilschutz die Nr. 44 im Organisationsspiegel des sächsischen Ministeriums habe, das Referat Geheimschutz die Nr. 65. ({4}) Das sind die Recherchen, auf die man sich stützt, um solche Artikel in die Welt zu setzen, meine Damen und Herren. ({5}) Lassen Sie mich noch eines fragen: Was ist denn Fehlleitung von Mitteln? Was ist denn Mißbrauch? Wo es darum geht, daß öffentliche Geldquellen angezapft werden sollen, daß der Staat geschröpft werden soll, wo sich Menschen persönlich bereichern wollen, dort muß mit ganzer Härte und ohne Wenn und Aber durchgegriffen werden. Aber - um nur einige Beispiele zu nennen - kann denn von einer Fehlleitung öffentlicher Mittel gesprochen werden, wenn ein neues Gewerbegebiet, dessen Belegung auf fünf Jahre angesetzt war, nun nicht innerhalb von fünf Jahren, sondern erst in acht Jahren vollständig belegt wird? Ist das eine Fehlleitung öffentlicher Mittel, ja oder nein? Die Frage stellt sich doch. Ist es eine Fehlleitung öffentlicher Mittel, wenn man eine Kläranlage zunächst einmal größer auslegt, als sie im gegenwärtigen Zeitpunkt ausgelastet wird? ({6}) Ich will Ihnen einmal sagen, meine Damen und Herren: Ich bestreite nicht, daß es da und dort Fehlentscheidungen gegeben hat. Aber wenn man an einem Industriestandort, der ursprünglich große Bedeutung hatte, eine Kläranlage aufbauen würde, die kleiner ist und im Moment so ausgelegt ist, daß sie gerade der Bevölkerungszahl entspricht, dann würden Sie sich als erste hinstellen und sagen, man habe den Industriestandort XY von vornherein aufgegeben, indem man die Anlagen so wie beschrieben ausgerichtet habe. ({7}) Meine Damen und Herren, ich rede hier nicht dem Mißbrauch das Wort, und ich bagatellisiere auch gar nicht. Das müßte eigentlich klar sein. Wogegen ich mich wende, ist die unverantwortliche Übertreibung. Lassen Sie die Tatsachen sprechen. Tatsache ist, daß mit GA-Mitteln geförderte Flächen Mitte 1994 im Durchschnitt zu 70 bis 80 % mit Gewerbebetrieben belegt waren. Es gibt andere Beispiele mehr. Es ist nun einmal so: Wo es Subventionen gibt, gibt es leider auch Subventionsmißbrauch. Diese bedauerliche Erscheinung des Subventionsmißbrauchs darf uns nun nicht dazu bringen, die Hände in den Schoß zu legen. Ich sage aber mit Deutlichkeit: Dies ist, so wie es jetzt aufgemacht wird, kein spezielles Ostthema. ({8}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die frühen Phasen der Berlin-Förderung. Ich erinnere an die Unkalkulierbarkeit von Großprojekten in der alten Bundesrepublik, an das Klinikum Aachen, in das man mit 600 Millionen DM Bausumme hineinging und das dann für 2,5 Milliarden DM abgerechnet wurde. Ich erinnere an das Berliner ICC. Ich erinnere an Verkehrs- und Kulturbauten überall in der alten Bundesrepublik. ({9}) - Das auch, das ist richtig! Natürlich, meine Damen und Herren, gibt es Mittelverwendungen, bei denen sich der Bürger fragt, ob die Verengung einer Fahrbahn oder die aufwendige Pflasterung von Plätzen und Wegen auch wirklich notwendig waren. Dies gibt es im Osten und im Westen, meine Damen und Herren. ({10}) Schauen Sie sich doch die Berichte der Rechnungshöfe in den alten Bundesländern an! Das „Handelsblatt" hat - gestern war es wohl - konkrete Einzelfälle von falscher Förderpraxis in Westdeutschland aufgeführt. ({11}) Entscheidend ist, daß alles getan wird, um die Zahl solcher Fälle möglichst gering zu halten. Hier wird oft auf die unzureichende Verwaltung und auf noch nicht voll funktionsfähige Finanzämter verwiesen. Dies war auch für die Zeit 1991/92 sicherlich teilweise richtig und auch nicht anders möglich. In den neuen Bundesländern hat man nicht 40 Jahre lang Erfahrungen mit unserem Rechtssystem sammeln können. Aber hier hat sich Entscheidendes getan. Die Qualität des Verwaltungshandelns in den neuen Bundesländern ist nachhaltig besser geworden. Sie muß noch weiter erhöht werden. Ich möchte an dieser Stelle auch den vielen Bürgermeistern, den Mitarbeitern von Arbeitsämtern und von Landesregierungen meine ausdrückliche Anerkennung und meinen Dank für das Engagement, das sie in ganz überwiegender Mehrheit in den neuen Bundesländern gezeigt haben, aussprechen. ({12}) Ich möchte ebenfalls darauf hinweisen, daß wir diese Unzulänglichkeiten zu Beginn über alle Parteien hinweg als nicht änderbar akzeptiert haben. Ich möchte daran erinnern, daß 1991 5,1 Milliarden DM und 1993 1,5 Milliarden DM pauschal an die Gemeinden der neuen Länder gegeben wurden, um schnell sichtbare Zeichen für den Aufschwung Ost zu setzen. Dies war unter dem Stichwort „Unbürokratisch helfen und neue Anstöße geben" eine Forderung aller Parteien. ({13}) Zur Illustration lassen Sie mich aus einem einvernehmlichen Beschluß des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom November 1992 zitieren: Vor diesem Hintergrund sind alle Entscheidungsträger in Bund, Ländern und Gemeinden aufgefordert, auf der Grundlage des geltenden Rechts schnell und kreativ zu entscheiden und vor allem Ermessensspielräume bestmöglich zugunsten der Bürger auszuschöpfen. Die unbestreitbaren Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern sollten von den vorgesetzten Behörden und Prüfungsgremien unter Wahrung ihrer jeweiligen Aufträge, ihrer Eigenverantwortung und ihrer Unabhängigkeit bei der Beurteilung von Einzelfällen berücksichtigt werden. Das war ein einvernehmlicher Beschluß des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom November 1992. ({14}) Meine Damen und Herren: „Die unbestreitbaren Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern sollten von den vorgesetzten Behörden und Gremien geprüft werden." So muß das bleiben. Wie dieses Thema „Umgang mit Fördermitteln" jetzt hochgespielt wird, hat mit der Realität nichts zu tun. Das wirft Gräben zwischen Ost und West auf. ({15}) Das wollen wir nicht. Die Präsidenten der Landesrechnungshöfe in Ostdeutschland haben Gott sei Dank diesen Spuk inzwischen endgültig beendet. Sie distanzieren sich eindeutig von den genannten Zahlen und stellen fest, daß ihre Prüfungen ergeben haben, daß die öffentlichen Mittel auch in den Anfangsjahren weit überwiegend sinnvoll und zukunftsorientiert eingesetzt worden sind. Meine Damen und Herren, ich werde Anfang März dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages einen vollständigen Bericht über diesen Fragenkreis vorlegen. Ich habe die Bundesressorts sowie die Wirtschafts- und Finanzminister der neuen Länder aufgefordert, mir für ihre Zuständigkeitsbereiche Erkenntnisse über Fehlverhalten und über Vorkehrungen gegen Mißbräuche mitzuteilen. Ich werde mich mit den Bundesressorts, den Ländern, Gemeinden und allen Vergabestellen zusammensetzen, um zu prüfen, ob es bessere Kontrollmöglichkeiten gibt. In bezug auf jedes einzelne Förderinstrument werden wir uns überlegen, ob wir bessere Kontrollmöglichkeiten einführen können. ({16}) Aber, meine Damen und Herren, eine Frage möchte ich hier denn doch noch aufwerfen: Wird denn in der deutschen Öffentlichkeit nicht erkannt, wie zwiespältig diese Diskussion geführt und wie sie emotional geschürt wurde? Vor wenigen Wochen war es noch an der Tagesordnung, die Bürokratie und die Banken zu geißeln, weil sie umständlich, bürokratisch, kleinkariert, risikoscheu und an den Bedürfnissen der Investoren vorbei Verhinderungspolitik betrieben hätten. Das war vor wenigen Wochen das Thema. Heute ist das Gegenteil angesagt. Zuwenig würde geprüft, zuwenig hinterfragt, zuwenig kontrolliert. Jene, die sich damals an der Zögerlichkeit der Vergabestellen hochgezogen haben, sind heute die Lautesten, wenn es darum geht, deren angebliche Blauäugigkeit zu verdammen. ({17}) Ich sage hier klar: Diese Debatte ist nicht zufällig gerade jetzt angefacht worden, wo es um die Fortführung der Hilfen für den Ausbau Ost geht und wo wichtige Entscheidungen im politischen Bereich in Bundesländern anstehen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir zwar große Fortschritte bei der Entwicklung in den neuen Bundesländern gemacht - das zeigen die Wachstumsraten -, daß wir aber bestenfalls die Hälfte des Weges zur wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Länder geschafft haben. Die Produktivität je Kopf der Bevölkerung beträgt nur knapp die Hälfte der westdeutschen. Ein großer Teil des Sozialprodukts, das in den neuen Ländern verbraucht wird, wird nicht dort erarbeitet, sondern besteht aus Transfers aus dem Westen. Diese Tatsachen sprechen eine eindeutige Sprache und besonderes Sorgenkind in diesem Zusammenhang ist nach wie vor die Industrie. Das Ifo-Institut sagt zwar, daß wir inzwischen die Wende von der Deindustrialisierung zur Reindustrialisierung überschritten haben, der Industrieabsatz ist aber noch viel zu gering. Der Industrieanteil an der Wertschöpfung macht in den neuen Ländern 19 aus, in Westdeutschland sind es 27 %. Das eindeutige Ziel muß sein, daß die neuen Länder aus eigener Kraft ihr Einkommen und ihre Investitionen verdienen. ({18}) Bisher beträgt die Lücke 200 Milliarden DM. Diese Lücke muß geschlossen werden. Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des .Jahreswirtschaftsberichts 1995 ein mittelfristiges Förderkonzept bis 1998 beschlossen, um den Investoren sichere Rahmenbedingungen zu geben. Diese Rahmenbedingungen müssen heute bekannt sein, wir müssen sie heute festlegen, weil Investitionen mittelfristig in die Zukunft hinein getätigt werden. Dabei sind wir nach der Maxime vorgegangen, dort zu konzentrieren und Fördertatbestände zu kürzen, wo dies möglich erscheint, und dort weiter zu fördern, wo dies notwendig ist. Die fünfprozentige Investitionszulage wird bis 1998 verlängert, aber auf die Industrie beschränkt. Die zehnprozentige Mittelstandszulage wird weitergeführt. Die Sonderabschreibungsmöglichkeiten für betriebliche Anlagegüter, wie Maschinen, und für selbstgenutzte Betriebsgebäude, wie Fabrikhallen, werden bis 1998 weitergeführt. Dagegen werden Sonderabschreibungen für den Neubau von Wohnungen und für nicht selbstgenutzte Betriebsgebäude ab 1997 drastisch gesenkt. Damit wird Verlustzuweisungsmodellen ein Riegel vorgeschoben. Verlängert wird die Aussetzung der Vermögensteuer. Die Gewerbekapitalsteuer soll ab 1996 in ganz Deutschland abgeschafft werden. Die Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wird fortgesetzt, es erfolgt aber eine stärkere Konzentration auf besonders strukturschwache Gebiete und eine noch stärkere Differenzierung der Fördersätze durch die Länder. Fortgesetzt werden auch das Eigenkapitalhilfeprogramm und die ERP-Darlehensmöglichkeiten. Wir müssen uns überlegen, wie Risikokapital in stärkerem Umfang nach Ostdeutschland fließen kann. Die Bundesregierung hat dazu zwei Maßnahmen beschlossen. Die erste ist die steuerliche Förderung von Verkaufserlösen von Beteiligungen, wenn diese Erlöse umgehend in Beteiligungen oder beteiliBundesminister Dr. Günter Rexrodt gungsähnlichen Darlehen bei mittelständischen Unternehmen in den neuen Ländern angelegt werden. Der § 6 b Einkommensteuergesetz wird dazu entsprechend geändert. Die Förderung langfristigen Beteiligungskapitals bis zu einem jährlichen Gesamtplafonds von 500 Millionen DM wird in Anlehnung an den § 16 des früheren Berlinförderungsgesetzes geändert. Mit diesen Maßnahmen - das wollte ich an dieser Stelle heute gesagt haben - haben wir eine klare mittelfristige Ausrichtung unserer Förderung festgelegt. Es gibt für mich keinen Anlaß, das angesichts der aktuellen Diskussion zu ändern. Was nach 1998 notwendig wird, hängt von den weiteren Fortschritten beim Aufbau ab. Dazu bereits heute Festlegungen zu treffen ist verfrüht und nicht Politik der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß die derzeitige Debatte, die vielen Bürgern in Ost und West jeweils anders unter die Haut geht, intensiv geführt wird. Aber sie muß auch mit kühlem Kopf geführt werden. Niemand kann leugnen, daß wir mit unserer Wirtschaftspolitik in den neuen Ländern auf dem richtigen Weg sind. Ich brauche hier nicht den Sachverständigenrat zu zitieren, die Zahlen sprechen für sich. Die Menschen im Osten Deutschlands empfinden das in ihrer übergroßen Mehrheit. Sie wissen, daß es vorwärts und aufwärts geht. ({19}) Die Menschen in Ost und West haben Anspruch darauf, daß ihre Steuern und Abgaben zweckentsprechend verwendet werden. Das sage ich ohne jeden Abstrich. ({20}) Mißbräuche und Fehlleitungen sind abzustellen, aber Panikmache oder ein neuer Keil zwischen Ost und West - das kommt für die Bundesregierung nicht in Frage. ({21}) Für die parteipolitischen Süppchenkocher taugt dieses Thema schon gar nicht ({22}) angesichts der vielfältigen Verantwortlichkeiten in Bund, Ländern und Gemeinden, die parteipolitisch ganz verschiedenartig zusammengesetzt sind. Jeder trägt dort seine Verantwortung, und keiner hat Anlaß, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen. ({23}) Ich füge ganz bewußt hinzu: Dieses Thema eignet sich auch nicht für populistisches Anbiedern aus innen- und landespolitischen Überlegungen heraus. Dafür ist auch kein Grund gegeben. ({24}) Die Bundesregierung steht verantwortungsbewußt, mit Augenmaß und Engagement zur Fortsetzung des Aufbaus im Osten. Ich bin fest davon überzeugt, daß diese Debatte - eine nützliche und wichtige - vor unserer gemeinsamen Verpflichtung und Verantwortung, mit Steuermitteln verantwortungsbewußt umzugehen, geführt werden mußte. Aber einen Keil zwischen Ost und West zu treiben, eine neue Kampagne zu entfachen, um den Menschen im Osten das Gefühl zu geben, daß sie Bittsteller sind, und den Menschen im Westen das Gefühl zu geben, daß mit ihrem Geld nur Fehlleitungen und Mißbräuche stattfinden und daß im Osten nichts anderes stattfindet, als daß sich einige Leute dort persönlich bereicherten, kann nicht in unserem gemeinsamen Interesse liegen. ({25}) Hier haben wir über die Parteien hinweg eine Verantwortung. Deshalb setzen wir unsere Politik mit Korrekturen und Konsequenzen fort. Sie ist aber im Prinzip auf die Fortsetzung des erfolgreichen Aufbaus in den neuen Ländern gerichtet. ({26})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Otto Schily das Wort.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Freude scheint allerseits zu sein, daß ich das Wort ergreife. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß der Bundesfinanzminister Waigel heute diese Debatte meidet. ({1}) - Jetzt kommt er. Na gut, dann ist er da. Wunderbar, dann kann er es ja gleich hören. ({2}) Es hat mich schon ein wenig gewundert, daß der Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hier lauthals beklagt, daß die gegenwärtige Debatte dazu benutzt wird, die Fortführung der Fördermittel für die neuen Bundesländer in Frage zu stellen. Noch vor ein paar Tagen war in der „Bild-Zeitung" nachzulesen, daß Herr Waigel es ist, der das tut. Also versuchen Sie doch mal, den kurzen Draht zu Herrn Waigel zu benutzen, Herr Rexrodt! Das wäre vielleicht besser, als hier Fensterreden zu halten. ({3}) Meine Damen und Herren Kollegen, in einer Zeit, in der die Abgabenlast auf Grund der verfehlten Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung eine Rekordmarke erreicht hat, muß es den verständlichen Zorn der Menschen hervorrufen, wenn sie aus den Zeitungen erfahren, daß Steuergelder in Milliardenhöhe verplempert und verschlampt werden. ({4}) Vielerorts scheint das Bewußtsein dafür verlorengegangen zu sein, daß der Staat fremdes Geld verwaltet, daß er wie ein verläßlicher Treuhänder mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen hat. ({5}) Wenn dann der Eindruck entsteht, daß gerade bei den unteren und mittleren Einkommen rücksichtslos Steuern und Abgaben bis aufs Blut herausgepreßt werden, ({6}) aber auf der anderen Seite Milliardenbeträge wie Kamelle im Karneval unter die Leute gestreut werden, ist der soziale Friede massiv gefährdet, meine Damen und Herren. ({7}) Ohne falsche Rücksichtnahmen müssen daher heute die Fehler und Versäumnisse in der Finanzkontrolle diskutiert werden. Vor einem ist allerdings in Übereinstimmung mit dem Bundeswirtschaftsminister zu warnen: ({8}) Wer versucht, sich aus der politischen Verantwortung zu mogeln, indem er für alles, was schiefgegangen ist, die vermeintliche Leichtfertigkeit ostdeutscher Landesregierungen und Kommunen haftbar macht, nach der Melodie „die Ostdeutschen verprassen unser sauer verdientes Westgeld", vergiftet die Debatte und sucht sein Heil in schäbigen Ausflüchten. ({9}) Deshalb scheint es mir notwendig zu sein, mit aller Deutlichkeit festzustellen - es freut mich, daß da zwischen Herrn Rexrodt und uns Übereinstimmung besteht -: Unsere ostdeutschen Landsleute verdienen unsere Anerkennung für die beachtliche Aufbauleistung, die sie in den vergangenen Jahren vollbracht haben, ({10}) und sie verdienen Ermutigung und Solidarität auch für die Zukunft. ({11}) Im übrigen kann jeder wissen, der sich der Mühe unterzieht, Berichte des Bundesrechnungshofes und anderer Rechnungshöfe zu lesen, daß Verschwendung von Steuergeldern in beträchtlichem Ausmaß beileibe nicht nur im Osten, sondern leider auch im Westen Deutschlands an der Tagesordnung ist. Gestern ist in einem Ausschuß des Deutschen Bundestages, im Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung, eine Passage des jüngsten Bundesrechnungshofberichts diskutiert worden. Darin beklagt der Bundesrechnungshof, daß bei der Förderung der Entwicklung des Magnetschnellbahnsystems Transrapid Steuermittel in erheblichem Umfang verschwendet wurden, etwa daß der privaten Betreibergesellschaft ein sogenannter kalkulatorischer Gewinn in Höhe von 9,5 Millionen DM zugebilligt wurde, obwohl die private Betreibergesellschaft kein unternehmerisches Risiko einzugehen hat. ({12}) Man sieht: Auch dort liegt leider sehr vieles im argen, und wir sollten beide Augen offenhalten. ({13}) Schließlich sollte nicht übergangen werden, daß die Gefoppten und Hintergangenen bei vielen Fehlleitungen von Steuermitteln nicht nur die Steuerzahler im Osten und Westen sind, sondern häufig die Ostdeutschen in doppelter Weise. Überdimensionierte Kläranlagen bedeuten nicht nur vergeudete Steuergelder, sondern sie treffen die Ostdeutschen zusätzlich hart, weil diese von den Kommunen für entsprechend hohe Anschlußbeiträge in Anspruch genommen werden. Ich denke, man muß auch das in Augenschein nehmen. Aber Verschwendung im Westen macht Verschwendung im Osten keinen Deut besser. Ob es nun 65 Milliarden DM sind, wie der „Spiegel" schreibt, oder etwas weniger, ist nicht das Entscheidende. ({14}) Entscheidend ist, daß sich der Finanzminister um eine effiziente Ausgabenkontrolle überhaupt nicht gekümmert hat. ({15}) Herr Waigel war völlig desinteressiert, wohin die Millionen und Milliarden gewandert sind. ({16}) Nicht in einem einzigen Fall hat Herr Waigel ein deutliches Signal gesetzt, daß die Vergeudung von Steuermitteln nicht hingenommen wird und die Kontrollen verschärft werden. ({17}) Herr Waigel, sagen Sie mir einen einzigen Fall einer Pressekonferenz, wo wir von Ihnen hören konnten: Diesen Fall nehme ich zum Anlaß verschärfter Kontrolle. Diesen Fall können Sie uns hier heute nicht präsentieren. ({18}) Zu keinem Zeitpunkt fühlte sich Herr Waigel bemüßigt, der Sache nachzugehen, auch bei spektakulären Fällen nicht; beispielsweise wenn es darum ging, daß sich einige unbedarfte Personen mit Millionensummen an den Liquidationen von Treuhandfirmen bereicherten ({19}) zehn Liquidatoren allein mit 120 Millionen DM. Das erzeugt eine Stimmung. Statt dessen hat sich Herr Waigel stets auf das Beschönigen, auf das Herunterspielen und das Beschwichtigen verlegt. ({20}) So entsteht eine Selbstbedienungsstimmung nach dem Motto: Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Auch die Tatsache, daß der Bundesfinanzminister die Treuhandanstalt weitgehend zu einer kontrollfreien Zone erklärt hat, gehört in dieses Szenario, meine Damen und Herren. ({21}) Allein der Umstand, daß die zivilrechtlichen Haftungsregeln praktisch außer Kraft gesetzt wurden und zugleich versucht wurde, den strafrechtlichen Untreuetatbestand zu neutralisieren, beweist, daß der Bundesfinanzminister mit einer Sorglosigkeit sondergleichen der Verschwendung von Steuergeldern Vorschub geleistet hat. Alle Warnungen hat er in den Wind geschlagen. Seine Unfähigkeit und Schwäche, der Verschwendung von Steuergeldern entgegenzuwirken, wurde letztlich auch dadurch dokumentiert, daß er alles darangesetzt hat, die parlamentarische Kontrolle des Finanzgebarens der Treuhandanstalt zu behindern und zu sabotieren. ({22}) Es ist nicht erkennbar, daß irgend etwas aus dem Bundesfinanzministerium in die Wege geleitet ist, um z. B. die Informationswege zum Bundesrechnungshof zu verkürzen, damit dessen Ratschläge dann auch während eines Projekts Beachtung finden. Nichts hat er getan, um bestimmte Zwänge der Kameralistik zu mildern. Heute müht sich der Bundesfinanzminister, die Verantwortung von sich abzuschütteln. Sein Gefährte Herr Glos versucht, die Schuld auf den schwachen Schultern von Herrn Rexrodt abzuladen. ({23}) Herr Waigel seinerseits zeigt mit dem Finger auf die ostdeutschen Kommunen und Landesregierungen. Aber fragen Sie sich doch zunächst einmal selbst, Herr Waigel: Was haben Sie getan, damit die Steuergelder nicht verpulvert wurden? Wo waren Ihre Vorgaben für eine vernünftige und zielorientierte Struktur- und Investitionspolitik? ({24}) Haben Sie nicht mit Ihrem unübersichtlichen Wirrwarr an Fördertöpfen dafür gesorgt, daß es nun zahlreiche Investitionsruinen gibt und geben wird? ({25}) Welche Sicherungsmaßnahmen haben Sie getroffen, damit nicht unseriöse Geschäftemacher, vornehmlich aus dem Westen, Steuergelder in Millionen- und Milliardenhöhe an sich brachten? ({26}) Was sollen denn die Lohnempfänger sagen, die jetzt einen sogenannten Solidaritätszuschlag auf mindere und kleine Einkommen entrichten müssen, wenn sie sehen, was da im Osten von einigen Herrschaften aus dem Westen abgeholt worden ist? ({27}) Warum, Herr Bundesfinanzminister - das ist einer Ihrer ärgsten Fehler -, haben Sie bei der Kontrolle und bei der Auswahl von Investoren nicht verstärkt Belegschaften und Betriebsräte der ostdeutschen Betriebe hinzugezogen? Da hätten Sie lernen können, wie man Kontrolle ausübt und wie man vorsorglich Maßnahmen trifft, damit die Dinge nicht aus dem Lot geraten. ({28}) Viele Millionen- und Milliardenschäden wären vermieden worden, wenn die Menschen im Osten nicht zu Objekten der Politik degradiert worden wären, statt sie als Subjekte in die Entscheidungen einzubeziehen, meine Damen und Herren. ({29}) Nein, Herr Bundesfinanzminister, es helfen keine Ablenkungsmanöver, es hilft kein Versteckspiel. Sie persönlich sind für dieses Debakel verantwortlich. Daraus sollten Sie die richtigen Konsequenzen ziehen. So schrieb die „Frankfurter Rundschau" in den letzten Tagen: Der Bundesfinanzminister kann mit seiner Philosophie von Steuergerechtigkeit so gut wie nichts zur Lösung des Problems beitragen, weil er selbst Teil des Problems ist. - Wie wahr! Schauen Sie in den Spiegel, Herr Bundesfinanzminister Waigel, und Sie wissen die Antwort. ({30})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen, Herrn Dr. Bernhard Vogel, das Wort. ({0}) Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({1}): ({2}) Vielen Dank für den Beifall für einen ostdeutschen Ministerpräsidenten. Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat mit klaren Argumenten belegt: Der Aufschwung in den neuen Ländern ist in vollem Gange. Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bedanke mich für Ihre Rede, Herr Bundeswirtschaftsminister. ({3}) Ich danke auch dem Abgeordneten Schily für die Bemerkung, daß nicht alle Schuld auf den Osten geschoben werden darf, auf die Bevölkerung im allgemeinen, auf die Regierung im besonderen und auf die Ministerpräsidenten im speziellen. Ich stimme Ihnen vor allem darin zu, daß wir stets beide Augen offenhalten sollen. Daß es auch Passagen in Ihrer Rede gab, Herr Abgeordneter Schily, denen ich nicht zustimmen kann, wird Sie nicht wundern. Treuhand ist Treuhand, und die finanzpolitische Verantwortung der Landesregierung ist die finanzpolitische Verantwortung der Landesregierung. Ich glaube, es bringt nicht viel Nutzen, wenn wir die kontroverse Treuhanddiskussion mit der heute hier anstehenden Debatte durcheinandermengen. ({4}) Zur Treuhand nur den einen Satz: Ich habe unter - wie ich glaube - falschen Entscheidungen mehr gelitten als andere. Aber ich gehöre auch zu denjenigen, die anerkennen, daß über 2 000 Betriebe in vier Jahren in einem Land zu privatisieren eine einmalige Leistung ist und daß diese einmalige Leistung anerkannt werden muß. ({5}) Der Jahreswirtschaftsbericht, über den Sie hier vor einer Woche diskutiert haben, weist beachtliche Steigerungsraten des Bruttoinlandsprodukts in den jungen Ländern nach. Die Prognosen für 1995 sind günstig. Die Steuereinnahmen steigen deutlich, was uns ermutigt und den gebenden Ländern Geld spart. Je stärker die Steuereinnahmen bei uns steigen, um so größer ist die Entlastung für die gebenden Länder. Die Steuern, die auf das Land Thüringen entfallen, steigen um 16 %, und die Steuern in Thüringen, die auf die Kommunen entfallen, steigen um 30 %. Diese Entwicklung gilt für alle neuen Länder. Dies möchte ich als gegenwärtiger Sprecher der ostdeutschen Ministerpräsidenten ausdrücklich unterstreichen. Dabei unterdrücke ich die Freude darüber, daß sie in Thüringen am stärksten steigen - allerdings von einem besonders niedrigen Niveau -, natürlich nicht. ({6}) Der Rohbau der neuen Länder steht. Der Ausbau ist in vollem Gange. Wer etwas vom Bau versteht, weiß, daß es eine Abweichung von 5 % beim Rohbau geben kann. Dies muß beim Verputz korrigiert werden. Die jungen Länder sind die Wachstumsregion Europas. Sie sind die wachstumsstärkste Region in ganz Europa. Dies ist nicht gerade ein schlagender Beleg dafür, daß wir alles falsch gemacht haben. ({7}) Meine Damen und Herren, was wir bisher erreicht haben, ist das Ergebnis bemerkenswerter, ungewöhnlicher und in dieser Form nie dagewesener individueller, gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Anstrengungen. Hier sind zunächst die Anstrengungen der Bevölkerung in der ehemaligen DDR zu nennen. Diese hatte nicht nur den Mut, auf die Straßen zu gehen, sondern sie hat sich immer wieder klar und mit großer Mehrheit zu demokratischen Parteien bekannt. Es ist die Leistung vieler Tausender in den Gemeinden, in den Ländern und im Bund, in Politik, Wirtschaft und Verbänden, sich zur Verfügung gestellt zu haben, zum Teil für Aufgaben, die sie nicht kannten und deren Dimensionen sie darum kaum abschätzen konnten. Das verdient Anerkennung. ({8}) Aber ebenso verdient Dank die ungewöhnliche Solidarität des Westens, die in diesem Ausmaß ebenfalls zuvor nie dagewesen ist. ({9}) Meine Damen und Herren, neben den Bürgern danke ich auch den Regierungen, zuvorderst der Bundesregierung, insbesondere dem Bundeskanzler, für den Mut beispielsweise zur Wirtschafts- und Währungsunion vom 1. Juli 1990. ({10}) Wie viele Kritiker haben abgeraten, und wie viele Kritiker haben die Katastrophen in diesem Zusammenhang vorausgesagt! ({11}) Ich bedanke mich für das Zustandekommen des Föderalen Konsolidierungsprogramms, das für die Finanzordnungen der neuen Länder von fundamentaler Bedeutung und deswegen ein wichtiger Schritt zur Normalität ist. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({12}) Und ich danke den Partnerländern. Was Nordrhein-Westfalen in Brandenburg, was Niedersachsen in Sachsen-Anhalt, was beispielsweise RheinlandPfalz, Hessen und Bayern in Thüringen geleistet haben, verdient Dank und Anerkennung. ({13}) Schließlich danke ich den ungezählten Helfern, die zum größten Teil aus Patriotismus kamen und zunächst nicht gefragt haben, was ihnen der Staat gibt, sondern die gefragt haben, was sie dem Staat geben können. ({14}) In der Tat, meine Damen und Herren, haben wir Grund, stolz auf beides zu sein: auf die Leistungen der Menschen im Osten, ohne die es nie eine Wiedervereinigung gegeben hätte, und auf die Leistungen der Menschen im Westen, ohne die wir nicht so weit wären, wie wir im Aufbau sind. ({15}) Aber wenn man die Zeitungen aufschlägt: Von Stolz und Dankbarkeit keine Spur! Kritik und Vorwürfe werden laut. ({16}) Wenn ich auf diese Kritik und auf diese Vorwürfe eingehe, so möchte ich zunächst eines klarstellen: Ich will Fehler nicht leugnen oder verharmlosen. Meine Damen und Herren, es wäre ein noch größeres Wunder als die deutsche Einheit selbst, wenn in dieser Situation keine Fehler gemacht worden wären. ({17}) Das möchte ich ausdrücklich sagen. Ich füge hinzu: Wo sie gemacht worden sind, muß ihnen nachgegangen werden, und wo sie korrigiert werden können, müssen sie korrigiert werden. Das ist entschieden und eindeutig ganz klar vorab festzustellen. ({18}) Allerdings wende ich mich genauso entschieden und eindeutig dagegen, daß Kritik verantwortungslos überzogen wird, daß maßlose Formulierungen verwendet werden und daß Horrorzahlen hochgerechnet werden. ({19}) Wenn das in dieser Weise geschieht, dann ist die Frage erlaubt: Cui bono - wem nützt das? Und warum wird das in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt gemacht? ({20}) Der quantitativ größere Teil aller Transferleistungen beruht auf gesetzlichen Grundlagen. Mehr als die Hälfte aller Transferleistungen betreffen Renten, Sozialleistungen und ähnliches. Hier kann es keine Investitionsfehler geben, hier ist nach Gesetz verfahren worden, und hier steht eine Debatte, wie wir sie gegenwärtig führen, überhaupt nicht zur Diskussion. Effektiv hat ein Investitionstransfer in den Jahren 1991 bis 1994 von ca. 150 Milliarden DM stattgefunden. Auch das ist eine gewaltige Menge. Aber von 150 Milliarden DM sind nicht 65 Milliarden DM in den Sand gesetzt worden. Die Präsidenten der ostdeutschen Rechnungshöfe betonen gemeinsam, daß die Mittel - ich zitiere - „weit überwiegend sinnvoll und zukunftsorientiert" eingesetzt worden seien. Die in die Diskussion geworfene Zahl von 65 Milliarden DM wird von den Rechnungshofspräsidenten als „so nicht nachvollziehbar" bezeichnet. Der Chef der für die EFRE-Mittel zuständigen Generaldirektion der EU bestätigt beispielsweise den Ländern Brandenburg und Thüringen eine gute Ausgabenpolitik in bezug auf die Fördermittel und äußert keine Beanstandungen. ({21}) Ich warne davor, die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung mit normalen oder auch nur mit heutigen Maßstäben zu messen. Viele scheinen es nicht mehr zu wissen: 1990 gab es weder Länder noch Landesregierungen. Die alten Bezirksverwaltungsbehörden waren, vor allem bei der Erstellung der Übergangshaushalte und der Vergabe der Mittel, bis weit in das Jahr 1991 hinein wirksam. Der erste Thüringer Haushalt ist in der zweiten Hälfte des Jahres 1991 verabschiedet worden. Auch als Regierungen gebildet waren, mußten die Verwaltungsapparate erst mühsam aufgebaut werden. Was trotzdem alles funktioniert hat, ist beachtlich. ({22}) Jedenfalls ist das, was funktioniert hat, viel erstaunlicher als das, was schiefgegangen ist. ({23}) Daß es zum Beispiel trotz gewaltiger wirtschaftlicher Zusammenbrüche und elementarer gesellschaftlicher Umbrüche gelang, den sozialen Frieden zu erhalten, ist eine Leistung, auf die alle Beteiligten stolz sein können. ({24}) Gelegentlich höre ich von erregten Debatten, wenn in einem alten Bundesland 100 000 Arbeitsplätze zur Disposition stehen. Wir sind froh, wenn die ARD bei derartigen Sorgen in Ostdeutschland überhaupt eine solche Meldung bringt. ({25}) - Beim ZDF - da haben Sie recht, Herr Kollege - hat eine solche Meldung genauso große Schwierigkeiten durchzukommen. Da gibt es keinen Unterschied. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({26}) Der Bund hat nachdrücklich darauf gedrängt - auch gegen unseren Rat -, die investiven Mittel, die sogenannte kommunale Investitionspauschale, direkt an die Gemeinden zu geben, und zwar an Kommunen, die zum erstenmal im Rahmen der neugewonnenen kommunalen Selbstverwaltung mit diesem Instrument umgehen mußten. Von den Landkreisen flossen zwei Drittel der Mittel an Schulen, Berufsschulen und in den Straßenbau, ein Drittel in Krankenhäuser, Altenpflegeheime und den ÖPNV. In einem Bereich, bei Wasser und Abwasser, sind unbestritten in einigen Fällen Fehlinvestitionen getätigt worden. Aber, meine Damen und Herren, ich nenne ein Beispiel: Die Kläranlage in Arnstadt, 1991 für 100 000 Einwohnergleichwerte geplant, vorsichtshalber nur für 80 000 gebaut, ist heute nur zu 65 % ausgelastet, aber nicht, weil falsch geplant wurde, sondern weil Arnstadt mit über 20 % immer noch die höchste Arbeitslosigkeit in ganz Thüringen hat, weil die meiste Altindustrie weggebrochen ist und weil sich die Neuansiedlungen nicht in dem Maße vollzogen haben, wie sie notwendig sind. Hätten wir mit einkalkulieren sollen, daß es bei weit mehr als 20 Arbeitslosigkeit bleibt, oder war es von den Arnstädtern nicht richtig, darauf zu setzen, daß auch in Arnstadt möglich wird, was anderswo bereits möglich geworden ist, und die Arbeitslosigkeit auf ein normales Durchschnittsmaß zunächst einmal zurückgeht? Aber, meine Damen und Herren, nicht nur die Kommunen wurden bedrängt, auch die Länder wurden immer wieder bedrängt, die bereitgestellten Mittel doch zügiger abfließen zu lassen. Ich glaube, ich habe im Bundeskanzleramt 15 Konferenzen über den Aufschwung Ost mitgemacht. Es gab nicht eine, wo wir nicht angeklagt wurden, daß wir die Mittel nicht schneller ausreichen. In der Tat: Wir haben auch darunter gelitten, daß die Zahl der Arbeitslosen stieg, daß die marode Industrie zusammenbrach, daß niemand Arbeit fand und gleichzeitig die Genehmigungs- und Bewilligungsfristen immer länger wurden und folglich die bereitgestellten Mittel nicht abflossen. Meine Damen und Herren, ich habe über Jahre die Bürgermeister und andere ausdrücklich bedrängt: Entscheiden Sie und treffen Sie lieber zehn Entscheidungen, von denen acht richtig und zwei falsch sind, als keine Entscheidung! ({27}) Ich habe Risikobereitschaft gefordert und habe mich gegen Bürokratisierung ausgesprochen. Nehmen Sie es mir nicht übel: Ich habe die Absicht, das auch künftig so zu tun. ({28}) Wenn wir wirklich eine Fehlerquote von 5 bis 10 % einkalkulieren müßten - das will ich gar nicht ausschließen -, dann sind immerhin 90 bis 95 % der Mittel zweckentsprechend eingesetzt worden - ein beachtlich hoher Prozentsatz! Beachtlich jedenfalls für den, der weiß, was tatsächlich zu leisten war und was alles bei laufendem Betrieb zu leisten war. Wir konnten doch Ostdeutschland nicht für drei Jahre stilllegen, um zunächst Pläne und Konzepte auszuarbeiten, durch Fachleute prüfen zu lassen und um künftige Verantwortungsträger zu trainieren. Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit wäre gescheitert, wenn wir drei Jahre Vorbereitungspause eingelegt hätten. ({29}) Sie kam buchstäblich von einer Stunde auf die andere, und niemand war auf die konkrete Situation vorbereitet. Wer langfristige Vorbereitungen getroffen hätte, wäre in der ehemaligen DDR als Kriegstreiber verleumdet und im Westen als kalter Krieger verspottet worden. ({30}) Meine Damen und Herren, die Dimension des Umbruchs war gigantischer als vorherzusehen, und der zunächst ins Auge gefaßte Zeithorizont erwies sich in der Tat als zu kurz. Viele oder sogar alle verlangten gleiche Rechte in West und Ost, zu Recht und in der Situation 1989/90 auch verständlicherweise. Nur sollte sich bald herausstellen, daß viele Probleme im Osten mit Rechtsverordnungen aus dem Westen nicht effizient zu lösen sind. ({31}) Meine Damen und Herren, wenn ich etwa an die Bauvergabeordnung denke, dann frage ich mich ernsthaft, ob das nützt oder ob das nicht zu Schwierigkeiten, wie sie diskutiert werden, mit beigetragen hat. ({32}) Lassen Sie mich sehr freimütig hinzufügen: Ich verstehe durchaus die Schwierigkeiten mancher westlicher Ministerpräsidentenkollegen, den Bürgerinnen und Bürgern in ihren Ländern zu erklären, daß der Landeshaushalt und auch die kommunalen I laushalte zurückgefahren werden müssen. ({33}) Ich verstehe die Umstellung, die sich beispielsweise in Oberfranken vollziehen muß, wo man die staatlich subventionierte Zonenrandförderung, an die man sich über Jahre gewöhnt hat, nicht mehr bekommt und wo man sich mit ansehen muß, daß der Nachbar höhere Förderungen erhält. Meine Damen und Herren, mit Zonenrandförderung im Etat am 17. Juni über die Brüder und Schwestern in der DDR zu sprechen, ist einfacher, als Solidarbeitrag zu zahlen. Das ist auch mir bewußt. ({34}) Meine Damen und Herren, ich will nicht Rechnungshofberichte - das führt zu nichts - gegeneinander aufrechnen. ({35}) Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({36}) - Wieso Thüringen? Natürlich geht es auch um die Thüringer Rechnungshofberichte, aber es geht mir jetzt vor allen Dingen um die westlichen. Würde ich sie gegeneinander aufrechnen, dann müßte ich von Kalkar und von dem einen oder anderen Flughafen sprechen, ({37}) auch von anderen Beispielen, die genannt worden sind. Dann müßte ich sagen, daß bei uns in Erfurt der Schürmann-Bau hier in Bonn auch nicht gerade als Muster sinnvoller Investitionen gehandelt wird. ({38}) - Wer in den Wald hineinschreit, der muß damit rechnen, daß auch etwas herausschallt. ({39}) Aber, meine Damen und Herren, ich will nicht gegenrechnen. Gerade weil ich das nicht tue, möchte ich im Namen vieler, so glaube ich, aus den neuen Ländern sagen: Hört auf, neue Gräben aufzureißen! ({40}) Es mag ja sein, daß wir manches falsch gemacht haben. Wir versprechen: Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir das alles viel besser! ({41}) Es mag sein, daß wir Fehler gemacht haben. Eines aber weiß ich sicher: Wer jetzt neue Gräben aufreißt, weiß nicht, was er tut. ({42}) Die immateriellen Schäden könnten weit größer sein als alle vorstellbaren materiellen Schäden, meine Damen und Herren. ({43}) - Herr Kollege, ich sage das all denen, die Gräben aufreißen. Ich schaue dabei nicht nach links oder rechts, da ich das Vergnügen habe, eine große Koalition zu führen. Darum kann ich sagen, was ich denke. ({44}) - Wissen Sie, zwischen hessischen und bayerischen Ministerpräsidenten mache ich da keinen so wahnsinnigen Unterschied. Ich bin dem Herrn Bundespräsidenten Herzog sehr dankbar, daß er in diesen Tagen vor vorschnellen Urteilen gewarnt hat. ({45}) Ich darf ihn zitieren: Unter Umständen wurden Prioritäten anders gesetzt, als das einem Rechnungshofsbeamten einleuchtet. Er fährt fort: Das Ziel der raschen Angleichung der Lebensverhältnisse erfordert Opfer, und der durch die Geschichte privilegierte Westen muß daher um Geduld und auch um Verständnis gebeten werden. Meine Damen und Herren, kurzfristig schadet die Diskussion, die manche führen möchten, vor allem den neuen Ländern, mittel- und langfristig aber schadet sie der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Deswegen muß sie beendet werden. ({46}) Wir sind auf weitere großzügige Hilfe angewiesen, so wie wir sie im Föderalen Konsolidierungsprogramm mit Bund und Ländern einmütig vereinbart haben. Dieses Föderale Konsolidierungsprogramm schließt ausdrücklich den Solidaritätszuschlag mit ein, den wir übrigens nicht nur im Westen, sondern natürlich auch im Osten bezahlen. ({47}) Der Solidarbeitrag ist im übrigen entgegen dem Entwurf der Regierungskoalition des Bundes, die 3,5 %) vorsah, auf Drängen von Ländern wie Hessen auf 7,5 % angesetzt worden. ({48}) Meine Damen und Herren, das hatte seinen Grund: Weil es der Gemeinschaft der Länder gelungen war, einen höheren Anteil an der Mehrwertsteuer für die Länder zur Finanzierung des Programmes zu sichern, mußte sich der Bund durch einen Solidarzuschlag in Höhe von 7,5 % refinanzieren. ({49}) Sonst wäre die Einigung seinerzeit nicht zustande gekommen. Wir brauchen diese Hilfe, nicht weil wir unersättlich wären, sondern weil wir vom Tropf wegkommen wollen. Wir sind noch nicht am Ziel. Wer uns jetzt die Hilfe versagt, der muß wissen, daß wir ihm um so länger auf der Tasche liegen werden. Wer populistisch zurückschreckt und von Rückführung der Mittel spricht, muß vorsichtig sein, damit er nicht gefährdet, was erfolgreich begonnen worden ist. ({50}) Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({51}) Meine Damen und Herren, noch immer liegt die Finanzkraft der jungen Länder bei einem knappen Drittel der des Westens; die Produktivität beträgt knapp 50 %. Wer den Solidarzuschlag vorschnell wieder einstellt, gefährdet den weiteren Aufbau. ({52}) Es muß schon Deutschland sein, wo man erst gemeinsam die Wiedereinführung beschließt und bereits vor der ersten Zahlung die Abschaffung beschließen will. ({53}) Ich sage ausdrücklich: Geben ist seliger denn nehmen. Zumindest für mein Land gilt: Wir wollen nicht auf Dauer ein nehmendes Land bleiben, sondern wir wollen so schnell wie möglich ein Geberland werden. ({54}) Aber wir brauchen Hilfe, das auch erreichen zu können. Auch haushälterisch ist es sehr viel zweckmäßiger, uns zu helfen, dieses Ziel rasch zu erreichen und nicht über die Jahre hinzuziehen. Ich bitte, daß es zu einer Solidarität all derer kommt, die selbstverständlich -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schily, der Redner ist schon ein gutes Stück über die Zeit hinaus. Ich kann ihm nicht mehr anbieten, noch eine Zwischenfrage anzunehmen. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Der Redner bietet Herrn Schily nachher ein Gespräch an und schließt mit den Worten: Helfen Sie bitte mit, daß wir diese Diskussion auf den Kernpunkt zurückführen, daß wir Fehler als Fehler erkennen und zu korrigieren versuchen, daß wir uns aber nicht wegen gemachter Fehler die Erfolge zerreden lassen, sondern daß wir die Erfolge fortsetzen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Vogel, es ist zweifellos richtig, daß wir diese Diskussion möglichst schnell beenden müssen, weil sie tatsächlich niemandem nützt und dem komplizierten Prozeß des Zusammenwachsens eher schadet. Ich hoffe nur, daß Sie diese Erkenntnis demnächst auch Ihrem Kollegen in München mitteilen werden. Denn es hört sich schon etwas verzwickt an, wenn sich Herr Stoiber aus Amigoland in der obersten Tonlage der Betroffenheit wie der Ehrenvorsitzende des Bundes der Steuerzahler über Steuerverschwendung beschwert. ({0}) Leider gibt es einige Fehler, die irreparabel sind. In diese Rubrik muß auch die verschleppte Solidarität im Zuge der deutschen Einheit eingestuft werden. Es war nämlich Ihr Kanzler, der den Deutschen - mit den Worten: die Ostdeutschen bekommen die D-Mark, damit die Westdeutschen sie behalten können - eingeredet hat, die deutsche Einheit sei im Grunde genommen ohne Kosten zu machen. ({1}) Jetzt wundert man sich über die Stimmungsmache im Land. Ein Fehler ist z. B. auch, den Solidarzuschlag einzuführen und ihn damit zu begründen, daß er eigentlich für den Golfkrieg gebraucht werde, um ihn dann gleich wieder abzuschafffen, um ihn dann wieder einzuführen, ({2}) wobei man den Leuten verschweigt, daß dieser Solidarbeitrag für längst ausgegebenes Geld gebraucht wird, damit der Schuldenberg abgetragen werden kann, auf dem Theo Waigel im Moment sitzt. - Herr Waigel ist leider verschwunden oder hat sich irgendwo hier ins Plenum gesetzt. Aber ich akzeptiere, daß er nicht die ganze Zeit zuhören kann. Er weiß ohnehin, worüber wir hier reden; er kennt diese Mißstände alle. Es zählt ebenfalls zu den Fehlern, daß man mit den „blühenden Landschaften" regelrecht das Gießkannenprinzip eingeführt hat, indem man behauptet, daß im Grunde genommen eine unterkapitalisierte Landschaft mit Fördermitteln überschwemmt werden muß, damit dort etwas entsteht. Ich sage Ihnen ganz klar: Sie haben das einkalkuliert, weil Sie sich gesagt haben: Wir müssen reinpumpen, was möglich ist, damit 1994 der Wahlerfolg gesichert wird. ({3}) Sie haben Fördermittel hineingepumpt, die jede gut funktionierende Westverwaltung nicht verlustfrei hätte ausgeben können. Es kommt hinzu, daß die ostdeutschen Verwaltungen noch nicht standen. Ich könnte Ihnen reihenweise aus unserer Kritik zum Einigungsvertrag zitieren. Es gab noch keine Verwaltungen. Sie hatten nicht den Mut, die westdeutschen Beamten, die normalerweise dienstverpflichtet sind, in den Osten zu schicken und zu sagen: Paßt auf, daß die Gelder richtig verwendet werden usw. Es ist also eine Debatte zur Unzeit und im falschen Tonfall. Sie wird mit fragwürdigen, scheinheiligen Argumenten und falschen Zahlen geführt. Wir laufen Gefahr, daß der Prozeß der Vereinigung in eine Neidkampagne ausartet, daß im Osten womöglich ein finanzielles Schlaraffenland ausgebrochen ist, in dem die frischen Banknoten den Leuten nur so in die leeren Taschen flattern. Werner Schulz ({4}) Wir sprechen hier eigentlich, Herr Rexrodt, wenn ich Ihren Redebeitrag richtig verstanden habe, über die Verschwendung öffentlicher Gelder. Ich muß ehrlich sagen, es ist schon ein Skandal, welche Haltung Sie hierzu einnehmen. Sie sagen: Wo es Subventionen gibt, gibt es Mißbrauch. - Als seien Sie der Peanuts-Beauftragte der Deutschen Bank und nicht etwa der deutsche Wirtschaftsminister, ({5}) als sei es irgendwie ein ehernes Naturgesetz der Sozialen Marktwirtschaft, daß die Subventionen so nebenbei irgendwo versickern. Das sind doch Umstände, an denen sich ganze Generationen von Wirtschaftsministern Ihrer Partei abgearbeitet haben; sie haben gesagt: Wir müssen alle Subventionen auf den Prüfstand stellen, es muß eine Ziel- und Ergebniskontrolle und eine Befristung von Subventionen geben. - Nun machen Sie mal, als daß Sie immerzu nur Altbekanntes feststellen! Das kann doch wirklich nicht wahr sein. ({6}) Ich finde auch das Herangehen des Ministerpräsidenten Stolpe nicht in Ordnung, der nach dem Motto handelt: Ich werde prüfen lassen, ob ich den „Spiegel" vor Gericht ziehen kann. - Ich glaube, er sollte einmal prüfen, ob die Vorwürfe stimmen, und nicht nebenbei eine offene Rechnung präsentieren. ({7}) Bei Ihnen, Herr Vogel, hätte ich mir gewünscht, daß Sie über die fehlenden Berichte des Landesrechnungshofs von 1992 und 1993 reden, als daß Sie sagen: Ja Gott, das ist nun einmal so, da weiß ich nicht, ich bin zwar der Landesvater, aber was hat man da für Pflichten? ({8}) Ich glaube, Sie haben ,die Pflicht, das zu kontrollieren, Sie haben die Pflicht, daß Ihr Rechnungshof funktioniert, gut ausgestattet ist und sich nicht mit Personalquerelen aufhält. ({9}) Vor allen Dingen stört uns das Doppelpaßspiel, das aus Bayern kommt, daß der eine den Solidarbeitrag einführt und sich der andere über dessen Erhebung beklagt. ({10}) Das sind Dinge, die diese mißliche Diskussion eher anheizen. ({11}) Wir sind der Meinung, daß die Förderung für die neuen Länder nicht beendet werden darf. Herr Glos, zumindest darin sind wir uns auch einig. ({12}) Es verwundert mich schon, daß der Finanzminister, bevor ein Prüfungsbeleg überhaupt da ist, schon weiß, daß die Förderung zurückgeschraubt werden muß. Im Grunde genommen ist sie damit schon ad acta gelegt. Ich glaube, wir müssen genau hinsehen, was gebraucht wird und wo Mittel unzweckmäßig verwendet worden sind. Wir müssen vor allen Dingen das Förderchaos entzerren, das Sie mit den 700 Einzelfördermaßnahmen angerichtet haben, bei denen keiner mehr durchsieht und sich eigentlich nur noch die Wirtschaftsberater das Geld in die eigene Tasche holen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schulz, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der bayerische Ministerpräsident vorgestern im „HeuteJournal" folgendes erklärt hat: Ich glaube, daß diese Zahlen - von denen auch Sie eben gesprochen haben - so nicht stimmen . . . Er fügt hinzu: Ich muß im übrigen auch deutlich machen, es hat keinen Sinn, jetzt in die Vergangenheit hineinzurecherchieren, sondern wichtig ist, daß wir die Mittel zielgenauer und effizienter in der Zukunft einsetzen . . . ({0}) Wenn bestimmte Mittel fehlgeleitet worden sind, dann darf das nicht dazu führen, daß hier jetzt generell Transferleistungen in Frage gestellt werden. Das wäre verheerend für unsere Entwicklung. Er fügt hinzu - ich greife das heraus -: 60 Milliarden Fehlleitung halte ich für maßlos übertrieben . . . Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und auch zu würdigen, was er damit zu dieser Themenstellung in der Öffentlichkeit gesagt hat? ({1})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hinsken, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der bayerische MinisterWerner Schulz ({0}) präsident ein großes Eigenbedürfnis hat, daß nicht in der Vergangenheit geforscht wird. ({1}) Das kann ich sehr wohl bestätigen. Im übrigen erfüllt es mich mit Freude, daß er zur Vernunft gekommen ist und der Meinung ist, daß die Fördermittel weitergewährt werden sollen. Das ist der Abschluß auch meiner Rede, weil ich nämlich -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schulz, auch Kollege Schwanhold möchte gern eine Zwischenfrage stellen.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schulz, würden Sie so weit gehen wie der Kollege Hinsken, der gestern im Wirtschaftsaussschuß den bayerischen Ministerpräsidenten einen „Brandstifter" genannt hat? ({0}) - Er hat ihn in dieser Frage einen Brandstifter genannt, ({1}) ohne daß irgend jemand diesen Vorwurf an den bayerischen Ministerpräsidenten erhoben hat. Würden auch Sie mit Ihren Vorwürfen so weit gehen?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Offensichtlich ist sein Brandruf in München angekommen. Der bayerische Ministerpräsident hat sich offenbar sofort korrigiert, und Herr Hinsken hat uns heute informiert, daß das, was gestern gesagt wurde, heute nicht mehr gilt. ({0}) Ich bin zufrieden, daß das so ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schulz, das ist für mich jetzt ein bißchen schwierig. ({0}) - Nein, nein, rein geschäftsordnungsmäßig. Der Kollege Hinsken könnte sich noch einmal um eine Frage bemühen. Da er dies tut, frage ich den Kollegen Schulz, ob er sie zuläßt.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schulz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was der Kollege Schwanhold gesagt hat, nicht stimmt, sondern daß ich mich auf Grund der Einlassung verschiedener Kollegen seitens der SPD und der anderen Parteien, die sich auf der linken Seite befinden, dergestalt geäußert habe, daß ich entschieden zurückweise, daß der bayerische Ministerpräsident in dieser Angelegenheit als „Brandstifter bezeichnet wird? ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege I Zinsken, ich muß ehrlich sagen: Ich stehe hier etwas fassungslos am Rande; denn das ist ja kein Doppelpaß, das ist schon ein gelungenes Dreierpaßspiel - wenn ich die Hilfestellung, die Ihnen der Herr Präsident gegeben hat, noch einbeziehe -, mit dem kompletten Abschluß eines Eigentores. ({0}) Ich möchte dennoch ganz gerne zum Ende meiner Rede kommen. Ich meine, wir brauchen die Fortsetzung der Förderung, um die gewerbliche Wirtschaft im Osten zu stärken, um dauerhafte Arbeitsplätze einzurichten, um die ökologische Erneuerung und die Sanierung der Altlasten voranzubringen. Und denken Sie vor allen Dingen an das Versprechen der Angleichung der Lebensverhältnisse; das steht nach wie vor aus. Nebenbei sind da noch einige kulturhistorische Denkmäler, die uns jetzt gemeinsam gehören, in Ordnung zu bringen und und und . Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schulz, mir liegt schon daran, Ihnen noch einmal darzulegen, daß es die Pflicht jedes amtierenden Präsidenten ist, den Redner zu unterbrechen, wenn ein Kollege aufsteht und sich zu Wort meldet, und zu fragen, ob er die Frage zuläßt. ({0}) Ich habe sogar versucht, das noch ein bißchen abzuschwächen; denn wir waren schon sehr weit geraten. ({1}) Daß es in diesem Hause höchst unüblich ist, eine Äußerung aus Ausschußsitzungen in einer Zwischenfrage gegen einen Kollegen zu verwenden, steht auf einem anderen Blatt. Ich erteile dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom Dienstag sah man eine Karikatur, die zeigt, welcher Sprengstoff in dieser Debatte liegen kann. Da sitzt ein Ossi, der auf der Fiedel spielt. Der reiche Wessi wirft Markstücke in den vor ihm stehenden Hut, die in ein Loch im Boden fallen. Da wird das Vorurteil geschürt, daß im Westen geschröpft wird, das Geld aber im Osten versickert. Das ist falsch. Ostdeutschland ist der Wachstumspol in Europa. Seine Städte und Dörfer sind im Vergleich zum Jahre 1990 kaum noch wiederzuerkennen. ({0}) Da wird das Vorurteil geschürt, daß Ostdeutsche nichts tun. Das ist falsch. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben viele Klärten der Umstrukturierung zu tragen. Sie tragen sie geduldig. ({1}) Sie zahlen Steuern. Herr Ministerpräsident Vogel hat es zu Recht erwähnt: Sie zahlen auch den Solidarbeitrag, alles entsprechend ihrer Leistungskraft. Andererseits, meine Damen und Herren, warne ich davor, zu behaupten, daß es bei den Transfers nach Ostdeutschland keine Mitnahme, keine Fehlleitung, keinen Mißbrauch und auch keine Kriminalität gegeben hat. Der Bundeswirtschaftsminister hat doch recht, Herr Schulz: Alle Erfahrung macht uns völlig klar - wir laufen doch nicht blauäugig durch die Gegend -, daß Fehlleitung und Mißbrauch von Subventionen niemals voll vermeidbar sind. Deswegen ist das aber nicht etwa ein Naturgesetz der Sozialen Marktwirtschaft. Das Naturgesetz der Sozialen Marktwirtschaft würde vielmehr heißen: Es gibt keine Subventionen, wir brauchen keine. ({2}) Aber das können wir wohl nicht in Ostdeutschland anwenden. Fehlleitung und Mißbrauch sind schon gar nicht voll vermeidbar, wenn Subventionen in einem solchen Umfang, in einer solchen Höhe und unter solchem Zeitdruck gewährt werden, wie wir es nach 1990 und 1991 getan haben und tun mußten. Ich will gar nicht die vielen Beispiele, die Herr Rexrodt erwähnt hat, wiederholen, was es auch für Mißbräuche ohne solchen Zeitdruck unter sogenannten normalen Umständen gegeben hat: von Europa über die Bundesrepublik und die Länderebene bis hin zu den Kommunen. In einigen Bereichen ist sicher die falsche Mittelverwendung in den neuen Bundesländern sichtbar: bei überdimensionierten Handelsflächen auf der grünen Wiese, bei riesigen Kläranlagen und bei leeren Gewerbegebieten. Aber gibt es die nicht oft genug auch in Westdeutschland? ({3}) Das ist doch alles nur die halbe Wahrheit. Der Aufschwung, den wir jetzt in Ostdeutschland beobachten, die ersten Ansätze zum Abbau der Arbeitslosigkeit, die soziale Absicherung der von Arbeitslosigkeit Betroffenen und der Rentner wären ohne westliche Hilfe nicht machbar gewesen. Das wäre unzumutbar für die betroffenen Menschen und ein Pulverfaß für uns alle geworden. Herr Kollege Schily, ich muß sagen: Ich finde es, gelinde gesagt, reichlich geschmacklos, die Austeilung von Subventionen und die Zurverfügungstellung von Fördermitteln in Ostdeutschland mit dem Vorgang des Werfens von Kamellen unter das Volk im Karneval zu vergleichen. ({4}) Das ist - es tut mir leid - dieselbe Haltung gegenüber den Menschen in Ostdeutschland, die Sie am Abend des 2. Dezember 1990 mit der Banane vor der Fernsehkamera gezeigt haben. ({5}) Meine Damen und Herren, in der kurzen Zeit nach der Wiedervereinigung war es im Interesse Gesamtdeutschlands, den Aufbau der Infrastruktur möglichst rasch voranzubringen, neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, zu zeigen, daß es jenseits von Zusammenbruch und Mißwirtschaft eine bessere Perspektive für die Menschen gibt. Ohne Förderung der Kommunen gäbe es die Handwerksbetriebe in den neuen Bundesländern nicht. Ich will gerne bestätigen, daß wir hier an dieser Stelle - ich für meine Fraktion - mehrfach vorgeschlagen haben: Gebt ein paar weniger ABM-Mittel, und gebt ein bißchen mehr direkte Investitionsmittel in die Kommunen, damit die Handwerksbetriebe Aufträge bekommen und leben können! ({6}) Wer damals auf den Aufbau einer leistungsfähigen Bürokratie, der Rechnungshöfe und der Verwaltungsverfahren gewartet hätte, der hätte unvorstellbaren menschlichen und politischen Schaden in Kauf genommen. Wir alle wußten, daß Fehlleitung und Mißbrauch von Geldern, wie sie auch im Westen vorkommen, in der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung noch stärker auftreten würden. Wir haben sie in Kauf genommen. Es gab keine Blaupause für den Aufschwung Ost. Alte Kader, unerfahrene Ostdeutsche, wohlmeinende West- und Ostdeutsche, Abzokker, all das war die Mischung des Jahres 1990 und folgende. Herr Schulz meinte, wir hätten westdeutsche Kontrolleure schicken sollen. Sie müßten eigentlich besser wissen, Herr Schulz, wie die Atmosphäre war. Einfach Beamte schicken, unerbeten, unerwünscht und ungefragt? In Brandenburg hieß es und heißt es doch: Sie kommen aus NRW mit der Devise: NRW steht für „Nun regieren wir". Vorsicht! Ich will hier ausdrücklich bestätigen: Die F.D.P. hat sich 1991 für mehr und schnellere Investitionen eingesetzt. Wir waren und wir sind für verkürzte Genehmigungs- und Planungsverfahren. Herr Ministerpräsident Vogel, Sie haben da völlig recht. Ich habe mehrfach vorgeschlagen - auch von dieser Stelle im I Deutschen Bundestag -, Angehörige des öffentlichen Dienstes von der Haftung für eventuelle fehlerhafte Investitions- und Vermögensentscheidungen - außer im Fall des Vorsatzes - freizustellen. ({7}) Haben wir nicht die Kommunen kritisiert, die mangels geeigneter Investitionsprojekte Fördermittel auf Konten geparkt hatten? Herr Vogel hat erwähnt, daß auch die Länder für das Nichtabrufen von Geld kritisiert worden sind. Alles, meine Damen und Herren, doch wohl im Interesse der Beschleunigung der Investitionstätigkeit, alles im Interesse neuer Arbeitsplätze! So verständlich die Probleme der korrekten Mittelverwendung in der Zeit nach der deutschen Vereinigung waren, so falsch wäre es allerdings, Fehlleitung und Mißbrauch von Geldern auch noch heute blanko zu entschuldigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Graf Lambsdorff, die Kollegin Matthäus-Maier würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lambsdorff, da Sie mehrfach darauf hingewiesen haben, was Sie gefordert hatten: Darf ich Sie darauf hinweisen, und wollen Sie mir nicht ein bißchen recht geben, daß es gerade die F.D.P. und Sie ganz persönlich waren, die zu dem überdimensionierten Bau von Grüne-Wiese-Läden draußen vor den Städten mit beigetragen haben, indem Sie das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung mit der Folge durchgesetzt haben, daß wegen langjähriger Auseinandersetzungen in den Innenstädten die Einzelhändler zuwenig unterstützt werden konnten, so daß sie nicht auf die Beine kommen konnten? ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, es wäre mir nichts lieber, Frau Matthäus, als Ihnen endlich mal ein wenig recht geben zu können - worum Sie mich gebeten haben. Ich bin dazu leider nicht in der Lage. ({0}) Das Thema „Rückgabe vor Entschädigung oder umgekehrt" hat mit der Frage der Ausdehnung von Flächen auf der grünen Wiese auf der einen Seite und mit der Frage der Gewerbeflächen in den Innenstädten auf der anderen Seite überhaupt nichts zu tun. ({1}) Meine Damen und Herren, die Verwaltungen in den Ländern und Kommunen in Ostdeutschland sind jetzt weitgehend aufgebaut. Die Verwaltungsverfahren sind seit fünf Jahren eingeübt; die Rechnungshöfe arbeiten. Ministerpräsident Biedenkopf hat das im Bundestag in der letzten Woche ausdrücklich bestätigt. Jetzt muß man sich eine klare Übersicht darüber verschaffen, was sich in den fünf neuen Bundesländern ereignet hat. Dazu müssen der Bundesfinanzminister und auch der Bundeswirtschaftsminister nicht gesondert aufgefordert werden; das versteht sich von selbst. Man kann Entscheidungen natürlich nicht auf Zeitungsberichte gründen. Der Fokus unserer Debatte sollte nicht darin liegen, daß wir Tango vor dem Spiegel tanzen. ({2}) Bundesfinanzminister Waigel wird zusammen mit den neuen Bundesländern und den Rechnungshöfen prüfen. Kriminalität wird von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden. Fehlgeleitete und falsch verwendete Subventionsmittel müssen zurückgefordert werden. Wichtiger ist es aber doch wohl, für die Zukunft die notwendigen Lehren zu ziehen. Systematisch falsche Anreize - z. B. in der Honorarordnung für Architekten die Entlohnung nach der Größe des Projektes und nicht nach der Wirtschaftlichkeit - sollten doch wohl überdacht und wahrscheinlich beseitigt werd en. ({3}) Die beste Art, den Mißbrauch öffentlicher Mittel abzustellen, ist die Privatisierung öffentlicher Leistungen. ({4}) Warum haben sich die neuen Bundesländer lange, zum Teil bis heute gewehrt, Wasserbereitung und Abwasserbeseitigung, Müllabfuhr und Energieversorgung Privaten zu überlassen? Die in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Verbesserung der Übersichtlichkeit und Vereinfachung der Förderung für die neuen Bundesländer muß und wird mit Nachdruck vorangebracht werden. Die Förderung muß regional auf Problemgebiete konzentriert werden. Ich habe in der letzten Woche im Bundestag in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht für die F.D.P.-Fraktion angeregt, die Transferleistungen in die neuen Bundesländer degressiv zu gestalten. Die Leistungen müssen fortgesetzt werden, aber sie müssen im Laufe der Zeit auch schrittweise abnehmen. Ministerpräsident Biedenkopf hat dazu gesagt: Die Mittel nehmen automatisch ab, wenn die Steuerkraft der neuen Bundesländer zunimmt. - Kann es aber sein oder dabei bleiben, daß der Zuwendungsgeber in vollem Umfang vom Verhalten des Zuwendungsempfängers abhängt? Diese Forderung nach Degression gilt nicht nur für Subventionen im Osten, sondern sie gilt auch für den Westen. Meine Damen und Herren, die heutige Debatte kann gefährlich sein, weil sie neue Gräben zwischen Ost und West aufreißen kann, weil sie den Steuerzahler in Ost und West, der zu Recht mit großem Unmut die hohe steuerliche Belastung beklagt, in seiner Staatsverdrossenheit stärken könnte, weil sie uns verleiten kann, mit neuer Kontrolle und noch mehr Bürokratie statt mit grundlegender Vereinfachung und besserer Übersichtlichkeit und dadurch mit weniger Staat zu antworten. ({5}) Die heutige Debatte kann aber auch nützlich sein, weil sie die Risiken aller staatlichen Fördermaßnahmen offenlegt, weil sie deutlich werden läßt, daß Förderung einer Region immer die gewollte Benachteiligung anderer Regionen einschließt. ({6}) - Herr Kollege Tauss, Sie sind ja neu hier - Ihre Zwischenrufe sind auch neu. Aber ich muß schon sagen: Sie sind so kleinkariert - auf Pepita kann man nicht Schach spielen. ({7}) Meine Damen und Herren, die heutige Debatte kann auch nützlich sein, weil sie demonstriert - und das hat Bedeutung über Deutschland hinaus -, wie wichtig eine funktionierende Verwaltung für eine funktionierende Marktwirtschaft ist. Das ist ein Problem der mittel- und osteuropäischen Staaten. ({8}) Die Bundesregierung, aber auch die Regierungen in den neuen Bundesländern sind gefordert, die Subventionen zu überprüfen, sie zu straffen, ihre Effizienz zu steigern. Ziehen wir doch über diesen Anlaß hinaus endlich die Konsequenz, daß staatliche Subventionen von vornherein zeitlich begrenzt und degressiv gestaltet werden! Wir werden sie sonst ohne politische Kraftanstrengungen nie wieder los. Die derzeitige Kohle-Diskussion ist ein Musterbeispiel dafür. Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe sind für Ostdeutschland weiterhin nötig. Herr Ministerpräsident, die F.D.P.-Fraktion bestreitet das, was Sie dazu gesagt haben, mit keiner Silbe. ({9}) Allen Steuerzahlern sind wir höhere Effektivität beim Mitteleinsatz schuldig. Das hat der Bundeswirtschaftsminister richtig vorgetragen, und wer hier im Hause wollte das bestreiten? Aber die heutige Debatte sollte doch nach Möglichkeit ein Beitrag dazu sein, daß Deutschland über alle Gräben hinweg, auch wenn es um ärgerliche Probleme geht, weiter zusammenwächst und nicht weiter auseinanderdriftet. Zum Wahlkampf, zur einseitigen Profilierung, zur Schuldzuweisung, zur parteipolitischen Polemik ist dieses Thema denkbar ungeeignet. ({10}) Die Vergangenheit aufklären, aus Fehlern lernen, die Zukunft besser gestalten - das sind in den Augen meiner Fraktion die nötigen Konsequenzen. Aber den Erfolg des Wiedervereinigungsprozesses lassen wir uns durch solche Ereignisse, durch solche Debatten und durch solche Kritik nicht Wegreden. Wir werden weiter beharrlich daran arbeiten, daß eines Tages keine Subventionen mehr notwendig sind, daß es den selbsttragenden Aufschwung in den neuen Bundesländern gibt und daß unsere Landsleute in Ostdeutschland vom Tropf der Subventionen wegkommen. Genau das wollen sie nämlich: Sie wollen nicht von uns abhängig bleiben, sie arbeiten dafür, daß sie das schaffen. Dabei müssen und werden wir ihnen helfen. Ich bedanke mich. ({11})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi ({0}).

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gegenwärtige Diskussion macht strukturelle Mängel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik seit 1990 deutlich, übrigens Mängel, die wir von Anfang an kritisiert haben. Einer dieser Punkte ist, daß die Einheit im wesentlichen immer als eine finanzpolitische Aufgabe gesehen wurde, obwohl ganz andere Aufgaben einen wesentlich höheren Stellenwert hätten haben müssen, insbesondere die Wirtschafts-, Struktur- und Investitionspolitik. Ich komme auf eine Kritik zurück, die, so glaube ich, sogar von der F.D.P. geteilt wurde, nämlich daß die Treuhandanstalt eigentlich dem Bundeswirtschaftsminister hätte unterstellt werden müssen und nicht dem Bundesfinanzminister, wenn man eine solche Einrichtung als eine wirtschaftspolitische und nicht als eine finanzpolitische Aufgabe begreift - Dinge, die wir noch heute ziemlich teuer bezahlen. Deshalb wundert mich auch eine Art Arbeitsteilung. Der Bundesfinanzminister zieht alle Kompetenzen an sich, angefangen mit der Treuhandanstalt; er ist für alles zuständig, auch bei den Fördermitteln. Und immer, wenn etwas schiefgeht - ob Bischofferode oder, wie jetzt, die Verwendung von FördermitDr. Gregor Gysi teln -, muß der Wirtschaftsminister versuchen, das zu tragen. Ich verstehe gar nicht, Herr Rexrodt, warum Sie sich das bieten lassen. Lassen Sie doch zu, daß Herr Waigel endlich einmal die Verantwortung für das übernimmt, was er in dieser Republik so anrichtet! ({0}) Ich sage Ihnen, welche weiteren Mängel es gab. Sie sagen, das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung habe mit all dem nichts zu tun. Graf Lambsdorff, das können Sie doch nicht im Ernst meinen. Wenn eine Vielzahl von Grundstücken überhaupt nicht genutzt werden kann, weil Rückgabeansprüche geltend gemacht werden, dann lenkt das natürlich Investitionen auf die außerhalb gelegenen Wiesen, wo so etwas noch möglich ist. Das ist doch ganz klar. Sie haben doch auch gewußt, daß das die Folge dieses Prinzips ist. ({1}) Sie haben zugelassen, daß das Fachwissen in Ostdeutschland praktisch ungenutzt blieb, sowohl das von Fachleuten als auch das von Betriebsräten und in vielen anderen Bereichen. Ich sage Ihnen: Die Ostdeutschen haben von einem wirklich die Nase voll, nämlich davon, daß der Wahlkampf im Westen regelmäßig dann, wenn Landtagswahlen anstehen, auf ihre Kosten geführt wird. ({2}) Das passiert jetzt jedesmal, ob in Hessen oder wo auch immer eine Wahl ansteht. Natürlich war es ein großer Fehler, in erster Linie zu privatisieren, statt zu sanieren. Wir können alle diese Diskussionen von neuem beleben. All das hat auch mit der Verwendung der Fördermittel zu tun. Ich frage mich: Wer hat denn eigentlich die Diskussion ausgelöst? Ein Beitrag in der Zeitung? Mein Gott, es gab schon so viele Beiträge in den verschiedensten Nachrichtenmagazinen! Es waren doch eindeutig die CSU und die bayerische Landesregierung, die danach mit einem Donnerwetter loslegten, ganz eindeutig gegen Ostdeutschland gerichtet, um eine ganz bestimmte Stimmung zu schüren. Sehen Sie sich doch einmal an, was der bayerische Finanzminister Georg von Waldenfels dazu so alles erklärt hat. Übrigens: Der redet von Verschwendung! Das ist besonders bemerkenswert, weil er z. B. als Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafen München GmbH in hohem Maße Verantwortung trug. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere daran, wieviele Milliarden dort schon dadurch verschlampt worden sind, daß man erst nach dem Bau festgestellt hat, daß der Anschluß an den öffentlichen Verkehr fehlt. ({3}) - Ich komme darauf noch zurück. Aber es geht übrigens nicht nur um den Großflughafen; er war auch noch für andere Projekte verantwortlich, z. B. für die Rhein-Main-Donau AG. Was da an Milliarden verschlampt worden ist, ist ungeheuerlich, ({4}) allein schon, weil der Kanal bis heute nicht ausgelastet ist. An ihm wird immer weitergebaut und weitergebaut, und keiner fragt nach den Geldern. Deshalb sollte Herr von Waldenfels eigentlich nicht mit Steinen werfen. Er persönlich ist für diese Aufgabe ungeeignet. ({5}) Nun erdreistet er sich noch - das muß ich einfach einmal so sagen - und sagt, das Stärkste an all dem sei, daß die Gauner, die Verbrecher von gestern, die SED, ({6}) die PDS - das verwendet er übrigens alles unter dem Begriff „Kultur" - in den Ländern dort drüben noch in der ersten Reihe sitzen und die Gelder, die aus den alten Ländern hinübertransferiert werden, praktisch nach eigenem Gutdünken ausgeben. Dazu sage ich: Das ist wirklich ein starkes Stück. Wenn die dortigen Landesregierungen, die mit Ausnahme von Brandenburg alle CDU-geführt sind, es immer noch nicht geschafft haben, die PDS-Kader aus der ersten Reihe zu verdrängen, dann frage ich mich, was sie eigentlich in den letzten fünf Jahren gemacht haben. ({7}) Aber ich kann Sie beruhigen: Weder in den Regierungen noch bei den hohen Beamten in den Ministerien, noch in den Landesrechnungshöfen der neuen Bundesländer finden Sie PDS-Mitglieder. Da ist in jeder Hinsicht aufgeräumt worden. Sie können uns ja die ganze Vergangenheit anrechnen. Aber das, was die von Ihnen gestellten Landesregierungen in den letzten fünf Jahren getan haben, auch noch der PDS aufzuhalsen - das geht einfach ein Stück zu weit. Übernehmen Sie für die Politik, die Sie betreiben, die Verantwortung! Das tut Herr von Waldenfels eindeutig nicht. ({8}) - Das ist ja etwas ganz anderes. Es handelt sich nicht um eine Diskussion über die Vergangenheit. Er sagt ja, jetzt würden wir angeblich diese Fördermittel ausgeben. Das ist nun wirklich in jeder Hinsicht Blödsinn; das wissen auch Sie. Aber man kann es natürlich immer wieder versuchen. Es steckt Methode dahinter - Graf Lambsdorff hat es zu Recht richtiggestellt -, in den alten Bundesländern immer so zu tun, als oh der Solidarzuschlag nur von den Bürgern in den alten Bundesländern aufgeDr. Gregor Gysi bracht würde. Ich behaupte: Die große Mehrheit der Bevölkerung weiß gar nicht, daß auch die Menschen in den neuen Bundesländern den Solidarzuschlag in Abhängigkeit von ihrem Einkommen aufbringen. Es wird immer so dargestellt, als sei das eine einseitige Leistung, obwohl das überhaupt nicht stimmt. Natürlich sind Fördermittel auch vergeudet worden, ganz sicherlich. Hier ist schon vieles, auch zur Vergeudung, gesagt worden. Das ist jetzt gar nicht mein Thema. Mein Thema ist ein anderes: Es ist doch wahr, daß die meisten Fördermittel, die in den Osten geflossen sind, wieder in den Westen zurückgekommen sind. Das können Sie nicht im Ernst leugnen. Welche Betriebe haben denn die Aufträge von Ländern und Kommunen bekommen? Das waren in aller Regel westdeutsche Unternehmen. ({9}) - Lesen Sie doch einmal die Interviews; nie wird das gesagt. Sie können es auch durch Unterlassen bestreiten, indem Sie auf diese Tatsache nicht hinweisen. Ich sage Ihnen ein Beispiel. Die Kali und Salz AG hat über eine Milliarde DM dafür bekommen, daß sie Bischofferode und andere Gruben im Osten geschlossen hat. So sind die Fördermittel auf dem Weg über den Osten nach Westen geflossen, ({10}) und zwar ohne zu zögern. Dafür gibt es ganz viele Beispiele. ({11}) Das wissen auch Sie. Was Thüringen betrifft - auch das ist schon angesprochen worden, Herr Ministerpräsident -, muß ich das Folgende sagen: Ausschließlich unsere Fraktion hat es abgelehnt, im Landtag über den Haushalt für das Jahr 1995 zu entscheiden, wenn die Prüfberichte des Landesrechnungshofes über die Verwendung der Haushaltsmittel für die Jahre 1992 und 1993 - von 1994 will ich gar nicht reden - nicht vorliegen. Die Fraktion ist sogar zum Bundesverfassungsgericht gegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar für nicht zuständig erklärt, hat aber in seinem Beschluß immerhin hervorgehoben, daß es stimmt, daß ein Abgeordneter über einen Haushalt eigentlich erst entscheiden kann, wenn er weiß, was in den Vorjahren mit den Geldern passiert ist. Der Landesrechnungshof ist bis heute außerstande, die Berichte vorzulegen. ({12}) Das muß Mißtrauen schüren. Das führt dazu, Herr Ministerpräsident, daß man einem solchen Haushalt natürlich nicht zustimmen kann. - Ich freue mich, daß Sie von der SPD nicken; ich muß nur darauf hinweisen, daß der entsprechende Antrag im Landtag mit den Stimmen von CDU und SPD, die ja da in einer großen Koalition sind, zurückgewiesen wurde. ({13}) - Das ist einfach so. Das kommt davon: Wenn man sich in bestimmte Beziehungen begibt, kommt man eben nicht wieder heraus. ({14}) - Das ist doch wahr. Das gilt für alle und dann auch für uns. ({15}) Noch einen Punkt will ich ansprechen. Unsere Abgeordnetengruppe war ja relativ fleißig, was Kleine Anfragen betrifft. ({16}) Gerade z. B. zu der Frage des Aufbaus der Steuerverwaltung und dazu, wie das Ganze vor sich geht und wie z. B. Fördermittel verwendet werden, haben wir immer wieder Kleine Anfragen an die Bundesregierung gerichtet. Sie können ja einmal die entsprechenden Antworten aus den Jahren 1994 und 1993 nachlesen. Dann werden Sie feststellen, daß die Bundesregierung immer der Auffassung war, daß im wesentlichen alles in Ordnung sei und wunderbar laufe. Das heißt, sie ist natürlich ihrer Kontrollpflicht nicht nachgekommen und hat trotz entsprechender Hinweise darauf, daß es auch erhebliche Mängel gibt, nicht reagiert. Übrigens, die letzte Kleine Anfrage unserer Gruppe zur Verwendung von Investitionszulagen stammt vom September 1993 und ist vom Finanzministerium im März 1994 dahin gehend beantwortet worden, daß nunmehr aber alles in Ordnung sei. Das heißt, das Bundesfinanzministerium hat die Probleme permanent bagatellisiert. Ich finde, es ist ein starkes Stück, wenn sich die Bundesregierung dann hier hinstellt, die ganze Politik verteidigt, sagt, das dürfe man nicht machen, das schütte Gräben auf - da ist ja überall etwas dran -, und die CSU, die an dieser Bundesregierung beteiligt ist, aus Bayern das größte Sperrfeuer in dieser Richtung auch gegen die Ostdeutschen abschießt. Das ist einfach unaufrichtig, und das wird auch der Grund sein, weshalb sich der Bundesfinanzminister hier nicht geäußert hat, denn er ist ja Vorsitzender dieser Partei. ({17}) - Wissen Sie, Herr Thierse, Ihre Kenntnis der PDS scheint sehr begrenzt zu sein, wenn Sie sie mit der CSU vergleichen. ({18}) - Sie waren das? Dann bitte ich um Entschuldigung, Herr Thierse. - Da muß ich Ihnen sagen: Wissen Sie, wenn Sie sich an die frühere SED erinnerten und Ihnen dann bei Parteitagen Ähnlichkeiten mit der CSU auffielen, würde ich Ihnen ja zustimmen. Aber bei der PDS ist das wirklich nicht mehr gegeben. ({19}) Lassen Sie mich als letztes darauf hinweisen, daß es dringend erforderlich ist, daß wir die Fördermittel in den neuen Bundesländern künftig wirklich dafür einsetzen, daß wir industrielle Kerne erhalten bzw. dort, wo sie schon nicht mehr erhalten sind, aufbauen und daß wir Arbeitsplätze schaffen. Das Schlimme ist nämlich, daß die Fördermittel benutzt worden sind, um eigentlich nur Aufträge an westdeutsche Unternehmen zu verteilen, und daß die gesamten Struktur- und Wirtschaftsaufgaben in den neuen Bundesländern damit nicht erfüllt worden sind. Es ist sozusagen ein Doppeltransfer organisiert worden und kein wirklicher Aufbau im Osten. Sie werden Dienstleistungseinrichtungen auf Dauer nicht erhalten können, wenn Sie keine industriellen Kerne haben.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Gysi, Sie müssen zum Schluß kommen. Sie haben Ihre Zeit deutlich überschritten.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sie können nicht leugnen, daß eine Vielzahl auch von Fördermitteln letztlich dazu benutzt wurde, mögliche künftige Konkurrenz im Osten erst gar nicht aufkommen zu lassen oder aber totzumachen. Das hat auch der Treuhand-Untersuchungsausschuß festgestellt, und zu diesem Ergebnis müssen Sie sich verhalten. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Schwanitz ({0}).

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die im Lande gärende Debatte über die Verwendung von Steuergeldern und auch über deren Verschwendung zum Aufbau Ost geht den Menschen im Osten und im Westen unter die Haut. Es ist richtig, daß es in den ostdeutschen Ländern und Kommunen Versäumnisse gegeben hat. Wie groß dieses Versagen war und welche finanziellen Auswirkungen das hatte, muß aufgedeckt werden. Ich will an dieser Stelle Herrn Kollegen Schulz ausdrücklich widersprechen. Ich glaube nicht, daß das eine Debatte zur Unzeit ist. Vor dem Hintergrund, daß es eine über Monate, vielleicht auch über Jahre, latent existierende Debatte zwischen den Ostdeutschen und den Westdeutschen über die Gerechtigkeit und über die Berechtigung dieses Transfers gibt, ist es höchste Zeit, daß diese Debatte auch hier im Parlament geführt wird. Ich glaube, I lerr Kollege Lambsdorff, daß Selbstgerechtigkeit da nicht am Platz ist. Es gibt eine Menge von Punkten, die man in Rückschau auf die Vergangenheit hier in Frage zu stellen hat. ({0}) Ich erinnere beispielsweise an die immer noch im Bundesrat hängende Honorarordnung für Architekten. ({1}) Die ostdeutschen Länder beklagen einvernehmlich und vehement, daß es keinen Sinn macht, die Honorare der Architekten an die Investitionssumme des Objektes zu binden. Hier gibt es beim Bundeswirtschaftsminister keine Bewegung. Das ist ein aktuelles Problem, das auf dem Tisch liegt. Das ist kein Vergangenheitsproblem. Hier kann man sich nicht hinstellen und so tun, als habe man immer schon das Richtige dazu gesagt und die Probleme schon immer richtig und exakt formuliert. ({2}) Eines geht nicht, meine Damen und Herren: Die Bundesregierung kann sich nicht auf die Position des neutralen Beobachters zurückziehen, den Osten kritisieren und anschließend den Geldhahn zudrehen! Es muß heute über Versäumnisse und Verantwortlichkeiten dieser Bundesregierung geredet werden. Wer sich für die Erfolge der Einheit bejubeln läßt, muß auch für die dabei gemachten Fehler geradestehen. ({3}) Ich will drei Punkte nennen: Erstens. Haben die Bundesregierung und die sie tragende Koalition schon einmal über den Zusammenhang zwischen diesen Fehlentwicklungen im Osten und den offenen Vermögensfragen nachgedacht? Die Grundsatzentscheidung Rückgabe vor Entschädigung hat nicht nur allgemein Rechtsunsicherheit und soziale Spannungen erzeugt. Sie ist auch für diese Fehlentwicklungen in doppelter Hinsicht mitverantwortlich. Frau Matthäus-Maier hat vollkommen recht: Zum einen wurden Investitionen in den Stadtkernen massiv behindert. Das Bauen auf der grünen Wiese, das Investieren in Industrie- und Gewerbeparks vor den Städten mit enormen finanziellen Aufwendungen und erheblichen Auslastungsrisiken waren durch diese Grundsatzentscheidung förmlich vorprogrammiert. ({4}) Zum anderen hat der Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung natürlich etwas mit dem Personal zu tun. Wer vom Bundesgesetzgeber verdonnert wird, über viele Jahre hinweg, Bundes-, Landes- und Kommunalämter zur Abwicklung von Alteigentümerinteressen und -ansprüchen einzurichten - die überdies noch bis in das Jahr 2000 hinein damit zu tun haben werden -, dem fehlen die Leute für Planung, Verwaltung und Kontrolle. Daran hat es offensichtlich gemangelt. ({5}) Diejenigen, die diese Grundsatzentscheidung Rückgabe vor Entschädigung 1990 durchs Parlament gedrückt haben, haben eine Mitschuld an den Mißständen, die heute diskutiert werden. Daß gerade auch die F.D.P., die im letzten Jahr noch stolz war, 1990 das Grundprinzip der Restitution erkämpft zu haben, heute am lautesten danach schreit, die Gelder für den Osten zu sperren, belegt die unverantwortliche Demagogie, mit der hier agiert wird. ({6}) - Ja, setzen Sie sich doch bitte einmal mit Herrn Rohde vom Landtag NRW in Verbindung, der würde den Solidaritätszuschlag am liebsten rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres rückgängig machen. Zweite Bemerkung: Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen den Fehlentwicklungen im Osten und dem pauschalen Überstülpen des bundesdeutschen Rechts- und Verwaltungssystems. Die komplizierte Steuergesetzgebung und der Wirrwarr in den aufgelegten Förderungssystemen taten ein übriges. Experten sagen uns, daß es mehrere hundert verschiedene Förderungsvarianten für Tätigkeiten in Ostdeutschland gibt, zum Teil mit daumendicken Anweisungen zur Umsetzung dieser Richtlinien. Wo sind diese Vorschriften denn hergekommen? Haben die sich im luftleeren Raum entwickelt, ohne Zutun der Bundesregierung? CDU/CSU und F.D.P. mögen doch bitte nicht so tun, als ob dieser Förderungsdschungel und die Zielungenauigkeit der einzelnen Instrumente erst seit heute kritisch hinterfragt werden. ({7}) Seit Jahren liegen die kritischen Anmerkungen des Sachverständigenrates auf dem Tisch. Seit Jahren wendet sich die SPD beispielsweise gegen das uneffiziente Instrument der 50prozentigen Sonderabschreibungen. Daß hier stets westdeutsche Spitzenverdiener enorme Steuervorteile einstreichen können und viele ostdeutsche Betriebe, da sie keinen Gewinn erwirtschaften, leer ausgehen, hat die Bundesregierung Jahr für Jahr ignoriert. ({8}) Anstatt mit einer verstärkten Investitionszulage auch für kleinere ostdeutsche Unternehmen etwas zu tun, ihnen bei ihrem Hauptproblem, nämlich der Eigenkapitalschwäche, zu helfen, wurden enorme steuerliche Anreize für gutbetuchte Westdeutsche gegeben, so daß der Sprung in überteuerte Objekte und wirtschaftlich unsinnige Investitionen auch noch auf Kosten des Steuerzahlers vergoldet worden ist. ({9}) Hier liegen Verantwortlichkeiten, bei denen nicht nach Ostdeutschland gezeigt werden kann. Hier liegen die Verantwortlichkeiten dieser Bundesregierung. ({10}) An dieser Stelle sei es mir gestattet, eine Anmerkung zu einem heute morgen von Herrn Rexrodt noch einmal erhobenen Vorwurf zu machen. Die Opposition, so war zu hören, habe durch ihre starke Forderung nach der kommunalen Investitionspauschale gerade ein unsicheres Instrument bevorzugt, das besonders wenig von Bundes- oder Landesbehörden habe kontrolliert werden können. Ich halte diesen Vorwurf für falsch. Zunächst wollen wir erst einmal abwarten, bis die Berichte des Bundeswirtschaftsministers auf dem Tisch liegen. Wollen wir erst einmal sehen, über welche Instrumente tatsächlich der meiste Mißbrauch getrieben wurde und die größten Fehlinvestitionen gelaufen sind. Die Fehlentwicklungen vor Ort haben nach meiner Meinung auch etwas mit dem allgemeinen Finanzstatus der ostdeutschen Kommunen zu tun. Wer den Kommunen keine eigene Finanzausstattung gewährt und sie gleichzeitig mit einer Vielzahl unterschiedlichster Fördertöpfe und zum Teil zweifelhafter Förderungsrichtlinien konfrontiert, wendet sich gegen das eigenverantwortliche Entscheiden der Kommunen und erzeugt Strukturen, bei denen die Investitionen nicht mehr nach der größten Dringlichkeit, sondern nach der schnellsten Verfügbarkeit der Fördermittel ausgerichtet werden. ({11}) Das produziert Handlungszwänge und Fehlentwicklungen. Für diese kann ich nicht nur den Bürgermeister vor Ort, sondern muß ich auch diejenigen verantwortlich machen, die windige Cleverneß stärker gefördert haben als verantwortungsbewußtes Handeln. Auch diese Fragen gehören hier auf den Tisch, meine Damen und Herren. ({12}) Zum Schluß will ich eine dritte Bemerkung zur Art und Weise der öffentlichen Diskussion selbst machen. Es ist klar: In besonderer Weise betroffen sind die Ostdeutschen, denn sie haben von den Steuergeldern, über deren Verschwendung wir in dieser Woche und in dieser Debatte reden, meist nichts gesehen. Profitiert haben windige Investoren, unseriöse Beratungsfirmen und einige Bauunternehmen, fast ausschließlich aus dem Westen. Finanziert wurden diese Vorgänge durch treuhänderisches Geld, durch die Steuerzahler in West und Ost, wobei die Ostdeutschen für diese Fehlentwicklungen künftig durch kräftige Kommunalabgaben und Gebühren ein zweites Mal bezahlen sollen. Begleitet wird das Ganze von einer grundsätzlichen Diskussion über die weitere Akzeptanz der Transfers für den Osten insgesamt. Das ist eine spalRolf Schwanitz terische Diskussion, wie wir sie seit 1990 noch nicht hatten, für die die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen und Parteien ebenfalls mit verantwortlich sind. ({13}) Seit 1990 wird jede Leistung des Bundes für die neuen Länder durch die Verlautbarungen der Bundesregierung und des Bundespresseamtes künstlich hochgerechnet. Bei den Leistungen wird grundsätzlich von Bruttowerten ausgegangen, unabhängig davon, ob die Ostdeutschen als Bundesbürger einen Rechtsanspruch auf die Leistungen haben. ({14}) Alles ist Transfer, und alles ist westdeutsche Wohltat. Die Ostdeutschen werden dadurch im Blick des Westens in eine kollektive Demutsverpflichtung gedrückt, die man anderen strukturschwachen Regionen Westdeutschlands nie abverlangen würde. ({15}) Der gemeinschaftliche Unmut und der berechtigte Widerstand der Westdeutschen, die durch die Fehlentscheidungen der Bundesregierung heute unter einer noch nie dagewesenen Abgabenlast zu leiden haben, werden dadurch gleichzeitig geschickt von der Bundesregierung weg auf die Ostdeutschen gelenkt. Die Bundesregierung präsentiert sich dann als Biedermann und wandelt die Aktuelle Stunde - von uns in dieser Woche zum Thema „Haltung der Bundesregierung zu den Meldungen über Milliardenverschwendungen in den neuen Ländern" vorgeschlagen - um zu einer Regierungserklärung unter dem Motto „Hilfen für die neuen Bundesländer - Erfolgreicher Aufbau Ost", während Stoiber und Rohde von der F.D.P. aus Nordrhein-Westfalen mit ihrem Populismus gleichzeitig die westdeutschen Stammtische bedienen. ({16}) Dieser strategische Ansatz, meine Damen und Herren von der Koalition, verbunden mit Ihrer Verweigerung einer selbstkritischen Analyse des eigenen Handelns in den letzten Jahren, ist der Treibsatz der Spaltung zwischen Ost und West, mit dem wir uns gegenwärtig auseinanderzusetzen haben. Ein sächsischer Journalist hat vor wenigen Tagen in der „Sächsischen Zeitung" geschrieben - ich zitiere -: Wie weit ist es jetzt noch bis zu jenem Tag, an dem Neuwagen mit Dresdener Kennzeichen auf westdeutschen Straßen sofort Unmut und bittere Vorwürfe hervorrufen - frei nach dem Motto: Schau mal, Liese, da fahren unsere Steuern spazieren! Für dieses Klima, meine Damen und Herren, sind Sie mit dieser Strategie verantwortlich. ({17})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention von zwei Minuten hat der Kollege Stefan Heym ({0}).

Stefan Heym (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002675, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. - Ich finde, was mein Vorredner gesagt hat, ist sehr, sehr gut. Ich kann es nur billigen und ihm applaudieren, und zwar aus folgendem Grund: Diese verschwundenen Millionen ({0}) haben die Ossis in eine Rolle gedrängt, die sie gar nicht ausfüllen können. Man macht ihnen den Vorwurf, sie hätten sich all dieses Geld genommen, und nun säßen sie im Fett. Ich will Ihnen etwas sagen: Wenn es so wäre, wäre das gar nicht einmal schlecht. Aber ich muß Ihnen leider mitteilen: Die Ossis sind viel zu unerfahren, um so etwas machen zu können. ({1}) Die haben nicht einmal gewußt, was ein Konto ist; ({2}) geschweige denn, wie man auf das eigene Konto die Gelder anderer Leute bringen kann. ({3}) Auf diese Weise haben sich andere Leute ihrer bemächtigt und sie benutzt, um das Geld des Steuerzahlers sehr wohl auf das eigene Konto zu bringen. Aber die Konten, auf denen das Geld jetzt ist, befinden sich im Westen. Das möchte ich Ihnen sagen, und ich empfehle Ihnen auch die Lektüre von „Candide" von Voltaire. Schon da können Sie das Ganze nachlesen. Das war schon damals aktuell. Ich danke Ihnen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Paul Krüger ({0}).

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Hintergrund der insgesamt sehr guten Entwicklung in den neuen Bundesländern mutet die heutige Debatte zuweilen absurd, ja gespenstisch an. Ich glaube, wir haben soeben zwei Zeugnisse dessen erDr.-Ing. Paul Krüger lebt: Nachdem Herr Schwanitz in seiner Argumentation weit überzogen hat , hat Herr Heym ein Bild von den Ostdeutschen gezeichnet, das ich so natürlich nicht bestätigen kann. Die Art und Weise, wie in den letzten Tagen mit einseitigen Wertungen und Einschätzungen politische Interessen vertreten wurden und wie durch das Wecken von Neidkomplexen Wahlkampf getrieben wurde, erfüllt manchen von uns mit Betroffenheit und Befremden und fordert unseren entschiedenen Widerspruch heraus. Ich sehe mich, meine Damen und Herren, genau wie in meiner letzten Rede genötigt, Sie noch einmal daran zu erinnern, was uns 40 Jahre DDR vor fünf Jahren hinterlassen haben. Denken Sie an die verfallenen Häuser mit zum Teil erheblichen Mängeln und teilweise auch menschenunwürdigen Wohnungen, an die schlechten und löcherigen Straßen, an ein unzureichendes und zum großen Teil marodes Abwassernetz. Übrigens hatten wir in Neubrandenburg, wo ich lebe, eine ganz neue Kläranlage. Das war eine Ausnahme im Osten. Die ist völlig überdimensioniert, weil, als wir die Wasseruhren einführten, der Wasserverbrauch auf ein Drittel zurückgegangen ist. Ich will damit nur deutlich machen, welche Veränderungen sich auch hier in kurzer Zeit in der Planung ergeben haben. Wir hatten völlig unzureichende und veraltete Telefonnetze. Man könnte die Kette über die maroden, zum großen Teil nicht wettbewerbsfähigen Industriestrukturen, das fast vollständige Fehlen eines Mittelstands, der von der alten DDR-Führung bewußt zerstört wurde, und nicht zuletzt eine zum Teil zerstörte und vergiftete Umwelt fortsetzen. Das alles sind bedrückende Zeugnisse dafür, wohin der real existierende Sozialismus führt, dem hier zum Teil das Wort geredet wurde. Wir sollten uns gelegentlich erinnern: Die Wende war doch in erster Linie eine Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR. Wer in einer Phase, in der die Menschen zu Hunderttausenden begannen, mit den Füßen abzustimmen, eine lange Denkpause eingelegt hat, ist zu Recht als untätig beschimpft worden. Es gab aber auch in anderen Parteien solche, die lieber gezögert und nicht gehandelt und die Wiedervereinigung hinausgeschoben hätten. Wir dagegen haben gehandelt. Es gab damals viele, die mitgeholfen haben, die ihr Engagement, ihre Ideen und ihren Idealismus einbrachten. Sie haben mit ihrer Tatkraft erreicht, daß sich die Lebensverhältnisse auch in dem Teil Deutschlands, in dem ich lebe, erheblich verändert haben. Allen die hier mitgewirkt haben, auch und besonders - ich sage das bewußt - unseren Brüdern und Schwestern im Westen unseres Vaterlandes, sei an dieser Stelle dafür noch einmal gedankt. ({0}) Ich danke ihnen insbesondere für ihre Solidarität. Trotz mancher Fehler, die vorgekommen sind - nur wer nicht handelt, begeht keine Fehler -, sind die öffentlichen Mittel zügig, sinnvoll und zukunftsorientiert eingesetzt worden. Dies sagen auch die Präsidenten der Landesrechnungshöfe. Für den Erfolg sprechen - dies darf man in einer solchen Debatte auch einmal sagen - 7 000 km neue und ausgebaute Straßen in den neuen Bundesländern, 3 000 km neue und ausgebaute Schienen, über 5 Millionen moderne Telefon- und Kommunikationsanschlüsse sowie der Aus- und Neubau von Brücken, Flughäfen und Häfen. Dafür sprechen auch die vielen neu errichteten und sanierten Wohnungen und die mehr als 400 000 Existenzgründungen der letzten Jahre, und zwar im wesentlichen von Bürgern aus den neuen Bundesländern, die damit eine Chance bekommen haben. ({1}) Daß wir mit unserer Politik erfolgreich waren, belegen nicht nur diese Fakten, sondern auch die Äußerungen vieler - auch internationaler - Gäste, die uns besuchen und angesichts der unmittelbaren Eindrücke vor Ort gelegentlich von einem Wirtschaftswunder in den neuen Bundesländern gesprochen haben. Wir haben diese Politik gegen viele Widerstände in der Vergangenheit durchgesetzt und waren erfolgreich, ob dies nun die Opposition wahrhaben möchte oder nicht. An Ihre Adresse, Herr Schily, muß ich sagen: Man hat uns damals in erster Linie wegen unserer wirtschaftlichen Kompetenz und nicht wegen der Bananen - was Sie den Menschen unterstellt haben - gewählt. Unser Erfolg wird auch durch den konjunkturellen Aufschwung, den wir erleben, und durch die enormen Wachstumsraten in den neuen Bundesländern belegt. Heute wurde schon gesagt, daß Ostdeutschland die stärkste Wachstumsregion Europas und eine der stärksten Wachstumsregionen der Welt ist. Meine Damen und Herren, Beispiele für angebliche und wirkliche Verschwendung - das ist heute oft genug gesagt worden -, die jetzt in den Medien zitiert werden, sind mit Sicherheit nicht neu. Es gibt viele, die dies permanent verfolgt und zu bekämpfen versucht haben. Beispiele für Verschwendung gibt es auch in den alten Bundesländern. Ich bitte all diejenigen, die sich jetzt besonders damit beschäftigen, Beispiele aus den neuen Bundesländern aufzuzählen, einmal das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler zu lesen. Darin werden sie genügend Beispiele finden. An dieser Stelle drängt sich mir die Frage auf, wem diese Debatte eigentlich nützt und warum sie gerade jetzt geführt wird. Die Debatte nützt sicherlich denjenigen, deren Interesse an der Weiterführung der Förderhilfen begrenzt ist. Sie nützt aber auch denjenigen, die eine Neiddebatte vom Zaun brechen und damit derzeit ihr politisches Süppchen kochen. Sie nützt gerade den politischen Gruppierungen, die im Bewußtsein der Öffentlichkeit am wenigsten mit den Aufbauleistungen in den neuen Bundesländern in Verbindung gebracht werden. Das sind genau diejenigen, die sich hier jetzt wehren. ({2}) So beantwortet sich die Frage danach, warum diese Debatte gerade jetzt geführt wird. Es werden Neid und Mißgunst in allen Teilen Deutschlands geschürt, um auf die bevorstehende Landtagswahl in Hessen Einfluß nehmen zu können.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily? ({0})

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Ihnen nichts anderes mehr einfällt, dann ist das schon ziemlich armselig. Herr Krüger, ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß der Bundesfinanzminister in diesen Tagen eine Rückführung der Fördermittel gefordert hat?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist mir aufgefallen. Wir haben diese Rückführung in der Vergangenheit schon durchgeführt. Die neuen Länder haben in diesem Jahr - ich habe das gelegentlich auch der Presse gesagt - im Zuge der gesamten Umstellung der Finanztransferregelungen 28 Milliarden DM weniger zur Verfügung. Wir haben im Gegensatz zu dem, was Herr Schwanitz sagte, maßgeblich dazu beigetragen, daß die Fördermittel in Zukunft zielgerichteter eingesetzt werden. Ich komme darauf noch zu sprechen. Die ganze Diskussion, die hier geführt wird, erinnert mich fatal an das, was sich im Vorfeld der Wiedervereinigung abspielte.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Krüger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Faltlhauser?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte, Herr Faltlhauser.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, könnten Sie den Kollegen Schily darauf hinweisen, daß man in den letzten Tagen das Ohr nicht unbedingt an Tageszeitungen haben mußte, um mitzubekommen, was der Finanzminister sagt, sondern daß der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung und andere offizielle Erklärungen der Bundesregierung schon seit langem darauf hinweisen, daß die Förderung zielgerichteter gestaltet werden soll und dementsprechend die Gesamtmittel der Förderung herabgeführt werden müssen?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann nur bestätigen, daß diese Diskussion - zumindest in meiner Fraktion - seit langer Zeit geführt wird, sowohl in den dafür zuständigen Arbeitsgruppen und Ausschüssen als auch in den Gruppen der ostdeutschen Bundestagsabgeordneten, die ich mit zu verantworten habe. Wir haben die Widerspiegelung dieser Diskussion natürlich auch im Jahreswirtschaftsbericht wiedergefunden. Insofern ist das, was hier teilweise dargestellt wurde, einfach nicht wahr. Die Debatte ist ganz bewußt kurz vor der Hessenwahl inszeniert worden, um hier Wahlkampf zu führen. Ich sagte bereits: Diese Diskussion erinnert mich in fataler Weise an die Diskussion vor der Wiedervereinigung. Damals gab es Leute, die noch heute als Ministerpräsidenten in der aktiven Politik stehen, die die deutsche Wiedervereinigung ganz offen mit dem Argument ablehnten, sie käme dem Westen zu teuer, während sie den Menschen im Osten sagten, daß diese zuwenig bekämen. ({0}) Heute führt man diese Diskussion in subtilerer Form. Wiederum werden die Menschen für dumm verkauft - und wieder von denen, von denen jeder weiß, daß sie sich weder für die Wiedervereinigung noch für den Aufbau Ost in den entscheidenden Monaten eingesetzt haben. ({1}) Hier berührt mich ganz unangenehm, Herr Schwanitz, die Lage, in der Sie sich als SPD-Abgeordneter aus einem der neuen Bundesländer befinden müssen. Sie müssen nämlich im Westen im Sinne des Wahlkampfs in Hessen Neid auf Kosten der neuen Bundesländer schüren. ({2}) - Sie fühlen sich getroffen. ({3}) - Ich glaube, daß Ihre Reaktion beweist, daß ich hier wohl doch ein Stückchen Wahrheit aufgedeckt habe. Meine Damen und Herren, wenn ich soeben gefragt habe, wem die Debatte nützt, dann kann man doch berechtigt auch fragen: Wem schadet sie? Sie schadet allen Menschen in Deutschland - was schon schlimm ist -, dieses undifferenzierte Gerede schadet aber vor allem auch dem an Bedeutung gewinnenden wirtschaftlichen Standort Ostdeutschland. Damit schadet die Debatte uns allen, unserem ganzen Gemeinwohl. Wir sollten u. a. nicht vergessen, daß die beschleunigt steigende Nachfrage aus den neuen Bundesländern das Wirtschaftswachstum in Westdeutschland in ganz erheblichem Maße im letzten Jahr angeregt hat. Trotzdem bleibt die Lösung der noch vorhandenen Probleme eine langfristige Aufgabe. Es ist viel erreicht worden, aber es ist noch ein langer Weg zu gehen. Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse, wie sie im Einigungsvertrag gefordert wird, sind wir noch zu weit entfernt. Wohin diese Neiddiskussion, die hier angezettelt wurde, führt, habe ich gestern in der „Bild" -Zeitung gelesen, die sich in diese Diskussion mit eingeschaltet hat. Da entblödet sich jemand nicht, zu fordern: Stoppt sofort den Solidarzuschlag, sonst tragen die Kühe im Osten bald goldene Ohrringe! ({4}) Ich werfe Ihnen vor, daß Sie diese Neiddiskussion schüren. Sie haben selbst gesagt, daß Sie ursprünglich eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt haben, um die Diskussion in dieses Haus zu holen. Leider sind die Probleme in den neuen Bundesländern nicht so weit gelöst, daß wir in einem Schlaraffenland leben. Die Probleme sind noch enorm groß. Sie kennen die statistisch erfaßten Zahlen der Arbeitslosigkeit und die viel zuwenig ins Feld geführte empfundene Arbeitslosigkeit der Menschen. Der Anteil der neuen Länder am Bruttoinlandsprodukt liegt bei etwas über 10 %. Wir haben ihn sehr stark gesteigert. Aber er liegt, bezogen auf den Durchschnitt der westlichen Länder, immer noch bei nur etwa 50 %. Wir haben viele Defizite aufzuarbeiten. Ich denke insbesondere an die marode Infrastruktur, die wir übernommen haben. Ich könnte fortfahren, hier Defizite aufzuzählen: Defizite im produktiven Bereich, Defizite bei der Sanierung von Wohnraum, Defizite insbesondere auch bei der Bildung von Eigentum in den neuen Bundesländern. Entscheidend ist: Was wir jetzt nicht in die Wirtschaft investieren, wird uns auf lange Sicht nicht nur in Form von Sozialausgaben teuer zu stehen kommen, sondern könnte auch zu einer erneuten, verstärkten Abstimmung mit den Füßen führen. ({5}) Deshalb geht es vorerst nicht ohne den Solidarzuschlag, von dem der SPD-Ministerpräsident Höppner sagt, daß er noch mindestens fünf Jahre lang gezahlt werden müsse, während SPD-Ministerpräsident Eichel angesichts seines Wahlkampfes lauthals über eine schleunige Beendigung des Solidarzuschlags schwadroniert. ({6}) Das zeigt ganz deutlich: In der SPD reden die einen so und die anderen so. Jeder redet so, wie es seiner Meinung nach gut ankommt. Mit verantwortlicher Politik hat das nichts zu tun. ({7}) Diese Doppelstrategie der SPD ist nicht nur durchsichtig, sondern sie ist auch gefährlich, weil sie neue Gräben in unserem Land zieht. ({8}) Ich kann Ihnen nur sagen, meine Damen und Herren von der SPD: Wer jedem etwas bringen will, wird niemandem etwas bringen; vielmehr werden bewußt viele gegeneinander aufgebracht. Deshalb ist es gut, sich daran zu erinnern, daß der Solidarzuschlag natürlich auch im Osten gezahlt wird. Er ist also nicht eine Wohltat des Westens, sondern dient gesamtdeutschen Aufgaben. Mit der Umstrukturierung der Finanzmodalitäten - ich sagte es bereits - haben wir die Förderung für dieses Jahr reduziert. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, daß die Mittel für die neuen Länder eher zu knapp als zu reichlich bemessen sind. Deshalb werden wir notwendige Förderungen konzentrieren. Wir werden sie insbesondere auf den Bereich des produzierenden Gewerbes und auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen konzentrieren. Wir werden sie ferner auf die Erhöhung des Eigenkapitals und der Liquidität von Unternehmen konzentrieren. Wir werden aber auch - so hoffe ich zumindest - den Einzelhandel in den Innenstädten verstärkt fördern können. Wir wollen natürlich vor allem erreichen, daß die Schaffung selbstgenutzten Wohneigentums durch Sanierung und Neubau stärker als bisher gefördert wird. Hierbei gilt es besonders, den Menschen in den neuen Bundesländern durch Anreize Unterstützung zu geben, die Eigeninitiative dort zu belohnen und Eigentum zu fördern. Besonderes Sorgenkind - ich möchte es an dieser Stelle noch einmal sagen - ist für mich - das wird gelegentlich auch von der SPD so gesehen; hierin stimmen wir sicherlich überein - die Industrieforschung in den neuen Ländern. Ich glaube, wir müssen dringend darüber nachdenken, hier insbesondere die indirekte Förderung stärker in den Vordergrund zu stellen. Die direkte Förderung, die der Bund hier mit derzeit über 60 % des Gesamtaufwands betreibt, reicht nicht aus. Wir müssen den Unternehmen selbst stärkere Anreize geben, hier aktiv zu werden und sich ihre Zukunft zu sichern. Eine undifferenzierte Rückführung der Förderung in den neuen Ländern könnte für uns fatale Folgen haben. Ein schwaches Ostdeutschland, das ewig am Subventionstropf hängt, schafft dauerhafte Probleme für uns alle. Ein starkes Ostdeutschland nutzt uns allen. Wir sind bisher auf einem guten Weg, es aufzubauen. Ich komme noch einmal auf den Beginn meiner Rede zurück: Die heutige Debatte ist im Kern befremdlich. Sie hat aber ihre gute Seite, wenn aus ihr der Konsens erwächst, daß wir noch lange Zeit gemeinsam am weiteren Aufbau unseres gemeinsamen Vaterlandes arbeiten. Danke. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau ({0}).

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis jetzt habe ich in dieser Debatte erlebt: Ängstlichkeit, Trotz - ein Herr Waigel will nicht der Sündenbock sein, benimmt sich wie ein trotziges Kind -, Nervosität - vielleicht geht es an die eigenen Pfründe -, Aktionismus - die Ausschüsse müssen sofort informiert werden, weil es keiner vorher gewußt haben konnte. Es wird moralisiert; man spricht darüber, daß Ossis vielleicht nicht wissen, was ein Konto ist. - Wissen Sie, Herr Heym, ich war nicht so oft im Westen wie Sie. Vielleicht haben Sie sich nur mit Wessis unterhalten. Das kann ich nicht beurteilen. ({0}) Es kommt zu Verbalattacken zwischen den MdBs. Übrigens haben bisher nur Männer geredet, vielleicht lag es daran. Ich bitte Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Können wir uns nicht einmal zusammensetzen und darüber reden, was passiert ist? ({1}) Meine Herren, Sie haben so wenig über den Dingen gestanden. Sie haben sich hier aufgeführt, daß es beschämend gewesen ist. Herr Lambsdorff spricht vom Gesetz der reinen Marktwirtschaft. - Die Lehre hör' ich wohl. Wo ist die F.D.P. beim Abbau der Subventionen für die westdeutsche Steinkohle? Bei der Braunkohle - in drei Jahren ist die Zahl der Arbeitsplätze von ca. 100 000 auf ca. 8 000 verringert worden - hat sie die reine Lehre der Marktwirtschaft praktiziert. ({2}) Es gibt eine Zumutbarkeitsgrenze in diesem Land. Die verläuft dort, wo früher die Mauer verlief. Die Zumutbarkeitsgrenze heißt: Wir Ostdeutschen müssen das aushalten, weil wir nur dazugekommen sind, aber den Westdeutschen können wir es nicht zumuten. Jetzt bekommen wir sogar noch eins drauf. - Ich bitte Sie! Sie haben Wasser gepredigt, jetzt wird hier im Wein ersoffen. Die fünf neuen Länder waren die Nagelprobe auf die Tauglichkeit und Untauglichkeit all der Dinge, die in dieser Republik bis zum Jahre 1989 entwickelt worden sind. Das war eine Superchance. Es war eine Chance, in dieser Bundesrepublik insgesamt endlich wieder zu neuen Wegen zu finden, aus 20jährigen Debatten herauszukommen. ({3}) Was ist passiert? Wer hat die fünf neuen Länder in den letzten vier Jahren regiert? Jetzt streiten sich die real existierenden Westdeutschen mit den real existierenden Zwischendeutschen. Inzwischen gibt es auch eingewanderte ostdeutsche Ministerpräsidenten. Die einen sagen, es war schon immer so, die anderen sagen, es geht auch anders. Es streiten eigentlich nur die Westdeutschen untereinander; tut mir leid. ({4}) Solange es in Westdeutschland so ist, daß mit zweierlei Maß gemessen wird, solange durch Neiddebatten vom dringend notwendigen gesamtdeutschen Strukturwandel abgelenkt wird, bleiben politische und wirtschaftliche Debatten vergiftet. Das läßt sich leider nicht ändern. ({5}) Die in den fünf neuen Ländern erbrachten Aufbauleistungen, meine Damen und Herren, erforderten sehr viele persönliche Opfer, und das ist auch noch nicht zu Ende. Und jetzt gibt es eine Hypothek. Es gibt eine Hypothek von praktizierter vierjähriger Politik in diesem Lande. Die muß auch im alten Bundesgebiet abgeleistet werden, damit wir mittel- und langfristig zusammen ein stabiles Deutschland erreichen können. Die von mir beobachtete allgemeine Scheu vor diesem Strukturwandel, der in der gesamten BRD ansteht, stimmt mich äußerst bedenklich. ({6}) Wie oft habe ich bei uns gehört: Im Osten kann man wenigstens kreativ sein, da kann man etwas machen; im Westen ist alles so starr usw., man kommt nicht vorwärts. Ich wäre froh gewesen, wenn das Einzelmeinungen irgendwelcher Pioniere gewesen wären. Jetzt stelle ich fest, daß das wirklich das Problem ist. I-lier geht es doch gar nicht darum, wie das Förderinstrumentarium für Ostdeutschland in den nächsten zehn Jahren aussehen soll. Hier geht es doch darum, wie wir jetzt damit umgehen wollen und wie wir miteinander weiter umgehen wollen. Wir haben jetzt eine Abrechnung der Kleinbürger untereinander. ({7}) Wir haben die Profilierungsneurose deutscher Partikulargewalten. Und wir haben die Zukunftsangst - nicht nur der Wirtschaft - vor der wachsenden Potenz im Osten. Viele Deutsche in Ost und West werden gar nicht mehr wissen, wie sie das noch menschlich und intellektuell in den Griff bekommen sollen. Die Wogen der Unsicherheit, die alle häßlicher, dümmer und kleiner machen, als sie eigentlich sind, schlagen über uns allen zusammen. Alles, was in der gesamtdeutschen Politik schiefläuft, braucht eine emotionale Bündelung. Da bot sich z. B. auch der Solidarzuschlag an. Die Zeiten, meine Damen und Herren, werden nicht mehr besser. Die ruhigen Jahre sind vorbei. Die ganze Welt verändert sich. Europa wird nicht mehr der Zivilisationsbeglücker der Welt sein, sondern die abendländische Zivilisation wird sich gefälligst in die anderen Kulturkreise dieser Welt einordnen müssen. Das ist die eigentliche Frage, die dahintersteht. Aber niemand hat die Europäer - und damit die Deutschen - auf diese dramatischen Veränderungen im nächsten Jahrhundert aufmerksam gemacht. Doch sie finden statt. Sie bahnen sich ihren Weg, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Die ersten Symptome lösen bei unseren Hypochondern erst einmal die Angst vor einem Krebsgeschwür aus. Sofort bricht man in Panik aus und es werden Beschimpfungen laut. Meine Damen und Herren, die Westdeutschen haben sich zum größten Teil mit einer Menge Geld vom wirklichen Interesse an uns und den fünf neuen Ländern freigekauft. Das ist eine Tatsache. Diesen Vorwurf muß sich der Westen auch gefallen lassen. Die Bundesregierung hat es sich zu leicht gemacht: Hier, nehmt, aber haltet die Klappe! ({8}) Wir haben euch eigentlich nicht gewollt, nur ein bißchen, aber nun seid ihr da! - Das konnte doch nicht gutgehen. Ich hätte mir so gewünscht, wir hätten uns heute zusammengesetzt und in Ruhe über alles gesprochen, so wie dies gestern im Haushaltsausschuß geschah. Dazu aber war dieses Parlament nicht in der Lage. Natürlich brauchen wir auch weiterhin Fördermöglichkeiten für die Eigenkapitalbildung, für die Existenzgründung und für die Markteinführung - wahrscheinlich noch über eine ganze Dekade hinweg. Ich frage mich, ob wir uns überhaupt noch in dem Rahmen unseres Gemeinwesens bewegen. Sicherung von Demokratie, Herstellung und Erhalt von sozialer Gerechtigkeit, Entwicklung einer stabilen, ökologisch verträglichen Wirtschaft - waren das nicht die Eckpunkte, unter denen wir uns verständigen wollten? Ich erlebe jetzt, daß es einen deutlichen Realitätsverlust gibt, der sich kultiviert hat. Das ist natürlich sehr bequem, weil man sich darin gemütlich einrichten kann. Die Politik geht auch hier - leider - lieber den Weg des kleineren Widerstandes. Herr Kohl hat damals damit angefangen, die gemeinsame Aufgabe der Wiedervereinigung gewaltig und sträflich zu unterschätzen. Dazu kann ich leider wegen meiner abgelaufenen Redezeit nicht mehr sagen. Danke. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk ({0}).

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist Brunnenvergiftung, wenn im „Spiegel" von einem „Milliardengrab ,Aufschwung Ost' " gesprochen und geschrieben wird; das ist undifferenziert und einseitig. Die Absicht aber ist erkennbar: West und Ost sollen gegeneinander ausgespielt, aufgehetzt werden. Es soll dafür Stimmung gemacht werden, daß die Ost-Förderung stark reduziert wird, möglichst auf null, obwohl wir alle wissen - oder wissen müßten -, daß der deutsche Steuerzahler um so schneller wieder vom Solidarzuschlag, den übrigens auch die Ostdeutschen zahlen - das muß man hier wieder einmal sagen -, entlastet wird, je eher der Aufschwung Ost sich selber trägt. Diese Kampagne - so bezeichne ich das - ist durchsichtig und schäbig, weil sie nicht aufklärt, sondern durch Verallgemeinerung von Einzelfällen verunsichert. ({0}) Ich hätte wirklich geglaubt, daß wir mit der deutschen Einheit schon ein Stück weiter sind. Was will man erreichen, wenn man in einer Karikatur der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", Verbreitungsgebiet Ruhrgebiet, suggeriert, daß der dumme Westdeutsche Mark für Mark in ein Faß ohne Boden wirft? - Ich sage Ihnen: Ich stehe dazu, für eine Steigerung der Investitionszuschüsse, Zulagen und Pauschalen gekämpft zu haben. Ich werde auch weiterhin dafür kämpfen. Herr Stolpe sagt jetzt laut „Bild"-Zeitung, daß ihm in der Anfangszeit das Geld geradezu aufgenötigt worden sei. Das ist natürlich Blödsinn. Es mußte und muß geklotzt werden! Kleckern würde heißen: Dauersubventionen, Transfer auf unbestimmte Zeit. Das wäre ein noch größeres Übel. Es war richtig, daß Herr Möllemann als damaliger Wirtschaftsminister den Aufschwung Ost eingeleitet und der jetzige Wirtschaftsminister, Herr Rexrodt, diesen zunehmend erfolgreich fortgesetzt hat. ({1}) Ich muß mich z. B. über Herrn von Waldenfels, seines Zeichens Finanzminister von Bayern, schon wundern, der in einem TV-Interview in keiner Weise die aus der Luft gegriffenen 65 Milliarden DM anzweifelte, dafür aber die Installation von goldenen Wasserhähnen in Thüringen beklagte, während die bayerischen Gemeinden haushaltsmäßig sehr zurückhaltend seien. - Herr von Waldenfels, das ist pure Stimmungsmache! Wir wissen doch, daß sich Bayern am wenigsten an das Sparprogramm von 1993 gehalten hat und statt des empfohlenen zurückhaltenden Zuwachses von 3,5 % satte 7 % ausgewiesen hat. ({2}) Das war aber nicht nur in Bayern so. Daß Brandenburg laut Waldenfels keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten mehr hat, ist sehr schmeichelhaft für die F.D.P.; denn immerhin hatten wir dort einen liberalen Wirtschaftsminister, der übrigens nicht mit der Gießkanne gefördert hat. Aber daß dort, wie der bayerische Finanzminister schlußJürgen Turk folgerte, keine Förderung mehr nötig sei, geht wohl etwas an der Realität vorbei. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wird es schon noch ein Weilchen dauern. Laut „Bayern 3"-TV will der Bundesfinanzminister ebenfalls die Förderung reduzieren. Die Koalitionsvereinbarung aber sagt aus - wir sollten sie auch durchsetzen -, Herr Staatssekretär, daß die Förderung fortgesetzt und vereinfacht werden soll. Wir sollten also nicht auf der Grundlage zweifelhafter Zeitungsberichte pauschal reduzieren, sondern vorher den Bedarf errechnen. Vereinfachen und straffen ist richtig. Wir haben ein übersichtliches und damit einfach anwendbares Förderinstrumentarium. Wir brauchen das. Das ist der erste Schritt zu einer effizienteren Fördermittelverwendung. Diese brauchen wir im Osten und im Westen. Wenn Herr von Waldenfels nur von einer Kontrolle im Osten spricht, so ergänze ich: Diese Kontrolle brauchen wir auch im Westen; denn auch hier gibt es vergoldete Türklinken an manchen Rathäusern. Wir sollten aus der Not eine Tugend machen, also diese Chance nutzen und Verschwendung, die wir uns in der Tat nicht länger leisten dürfen, sowohl in West als auch in Ost beseitigen; denn mit einseitigen Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter. Wir müssen also Verschwendung, zu hohe Steuern und Abgaben sowie Subventionen in ganz Deutschland auf den Prüfstand stellen. Ich stelle folgendes zur Diskussion: Lassen wir den drei Gs - den Gangstern, Gaunern und Ganoven - durch bessere Übersichtlichkeit und Kontrollen immer weniger Chancen. Lassen wir öffentliche Leistungen durch Private anbieten, wenn diese das effizienter können, und das können sie vielfach. Leider hat das die Länderkammer im Haushaltsgrundsätzegesetz verhindert. Leider haben wir das auch bei den Abwasseranlagen nicht ganz geschafft. Ergebnis: vielfach zu große Kläranlagen, die zuviel gekostet haben und jetzt den Verbraucher über den umgelegten Kubikmeterpreis unzumutbar viel kosten, selbst wenn sie in Zukunft noch etwas besser ausgelastet würden. Diese Kläranlagen machen übrigens den größten Teil der sogenannten Verschwendung aus. Hier wurde gerade auch in Brandenburg der Kontrollpflicht durch den Umweltminister nicht ausreichend nachgekommen. Die Gewerbegebiete betreffend ist die Auslastung inzwischen größer als behauptet. Trotzdem muß die Förderung von der grünen Wiese auf sogenannte Industriebrachen umgeleitet werden. Fördermittel benötigt man nicht, wenn man endlich bundes- und landeseigene Liegenschaften und Immobilien kapitalschwachen Existenzgründern zu vergünstigten Konditionen überläßt. ({3}) Wichtig ist, daß hier Unternehmen entstehen, die bald Steuern bringen werden. Natürlich brauchen wir zur Ankurbelung des produzierenden Gewerbes die 50 %ige Sonderabschreibung. Natürlich muß die Gießkannenförderung reduziert und immer mehr auf Schwerpunktförderung umgestellt werden. Dies wurde übrigens unter einem liberalen Wirtschaftsminister in Brandenburg bereits praktiziert. Ich kann mir z. B. sehr gut die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen sowohl im Osten als auch im Westen vorstellen. Ausschlaggebend wäre allein die Strukturschwäche. Lassen Sie uns das als Pilotprojekt testen. Eine weitere Möglichkeit ist die Einführung von Bemessungskennziffern für Anlagen und Immobilien der öffentlichen Hand als Prüfgrundlage auch für die Rechnungshöfe. Ich bin überzeugt, daß wir in Ost und West sowohl hinsichtlich der Größe als auch des Standortes erheblich überbemessen. Das sind unsere eigentlichen Reserven. Bei dieser Gelegenheit müssen wir auch überlegen, wie wir schrittweise vom kameralistischen Haushaltssystem der Kommunen und Kreise wegkommen. Es verleitet dazu, jeweils bis zum Jahresende wertvolle Mittel „verbraten" zu müssen. Lösung: Die Kommunen müssen wie Unternehmen geführt werden. Gott sei Dank gibt es da schon ganz kleine Ansätze. Lassen Sie uns das gemeinsam in Bund, Ländern, Kommunen und Kreisen bald angehen, und zwar in ganz Deutschland. Lassen Sie uns nicht unsere Kraft in gegenseitigen Beschimpfungen verschwenden, sondern für gute Ideen einsetzen. ({4}) Wir sind gefordert. Wir sollten nicht - wie es im „Spiegel" stand - „erst baggern, dann denken", sondern wir sollten den Kopf sofort einsetzen. Vielen Dank. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Helmut Wieczorek ({0}).

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte eigentlich die Einladung von Frau Hermenau aufnehmen, die eben gesagt hat: Können wir nicht darüber reden? Während der ersten Sätze, Frau Hermenau, war ich eigentlich noch sehr positiv gestimmt und wollte Ihnen das Gespräch anbieten. Aber Sie sind leider immer mehr in die andere Richtung abgeglitten, die Sie kritisiert haben. Ich glaube, Sie sollten Ihren Beitrag noch einmal überdenken. Ich denke, Sie haben von der anderen Seite gespalten und nichts dazu getan, um zu verbinden. Auch darüber sollte man sich gelegentlich einmal unterhalten. ({0}) Meine Damen und Herren, ich bestätige ausdrücklich die Festlegung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages von 1992, in dem wir einen Beschluß gefaßt haben, um die handelnden Personen zu schützen. Wir haben damals, als wir über die FörHelmut Wieczorek ({1}) derung des deutschen Ostens gesprochen haben, festgestellt, daß die öffentliche Meinung, daß die Regierung, daß alle Parlamentarier in großem Maße Druck auf die handelnden Personen ausübten. Wir merkten, daß dieser Druck an die Grenze dessen ging, was ein Beamter oder Angestellter im öffentlichen Dienst normalerweise ertragen kann. Wir haben gesagt: Wir müssen sie mit Korsettstangen stützen. Die Situation, die wir heute haben, haben wir vor drei Jahren vorausgesehen. Wir haben vorausgesehen, daß wir durch Druck, Investitionen um jeden Preis zu schaffen, um nämlich ganz kurzfristig Erfolge vorweisen zu können, eine Situation bei den Menschen herbeiführen würden, die sicherlich große Gewissenskonflikte verursacht. Sie haben, Herr Bundeswirtschaftsminister, dazu beigetragen, daß ein Klima geschaffen wurde, das in diesem Land einmalig war. Dieses Klima hat Menschen zum Handeln gebracht, die eigentlich etwas ganz anderes wollten. Sie hatten nämlich - das muß man hier doch sehr deutlich sagen - nach der Wiedervereinigung überhaupt kein schlüssiges Konzept für den Wiederaufbau der öffentlichen Infrastruktur und der Wirtschaft in den neuen Ländern. ({2}) Getreu dem Motto Ihres Wirtschaftsministers „Wirtschaften findet in der Wirtschaft statt" haben Sie auf die Selbstreinigungskräfte der Marktwirtschaft gesetzt; ich habe das hier zigmal beanstandet. Das war ein verhängnisvoller Fehler, wie sich jetzt herausstellt. ({3}) Wir Sozialdemokraten hatten seit 1990 immer wieder einen umfassenden Aufbauplan für Ostdeutschland eingefordert. Es mußte geplant und nicht herumgewurstelt werden. Wir wollten die Mittel so effizient wie möglich einsetzen. Wenn die Diskussion um die Milliardenverschwendung im Osten, die wir jetzt haben, heute soviel öffentliche Aufregung verursacht, wenn es so leicht ist, wie der „Spiegel" mit riesigen unzutreffenden Zahlen zu operieren, und wenn beim einzelnen Bürger dann sehr schnell die Wut über den unsozialen Solidarzuschlag von 26 Milliarden DM im Jahr hochkocht, dann vor allem aus einem Grund: Die Bundesregierung hat aus eigensüchtigen wahlpolitischen Gründen dem Bürger nie deutlich gesagt und klargemacht, was es mit den 150 Milliarden DM an Transferleistungen in die ostdeutschen Länder wirklich auf sich hat. Sie haben diese Leistungen als Geschenke der Bundesregierung dargestellt, von Gnaden der CDU. ({4}) Die entsolidarisierenden Folgen dieses falschen Arguments, meine Damen und Herren von der Koalition, holen Sie heute ein. Deshalb gehen die in der Öffentlichkeit angestellten Fehlschlüsse auch auf Ihr Konto. Noch im Wahlkampf vor einigen Monaten - ich kann mich gut daran erinnern - gingen Sie mit der Aussage auf Stimmenfang, in den Jahren 1991 bis 1994 seien 650 Milliarden DM an Transferleistungen in den deutschen Osten geflossen. Daher kommt überhaupt die Zahl von 650 Milliarden DM, die jetzt überall herumgeistert. Herr Schröder aus SachsenAnhalt will festgestellt haben, daß 10 % seiner Mittel fehleingesetzt sind. Er geht aber nicht von den 650 Milliarden DM aus, sondern nur von den investiven Maßnahmen. Deren Anteil beträgt höchstens 20 Daher brauchen wir über die Zahlen gar nicht zu rätseln. Richtig ist, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik schlichtweg um rund 20 % zugenommen hat und daß sich damit der ganze Katalog eingeführter westdeutscher Sozialleistungen auch auf die ostdeutsche Bevölkerung erstreckt. Mit diesem Geld werden keine Geschenke, sondern im wesentlichen Rechtsansprüche der Bürger oder auch der Unternehmen gegenüber dem Staat finanziert. Keine Geschenke, sondern Rechtsansprüche: vom Wohngeld über das Kindergeld und die Ausbildungsförderung bis hin zu den Personalkosten der in den neuen Ländern stationierten Beamten und der Bundeswehr; vom sozialen Wohnungsbau bis zur Gemeinschaftsaufgabe der Förderung der Wirtschaftsstruktur; die Zuschüsse zur Deutschen Reichsbahn ebenso wie die Haushaltszuschüsse zur Deutschen Bundesbahn; die Ansprüche der Rentenversicherung Ost ebenso wie die der Rentenversicherung West; die Finanzierung millionenfacher Arbeitslosigkeit im Osten genauso wie im Westen. Meine Damen und Herren, hier wird nichts verschleudert und vergeudet - was Mißbräuche im Osten und im Westen in Einzelfällen natürlich nicht ausschließt. ({5}) Das sind im wesentlichen Maßnahmen zur Erfüllung von Rechtsansprüchen, die klar und deutlich festgelegt sind. Es sind eben nicht Geschenke von Waigel oder Kohl. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie haben mit dem Transfer in Höhe von 150 Milliarden DM auch noch ein anderes Ziel verfolgt: Sie wollten den Bürgern weismachen, daß die Leistungen für den Osten für die Schuldenexplosion des Bundes verantwortlich ist. Das ist falsch ({7}) - und das Schlimme ist: Sie wissen es -; denn nach Abzug der Steuereinnahmen aus dem Osten, nach Abzug der Einsparungen des Bundes bei den früheren Kosten der deutschen Teilung und nach Abzug der Steuer- und Abgabenerhöhungen von 116 Milliarden DM, die Sie den Menschen aus der Tasche gezogen haben, verbleibt lediglich eine Summe von 20 Milliarden DM pro Jahr, die über Kredite finanziert werden müßte. Meine Damen und Herren, die Beispiele von Fehlplanungen und unwirtschaftlichem Verhalten in den neuen Ländern beziehen sich fast ausschließlich auf Investitionsausgaben. Das alles hat ein vergleichsweise kleines Volumen. Die Sachinvestitionen in den Helmut Wieczorek ({8}) ostdeutschen Ländern und Gemeinden betragen pro Jahr rund 25 Milliarden DM. Selbst wenn davon 10% problematisch sein sollten, wie das ein Landesrechnungshofpräsident festgestellt hat, sind das nur 2,5 Milliarden DM. Auch dieser Betrag ist zu hoch. Aber das Maß der Verschwendung muß an dieser Stelle noch nachgewiesen werden. Auch eine zu teure oder zu groß geplante Investition bleibt eine Investition mit volkswirtschaftlichem Effekt. ({9}) Sie hätte im Einzelfall sicherlich besser und preiswerter erfolgen können. Darüber muß man dann im einzelnen diskutieren, mit der Kommunalaufsicht in den neuen Ländern und mit den Rechnungshöfen bei Bund und Ländern. Die öffentlich diskutierten Fälle der kommunalen Fehlplanung sind, um im Jargon der Deutschen Bank zu bleiben, geradezu „Peanuts'' gegenüber dem, was die Bundesregierung mit ihrer Politik des Dahinwurstelns und der Konzeptionslosigkeit in den Sand gesetzt hat. ({10}) Ihre Wirtschaftsförderung hatte nichts mil Arbeitsförderung zu tun. Ihre steuerrechtlichen Förderungsmaßnahmen - mit Steuerausfällen von 12 Milliarden DM - waren von Anfang an so konzipiert, daß die westdeutschen Steuerpflichtigen den größten Gewinn erhalten konnten. Ihre Megasonderabschreibungen führten dazu, daß vielfach in vollkommen unsinnige und überteuerte Projekte investiert wurde. ({11}) Die operativen Mängel Ihrer Treuhandpolitik waren keine Einzelerscheinungen, sondern hatten System - und Sie wissen es -: Privatisierung hatte Vorrang vor aktiver Sanierung. Die Lasten der ökonomischen Fehlentwicklung mußten durch die Arbeitslosenunterstützung ausgebügelt werden. Jahrelang haben Sie das Verschuldungsproblem der ostdeutschen Wohnungswirtschaft verschleppt. Dadurch haben Sie die Kreditfähigkeit der Wohnungsunternehmen blockiert, so daß dringend notwendige Maßnahmen zur Sanierung des Wohnungsbestandes und der Belebung der ostdeutschen Wirtschaft verzögert wurden. ({12}) - Sie wissen genau, daß das stimmt. Wenn Sie so reagieren, merkt man das. Auf diesen Politikfeldern im Verantwortungsbereich der Bundesregierung liegen die wirklichen Milliardengräber öffentlicher Gelder, nicht in Einzelfällen fragwürdiger kommunaler Entscheidungen in Ostdeutschland. Aber selbst dort sitzen Sie mit Ihrer Verantwortung im Boot. Denn auch diese Fälle sind die logische Konsequenz einer Bonner Politik, die in den ersten Jahren nach der Wende praktisch jede Form der Kontrolle abgelehnt hat, weil sie fast panikartig nach dem Prinzip der Gießkannenförderung operierte. Sie hatten den Menschen blühende Landschaften versprochen. ({13}) Sie standen unter ungeheurem Erwartungsdruck. Meine Damen und Herren, das Ergebnis war eine Flut von Förderprogrammen, ein seit Jahren beklagter Förderungswirrwarr, bei dem keiner mehr durchblickt. Lesen Sie doch einmal die Bundesrechnungshofberichte: Da wurde Ihnen der Spiegel doch schon im vergangenen Jahr vorgehalten, daß Ihre viel zu weit gefaßten Förderrichtlinien die Ursache für unwirtschaftliches Verhalten im Einzelfall gewesen sind. Diese Fehler muß sich die Bundesregierung zurechnen lassen; denn sie stellt die Richtlinien auf. Ich nenne z. B. die volle Auszahlung von Fördermitteln beim ersten Spatenstich statt nach Baufortschritt. Was soll denn da eine Kommune machen, wenn sie auf einen Schlag Gelder bekommt, die erst allmählich abfließen können? Da ist es doch gerade ökonomisch sinnvoll, dieses Geld auf Festgeldkonten zu parken, statt es anderweitig zu verwenden. Was sollen Förderbestimmungen, die lapidar feststellen, gefördert werde die Infrastruktur? Wie soll ein ostdeutscher Bürgermeister denn damit umgehen, wenn er unter Infrastruktur etwas anderes versteht als ein westdeutscher Journalist? Hier hätten Sie zusammen mit den Ländern die Kommunen an die Hand nehmen müssen, um ihnen zu sagen, was sinnvoll ist und was nicht. ({14}) Oder nehmen wir die vielzitierte Finanzierung von Kläranlagen, ein beliebtes Beispiel in der öffentlichen Diskussion. Die Politik der CDU auf Bundesebene wie in den neuen Ländern ({15}) war von Anfang an darauf gerichtet, der privaten Finanzierung von Kläranlagen über das sogenannte Betreibermodell Vorrang einzuräumen. Hier wurden viele Kommunen über den Tisch gezogen. Sie wurden über die Probleme privater Finanzierung im Gegensatz zu denen bei einer kommunalen Haushaltsfinanzierung nicht hinreichend aufgeklärt. Hieraus resultieren dann exorbitant hohe Abwassergebühren, die den Bürgern unzumutbare Kosten auferlegen und die kommunale Finanzkraft weit übersteigen. Welcher Geist hier auf seiten der Bundesregierung und der Koalition herrscht, macht eine Diskussion im haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages vom November 1992 deutlich.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Wieczorek, achten Sie bitte auf die Zeit.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne. - Da hat die Koalition einen Beschluß zum Verwaltungshandeln in den neuen Bundesländern vorgeschlagen. Darin heißt es: Alle Entscheidungsträger in Bund, Ländern und Gemeinden sind aufgefordert, auf der Grundlage des geltendes Rechtes schnell und kreativ zu entscheiden und vor allem Ermessensspielräume bestmöglichst ... auszuschöpfen. So weit - so gut. Ich habe eben gesagt, das will ich deutlich unterstreichen. Aber dann sollte es weiter heißen - der Haushaltsausschuß hat diese weitere Passage nicht beschlossen -: Aufgrund unbestreitbarer Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern darf die Fehlerhäufigkeit höher sein als im alten Bundesgebiet.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Wieczorek, Sie sind deutlich über der Zeit.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, diese eine halbe Seite, dafür brauche ich noch etwas Zeit, weil sonst mein ganzer Vortrag nicht mehr im Zusammenhang wäre. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ja.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Minute. Diese Minute tut weh, ich gebe es ja gerne zu. Wir haben als Sozialdemokraten damals dieser Beschlußfassung widersprochen, weil wir keinen Beschluß wollten, der unserer Auffassung nach die Aufforderung beinhaltete, gesetzeswidrig zu handeln. Wir wollten keinen Beschluß, der als Rechtfertigung für schludriges Arbeiten herangezogen werden kann. Dieser Satz ist dann auch gestrichen worden. Aber er zeigt den Geist der Koalition, nämlich Vergeudung und Fehlkalkulation billigend in Kauf zu nehmen. Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihr Verständnis. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Sie haben Anlaß, Herr Kollege Wieczorek, sich bei dem Kollegen Türk zu bedanken; denn er hat seine Redezeit heute deutlich unterschritten und Ihnen auf diese Weise die Möglichkeit gegeben, über zwei Minuten länger zu reden. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Peter Repnik.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die enormen Finanzleistungen - und vor allem deren Mißbrauch - heizen im Westen erneut Ressentiments gegen den Osten auf. Der gesellschaftliche Schaden, den Neid und Mißgunst im geeinten Deutschland anrichten können, ist kaum absehbar. So konnten wir in dieser Woche in einem Beitrag des „Spiegel" lesen. Selten bin ich einem höheren Maß an Heuchelei als in diesem Artikel begegnet. Über viele Seiten hinweg wird hier nichts anderes getan, als Neid und Mißgunst zu schüren, um dann zu diesen Ressentiments zu kommen. Angeblich wurden 65 Milliarden DM mißbraucht, nicht belegt - gegriffene Zahlungen, eine Schätzung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, sowenig es Oskar Lafontaine 1990 im Bundestagswahlkampf gelungen ist, mit einer Neid-, mit einer Mißgunstkampagne die Herzen und die Stimmen der Bürger zu gewinnen, so wenig wird der „Spiegel" mit dieser Kampagne seine schwindende Auflagenhöhe bessern. ({0}) Phantasie statt Recherche. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir darauf hinweisen; denn wenn es noch eines Beweises der Komplizenschaft zwischen „Spiegel" und SPD bedurft hätte, ({1}) dann hat Herr Schily diesen Beweis hier heute vormittag mit seinem Beitrag geliefert. ({2}) Ich kann nur sagen, es war wohltuend, wie differenziert Herr Wieczorek vorhin in vielen Fragen argumentiert hat. Verehrter Herr Kollege Wieczorek, sagen Sie all dies aber auch Ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden! Er hat diese 65 Milliarden DM am Dienstag geradezu begierig aufgegriffen und sprach davon, daß er diese Zahl nicht für unrealistisch halte. ({3}) Er wußte natürlich auch gleich, wer die Verantwortung dafür trägt. So führt man die Leute in die Irre, so spaltet man, statt zu versöhnen. ({4}) Ich bin Ministerpräsident Vogel dankbar, daß er in seinem Beitrag die tatsächlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten aufgezeigt hat. Herr Scharping sagte am Dienstag dieser Woche, die Fördermittel seien in beträchtlichem Umfang wegbetoniert worden. Gleichzeitig fügte er aber hinzu, die Notwendigkeit der Finanzierung des Aufbaus in Ostdeutschland bleibe unverändert bestehen. - Was will er nun? Sind sie zu Unrecht ausgegeben worden, oder sollen wir weiter fördern? Herr Kollege Schily, auf Sie komme ich noch zu sprechen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Diskussion in dieser Woche hat eine gefährliche Tendenz bekommen. Wir reden in der Öffentlichkeit viel darüber, wie wir die Glaubwürdigkeit der Politik und der Politiker gerade jungen Menschen gegenüber verbessern können. Aber der Vorsitzende der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion und der Sozialdemokratischen Partei ist sich nicht zu schade, in dieser Woche im Zusammenhang mit dieser Diskussion sogar zum Mittel der Verleumdung zu greifen. ({5}) Das war ein schlechter Beitrag, der die Verkommenheit der politischen Diskussionskultur exemplarisch beleuchtet. Ich werde ihn zitieren, Frau Kollegin MatthäusMaier. Herr Scharping sagte am Dienstag dieser Woche im Zusammenhang mit dieser Debatte, jeder wisse, daß Waigel die Leute belüge. ({6}) Weiter: Angesichts der Risiken von über 30 Milliarden DM im Haushalt 1996 werde Waigel zumindest indirekte Steuererhöhungen vorschlagen. Statt durch direkte Steuern - immer noch Scharping - könne die Belastung auch über eine Verschlechterung der Abschreibungsmöglichkeiten erhöht werden. Nach der Wahl in Hessen werde die Wahrheit auf den Tisch kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rate dem Herrn Kollegen Scharping, in den Jahreswirtschaftsbericht zu schauen. Er hätte ihn lesen können. Wenn er keine Zeit dafür hat, hätte er hier letzte Woche der Debatte zuhören können. ({7}) Denn alles, was in diesem Zusammenhang geplant ist, steht Wort für Wort - formuliert vom Wirtschaftsminister und vom Finanzminister - im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung. ({8}) Es geht nicht darum, daß wir etwas verstecken. Wir haben nichts zu verbergen - im Gegensatz zur SPD.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Repnik, Sie gestatten eine Zwischenfrage von Frau Kollegin MatthäusMaier?

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Frau Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wollen Sie bestreiten, Herr Kollege Repnik, daß das Wort „Steuerlüge" erst Eingang in den deutschen Sprachraum gefunden hat - in Amerika gab es das schon -, nachdem diese Bundesregierung vor der vorletzten Bundestagswahl im Jahre 1990 gesagt hat: keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit!, und das jeden Tag dreimal und in Anzeigen gedruckt? Danach hat sie das dickste Steuer- und Abgabenerhöhungspaket aller Zeiten beschlossen. Wollen Sie das bestreiten? Wollen Sie außerdem dem interessierten Publikum einmal sagen, warum Sie Ihre Beschlüsse zum Grundfreibetrag und zum Familienlastenausgleich, auf die wir seit Monaten warten, auf die Zeit nach der Hessenwahl verschoben haben? ({0})

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, es wird Ihnen nicht gelingen, hier von der Ungeheuerlichkeit des Vorhalts Ihres Parteivorsitzenden abzulenken, Theo Waigel würde im Zusammenhang mit dieser Diskussion lügen. Das wird Ihnen nicht gelingen. ({0}) Ich sage noch einmal: Wir haben erstens ein klares Konzept, das auch vorgelegt worden ist. ({1}) - Ich komme gleich ausführlich auf Ihre Frage zu sprechen. - Wir haben ein klares Konzept. Es steht im Jahreswirtschaftsbericht, und man kann es dort nachlesen. Wir haben nichts zu verbergen. Zweitens. Wir sind in der Tat im Moment dabei, im Zusammenhang mit dem Familienleistungsausgleich noch die Modalitäten auszuhandeln - ein zugegebenermaßen schwieriges Thema. Aber auch hier haben wir klare Eckpunkte gesetzt. Der Finanzminister hat deutlich gemacht: Wir nehmen beim Existenzminimum genauso wie beim Kinderfreibetrag den Spruch des Bundesverfassungsgerichts ernst. Wir werden ihn umsetzen. Er hat die Größenordnungen genannt: ungefähr 15 Milliarden DM für den Bereich des Existenzminimums, ungefähr 6 Milliarden DM für den Familienleistungsausgleich. Auch hier haben wir in der Zeit vor der Wahl nichts zu verbergen. ({2}) Auch hier haben wir eine klare Linie, wie bei der Wiedervereinigung. Wir wollten sie, wir haben sie, und wir stehen zu den Konsequenzen. Frau Kollegin Matthäus-Maier, wir lassen nicht zu - Kollege Krüger hat darauf hingewiesen -, daß die SPD gerade jetzt wieder vor den Landtagswahlen in liessen in dieser Frage ständig mit gespaltener Zunge redet. ({3}) Im Landtagswahlkampf von Sachsen-Anhalt hat diese Bundesregierung nach Ihrem Vorhalt angeblich zuwenig getan; jetzt haben wir Landtagswahlen in Hessen, und da haben wir nach Ihrer Meinung zuviel getan. Sie spalten schon wieder und erzeugen Neid. Dies wird Ihnen die Bevölkerung nicht abnehmen. ({4}) Ich bin sehr gespannt, wie Sie bei einer der nächsten Landtagswahlen reagieren werden, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, nämlich bei der Berliner Wahl, wo Ost und West vereint sind, wie Sie dort versuchen werden, die Menschen hinters Licht zu führen. Ich werde dies mit Interesse zur Kenntnis nehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was diese Art von Politik betrifft, so hat der Kollege Gysi heute morgen auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt. Herr Präsident, ich bedauere sehr, daß der Kollege Gysi heute früh von diesem Pult aus ungerügt einen Vergleich zwischen der Partei, die an der demokratischen Entwicklung in Deutschland einen maßgeblichen Anteil hat, nämlich der CSU, und der PDS-Vorgängerin SED ziehen konnte - einer Partei, der wir Mord, Diktatur, Unfreiheit und die Mauer zu verdanken haben. Wenn Herr Kollege Gysi da wäre, würde ich ihm zurufen: Schämen Sie sich, und entschuldigen Sie sich beim Vorsitzenden der CSU für diesen Vergleich! ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mit großem Interesse die Worte gelesen, die der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping seinen lieben Genossinnen und Genossen im „Vorwärts" vom Januar dieses Jahres geschrieben hat. Er schreibt dort: Verläßlicher Schutz der Schwachen und die Bewahrung des Zusammenhalts der Gesellschaft durch Solidarität und Miteinander ist erforderlich. Wer, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn nicht unsere Landsleute in den neuen Ländern, bedarf gerade dieses besonderen Schutzes! Wer ist auf mehr Solidarität angewiesen, wenn nicht die Menschen in den neuen Bundesländern! ({6}) Nun zu Ihren Äußerungen, Frau Matthäus-Maier, zum Solidaritätszuschlag. ({7}) - Sie haben gesagt, er sei ökonomisch unsinnig, er solle abgeschafft werden. ({8}) Kollege Scharping hat ähnliches gesagt. Wer solche Äußerungen in einer Zeit tut, in der wir auf die Solidarität aller Menschen in Deutschland angewiesen sind, um unseren Landsleuten im Osten gleichwertige Lebensverhältnisse zu geben, der vereint nicht, der spaltet. ({9}) Ich finde schon, Frau Kollegin Matthäus-Maier: Stehen Sie doch zu Ihrem Wort! Es ist doch keine Schande, wenn Sie 1992 gesagt haben, die Investitionspauschale für die Kommunen in den neuen Bundesländern sei erforderlich, ({10}) wenn Sie für eine einheitliche Investitionszulage eingetreten sind. Der Herr Präsident möge mir erlauben, auch ihn zu zitieren. Er hat in seiner damaligen Eigenschaft als Fraktionsvorsitzender der SPD gesagt: Zukunftsprogramme für Ostdeutschland in der Höhe von 10 Milliarden DM pro Jahr für zehn Jahre sind erforderlich. - Ich sage: Jawohl, auch wir sind dafür. Aber dies muß finanziert werden. Dies geht nun einmal nicht ohne den Solidaritätszuschlag. Es stünde der SPD gut an, wenn sie dazu stünde und der Bevölkerung, auch jetzt in Hessen, und ebenso dem hessischen Ministerpräsident Eichel sagen würde, daß es der SPD-dominierte Bundesrat war - mit den Stimmen der SPD-Ministerpräsidenten -, der diesen Solidaritätszuschlag doch mit beschlossen und ihn auf 7,5 % festgesetzt hat. Sagen Sie das doch; stehen Sie zu Ihrem Wort! ({11}) Herr Schily, Sie haben gesagt, der Bürger würde ausgepreßt. Die letzte Aktion, der Solidaritätszuschlag - ich sage es noch einmal -, ist mit Zustimmung der SPD - Gott sei Dank hat sie sich hier in die Verantwortung nehmen lassen - gemacht worden. Nicht wir oder der Finanzminister - wie Sie es gesagt haben - mogeln sich aus der Verantwortung, sondern Sie stehlen sich aus der Verantwortung, wenn Sie heute den Solidaritätszuschlag in Frage stellen. ({12}) Ich möchte Sie noch an ein Weiteres erinnern, was Sie heute auch nicht mehr wissen wollen. Nicht nur im Jahre 1992 haben Sie es gesagt, sondern auch im Wahlprogramm der SPD stand noch: Um die Investitionen der Städte und Gemeinden in Ostdeutschland zu beschleunigen, soll den Kommunen für eine begrenzte Zeit wieder eine Investitionspauschale bereitgestellt werden. - Dies beklagen Sie heute; ({13}) in Ihrem Wahlprogramm haben Sie es noch gefordert. Sie wollten vor wenigen Wochen und Monaten, noch im Wahlkampf, einmal mehr eine Gießkanne, ein Füllhorn über die Gerechten und die Ungerechten in den neuen Ländern ausgießen. Wir haben ganz konkret aus vierjähriger Erfahrung unsere Konsequenzen gezogen. ({14})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Repnik.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich den Gedanken noch zu Ende führen darf, dann gerne. Herr Schily, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, wir müßten Konsequenzen ziehen. Wir haben diese Konsequenzen gezogen. Herr Schulz vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN hat dies ebenfalls angeregt. Wir haben geprüft. All das, was der Wirtschaftsminister und der Finanzminister jetzt im Hinblick auf die Anschlußförderung für das Jahr 1997 und die folgenden Jahre vorgeschlagen haben, ist ja ein Ergebnis gerade dieser Prüfung. Wir sind nicht erst jetzt dabei, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, sondern wir haben das bereits getan. Sie haben gesagt: Für diese Politik trägt der Finanzminister die Verantwortung. ({0}) Wohl wahr. Er trägt sie. Ich kann nur sagen: Er tut gut daran, durch eine konsequente Spar- und Konsolidierungspolitik überhaupt erst den Gestaltungsspielraum im Haushalt zu eröffnen, den wir brauchen, um die Herausforderungen in den neuen Ländern zu bewältigen. Dafür trägt er die Verantwortung; dafür sind wir ihm dankbar. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Repnik, sind Sie jetzt bereit, die Zwischenfrage zuzulassen? - Bitte, Herr Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Repnik, ist Ihnen im Eifer des Gefechts einfach entgangen, daß der Kollege Schwanitz heute ausdrücklich die Investitionspauschale wieder als ein wichtiges Instrument der Investitionsförderung zur Sprache gebracht hat? Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, wir wollten uns von diesem Instrument distanzieren? ({0})

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vieles von dem, was der Kollege Schwanitz gesagt hat, kann ich nur unterstreichen. Es deckt sich mit unseren Erfahrungen und unseren Beobachtungen. Deshalb lade ich Sie ausdrücklich dazu ein - ich glaube, im Kollegen Schwanitz haben wir einen guten Gesprächspartner -, gerade jetzt, bei der parlamentarischen Beratung des Jahreswirtschaftsberichts, diese Erfahrungen einzubringen und dafür zu sorgen, daß solche Mißstände in der Zukunft nicht mehr passieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte jetzt noch auf das eingehen, was der Kollege Wieczorek gesagt hat. Es wurde und wird der Eindruck vermittelt, als ob die Bundesregierung, die Landesregierungen in den neuen Bundesländern und die Kommunen im Osten Deutschlands grundsätzlich überhaupt eine Alternative gehabt hätten. Wir hatten im Grunde keine Alternative. Wir erinnern uns daran: Seit dem Öffnen der Mauer bis zum Wirksamwerden der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 sind über 350 000 Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern in den Westen übergesiedelt, Menschen, die geglaubt haben, daß sie dort keine Überlebensperspektive hätten, Menschen, die Anteil haben wollten am Wirtschaftswunder, am Wirtschaftswachstum, an unserem Konsumverhalten. Wir mußten doch so schnell wie möglich so viel Geld, Leistungen, Beratungen, Hilfe wie möglich in die neuen Länder bringen, um diese Zuwanderung, diesen Strom an Menschen von Ost nach West zu stoppen. Wir wissen doch auch, daß es häufig die Besten waren, die zu uns gekommen sind, diejenigen, die mit Initiative ausgestattet waren, die Wagemutigen, die wir für den Aufbau im Osten gebraucht hätten. Deshalb mußten wir so handeln. Es gab doch, ehrlich gesagt, gar keine andere Alternative. ({0}) In diesem Zusammenhang wird immer wieder das Stichwort Solidarität strapaziert. Da frage ich mich schon: Wo bleibt eigentlich die Solidarität mit den Menschen, die vor Ort in den neuen Ländern tätig sind - seien es Bürger aus den neuen Ländern oder Westdeutsche, die zur Hilfe hingegangen sind -, wenn wir heute einen Maßstab der Prüfung anlegen, wie er sich in 40 Jahren einer geordneten Verwaltung im Westen entwickelt hat? Die Menschen dort hatten doch gar keine Chance. Wir sollten sie nicht so sehr kritisieren, sondern wir sollten diesen Menschen unseren Dank abstatten für das, was sie in dieser Zeit geleistet haben. ({1}) Unser Konzept Aufschwung Ost ist aufgegangen - Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen -: 8,9 % Wirtschaftswachstum. Dies kam nicht von allein, wir haben es entsprechend stimuliert. Für die Zukunft ist für uns klar: Förderpräferenzen zugunsten der neuen Länder sind in dem Maße abzubauen - und wir sind dabei, dies zu tun -, wie sich die Standortnachteile in Ostdeutschland verringern. Ich darf nochmals an den Jahreswirtschaftsbericht erinnern. Dort ist vorgegeben, daß die Förderungen gestrafft, deutlich degressiv ausgestaltet und schrittweise zurückgeführt werden sollen. Die notwendigen Hilfen werden auf die Bereiche Industrie, Mittelstand sowie Innovationen konzentriert. Es liegt jetzt an uns allen, im Rahmen der parlamentarischen Beratung all diese Vorschläge aufzugreifen, das Beste daraus zu machen - ein Ziel eigentlich, dem Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sich nicht verschließen dürften. Ich möchte Sie herzlich dazu einladen. Im Sinne der Einheit Deutschlands sollten wir endlich darauf verzichten, dieses Thema in jedem Landtagswahlkampf zu mißbrauchen. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Frau MatthäusMaier.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Repnik, Sie haben versucht, den Eindruck zu erwecken, ich sei unglaubwürdig, weil ich, an unterschiedlichen Stellen, mit zwei Zungen spräche. Ich bin dafür - und das haben wir unter uns immer so gehalten -, daß wir hier streitig diskutieren, aber so etwas hat mir noch nie ein Kollege vorgeworfen, auch nicht aus Ihren Reihen. Erstens. Ich habe nicht die generelle Abschaffung des Solidaritätszuschlages gefordert. Was ich im hessischen Wahlkampf, im nordrhein-westfälischen Wahlkampf und auch seit drei Jahren im Deutschen Bundestag für meine Partei und mit meiner Partei gefordert habe, ist, daß der Solidaritätszuschlag erst ab einer bestimmten Einkommensgrenze erhoben werden sollte. Wir haben Sie immer aufgefordert: Nehmen Sie die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen aus dem Solidaritätszuschlag heraus! Dies aus Gründen sozialer Gerechtigkeit und - seit etwa einem Jahr absehbar - um die Konjunktur zu fördern. Die Forschungsinstitute, die Kaufhäuser und die Einzelhändler sagen Ihnen doch, daß die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zuwenig Geld in der Tasche haben, um einkaufen zu können. Deswegen ist es auch ökonomisch ein Fehler, diese Menschen mit dem Solidaritätszuschlag zu belasten. ({0}) Zweitens. Natürlich bin ich für die Investitionspauschale für die ostdeutschen Gemeinden. Sie bringen mich doch nicht gegen Ostdeutschland in Stellung! Nebenbei gesagt: Wenn sich Herr Vogel, der Ministerpräsident von Thüringen, dafür bedankt hat, daß wir die Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt haben, darf ich Sie fragen: Welche Politiker haben denn hier zum erstenmal die Wirtschafts- und Währungsunion mit Ostdeutschland ins Gespräch gebracht? Wer hat denn gesagt, daß wir die D-Mark nach Ostdeutschland bringen müssen? ({1}) Ich sage Ihnen, mir hat das Herz geblutet, als ich gesehen habe, wie viele ökonomische Fehler Sie am 1. Juli 1990 gemacht haben. Sie haben die Währungsunion gemacht, aber kein Programm Aufbau Ost. Das kam Monate zu spät. Das sind die Fehler, die dazu beitragen, daß wir heute in Ostdeutschland noch so viele Probleme haben. Und der letzte Punkt - und das hat Herr Schily heute morgen gesagt -: Daß wir bei der Investitionsförderung durchaus Verschwendung konstatieren müssen,

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Sie müssen zum Schluß kommen!

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- hat erstens mit Ost und West nichts zu tun; denn es waren überwiegend westdeutsche Abzocker, die davon profitiert haben, daß überdimensionierte Kläranlagen gebaut worden sind. ({0}) Das zweite: Wir haben einen Bundesfinanzminister, der seit zwei Jahren die Berichte des Rechnungshofes zu den Abschreibungsbedingungen in den Wind geschlagen hat und die Treuhand agieren ließ. Der Rechnungshof hat seit Jahren gefragt: Warum kontrolliert Herr Waigel die Treuhandanstalt nicht ausreichend?

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau MatthäusMaier, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Recht hat er. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Repnik, Sie können erwidern.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gern auf zwei Argumente der Frau Kollegin MatthäusMaier eingehen. Frau Matthäus-Maier, ich habe, wenn Sie so wollen, die SPD und nicht nur Sie bezüglich der gespaltenen Zunge in Gesamthaft genommen. ({0}) Wir werden es nicht zulassen, daß die SPD nach einem schwierigen Prozeß im Bundesrat und auch hier dem Solidaritätszuschlag so, wie er jetzt existiert, zustimmt - Sie haben sich mit Ihrer Meinung nicht durchgesetzt -, um anschließend vor der hessischen Landtagswahl vom Ministerpräsidenten Eichel zu hören, er müsse abgeschafft werden. Sie haben ihn in der Sache erneut problematisiert. ({1}) - Wir haben genügend Belege, daß sowohl Herr Eichel als auch Ihr Parteivorsitzender Scharping gerade jetzt, in dieser sensiblen Zeit, dieses Thema genutzt hat, um die Menschen bei uns einmal mehr hinters Licht zu führen. ({2}) Das zweite, Frau Matthäus-Maier: Ihre Verdienste in Ehren, die will ich gar nicht schmälern. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß wir zum Datum 1. Juli 1990, beim Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion als Bundesrepublik Deutschland noch kein Mandat für dieses Aufbauwerk Ost hatten. Wir waren in der Vorbereitung. ({3}) - Bitte, verehrter Kollege Schily, wir haben mit der Wiedervereinigung das Mandat erhalten. Mit der Wiedervereinigung haben wir die vorbereiteten ProHans-Peter Repnik gramme umgesetzt. Betreiben Sie hier bitte keine Geschichtsklitterung. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich habe jetzt zwar noch eine Menge Zwischenrufe, aber keine Wortmeldung mehr. Deshalb schließe ich die Aussprache. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der PDS auf Drucksache 13/579 zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuß und zur Mitberatung an den Finanzausschuß und an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluß des Rates vom 31. Oktober 1994 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften - Drucksache 13/382 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({0}) Finanzausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so akzeptiert. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Kurt Faltlhauser. Bitte.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt eine Brücke zwischen dem Thema, das wir gerade debattiert haben, und dem Thema, das jetzt in der Debatte ansteht: Durch die Vergabe von Mitteln, durch den Streit um die Größenordnung und die Verwendung der Mittel darf kein Graben zwischen den Deutschen aufgebrochen werden. Das war gerade unser Thema. Beim jetzigen Thema geht es darum, daß durch die Verteilung der Mittel und die Größenordnung der Mittel im Zuge der Vereinigung Europas keine neuen Gräben aufgerissen werden dürfen. Der Streit, der um die Mittel der EG teilweise in den Hinterzimmern geführt wird, ist nicht gerade geeignet, die Integration Europas voranzubringen. Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung für ein Zustimmungsgesetz hat eine Vorgeschichte. Er geht zurück auf die Verhandlungen zum sogenannten Delors-Paket II und auf die Entscheidungen des Europäischen Rates vom 11. und 12. Dezember 1992 in Edinburgh. Auf dieser Tagung haben die Staats- und Regierungschefs für einen mittelfristigen Zeitraum bis 1999 Rahmen und Perspektive der EG-Finanzen festgelegt. Kern der politischen Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs waren damals in Edinburgh die Festlegungen über die künftige Finanzausstattung der Gemeinschaft, die rechtlich mit dem vom Ministerrat am 31. Oktober 1994 verabschiedeten EG-Eigenmittelbeschluß umgesetzt wurden. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland müssen wir das durch ein Zustimmungsgesetz umsetzen. Es bedarf auch der Zustimmung des Bundesrates. Mit dem EG-Eigenmittelbeschluß wird ab 1995 die Finanzausstattung der Gemeinschaft schrittweise von derzeit 1,2 auf bis zu 1,27 % des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft im Jahre 1999 erweitert. Kleine Zahlen, große Wirkung, kann ich nur sagen. Gleichzeitig wird die Lastenverteilung bei der Aufbringung der Eigenmittel der Gemeinschaft zwischen den Mitgliedstaaten verändert. Das Gewicht der sogenannten Mehrwertsteuer-Eigenmittel wird verringert, und das Gewicht der BruttosozialproduktEigenmittel wird dadurch erhöht. Die vom Bundeskabinett am 15. Juli 1994 verabschiedete Finanzplanung des Bundes berücksichtigt bereits die möglichen finanziellen Auswirkungen des neuen EG-Eigenmittelbeschlusses; zwischen 400 Millionen DM im Jahr 1995 und bis zu 2,6 Milliarden DM im Jahr 1999 sind eingestellt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich vor dem Hintergrund der Stellungnahmen des Bundestages, die schon abgegeben wurden, kurz auf die zum Teil sehr kritische Diskussion in der Öffentlichkeit zu unseren deutschen Brutto- und Nettoleistungen an die Europäischen Gemeinschaften eingehen. Die Bundesregierung hat die 1992 von der EG-Kommission vorgelegten Vorschläge für eine massive Erweiterung der Finanzausstattung schon ab 1993 bis auf 1,37 % des Gemeinschaftsbruttosozialprodukts sowie die Forderungen des Europäischen Parlaments und einzelner Mitgliedstaaten nach darüber hinausgehenden Sätzen - der Vorschlag lautete 1,4 % - strikt abgelehnt. Erstens. Wir haben durchgesetzt, daß die Anhebung des Eigenmittelplafonds erst mit einer Verzögerung von zwei Jahren, statt 1993 erst ab 1. Januar 1995, einsetzen soll. Zweitens. Wir haben durchgesetzt, daß sich der Umfang der notwendigen Eigenmittelerhöhung von 1,27 % des Bruttosozialprodukts auf nahezu ein Drittel der Forderungen verringert. Drittens. Wir haben durchgesetzt, daß nur eine schrittweise Anhebung dieses Plafonds im Zeitraum von 1995 bis 1999 erfolgt. Des weiteren haben wir darauf hingewirkt, daß sich die Beitragsleistung künftig stärker als bisher am Bruttosozialprodukt der einzelnen Mitgliedstaaten orientiert und so eine bessere Beitragsgerechtigkeit bewirkt. Nun eine Kommentierung zu den Bruttoleistungen und zu den Nettoleistungen. Zu den Bruttoleistungen können wir nur sagen, daß die Beschlüsse von Edinburgh und die unter deutscher Präsidentschaft erzielte Einigung auf den neuen EG-Eigenmittelbeschluß im Oktober 1994 gute Kompromisse sind, die die Interessen der Bundesrepublik Deutschland wahren. Problematisch sind tatsächlich die Nettopositionen. Hier ist die Bundesregierung mit dem Bundesrat der Auffassung, daß die Lastenverteilung in der Europäischen Union verbessert werden muß. Auch die Bundesregierung hält die gegenwärtigen Lastenverteilungen in der Union für unausgewogen und für den weiteren Integrationsprozeß nicht förderlich. Ich möchte Ihnen hier eine beeindruckende Farbübersicht zeigen, die der Bundesfinanzminister in den letzten Monaten in alle Verhandlungen mitnimmt. Das Grüne stellt diejenigen dar, die etwas bekommen, und das Rote ist die Nettoposition, das, was man bezahlt. Das ganz Lange, das weit nach unten geht, ist der Anteil an der Nettoposition, den die Bundesrepublik Deutschland bezahlt. Ich entnehme den Mitteilungen des Finanzministers, daß seine europäischen Kollegen und auch die europäischen Regierungschefs von dieser Darstellung jeweils sehr beeindruckt sind, Ich hoffe, daß dieser Eindruck auch nachhaltig wirkt, ({0}) nämlich dann, wenn wir das entsprechend neu gestalten müssen. Kurz- und mittelfristig sind zur Bewältigung dieser Situation ein strikter Kurs der Haushaltsdisziplin auch auf Gemeinschaftsebene und eine konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips erforderlich. Des weiteren tritt die Bundesregierung in jedem Einzelfall für eine sehr kritische Prüfung neuer Programme ein. Wir haben z. B. unter zum Teil erheblicher Kritik von außen durchgesetzt, daß neue Programme nicht aufgelegt werden. Wir treten auch für ein erheblich verringertes Volumen bei neuen Ausgabeprogrammen ein. Außerdem drängen wir auf eine laufende Überprüfung bestehender Programme, damit neue Aufgaben auch durch Umschichtungen finanziert werden können. Dies hat regelmäßig, wie Sie wissen, natürlich die Auseinandersetzung mit den Ländern insbesondere im südlichen Bereich Europas, zur Folge. Die Bundesregierung wird jedoch getroffene politische und rechtliche Vereinbarungen nicht in Frage stellen. Manchmal gibt es in Länderparlamenten die rosige Vorstellung, so etwas sei möglich. Das wird die Bundesregierung aber nicht tun und auch nicht in Frage stellen. Wir sind und bleiben ein vertragstreuer Partner. Bei der vor 1999 vorgesehenen Überprüfung der Gemeinschaftsfinanzen wird die Bundesregierung mit Blick auf neue Herausforderungen für eine umfassende Neuordnung auf der Einnahmen- und Ausgabenseite eintreten. Das ist angesichts der Grafik, die ich Ihnen soeben gezeigt habe, sicher notwendig. Lassen Sie mich eine Schlußbemerkung machen: Die hohe Nettobelastung ist, wie wir beobachten können, in unserem Land zum Teil als Instrument mißbraucht worden, um den europäischen Einigungsprozeß insgesamt zu torpedieren. Wir müssen Versuche dieser Art vehement zurückweisen. ({1}) - Ach, da gibt es kleine neue Parteien, die kommen und wieder verschwinden, die das insbesondere zu ihrem Thema gemacht haben. Sie wissen, wen ich meine. Die politische Stabilität Deutschlands - ich glaube, da sind wir uns in diesem Hause einig - ist nur auf der Basis der Europäischen Union möglich, und dies hat auch im finanziellen Bereich seinen Preis. Wir müssen den Preis nur kontrollieren und in einem vertretbaren Maße halten. Wir müssen sicherstellen, daß die finanziellen Belastungen so gestaltet bleiben, daß nicht antieuropäische Brandstifter leicht entzündbares Material vorfinden, um auf diese Weise in unserem Land zu agitieren. Wir wollen auch auf dem Gebiet der finanziellen Ausstattung weiterhin eine solide Grundlage geben, damit der europäische Einigungsprozeß fortgeführt werden kann. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Hans Georg Wagner.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, wir stimmen sicher völlig überein mit Ihren letzten Ausführungen: Wir dürfen es nicht zulassen, daß in Europa wieder Biedermeier zu Brandstiftern werden. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, daß wir - integriert in die Europäische Union - mit den anderen Mitgliedsstaaten zusammen versuchen, das geeinte, friedliche Europa aufzubauen. Dazu sind natürlich auch finanzielle Voraussetzungen erforderlich, die dieses Gesetz regeln soll. Die Beschlüsse vom 31. Oktober 1994 haben Sie genannt. Ich sage, daß wir Sozialdemokraten dem Gesetzentwurf zwar auch zustimmen werden, in den entsprechenden Beratungen der Ausschüsse aber natürlich das eine oder andere noch einmal vertiefen werden. Wir haben bereits vor gut einem Jahr im Vorfeld der Entscheidung des Ministerrates der Europäischen Union im Finanzausschuß, im Haushaltsausschuß, im Unterausschuß „Europäische Union" und im EG-Ausschuß ausgiebig über dieses Thema diskutiert, und zwar um der Bundesregierung Rückendeckung und grünes Licht zu geben, damit sie im Ministerrat entsprechend agieren kann. Sie haben vorhin freundlicherweise die rot-grüne Tafel gezeigt, die Theo Waigel immer bei sich hat. Vielleicht sollten Sie einmal zum gewohnten Schwarzweißbild zurückkehren. Ich habe den EinHans Georg Wagner druck, daß der eine oder andere Finanzminister in der Europäischen Union an Farbenblindheit leidet und wir deshalb immer noch der größte Nettozahler in die Kasse der Europäischen Union sind. Herr Staatssekretär, Sie führen zu Recht an, daß wir rund 70 % des Nettofinanztransfers der Europäischen Union zahlen. Dies ist sehr viel Geld. Wir durften eigentlich erwarten, daß die Bundesregierung in den Verhandlungen zu diesem Eigenmittelprogramm bei den anderen Mitgliedsstaaten ein größeres Verständnis für die Schwierigkeiten der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der 90er Jahre geweckt und man mehr Rücksicht auf die Belange der Bundesrepublik Deutschland genommen hätte. Einige kritische Anmerkungen sind erlaubt. Wir teilen die Besorgnis des Bundesrates in manchen Punkten, weil nach unserer Einschätzung die schwierige wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland in den Gremien der Europäischen Union nicht ausreichend genug vorgetragen worden ist. Wir sind immerhin der größte Nettozahler der Europäischen Union. Dies ist eine Verpflichtung, die wir gern übernommen haben. Wir erwarten aber auch das Verständnis unserer Partner. In den Jahren von 1990 bis 1992, also in der schwierigen Phase der Anfangsfinanzierung der deutschen Einheit - wir haben vorhin eine lange Debatte über dieses Thema geführt -, sind die Nettoeinzahlungen der Bundesrepublik Deutschland von 11 Milliarden DM auf 22 Milliarden DM - das ist eine Verdoppelung - angestiegen. Nunmehr muß die Bundesrepublik Deutschland in den Jahren von 1995 bis 1999, also während des Vertragszeitraumes, 7,1 Milliarden DM mehr aufwenden, als sie bisher eingezahlt hat. Ganz konkret müssen wir 1995 400 Millionen DM mehr zahlen als in den vergleichbaren Vorjahren. 1999 müssen wir 2,6 Milliarden DM pro Jahr mehr einzahlen. Mit diesem Gesetzentwurf werden die Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland bei voller Ausschöpfung des jeweiligen Unterplafonds zu Lasten des Bundes vermutlich wie folgt aussehen: 1995 35,1 Milliarden DM, 1996 38 Milliarden DM, 1997 41,3 Milliarden DM, 1998 44,8 Milliarden DM und 1999 schon saftige 48,2 Milliarden DM. Dies ist eine imposante Zahl. Wir fordern angesichts dieser Entwicklung und im Hinblick auf die von uns allen gewünschte europäische Einheit, daß die Bundesregierung alle geeigneten Maßnahmen ergreift, um in der Europäischen Union durchzusetzen, daß der deutsche Nettobeitrag wieder auf die Höhe gesenkt wird, die im Verhältnis zu den Leistungen der anderen Mitgliedsländer als angemessen zu bezeichnen wäre. Unser Nettobeitrag muß möglichst bald auf ein normales Maß zurückgeführt werden. Wenn die übrigen Mitgliedsländer stärker auf unsere Schwäche Rücksicht genommen hätten, hätte man über das eine oder andere sicherlich anders diskutieren können. Unsere Ressourcen wären heute sicher größer, wenn wir hier nicht so viel hätten aufwenden müssen. Allerdings muß an dieser Stelle auf die wichtige und positive Rolle der europäischen Strukturmittel für den wirtschaftlichen Um- und Aufbau in den neuen Ländern hingewiesen werden. Die Integration Europas ist nicht nur eine finanzielle Sache. Dennoch kann es nicht hingenommen werden, daß wir 70 % der Nettoressourcentransfers bezahlen. Dies tut auf Dauer nicht gut. Ich möchte an dieser Stelle nicht in den Streit zwischen Bundesregierung und Bundesrat eingreifen, ob die Bundesländer zum Aufbringen des deutschen Anteils heranzuziehen sind oder nicht. Dies muß in den nächsten Monaten ausdiskutiert werden, wenn die Gesetzesberatungen stattfinden, so daß wir im Bundestag eine einvernehmliche Regelung für die Finanzierung unter Einschluß der Überlegungen der Bundesländer beschließen können. Hier muß die Bundesregierung mit den Ländern entsprechend reden. Vor einigen Tagen - das haben Sie, Herr Staatssekretär, angedeutet - ist der Bericht des Europäischen Rechnungshofes für das Haushaltsjahr 1993 mit einem deutschen Teil erschienen. In den neuen Ländern wurde genau darauf geachtet - ich möchte dies nicht vertiefen -, was mit den Strukturmitteln der Europäischen Union geschehen ist. Der Bericht enthält eine Fülle von Verstößen gegen das Haushaltsrecht der Europäischen Union. Aber auch im Gesamtbericht des Europäischen Rechnungshofes kommen alle Länder der Europäischen Gemeinschaft bei den Ausgaben nicht gut weg. Deshalb ist zu fordern, daß der Europäische Rechnungshof mit stärkeren Rechten versehen wird. ({0}) Wir haben schon des öfteren mit Herrn Friedmann reden können. In Italien hat ja die Rechnungsprüfung einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland und in Frankreich wiederum einen anderen als in Spanien. Auch wenn unsere bürokratischen Hemmnisse und Einengungen nicht so stark sein sollten, wie sie sind, wäre es doch gut, wenn die Rechte des Europäischen Rechnungshofes auch in den anderen Mitgliedsländern eine Stärkung erfahren könnten. Wir sollten auch bei dieser Frage in der Diskussion bleiben. Die vier Kriterien, die im Vertrag von Maastricht niedergelegt sind und die auch gestern in der Befragung der Bundesregierung wegen des Konvergenzberichtes, den die Bundesregierung gestern morgen verabschiedet hat, eine Rolle gespielt haben, müssen auch an den Haushalt der Europäischen Union angelegt werden. ({1}) Man kann nicht verlangen, daß wir nationale Haushalte in ein Sparkorsett hineinzuzwängen versuchen, wenn man sich in den Gremien der Europäischen Union nicht darum schert, daß auch dort Sparmaßnahmen in erheblichem Umfange eingeleitet werden müssen. Ich denke an die - man kann sie bezeichnen, wie man will - stattfindende Diskussion über die Bezahlung der Beamten, die bei den europäischen Institutionen im Regelfall doppelt so hoch ist wie in den Mitgliedsländern selbst. In Washington werden dieselben Gehälter gezahlt wie in Kalifornien. Wir haben jetzt sozusagen die Vereinigten Staaten von Europa, die Europäische Union. Da muß es auch so sein, daß jemand, der nach Brüssel, nach Luxemburg oder nach Straßburg geht, die gleichen Konditionen hat, wie er sie vorfindet, wenn er in Bonn, Berlin oder in sonst irgendeiner Hauptstadt in den europäischen Ländern lebt. ({2}) Meine Damen und Herren, ich meine, daß uns unsere Zustimmung leichter fällt, wenn wir wissen, daß sich die Bundesregierung und der Bundesrat alsbald einig werden - denn nach Art. 23 des Grundgesetzes sind Rechte der Länder mit betroffen, weil hoheitliche Aufgaben an die Europäische Union abgegeben werden -, daß die Haushaltsdisziplin auch bei der Europäischen Union bis hin zur Überprüfung der Gehälter der dort Beschäftigten greift. Ein wichtiger Punkt, den wir unter Freunden ebenfalls offen ansprechen sollten, ist die Sonderrolle Englands. Es ist nicht hinzunehmen, daß England auf Dauer bei der Finanzierung der Europäischen Union eine Sonderrolle spielt. ({3}) Wenn alle Partner sein wollen, dann sollen sie auf Grund ihres Könnens, ihres Bruttosozialprodukts oder wie auch immer an der Finanzierung der Aufgaben der Europäischen Union beteiligt werden. Das gilt auch für unsere englischen Freunde, von denen wir gerne sehen, daß sie bei uns in der Europäischen Union mitmachen, auch wenn sie selbst damit die größten Probleme haben. ({4}) - Dann sollen sie auch ordentlich bezahlen, natürlich. Das betrifft die Disziplin auf der Einnahmenseite, nicht nur auf der Ausgabenseite beim Haushalt. Wenn insgesamt die erhöhten Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland zu einem sinnvollen und vor allem wirksamen Einsatz der Haushaltsmittel in der gesamten Europäischen Union führen, geben wir dazu unsere Zustimmung. In der Beratung dieses Gesetzentwurfs werden wir das eine oder andere noch vortragen. Aber insgesamt bewerten wir die Sache positiv. Schönen Dank. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Uwe Lühr.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind schon spät dran mit der Neuordnung der Lastenverteilung bei der Aufbringung der Eigenmittel der Gemeinschaft zwischen den Mitgliedsstaaten, die bereits der Europäische Rat vom 11./12. Dezember 1992 in Edinburgh im Grundsatz verhandelt hatte. Der Beschluß des Ministerrates vom 31. Oktober 1994 soll der Europäischen Union die Mittel sichern, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben in den Jahren 1995 bis 1999 braucht. Der Gesetzentwurf ist daher von erheblicher europapolitischer Bedeutung und eigentlich einer intensiveren Auseinandersetzung wert, als dies in der vorgegebenen Zeit möglich ist. Obwohl spät, werden wir doch nicht die letzten sein, die den Eigenmittelbeschluß ratifizieren. Zwar haben einige Partnerstaaten die Verfahren bereits abgeschlossen, andere werden sie noch im Laufe dieses Monats abschließen, aber einige Ratifikationsverfahren werden sich wohl noch bis zum Mai hinziehen. ({0}) Der Entwurf setzt die Maßnahmen der Finanzbeschlüsse des Europäischen Rates um und reduziert den Anteil der mehrwertsteuerbezogenen Mittel zugunsten des auf das Bruttosozialprodukt bezogenen Anteils. Durch diese Anpassung an die Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedsländer wird eine größere Beitragsgerechtigkeit erreicht. Die Beiträge, die wir dann an die Gemeinschaft abführen müssen, entsprechen dann im großen und ganzen unserem statistischen Anteil am Bruttosozialprodukt der Union. Wir stellen auch mit Erleichterung fest, daß die völlig überzogenen finanziellen Forderungen der Kornmission und des Europäischen Parlaments nicht erfüllt wurden. Die vom Bundesrat in seiner Stellungnahme eingeführte Kritik an der Nettozahlerposition der Bundesrepublik und die darüber geäußerte Besorgnis sind mehr als berechtigt. Sie treffen aber nicht den Kern dieses Gesetzentwurfs, der sich nur mit der Einnahmeseite des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft beschäftigt. Die Nettozahlerposition ergibt sich erst bei der Berücksichtigung der dürftigen Rückflüsse in die Bundesrepublik. ({1}) Ein Industrieland wie Deutschland hat eben nur einen marginalen Anteil an den Transfers der Agrar und Strukturhilfefonds der Gemeinschaft. Natürlich kann eine Lastenverteilung, bei der ein Mitgliedsstaat rund 70 % des gesamten Nettotransfers tragen soll, weder im Interesse der EU liegen, noch ist sie der Bundesrepublik zumutbar, insbesondere nicht in einer Zeit, in der sie ohnehin durch die Anstrengungen zur Deutschen Einigung besonderen Belastungen ausgesetzt ist. Es ist auch selbstverständlich, daß der Gemeinschaftshaushalt nicht von den Konsolidierungsbemühungen der Mitgliedsstaaten ausgenommen werden kann. Wir gehen daher davon aus, daß die BundesreUwe Lühr gierung - wie angekündigt - noch stärker als bisher auf eine sparsame, kontrollierte Haushaltsführung, die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und eine entsprechende Überprüfung der Planungen hinwirken wird. Eine grundlegende Veränderung der Finanzverpflichtungen des Bundes wird vor 1999 aller Voraussicht nach nicht zu erreichen sein. Bei der dann anstehenden Überprüfung der Gemeinschaftsfinanzen werden Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft grundsätzlich neu geordnet werden müssen. Es muß in Zukunft eine ausgewogenere Lastenverteilung in der Union geben, wenn die Union eine Zukunft haben soll. Dafür muß der Beitragsschlüssel neu berechnet werden. Nach dem Beitritt der neuen Mitgliedsländer ist dies ohnehin erforderlich. Bei der Maastricht-Folgekonferenz im Jahr 1996 werden die institutionelle Reform sowie die zukünftigen Aufgaben der EU ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Diese Themen stehen mit der Frage der EU-Finanzen in unmittelbarem Zusammenhang. Für uns Liberale ist sowohl für die Reform der Gemeinschaftsorgane als auch für die Festlegung neuer gemeinschaftlicher Aufgabenbereiche das Prinzip der Subsidiarität oberste Richtschnur. Alle Bereiche, in denen die Gemeinschaft heute tätig ist, müssen auf ihre Zweckmäßigkeit und Effizienz hin kritisch überprüft werden. Da darf es keinerlei Tabus geben. Ich denke z. B. an die Inflation der Fördertöpfe in der Union, die zu Unüberschaubarkeit, hohem bürokratischen Aufwand und damit häufig zu recht wenig Effizienz einzelner Programme geführt hat. Es gibt mittlerweile Beispiele dafür, daß Kreisverwaltungen hochdotierte Stellen ausschreiben und Mitarbeiter nach Brüssel entsenden, nur um die Mittel aus Brüssel voll ausschöpfen zu können. Deshalb muß bei der Frage der zukünftigen Finanzausstattung der Gemeinschaft vorher die bisherige Ausgabenpraxis der Gemeinschaft genau unter die Lupe genommen werden. Wenn die Gemeinschaft nicht den Mut aufbringt, ihre Ausgaben konsequent zu reformieren, dann wird der Ruf aus Brüssel nach Einnahmeverbesserungen schließlich in der Forderung nach EU-Steuern münden. Ich gehe davon aus, daß es in diesem Hohen Haus keine große Mehrheit gibt, die eine solche Neugestaltung der Einnahmen der Union vor Augen hat. Worüber wir aber auch einmal nachdenken müssen, ist die Beteiligung der Bundesländer. Vor allem nach der Neufassung des Artikels 23 GG, der den Bundesländern jetzt verstärkte Mitspracherechte in Europaangelegenheiten einräumt, ist auch die finanzielle Mitverantwortung zu regeln. Es ist ein ganz gängiges Prinzip, das derjenige, der bestellt, auch bezahlt. Daher muß derjenige, der mitbestellt, auch mitbezahlen. Schönen Dank. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Abgeordneten Christine Scheel das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja bereits angesprochen worden: Deutschland ist der größte Nettozahler in der Europäischen Union. 1995, also in diesem Jahr, werden von unserer Seite 44 Milliarden DM in den Haushalt der Europäischen Union fließen. Es kommen noch andere internationale Verpflichtungen hinzu, die im Prinzip zur Nettobelastung zu addieren wären. Dies tun wir ja nicht, weil wir irgend etwas zu verschenken hätten, sondern dies tun wir, weil wir der Auffassung sind, daß der Integrationsprozeß der Europäischen Union unsere Hoffnung auf ein demokratisches, friedliches und vor allem auf die Menschenrechte achtendes Europa ist. Es ist grundsätzlich nichts daran auszusetzen, daß wir entsprechend unserer Wirtschaftskraft, die wir Gott sei Dank haben - im Vergleich zu den anderen Mitgliedsstaaten -, zu den supranationalen Aufgaben der Europäischen Union mit herangezogen werden. Auf der anderen Seite ist es jedoch so, daß unsere Bürger und Bürgerinnen durchaus einen Anspruch auf eine Antwort zu der Frage haben, wie die Bundesregierung - die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die Aufbauleistung für die neuen Bundesländer, angebliche Belastung usw. sind ja bekannt - trotz dieser Belastung, die immer wieder in den Vordergrund gestellt wird, die Nettozahlungen an die Europäische Union von 1990 bis 1994 praktisch verdoppeln kann. Das ist eine Frage, die sich draußen stellt und beantwortet werden müßte. Es ist auch klar, daß 30 % des europäischen Haushalts von Deutschland finanziert werden. Davon fließen - und das ist überraschend - aus dem drastisch erhöhten Strukturtopf, den wir haben, gerade einmal 7 % an Fördermitteln in die neuen Bundesländer. Mehr ist es gar nicht, was die neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt bekommen. Dadurch entsteht oft in der Öffentlichkeit eine Diskussion, wo man glaubt, daß das, was zurückfließt, hauptsächlich in die neuen Länder fließen würde. Aber dies ist eben falsch. Wir hatten vorhin erst die Debatte darüber geführt, wie es sein kann, daß in den ostdeutschen Bundesländern Milliarden an Steuermitteln und Finanzhilfen verschwendet wurden. Es wurden Beispiele genannt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch sagen, daß auch die Verschwendung in den westdeutschen Bundesländern eklatant ist. Wir haben den neuesten ORH-Bericht aus Bayern vorliegen. Da gehen aus zwei Beispielen Dinge hervor, die man nicht hinnehmen kann. So hat z. B. die Nichtbearbeitung von Erbschaft- und Schenkungsteuerfällen bei den Finanzämtern auf Grund schlechter Stellenbesetzung - nicht für die Beamten gesehen, sondern quantitativ; es sind so wenig Beamtinnen und Beamte da - zu Einnahmeausfällen von 800 Millionen DM allein im Lande Bayern geführt. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn man dann mitbekommt, daß das Land beispielsweise auch Reitturniere und Pferdezucht mit Millionenbeträgen subChristine Scheel ventioniert, muß man sich schon einmal ans Hirn greifen. ({0}) In der Europäischen Union wird immer wieder Klage darüber geführt, daß Transferleistungen in den Mitgliedstaaten verschwendet werden oder, schlimmer noch - es wird immer mehr und öfter angesprochen -, betrügerischen Zwecken dienen. Die Bundesregierung tut sich locker hervor mit der Forderung nach schärferen Kontrollen und Sanktionen, aber nicht im Hinblick auf die Bundesregierung selbst, sondern im Hinblick auf Sanktionen für Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien. Wir meinen, daß sie hier Auskunft darüber geben muß, wie die wenigen europäischen Transferleistungen, die nach Deutschland zurückfließen, hier verwandt werden, wie sie sinnvoll eingesetzt werden und wie sie vor allem kontrolliert werden. Wir denken auch, daß die Bürger und Bürgerinnen einen Anspruch darauf haben, daß es unsere nationalen Gesetze wenigstens ermöglichen, europäische Gelder entsprechend ihrer Zielsetzung einzusetzen. Ich möchte Ihnen nur einmal ein Beispiel für das Kuddelmuddel nennen, was wir in diesem Bereich haben. Denn die Mittel des europäischen Sozialfonds sollen vorrangig für eine europäische Arbeitsmarktpolitik zum Abbau von Arbeitslosigkeit eingesetzt werden. Das ist kein Geheimnis. Ergänzt werden diese Leistungen aus den Gemeinschaftsinitiativen. Wir müssen uns fragen, was mit den Antragstellern passiert. Hier ist festzustellen, daß es das deutsche Arbeitsförderungsgesetz verbietet, daß beispielsweise Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen Praktika im europäischen Ausland absolvieren oder daß Fremdsprachenunterricht finanziell unterstützt wird, und transnationale Kooperationen und Aktionen werden unglaublich erschwert. Da stellt sich zu Recht die Frage: Wie soll denn in Deutschland die auch von der Bundesregierung vielfach unterstützte Zielsetzung verwirklicht werden, daß Arbeitslose ihre beruflichen Chancen auf dem europäischen Arbeitsmarkt wahrnehmen können, wenn die Voraussetzungen, die ich vorab genannt habe, in der Realität einfach nicht vorliegen? Das ist ein Unding. Das müßten wir einmal überdenken. Einen letzten Punkt noch: Wenn die Europäische Union nun eine eigene Steuer erhalten soll, müssen die haushaltspolitischen und gesetzgeberischen Kompetenzen des Europäischen Parlaments vorher dringend gestärkt werden. Ansonsten, so glaube ich, kann dies nicht sinnvoll sein. Auf keinen Fall darf ein weiterer Abbau der nationalen Kompetenzen und des Subsidiaritätsprinzips ohne eine Demokratisierung der Europäischen Union stattfinden. ({1}) Herr Präsident, ich komme zum Schluß: Aus aktuellem Anlaß möchte ich fragen, warum die Bundesregierung auf Grund ihrer eigenen Durchführungsverordnung zur Finanzierung der Europäischen Union in der Lage ist, der Kommission monatlich eine Übersicht über Betrugsfälle und Unregelmäßigkeiten bei der Erhebung von Eigenmittelanteilen aus Mehrwertsteuer, Zöllen, Abgaben etc. zu geben, wenn sie diese dem eigenen Parlament im Hinblick auf die Subventionskontrolle nicht geben kann. Hier sind Unregelmäßigkeiten und Betrügereien bei der Vergabe öffentlicher Fördermittel anscheinend nicht bekannt. Diese Angaben fordern wir ein. Wenn sie von anderen eingefordert werden, sollten wir uns an die eigene Nase fassen und dies auch für uns tun. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Dr. Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur scheinbar geht es heute um die Frage, ob die reiche Bundesrepublik von 1995 bis 1999 über 7 Milliarden DM zusätzlich an die EU abführen soll. Auch im Zentrum der heutigen Debatte steht wieder einmal die Klage über den angeblichen Zahlmeister in Europa, die Bundesrepublik Deutschland - und das, obwohl sich die Europäische Kommission und der Rechnungshof in Luxemburg unter Hinweis auf die komplizierte Umverteilung der Finanzen unter den EU-Ländern weigern, Tabellen und Statistiken über die umstrittene Frage nach den Nettozahlern und -empfängern herauszugeben. ({0}) Doch wenn es ums Geld geht, dann ist nicht nur bei Herrn Waigel „Schluß mit lustig". Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß der Europäer Waigel schon einmal jede Zurückhaltung hat vermissen lassen und in begrüßenswerter Offenheit gefordert hat, die Europäische Zentralbank müsse nach Frankfurt kommen ({1}) oder es werde, so der Bundesfinanzminister unter Hinweis auf die ansonsten von ihm so bejubelte Währungsunion wörtlich, aus der ganzen Veranstaltung nichts. Das war natürlich kein massiver nationalistischer Erpressungsversuch durch ein Mitglied der Bundesregierung, sondern lediglich ein kollegialer Rat aus Bonn. Ich glaube, wir sollten uns heute nicht auf eine abstrakte Debatte über bundesdeutsche Zahlungsverpflichtungen gegenüber der EU einlassen. Wir sollten auch nicht an einigen technischen Details des Gesetzentwurfs Kritik üben oder vielleicht marginale Verbesserungsvorschläge machen. Aus Sicht der demokratischen Sozialisten und Sozialistinnen steht das Gesamtprojekt namens EU auf dem Prüfstand. Da geben wir uns nicht der Illusion hin, daß sich EU und Binnenmarkt vielleicht darin erschöpfen, daß jetzt Mozzarella billiger zu kaufen ist oder der französische Wein im Supermarkt im Sonderangebot zu haben ist. Wir fragen nüchtern und realistisch, welche Interessen mit der als EWG gegründeten EU bedient werden. Fakt ist: Aus der dynamischen Wirtschafts- und Handelsmacht, die wir schon sind, muß eine politische Großmacht hervorgehen. So definierte es der ehemalige Kommissionspräsident Delors in einem ,,Spiegel"-Interview bereits im Jahre 1991. Diese, wie es in der Diplomatensprache so verharmlosend heißt, gewachsene internationale Verantwortung hat sich nicht nur in über 100 Quasi-Botschaften der EU niedergeschlagen, sondern vor allem auch in einem explosionsartigen Anstieg der Ausgaben für die Außenpolitik: Von 1988 bis 1992 haben sich diese auf mehr als 10,4 Milliarden DM verdoppelt. Von Anfang an war die Sicherung der Rohstoffquellen und Absatzmärkte das Ziel der EWG. Der europäische Wohlstand sollte und soll noch immer auf Kosten der sogenannten Dritten Welt ausgebaut und notfalls auch mit Waffen verteidigt werden. Aus dem Haushalt der EU werden u. a. die Mittel aufgebracht, um das sogenannte Drei-Säulen-Modell der Europäischen Union zu stützen. Die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die koordinierte Innen- und Justizpolitik stehen bei der unterschiedlichen finanziellen Bedienung der drei Säulen eindeutig im Mittelpunkt. Wir lehnen dies ab, weil es hier in erster Linie um den Ausbau der Festung Europa geht. Denn hinter der in Maastricht vereinbarten verbesserten Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Polizei verbirgt sich unserer Auffassung nach nichts anderes als die Vereinheitlichung und Verbesserung der Asyl- und Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen aus Osteuropa und der sogenannten Dritten Welt. Dazu soll nicht nur die militärische Sicherung der EG-Außengrenzen beitragen, sondern vor allem das Vorhaben, einen Großteil der Flüchtlinge durch Maßnahmen wie Visumspflicht oder Grenzbeamte in den Herkunftsländern erst gar nicht an die Grenzen der EU herankommen zu lassen. Ein solches Europa verdient aus Sicht der PDS keine müde Mark. Wir lehnen es ab, für die Fortsetzung und Verbesserung der Abschottung dieses reichen Kontinents der Kolonialmächte gegenüber den von ihnen ausgebeuteten Staaten auch nur einen Pfennig zu bewilligen. ({2}) Wir lehnen es ferner ab, für die Verfolgung und Abschiebung von Flüchtlingen Haushaltsmittel bereitzustellen. Doch nicht nur aus inhaltlichen, sondern auch aus formalen Gründen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. Das Europäische Parlament spielt im Zusammenhang mit der Aufstellung und Verabschiedung des EG-Haushalts eine Rolle wie unter den Bedingungen des aufgeklärten Absolutismus. Auch von einer soliden Finanzverfassung der EU sind wir noch Lichtjahre entfernt. Es gibt noch immer kein organisiertes und gerechtes System des Finanzausgleichs zwischen den wirtschaftsstarken und wirtschaftsschwachen Mitgliedsstaaten. Das Gesamtkunstwerk namens EU hängt gewissermaßen am Subventionstropf der einzelnen Mitgliedsstaaten. Wir befinden uns in einer Phase der beschleunigten Kapitalkonzentration, die in Kombination mit niedrigen Wachstumsraten und insgesamt rückläufiger Produktion auch in den Mitgliedsstaaten der Union die Massenarbeitslosigkeit zu einem Dauerzustand werden ließ. Im Dezember 1993 soll der griechische Europaminister folgendes gesagt haben.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte mit diesem Satz schließen. Ich zitiere: Das wiedervereinigte Deutschland ist ein Riese mit bestialischer Kraft und dem Hirn eines Kindes. Ich würde mir wünschen, daß Sie den Versuch unternähmen, zu beweisen, daß in den Hirnen der Regierung und Ihrer Koalition mehr ist. Tun Sie etwas für die Schwerpunkte in Europa, für die Angleichung der Sozialstandards auf höchstem Niveau und für die Demokratisierung, damit sich dieser Kontinent tatsächlich weiterentwickeln kann! Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Kollegen Wilfried Seibel das Wort.

Wilfried Seibel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002147, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach der Verfolgung der Rede der Vorrednerin ist man zuweilen geneigt, daran zu zweifeln, daß die eigene Wahrnehmungsfähigkeit noch mit der Realität einhergeht. ({0}) Ich habe mich dafür entschieden, das zu glauben. Unsere innerstaatliche deutsche Haushaltsentwicklung ist - sie wird dies auch in den nächsten Jahren bleiben - durch Anstrengungen um Haushaltskonsolidierungen auf allen staatlichen Ebenen - beim Bund, bei den Ländern und bei den Gemeinden - gekennzeichnet. Sicherlich gibt es aktuelle Aufgaben, die gelegentlich die Ausweitung der bereitgestellten Mittel verlangen. Das Einsparpotential der öffentlichen Ausgaben ist jedoch noch längst nicht erschöpft. Das Gerede vom schlanken Staat macht die Runde; aber bis heute ist das nur ein Fummeln am Gürtel. Es ist allenfalls mal probiert worden, was passiert, wenn man den Gürtel für kurze Zeit ein Loch enger schnallt. Drei Löcher enger geschnallt haben wir ihn alle noch nicht, obwohl wir das eigentlich müßten. Die Anstrengungen um Einsparungen haben ihren Hauptgrund darin, daß wir um der Stabilität unserer D-Mark willen die staatliche Verschuldung nicht vorantreiben können. Der Staat darf nicht länger als größter Nachfrager für Darlehnsmittel auftreten. Für das aktuelle Haushaltsjahr 1995 kann der Anteil der Neuverschuldung wahrscheinlich auf einen Wert von ca. 60 Milliarden DM zurückgeführt werden. Aber es bleibt noch immer eine Verschuldung, d. h., wir geben noch immer rund 15 % mehr aus, als wir pro Jahr einnehmen. Der Haushaltsausschuß, der in diesen Tagen den Haushalt für 1995 in Einzeletats berät, ist gegenüber der Regierungsvorlage bemüht, weitere 5 Milliarden DM oder 1 % einzusparen. Sie alle wissen, mit welcher Begleitmusik das geschieht. Ganz anders verläuft die Entwicklung beim Haushalt der Europäischen Gemeinschaft. Hier hat insbesondere nach dem Vertrag von Maastricht durch die Hinzunahme neuer Aufgaben eine deutliche Ausweitung des Haushaltsvolumens stattgefunden. Zur Veranschaulichung möchte ich ausführen, woher die Eigenmittel der EU kommen oder, anders ausgedrückt, aus welchen Quellen sie fließen. Der EG-Haushalt wurde ursprünglich aus Zöllen, Agrarabschöpfungen und durch Zahlungen, die sich am Mehrwertsteueraufkommen orientierten, finanziert. Um den zusätzlichen Aufgaben durch den Beitritt weiterer Länder gerecht werden zu können, wurde der. Mehrwertsteuer-Eigenmittelplafond ab dem 1. Januar 1986 von 1 % auf 1,4 % erhöht. Nach dem sogenannten Delors-I-Paket aus dem Jahre 1987 ist der Anteil der Mehrwertsteuer-Eigenmittel zurückgefahren worden, indem als vierte Finanzierungsquelle der Gemeinschaft die am Bruttosozialprodukt bemessenen Eigenmittel eingeführt wurden. Das hat für Deutschland dazu geführt, daß sich unsere Zahlungen an die Europäische Gemeinschaft in den Jahren von 1987 bis 1994 um 21 Milliarden DM auf 42 Milliarden DM mehr als verdoppelt haben. Mit dem Delors-II-Paket und dem Beschluß des Europäischen Rates wird sich eine nochmalige Steigerung der deutschen Zahlungen für die Eigenmittel der EG ergeben. Heute zahlen wir 44 Milliarden DM. In nur fünf Jahren werden es auf Grund der heutigen Planzahlen voraussichtlich 58 Milliarden DM oder sogar mehr sein. Diese Zunahme wird im wesentlichen im Bereich der Bruttosozialprodukt-Eigenmittel stattfinden. Im Durchschnitt der letzten Jahre erhöhten sich die Transfers an den EG-Haushalt um ca. 12 % per annum. Das geht zu Lasten der Steuereinnahmen des Bundes. Die Rückflüsse steigen in erheblich geringerem Umfang. Nun darf sich die Diskussion um die Höhe der deutschen Beteiligung am Haushalt der Gemeinschaft nicht auf eine isolierte Betrachtung der Haushaltstitel beschränken. Der europäische Binnenmarkt hat in Deutschland erhebliche positive wirtschaftliche und soziale Wirkungen. Von der Ausfuhr in die EU hängt jeder vierte deutsche Arbeitsplatz ab. Die Bedeutung des Binnenmarktes für den nationalen Arbeitsmarkt und damit für den sozialen Frieden darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden. Auch im stets wichtiger werdenden Bereich der gemeinschaftlichen Außenpolitik ist Deutschland indirekter Nutznießer der Gemeinschaft. Die erreichte Gleichstellung der neuen Bundesländer mit den anderen Ziel-1-Gebieten wird in den nächsten Jahren zu Rückflüssen der europäischen Strukturförderung in Höhe von rund 28 Milliarden DM führen. 1992 betrugen die Nettozahlungen der EG an Ostdeutschland nur 1,5 Milliarden DM. Obwohl eine Gesamtbetrachtung weniger negativ ausfällt, sind Neuorientierungen unserer zukünftigen Beteiligung am Haushalt der Gemeinschaft unbedingt notwendig. Die traditionellen Eigenmittel, die derzeit rund ein Viertel der Gesamteinnahmen erbringen, werden mittelfristig sinken. Infolge der Neuregelung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel wird die Bruttosozialproduktabgabe deutlich an Gewicht gewinnen. Mit der notwendigen und von uns auch gewünschten Erweiterung der EU nach Osten werden Länder der Gemeinschaft beitreten, deren Bruttosozialprodukt auf einem sehr niedrigen Niveau liegt. Die verstärkte Ausrichtung der Eigenmittelfinanzierung an diesen volkswirtschaftlichen Kenngrößen muß für das nächste Jahrzehnt korrigiert werden. Unsere Nettozahlerposition würde sich, wenn das so bleiben würde, erheblich verstärken, und das - das muß man offen aussprechen - können wir uns nicht leisten. ({1}) Durch die Wiedervereinigung hat sich unser Bruttosozialprodukt zwar zunächst verringert, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, der kräftig im Gange ist, ist aber ein Anstieg in der Zukunft zu erwarten. Neben einer notwendigen Neuordnung wird es künftig noch mehr als bisher darauf ankommen, strikte Haushaltsdisziplin auf Gemeinschaftsebene zu üben oder einzufordern. Von erheblicher Bedeutung ist die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, d. h., es ist in jedem wesentlichen Einzelfall zu prüfen, ob eine Aufgabe überhaupt von der Gemeinschaft wahrgenommen und finanziert werden muß. Wir müssen gleichzeitig die Bemühungen intensivieren, den Rückfluß von Gemeinschaftsmitteln nach Deutschland zu verstärken. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, daß neben der Ausweitung des EG-Gesamthaushalts auch eine starke Zunahme der Darlehnstätigkeit zu verzeichnen ist. So wurden im Jahr 1994 Kredite mit einem Gesamtvolumen von mehr als 39 Milliarden DM vergeben. Hauptdarlehnsgeber ist die Europäische Investitionsbank, deren Kredite die Strukturförderung aus dem EG-Haushalt ergänzen sollen. Die Finanzdisziplin auf Gemeinschaftsebene darf nicht durch die Schaffung neuer bzw. die Ausweitung bestehender Nebenhaushalte unterlaufen werden. Direkt oder indirekt subventionierte Kredite können zudem die nationale Geldpolitik in ihrer Wirksamkeit beschränken. Unter Beachtung dieser Vorgaben sichert der vorliegende Gesetzentwurf den Haushalt der EU und damit die effektive Aufgabenerfüllung der Europäischen Gemeinschaft. Im Interesse der nationalen Staatsfinanzen und nicht zuletzt der europapolitischen Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung muß mittelfristig eine grundlegende Erneuerung des gemeinschaftlichen Finanzierungssystems erarbeitet werden. Dies ist eine Hauptaufgabe der Folgekonferenz 1996. CDU und CSU unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf, weil er unter den gegebenen Bedingungen die verabredete Politik der Europäischen Gemeinschaft finanziert und für unseren nationalen Haushalt dennoch eine, wenn auch stark steigende, berechenbare Größe bleibt. Starke Steigerungen der europäischen Ausgaben, garniert mit Pressemeldungen über Verschwendung und Betrügereien bei gleichzeitig großen Einsparungsanstrengungen im nationalen Haushalt, verlangen von uns Politikern einen Spagat, den wir auf Dauer nicht aushalten und der dem Bürger auch nicht mehr zu vermitteln ist. Deshalb müssen wir viel mehr als bisher alle Ausgaben Europas in der Phase des Entstehens stärker überprüfen, auf die sparsame Bewirtschaftung der Mittel Wert legen und, wenn nötig, auch ein Nein in Richtung Brüssel sagen. Ich bin sicher, dies wird von den anderen europäischen Staaten nicht als Kraftmeierei der Deutschen verstanden, sondern unterstützt und verstärkt die Konvergenzbemühungen aller europäischen Staaten, für die eine Erkenntnis aus der gemeinsamen Zusammenarbeit in Europa unerläßlich bleibt: Jede Politik verliert ihre Wirksamkeit, wenn es nicht gelingt, im gemeinsamen europäischen Markt auf der Basis stabiler Währungsverhältnisse gemeinsam zu wirtschaften und den Wohlstand und das Eigentum zu mehren. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete von Larcher.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich fasziniert in diesem Zusammenhang die gewollte Schizophrenie der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Na, na! Die höchste Kunst darin hat die CSU entwickelt. Wir konnten das bei dem Thema erleben, das heute vormittag anstand: Erst hat Herr Stoiber die Stimmung populistisch angeheizt und von angeblichem Mißbrauch in Ostdeutschland geredet, und dann spielt Herr Waigel, der CSU-Vorsitzende, den Staatsmann und versucht, alles herunterzuspielen. Bei diesem Thema geht es genauso zu. Erinnern Sie sich nur an den Europawahlkampf. Da durfte Herr Stoiber im Trachtenjopperl die Vorurteile gegen Europa anheizen, während der CSU-Vorsitzende, Herr Waigel, in Bonn den Staatsmann im grauen Anzug spielte. ({0}) Im Juni 1994 z. B. sprach Ministerpräsident Stoiber von einer zu hohen Nettozahlung Deutschlands an Europa. ({1}) - Moment, ich komme schon noch auf Ihr BruttoNetto-Spiel. - Er knüpfte damit an seine populistischen Äußerungen im Europawahlkampf an. Zum Beispiel sagte er am 23. November 1993: Und da haben unsere Bürgerinnen und Bürger häufig das Gefühl, daß sie mehr zur Leistung für Europa herangezogen werden als andere. Das war im Bayern-TV. In einem Interview in der ARD sagte er ({2}) - ja, auch ich wundere mich, Frau Kollegin, aber auch das passiert -: Nur, man darf nicht immer nur sagen: Deutschland profitiert alleine von Europa. Deswegen müssen wir auch mehr hineinzahlen in die europäische Kasse, als wir wieder herausbekommen. Von Europa profitieren auch die anderen Nationen. Zum Beispiel wird natürlich die Frage zu stellen sein: Können wir gleichzeitig 130 bis 150 Milliarden DM in den Finanzausgleich zugunsten der neuen Länder geben, können wir 80 Milliarden DM nach Osteuropa geben, wo wir die Hauptlast tragen, können wir auch weiterhin eine gewaltige Steigerung unserer Leistungen in die europäische Kasse machen? Im gleichen Interview sagte er weiter - es geht um die Europäische Gemeinschaft -: Und ich meine - ich kann nicht vertiefen in der Form -, daß ich immer noch mehr Geld in die europäische Kasse liefere . . ., das ist mit der deutschen Bevölkerung auf Dauer nicht zu machen. Der Finanzausschuß hat sich mit diesem Thema, was wir heute behandeln, in der Vorbereitung der Tagung in Edinburgh vielfach befaßt, z. B. am 11. März 1992, am 23. September 1992, am 29. Oktober und am 9. Dezember 1992. Wir haben im Finanzausschuß diskutiert und die Bundesregierung in bezug auf die EG-Finanzierung immer gemeinschaftlich zu einer sehr restriktiven Haltung in den Delors-II-Verhandlungen aufgefordert. Dann verhandelt die Bundesregierung und stimmt einem Abkommen zu. Geichzeitig erhebt sich wieder ein Lamento - wie gesagt, mit verteilten Rollen -: Stoiber im Trachtenjackerl, Waigel im Anzug in Bonn. ({3}) - Trotzdem macht Herr Stoiber das. Heute war es in Vertretung von Herrn Waigel der Staatssekretär. ({4}) Das war schon immer so. Deswegen war z. B. in der ,,Zeit" vom 21. Februar 1992 zu lesen: Da stimmen die Staats- und Regierungschefs in Maastricht nach langem Tauziehen einem Vertragswerk zu, dessen finanzielle Folgen jedem klar sein müssen: höhere Ausgaben für die Gemeinschaft. Das folgt aus einer gemeinsamen Außenpolitik genauso wie aus der Gründung eines Kohäsionsfonds zugunsten der weniger wohlhabenden EG-Länder. Über Sinn und Zweck beider Beschlüsse kann man lange streiten. Aber wer ihnen wie die Bundesregierung zustimmt, kann nicht den Überraschten spielen, wenn die Rechnung präsentiert wird. ({5}) Was soll also die deutsche Entrüstung darüber, daß die Brüsseler Finanzplanung für die nächsten Jahre höhere Bonner Beiträge vorsieht? In der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates können wir lesen, daß die Bundesregierung sagt, die Lastenverteilung in der Europäischen Union sei unausgewogen und problematisch. Sie sagt, es sei nicht hinnehmbar, daß 70 % des gesamten Nettoressourcentransfers Deutschland alleine trage. Man drückt das vornehmer mit der Wendung „ein Mitgliedstaat" aus. Das sei weder im Interesse der Gemeinschaft noch dem Mitgliedstaat zumutbar. Also was ist nun? Wenn es unzumutbar ist, warum legen Sie uns heute einen Gesetzentwurf zur Zustimmung vor? Sie wollen Regierung und Opposition gleichzeitig sein. ({6}) Sie schließen Abkommen und kritisieren sie gleichzeitig. Alles andere als glaubwürdige Politik, nenne ich das. Sie wollen dem Volk mit populistischen Reden gefallen, die die Vorurteile gegenüber Europa verstärken, und gleichzeitig setzen Sie die finanzielle Belastung in Europa mit fest. Stehen Sie doch zu Ihrer eigenen Politik! ({7}) In der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates wird folgender Ausweg versucht: Beschließt das Gesetz - das hören wir heute -, das zu einer Steigerung der deutschen Beiträge führt, die unser Kollege Wagner genannt hat! Wir, die Bundesregierung, werden stärker als bisher - warum haben Sie das nicht schon immer getan? - darauf achten, daß in der EU eine sparsame Haushaltsführung vorgenommen wird. Wir werden darauf achten, daß das Subsidiaritätsprinzip strikt eingehalten wird. Wir werden auch darauf achten, daß der Haushalt der Gemeinschaften nicht von den Konsolidierungsanstrengungen der Mitgliedstaaten ausgenommen werden kann usw. Künftig - man höre und staune - werden wir auf angemessene Rückflüsse nach Deutschland achten. Ganz langfristig verfolgen wir sogar eine grundsätzliche Neuordnung von Einnahmen und Ausgaben. ({8}) Also frage ich: Wie stimmt Ihr kurzfristiges Handeln mit dem Ziel überein? Das widerspricht sich doch. ({9}) Ich finde, Sie sollten entweder zu dem stehen, was Sie ausgehandelt haben, oder hier am Pult gestehen: Wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben schlecht verhandelt. Aber, bitte, beschließt das Gesetz; denn wenn ihr es ablehnt, gibt es Krach in der EU. Ich meine, es ist auch kein Ausweg, Herr Staatssekretär, wenn Sie heute Ihre Brutto-Netto-Spiele machen. Sie sollten eigentlich wissen, daß das sehr gefährlich ist.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr von Larcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seibel?

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. Aber ich bin eigentlich schon fertig.

Wilfried Seibel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002147, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege von Larcher, da Sie die Frage zugelassen haben, verlängert das Ihre Möglichkeit, etwas darzustellen. Sind Sie in der Lage, kurzfristig und vielleicht auch mittelfristig, bereit und geneigt, in die Abwägung Ihrer Argumente, die Sie gerade vorgetragen haben, einzubeziehen, daß sich dieser Mittelbeschluß Europas in einer ganz konkreten Situation in Europa vollzogen hat, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands geprägt war? Sind Sie der Auffassung, daß für den Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands die Europäische Gemeinschaft, wenn denn schon nicht materiell, doch wohl ideell einen großen Beitrag geleistet hat und daß es uns Deutschen in dieser für unser Land glücklichen Phase nicht gut ansteht, mit Groschen aufzurechnen? Diese konkrete Situation wird sich verstetigen, wird sich normalisieren. Deswegen wird es in mittelfristiger Perspektive möglich sein, die Dinge anders zu gewichten als heute.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Seibel, ich finde, eigentlich wäre eine andere Konsequenz aus Ihrer Rede richtig gewesen: Auf Grund des historischen Zusammenhangs, den Sie angesprochen haben, hätte man doch erwarten können, daß die Bundesregierung darauf aufmerksam macht, wie hoch die Belastung, die die deutsche Einheit mit sich bringt, für die Bundesrepublik sein wird. Die europäischen Partner hätten gebeten werden können, auf diese hohe Belastung Rücksicht zu nehmen. Man hätte vielleicht ein anderes Verhandlungsergebnis erzielen können. Im Finanzausschuß - Sie waren dabei - haben wir das doch gemeinsam von der Bundesregierung verlangt. Es ist nicht so, daß das zwischen uns kontrovers gewesen wäre. Wir haben das Ergebnis heute auf dem Tisch. Ich will Sie da nicht rauslassen; ({0}) denn Sie sagen, wir müssen dieses beschließen, weil es vernünftig ist und weil es zur Integration Europas beiträgt, rennen aber gleichzeitig im Land herum und schüren die Stimmung gegen Europa, reden stets vom Zahlmeister Europa. Das taten z. B. Herr Stoiber, aber auch andere Mitglieder der Regierungsparteien. Genau darum geht es mir. Dann kann man nicht sagen: Jetzt beschließen wir dieses Gesetz. Die Verhandlungen haben lange genug gedauert. Wir sind in einer ganz anderen Situation. Uns wird das Gesetz zur Zustimmung empfohlen, aber gleichzeitig wird gesagt: Was es uns bringt, das können wir eigentlich nicht tragen. Jetzt wird ein Trick angewandt, wie wir es vielleicht doch tragen können: Man sagt, es gehe gar nicht um die Erhöhung der Bruttozahlungen, sondern es gehe darum, daß wir durch den Rückfluß den Nettobetrag senken könnten. Das ist doch wirklich eine Ausrede. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Friedrich Merz das Wort.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege von Larcher, Sie haben - ich bedauere das - in diese Debatte einen, wie ich finde, unnötig scharfen Ton hineingebracht, der dem Thema nicht angemessen ist. Wenn Sie die Vorwürfe in Richtung Union machen, dann können wir sagen: Wir sind doch nun wirklich die letzten, die sich Vorwürfe machen lassen müssen, nicht aktiv für die europäische Integration einzutreten. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn von Larcher?

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, sehen Sie es nicht als Aufgabe der Opposition an, die Verantwortung da hinzuschieben, wo sie hingehört?

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr von Larcher, ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Rolle als Opposition manchmal ernster nähmen, als Sie es tun. Aber der richtige Oppositionsführer ist gar nicht da.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber wenn wir es tun, dann beklagen Sie sich.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, Herr von Larcher, es gibt auch Themen - und die Europapolitik in der Bundesrepublik Deutschland hat über vier Jahrzehnte dazugehört -, wo es eines großen Konsenses der großen Parteien in Deutschland bedarf. ({0}) Ich bedauere, daß Sie den mit Ihrer Rede heute aufgekündigt haben. Meine Damen und Herren, die Finanzbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Union gehören ohne Zweifel zu den politisch sensiblen Themen in unserem Land. Wenn der Bundesrat und der Bundestag jetzt aufgefordert sind, dem Beschluß von Edinburgh aus dem Jahre 1992 und dem Ratsbeschluß vom Oktober 1994 zuzustimmen, und wenn damit Zahlungsverpflichtungen des Bundes zugunsten des europäischen Haushaltes weiter gesteigert werden, dann erfordert dieser Schritt des Gesetzgebers ohne Zweifel eine besondere Begründung. Es ist an dieser Stelle schon darauf hingewiesen worden: Die Bruttobeiträge der Bundesrepublik Deutschland werden in den nächsten Jahren von rund 35 Milliarden DM auf etwas über 48 Milliarden DM im Jahr steigen. Insbesondere in der Bemessung unseres Finanzbeitrages nach dem Maßstab des Bruttosozialproduktes kommt ein objektiver Maßstab bei der Finanzierung des Unionshaushaltes zum Ausdruck. Wir sind mit 80 Millionen Einwohnern und der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ohne Zweifel eines der leistungsfähigsten, vielleicht das leistungsfähigste Land der Europäischen Union. Frau Kollegin Scheel, ich freue mich darüber, daß die GRÜNEN wenigstens in diesem Zusammenhang bereit sind, die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft anzuerkennen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Frage der Beitragsgerechtigkeit darf nicht nur auf der Einnahmenseite diskutiert werden. Auf der Einnahmenseite - ich bin gern bereit, dies zuzugestehen - ist der britische Beitragsrabatt ohne Zweifel ein besonderes Ärgernis. Dieses Ärgernis hätte vermieden werden können, wenn im Jahr 1988 eine Befristung dieser Sonderregelung für Großbritannien beschlossen worden wäre. Aber nach dem Haushaltsvolumen der Europäischen Union ist die Frage weit bedeutsamer, zu welchen Zwecken die Europäische Union ihre Haushaltsmittel einsetzt. Wer auf Dauer zu einer gerechten Verteilung der Ausgaben kommen will, kommt um eine grundlegende Reform der Agrarpolitik auf lange Sicht nicht herum. Wir werden sie ohnehin machen müssen, spätestens dann, wenn Staaten aus Mitteleuropa und Osteuropa beitreten. Wer heute hier steht und den Betrug beklagt, dem will ich sagen: Man müßte schon an der Intelligenz der Beteiligten zweifeln, wenn in einem solchen System der Staatswirtschaft Betrug und Mißbrauch nicht an der Tagesordnung wären. Aber, meine Damen und Herren, die Ursache für die von unseren Bürgern zu Recht als problematisch empfundene Nettozahlerposition liegt auf der Ausgabenseite und nicht auf der Einnahmenseite. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen: Es gehört schon zu den wenig wahrgenommenen Fakten, daß der Bund für die Einnahmen zuständig ist, aber die Länder in der Bundesrepublik Deutschland zu einem großen Teil von den Ausgaben der Europäischen Union profitieren, weil es Aufgaben der Länder sind, die eigentlich mit diesen Ausgaben bedacht werden. Ich will an dieser Stelle - sozusagen in Klammern - auch darauf hinweisen, daß wir nicht erwarten dürfen, daß das gesamte System der Haushaltsfinanzierung in der Europäischen Union jemals große Zustimmung finden wird, wenn wir es dabei belassen, daß der überwiegende Teil des Haushalts im Wege einer Umlage finanziert wird. Jeder Kommunalpolitiker in unserem Land weiß, daß Umlagehaushalte übergeordneter Gebietskörperschaften ein ständiges Ärgernis auf der Seite der Zahlungspflichtigen sind. Die Begünstigten finden dabei ihrerseits bei den Bürgern keine Akzeptanz, weil eine unmittelbare Beziehung zwischen den steuerpflichtigen Bürgern auf der einen und den für die Ausgaben politisch verantwortlichen Institutionen auf der anderen Seite fehlt. Wir müssen deshalb bei der Beschlußfassung über die Eigenmittelausstattung der Europäischen Union beim nächstenmal, also nach 1999, schon darüber sprechen, ob nicht eine Gemeinschaftsteuer das bessere Instrument darstellt, um Einnahmen- und Ausgabenverantwortung herzustellen. ({2}) - Nein, Herr von Larcher. Ich persönlich bin als Mitglied des Europäischen Parlaments an einem solchen Beschluß beteiligt gewesen, ({3}) an einer Vorlage, die aber sorgsam darauf bedacht ist, daß die Abgabenbelastung der Bürger in der Europäischen Union durch ein solches System nicht steigt. Ich habe Sympathie für einen solchen Vorschlag, aber er will sorgfältig begründet und in unser Steuersystem eingepaßt werden. ({4}) Entscheidend für mich, meine Damen und Herren, ist nicht, daß wir dieses Thema der Eigenmittelausstattung der Europäischen Union allein unter buchhalterischen Aspekten beurteilen. Vor dem Hintergrund der vollkommen veränderten geopolitischen Lage in Deutschland, in Europa und in der Welt müssen wir uns Rechenschaft darüber ablegen, welche Aufgaben die Europäische Union für uns alle in Zukunft wahrnehmen soll. Für mich gehört dazu an erster Stelle die dauerhafte Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa. Diesen Auftrag kann die Europäische Union aber nur erfüllen, wenn wir bereits 1996 einen weiteren mutigen Schritt hin zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unternehmen. Wir stehen heute vor der Frage, ob wir die Grundentscheidungen der Gründerjahre der Europäischen Gemeinschaften im Sinne einer vertieften Integration weiter akzeptieren und fortentwickeln oder ob wir unter der Überschrift der intergouvernementalen Zusammenarbeit in die Zeiten des Nationalismus zurückfallen. Bei aller berechtigten Kritik an Subventionsmentalität und Fehlleitung von Haushaltsmitteln in Europa sollte uns das Zustimmungsgesetz zu den Beschlüssen von Edinburgh Veranlassung geben, auf diesen existentiellen Zusammenhang unserer Europapolitik erneut hinzuweisen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Merz, das war zwar nicht Ihre erste parlamentarische Rede, aber Ihre erste Rede in diesem Hause. Dazu möchte ich Ihnen gratulieren. ({0}) Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/382 an die in der Tag esordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe in einer Sitzung der letzten Woche dem Kollegen Carstensen einen Ordnungsruf erteilt. Er hat sich bei den Betroffenen entschuldigt und mich gebeten, das dem Plenum mitzuteilen. Damit ist die Sache erledigt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 und die Zusatzpunkte 6 bis 8 auf: 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Hans Büttner ({1}), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - Drucksache 13/421 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - Drucksache 13/535 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weltsozialgipfel - Drucksache 13/539 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Wolfgang Vogt ({5}) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P. Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - Drucksache 13/556 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({6}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Abgeordnete Hans Büttner.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vom 6. bis 11. März 1995 findet in Kopenhagen der Weltsozialgipfel statt, an dem nach bisherigen Erkenntnissen über 115 Staats- und Regierungschefs teilnehmen werden - eine Veranstaltung, die allerdings in der Bundesrepublik bisher weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne ihre Beteiligung vorbereitet worden ist. Ich sage das mit großem Bedauern. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich ein Medium, die Wochenzeitung „Die Zeit", hervorheben, die die Bedeutung dieser Konferenz richtig einzuschätzen vermag. ({0}) Betrachtet man nämlich die bisher bereits erarbeiteten Papiere, den vorbereiteten Entwurf der Erklärung der Regierungschefs und auch die weitgehend abgestimmten Papiere für das Aktionsprogramm, dann kann man, glaube ich, bereits jetzt mit Fug und Recht sagen: Dieser Weltsozialgipfel bietet die Chance, nationale und internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und damit den Monetarismus als Ideologie endgültig zu Grabe zu tragen. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, statt Wohlstand, soziale Sicherheit und damit qualitatives Wachstum zu ermöglichen, hat nämlich diese Wirtschaftsideologie in den vergangenen beiden Dekaden wesentlich dazu beigetragen, daß weltweit Armut zugenommen hat, daß Arbeitslosigkeit angestiegen ist und nationale und internationale Beziehungen destabilisiert wurden. Die für die Gipfelkonferenz vorliegenden Dokumente lassen hoffen, daß die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs erkennt oder bereits erkannt hat: Wirtschaft findet weder alleine in der Wirtschaft statt, noch hat sie ausschließlich der Kapitalvermehrung zu dienen. Vielmehr ist ihre Aufgabe die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen bei weitestgehender Schonung der Umwelt. ({2}) Die Kopenhagener Konferenz bietet die Chance, Wirtschafts- und Finanzpolitik auf internationaler und nationaler Ebene dort wiederaufzunehmen, wo sie der Monetarismus unterbrochen hat, nämlich bei den Ergebnissen des Club of Rome. ({3}) Sehr verehrte Kolleginnen, sehr verehrte Kollegen, dies gilt, wenn man sich den Entwurf der Deklaration anschaut, im einzelnen bereits für die Grundsätze, die dort niedergeschrieben sind und bei denen man sich gelegentlich wundern muß, ob die Bundesregierung mit Absicht das, was sie hier als einen aktiven Beitrag für eine Politik für die Menschen mitzutragen gedenkt, der Öffentlichkeit vorenthalten will, weil es in die nationale Auseinandersetzung nicht ganz hineinpaßt. In dem Entwurf steht - ich darf das einmal kurz zitieren -: Wir als Staats- und RegieHans Büttner ({4}) rungschefs erkennen an, daß unsere Gesellschaften wesentlich mehr auf die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Menschen eingehen müssen. Ferner steht dort, daß die Regierungschefs anerkennen, daß die soziale Entwicklung ein zentraler Punkt für die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und ihrer Wünsche in der gesamten Welt ist und daß soziale Gerechtigkeit und soziale Entwicklung Voraussetzung dafür sind, daß Menschen und Gesellschaften friedlich leben können. ({5}) Manchmal hat man ja den Eindruck, die Soziallasten seien zu hoch und man könne für sie nur aufkommen, wenn genügend Mittel erwirtschaftet worden seien. Hier erklären die Regierungschefs etwas anderes. Sie sagen nämlich: Die soziale Entwicklung ist Voraussetzung dafür, daß sich die Produktivkräfte der Menschen voll entfalten können. ({6}) Sie sagen aber auch, daß das wiederum zu wirtschaftlicher Entwicklung führe, daß beides voneinander abhängig sei. Es wäre schön, wenn wir am Schluß dieser Konferenz in Kopenhagen so weit kämen, daß wir uns auch im nationalen und internationalen Bereich darüber klar sind, daß es ohne soziale Entwicklung und ohne soziale Standards keine dauerhafte wirtschaftliche Entwicklung gibt und umgekehrt. ({7}) Allerdings - und lassen Sie mich das auch deutlich sagen - sind einige Punkte noch etwas offen, sowohl was die Erklärung der Regierungschefs als auch was das Aktionsprogramm angeht. Deswegen haben wir in unserem Antrag einiges dazu aufgeführt. Ich werde die speziellen entwicklungspolitischen Teile hier nicht vorwegnehmen. Darüber werden meine Kolleginnen noch im Detail reden. Aber lassen Sie mich einige grundsätzliche Fragen aufnehmen und der Regierung mit auf den Weg geben, sich weiter so zu verhalten, wie sie das bisher, vielleicht etwas versteckt, aber, wie ich finde, gar nicht so schlecht im Zusammenspiel innerhalb der Europäischen Union getan hat. Es ist durchaus positiv, daß wir in dieser Frage gemeinsam auftreten und unsere alte Forderung nach einer einheitlichen EU-Außenpolitik und nach einer einheitlichen EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik auch realisieren. Das ist durchaus ein positiver Schritt. Man sollte allerdings auch überdenken, ob das - wie ich meine und wie auch aus dem Antrag der Koalition deutlich wird - etwas einseitige und überzogene Abheben auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker im internationalen Kontext auf die Dauer so durchgehalten werden kann. Ich sage das mil aller Vorsicht, weil ich voll zu diesem Selbstbestimmungsrecht der Völker stehe. Aber man muß wissen, daß wir das nicht als permanentes Prinzip aufrechterhalten können, wenn wir sehen, was sich im Zuge der internationalen Entwicklung hier abspielt. Wir werden es nicht durchstehen, dieses Prinzip sozusagen für alle Zeiten so hochzuhalten, wenn wir bedenken, daß das über 400 eigenständige Staaten in Afrika und wer weiß wie viele noch in Europa zum Ergebnis haben kann. Man wird also gut daran tun, hier etwas vorsichtiger vorzugehen, vielleicht in der Richtung, das Selbstbestimmungsrecht in kulturellen und ethnischen Fragen zu betonen, aber in wirtschaftlichen, sozialen und auch staatlichen Fragen doch in etwas größere Zusammenhänge einzubinden. Wir tun gut daran, da etwas vorsichtiger, statt mit ideologischem Kampfgeschrei heranzugehen. Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem Aktionsprogramm machen. Es ist ebenso wie die Erklärung der Regierungschefs nicht nur eine Aufforderung, entwicklungspolitisch für die Armen in dieser Welt etwas zu tun, sondern ein deutlicher Appell, das Auseinanderdriften der Entwicklungen zwischen arm und reich in den Staaten überall auf der Welt einzudämmen und sich klarzumachen, daß man, wenn man hier durch nationale Politiken nicht frühzeitig gegensteuert, von einem solchen Ungleichgewicht in der Entwicklung eingeholt wird. Ich möchte die Bundesregierung deswegen nachdrücklich auffordern, dem Gedanken näherzutreten - und das ist bisher noch nicht genügend geschehen -bei der Frage der Kontrolle und des Einsatzes internationaler Finanzmärkte das Problem der WindfallProfits und der Finanzspekulation stärker auch unter die Beobachtung der internationalen Organisationen zu stellen. Ich sage das deswegen, weil wir nur dann glaubhaft über die Verschuldung und Entschuldung der Länder der Dritten Welt werden reden können, wenn wir uns gleichzeitig bewußt machen, daß wir selbst durch einen Kapitaltransfer aus diesen Ländern, bedingt durch staatliche Strukturen und anderes mehr, dazu beitragen, daß Entwicklung und Investitionen dort behindert werden. Dies kann man nur beeinflussen, wenn man sich deutlicher bewußt wird, daß unsere internationalen Finanzmärkte nicht in Ordnung sind, daß man hier auch einen anderen Ansatz finden muß, Der Gedanke, der hier im Aktionsprogramm aufgenommen worden ist, sollte meines Erachtens nachdrücklich unterstützt werden. Ich halte es auch für notwendig - ich möchte die Regierung auch dabei unterstützen -, daß die Regierung dazu beiträgt, bei der Frage der Entschuldung etwas vorsichtiger zu operieren. Ich bin ein Vertreter von Entschuldung. Man kann aber nicht ernsthaft verlangen, daß unsere Steuergelder verwendet werden, um die Profite von irgendwelchen Diktatoren in irgendwelchen Ländern zu steigern. Das muß man aber dort in den Griff bekommen, wo es von uns beeinflußbar ist. Das ist die Gestaltung und Organisation der internationalen FiHans Büttner ({8}) nanzmärkte und der internationalen Finanzpolitik. Hier haben wir über Bretton Woods, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank, WTO und andere Stellen Einfluß. ({9}) Lassen Sie mich zum Schluß zwei Aspekte anführen. Der Initiator dieses Weltwirtschaftsgipfels, der frühere Präsidentenberater Chiles, Mexikos sowie Venezuelas und jetzige Botschafter Chiles bei den Vereinten Nationen, Juan Somavia, hat in einem Interview mit der „Zeit" erklärt, er hätte einen Traum, daß nämlich die Vereinten Nationen nach diesem Weltwirtschaftsgipfel und ihrer Arbeit dort einen Friedensnobelpreis erhalten könnten, und zwar nicht für den Einsatz ihrer Blauhelme, sondern weil sie es gewagt haben, nach einem Konzept menschlicher Sicherheit zu suchen. ({10}) Das ist in der Tat ein neuer Schritt in der Geschichte, national und international. Wir müssen uns darauf konzentrieren. ({11}) Die Regierungschefs haben in ihrer Erklärung festgestellt - damit will ich schließen -: Zum ersten Mal in der Geschichte auf Einladung der Vereinten Nationen versammeln wir Regierungschefs und Staatsoberhäupter uns, um die herausragende Bedeutung der sozialen Entwicklung und des menschlichen Wohlbefindens für alle anzuerkennen und diesen Zielen die höchste Bedeutung sowohl jetzt als auch im 21. Jahrhundert zu geben. Die Bundesregierung möchte ich auffordern, diese Zielsetzung in Kopenhagen nachdrücklich zu unterstützen und in ihre nationale Politik umzusetzen. Eine weltweit gültige Sozialordnung aufzubauen, dient dem Frieden allemal besser, als durch Armeen die Trümmer wegräumen zu lassen. ({12}) Hier sollte Deutschland seine neue Rolle in der Welt suchen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Wolfgang Vogt das Wort.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Büttner, ich möchte mich zunächst bei Ihnen und der SPD-Fraktion dafür bedanken, daß Sie als erste Fraktion zu diesem Thema im Deutschen Bundestag einen Antrag eingebracht haben. Wir, die CDU/CSU, hatten eigentlich vor, der Bundesregierung erst nach dem Weltsozialgipfel für ihren engagierten und konstruktiven Beitrag bei der Vorbereitung dieses Gipfels Dank zu sagen. Sie haben uns jetzt die Gelegenheit gegeben, schon vor dem Gipfel diesen Dank auszusprechen. Wir werden es nach Kopenhagen natürlich noch einmal tun. ({0}) Dieser Weltsozialgipfel Anfang März in Kopenhagen ist eine echte Premiere. Erstmals werden sich die Regierungs- und Staatschefs mit der sozialen Entwicklung der Völker und Staaten beschäftigen. Die CDU/CSU begrüßt es ausdrücklich, daß der Bundeskanzler an diesem Gipfel teilnehmen wird. Für uns ist wichtig, daß dieser Gipfel für soziale Entwicklung nicht die alten Schlachtrufe der NordSüd-Auseinandersetzung aufgreift und die Welt weiter in zwei oder drei Teile teilt. Unsere Sicht der Dinge ist es vielmehr, daß die Förderung der produktiven Beschäftigung, die Integration benachteiligter Gruppen, die Bekämpfung der Armut eine Herausforderung für alle ist und alle verpflichtet. Die Industrieländer - da stimmen wir überein -, die Entwicklungsländer und die Staaten, die sich im Übergang von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft befinden, sind gleichermaßen und gemeinsam betroffen. ({1}) Sachgerechte Antworten auf diese Probleme sind existentiell für Millionen von Menschen. Ich nehme an, daß wir heute in dieser Debatte keine großen Auseinandersetzungen haben, aber sachgerechte Antworten - ich möchte das mit Blick auf den Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen - wird nur derjenige finden, der nicht von so irrigen Behauptungen ausgeht wie der, wir hätten in der Bundesrepublik Deutschland bei der Sozialhilfe das Bedarfsdekkungsprinzip aufgegeben. So findet man nicht die sachgerechten Antworten auf Fragen, die für die Menschen existentiell sind. Deshalb sollten sich - das ist mein Wort an die sozialdemokratische Fraktion - die Staats- und Regierungschefs nicht durch Ihre Anträge verleiten lassen, in Kopenhagen institutionelle Fragen der Reform der Vereinten Nationen aufzugreifen, denn das könnte sehr leicht von den sozialen Fragen ablenken, um die es in Kopenhagen gehen muß, meine Damen und Herren. ({2}) Die Länder, die sich im Übergang von planwirtschaftlichen Systemen zu Marktwirtschaften befinden, wie die Entwicklungsländer, können ihre Probleme nicht ohne eigene Anstrengung, aber auch nicht ohne die aktive Hilfe der Industrieländer lösen. Das ist heute allen politisch Verantwortlichen klar. Der Weltgipfel ist Ausdruck der Bereitschaft, diese Probleme als globale Probleme zu begreifen und sie in gemeinsamen solidarischen Anstrengungen anzugehen. Für eine sozialstaatliche und marktwirtschaftlich orientierte Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland ist ein Weltsozialgipfel nach den vielen in erster Linie wirtschaftlich ausgerichteten Gipfelveranstaltungen der G 7 von besonderer Bedeutung. Denn Soziale Marktwirtschaft heißt für uns: WirtWolfgang Vogt ({3}) schaftliche und soziale Entwicklung sowie der Schutz der Umwelt müssen Hand in Hand gehen; wirtschaftliche und soziale Entwicklungen bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Wir wissen, daß auf internationalen Konferenzen Fortschritte nur erreicht werden, wenn möglichst viele Länder für einen Konsens gewonnen werden. Wir meinen aber auch, daß die Europäische Union, in deren Rahmen wir uns artikulieren, weiter energisch darauf bestehen muß, daß die Entwicklungsländer auch ihre eigene Verantwortung für die soziale Entwicklung akzeptieren und ihr eigenes Potential optimal ausschöpfen. Arm sein heißt nicht unfähig sein, Korruption zu bekämpfen, exzessive Militärausgaben zu verhindern und krasse Verteilungsungerechtigkeiten zu beseitigen. ({4}) Gute Regierungspraxis ist angesagt. Die Respektierung der fundamentalen Arbeitnehmerrechte, also keine Zwangsarbeit, keine Kinderarbeit, gewerkschaftliche Rechte, Tarifautonomie, sollte angemahnt und auch durchgesetzt werden. ({5}) Mit Hilfsprogrammen wie dem Kinderarbeitsprogramm der Internationalen Arbeitsorganisation, das von der Bundesregierung initiiert wurde und zu wesentlichen Teilen von ihr finanziert wird, können wir diese Politik weiter stützen. ({6}) Der Weltgipfel für soziale Entwicklung muß schließlich deutlich machen, daß überall auf der Welt die Ausbildung das größte beschäftigungspolitische Entwicklungspotential darstellt. Ohne Aus- und Fortbildung gibt es keine Innovation. Der Weg aus der aktuellen weltweiten Beschäftigungskrise führt daher nur über eine systematische und praxisnahe Ausbildung. Deshalb ist Bildung neben der Bekämpfung der Armut und dem Schutz der Umwelt ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungspolitik, und dies völlig zu Recht. Meine Damen und Herren, wir mahnen die Respektierung der Menschenrechte mit Nachdruck an. Die Europäische Union muß auf der universellen Geltung der Menschenrechte auch bei der Gestaltung der sozialen Entwicklung beharren. Es ist abwegig zu meinen, demokratische Rechte und rechtsstaatliche Verfahren würden eine schnelle Entwicklung behindern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ohne ein solides demokratisches Fundament, ohne wirtschaftliche Freiheit, ohne gewerkschaftliche Rechte und ohne ein Stück soziale Gerechtigkeit gibt es keinen wirtschaftlichen Fortschritt, der zu Wohlstand und zugleich zu sozialer Sicherheit führt. Die CDU/CSU erwartet, daß der Weltgipfel für soziale Entwicklung Zeichen praktischer Solidarität setzt. Ich hoffe, daß die Bundesregierung alsbald nach der Konferenz dem Deutschen Bundestag von einer guten Gipfelkonferenz in Kopenhagen berichten kann. Vielen Dank. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun die Abgeordnete Angelika Köster-Loßack.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende dieses von Völkermord, Weltkriegen, Hungersnöten, Vertreibungen und weltweiten Umweltzerstörungen gekennzeichneten Jahrhunderts steht zum ersten Mal die soziale Frage auf der Tagesordnung einer UNO-Konferenz. Viele Hoffnungen knüpfen sich an die vor dem Gipfel in Kopenhagen gegebenen Versprechungen, den sozialen Fragen den gleichen Stellenwert einzuräumen wie bisher den wirtschaftlichen. Betrachten wir die berechtigten Forderungen nach gerechter Einkommensverteilung, nach selbstbestimmten Lebensentwürfen und nach einer den Menschen dienenden Entwicklung, so müssen wir feststellen, daß gewaltige Anstrengungen notwendig sein werden, um auch nur die ersten Schritte auf diesem Weg zu gehen. Leider ist zu befürchten, daß sich der Gipfel in Kopenhagen einreihen wird in die Serie von Gipfeln, die außer folgenlosen Absichtserklärungen nichts bringen. Wir wünschen uns daher, heute von der Bundesregierung zu hören, welche konkreten Maßnahmen sie ergreifen will, um die in Kopenhagen formulierten Ziele zu verwirklichen. Während die Regierung ständig die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer betont, stellt sie das Wohlstandsmodell der Industriegesellschaft nicht in Frage. Wir aber wissen längst, daß die globalen Krisen von den von den Industrieländern in einem langen historischen Prozeß geschaffenen internationalen Strukturen mitverursacht werden. Klimaveränderungen, die viele Regionen in der Welt versteppen lassen, ungerechte Weltmarktstrukturen, die den Entwicklungsländern keine faire Chance geben, am internationalen Handel teilzunehmen, Rüstungsexporte, von denen nur die Lieferländer profitieren, sind die Hauptursachen von Unterentwicklung, Verarmung und von weltweiten Migrationsprozessen. Dazu schweigt die Bundesregierung. Sie schweigt auch dazu, daß das propagierte Wohlstandsmodell „Bundesrepublik Deutschland" auch national immer mehr in Frage gestellt wird. Neben der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zerbröckelt in diesen Zeiten zunehmender Armut der soziale Konsens und damit die Grundlage der zivilen Gesellschaft auch bei uns. Die Angst vor dem Verlust des Erwerbsarbeitsplatzes und die kulturelle und psychische Verunsicherung nach dem Ende der überschaubar in Blöcke geteilten Welt führen zu einem Wiederaufleben längst totgesagter Herrenmenschenideologien. Für den Zerfall sozialer Sicherheiten und politischer Gewißheiten werden auch bei uns wieder Sündenböcke gesucht und verantwortlich gemacht. In Deutschland und in den meisten Ländern Europas sind dies Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie auch ethnische Minderheiten, wie z. B. die Roma, die schon seit Jahrhunderten in unserer Mitte leben. Von den Industrieländern werden heute trotz aller Beteuerungen, sich intensiv um die Entwicklung aller Länder zu kümmern, ganze Länder und ein ganzer Kontinent als hoffnungslose Fälle abgeschrieben. Vor allem trifft dies die afrikanischen Bürgerkriegsländer. Während privates Kapital immer stärker in nur wenige Länder des Südens fließt, vor allem nach Asien und hier speziell in die Volksrepublik China, verlieren besonders die Länder Schwarzafrikas immer mehr an Beachtung. Private Investitionen werden dort kaum getätigt. Auch bei der Entwicklungshilfe werden sie immer stärker vernachlässigt. ({0}) Ihnen wird so jede Chance einer eigenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung genommen. Es müssen endlich wirksame Maßnahmen zur Entschuldung der ärmsten Staaten umgesetzt werden. Dazu gehört nicht nur die Streichung der bilateralen Schuldenverpflichtungen gegenüber der Bundesrepublik, sondern auch der Einsatz der Bundesregierung, damit diesen Ländern auch die Schulden bei den multilateralen Institutionen wie Weltbank und Weltwährungsfonds erlassen oder zumindest deutlich reduziert werden. Dazu müssen die internationalen Institutionen demokratisiert und transparent gemacht werden, sie müssen der Öffentlichkeit und dem Parlament gegenüber Rechenschaft ablegen. Wenn soziale Gerechtigkeit in und zwischen den Nationen die Voraussetzung für Frieden und Sicherheit ist, wie dies in der geplanten Schlußerklärung von Kopenhagen vorgegeben ist, müssen wir auch in der Außen-, der Außenwirtschafts-, der Entwicklungs- und der Kulturpolitik die soziale Frage vorrangig behandeln. ({1}) Grundlegendes Umdenken ist notwendig, wenn auf nationaler und internationaler Ebene der Zugang zu Ressourcen, Beschäftigung und sozialer Sicherheit, zur Anerkennung individueller und kultureller Integrität gewährleistet werden soll. Besonders Frauen und Kindern wird die Befriedigung ihrer sozialen Grundbedürfnisse verweigert. Ihre Bürger- und Menschenrechte werden weltweit in besonderer Weise beschnitten. Die Kainsmale des kolonialen Erbes müssen auf allen Seiten erkannt und überwunden werden. Patriarchale Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft schreiben traditionelle Unterwerfungsmuster fort. Sie eröffnen keine Alternativen zur langfristigen Entwicklung von Lebenschancen für die sozial ausgegrenzten Menschen in den Ländern des Südens, aber auch des Nordens. Internationale Organisationen kritisieren zu Recht die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Grundbedürfnisbefriedigung für arme Bevölkerungsschichten. Der Anteil des Entwicklungshaushalts der Bundesrepublik Deutschland, der für die Prioritäten menschlicher Entwicklung wie Grundbildung, Basisgesundheitsdienste, Frischwasser- und Sanitäreinrichtungen ausgegeben wird, beträgt nach UNICEF- und OECD-Angaben etwa 5 % im Vergleich zu 23 % bei Neuseeland, 15 % bei Schweden und 13 % bei Norwegen. ({2}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt deshalb die 20/20-Initiative, die Deutschland dazu verpflichten würde, 20 % seiner Entwicklungsausgaben für die soziale Grundversorgung bereitzustellen. Weil dies von den Entwicklungsländern zum Teil eine massive Umstrukturierung ihrer Ausgaben erfordern würde, sollte diese sinnvolle Zusammenarbeit mit den Ländern aufgenommen werden, die dies freiwillig tun wollen. ({3}) Statt dessen hat die Bundesregierung beim 20/20-Konzept ein .Junktim verfügt. Sie stimmt dem Konzept nur dann zu, wenn dies auch alle Entwicklungsländer machen. Dies wird dazu führen, daß auf diesem Gebiet wieder nichts passiert, obwohl dieses Konzept nur eine Umschichtung der Entwicklungshilfegelder und keine Erhöhung beinhaltet. Im Gegensatz zu allen vollmundigen Erklärungen ist der Anteil am Bruttosozialprodukt, der für die Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik ausgegeben wird, stetig gesunken. Er betrug 1993 nur noch 0,36 % des Bruttosozialprodukts und wird bei einem für 1995 prognostizierten Wirtschaftswachstum um 5 % nominal voraussichtlich weiter sinken. Dies sind Angaben der Bundesregierung selbst. ({4}) Für die Finanzierung der sozialen Grundsicherung wären aber nach jüngsten Berechnungen des United Nations Development Program, des United Nations Population Fund und von UNICEF etwa 30 bis 40 Milliarden US-Dollar notwendig. Hier stellt sich die Frage, wie das finanziert werden soll. Angesichts der Kürzungen im Haushalt 1995 und der beschlossenen Kürzungen bei der multilateralen Entwicklungshilfe im Rahmen des Europäischen Entwicklungsfonds frage ich die Bundesregierung, wie denn die von ihr ratifizierten internationalen Abkommen unter diesen Umständen umgesetzt werden sollen. Wir fordern erstens eine Unterstützung der 20/20-Initiative auf Basis konkreter Vereinbarungen mit den Staaten, die dies wünschen, zweitens weitreichende bilaterale und multilaterale Entschuldungsmaßnahmen über die bisherigen Maßnahmen hinaus, drittens, das 0,7-Prozent-Ziel - also den Anteil von 0,7 % des Sozialprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben -, das Bundeskanzler Kohl noch in Rio verkündet hat, bis zum Jahre 2000 schrittweise zu verwirklichen. Über die Finanzierungsfrage hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, in der Entwicklungszusammenarbeit zukünftig vorrangig die Weiterentwicklung bestehender oder die Einführung neuer Systeme der sozialen Sicherheit zu fördern. ({5}) Demokratisierungsprozesse sind die Grundlage für wirksame, selbsttragende soziale Entwicklung. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Stärkung der Zivilgesellschaft in allen Partnerländern mit Mitteln der Demokratisierungshilfe zu unterstützen. ({6}) Vor allem die Nichtregierungsorganisationen in den Entwicklungsländern bedürfen einer weit stärkeren Unterstützung als bisher. Aber noch nicht einmal im eigenen Land orientiert sich die Bundesregierung bisher an diesem Postulat. Zur Vorbereitung des Weltsozialgipfels hat die Regierung kein nationales Vorbereitungskomitee unter Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen berufen, wie es von den Vereinten Nationen vorgeschlagen wurde. Das ist beschämend kurzsichtig. Wir fordern die Bundesregierung auf, jährlich einen Bericht über die Maßnahmen zu veröffentlichen, die die in Kopenhagen gesetzten Ziele umsetzen sollen. Die sozialen Entwicklungen in Nord und Süd sind untrennbar miteinander verbunden. Die Zerstörung traditioneller sozialer Netze und menschlicher Solidarität - auch in unserem Land - muß aufgehalten werden, um dem Ansteigen nationaler und internationaler Konfliktpotentiale entgegenzuwirken. In vielen Ländern ist es leider schon zu spät, wie wir das in den letzten Monaten und Jahren miterleben mußten. Aber solange die politisch Verantwortlichen sich der Verpflichtung zum Handeln entziehen, ist die Würde des Menschen antastbar. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau KösterLoßack, wenn ich das richtig sehe, war das Ihre erste Rede in diesem Haus. Dazu möchte ich Ihnen herzlich gratulieren. ({0}) Zu einer Kurzintervention zu der Rede von Herrn Vogt erteile ich dem Kollegen Büttner das Wort.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Vogt, Ihre Ausführungen habe ich mit Interesse zur Kenntnis genommen, auch Ihre Ausführungen zur Bewahrung der Menschenrechte; das unterstreiche ich schon. Aber hielten Sie es nicht für sinnvoll und notwendig, daß wir an dieser Stelle gemeinsam die Bundesregierung auffordern, nicht länger die Forderung, die auch aus den Ländern der Dritten Welt kommt und die meines Erachtens auch gerecht ist, abzulehnen, das Recht auf Entwicklung und Teilhabe an wirtschaftlichen Prozessen gleichberechtigt neben die Menschenrechte zu stellen? Ich glaube, man kann beides nicht voneinander trennen, Bisher ist nach den mir vorliegenden Informationen aus den diversen Vorbereitungsgesprächen bekannt, daß die Bundesregierung diese Forderung, eine Alternativlösung zu Punkt 15b des Aktionsprogramms, ablehnt. Ich würde es begrüßen, wenn Sie das mit unterstützten und wir das gemeinsam der Bundesregierung mit auf den Weg geben könnten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Vogt, Sie können darauf antworten. Bitte.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Büttner, ich glaube, daß das Recht jeder einzelnen Person auf Entwicklung unbestritten ist. Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob Kollektive gegenüber anderen Kollektiven das Recht auf Entwicklung einfordern können. Sie wissen, es ist - wenn ich mich recht erinnere - auf der Wiener Menschenrechtskonferenz die Position bekräftigt worden: Recht auf Entwicklung der Person, aber kein Anspruch von Kollektiven auf Entwicklung. Das ist die Position, die wir weiter einnehmen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun der Kollege Roland Kohn.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Man schätzt, daß in jedem Jahr mehr als 15 Millionen Menschen auf der Erde Hungers sterben. Mehr als eine Milliarde Menschen leben laut UNO in bitterer Armut. 120 Millionen sind als arbeitslos registriert, und rund 750 Millionen Menschen haben keinen festen Arbeitsplatz. Millionen sind auf der Flucht vor Hunger, Umweltzerstörung, Bürgerkrieg und Krieg. Diese nackten Zahlen beschreiben die Wirklichkeit zwar ziemlich exakt, aber nicht anschaulich; denn hinter jeder einzelnen dieser Zahlen steht ein Mensch mit seinen Hoffnungen und Träumen, mit seinen Sorgen und Nöten, mit seinen Gefühlen, seinem Glauben und seinem Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben. Für ihn sind diese Zahlen keine statistischen Größen. Für ihn sind Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit bitter erlittene Realität. Am schlimmsten ist die Hoffnungslosigkeit, sich je durch eigene Anstrengungen aus dieser Lage zu befreien. Es folgt die Resignation, dann das apathische SichDreinschicken. Für die allermeisten unserer Mitbürger hier in Deutschland ist diese Lage einfach unvorstellbar. Deshalb haben auch viele Schwierigkeiten damit, zu verstehen, daß es Länder gibt, die mit solchen Situationen völlig überfordert sind und einfach nicht in der Lage sind, allein und aus eigener Kraft mit solchen dramatischen Situationen fertig zu werden. Auch in unserem Lande gibt es ungelöste soziale Probleme, die wir angehen müssen. Aber wir sollten angesichts dessen, was in vielen Ländern auf dieser Welt erschreckende Wirklichkeit ist, dabei bitte nicht den rechten Maßstab verlieren. Vor diesem Hintergrund sehe ich den Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen als eine Chance, über diese Probleme zu sprechen und gemeinsam mit den betroffenen Ländern Lösungsansätze zu erarbeiten. Industrieländer und Entwicklungsländer müssen sich gemeinsam Gedanken darüber machen, auf welchen Wegen und mit welchen Instrumenten das Ziel, also die Bekämpfung der Armut, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Förderung der sozialen Integration benachteiligter Gruppen, erreicht werden kann. ({0}) Nun kann man trefflich darüber streiten, was Großkonferenzen dieser Art letzten Endes bewirken. Ohne Zweifel ist hier ein gewisses Maß an Skepsis angebracht. ({1}) Aber ich sage: Wenn eine solche Konferenz dazu führt, daß Verantwortliche nachdenklich werden, daß Einsichten wachsen und daß sich schließlich da und dort auf der Welt die Lebenschancen von Menschen ein klein wenig verbessern, dann bezeichne ich eine solche Konferenz bereits als einen Erfolg. ({2}) Ich denke, dieser Gipfel sollte nicht damit enden, daß über ein ganzes Bündel von Lösungen diskutiert worden ist und schließlich vollmundig große Absichten verkündet werden. Vielmehr sollte er sich als Beginn eines Prozesses verstehen, in dessen Verlauf realistische und praktikable Vorschläge dafür erarbeitet werden, wie die für die Erreichung der genannten Ziele notwendigen inneren Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern geschaffen werden können, die es diesen Staaten dann ermöglichen, die Lebensbedingungen ihrer Menschen erträglicher zu gestalten. Ich möchte heute auf einige wenige Aspekte hinweisen, die aus der Sicht der Liberalen auf dem Weltgipfel für soziale Entwicklung eine besondere Rolle spielen sollten: Erstens. Ein politisch brisantes Thema wird auch auf diesem Gipfel die Frage nach der Eigenverantwortung der Entwicklungsländer sein. ({3}) Es kann einfach nicht so sein, daß sich Entwicklungsländer hinter der zweifellos bestehenden Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft verstecken. Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, daß sie zunächst einmal selbst in der Pflicht sind, eigene Anstrengungen zu unternehmen, um die Lebensbedingungen ihrer Bürger zu verbessern. Ich werde nicht müde werden, diese Verantwortung der Eliten in den Entwicklungsländern immer wieder anzumahnen. ({4}) In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf das 20/20-Konzept eingehen, das im Vorfeld von Kopenhagen eine Rolle gespielt hat. Ich muß das unseren Zuhörern kurz erklären: Nach diesem Konzept sollen sich die Entwicklungsländer verpflichten, 20 % ihrer Staatsausgaben für menschlich prioritäre Bereiche aufzuwenden. Hierzu zählen in erster Linie: Förderung der Allgemeinbildung, Gesundheitsfürsorge, Ernährung, Wasserversorgung, Verbesserung der Familienplanung usw. Im Gegenzug sollen sich dann die Geberländer verpflichten, 20 % ihrer Hilfeleistungen ebenfalls für solche Zwecke zur Verfügung zu stellen. Ich will nicht verhehlen, daß mir solch rein quantitative Ansätze Bauchschmerzen bereiten. Es kann nicht allein auf die Höhe staatlicher Ausgaben für soziale Bereiche in Relation zu anderen Aufgaben ankommen. Entscheidend ist doch die Sinnhaftigkeit des Konzeptes für solche Ausgaben, ob also die Gelder tatsächlich bei den bedürftigen Menschen ankommen und eine langfristig positive Entwicklung ermöglichen. ({5}) Ich bin trotzdem bereit, über ein solches Konzept zu diskutieren, wenn man damit bewirken kann, daß auch die Entwicklungsländer selbst ihrer Verantwortung nachkommen und eigene Anstrengungen zur Förderung der sozialen Entwicklung unternehmen. Zweitens. Absolut nicht hinnehmbar ist es, daß es Staaten gibt, die einen Teil ihrer Ressourcen, die dringend für den Aufbau menschenwürdiger gesellschaftlicher Strukturen gebraucht würden, für machtgeilen Rüstungswahnsinn verschwenden. ({6}) Ich bleibe dabei: Staaten, die Gelder für ein eigenes ABC-Waffenprogramm ausgehen oder sich auf andere Weise solche Waffen zu beschaffen versuchen, dürfen keinen Pfennig deutsche Entwicklungshilfe bekommen. ({7}) Drittens. Ich begrüße ausdrücklich, daß in dem Antrag der Koalitionsfraktionen das Prinzip der UnteilRoland Kohn barkeit der Menschenrechte als eine unabdingbare Voraussetzung für die soziale Entwicklung der Völker und Staaten eine solch starke Berücksichtigung gefunden hat. Wir dürfen nicht zulassen, daß es unter Hinweis auf kulturelle und historische Gegebenheiten zu einer Abkehr von diesem Prinzip der Unteilbarkeit kommt. ({8}) Eine kulturelle Relativierung der Menschenrechte werden wir Liberalen auf keinen Fall akzeptieren. ({9}) Viertens. Für mich steht die Notwendigkeit im Vordergrund, stabile institutionelle Rahmenbedingungen für die Errichtung sozialer Sicherungssysteme zu schaffen. Hierbei kann es natürlich nicht darum gehen, soziale Systeme, wie sie sich bei uns in den westlichen Industriestaaten herausgebildet haben, einfach in die Entwicklungsländer zu exportieren; dies um so weniger, da endlich bei uns selbst die Diskussion über den notwendigen Umbau unserer eigenen Sozialsysteme in Gang gekommen ist, um sie zukunftsfest zu machen. Es ist vielmehr notwendig, die Entwicklungsländer zu beraten und ihnen Hilfestellungen anzubieten, wie Grundstrukturen solcher Systeme unter den in ihrem Land jeweils herrschenden Bedingungen aufgebaut werden können. Auch hier sind wiederum die Eliten in den Entwicklungsländern gefordert, sich Gedanken über die Möglichkeiten solcher sozialen Sicherungssysteme zu machen. Mir scheint, dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß ökonomische, soziale und politische Stabilität mit den entsprechend positiven Folgen auch für die Begrenzung des Bevölkerungswachstums geschaffen werden kann. Lassen Sie mich auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Es muß gelingen, leistungsfähige und leistungsbereite Mittelschichten in den Entwicklungsländern hervorzubringen. ({10}) Wir müssen nämlich wissen, daß solche Mittelschichten eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg, für gesellschaftlichen Fortschritt und für politische Stabilität sind. Soziale Marktwirtschaft, offene Gesellschaft, Demokratie, Rechtsstaat bedürfen solcher Mittelschichten, denn sonst funktionierten solche Konzepte nicht. Fünftens. Es wird niemanden überraschen, daß sich ein Liberaler vehement für Marktwirtschaft in sozialer Verantwortung einsetzt. Richtige ordnungspolitische Entscheidungen setzen erst die marktwirtschaftlichen Kräfte frei. Erst auf diesem Wege verdient eine Gesellschaft das Geld, um den wirklich Bedürftigen zu helfen und tragfähige soziale Strukturen aufzubauen. Ich bekenne mich dazu: In einer Volkswirtschaft muß erst erwirtschaftet werden, was dann den Armen zugute kommen soll. ({11}) Ich möchte auch noch ein Wort zu dem nicht einfachen Thema des sogenannten Sozialdumping sagen. Selbstverständlich gibt es Bedingungen, die unter keinen Umständen akzeptiert werden können, wie Zwangsarbeit, wie Ausbeutung von Kindern als extrem billige Arbeitskräfte. Dagegen muß mit aller Kraft vorgegangen werden. Ich kann mich allerdings manchmal nicht des Eindrucks erwehren, daß es bei uns Interessenvertreter gibt, die solche Probleme mißbrauchen, um unerwünschte Konkurrenz vom heimischen Markt fernzuhalten. ({12}) Also: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen müssen bekämpft werden, aber niedrigere Arbeitskosten als Wettbewerbsargument müssen möglich bleiben. Andernfalls zerstören wir einen der wenigen Wettbewerbsvorteile von Entwicklungsländern. ({13}) Wichtig ist meiner Fraktion vor allem die Forderung, daß möglichst viele Staaten den Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sowie über die Rechte des Kindes beitreten. Unser Außenminister Klaus Kinkel hat im Zusammenhang mit der Ratifizierung des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedeten Übereinkommens über die Rechte des Kindes gesagt - ich zitiere -: „Kinder sind kleine Menschen, die große Rechte brauchen." Deshalb trete ich und tritt meine Fraktion für die Ächtung von Kinderarbeit ein, die ja eher einer Form von Sklaverei gleichkommt. ({14}) Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, den Deutschen Bundestag nach Abschluß des Weltgipfels für soziale Entwicklung in Kopenhagen zeitnah über dessen Ergebnisse und Beschlüsse zu unterrichten. Dann wollen wir gemeinsam überlegen, welche Konsequenzen sich daraus für unsere zukünftige Politik ergeben. ({15}) Die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten wird sich an diesen Beratungen aktiv und engagiert beteiligen. Vielen Dank. ({16})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Wolf, da Sie ohnehin als nächster das Wort haben, erübrigt sich Ihre Frage. Sie können das, was Sie fragen möchten, innerhalb Ihrer Rede äußern. Sie haben das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Am 14. Februar 1995 hat die Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, die Kollegin Ulrike Mascher, einen Brief an die Frau Präsidentin Rita Süssmuth gerichtet. Sie hatte damit eine im Grunde unangenehme Aufgabe wahrzunehmen, die sie jedoch mit einer gewissen Grandezza bewältigt hat. In diesem Ausschuß war erst Anfang 1995 entdeckt worden, daß der Weltsozialgipfel auch etwas mit diesem Ausschuß zu tun haben könnte. Weltsozialgipfel - das müßte als „ein Treffen auf Weltebene, um über soziale Ordnungen, Unordnungen und Verwerfungen zu debattieren" übersetzt werden. Diese Definition läßt es bereits erstaunlich erscheinen, daß in diesem Bundestagsausschuß erst so spät der begründete Verdacht aufkam, daß hiermit auch die eigene Hausnummer angesprochen sein könnte. Nun ließe sich in Kopenhagen mit Schillers Wallenstein sagen: Spät kämmt Ihr - Doch Ihr kömmt! Aber der Inhalt des Briefs hat einen anderen Charakter. Dort heißt es: Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, in dessen fachlichen Zuständigkeitsbereich dieser Gipfel fällt, hatte zunächst überlegt, mit einer Delegation des Ausschusses an dieser Veranstaltung - in Kopenhagen teilzunehmen. Aus terminlichen Gründen war es nicht möglich, eine Delegation des Ausschusses zu bilden. Allerdings beabsichtigt das Mitglied des Ausschusses, die Kollegin Petra Bläss, nach Kopenhagen zu reisen. Ich bitte Sie, die Dienstreise der Kollegin Bläss zu genehmigen. ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Gesamtumstände - unzureichende Vorbereitung, mangelnde Präsenz, Nichtbildung einer nationalen Vorbereitungsgruppe unter Einschluß der Nichtregierungsorganisationen und hektische Aktivitäten um fünf vor zwölf - läßt sich fragen: Mangelt es der Regierungskoalition an der erforderlichen Ernsthaftigkeit, diesen Weltsozialgipfel umfassend zu würdigen? - Das ist keine billige Polemik.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Selbstverständlich.

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß der Weltsozialgipfel in Kopenhagen vom 6. bis zum 12. März stattfindet? Und ist Ihnen bekannt, daß das eine Sitzungswoche des Deutschen Bundestages ist und es deshalb für Kollegen schwierig ist, zu diesem Zeitpunkt in Kopenhagen zu sein?

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Genau dies, werter Kollege von der CDU, könnte ein Beispiel für langfristige Planung sein. Die Tagung des Weltsozialgipfels ist, soweit ich weiß, vor einem Dreivierteljahr auf diesen Zeitraum festgelegt worden. Wenn danach für denselben Zeitraum eine Sitzungswoche angesetzt worden ist, heißt das, daß man die frühere Planung nicht berücksichtigt und dem Gipfel damit nicht die entsprechende Bedeutung zugemessen hat. ({0}) Lesen Sie bitte das, was die Bundesregierung in Vorbereitung dieses Gipfels als „Nationalen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland" vorgelegt hat! Darin, Herr Kollege Pinger, heißt es u. a.: In der Sozialhilfe wird es - in der Bundesrepublik Deutschland ... vor allen Dingen auf strukturelle Änderungen ankommen, mit denen Fehlentwicklungen korrigiert werden können. In der Notwendigkeit der Ausgabenbegrenzung sollte auch eine Chance zu sozialgerechtem Umbau gesehen werden. So der Text der Bundesregierung zum Weltsozialgipfel in Kopenhagen. Das zweite Zitat aus demselben Text: Im Laufe der Jahre konnte - in Deutschland - die gesellschaftliche Stellung der Frau insbesondere durch ihre eigene Erwerbstätigkeit verbessert werden. Solche Feststellungen sind überheblich, unzutreffend und zynisch. Damit wird den Vertreterinnen und Vertretern der Dritten Welt angedeutet: Unser Haus ist in Ordnung; nehmt euch dieses als Beispiel! Just dies ist die Unwahrheit. Zunächst: Wir, die Erste Welt, produzierten nicht nur seit Jahrhunderten die Gegenwart der Verelendung und Verarmung der Dritten Welt, sondern wir tun dies heute weiterhin. Ein Beispiel: Jährlich schweben in Thailand rund 250 000 Deutsche als Touristen ein, 70 % davon sind Männer. Laut Schätzungen des Bonner Familienministeriums muß davon ausgegangen werden, daß davon wiederum 70 oder rund 100 000 Männer pro Jahr als Sextouristen ins Land kommen; Sex mit Kindern inklusive. Thailand ist nur ein Beispiel und nur eine Form von vielen dieser Art von Weltsozialunordnung. Doch auch unser Haus, der Sozialstandort Deutschland, ist von wenig sozialer Ordnung geprägt. Ich zitiere: Etwa 150 000 Obdachlose leben zur Zeit in Deutschland auf der Straße. Weitere 800 000 Menschen in Notunterkünften . Die hohe und immer noch steigende Zahl der Sozialhilfeempfänger ist ... ein Indiz für ... die Zunahme von Armut im strengen Sinn. Ich bringe damit die Kirche in das Hohe Haus; es handelt sich um Auszüge aus dem Text der evangelischen und der katholischen Kirche, veröffentlicht direkt nach der jüngsten Bundestagswahl. ({1}) - Eine solide katholische Ausbildung habe auch ich erfahren. Wie, so ist zu fragen, kann die Bundesregierung von einer „verbesserten gesellschaftlichen Stellung der Frau" sprechen angesichts der Tatsache, daß in den neuen Bundesländern ehemals 90 % der Frauen berufstätig waren, es heute nur noch 39 % sind und die Erwerbslosenquote der Frauen doppelt so hoch ist wie die der Männer? Ein Zitat aus dem jüngsten „Hessischen Frauenreport": ({2}) Im Jahr 1992 gab es im Bundesland Hessen 375 000 Ein-Personen-Haushalte, die mit weniger als 1 800 DM im Monat auskommen mußten. Die große Mehrheit von ihnen - 72 % - haben einen weiblichen Haushaltsvorstand. Das will sagen: Erstens gibt es Armut in Deutschland; zweitens nimmt diese zu; drittens betrifft ein Großteil dieser Armut Frauen. Zu ergänzen wäre viertens: All dies findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die Besserverdienenden zunehmend besser verdienen und relativ immer weniger an Steuerleistung erbringen. ({3}) So hat, Herr Kollege Kohn, die Oberfinanzdirektion Freiburg vor kurzem festgestellt, daß allein im Zeitraum 1990 bis 1993 dem Staat mehr als 100 Milliarden DM Steuerverluste auf Grund des Transfers großer Vermögen nach Luxemburg entstanden. Fürwahr, bei der Vorbereitung auf den Gipfel in Kopenhagen sind seitens der Bundesregierung überhebliche Töne gegenüber dem Rest der Welt nicht angebracht.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Dr. Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Frederick Schulze?

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Selbstverständlich.

Frederick Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, kann es sein, daß Sie noch nicht mitgekriegt haben, daß der frühkapitalistische Klassenkampf eigentlich vorbei ist? Predigen Sie ihn immer noch? ({0})

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Werter Kollege, ich habe in meiner ersten Bundestagsrede gesagt, daß es meiner Ansicht nach gute Gründe dafür gibt, daß die Systeme im Osten, die ich niemals als sozialistisch bezeichnet habe, zusammengebrochen sind und daß der Kapitalismus übriggeblieben ist. Ich stelle aber fest, daß es gerade in der Zeit seit der Wende 1989/90 tatsächlich neue und in stärkerem Maß manchesterkapitalismusartige Züge in diese unsere Gesellschaft Einkehr halten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Gipfel ernst zu nehmen hieße, daß die Bundesrepublik Deutschland zumindest diejenigen internationalen Konventionen ratifiziert, die zu unterzeichnen sie sich bisher weigert, wie es die GRÜNEN in ihrem Antrag sehr detailliert aufgezeigt haben, Konventionen, Herr Kohn, die gerade den Schutz von Kindern betreffen und bei denen die Bundesrepublik Deutschland nicht bereit ist, sie in nationales Recht umzusetzen. Es hieße, zu akzeptieren, daß den Nichtregierungsorganisationen auf diesem Gipfel eine entscheidende Rolle zukommt und diese als gesellschaftliche Gegenstruktur anerkannt werden, damit der Gipfel nicht zu dem verkommt, was die stellvertretende DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer befürchtet: ein Akklamationsorgan der Reichen und Satten. Diesen Gipfel ernst zu nehmen hieße, sich jetzt noch einen Ruck zu geben und den Anteil der Entwicklungshilfe am neuen Bundeshaushalt auf die tausendfach versprochenen 0,7 % des Bruttosozialprodukts anzuheben und ihn damit zugegebenermaßen mehr als zu verdoppeln und zugleich die Entwicklungshilfe derart umzustrukturieren, daß darin die geforderten 20 % für die „human priorities", die Herr Kohn richtig charakterisiert hat, enthalten sind. Den Weltsozialgipfel in Kopenhagen ernst nehmen heißt schließlich, einen nationalen Maßnahmenkatalog zur Umsetzung der Forderungen dieses Gipfels festzulegen, der mindestens zwei Prämissen haben sollte: Erstens. Es müßte eine volle Kontroll- und Überwachungskompetenz unter Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen bei der Umsetzung dieser Maßnahmen geben. Zweitens. Es darf nicht die bisher praktizierte Rollenzuschiebung an die Nichtregierungsorganisationen geben, die aktuell nur darauf hinausläuft, daß mit diesen die Lücken in der nationalen Sozial- und Entwicklungspolitik übertüncht werden. Doch - zum Schluß - sind in dieser Richtung seitens der Bundesregierung keine Schritte, nicht einmal Gesten erkennbar. Gestern informierte uns, die Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Minister Spranger darüber, daß im Rahmen der Haushaltsberatungen der Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit ein weiteres Mal gekürzt worden ist. Das ist exakt entgegengesetzt der Geste, die wir und die Initiatoren des Weltsozialgipfels in Kopenhagen bei der Bundesregierung einklagen. Danke schön. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Abgeordneter Wolf, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß die Sitzungswochen dieses Hauses vom Ältestenrat im allgemeinen Einvernehmen bestimmt werden und daß ich von keiner Seite den Wunsch gehört habe, die Woche des Gipfels in Kopenhagen sitzungsfrei zu halten. ({0}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich erteile nunmehr dem Bundesminister Norbert Blüm das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich nicht vor, unter dem Vorwand des Weltsozialgipfels innenpolitische Debatten zu führen. Ich will aber ein paar Sachen klarstellen. Herr Kollege Wolf, wenn Sie im Zusammenhang mit unserer Bundesrepublik von Manchesterkapitalismus reden, dann wissen Sie offenbar nicht, was Manchesterkapitalismus ist. Ein Sozialstaat, in dem ein Drittel des Sozialprodukts für soziale Aufgaben ausgegeben werden, hat mit dem Manchesterkapitalismus so viel zu tun wie ich mit einer Weltraumfähre. ({0}) Manchesterkapitalismus ist Ellenbogenkapitalismus ohne Verantwortung. ({1}) - Sie kämen noch nicht einmal hoch. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister Blüm, der Herr Abgeordnete Wolf möchte eine Frage stellen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich möchte das im Zusammenhang darstellen. Ich bin noch nicht ganz fertig. Wenn Sie damit einverstanden sind, etwas später. ({0}) Damit auch das klar ist: Ich stelle unseren Sozialstaat nicht als einen Sozialstaat ohne große Probleme dar. Aber gemessen am Elend der Welt leben Sie, ich und alle geradezu auf einer Insel des Wohlstandes in einem Weltmeer des Elends. ({1}) Herr Kollege Wolf, Sie nehmen unsere deutsche Sozialhilfe als Armutsindiz. Gemessen an dem, was wir hier diskutieren, ist ein Sozialhilfeeinkommen in Deutschland geradezu ein Spitzeneinkommen in der Dritten Welt. Ich bezeichne die Sozialhilfezahlen nicht als Ausweis von Armut, sondern als Beweis bekämpfter Armut. Sozialhilfe bekämpft Armut. ({2}) In diesem Zusammenhang, Herr Wolf, gestatte ich gern Ihre Frage, wenn es der Präsident erlaubt; aber dann wollte ich gerne zu der eigentlichen Problematik zurückkehren.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Blüm, ist Ihnen gewahr, daß ich im Zusammenhang mit dem übriggebliebenen weltweiten Kapitalismus von einer Wiedereinkehr von manchesterkapitalismusartigen Strukturen gesprochen habe und daß ich wohl in der Lage bin, zu erkennen, daß es eine große Differenz zwischen Dritter, Zweiter und Erster Welt gibt? Aber diese Tendenz können Sie so, glaube ich, kaum bestreiten.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich will klarstellen, daß das, was wir in dieser Bundesrepublik Deutschland an Sozialstaat gemeinsam errichtet haben - dies ist das Verdienst nicht nur einer Regierung, sondern auch von Gewerkschaften und Arbeitgebern -, ein Beitrag ist, mehr Gerechtigkeit und mehr Wohlstand in die Gesellschaft zu bringen, und meilenweit vom Manchesterkapitalismus entfernt ist. Das sollten wir uns von niemand in Frage stellen lassen. ({0}) Sie würden die Arbeit von Gewerkschaften, Regierung, Parteien geradezu mißachten, wenn Sie bestreiten würden, daß wir uns einen Sozialstaat gebaut haben, wie es kaum einen zweiten in der Welt gibt. ({1}) Aber das ist heute nicht unser Thema. Denn ich fürchte, sonst führen wir im angesicht des Elends der Welt eine Debatte, die Wahlkampfcharakter hat. ({2}) Heute führen wir eine Debatte darüber, wie wir die Not in der Welt lindern, wie wir mehr Ordnung, mehr Gerechtigkeit bekommen. ({3}) Versuchen Sie doch nicht, bei jedem Thema Ihre kleinliche Parteipolitik unterzubringen! Ich finde, wir haben angesichts der Herausforderungen dieser Erde mehr Gemeinsamkeiten, als im Tageskampf der Sozialpolitik in diesem Saal zum Vorschein kommt. Wenn wir uns auf sie konzentrieren, hilft das der Welt mehr. Man kann die Zahlen, die Herr Kohn genannt hat, nicht oft genug in Erinnerung rufen. Mit ihm sage ich: Die Zahlen lenken eigentlich von der existentiellen Frage, die dahinter steht, ab, weil sie nur Statistik sind. Trotzdem: Eine Milliarde Menschen haben weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung. Jährlich verhungern 15 Millionen Menschen. Das ist der Krieg, der täglich stattfindet. 110 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht. Die Vereinten Nationen zählen 23 Millionen Flüchtlinge, zehnmal mehr als vor 25 Jahren. Die Heimatlosigkeit hat zugenommen. Eine besondere Variation des „Fortschritts" heißt Vertreibung. 120 Millionen Menschen der 2,8 Milliarden Menschen im arbeitsfähigen Alter sind arbeitslos. Ich fände es gut, wenn der Bundestag nicht in kleinlichen parteipolitischen Hickhack zurückfiele, ({4}) sondern wir, die entwickelten Industrienationen, gemeinsame Anstrengungen zur Entwicklung der Welt leisten würden, um einen Dialog zwischen den Entwicklungsländern und den entwickelten Industrienationen in Gang zu bringen. ({5}) Wenn die Bombe des Hungers explodiert, dann werden die Folgen schlimmer sein als die jeder Atombombenexplosion. Wenn wir uns um die Entwicklung der Welt kümmern, wenn wir Solidarität einsetzen, dann nicht nur aus Barmherzigkeit und Gerechtigkeit - obwohl das als Motivation bereits ausreicht -, sondern auch zur Selbsterhaltung. Es wird wohl niemand glauben, daß der Friede der Welt auf Dauer gesichert ist, wenn 20 % der Erdbevölkerung von 80 % der Erdengüter leben und 80 % der Erdbevölkerung mit 20 % der Ressourcen auskommen müssen. Damit es jeder weiß: Das ist Kriegsgefahr. Es gibt keinen Zaun, hinter den wir uns zurückziehen können. Deshalb begrüße ich die Anstrengungen der Vereinten Nationen - die sich auch im Weltsozialgipfel niederschlagen -: den Weltkindergipfel, die Umweltkonferenz, die Menschenrechtskonferenz, die Weltbevölkerungskonferenz. Das sind Beiträge zur Weltinnenpolitik. Ich will selbstkritisch bekennen - zum Teil exerzieren wir es heute vor -, daß unsere Diskussionen manchmal etwas provinziell sind. Wir haben manchmal gar nicht kapiert, daß wir geradezu die gemeinsame Besatzung einer Weltraumfähre sind. Umweltprobleme lassen sich doch national gar nicht mehr lösen. Dies gilt selbst für Fragen der Beschäftigung. Ich bezweifle, daß es noch Nationalökonomie im klassischen Sinne gibt. Wir sind in eine Weltwirtschaft einbezogen: Die Finanzströme sind international, die Kapitalströme sind international. Insofern ist dieser Weltsozialgipfel die Gelegenheit zum Dialog, allerdings auch zur Selbstbesinnung, um aus nationalen Befangenheiten herauszutreten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schuster?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte schön.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, in der Diagnose stimmen wir überein. Ich habe aber nicht ganz verstanden, mit welchen konkreten Therapiemaßnahmen Sie als verantwortlicher Minister nach Kopenhagen fahren.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Wir haben uns an der Vorbereitung des Gipfels einschließlich des Aktionsprogramms beteiligt. Ich denke, der wahre Wert des Gipfels bemißt sich nicht an den Papieren, mit denen wir nach Kopenhagen fahren, sondern an dem, was nach Kopenhagen in den einzelnen Ländern passiert. ({0}) Das scheint mir wichtiger zu sein als diese Papiergläubigkeit. Eine Handvoll konkreter Maßnahmen wäre mir lieber als ein Sack voll Erklärungen. ({1}) So sind wir Sozialpolitiker. Es geht weniger um die hohe Ideologie. Wir haben keinen weiteren Ideologiebedarf in der Welt. Wir haben einen Bedarf an konkreter Hilfe. Auch das will ich sagen: Das schlägt sich nicht nur in den Prozentzahlen der Entwicklungshilfe nieder. Diese Monetarisierung jeden Denkens halte ich geradezu für ein Hindernis der Weltentwicklung. Denn es ist nichts gewonnen mit repräsentativen Regierungsgebäuden und großen Flughäfen. Die Entwicklung der Massen, das ist die Herausforderung. Das ist auch eine mentale Frage. Das setzt ein Programm „Hilfe zur Selbsthilfe" voraus. Das hat nicht nur etwas mit Geld zu tun. Kollege Büttner, auch eine andere Verengung scheint mir stattzufinden. Sie fragen: Was trägt der Staat zum gesellschaftlichen Prozeß bei? Das scheint mir eine alte Staatsgläubigkeit zu sein. Der gesellschaftliche Prozeß hängt nicht nur von den staatlichen Autoritäten ab, sondern auch von den gesellschaftlichen Kräften, die nicht staatlicher Natur sind. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dreßen?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ja.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich gebe Ihnen ja recht: Fünf Taten wären auch mir lieber als eine Tonne Papier Erklärungen. Nur, die Frage des Kollegen Schuster war: Was sind diese fünf Taten? Mit welchen Taten gehen Sie denn dort hinein? Erklären Sie doch einmal die Taten! Das ist das, was uns interessiert. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

In der Tat: Kampf gegen Ausgrenzung, Kampf gegen Armut, Kampf gegen DiskrimiBundesminister Dr. Norbert Blüm nierung der Frau, breite Qualifizierung, das sind sehr konkrete Vorhaben. Keineswegs in allen Ländern der Welt ist es selbstverständlich, daß es ein Recht auf Bildung für alle und nicht nur für die Oberschichten gibt. Das scheint mir eine ganz konkrete Forderung für den Weltsozialgipfel zu sein. ({0}) Im übrigen haben wir uns diesen Forderungen nicht erst auf dem Weltsozialgipfel zugewandt. Ich mache darauf aufmerksam, daß zum erstenmal auf dem Treffen der G 7 im letzten Jahr die Frage der Qualifizierung ein Thema der Weltwirtschaftspolitik war und daß wir uns dort diesen sozialen Fragen zugewandt haben. Herr Kohn, wenn wir uns darauf verständigen könnten: Erst muß das, was verteilt wird, erwirtschaftet werden. Das ist natürlich nicht in einem engen, monokausalen Sinne zu verstehen. Die Sozialpolitik ist nicht sozusagen der Reparaturwagen hinter der Wirtschaftspolitik, sondern eine integrierte Sozialpolitik unterstützt den wirtschaftlichen Wachstumsprozeß. Ich will etwas, was unstrittig ist, noch einmal klarstellen, nämlich daß wir nicht die veraltete Vorstellung haben sollten: Als erstes wird Wirtschaft betrieben, und dann sehen wir einmal, was für Sozialpolitik übrig ist. Bereits in dem wirtschaftspolitischen Ansatz „Vorbeugen ist besser als Heilen" sind soziale Überlegungen enthalten. Sonst hätten wir ja kein Arbeitsrecht, sonst hätten wir keine sozialen Rechte, die integriert sind. Das scheint mir das Modell für die Welt zu sein, wobei ich - damit wir uns gemeinsam von jeder Überheblichkeit befreien - sagen möchte: Es geht nicht um Patentrezepte, die wir exportieren. Die Kulturen dieser Erde sind höchst unterschiedlich. Aber richtig ist, daß es Grunderfahrungen gibt, die sehr wohl weltweite Bedeutung haben, beispielsweise die Grunderfahrung, daß es ein Menschenrecht des einzelnen gibt, daß es nicht durch kollektive Rechte eingeebnet werden kann und daß der Mensch als Individuum Teilhaberechte an der sozialen Entwicklung hat. Das ist das, was der Kollege Vogt klarstellen wollte. Kollektive sind nicht die Träger von Grundrechten. Das ist immer der einzelne. Es ist ganz selbstverständlich, daß zu diesen Menschenrechten auch soziale Rechte gehören. Es geht auch darum, Grundrechte nutzen zu können. Schon Anatole France hat darauf aufmerksam gemacht: Unter den Brücken von Paris gibt es für den König wie für den Bettler das Recht, zu schlafen. Nur, der eine muß es, und der andere muß es nicht. - Insofern sind Rechtsstaat und Sozialstaat aus meiner Sicht gar kein Gegensatz. Es geht auch um die Chancen zur Teilhabe an den rechtstaatlichen Garantien. Ich will noch einmal klarstellen, daß diese Menschenrechte, diese elementaren Grundrechte, nicht nach Rassen, Kontingenten oder Ideologien unterteilt werden können, sondern daß es einen Grundbestand von Rechten gibt, die jedem Menschen ohne Rücksicht auf seine Hautfarbe und Religion zustehen. Diese Grundrechte sind keineswegs selbstverständlich. Dafür muß ein Weltbewußtsein geschaffen werden. Insofern ist der Weltsozialgipfel ein Teil der Weltinnenpolitik, die aus meiner Sicht nicht mit Paragraphen, sondern im Denken beginnt. Ich möchte noch auf einen Irrtum hinweisen. Es ist keineswegs so, daß wir die Nichtregierungsorganisationen nicht beteiligt hätten. Sie waren an der Vorbereitung in New York beteiligt; und sie werden auch unserer Delegation angehören. Wir reisen nicht in der Form „Regierung pur" nach Kopenhagen, sondern wir reisen mit den vom NRO-Forum ausgewählten und delegierten Teilnehmern der Nichtregierungsorganisationen. Ich glaube, daß sie eine wichtige Rolle spielen. Beispielsweise wird unser Programm gegen Kinderarbeit - getragen von der Internationalen Arbeitsorganisation, finanziert von der Bundesrepublik - wesentlich durch Nichtregierungsorganisationen gestützt. In der Marktwirtschaft gibt es Sanktionen für alle, keine Resolutionen, sondern Sanktionen. Teppiche, die von Kindern produziert werden, sollten in Deutschland keinen Käufer finden. ({1}) Dafür gibt es die marktwirtschaftlichen Sanktionen: Teppiche, die nicht durch Kinderarbeit entstehen, werden durch Nichtregierungsorganisationen - ({2}) - Das haben wir sichergestellt, indem unabhängige Organisationen einschließlich Nichtregierungsorganisationen dafür den Ausweis schaffen. Das halte ich für ganz konkret: So wehrlos ist der Konsument nicht gegen Ausbeutung. Er kann nicht nur mit Worten, sondern ganz konkret seinen Beitrag dazu leisten, daß Kinderarbeit auf der Erde verschwindet.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister Blüm, gestatten Sie eine Abschlußfrage?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte, eine Abschlußfrage. ({0})

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Blüm, Sie haben eben davon gesprochen, Sie hätten diese Regeln zur Abschaffung der Kinderarbeit in der Teppichindustrie geschaffen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es die Organisationen „Brot für die Welt" und „terre des hommes" gewesen sind, die diese Regeln hier in Deutschland verbreitet haben ({0}) Wilhelm Schmidt ({1}) und die Sie gedrängt haben, dieses hier in Deutschland umzusetzen, nachdem Sie jahrelang dagegen gewesen sind?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Wir können jetzt einen kleinlichen Streit über sozialen Patentschutz anfangen. ({0}) Ich beteilige mich nicht daran. Ich stelle nur fest, daß wir über die Internationale Arbeitsorganisation genau diese Unternehmen überhaupt erst in die Lage versetzt haben, eine Organisation aufzubauen, und zwar mit vielen Millionen DM. Aber ich finde es ein bißchen kleinkariert, jetzt zu fragen, wer von uns zweien der bessere Mensch ist. ({1}) Wenn Sie die Krone haben wollen: Sie sind der bessere Mensch - und wir haben bezahlt. ({2}) - Noch eine Frage? ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Moment! Ich lasse keine Fragen mehr zu. Herr Minister Blüm, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Das bedauere ich sehr. Aber vielleicht gibt es eine andere Gelegenheit für ein Gespräch miteinander. Herr Präsident, ich bedanke mich. Ich wünsche mir trotz des Streits, der in der Natur parlamentarischer Auseinandersetzung liegt, daß wir diesen Weltsozialgipfel gemeinsam unterstützen, zwar nicht mit der Erwartung, daß wir die Welt zum zweiten Mal erschaffen, aber in der Hoffnung, daß wir sie vielleicht ein Stückchen vorwärtsbringen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Becker-Inglau.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst meinen Dank an Herrn Vogt richten, der uns das Erstgeburtsrecht dieser Anträge zugestanden hat. Auch möchte ich ihn beruhigen, daß wir mit unserem Antrag nicht davon ablenken wollen, daß die sozialen Fragen in den Vordergrund gehören. Ich glaube aber auch, daß Veränderungen bei UN-Institutionen wichtig wären, wenn es an die Umsetzung unserer Forderungen ginge. ({0}) Da wären wir sicherlich einer Meinung: z. B. in bezug auf die Stärkung des VN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Arbeit. Dieser Ausschuß könnte eine hervorragende Kontrollorganisation für das sein, was wir hier national und international in diesem Bereich mit unseren Geldern oder mit den internationalen Geldern leisten. Ich möchte meine Rede mit einem Zitat aus der Präambel der 1919 gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO, beginnen. Dort steht: „Der Weltfrieden kann auf Dauer nur auf soziale Gerechtigkeit aufgebaut werden." Man muß bedenken, daß diese Erkenntnis nach einem Weltkrieg formuliert wurde und daß diese These meines Erachtens heute, 75 Jahre später, nach wie vor uneingeschränkt gültig ist. Und man sollte daran denken, daß - wie heute schon häufig zitiert - eine Milliarde Menschen in bitterster Armut leben, daß 120 Millionen arbeitslos sind, daß 700 Millionen Menschen unterbeschäftigt sind und weitere 20 Millionen sich auf der Flucht vor Hunger, Umweltzerstörung und Krieg befinden, ({1}) Der chilenische UN-Botschafter Juan Somavia hat diese Entwicklung unlängst so zusammengefaßt: „Die Bedrohung durch die Atombombe ist längst abgelöst worden durch die Wirklichkeit einer sozialen Bombe." Ich habe bisher keine krassere Formulierung gehört oder gelesen, die die außerordentliche Sprengkraft dieses Problems so verdeutlicht. Mit der Wirklichkeit dieser „sozialen Bombe" wird sich nun der erste Weltsozialgipfel in Kopenhagen beschäftigen. Zunehmende Armut, ungelöste Beschäftigungsprobleme und wachsende soziale Krisen - Herr Dr. Blüm, ich sage: auch bei uns - haben spürbare Konsequenzen für Demokratie und politische Stabilität. Es wird nun entscheidend darauf ankommen, daß sich unsere Bundesregierung vehement dafür einsetzt, daß nicht nur Absprachen getroffen werden, sondern auch verbindliche Zeit- und Handlungspläne beschlossen werden. ({2}) Diese müssen natürlich anschließend auf nationaler wie internationaler Ebene auch umgesetzt werden. Ich gebe meinen Vorrednern recht, daß es dann unsere Aufgabe hier im Parlament ist, zu kontrollieren, ob und wie diese Empfehlungen oder Beschlüsse oder Erklärungen umgesetzt werden; denn nur so haben wir überhaupt eine Chance, diese „soziale Bombe" zu entschärfen. Deshalb darf der Weltsozialgipfel meines Erachtens nicht zu einer Tagung der Arbeitsminister zu sozialen Sicherungssystemen verarmen. Ich hätte es schon sehr gern gesehen, wenn unsere wirtschaftIngrid Becker-Inglau liche Zusammenarbeit dort den gleichen Stellenwert - nicht untergeordnet - erhalten hätte. ({3}) Ich darf aber auch sagen: Dieser Gipfel sollte nicht zu einem Nord-Süd-Gipfel entarten, bei dem lediglich über die Höhe von Transferleistungen gestritten wird. Zweck und Ziel dieses Treffens sollte die wirtschaftliche und soziale Neuordnung unserer einen, kleinen, nah und eng zusammengerückten Welt sein. Denn eines ist uns allen inzwischen klar: Globale Zukunftssicherung ist auch immer unsere eigene Zukunftssicherung. Deswegen möchte ich noch einmal bekräftigen: Weg von Militär- und Rüstungsausgaben bei uns, in den Entwicklungsländern und in unseren Partnerländern, hin zu einer Welt, in der mit sozialen marktwirtschaftlichen Instrumenten nachhaltige - darauf lege ich besonderen Wert - sozial, wirtschaftlich und ökologisch orientierte Entwicklung verwirklicht wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Kopenhagen muß auch gewährleistet werden, daß die dort gefaßten Beschlüsse und Empfehlungen nicht hinter die Ergebnisse der anderen UN-Konferenzen - für Umwelt in Rio 1992, für Menschenrechte in Wien 1993 und für Bevölkerung in Kairo 1994 - zurückfallen. Ebenso sollten wir auch noch einmal daran erinnern, daß die bereits 1966 in dem UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte und die in den ILO-Konventionen festgehaltenen rechtsverbindlichen Regelungen nicht ausgehöhlt werden dürfen; denn das könnten wir nicht vertreten. Nicht zuletzt ist ebenfalls sicherzustellen, daß keine Beschlüsse gefaßt werden, die gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau von 1979 verstoßen. Dieser Punkt ist auch deshalb von Bedeutung, weil wir, meine Fraktion und ich, von diesem Weltsozialgipfel auch wichtige Impulse für die Weltfrauenkonferenz in Peking erwarten. Ich will an dieser Stelle die Bundesregierung beispielhaft an ihr 1992 in Rio gegebenes Versprechen erinnern, wo sie mitbeschlossen hat, die finanziellen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf einen Anteil von 0,7 % des Bruttosozialprodukts zu erhöhen. Es wäre ein Fortschritt gewesen, wenn unsere Regierung an ihrer eigenen Zielvorgabe bei den Haushaltsberatungen 1995 festgehalten hätte. Man ist einen anderen Weg gegangen. Es stehen jetzt 0,03 % weniger als im letzten Jahr zur Verfügung. Ich hoffe, daß es diesbezüglich in Kopenhagen klare Aussagen mit einer eindeutigen zeitlichen Zielvorgabe geben wird. Wir erwarten von der Bundesregierung auch eine klare, nachprüfbare Aussage zum 20/20-Vertrag, den die UNDP entwickelt hat. Dieser Vertrag sieht vor, daß sich die internationalen Geberländer verpflichten, jeweils 20 % der Entwicklungshilfe für die soziale Grundversorgung aufzuwenden und daß auch die Entwicklungsländer dafür Geld in gleichem Verhältnis aus ihrem eigenen Etat einsetzen. Ich denke, das ist auch eine Verpflichtung zur Selbsthilfe. Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, daß diese Regelung, wenn sie richtig angewandt wird, keine neuen Geldmittel für die Umsetzung erfordert. Vielmehr kommen die Mittel durch eine Umstrukturierung bei den Haushaltsprioritäten zusammen. Diese Umstrukturierung hätte dann sogar zur Folge, daß jährlich zwischen 30 und 40 Milliarden Dollar für elementare Entwicklungsprojekte frei würden. Dies kann doch nur im Sinne unserer entwicklungspolitischen Anstrengungen sein. ({4}) - So ist es. Wir hoffen, daß sich die Bundesregierung derart als Partner beim Gipfel erweist, daß sie dieses Regelwerk schon auf EU-Ebene umsetzen kann. Ich möchte noch ein Lob anbringen. Wie bei jedem großen Gipfel haben auch bei der Vorbereitung dieses Treffens in Kopenhagen viele Institutionen und Organisationen mitgewirkt. Einen besonderen Dank möchte ich an die NROs richten, und einen ganz besonderen Dank an die Organisationsbereitschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung, ({5}) die ein Forum eingerichtet hat, von dem maßgebliche und wertvolle Anstöße an die Bundesregierung ausgegangen sind. Vielleicht war es der Dank von seiten der Bundesregierung, daß sie die NROs eingeladen hat, mit fünf Mitgliedern beim Weltsozialgipfel dabeizusein. Eines muß man den NROs zugestehen: Erst sie haben dafür gesorgt, daß der Weltsozialgipfel in der Öffentlichkeit aus der Bedeutungslosigkeit herausgekommen ist und einen besonderen Stellenwert in der öffentlichen Diskussion erhalten hat. Die Tatsache, daß eine solche Vielzahl von Menschen nach Kopenhagen reisen wird, berechtigt mich zu der Hoffnung, daß es viele Multiplikatoren geben wird, die das, was in Kopenhagen beschlossen und erklärt wird, verbreiten. Ich denke, daß damit die soziale Entwicklung in dieser Welt einen Aufschwung nehmen wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie müssen zum Schluß kommen.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In diesem Sinne hoffe ich auf eine erfolgreiche Konferenz und wünsche denen, die dort hinfahren, eine gute Beratung. Ich hoffe, daß man sich auf gute Ziele festlegt. Wir im Parlament werden sie dann anschließend umsetzen und ihre Einhaltung kontrollieren können. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß es in diesem Hause eine große Einigkeit in dieser Frage gibt, und ich habe auch den Eindruck gewonnen, daß der Wunsch, hier gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, sehr groß ist. Die entscheidende Herausforderung dieses Weltsozialgipfels ist das Thema der globalen Bekämpfung von Armut; denn Armut macht nicht nur stumm, Armut ist auch stumm, und deshalb ist es höchste Zeit, daß ihr in Kopenhagen eine Stimme gegeben wird, und zwar eine möglichst laute, möglichst eindringliche Stimme, wie ich hoffe. ({0}) In diesem Zusammenhang, Frau Becker, möchte ich nur eines sagen. ({1}) - Frau Becker-Inglau. Ich will nicht, daß Ihr Mann sich beschwert. Ich wollte Ihnen in diesem Zusammenhang gerne eines sagen: Ich glaube, wir sollten unsere Erwartungen nicht so hochschrauben, daß wir anfangen, von einem Zeitplan zu reden, sondern ich glaube, daß wir froh sein können, wenn diese Veranstaltung in Kopenhagen genutzt wird, eine ganz große Problematik deutlich zu machen. Herr Minister Blüm hat das, denke ich, so drastisch geschildert, daß wir es uns gut merken sollten. ({2}) - Seien Sie nicht so unbescheiden! Wer sich Berichte und Zahlen aus Afrika, aus Ostasien, aus Lateinamerika vor Augen hält, der wird rasch erkennen, daß Armut dort und Armut, wie wir sie in Deutschland kennen, zwei gänzlich unterschiedliche Phänomene sind. ({3}) Das hat auch Norbert Blüm deutlich gemacht. ({4}) - Da haben Sie recht. - Armut in den unterentwikkelten Regionen dieser Erde bedeutet nicht nur eine menschenunwürdige Existenz, sondern Krankheit und Tod, und zwar massenhaften Tod durch Unterernährung, durch Epidemien, durch Drogen und durch Gewalt. Es sind hier von Ihnen und von Herrn Blüm heute mehrfach sehr eindrucksvolle Zahlen genannt worden. Jeden Tag sterben in Lateinamerika 3 000 Kinder an den Folgen des Elends, und jeder zweite Einwohner des Subkontinents lebt unterhalb der Armutsgrenze. Es ist - und so steht es auch in dem vorliegenden Entwurf der Schlußerklärung von Kopenhagen - ein moralisches, ein soziales, ein politisches und ein wirtschaftliches Gebot der Menschheit, diesen Ärmsten zu helfen. Die Bundesregierung - und darüber bin ich froh - wird die Verpflichtung wahrnehmen, sich im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft entschieden für die soziale, die wirtschaftliche und auch die ökologische Entwicklung der Dritten und der Vierten Welt zu engagieren. ({5}) Im Mittelpunkt dieses Weltgipfels werden ohne Zweifel und zu Recht die wirklich dramatischen Zustände in den ärmsten Regionen der Erde stehen. Ein Blick dorthin, über die Grenzen Deutschlands und der EU hinaus - und wir tun gut daran, wirklich einmal über diese Grenzen hinauszublicken -, sollte für manche, die leichtfertig das Bild von der drohenden Verelendung in unserem Land beschwören - und das ist hier heute auch wieder von einigen Seiten passiert -, Anlaß zur Besinnung und zur vorsichtigeren Wortwahl, was unsere eigene Situation betrifft, sein. ({6}) Die positive Bilanz sozialer Sicherheit, die wir gegenüber den meisten Ländern, auch sogenannten Wohlstandsstaaten, aufweisen können - und in diesem Zusammenhang von einem Zerbröckeln zu sprechen ist schon eine Katastrophe -, darf und wird uns allerdings auch nicht veranlassen, im eigenen Land in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Denn auch in Deutschland, einer der reichsten Nationen der Welt, gibt es unbestritten Armut, und diejenigen, die von Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit betroffen sind, tröstet in der Tat der Vergleich mit den Ärmsten der Welt wenig. Lassen Sie mich an Hand von zwei ausgewählten Verpflichtungen der vorgesehenen Schlußerklärung kurz auf besonders brennende Problemfelder eingehen, und zwar in den Entwicklungsländern und auch bei uns: auf die soziale Integration und auf die Situation der Frauen. Mit der sozialen Integration befaßt sich die vierte Verpflichtung. Ziel der Bemühungen soll es sein, eine Gesellschaft für alle zu schaffen. Verurteilt wird hier jede Art von Diskriminierung, von Intoleranz und von Gewalt. Gleichzeitig ist diese Verpflichtung ein Aufruf zur Gewährung von Chancengleichheit, ein Aufruf - und da sind auch wir angesprochen - zu Solidarität, zu Toleranz und zu demokratischer Beteiligung. Wir sollten diesen Punkt der Schlußerklärung gut durchlesen. Der Katalog der hierzu angeratenen Umsetzungsmaßnahmen erscheint wirklich nur auf den ersten Blick etwas übertrieben. Alle 81 Einzelpunkte, auch die umfangreichen Erläuterungen, haben ihre Berechtigung. Ich wiederhole, was Wolfgang Vogt bereits gesagt hat und möchte ein gravierendes Beispiel nennen: Die Verweigerung von Bildung und Qualifikation, egal ob Geschlecht, Rasse, fehlende finanzielle Mittel oder eine Behinderung der Grund sind, widerspricht entschieden dem Grundsatz der sozialen Integration ({7}) und versperrt unzähligen Menschen den Zugang in eine bessere Zukunft. Allein diese exemplarische Praxis der Diskriminierung zeigt, welche Defizite es an sozialer Integration in vielen Teilen der Welt gibt. Ich sage das ohne Überheblichkeit; denn mir ist klar, daß es auch bei uns Maßnahmen geben muß, um die Integration Benachteiligter zu gewährleisten. Ich sage Ihnen aber gleichzeitig: Wir werden mit dieser Aufgabe nie fertig werden. Wer von sozialer Integration redet, muß auch auf das Thema Ausländer eingehen. Ich will nicht in Abrede stellen, daß in diesem Bereich in Deutschland durchaus noch Anstrengungen notwendig sind. Das gilt nicht nur für die Unterbindung ausländerfeindlicher Gewalttaten, die bei fast allen Deutschen nur Scham, Empörung und Wut hervorgerufen haben. Jedes dieser Verbrechen ist eines zuviel. Wir dürfen und werden nicht zulassen, daß feige Brandstifter und Mörder den guten Ruf, den das demokratische Deutschland in den vergangenen 50 Jahren im Ausland erworben hat, besudeln. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist leider zu Ende, Frau Kollegin.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber auch im alltäglichen Bereich stellt die Bezeichnung „ausländischer Mitbürger" allzu oft nur eine Worthülse dar. Dennoch ist festzustellen, daß das weitgehend problemfreie, oft sogar selbstverständliche und harmonische Zusammenleben zwischen Deutschen und ihren ausländischen Nachbarn eher den Regelfall bildet als die Ausnahme. Es bleiben natürlich viele Fragen offen. Ich erinnere nur an die Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist vorbei.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wäre gerne noch auf die Rolle der Frau eingegangen. Das wird ein Kollege besorgen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das war Ihre erste Rede, Frau Kollegin, wie mir gesagt wurde. Ich hätte Ihnen gerne mehr Zeit gegeben. Das konnte ich aber nicht. Herzlichen Glückwunsch. ({0}) Das Wort hat jetzt der Staatssekretär Hedrich.

Klaus Jürgen Hedrich (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000840

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Das wird die zentrale Aussage des Weltgipfels für soziale Entwicklung sein. Die Bundesregierung hat, ausgehend von ihren eigenen entwicklungspolitischen Erfahrungen und Prioritäten, die Entwürfe der beabsichtigten Gipfelbeschlüsse intensiv mitgestaltet. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei Beispiele nennen: Erstens. Die politischen, die wirtschaftlichen und die sozialen Rahmenbedingungen sind von zentraler Bedeutung. Hierfür ist die Regierung eines jeden Landes selbst verantwortlich. Alle Politikbereiche, auch die Wirtschafts-, die Haushalts-, die Steuer- und die Strukturpolitik müssen armutsmindernd gestaltet werden, also der sozialen Entwicklung dienen. Auch Strukturanpassungsprogramme müssen von Anfang an auf dieses Ziel ausgerichtet sein. Darin sind sich die Gipfelteilnehmer mit der Weltbank einig. ({0}) Die Achtung der politischen, bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte einschließlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Beteiligung aller Bevölkerungsschichten am politischen Prozeß und die Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns sind entscheidende Voraussetzungen für soziale Entwicklung. Armut - darauf ist hingewiesen worden - bedeutet nicht nur materielle Not, sondern auch Ausgeschlossensein von Entscheidungen, fehlende Möglichkeiten einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung, Verletzung der menschlichen Würde und Freiheit. Deshalb ist die Beteiligung der Menschen an Entscheidungen, die sie selbst betreffen, von elementarer Bedeutung. Ich bin der Frau Kollegin Schnieber-Jastram sehr dankbar, daß sie auf die Verwendung des Wortes Armut hingewiesen hat. Wir hatten Ende letzten Jahres ein Gespräch mit den Vertretern der Kirchen. Herr Wolf, dabei kam natürlich auch das Dokument zur Sprache, das Sie erwähnt haben. Glücklicherweise - oder wie immer Sie es formulieren wollen - war gerade der evangelische Bischof Löwe von einem längeren Besuch auf den Philippinen zurückgekehrt. Er sagte, wir müßten vorsichtig sein, bei der Beschreibung innenpolitischer Verhältnisse so ohne weiteres das Wort Armut zu verwenden, weil es der Beschreibung der Verhältnisse in den Ländern der sogenannten Dritten Welt nicht gerecht werde. Armut auf den Philippinen sei etwas völlig anderes als möglicherweise vorhandene soziale Defizite bei uns. ({1}) Zweitens. Soziale Entwicklung bedeutet nicht nur die Förderung der sogenannten sozialen Sektoren. Vorrangig in der Armutsbekämpfung ist die Förderung der produktiven Kräfte der Menschen, ({2}) damit sie selbst ihre Lage verbessern können. Armut ist übrigens auch die Vergeudung von volkswirtschaftlichem Potential und die mangelnde Nutzung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. ({3}) Die vorgesehenen Beschlüsse des Weltgipfels für soziale Entwicklung bestätigen und bestärken uns in der bisherigen entwicklungspolitischen Schwerpunktsetzung und den Kriterien für unsere Zusammenarbeit. Ich nenne hier noch einmal die Wahrung der Menschenrechte, Soziale Marktwirtschaft und Eigenverantwortung unserer Partnerländer. Kollege Büttner, möglicherweise liegt zum Recht auf Entwicklung ein Mißverständnis vor. Insbesondere die Staaten des Nordens, aber nicht nur die, haben sich auf der Menschenrechtskonferenz in Wien geweigert, diese Formulierung aufzugreifen, weil eine Reihe von Entwicklungsländern hinter dem Begriff Recht auf Entwicklung etwas anderes verbergen. Sie wollen das Recht auf Entwicklung in Form von Kollektivansprüchen gleichwertig neben das Recht des einzelnen auf seine persönliche Entfaltung, die Entfaltung von Menschenrechten stellen. Sie sagen deshalb des öfteren: Wenn es notwendig ist, muß das Individualrecht, das Recht auf Pressefreiheit und dergleichen, hinter dem Recht auf kollektive Entwicklung zurückstehen. Dies kann doch wohl im gemeinsamen Interesse dieses Hauses nicht gemeint sein. ({4}) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Stichwort 0,7 % machen. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht - ich tue es auch heute nicht -, daß ich es bedauere, daß wir diesem Ziel nicht näherkommen. Ich darf als Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sagen: Unser Ministerium würde sich Entschlüssen des Parlaments, eine entsprechende Haushaltskomponente herzustellen, nicht verweigern. Hier liegt eine bestimmte Verantwortung auch beim Parlament selbst. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch unsere Bevölkerung weiß: Ungelöste globale Fragen, Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Ausbreitung von Krankheiten, weltweite Wanderungs- und Migrationsprobleme haben unmittelbare Auswirkungen auf unsere Lebenswirklichkeit in Deutschland. Daß dieses Bewußtsein in unserer Bevölkerung vorhanden ist, ermutigt uns, weiter an der Lösung globaler Herausforderungen zu arbeiten, auch wenn dies manchmal materiellen Verzicht und Aufrütteln aus Behaglichkeit bedeutet. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Tagesordnung des Weltsozialgipfels in Kopenhagen berührt so ziemlich alle Probleme, die auch nach dem Ende des Kalten Krieges die Welt immer noch plagen. Die sozialen Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit bedrohen das Leben jedes einzelnen Menschen, aber auch die Sicherheit und das Zusammenleben der Nationen. Armut und Arbeitslosigkeit sind nicht nur Probleme der Entwicklungsländer, sondern auch die reichen Industriestaaten des Nordens sind zunehmend davon betroffen. Immer leiden die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft unter menschenunwürdigen Verhältnissen. Die Schwächsten, das sind die Kinder. Seit 1989 wurde die UN-Kinderkonvention von etwa 150 Staaten unterzeichnet. Doch an der Lage der Kinder hat sich dadurch nichts verbessert. Es nützt nichts, solche Übereinkommen zu unterzeichnen und Konferenzen zu veranstalten, wenn ihnen keine Taten folgen. ({0}) Lassen Sie mich einige Beispiele herausgreifen, die die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzeigen: Das Recht der Kinder auf Schul- und Berufsausbildung ist in Art. 28 der Kinderkonvention verankert. Es war und ist erklärtes Ziel der UNICEF, daß mindestens 80 aller Jungen und Mädchen in den Ländern der Dritten Welt bis zum Jahre 2000 eine Grundschulausbildung erhalten können. Das Ziel von UNICEF wird aber nicht erreicht werden, denn in vielen Regionen ist der Grundschulbesuch rückläufig oder stagnierend. In Afrika beispielsweise sank die Einschulungsrate seit 1980 von 79 % auf 67 %. Das hat auch mit dem großen Komplex der Kinderarbeit, zu dem ich jetzt kommen werde, zu tun. Der Schutz der Kinder vor Ausbeutung und somit das Verbot der Kinderarbeit sind immer noch nicht hinreichend berücksichtigt und sind nicht ausreichend in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen. Die Zahl der Kinder, die arbeiten gehen müssen, liegt zwischen 100 und 200 Millionen. Die Arbeitsverhältnisse sind in den meisten Fällen durch Gewalt bestimmt. Die Kinder verfügen über keine schriftlichen Arbeitsverträge und entbehren jeglichen Rechts- und Versicherungsschutzes. Kinder arbeiten länger als Erwachsene, unter denselben Gesundheits- und Unfallrisiken, tragen aber bleibende Schäden davon, weil die unfertigen Körper weniger aushalten. Da genügt es nicht, Herr Kohn, nur eine Ächtung der Kinderarbeit anzumahnen. Da muß man eben, wie vorhin schon angesprochen wurde, konkrete Maßnahmen ergreifen, ({1}) um z. B. den Verbraucher darüber aufzuklären, wie preisgünstige Teppiche entstehen. ({2}) Die Schwierigkeiten bei der Einführung dieses Teppichsiegels sind ja von Ihnen vorhin geschildert worden. Die Bundesregierung hat vom Deutschen Bundestag den Auftrag bekommen, bis Dezember 1994 einen Bericht zur erfolgreichen Bekämpfung der Kinderarbeit vorzulegen. Dieser ist bis zum heutigen Tage noch nicht vorgelegt worden. Kinder haben ein Recht auf besonderen Schutz und auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Eine besonders krasse Form der Kinderarbeit ist die Kinderprostitution. Zwar verbietet Art. 34 der Kinderkonvention der UN den sexuellen Mißbrauch von Kindern, aber die Armut und das Elend, in dem die Kinder und ihre Familien aufwachsen, treiben die Kinder immer wieder auf die Straße. Das Leben dort besteht aus Elend und Demütigung. Die Gefahr der HIV-Infektion, schwerer Verletzungen und des Drogenkonsums ist groß. Solange die Ursachen für die Kinderprostitution bestehen bleiben, sich die Kunden von diesem sexuellen Mißbrauch nicht abwenden und die Regierungen aller Staaten hier nicht massiv eingreifen, wird die Ausbeutung von jungen Mädchen und auch Jungen bestehen bleiben. Nach der jetzigen Gesetzeslage ist es möglich, Täter im Ausland bei uns nach deutschem Recht anzuklagen. Was hier noch fehlt, ist der konsequente Vollzug dieses Gesetzes. ({3}) Auch das Problem der Straßenkinder wurde schon angesprochen. 80 bis 100 Millionen verlassene Kinder fristen ihr Dasein auf der Straße. Doch nicht nur in sogenannten Entwicklungsländern verlassen Kinder und Jugendliche ihre Familien oder reißen aus Heimen aus und landen auf der Straße. Nach Aussagen des Deutschen Kinderschutzbundes gibt es auch in Ballungsgebieten der deutschen Großstädte eine ständig wachsende Zahl von Straßenkindern. Hier, meine ich, könnten wir in einen Dialog mit den Staaten treten, die schon entsprechende Projekte durchgeführt und Erkenntnisse aus ihnen gewonnen haben, wie solchen Kindern zu helfen ist. Ich fordere die Bundesregierung als Teilnehmer am Weltsozialgipfel auf: Bilden Sie eine Lobby für die Zukunft der Kinder dieser Welt! Ein weiteres möchte ich der Delegation der Bundesregierung mit auf den Weg geben: Seit der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo ist deutlich, daß Frauen eine Schlüsselstellung haben. Soll sich in den Punkten der Bevölkerungsentwicklung, Gesundheitsvorsorge, Ernährungssituation und Kindersterblichkeit etwas verbessern, führt der Weg nur über eine Verbesserung der Situation der Frau. Soziale Entwicklung und Fortschritt sind nur möglich, wenn Frauen vorrangig in die Entwicklungszusammenarbeit einbezogen und gefördert werden. Nur wenn Frauen Zugang zur Ausbildung und zu eigenständiger Existenzsicherung haben, nur wenn Mädchen über ihre Rolle als Frau und Mutter aufgeklärt und darauf vorbereitet werden, läßt sich der Teufelskreis von Armut und Überbevölkerung durchbrechen. ({4}) Wir haben keinen Anlaß, die sozialen Probleme in Entwicklungsländern anzuprangern und den Ländern der Dritten Welt mit Besserwisserei entgegenzutreten, solange wir die Augen vor sozialen Problemen im eigenen Land verschließen. Zum Problem der Armut wurde hier schon einiges gesagt. Es gibt eine Definition von Armut. Diese bezieht sich auf das Teilhabenkönnen am gesellschaftlichen Leben. Die Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften haben Armut definiert und gesagt, daß es Armut in dem reichen Land Deutschland gibt. Die Bundesregierung sollte mit gutem Beispiel vorangehen und endlich einen nationalen Armutsbericht erstellen. ({5}) Der Weltsozialgipfel macht nur Sinn, wenn sich jedes Land - auch wir - daran begibt, die sozialen Aufgaben als wesentliche Aufgaben zu erkennen, sie zu benennen, Konzepte zur Lösung zu erarbeiten und diese dann auch umzusetzen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gratuliere auch Ihnen. Wir haben heute eine Reihe von Erstlingsreden. ({0}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Dies trifft auch auf den Abgeordneten Andreas Krautscheid zu, dem ich nun das Wort erteile. ({1})

Andreas Krautscheid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns wie auch allen anderen Nationen wird immer deutlicher vor Augen geführt, daß der internationale Frieden nicht mehr nur durch militärische Bedrohungspotentiale und die vielen politischen und ethnischen Konflikte bedroht wird, sondern zunehmend auch durch soziale Krisensituationen. Die Stärkung der sozialen Entwicklung ist deshalb wesentliche Voraussetzung nicht nur für stabile zwischenstaatliche Ordnungen, sondern auch für eine friedensfördernde Entwicklung in den einzelnen Staaten selbst. Dabei sind wir uns sehr wohl bewußt, daß eine Verbesserung der sozialen Entwicklungschancen nicht ohne eine Veränderung der Konsum- und Produktionsmethoden in den Industrieländern möglich sein wird. Hier nenne ich die Stichworte Protektionismus und verantwortungsvoller Umgang mit den ökologischen Ressourcen. ({0}) Vorrangig, Herr Kollege Schuster, müssen wir jedoch aus den oft negativen Erfahrungen multilateraler Entwicklungspolitik lernen, ({1}) um die zum Einsatz gebrachten Mittel, etwa zur Armutsbekämpfung, effektiver einzusetzen. Denn wenn die Strukturen in den Entwicklungsländern nicht stärker auf eine soziale Entwicklung hin orientiert werden, nützen auch Verhaltensänderungen der Industriestaaten nichts. ({2}) Wir vertrauen im Rahmen der multilateralen Entwicklungshilfe auf die bewährten Kriterien, die in den letzten Jahren unserer bilateralen Entwicklungshilfe zum Erfolg verholfen haben. Dies bedeutet für uns vor allem eine Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf den UNDP-Vorschlag „20:20" eingehen, den der Kollege Kohn vorhin schon sehr deutlich inhaltlich strukturiert hat. Ich stehe diesem Vorschlag noch zurückhaltend gegenüber. Die Tendenz und der Impetus des Vorschlags sind insoweit richtig, als dadurch bezweckt werden soll, daß sich die Regierungen der Entwicklungsländer verstärkt für die eigene Armutsbekämpfung verantwortlich fühlen. Im Vorfeld des Weltsozialgipfels haben allerdings eine Reihe von Entwicklungsländern dieses Modell abgelehnt, weil sie hierin einen zu starken Eingriff in die eigene Budgetgestaltung sehen. Hier begegnet uns sehr schnell der Vorwurf des monetären Neokolonialismus. Diese Bedenken müssen wir erst noch argumentativ ausräumen. Zum zweiten bin ich sehr skeptisch, ob sich ein derartig starres, schablonenhaftes Raster überhaupt von Fall zu Fall auf die Bedürfnisse der einzelnen Länder übertragen läßt. Grundsätzlich gilt auch hier: Quantität geht nicht vor Qualität. Man kann erfolgreiche Entwicklungsarbeit nicht an erreichten Prozentzahlen ablesen. Wir wollen in erster Linie die eigenen schöpferischen und produktiven Kräfte der Menschen fördern, um nicht bei einer rein betreuenden Grundbedürfnisbefriedigung stehenzubleiben. ({3}) Lassen Sie mich noch auf einige Punkte des SPD-Antrags eingehen. Die Sozialdemokraten fordern beispielsweise, die Planung, Durchführung und die Ergebnisse aller Weltbankprojekte auf Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit und Sozialverträglichkeit zu überprüfen. Mir scheint dies die Gefahr in sich zu bergen, daß statt einer effektiven Einzelfallprüfung, wie sie etwa das Inspection Panel jetzt durchführt, eine komplizierte, umfangreiche neue Bürokratie geschaffen wird. Andererseits fordern Sie in jeder Diskussion über die Weltbank eine Bekämpfung der bürokratischen Hemmnisse bei der Weltbank. Wir würden uns freuen, wenn Sie die einzelnen Anträge einmal sinnvoll aufeinander abstimmen würden. ({4}) Für völlig unrealistisch halte ich auch die Forderung, die internationalen Finanz- und Handelsströme vom Wirtschafts- und Sozialrat, ECOSOC, auf die gewünschten sozialen und ökologischen Zielsetzungen hin überwachen zu lassen. Meine Damen und Herren, man schätzt, daß allein zwischen den Börsen Frankfurt, Tokio, New York und London pro Tag etwa 1 000 Milliarden Dollar bewegt werden. Wie eine Behörde mit etwas über 50 Mitgliedern wie ECOSOC derartige Dinge überwachen soll, ist mir absolut schleierhaft. Gleiches gilt für die von Ihnen gewünschte Überwachung der Tätigkeit transnationaler Konzerne. Wie das gehen soll, sagen Sie uns leider nicht. Das klingt alles sehr beeindruckend, aber leider bleiben Sie uns die Antwort auf die Frage schuldig, mit welchen Instrumenten und mit welchen Kompetenzen das funktionieren soll. ({5}) - Für Sie vielleicht, Herr Fischer. ({6}) Wenn ich mir den SPD-Antrag angucke, finde ich sehr interessant, was Sie uns nicht sagen. Bei der Frage, welches Wirtschaftssystem Sie in Entwicklungsländern präferieren, drücken Sie sich ständig um den Begriff „Marktwirtschaft" herum. Ich finde sehr interessant, daß in dem Antrag der GRÜNEN von dem Ziel einer „solidarischen Marktwirtschaft, die von Maßnahmen des sozialen und ökologischen Ausgleichs begleitet wird", die Rede ist. ({7}) Der Begriff „Marktwirtschaft" taucht in keiner Zeile des Antrags der SPD auf.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?

Andreas Krautscheid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Duve, selbstverständlich.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, gehört es jetzt zur schwarz-grünen Regel, daß Sie alle Papiere der Sozialdemokratie auf jene Selbstverständlichkeit hin untersuchen, die sich in dem Ausdruck „Marktwirtschaft" für die entwicklungspolitische Position der Sozialdemokraten seit Jahrzehnten manifestiert?

Andreas Krautscheid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Duve, man hat mir als Newcomer empfohlen, auch zwischen den Zeilen genau hinzuschauen. Mir ist aufgefallen, daß Sie in Ihrem Antrag alle Kriterien, die das BMZ festlegt, übernehmen, aber bei dem Begriff „Marktwirtschaft" lediglich von effizienter Wirtschaftsordnung reden. Wenn Sie darunter auch eine schöne Planwirtschaft verstehen, dann sagen Sie das, aber bleiben Sie bitte nicht zwischen den Zeilen hängen! ({0}) Wir sind überzeugt, daß die soziale und ökologische Marktwirtschaft für die Entwicklungsländer den gewünschten Ausgleich zwischen fairem Leistungswettbewerb, sozialer Absicherung und Schonung ökologischer Ressourcen bewirken kann. Die Entwicklungsländer sind für solche Anregungen und Erfahrungen bei ihrer Suche nach dem richtigen Weg zwischen gescheiterten sozialistischen Planmodellen und rigidem Manchester-Kapitalismus dankbar. Sie erwarten mit Recht, daß wir ihnen bei der Errichtung einer sozialverträglichen und ökologischen Wirtschaftsordnung helfen. Allerdings gilt auch hier: Soziale Transferleistungen als solche bringen in der Regel noch keine Entwicklung. Wir hätten uns gewünscht, daß die SPD die Neuorientierung der Entwicklungspolitik - weg von einer rein betreuenden Bedürfnisbefriedigung hin zu einer mehr an den aktiven schöpferischen Kräften der Bevölkerung orientierten Politik - mit nachvollzieht. Wir setzen weiterhin auf die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung, die die produktiven Kräfte der Bevölkerung nutzen möchte. ({1}) Die Bundesrepublik Deutschland hat allen Grund, selbstbewußt und kooperationsbereit in Kopenhagen aufzutreten. Unser Beitrag zur Verbesserung der sozialen Entwicklung kann sich allemal sehen lassen. Wir werden in Kopenhagen durch den Bundeskanzler sowie durch Fachminister prominent vertreten sein. Auch dies macht deutlich, welche Bedeutung die Bundesrepublik der Konferenz und ihren Zielen beimißt. Ich hoffe sehr, daß in Kopenhagen über die bereits bekannten Eckpositionen hinaus weitere Fortschritte möglich sein werden. Wir sind zu diesen Schritten bereit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Auch hier: Gratulation zur Newcomer-Rede! ({0}) Ich schließe damit die Aussprache. Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/556, 13/421, 13/539 und 13/535 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 12 und 13 auf: 13. Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer Teilfläche der bundeseigenen ehemaligen US-Wohnsiedlung Pattonville ({1}) an den Zweckverband Pattonville/Sonnenbergsiedlung - Drucksache 13/393 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ZP12 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über parlamentarische Gremien - Drucksache 13/543 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ZP13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({2}), Annelie Buntenbach, Andrea Fischer ({3}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aktionsprogramm Arbeitspolitik - Drucksache 13/578 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? -Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14a bis 14h auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes - Drucksache 13/240 - ({5}) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({6}) - Drucksache 13/544 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Cern Özdemir Erika Steinbach b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Beteiligung einer Delegation des Deutschen Bundestages an der VN-Konferenz in Berlin vom 23. März bis 7. April 1995 - Drucksache 13/540 - c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({7}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Fünfunddreißigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 13/23, 13/428 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich Fritz d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 9 zu Petitionen - Drucksache 13/334 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 10 zu Petitionen - Drucksache 13/424 - f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 11 zu Petitionen - Drucksache 13/425 - g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 12 zu Petitionen - Drucksache 13/426 - h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 13 zu Petitionen - Drucksache 13/427 Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 14a: Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes auf Drucksache 13/240. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/544, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei einigen Stimmenthaltungen mit großer Mehrheit angenommen. Tagesordnungspunkt 14 b: Abstimmung über den Antrag der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Beteiligung einer Delegation des Deutschen Bundestages an der UN-Konferenz in Berlin auf Drucksache 13/540. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle große Einmütigkeit im Plenum fest. Der Antrag ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 14c: Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksachen 13/23 und 13/428. - Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung bei einigen Stimmenthaltungen angenommen. Tagesordnungspunkte 14d bis 14h: Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf Drucksachen 13/334 und 13/424 bis 13/ 427. Das sind die Sammelübersichten 9 bis 13. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? ({13}) - Es wird um Wiederholung der Abstimmung gebeten. Ich wiederhole die Abstimmung: Wer stimmt für Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Es sieht ganz so aus, als sei das abgelehnt worden. ({14}) - Dann müssen wir durchzählen. ({15}) - Die CDU/CSU-Fraktion verlangt Zählung der Stimmen. Wir machen deswegen einen Hammelsprung. Ich bitte Sie also, den Saal zu verlassen. - Wenn alle Mitglieder des Hauses draußen sind, bitte ich, die Türen zu schließen. Sind die Schriftführer anwesend? ({16}) Können wir einmal klären, ob die notwendigen Schriftführer anwesend sind? - Ich frage noch einmal, ob die Schriftführer inzwischen eingetroffen sind. ({17}) - Es sind einige andere Mitglieder des Hauses da, die das machen könnten. Mir sind folgende Schriftführer benannt worden, die jetzt den Zähldienst an den Türen übernehmen: der Abgeordnete Dr. Max Stadler, der Abgeordnete Roland Kohn, die Abgeordnete Elisabeth Altmann und die Abgeordnete Steffi Lemke. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, an die Türen zu gehen. Sobald sie an den Türen sind, beginnt die Abstimmung. - Sobald ich das Zeichen habe, daß die Schriftführerinnen und Schriftführer an den Türen sind, beginnt die Abstimmung. ({18}) - Dann eröffne ich die Abstimmung. Hat jemand noch nicht an der Abstimmung teilnehmen können? Können die Schriftführer mir bitte ein Zeichen geben, ob die Abstimmung abgeschlossen ist? - Die Türen werden geschlossen. Ich bitte die Schriftführer, umgehend zu mir zu kommen und das Ergebnis mitzuteilen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will etwas vorweg sagen. Es ist ein etwas ungewöhnlicher Vorgang, daß wir jetzt ein so volles Haus haben. ({19}) Das hat einen großen Nutzen. Ich möchte Sie bitten, gleich, nachdem ich das Ergebnis der Abstimmung bekanntgegeben habe, wenn es Ihnen möglich ist, hierzubleiben, weil wir über den Antrag zu Salman Rushdie abstimmen. Dafür hat es sich sicherlich gelohnt, daß wir hier so viele sind. ({20}) Ich gebe jetzt das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Mit Ja haben gestimmt: 272 Abgeordnete. Mit Nein haben gestimmt: 217 Abgeordnete. ({21}) 489 Abgeordnete waren anwesend. Damit war das Haus beschlußfähig. Die Beschlußempfehlungen sind damit angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Solidarität mit Salman Rushdie und zu einem Appell gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit zu erweitern. Über diesen Antrag soll jetzt gleich ohne Aussprache abgestimmt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe folgenden Zusatzpunkt auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Solidarität mit Salman Rushdie und Appell gegen die Einschränkung von Meinungsfreiheit - Drucksache 13/586 Wir kommen damit zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag zur Solidarität mit Salman Rushdie und zu einem Appell gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist bei großer Beteiligung einstimmig in diesem Haus angenommen worden. Ich danke Ihnen. ({22}) Der Abgeordnete Gerhard Zwerenz hat um das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung erbeten.

Gerhard Zwerenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002833, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dem interfraktionellen Antrag zur Solidarität mit Salman Rushdie stimme ich nur im Sinne eines Minimums zu. Ich erkläre zugleich meine Unzufriedenheit mit dem geradezu unanständig zurückhaltenden Antragstext, der weit hinter allem zurückbleibt, was unser Schriftstellerverband in der IG Medien und unsere beiden deutschen PEN-Zentren sowie viele Bürgerinitiativen längst ausdrücklich gefordert haben. ({0}) Sechs Jahre religiös-staatlicher Morddrohung gegen Salman Rushdie sind genug. Die Gruppe der PDS fordert deshalb, dem Iran ausdrücklich einen Termin von nicht länger als drei Monaten zu setzen. Ist der Mordauftrag bis dahin nicht offiziell zurückgenommen, wird der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran abzubrechen, wie es im interfraktionellen Antrag leider ohne Terminierung angedroht wird. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter Zwerenz, eine Erklärung zur Abstimmung können Sie nicht im Namen Ihrer Fraktion, sondern nur für sich persönlich abgeben. Ich nehme das in diesem Sinne zu Protokoll. ({0}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksache 13/470 Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Lintner bereit. Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Dr. Max Stadler auf: Ist die Bundesregierung bereit, eine Härtefallregelung für traumatisierte, in Behandlung befindliche Flüchtlinge und ältere, in Kroatien alleinstehende Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland durch enge Angehörige versorgt sind, gegenüber den Innenministern der Länder zu unterstützen, und liegen ihr Erkenntnisse darüber vor, wie viele Personen eine solche Regelung betreffen würde?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Frau Präsidentin, die Antwort lautet wie folgt: Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder hat sich 1993/1994 mehrfach mit der Rückführung der kroatischen Kriegsflüchtlinge und der Notwendigkeit einer Härtefallregelung befaßt. Der bislang endgültige Beschluß vom 9. Februar 1994 enthält keine Regelungen über den Verbleib bestimmter Kriegsflüchtlinge in Härtefällen. Die Bundesregierung sieht keine Notwendigkeit, das Thema von sich aus erneut aufzugreifen. Der Bundesregierung liegen auch keine Erkenntnisse über die Zahl der Personen vor, die für eine etwaige Härtefallregelung in Betracht kämen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe Frage 46 des Abgeordneten Dr. Max Stadler auf: Wird die Bundesregierung sich angesichts der langen Aufenthaltsdauer vieler bosnischer Flüchtlinge auf der nächsten Innenministerkonferenz dafür einsetzen, daß diesen bis zur Umsetzung des für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge vorgesehenen § 32a Ausländergesetz eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 AuslG erteilt wird, und teilt die Bundesregierung die Ansicht, daß Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die im Besitz einer Duldung sind, nach Einzelfallprüfung regelmäßig eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden sollte, sofern sie sich seit mindestens zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Herr Kollege Dr. Stadler, die Frage 46 beantworte ich wie folgt: Nach Auffassung- der Bundesregierung sollte jedenfalls denjenigen bosnischen Flüchtlingen, die inzwischen ihren Lebensunterhalt im Bundesgebiet ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestreiten können, eine Aufenthaltsbefugnis nach § 32 des Ausländergesetzes erteilt werden. Entsprechende Vorschläge in der Innenministerkonferenz wird die Bundesregierung unterstützen. Nach Auffassung der Bundesregierung sollte Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, wenn sowohl die freiwillige Ausreise als auch eine Abschiebung aus Gründen unmöglich sind, die die Flüchtlinge nicht zu vertreten haben, und wenn nicht damit zu rechnen ist, daß das Ausreise- und Abschiebungshindernis in absehbarer Zeit entfällt. Nach dem derzeitigen Sachstand kommen nur die Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis in Betracht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gibt es Zusatzfragen? - Nein, das ist ausreichend beantwortet. Dann rufe ich Frage 47 des Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Sicherheitslage in Kroatien für den Fall, daß dort das Mandat der VN-Schutztruppen nicht über den 31. März 1995 hinaus verlängert wird und die serbisch besetzten Gebiete Kroatiens noch nicht zurückgegeben worden sind, und können die hier lebenden Flüchtlinge aus Kroatien davon ausgehen, daß ihre Rückschiebung ausgesetzt wird, falls es zu erneuten Kriegshandlungen kommt bzw. diese ernsthaft zu befürchten sind?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Die Bundesregierung hält es nicht für angezeigt, Vermutungen über die künftige Sicherheitslage in Kroatien zu äußern. Ob eine etwaige Änderung der Sicherheitslage in Kroatien es erfordert, die Rückführung kroatischer Kriegsflüchtlinge auszusetzen, werden gegebenenfalls die Länder zu entscheiden haben, denen nach Art. 83 des Grundgesetzes die Ausführung der ausländerrechtlichen Bestimmungen im Bundesgebiet als eigene Angelegenheit obliegt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gibt es Zusatzfragen? - Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Frage, verehrte Frau Präsidentin, ist folgende: Kann es Sinn der Vereinbarung der Länderinnenminister vom 9. Februar 1994 gewesen sein, daß nunmehr auch Kriegsflüchtlinge aus Bosnien mit einem zweiten, zusätzlichen kroatischen Paß mit der Ausreise in ihre Heimat bedroht werden, in die sie nicht zurückkehren können, weil dort Kriegsgebiet ist, oder aber nach Kroatien, wo sie nicht zu Hause sind, wo sie allenfalls in einem Flüchtlingslager unter erbärmlichen Verhältnissen Aufnahme finden könnten? Ist dies die ratio legis der Länderinnenministervereinbarung vom 9. Februar 1994?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Frau Präsidentin, ich darf darauf hinweisen, daß sich diese Frage auf die Frage 45 bezieht, die eigentlich längst abgehandelt ist. Ich bin aber gern bereit, trotzdem zu antworten. Ich darf Sie, Kollege Schmidt, darauf verweisen, daß es sich um Staatsangehörige von Kroatien handelt und eine Differenzierung unter Staatsangehörigen nach der Problemlage, wie wir sie hier vorliegen haben, nicht angezeigt erscheint.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Keine weiteren Zusatzfragen? - Sie, Herr Abgeordneter Schmidt, haben leider keine zweite Zusatzfrage. Damit schließe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Bernd Schmidbauer bereit. Wir kommen zu den Fragen 5 und 6 des Abgeordneten Freimut Duve. Er war soeben hier, hat aber um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin, ich möchte nur sagen, daß es ein Vorgang ist, den ich nicht für gut befinde, wenn kurz vor der entsprechenden Behandlung der Frage um schriftliche Beantwortung gebeten wird, zumal es um eine Äußerung von Herrn Duve in einer öffentlichen Bundestagsdebatte geht. Aber ich nehme es zur Kenntnis.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes und danke Ihnen, Herr Staatsminister, daß Sie gekommen sind. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Johannes Nitsch bereit. Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Georg Pfannenstein auf: Kann die Bundesregierung erklären, warum der Ausbau der BAB 6 zwischen Amberg-Ost, Pfreimd und Waidhaus nicht die gleiche Prioritätsstufe erhalten hat wie die Autobahnbauvorhaben in den neuen Bundesländern, obwohl es sich zumindest bei dem Teilstück zwischen Amberg-Ost und Autobahnkreuz Pfreimd um einen wichtigen Lückenschluß in der Ost-West-Verkehrsverbindung handelt und die Anwohner der Ortsdurchfahrten Hirschau, Schnaittenhach und Wernberg-Köblitz derzeit unter unzumutbarem Durchgangsverkehr mit großen Sicherheitsrisiken zu leiden haben? Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Die Festlegung der Dringlichkeitsstufe trifft der Deutsche Bundestag mit dem Fernstraßenausbaugesetz bzw. dem Bedarfsplan für Bundesfernstraßen als Anlage zu diesem Gesetz. In diesem Bedarfsplan ist die A 6 zwischen Amberg-Ost und Waidhaus in den vordringlichen Bedarf eingestellt - ebenso wie viele Bundesautobahnprojekte in den neuen Ländern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Haben Sie eine Zusatzfrage, oder möchten Sie die nächste Frage beantwortet haben?

Georg Pfannenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002749, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich habe eine Zusatzfrage. Herr Staatssekretär, in welchem Zeitraum ist die Finanzierung vorgesehen? Gibt es eine Möglichkeit, die Finanzierung bzw. die Realisierung des Bauvorhabens vorzuziehen?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Herr Kollege, Sie gehen damit zu Ihrer nächsten Frage über. Darf ich das so zur Kenntnis nehmen?

Georg Pfannenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002749, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das betrifft noch die erste Frage.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es ist als Zusatzfrage zu Frage 9 gedacht.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Wir haben die Finanzierung des Bereichs östlich der Autobahn 93, also zwischen A 93 und der Grenze zur Republik Tschechien, für die Teile Pfreimd bis östlich Wernberg-Köblitz in den jetzt laufenden Fünfjahresplan voll eingestellt. Gleiches gilt für den Teil westlich Waidhaus.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir kommen zur Frage 10 des Abgeordneten Pfannenstein: Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, wann definitiv mit dem Planfeststellungsbeschluß für die Teilstücke Amberg-Ost-Autobahnkreuz Pfreimd bzw. Autobahnkreuz Pfreimd-Woppenhof ({0}) gerechnet werden kann? Johannes Nitsch, Par]. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr: Zu dieser Frage gebe ich folgende Antwort: Die Einleitung des Planfeststellungsverfahrens für den Bereich Wernberg-Köblitz ist noch für das Jahr 1995 vorgesehen. Es wird angestrebt, vorziehbare Planfeststellungsbeschlüsse für die Abschnitte Amberg-Ost bis Pfreimd und Pfreimd bis östlich Wernberg-Köblitz etwa bis Sommer 1997 zu erlangen. Die dann noch verbleibende Lücke zwischen Woppenhof und Lohma wird voraussichtlich 1998 planfestgestellt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Bei der Frage 11 des Abgeordneten Horst Kubatschka ist um schriftliche Antwort gebeten worden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir kommen damit zur Frage 12 der Abgeordneten Uta Zapf: Hält der Bundesminister für Verkehr im Rahmen der Zulässigkeit zur Anordnung eines Lkw-Nachtfahrverbotes aus Lärmschutzgründen es nach wie vor für sachgerecht, eine Minderung des Mittelungspegels von mindestens 3 dB gemäß Nummer 4.1 der Lärmschutz-Richtlinien StV vom 6. November 1981 zu fordern?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Lärmschutz-Richtlinien Straßenverkehr fordern eine Minderung des Mittelungspegels um mindestens 3 dB, weil bei den charakteristisch im Straßenfernverkehr auftretenden Frequenzen und den praktisch vorkommenden Pegelbereichen im Straßenverkehr Pegelunterschiede unter 3 dB kaum wahrgenomen werden. Neue Erkenntnisse, die eine Verringerung der erforderlichen Lärmminderung von 3 dB rechtfertigen, liegen nicht vor.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage? - Bitte.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung nicht der Meinung, daß ein Minderungswert von 3 dB überholt ist, insbesondere auf innerörtlichen Straßen und in bezug auf Lärmemissionen, die dort entstehen, weil dies ein ursprünglich auf Autobahnen angewandter Senkungswert ist? Ist die Bundesregierung nicht der Meinung, daß zumindest für innerörtliche Straßen dieser Wert gesenkt werden müßte?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ich kann hierbei auf meine Antwort zurückgreifen. Ich habe ausgeführt, daß in diesem Frequenz- und Pegelbereich, der im Straßenverkehr üblich ist, eine geringere Pegelschwelle als 3 dB keine praktischen Ergebnisse zeigt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage? - Bitte.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist die Bundesregierung der Meinung, daß einzelne innerörtliche Lärmereignisse anders zu bewerten sind, oder beharrt die Bundesregierung darauf, daß hier eine einheitliche Beurteilungspraxis eingehalten wird und diese sich auch auf Nachtfahrverbote für Lkws erstrecken sollte?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Auch in diesem Fall ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Einzelschallereignisse Bestandteil des Mittelungswertes sind und damit in die Ausführungen, die ich als Antwort gegeben habe, einbezogen wurden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir kommen damit zur Frage 13. Hier ist um schriftliche Antwort gebeten worden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir kommen dann zur Frage 14 der Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren: Wie ist der aktuelle Stand des Verfahrens beim Bau der Bundesstraße „B 70 n" im Bereich Neuenkirchen/Wettringen/Metelen - speziell ire Hinblick auf einen konkreten Termin für den Baubeginn?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich möchte die Antwort in drei Teile aufgliedern, damit wir uns gut verstehen. Für die Umgehung Neuenkirchen wurde der Planfeststellungsbeschluß am 8. Oktober 1993 erlassen. Mit Datum vom 20. Dezember 1994 wurde das zuständige Ministerium für Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen aufgefordert, den sofortigen Vollzug anzuordnen und die erforderlichen Mittel für den Bau der Ortsumgehung im Rahmen der zugewiesenen Mittel für 1995 und die Folgejahre bereitzustellen. Zweiter Teil, Umgehung Wettringen: Für die Umgehung Wettringen hat der dritte Behördenbeteiligungstermin im Rahmen der Umweltverträglichkeitsstudie stattgefunden. Auf Grund des noch nicht so weit vorangeschrittenen Planungsstandes kann hier ein konkreter Termin für den Baubeginn noch nicht angegeben werden. Dritte Teilantwort, Umgehung Metelen: Das Planfeststellungsverfahren wurde im Juli 1990 eingeleitet. Zur Berücksichtigung der Anregungen und Bedenken der Bürger während der ersten Offenlegung wurden Deckblätter gefertigt, die erneut offengelegt wurden. Derzeit werden die Stellungnahmen zu den Einwendungen erarbeitet, die voraussichtlich im April diesen Jahres an die Anhörungsbehörde weitergeleitet werden. Ein konkreter Termin für den Baubeginn kann auch bei diesen Maßnahmen im Moment nicht angegeben werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie auf Grund der langjährigen Erfahrungen in der Lage, annähernd den Beginn des Baus anzugeben?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Für welchen Teilabschnitt, bitte?

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich teile das dann auch noch einmal auf den Bereich Wettringen, wo das Verfahren ja noch am weitesten zurück ist, und den Bereich Metelen auf.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Hier darf ich auf meine dritte Teilantwort verweisen. Dort hatten wir im Jahre 1990 das Planfeststellungsverfahren und sind heute noch nicht beim Baubeginn. Ich kann auf Parl. Staatssekretär Johannes Nltsch Grund der Erfahrungen beim besten Willen nicht voraussagen, welche Einwendungen in der Offenlegung kommen und wie diese dann erledigt werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Keine weiteren Zusatzfragen. Für die Fragen 15, 16, 17 und 18 ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Peter Dreßen auf: Welche Privatisierungs- und Regionalisierungstendenzen hat die Bundesregierung im Hinblick auf die Elztalbahn, die Bahn von Freiburg nach Breisach, die Bahn Biberach Z. a. H., die Bahn Hausach nach Freudenstadt sowie die Bahn Titisee nach Seebrück im einzelnen, und welche finanziellen Konditionen sind ggf. für die Betreiber vor Ort im einzelnen vorgesehen?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrter Herr Kollege, die Übertragung der Verantwortung für den Schienenpersonennahverkehr der Deutschen Bahn AG auf die Länder zum 1. Januar 1996 bedeutet, daß die derzeit noch unterschiedlichen Zuständigkeiten im gesamten öffentlichen Personennahverkehr durch Landesrecht auf regionaler Ebene zusammengefaßt werden. Die Länder bereiten hierfür derzeit Landes-ÖPNV-Gesetze vor. Es wird erwartet, daß durch die Planung, Organisation und Finanzierung der öffentlichen Personennahverkehrsbedienung aus einer Hand vor Ort der SPNV insgesamt wirtschaftlicher, leistungsfähiger, kundennäher und attraktiver gestaltet werden kann als heute. Der Bund hat dem Land Baden-Württemberg für das Jahr 1996 insgesamt 894,69 Millionen DM sowie für das Jahr 1997 insgesamt 1 278,88 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Das Land Baden-Württemberg entscheidet in eigener Verantwortung über die in seinem Bereich liegenden Eisenbahnstrecken, die der Sicherstellung einer ausreichenden Verkehrsbedienung im öffentlichen Personennahverkehr dienen. Einzelheiten der Ausgestaltung des SPNV sind vom Land Baden-Württemberg und von den nach Landesrecht bestimmten Aufgabenträgern für die Durchführung von Schienenpersonennahverkehr mit der DB AG zu vereinbaren. Die Bundesregierung nimmt hierauf keinen Einfluß.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage? - Bitte.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich eigentlich nicht gefragt, Herr Staatssekretär, sondern ich wollte wissen - und das können Sie sicherlich auch sagen -, ob es Überlegungen gibt, diese Strecken unter Umständen zu privatisieren.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Die von Ihnen genannten Strecken gehören zu dem Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs. Damit trifft meine Antwort Ihre Frage.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie feststellen, daß es tatsächlich in den kommunalen Sektor übergeht. Können Sie mir dann sagen, Herr Staatssekretär, welche Kosten auf die einzelnen Kommunen durch Übernahme der Schienenwege usw. zukommen und ob wir - man hört, daß zum Teil Überforderungen durch die Bahn AG stattfinden - im Parlament noch Möglichkeiten haben, darauf Einfluß zu nehmen?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ich habe Ihnen die Mittel genannt, die der Bund dem Land Baden-Württemberg für die Jahre 1996 und 1997 zur Verfügung stellt, um diese Aufgabenverteilung im Land und in den Kommunen erträglich zu gestalten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, Sie haben als Antwort auf die Frage des Kollegen Dreßen gesagt, daß bei der Bahn mit der Privatisierung alles besser, schöner und grüner werden soll. Sie haben auf die Frage, ob die Strecken von Stillegungen bedroht sind, konkret nicht geantwortet. Ist Ihnen bekannt, daß gerade in Baden-Württemberg auf Grund der Tatsache, daß die Deutsche Bahn AG ihre Preise für die Nutzung der Trassen verzehn- oder versiebenfachen will, zwei Linien direkt von Schließung bedroht sind? Das betrifft die Karlsruher Stadtwerke, die die Regionalbahn um Karlsruhe herum betreibt, und es betrifft die Bodensee-Oberschwaben-Bahn von Friedrichshafen nach Ravensburg. Beide Gesellschaften sagen, bei diesen Trassenpreisen müßten sie den Schienenverkehr einstellen. Bisher hat der Bund 100 % Eigentum der Bahn AG, deshalb müssen Sie darauf anworten.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ich kann Ihnen in diesem Moment nicht sagen, welche Forderungen die Deutsche Bahn AG für die Benutzung der Wege erhoben hat. Ich habe Ihnen die allgemeine Situation dargestellt, die im Schienenpersonennahverkehr ab 1996 gilt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielleicht wäre das eine neue Frage wert. Wir kommen jetzt zur Frage 20 des Abgeordneten Dreßen: Welche konzeptionellen Vorstellungen wird die Bundesregierung anläßlich der geplanten Vorlage der endgültigen Fassung des Verkehrsprotokolls der Alpenkonvention, das nach dem Willen der Unterzeichnerstaaten im ersten Halbjahr 1995 vorliegen soll, in die Verhandlungen einbringen, um eine möglichst umweltfreundliche Verkehrsabwicklung durch den vorrangigen Einsatz des kombinierten Verkehrs und den Umstieg von der Straße auf die Schiene zu fördern, und welche Priorität wird dabei dem Ausbau der viergleisigen Rheintalschiene zwischen Offenburg und Basel zugewiesen?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrter Herr Kollege, nach den Vorstellungen der Bundesregierung sollen die Belastungen und Risiken im Bereich des inneralpinen und alpenquerenden Verkehrs auf ein Maß gesenkt werden, das für Menschen, Tiere und Pflanzen sowie deren Lebensräume erträglich ist. Seitens der Bundesregierung wird dem Handlungsbedarf im Schienen- und im öffentlichen Verkehr Priorität eingeräumt. Güterverkehr soll auf mittlere und lange Distanzen auf der Schiene abgewickelt werden. In Art. 2 Ziffer 2 ist daher konkret folgende Formulierung im Verkehrsprotokoll vorgesehen: Ebenso unerläßlich wie neue Bahninfrastrukturen ist die Entwicklung des Kombinierten Verkehrs für den inneralpinen und alpenquerenden Güterverkehr. Die Vertragsparteien verpflichten sich darauf hinzuarbeiten, daß die Bahnen sich organisatorisch vermehrt auf den Kombinierten Verkehr ausrichten, Terminals erstellen und Vor- und Nachläufe verbessert werden, um den Wechsel von Straße, Schiene und Häfen möglichst nahe an Quelle und Ziel zu ermöglichen. Aus diesem Grund kommt dem Ausbau der Strecke Karlsruhe-Offenburg-Basel eine besondere Bedeutung zu. Die Strecke Karlsruhe-Müllheim ist bereits im vordringlichen Bedarf eingeordnet. Der südliche Teil Müllheim-Basel ist unter den „länderübergreifenden Projekten" enthalten, für deren Ausbau eine Vereinbarung mit dem betroffenen Nachbarland erforderlich ist. Derzeit ist dieser Teil der Strecke Untersuchungsgegenstand einer bilateralen Arbeitsgruppe.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage, Herr Dreßen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, bis wann Sie mit dem Planfeststellungsverfahren beginnen?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Das kann ich Ihnen schriftlich geben. Im Moment habe ich dazu keine Unterlagen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß man vor Ort hört, daß man damit erst im Jahre 2002 oder später beginnen will. Ich halte es für eine Katastrophe, wenn jetzt nicht mit dem Planfeststellungsverfahren begonnen wird. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß das jetzt gemacht werden muß; denn Sie wissen, das dauert seine Zeit.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nun machen Sie noch eine Frage aus Ihrer Ermahnung! ({0})

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme an, Sie sind meiner Meinung?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ich sichere Ihnen zu, daß Sie dazu eine schriftliche Antwort bekommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Dreßen gesagt, die Bundesregierung betreibe eine Schienenvorrangpolitik. Wie können Sie uns dann erklären, daß erstens im Haushaltsansatz 1995 ein deutliches Prä für die Straßeninvestitionen zu verzeichnen ist - ungefähr 2 Milliarden DM mehr für Straßeninvestitionen -, und was hält die Bundesregierung von der Tatsache, daß die Koalition im Haushaltsausschuß den Ansatz für die Schieneninfrastruktur um 649 Millionen DM gekürzt hat und davon wiederum 250 Millionen DM dem Straßenbautitel zugeschlagen hat?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrte Kollegin, ich darf erwähnen, daß sich meine Antwort auf eine Frage zur Alpenkonvention bezog. Meine Ausführungen bezogen sich auf die Querung der Alpen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es liegen keine weiteren Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr vor. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär Johannes Nitsch dafür, daß er gekommen ist. Ich komme zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Dr. Werner Hoyer bereit. Wir kommen zur Frage 25 der Abgeordneten Elke Ferner. Wo sollen die durch die Bundesrepublik Deutschland geförderten türkischen Fregatten eingesetzt werden, und wo könnten dabei deutsche Interessen berührt sein?

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Frau Kollegin Ferner! Die Entscheidung über den Einsatz türkischer Fregatten obliegt im Grundsatz der türkischen Regierung. In einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei über die finanzielle Unterstützung des Baus von zwei Fregatten wird deren ausschließliche Verwendung in Übereinstimmung mit Art. 5 des Nordatlantikpaktvertrages vereinbart werden. Ich schlage vor, daß ich die Fragen, die sich auf das deutsche Interesse an dem Vorhaben beziehen, gemeinsam mit der folgenden Frage beantworte, wenn Sie damit einverstanden sind.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gut. Sie können dann Zusatzfragen stellen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir kommen also zunächst zur Frage 26 des Abgeordneten Hiksch: Trifft es zu, daß die Bundesregierung den Bau von zwei MEKO({0})-Fregatten für die Türkei auf deutschen Werften mit einer Summe von 150 Mio. DM subventionieren will, und womit wird dieses Vorhaben begründet?

Not found (Gast)

Herr Kollege Hiksch, Bundeskanzler Dr. Kohl hat der türkischen Premierministerin Ciller am 20. September 1993 eine finanzielle Unterstützung für den Bau von zwei MEKO-Fregatten in Höhe von 150 Millionen DM zugesagt. Die Finanzierungshilfe soll in drei Raten ab dem Jahr 1996 erfolgen. Die Förderung des Baus der Fregatten erfolgt vor dem Hintergrund des deutschen Interesses an einer sicherheitspolitischen Stützung der Türkei in einer von Instabilitäten gezeichneten Region. Mit der Finanzierungshilfe wird das umfangreiche Programm des Fregattenbaus eines deutschen Fir-. menkonsortiums mit der türkischen Regierung unterstützt. Das Vorhaben ist auch für die deutsche Werftindustrie von großer Bedeutung, die durch diese Aufträge ihre Auslastung deutlich verbessern kann. Das Vorhaben der Förderung der MEKO-Fregatten wird von der türkischen Regierung als Ausdruck und auch als Prüfstein der deutschen Bereitschaft zu einer partnerschaftlichen Kooperation über den sicherheitspolitischen Bereich hinaus angesehen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zunächst eine Zusatzfrage der Abgeordneten Ferner. Bitte.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben im Prinzip gesagt, es sei Sache des Empfängerlandes, in dem Fall der Türkei, wo die Fregatten eingesetzt werden. Ist Ihnen denn bekannt, Herr Staatsminister, daß gerade bei den Spannungen zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei natürlich auch die Anzahl der Fregatten, die das jeweilige Land hat, eine sehr große Rolle spielt? Wie sehen Sie in dem Zusammenhang die Befürchtungen von Griechenland hinsichtlich dieser Aktion?

Not found (Gast)

Das ist selbstverständlich ein Gesichtspunkt, der immer zu berücksichtigen ist. Es gibt noch weitere Fragen, die genau hierauf abzielen und die ich auch entsprechend beantworten werde. Es ist klar, daß eine Gleichgewichtsüberlegung, was militärische Potentiale angeht, im Hinblick auf zwei Partner, die beide dem Nordatlantikvertrag angehören, etwas merkwürdig wäre. Dennoch ist es für uns wichtig, in dem Vertrag, in dem die Mitfinanzierung durch die Bundesrepublik Deutschland geregelt wird, sicherzustellen, daß der Einsatz dieser Fregatten nur im Rahmen der Vorschriften des Nordatlantikvertrages in Frage kommt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Kollege Hiksch hat eine Zusatzfrage.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe eine Zusatzfrage zur Frage 25 der Abgeordneten Ferner. Können Sie bestätigen, daß selbst dann, wenn Verträge geschlossen werden, nach denen diese beiden MEKO-Fregatten für gewisse Dinge nicht eingesetzt werden dürfen, dadurch natürlich andere Waffen frei werden, die dann genau für das eingesetzt werden könnten, wofür die zwei Fregatten eben nicht eingesetzt werden dürfen? Dadurch werden faktisch trotzdem Waffen in ein Spannungsgebiet im Mittelmeer geliefert. ({0})

Not found (Gast)

Das ist eine Überlegung, die man theoretisch sicherlich nachvollziehen kann; gleichwohl ist sie durchaus etwas um die Ecke gedacht. Es ist unbestreitbar, daß Mittel, die auf diese Weise freigesetzt werden könnten, für andere Zwecke verwendet werden könnten. Das ist völlig richtig. Aber das ist natürlich auch Teil einer Überlegung, die hinter einer solchen Zusammenarbeit steht. Dies geschieht ja im Hinblick auf einen wichtigen Partner der NATO, einen Mitgliedsstaat der NATO, mit dem wir enge Beziehungen auch als Europäische Union haben wollen. Wir sind an einer Entwicklung der Türkei in Richtung Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, an einer Entwicklung der Türkei in Richtung hin auf die Europäische Union interessiert. Wir hoffen, daß wir damit auch einen Beitrag leisten, um deutlich zu machen, wie wir an der Türkei und der Zusammenarbeit mit ihr interessiert sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Hiksch hat noch eine Zusatzfrage. Diese Zusatzfrage bezieht sich aber nicht mehr auf Frage 25 der Kollegin Ferner, sondern auf seine eigene Frage 26. Bitte, Herr Hiksch.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie mir, sehr geehrter Herr Staatsminister, wenn Sie davon sprechen, daß es Instabilitäten in der Region gibt, bestätigen, daß diese Instabilitäten vor allem von der aggressiven Politik der Türkei ausgehen, d. h. die Türkei maßgeblich daran schuld ist, daß Instabilitäten in dieser Region entstanden sind?

Not found (Gast)

Nein.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine weitere Zusatzfrage zu meiner Frage: Können Sie mir begründen, warum die Lieferung von Kriegswaffen dazu beitragen soll, Instabilitäten in einer Region zu befrieden und abzustellen?

Not found (Gast)

Die Türkei ist ein wichtiger Partner, der ein Recht auf Schutz seiner eigenen Landesgrenzen und seiner territorialen Interessen hat. In den Zusammenhang einer Region, die in der Tat von erheblichen Instabilitäten gekennzeichnet ist - damit meine ich jetzt nicht das Verhältnis Griechenlands zur Türkei -, gehört diese Frage. Eine Waffenkooperation kann sicherlich eine Verbesserung der Sicherheitslage der Türkei nach sich ziehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, ist die Finanzierung der Fregatten mit dem Beschluß und der Zusage der Bundesregierung vereinbar, keine Militärhilfe und keine Rüstungshilfe mehr an die Türkei zu gewähren, und haben Sie noch in Erinnerung, in welchem Zusammenhang damals die Diskussion geführt und diese Zusage der Bundesregierung gegeben worden ist, und haben Sie vielleicht auch noch in Erinnerung, daß damals die Zusage des ordnungsgemäßen Einsatzes von Waffen nicht in dem Sinne eingehalten worden ist, wie Sie uns das jetzt versichert haben?

Not found (Gast)

Das ist ein ganz besonders wichtiger Punkt, mit dem wir uns - auch in diesem Hause - strittig auseinandergesetzt haben. Allerdings ist bei der Verwendung von Fregatten die Möglichkeit nicht so ohne weiteres gegeben, daß wir hier in einen internen Streit geraten. ({0}) - Der Zusammenhang mit der Rüstungshilfe, die beendet worden ist, ist nicht gegeben. Es gehört nicht in dieses Programm hinein. Wir geben diese Waffen nicht ab, wie wir seinerzeit die Rüstungshilfe bedient haben, sondern hier handelt es sich um einen Auftrag der türkischen Regierung an ein deutsches Werftenkonsortium, das mit einer Finanzierungshilfe der Bundesrepublik unterstützt wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, können Sie meinem Verständnis aufhelfen? Sie haben soeben gesagt, daß es ja unser politisches Ziel sei, die Demokratisierung der Türkei zu fördern. Jetzt frage ich einmal ganz unabhängig von der Frage, in welchem Programm nun die Kredithilfe hier steht: Wie soll ich verstehen, daß durch die Lieferung von Rüstungsgütern in ein Land, das sich in einem Bürgerkrieg befindet, die Demokratie gefördert wird?

Not found (Gast)

Die Demokratie wird nicht durch die Lieferung von Rüstungsgütern gefördert, sondern dadurch, daß wir diesem Land klarmachen, daß wir daran interessiert sind, dieses Land in der Gemeinschaft freier demokratischer Völker zu haben. Dies setzt voraus, daß man zu bestimmten Kooperationen bereit ist, und zwar auch zu solchen Kooperationen, die dazu beitragen, daß das Sicherheitsbedürfnis dieses Landes befriedigt wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Voigt.

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, Sie haben vorhin die sicherheitspolitischen Bedürfnisse angesprochen. Ist Ihnen vielleicht in Erinnerung, daß verschiedentlich Vertreter des Auswärtigen Amtes, darunter auch mehrere Staatsminister, im Auswärtigen Ausschuß erwähnt haben, daß nach 1989 in dieser Region eine sicherheitspolitische Veränderung in der Weise eingetreten ist, daß Rüstungslieferungen verschiedener Art an die Türkei und auch an Griechenland nicht mehr zu rechtfertigen sind, und daß deshalb, wenn diese Analyse zutrifft, von Ihrer hehren sicherheitspolitischen Begründung wenig, nämlich nur noch die nackten bloßen Wirtschaftsinteressen der Rüstungsindustrie übrigbleiben?

Not found (Gast)

Die Bewertung der maritimen Situation in der Türkei und der Umgebung der Türkei erfährt sicherlich hin und wieder eine Aktualisierung. Wenn die Türkei zu dem Ergebnis käme, im Rahmen ihrer NATO-Verpflichtung über eine Ergänzung ihrer Flotte nachzudenken, ist dies ein Punkt, über den wir sicherlich gemeinsam und partnerschaftlich mit der Türkei diskutieren würden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, trifft es zu, daß das Auswärtige Amt nicht besonders glücklich darüber war, daß diese Rüstungshilfe an die Türkei über die Bezuschussung von Fregatten im Haushalt des Auswärtigen Amtes etatisiert war und daß nach Wegen gesucht wurde und noch wird, diese Rüstungshilfe in einem anderen Etat unterzubringen, und warum ist dies so?

Not found (Gast)

Herr Kollege Kuhlwein, Sie erfreuen natürlich das Herz des zuständigen Staatsministers, wenn Sie als der zuständige Berichterstatter darauf hinweisen, daß die Etatisierung dieses Postens - ob im Einzelplan des Auswärtigen Amtes, des Wirtschaftsministers oder im Einzelplan 60 - bisher noch nicht feststeht, so daß Sie darüber im Rahmen der Haushaltsberatungen noch zu entscheiden haben.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Warum wollen Sie es woanders etatisieren?

Not found (Gast)

Dies ist nicht nur eine außenpolitische, sondern eine gesamtpolitische Angelegenheit. Solche Projekte gehören dann, wenn sie finanzielle Fragen beStaatsminister Dr. Werner Hoyer treffen, nicht notwendigerweise in den Etat des Auswärtigen Amtes. Dies ist eine Frage der haushaltspolitischen Gestaltung. Hier ist der Phantasie des Haushaltsausschusses keine Grenze gesetzt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, Sie haben von einer Hilfe für ein deutsches Werftenkonsortium gesprochen. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dies nach Art. 22, 23 des EU-Vertrages als Werftenhilfe notifizierungspflichtig in Brüssel wäre? Darf ich Sie auch auf das aufmerksam machen, was mir gestern Herr Staatssekretär Kolb auf meine Frage geantwortet hat, nämlich daß dies seines Wissens nach das Bundeswirtschaftsministerium nicht plane, sondern daß es sich hier um eine Hilfe nach Art. 223 ff., nämlich um eine reine Militärhilfe handele? Ich rege an, daß diese Frage innerhalb der Bundesregierung geklärt wird, und frage Sie, wie Sie persönlich dazu stehen.

Not found (Gast)

Die Anregung ist angekommen. ({0}) - Sehr verehrte Frau Kollegin Zapf, das ist in der Tat alles, was ich dazu sagen kann, weil ich die Antwort des Kollegen Kolb gerade durch die Kollegin Skarpelis-Sperk zum ersten Mal gehört habe. Ich werde die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung sicherlich noch vornehmen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das waren drei Fragen, verpackt in eine, und eine sehr kurze Antwort. Sie können leider keine zweite Frage stellen, Frau Kollegin Skarpelis-Sperk. Vielleicht finden Sie jemand anderen, der die Frage für Sie stellt. Eine Zusatzfrage der Kollegin Amke DietertScheuer.

Amke Dietert-Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002640, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bezüglich der Förderung von Demokratie und Menschenrechten frage ich Sie, ob Sie in Ihre Überlegungen auch die Frage einbezogen haben, ob es nicht zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten sinnvoller sein könnte, keine Waffen an die Türkei zu liefern, um so einen stärkeren Druck für eine Verbesserung der Situation ausüben zu können.

Not found (Gast)

Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, wie man zur Waffenhilfe, zur militärischen Zusammenarbeit und zur Zusammenarbeit mit der Türkei als Bündnispartner steht. Wenn wir insgesamt der Auffassung sind, daß wir dem von uns allen angestrebten Ziel der Demokratisierung, Wahrung von Menschenrechten usw. dadurch näher kommen, daß wir die Türkei möglichst weit in unsere westliche Gemeinschaft einbinden, können wir zu einer solchen Lieferung auch nicht von vornherein nein sagen. Wenn man umgekehrt der Auffassung ist - wie Sie es wahrscheinlich sind -, daß eine solche Kooperation auf militärischem Gebiet im Hinblick auf die Erreichung des Zieles eher schädlich ist, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Aber ich glaube, diese Grundsatzentscheidung muß jeder von uns für sich treffen. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß wir sehr viel tun sollten, daß uns sehr daran gelegen sein sollte, die Türkei dazu zu bringen, zum einen sich dieser Gemeinschaft freier Völker zugehörig zu fühlen und zum anderen auch die Standards zu erfüllen, die zur Rechtsstaatlichkeit, zu den Menschenrechten und zur Demokratie gehören.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, ausgehend von einer Gemeinsamkeit in der Einschätzung, daß es die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist, nicht nur die Interessen eines so wichtigen Partners wie der Türkei, sondern auch das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Auge zu haben, stelle ich Ihnen folgende Frage: Wir haben gemeinsam die Erfahrungen gemacht, daß die Waffenlieferungen an die Türkei dazu geführt haben, daß teilweise in Eilreisen Vertreter von deutschen Ministerien nach Ankara fahren mußten, um sich schriftlich und mündlich Zusagen über die Weiterverwendung und den korrekten vertragsgemäßen Einsatz dieser Waffen einzuholen. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, daß Bürgerrechtsorganisationen mit weltweiter Aufmerksamkeit Bildmaterial und Beweise für Verstöße gegen diese Zusagen beigebracht haben, die dann das Auswärtige Amt als nicht beweiskräftig bezeichnen mußte. Wie verträgt sich das alles mit dem Ziel, dabei auch das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und nicht nur die Interessen des Bündnispartners im Auge zu haben?

Not found (Gast)

Wir können an dieser Stelle nicht die gesamte Debatte über die Beweiskraft des damals vorgelegten Materials aufgreifen. Das müßte man in anderer Form tun. ({0}) Entscheidend ist, daß im Hinblick auf die Waffensysteme, um die es hier geht, nach Auffassung der Bundesregierung klare Vereinbarungen getroffen werden können, die es ausschließen, daß hier Mißbrauch betrieben wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich habe jetzt folgendes Problem: Formal sind alle Zusatzfragen zur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Frage 26 des Abgeordneten Hiksch gestellt worden. Aber ich glaube, wir sind schon in den Bereich der Frage 27 gekommen. Ist das richtig? - Das meint der Abgeordnete nicht. Dann rufe ich die Frage 27 des Abgeordneten Uwe Hiksch auf: Sind der Bundesregierung Befürchtungen bekannt, daß angesichts der Tatsache, daß die türkische Marine bisher schon 16 Fregatten besitzt, die griechische Marine aber nur neun Fregatten und zwei weitere bis 1996 im Bau hat, es durch die Lieferung von zwei Fregatten an die türkische Marine zu einer weiteren Verschärfung des militärischen Ungleichgewichts im östlichen Mittelmeer zu Lasten des NATO-Partners Griechenland kommen könnte?

Not found (Gast)

Nach den offiziellen Angaben zur Streitkräfteplanung besitzt Griechenland derzeit sechs Zerstörer und acht Fregatten. Die Türkei verfügt derzeit über 16 Fregatten und fünf Zerstörer. Im Verhältnis zwischen zwei Partnerstaaten der Atlantischen Allianz sollte nach Auffassung der Bundesregierung nicht von einem „Ungleichgewicht im östlichen Mittelmeer" gesprochen werden. Dieser Begriff aus Zeiten der Konfrontation zweier Bündnissysteme ist zur Kennzeichnung des Verhältnisses zweier Staaten, die an der gemeinsamen Verteidigungsplanung der Allianz mitwirken, nicht angemessen. Entsprechende Befürchtungen über eine Verschärfung des Ungleichgewichts sind dementsprechend nicht bekannt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage, bitte.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Staatsminister, können Sie mir bestätigen, daß von seiten der türkischen Regierung zwischenzeitlich mehrere Male offene Kriegsdrohungen an den NATO-Partner Griechenland geschickt wurden, u. a. durch die Ministerpräsidentin und den Außenminister, und daß deshalb nicht davon gesprochen werden kann, daß es da keine Konfliktsituationen mehr gehe?

Not found (Gast)

Ich kann Ihnen bestätigen, daß die Bundesregierung hinsichtlich der bisweilen von beiden NATO-Partnern gewählten Rhetorik besorgt ist.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zweite Zusatzfrage: Können Sie mir zusätzlich erklären, warum Sie vorhin als erstes ausgeführt haben, daß militärische Aufrüstung dazu beitragen wird, unseren NATO-Partner Griechenland zu beruhigen? Vielmehr wird das Gegenteil bewirkt, d. h. die griechische Regierung wird beunruhigt, so daß die Bundesregierung - ich will mich zurückhaltend ausdrücken - eben nicht friedenserhaltende Maßnahmen im Mittelmeer fördert.

Not found (Gast)

Ich glaube, die geäußerte Besorgnis über die Rhetorik, die dort gegenwärtig hin und wieder zu beobachten ist, unterstreicht die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß der politische Dialog durch möglichst intensive Einbeziehung dieser beiden Partner vorangebracht wird. Wir tun das auf den verschiedensten Ebenen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Assoziationsfrage bzw. die Umsetzung der Zollunion. Die Verhandlungen mit unseren Partnern in Athen, in Nikosia und auch in Ankara in der Frage der Vollendung der Zollunion sind ein typisches Beispiel dafür, wie die Bundesrepublik mit absolut unmilitärischen Mitteln einen Beitrag dazu leisten will, daß solche Rhetorik möglichst aufhört.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, ich habe vorhin mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, daß Sie offensichtlich davon ausgehen, daß ein Ungleichgewicht nicht mehr existieren kann, seit der kalte Krieg vorbei ist. Habe ich Sie da richtig verstanden?

Not found (Gast)

Nein, Sie haben mich absolut falsch verstanden. Ich habe nur gesagt, daß Gleichgewichtsüberlegungen im Hinblick auf das Verhältnis zweier NATO-Partner von uns nicht für sehr sinnvoll gehalten werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, sind Sie in der Lage, den Unterschied in der Rhetorik zweier Regierungen darin zu erkennen, daß die eine Seite offene Kriegsdrohungen, und zwar mindestens vier, nämlich durch die Ministerpräsidentin, den Außenminister und den Kriegsminister, ausgestoßen hat und daß dem von der anderen Seite keine Kriegsdrohungen gefolgt sind, und wären Sie bereit, zumindest eine leise Beunruhigung gegenüber den Kriegsdrohungen zu äußern, oder betrachten Sie das alles als gleichrangig?

Not found (Gast)

Die Bundesregierung und auch ich persönlich sind da durchaus zur Differenzierung fähig. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist, in welcher Form man darauf einwirkt, daß zwischen NATO-Partnern und Nationen, die beide ein möglichst enges Verhältnis zur Europäischen Union haben wollen, in dem einen Fall als bereits dazugehöriges Mitglied, in dem anderen Fall als Staat, der Mitglied werden will, keine derartigen Drohungen ausgestoßen werden. Das beste Instrument, um darauf Einfluß zu nehmen, ist ein beharrlicher, kontinuierlicher Dialog mit beiden Seiten und auch der Versuch, durch Einbindung in die politische Zusammenarbeit, z. B. der Europäischen Union, z. B. der NATO, dafür zu sorgen, daß hier nicht ein neuer Konflikt geschürt wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, habe ich Sie vorhin richtig verstanden, daß es sich bei dem Marineaufmarsch in der Ägäis um einen Freundschaftsbesuch handelte, bei dem von griechischer Seite ein Faß Retsina und von türkischer Seite ein Faß Samos überreicht wurde?

Not found (Gast)

Ich habe akustisch nicht verstanden, was Sie gesagt haben.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe gefragt, ob ich Sie vorhin richtig verstanden habe, daß es sich bei dem jüngsten Schiffsaufmarsch in der Ägäis, den wir ja von den Fernsehbildern her noch sehr deutlich in Erinnerung haben, in Wirklichkeit um einen vorher vereinbarten Freundschaftsbesuch im Rahmen der NATO-Allianz handelte, bei dem die eine Seite ein Fäßchen Samos und die andere Seite ein Fäßchen Retsina überreichte.

Not found (Gast)

Herr Kollege, wir beobachten diese Vorgänge, die recht wenig mit freundschaftlichen Besuchen zu tun haben, mit allergrößter Sorge. Die Frage ist lediglich - darauf läuft die ganze Debatte hinaus -: Kommen wir im Hinblick auf die Sicherung einer friedlichen Entwicklung in dieser Region weiter, indem wir es riskieren, daß wir einen Partner verprellen und abstoßen, oder kommen wir dadurch weiter, daß wir uns darum bemühen, ihn möglichst einzubinden? Diese Frage bleibt so bestehen. Man kann sie unterschiedlich beantworten. Die Bundesregierung hat hierzu eine klare Antwort gegeben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, da Sie davor warnen, einen der beiden betroffenen Partner abzustoßen oder zu verprellen, frage ich Sie: Können Sie sich vorstellen, daß sich Griechenland durch die von der Bundesrepublik subventionierte Lieferung von Fregatten an die Türkei verprellt fühlen könnte, und würden Sie daraus schlußfolgern, daß dann in einer späteren Phase auch Griechenland zwei durch die Bundesrepublik subventionierte Fregatten geliefert bekommen müßte? ({0})

Not found (Gast)

Als leidgeprüfter Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen Rat der Europäischen Union könnte ich Ihnen jetzt einen Vortrag über das Problem der Ausbalancierung der jeweiligen Hilfen an Griechenland und die Türkei halten. Keine der beiden Seiten kann in irgendeiner Weise das Gefühl haben, zu kurz zu kommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer. Amke Dietert-Scheuer: ({0}): Ich habe mit Interesse Ihre Besorgnisse über die Spannungssituation in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei zu Kenntnis genommen. Nur drängt sich mir die Frage auf, ob es nicht vielleicht ein sinnvollerer Weg wäre, beiden Seiten keine Waffen zu liefern, um Spannungen nicht weiter zu verschärfen, sondern zu beseitigen.

Not found (Gast)

Diese Frage habe ich bereits vorhin beantwortet.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, Sie haben vorhin dargelegt, daß Sie über eine Störung des Gleichgewichts durch die Lieferung der MEKO-Fregatten an die Türkei nicht besorgt sind. Welche Reaktion hat die griechische Regierung inzwischen gegenüber der deutschen gezeigt? Teilt sie die Unbesorgtheit, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben?

Not found (Gast)

Nein. Griechenland nimmt natürlich eine Maßnahme, die zugunsten der Türkei läuft, und zwar völlig unabhängig davon, auf welchem Gebiet, ob auf dem Gebiet der militärischen Hilfe oder sonstigen Wirtschaftshilfe, stets zum Anlaß, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, ob hier möglicherweise eine ungleiche Behandlung beider NATO-Partner gegeben ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe die Frage 28 der Abgeordneten Renate Rennebach auf: Hat die Bundesregierung durch vertragliche Zusicherung der türkischen Seite sichergestellt, daß die MEKO({0})-Fregatten nicht zur Sicherung der Versorgung der türkischen Besatzungstruppen auf Zypern eingesetzt werden, um zu verhindern, daß UNO-Resolutionen unterlaufen werden? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Not found (Gast)

Frau Kollegin, im Entwurf zum Bundeshaushaltsplan 1995 - ich betone, im Entwurf, denn der Haushaltsplan ist noch nicht verabschiedet - ist im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes eine Verpflichtungsermächtigung für die Jahre 1996, 1997 und 1998 über insgesamt 150 Millionen DM als Finanzierungshilfe zum Bau von MEKO-Fregatten eingestellt. ({0}) Eine vertragliche Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der Türkei wurde hierüber bislang nicht abgeschlossen. Wie ich bereits in der Antwort auf die allererste Frage gesagt habe, ist die Regierung entschlossen, mit der Türkei eine entsprechende Vereinbarung zu schließen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Eine Zusatzfrage, bitte.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, Sie haben vorhin von der Freundschaft zur Türkei und darüber gesprochen, daß diese Schiffe die Freundschaft zur Türkei bekräftigen sollen. Wäre es nicht im Sinne der Freundschaft zwischen der Türkei und Deutschland sinnvoller, die Freundschaft dahin gehend zu lenken, daß die Türkei UNO-Resolutionen im Zusammenhang mit Zypern nicht unterläuft? Haben Sie die Absicht, dies noch vertraglich zu vereinbaren?

Not found (Gast)

Wir sind der Auffassung, daß der Zypern-Prozeß dringend vorangebracht werden muß und daß alle Hindernisse, die auf dem Weg zu einer friedlichen Lösung liegen, gemeinschaftlich aus dem Weg geräumt werden müssen. Das ist völlig unstrittig, insbesondere weil - das hat der Allgemeine Rat der Europäischen Union in der vorletzten Woche noch einmal festgehalten - wir von einem Gesamtzypern ausgehen, wenn wir die Perspektive der Mitgliedschaft Zyperns in der Europäischen Union diskutieren. Von daher ist es selbstverständlich, daß wir in der vertraglichen Vereinbarung mit der Türkei darauf achten werden, daß, wie ich bereits in der Antwort auf die Kollegin Ferner gesagt habe, nur ein Einsatz dieser Fregatten im Sinne des NATO-Vertrages zulässig sein darf.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Jetzt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Uwe Hiksch.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Staatsminister, können Sie bestätigen, daß die Türkei trotz internationaler Zusagen mehrmals diese Vereinbarungen nicht eingehalten und beispielsweise NVA-Panzer in terroristischer Weise gegen die kurdische Minderheit im eigenen Land eingesetzt hat?

Not found (Gast)

Wir haben uns bereits vorhin darüber unterhalten, daß die Frage der Wertung der diesbezüglichen Belege Gegenstand langwieriger Debatten im Deutschen Bundestag gewesen ist und hierüber im Deutschen Bundestag nach wie vor kein Einvernehmen besteht und die Bewertung der Einsätze, insbesondere auch der aus dem Potential der NVA gelieferten Waffen, unterschiedlich ist.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, ich habe gefragt, ob Sie das bestätigen können.

Not found (Gast)

Ich habe mir erlaubt, diese Frage etwas differenzierter zu beantworten und nicht auf Ja oder Nein einzugehen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Jetzt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, in bezug auf den von Ihnen noch zu schließenden Vertrag möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, für die Bundesregierung die Zusage an das Hohe Haus zu geben, daß, bevor eine endgültige Entscheidung fällt, dieser Vertrag dem zuständigen Fachausschuß zur Beratung vorgelegt wird.

Not found (Gast)

Sie wissen, daß sich die Bundesregierung - speziell auch das Haus, in dem ich tätig bin - um ein Optimum an Information des Parlaments und seiner Ausschüsse bemüht. In welchem Zeittakt das Parlament und seine Ausschüsse zu informieren sind oder einbezogen werden sollen, müßte man einmal in aller Ruhe besprechen. Ich möchte diese Frage jetzt nicht „nagelfest" beantworten. Natürlich muß die Zustimmung des Parlaments eingeholt werden, aber wann und in welchem Stadium der Verhandlungen, möchte ich jetzt hier nicht festlegen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Abgeordneter Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, daß es in der Republik Zypern erhebliche Sorgen gibt, die Türkei könnte wie 1974 in völkerrechtswidriger Weise weitere Teile der Insel besetzen, und wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das Sicherheitsbedürfnis der Republik Zypern?

Not found (Gast)

Herr Kollege, Sie haben an der Beantwortung der vorangegangenen Fragen bemerkt, daß ich dem Zypern-Problem besondere Aufmerksamkeit widme. Von daher muß ich vorsichtig antworten, daß ich die bei Ihnen anklingende Besorgnis nicht teile, daß ich da aber sehr sensibel bin. Wenn Sie konkrete Anhaltspunkte haben, die das substantiieren, bin ich sehr daran interessiert, sie zu hören; denn die Frage des Fortschritts beim Zypern-Problem ist im Hinblick auf die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt Zyperns zur Europäischen Union von außerordentlicher Bedeutung. Wie eng diese Frage wiederum mit vielen anderen Fragen der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union zusammenhängt, ist allen bekannt. Daher bitte ich Sie um Verständnis dafür, daß ich hier sehr vorsichtig antworte.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Keine weiteren Zusatzfragen. Die Fragen 29 und 30 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Ich rufe jetzt die Frage 31 der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die politische Lage in der Ägäis angesichts der wiederholten Kriegsdrohungen türkischer Regierungsmitglieder, darunter der Premierministerin Ciller, des Verteidigungsministers Golhan und des damaligen Außenministers Soysal gegenüber dem EU-Mitglied Griechenland, und hält sie angesichts solcher wiederholter Äußerungen eine einseitige Förderung türkischer Rüstungsvorhaben für geeignet, zum Abbau der Spannungen im östlichen Mittelmeer beizutragen?

Not found (Gast)

Die politische Lage in der Ägäis ist angesichts der nicht gelösten, z. T. historisch bedingten Probleme im bilateralen Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei immer wieder Belastungen unterworfen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß sich die weitere Heranführung der Türkei an die Europäische Union auch positiv auf das griechisch-türkische Verhältnis auswirken wird. Sie fordert beide NATO-Partner mit Nachdruck auf, ihre bilateralen Probleme auf friedlichem Wege zu lösen. Zu den Hintergründen der geplanten Unterstützung für den Bau von zwei MEKO-Fregatten wurde bei der Beantwortung der vorangegangenen Fragen ausführlich Stellung genommen. Der Haushaltsausschuß wird im übrigen auf seine ausdrückliche Bitte hin einen schriftlichen Bericht des Auswärtigen Amtes zu diesem Vorhaben erhalten, der in den nächsten Tagen fertiggestellt werden dürfte. Ich möchte es zunächst dabei belassen und um Verständnis bitten, daß ich mich heute angesichts der Frageserie etwas häufiger wiederhole, als mir das normalerweise recht ist.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Zusatzfrage? - Bitte.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, würden Sie unter diesen Umständen bestätigen - Sie haben ja selbst zumindest eine Rhetorik zwischen den zwei Nationen eingeräumt; ich meine, „Rhetorik" ist da verniedlichend -, daß eine einseitige Rüstungshilfe die Spannungen in dieser Region, veranlaßt durch die Bundesrepublik Deutschland, eher erhöht als vermindert?

Not found (Gast)

Nein. Auch kann von einer Einseitigkeit unserer Zusammenarbeit überhaupt keine Rede sein. Wir bemühen uns um ein ausgesprochen ausbalanciertes Verhältnis in der Zusammenarbeit mit beiden Ländern. Ich halte das im Hinblick auf unsere jeweiligen bilateralen Interessen, im Hinblick auf die Stabilität der Region und die Sicherheit der beiden Länder und auch im Hinblick auf das Verhältnis dieser beiden Länder zur NATO und zur Europäischen Union für außerordentlich wichtig. Man darf nicht exakt in jeder Schublade immer gleich die Balance suchen, sondern muß die Balance in der Zusammenarbeit über das gesamte Spektrum der Kooperationsmöglichkeiten hinweg suchen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Zweite Zusatzfrage.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Herr Staatsminister, ich darf Sie erinnern, daß ich von einseitigen Rüstungshilfen gesprochen habe. Zweitens. Ich möchte Sie fragen, ob Sie meinen, daß die Republik Griechenland und die Republik Zypern Ihre Einschätzung der Sicherheitslage teilen.

Not found (Gast)

Ich habe bereits vorhin auf eine Ihrer Zusatzfragen gesagt, daß die griechische Seite über manches, was an Rhetorik - entschuldigen Sie noch einmal diesen Begriff - aus Ankara herüberkommt, besorgt ist. Das ist auch verständlich.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, Sie haben jetzt zweimal gesagt, daß die griechische Seite besorgt ist. Können Sie dem Hohen Haus etwas genauer sagen, in welcher Weise die griechische Regierung auf die Nachrichten über die Lieferung der MEKO-Fregatten reagiert hat? Hat sie demarchiert, ist sie in Bonn vorstellig geworden, und was hat sie da gesagt?

Not found (Gast)

Nein, ich kann Ihnen die Abläufe der letzten Zeit jetzt nicht im einzelnen darstellen, da es um ein Projekt geht, das jetzt schon fast zwei Jahre läuft. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen darüber einen ausführlichen Bericht zu erstatten.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Jetzt rufe ich die Frage 32 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der politischen und sozialen Stabilisierung der Türkei mit Finanzhilfen für den Ausbau der Infrastruktur mehr gedient wäre als mit der Förderung von Rüstungsvorhaben?

Not found (Gast)

Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung unterstützt den Ausbau der Infrastruktur der Türkei mit einer Vielzahl von Projekten, die zur politischen und sozialen Stabilisierung beitragen. Die Rüstungshilfeprogramme der Bundesregierung für die Türkei sind bis auf Restlieferungen der Materialhilfe abgeschlossen. Im übrigen, denke ich, beantwortet das, was ich zu den vorangegangenen Fragen gesagt habe, Ihre Frage mit.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Erste Zusatzfrage.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, meinen nicht auch Sie, daß mit dem Ende des kalten Krieges Rüstungshilfe in den Bereichen, die an der Südostflanke der NATO der Sicherheit dienen sollten, ein Ende haben sollte, wie das auch die Bundesregierung beschlossen hat, und daß statt dessen zivile Hilfen geleistet werden müßten? Und wäre es in dem Zusammenhang nicht sinnvoller, die 150 Millionen DM dafür aufzuwenden?

Not found (Gast)

Herr Kollege, das ist immer die Abwägungsfrage, insbesondere dann, wenn man sich nicht deutlich klarmacht, daß die Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit den betroffenen Ländern, in dem Fall mit der Türkei, natürlich ein ganzes Spektrum von Politikfeldern abdeckt, z. B. das Thema Infrastruktur, z. B. das Thema Bildungszusammenarbeit und vieles andere. Selbstverständlich wünschen wir uns, daß wir alle in einer Situation wären, auch im Nahen und Mittleren Osten und auch im Mittelmeerraum, in der militärische Vorsorge nicht mehr erforderlich wäre. Es geht um die Frage, ob es legitim ist, auch im Hinblick auf die militärische Sicherheit Zusammenarbeit zu organisieren, und da sagt die Bundesregierung ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Zweite Zusatzfrage.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will die Frage präzisieren. Glaubt die Bundesregierung, Herr Staatsminister, daß die inneren Spannungen in der Türkei mit einem Mangel an Waffen bei der türkischen Armee zusammenhängen oder nicht vielmehr u. a. und insbesondere mit sozialen und ethnischen Problemen?

Not found (Gast)

Ich glaube, da sind wir uns einig.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle muß ich die Fragestunde beenden. Es tut mir sehr leid; aber wir haben die Zeit erreicht. Da gibt es keine Verlängerung. Ich danke Ihnen. ({0}) Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Pflege-Versicherungsgesetzes ({1}) - Drucksache 13/99 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Andrea Fischer ({3}).

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin jetzt hier in einem so trauten Kreise, daß ich meine Rede fast zu Protokoll geben könnte. ({0}) - Dann wollen wir es doch noch mit der Diskussion versuchen. Die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen ist ein herausragendes Ziel der neuen Versicherung. So steht es sogar in der Einleitung des zweiten Paragraphen des Gesetzes. Bloß wird dieses hehre Ziel im einzelnen oft genug nicht verfolgt. Nach unserer Auffassung zeigt sich bei einer ganzen Reihe von Bestimmungen dieses Gesetzes, daß es von einem verengten Begriff von Pflegebedürftigkeit geprägt ist. Wir Bündnisgrünen legen deswegen heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem in einigen sehr wesentlichen Punkten das Selbstbestimmungsrecht von Behinderten gewahrt und gefördert werden soll. Da ist zunächst der in unseren Augen ganz offensichtliche Skandal, daß Leistungen der Pflegeversicherung bei Auslandsaufenthalten nicht gewährt werden dürfen, auch nicht bei nur vorübergehendem Aufenthalt. Im Klartext heißt das, daß Behinderten Reisen über die deutsche Grenze nicht möglich sind. Ich finde, daß das von einer ziemlich großen Ignoranz gegenüber den Lebensumständen von behinderten Pflegebedürftigen zeugt; denn das verlangt von ihnen, daß sie ihre Pflegekräfte in der Zeit eines Auslandsaufenthaltes selber bezahlen. Ich kann nicht erkennen, daß das den Behinderten, die ansonsten dafür der Leistungen bedürfen, einfach möglich ist. Nach meiner Kenntnis haben die Krankenkassen inzwischen erkannt, daß diese Regelung außerdem noch einen ausgesprochen hohen Kontrollaufwand erfordern würde, der dann wiederum neue Kosten verursachen würde. Deswegen haben sie klugerweise eine großzügige Auslegung dieser Bestimmung vorgeschlagen. Sie berufen sich dabei auf den § 18 Abs. 3 SGB V und wählen eine in meinen Augen recht kühne Konstruktion, um das zu rechtfertigen. Ich frage Sie jetzt, warum sich die Kassen und die Pflegebedürftigen bei diesem Vorgang im rechtsfreien Raum bewegen sollen? Ich glaube, daß wir Rechtssicherheit schaffen könnten, indem wir diese Regelung einfach streichen. Mit den beiden anderen Änderungsvorschlägen, die dieser Gesetzentwurf enthält, wollen wir Bestimmungen des Pflege-Versicherungsgesetzes korrigieren, die in unseren Augen ebenfalls die Ansprüche von Behinderten an eine eigenverantwortliche GeAndrea Fischer ({1}) staltung ihres Lebens nicht ausreichend berücksichtigen. Dabei rede ich zunächst davon, daß Behinderte auch als Arbeitgeber auftreten, ein Umstand, der im bestehenden Gesetz nicht vorgesehen ist. Dabei gibt es nach unseren Informationen ausgesprochen viele - nicht alle, aber eine beträchtliche Zahl - Behinderte, die Arbeitgeber ihrer eigenen Pflegekräfte sind. Nach Angaben des Verbandes der behinderten Arbeitgeber sind es ungefähr 1 Million Pflegestunden, die im Jahr in Form dieser, sagen wir einmal: kleinen Pflegebetriebe geleistet werden. Bislang haben die Sozialämter die Kosten für diese Art von Pflege von Behinderten übernommen und damit dieses Arbeitgebermodell finanziert. Alle diese Möglichkeiten einer selbstbestimmten Beschäftigung von Pflegekräften gibt es also längst. Sie finden statt, und sie haben bislang Finanzierung durch die bestehenden Träger gefunden. Ich meine, daß wir im Pflege-Versicherungsgesetz die Möglichkeiten einer selbstorganisierten Betreuung durch ausgewählte Personen des Vertrauens eben nicht durch zu anspruchsvolle Bestimmungen einschränken, sondern dieses Engagement im Gegenteil unterstützen sollten. Viele Behinderte haben in den letzten Jahren Konsequenzen daraus gezogen, daß sich Art und Umfang der Betreuung häufig mehr an den Organisationsplänen der ambulanten Pflegedienste und am Selbstverständnis der Pflegekräfte orientieren als an den Bedürfnissen der Betroffenen selbst. Sie wollen es nicht länger hinnehmen, daß ihnen eine Anpassung an die Versorgungsstrukturen abverlangt wurde, sondern sie fordern, wie ich finde, zu Recht, daß sich umgekehrt die Strukturen ihren Bedürfnissen anzupassen hätten. ({2}) Um die Verfügung über den eigenen Alltag wiederzuerlangen, haben Behinderte ihre Pflegekräfte vielfach selbst angestellt oder sich zusammengetan, um eigene selbstorganisierte Pflegebetriebe aufzubauen. In ihrer Arbeitgeberrolle haben sie dabei ein Maß an Selbstbestimmung gewonnen, das diese Gesellschaft für ihre behinderten Mitglieder ausgesprochen selten vorsieht. Sie wurden von Objekten der Fürsorglichkeit zu Subjekten eigenen Handelns. ({3}) Das Pflege-Versicherungsgesetz stellt in seiner bisherigen Form diese Eigeninitiative nicht sicher. Es sieht einen Arbeitgeberstatus für Behinderte nicht vor, sondern verweist sie auf die Inanspruchnahme der Dienste, die durch die Wohlfahrtsverbände bereitgestellt werden. Pflegebedürftige aber müssen die Möglichkeit erhalten, selber als Arbeitgeber Verträge mit den Pflegekassen abzuschließen; sonst bricht diese Form der Pflegeorganisation zusammen. Dazu gehört auch, daß die Kriterien für die Leitung von selbstorganisierten Pflegebetrieben nicht übermäßig hoch angesetzt werden. Gerade dann, wenn Behinderte ihre Pflegekräfte anleiten, sind sie Spezialisten in eigener Sache. In diesen Eigenbetrieben geht es nicht nur um fachpflegerische Kompetenz. Von noch größerer Bedeutung ist häufig die sozialpädagogische Kompetenz. Verlangt man von diesen Diensten, um jeden Preis eine Pflegefachkraft einzustellen, so wird dieser Preis sehr hoch sein, denn er paßt nicht zur Form der dort geleisteten Arbeit, und er wird die Kosten für diese Dienste unnötig in die Höhe treiben. Mißverstehen Sie uns nicht. Wir messen der Berufsqualifikation der professionellen Pflegekräfte eine große Bedeutung bei. Wir werden sicherlich noch reichlich über ein Ausbildungskonzept für die Pflegeberufe zu diskutieren haben. Aber bei unserem Vorschlag geht es um einen wohldefinierten Bereich der Selbsthilfe, den wir durch zu hohe Standards nicht austrocknen dürfen. Sie wissen, daß wir Bündnisgrünen ganz grundlegend andere Vorstellungen von einer bedarfsgerechten Absicherung des Pflegerisikos haben, als sie sich bei dem mühsamen Geschäft, überhaupt eine solidarische Pflegeabsicherung zu erreichen, schließlich durchgesetzt haben. In diesem Prozeß blieben viele Debatten über die Qualität der Pflege auf der Strecke. Aber es ist ja nicht zu spät. Nehmen Sie unsere Vorschläge als ein Angebot, offenkundige Versäumnisse zu berichtigen! Dann können wir einen Beitrag zu einer wirklich modernen Sozialpolitik leisten, die von mündigen Bürgerinnen und Bürgern ausgeht. Die Menschen können und wollen ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen. Die Aufgabe der Politikerinnen und Politiker ist es, sie daran nicht zu hindern, sondern sie im Gegenteil dabei zu unterstützen, wo immer es geht. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Julius Louven ({0}).

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit dem 1. Januar ist das im vorigen Jahr beschlossene PflegeVersicherungsgesetz in Kraft, zunächst mit der Beitragspflicht, ab 1. April mit der Leistungsgewährung. Noch vor Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes legten Sie, meine Damen und Herren vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ihren Gesetzentwurf zur Ergänzung der Pflegeversicherung vor und argumentieren, daß einige besonders mißlungene Vorschriften korrigiert werden müßten. Nun schließe ich nicht aus, daß wir, wenn die ersten Erfahrungen mit der Pflegeversicherung vorliegen, einmal Änderungen des Gesetzes beschließen müssen. Bei einer so schwierigen Gesetzesmaterie wäre dies überhaupt nichts Ungewöhnliches. Keinesfalls kann ich jedoch akzeptieren, daß jetzt „besonders mißlungene Vorschriften" korrigiert werden müßten. Nein, meine Damen und Herren, mißJulius Louven lungen ist allenfalls Ihr Versuch, die Pflegeversicherung schlechtzureden. ({0}) - Sie haben dem Gesetz doch zugestimmt, Herr Gilges. ({1}) Wir haben uns im Pflege-Versicherungsgesetz bewußt gegen einen dauerhaften Leistungsexport ins Ausland entschieden. Dabei liegt die Betonung auf „dauerhaft". Falsch ist daher, Frau Kollegin, Ihre Behauptung, künftig könnten Pflegebedürftige keine Auslandsreisen unternehmen, weil sie andernfalls ihre Leistungsansprüche aus der Pflegeversicherung verlieren würden. Richtig ist, daß auch dann Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch genommen werden können, wenn der Pflegebedürftige alleine oder mit Betreuungsperson eine Auslandsreise von üblicher Dauer unternimmt. Die Pflegekassen werden in der Praxis in diesem Sinne verfahren. Von daher sollten Sie hier nicht von „Skandal" reden. ({2}) Wir wollten und wollen jedoch keinen dauerhaften Leistungsexport. Für diese im Gesetzgebungsverfahren getroffene politische Grundentscheidung gibt es gute Gründe. Wir haben uns bemüht, das finanzielle Risiko in der Pflegeversicherung so gering wie möglich zu halten. Deshalb galt es, Mitnahmeeffekte und Mißbrauch nicht zuzulassen, um die Finanzierung der Pflegeversicherung nicht zu gefährden. Wir haben darüber hinaus immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß die Pflegeversicherung keine Rundumversicherung ist, sondern eine Grundversorgung mit Eigenverantwortung sein soll. Eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik ist daher im Gesetz festgeschrieben. Das bedeutet natürlich nicht, wie teilweise auch behauptet wird, daß Preissteigerungen im Pflegebereich notwendigerweise rückläufige Leistungen zur Folge hätten. Da die Einnahmen der Pflegeversicherung auch bei einem konstanten Beitragssatz auf Grund von Lohnerhöhungen und der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze zunehmen, können Mehreinnahmen auch Leistungserhöhungen möglich machen. Wichtig war, einer Kosten- und Beitragsexplosion vorzubeugen. Dies war auch der Grund dafür, keinen dauerhaften Leistungsexport ins Ausland zuzulassen. Eine Ausgabenkontrolle im Ausland ist so gut wie unmöglich. Grundsätzlich erbringt die Pflegeversicherung Sachleistungen. Zur Sicherstellung der Qualität der Sachleistungen müssen die Pflegeeinrichtungen mit den Pflegekassen einen Versorgungsvertrag abschließen, was mit ausländischen Leistungsanbietern in aller Welt ja wohl unmöglich ist, Frau Kollegin. An Stelle der Sachleistung kann ein Pflegegeld gewährt werden. Es wird zweckgebunden mit der Absicht gewährt, dem Pflegebedürftigen die Finanzierung einer selbstbeschafften Pflegekraft zu ermöglichen. Dieses Pflegegeld dient also letztlich ebenfalls der Erbringung von Sachleistungen. Die Geldleistungen haben in diesem System lediglich eine Surrogatfunktion. Ob Pflegebedürftige das Pflegegeld für die Beschaffung von Sachleistungen verwenden, kann im Ausland ebenfalls nicht überprüft werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe schon Verständnis dafür, daß die sogenannten Grenzgänger und daß Rentner, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlagern, Leistungen der Pflegeversicherung auch im Ausland dauerhaft in Anspruch nehmen möchten. Ich denke jedoch, daß ich Ihnen dargelegt habe, warum dies nicht geht. Wer mehr Leistungen haben will, Frau Kollegin, muß dann auch sagen, wie wir diese Leistungen finanzieren. ({3}) Ihrer weiteren Forderung, Pflegesachleistungen in geeigneten Fällen auch durch eigene Pflegebetriebe der Pflegebedürftigen erbringen zu können, kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Diese Forderung orientiert sich am sogenannten Arbeitgebermodell der Leistungsgewährung. Sie haben dies dargestellt. Dies wird von der Sozialhilfe in Sonderfällen für schwerstbehinderte Rollstuhlfahrer akzeptiert. Hierbei treten die Pflegebedürftigen als Arbeitgeber auf. Ich sehe jedoch keine Notwendigkeit, dieses Modell in die Pflegeversicherung zu übernehmen; denn die Kosten hierfür sind erheblich. Sie haben im Einzelfall bis zu 20 000 DM betragen. Schließlich, meine Damen und Herren von der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, fordern Sie, die Notwendigkeit der ständigen Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft für ambulante Pflegeeinrichtungen zu ergänzen durch die Möglichkeit der Verwendung anderer geeigneter Fachkräfte. Auch diese Forderung ist sachlich nicht geboten und führt zu finanziellen Mehrbelastungen. Wir haben uns bewußt für eine Pflegeversicherung entschieden, die die Sicherstellung der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung verfolgt. Wir haben uns gegen eine Pflegeversicherung entschieden, die allumfassende Hilfestellungen bietet, ({4}) z. B. auch die soziale und berufliche Eingliederung Behinderter umfaßt. Dies soll nicht Aufgabe der Pflegeversicherung sein. Bei der Eingliederungshilfe steht nicht die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung, sondern die berufliche und soziale Eingliederung von Behinderten im Vordergrund. Hierfür wendet die Sozialhilfe derzeit etwa 12 Milliarden DM auf. Selbst eine Verlagerung nur von Teilbeträgen in die Pflegeversicherung würde den finanziellen Rahmen sprengen. Mit der Pflegeversicherung entlasten wir die Sozialhilfe bereits jetzt mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. Wer die Sozialhilfe noch stärker entlasten will, sollte sagen, wie dies finanziert werden soll. Ich sehe, meine Damen und Herren, derzeit keinen Anlaß, Korrekturen zu beschließen. Eine noch stärkere Belastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern kann mit uns nicht in Frage kommen. ({5}) Im Gegenteil: Ich habe bereits bei der Einbringung des Haushaltsentwurfs für das Jahr 1995 an dieser Stelle ausgeführt, daß wir unsere ganze Kraft darauf verwenden wollen, in den kommenden Jahren die Belastungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugunsten der Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen zu verringern. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bleibt mir nur, abschließend für meine Fraktion zu erklären, daß wir Ihren Wünschen nicht entsprechen können. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir ab. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Gerd Andres, SPD-Fraktion.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenige Wochen nach Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes und wenige Wochen vor dem Wirksamwerden der Leistungen im ambulanten Bereich diskutieren wir im Deutschen Bundestag erneut das Thema Pflege. Es scheint so, als sei nicht nur das Zustandekommen der Pflegeversicherung von langwierigen politischen Auseinandersetzungen begleitet gewesen; nein, auch der weitere Lebensweg dieses Gesetzes bleibt heftig umstritten. Wir befinden uns in einer Phase, in der wir mit der Umsetzung des Pflege-Versicherungsgesetzes befaßt sind. Schon dabei ist es zu Wortbrüchen gekommen. Der Bundesarbeitsminister hat mit seinen Richtlinien die Pflegeeinheit entgegen seinen Zusagen in der Verrichtungszeit mit 90 Minuten definiert. ({0}) Allerorten hört man, daß weitere Versuche unternommen werden sollen, die versprochenen Leistungen nach unten zu drücken. ({1}) Wortbrüche gibt es auch bei der Kompensationsregelung, bei der beispielsweise das Land Sachsen entgegen vorheriger Vereinbarung im Kreis der Ministerpräsidenten den Arbeitnehmern die alleinige Beitragslast für die Pflegeversicherung aufbürdet. ({2}) Mit der Veränderung der Beihilferichtlinien wurden bessere Regelungen für Beamte getroffen, als sie für Sozialversicherte gelten. ({3}) Dies alles sind Belege dafür, wie man Vertrauen verspielen oder mißbrauchen kann. ({4}) Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion um die Pflegeversicherung nach Inkrafttreten der ersten Leistungsstufe bei den Betroffenen auswirkt. Alle Verantwortlichen müssen mithelfen, daß die praktische Umsetzung der Pflegeversicherung nicht zu weiteren politischen Enttäuschungen bei der Bevölkerung führt. Ich erinnere daran, daß es nur mit einem politischen Kraftakt möglich war, die Pflegeversicherung überhaupt zu verabschieden. ({5}) Alle Beteiligten wissen, daß sie nicht mit dem Anspruch realisiert wurde, umfassend alle politischen, gesellschaftlichen, finanziellen und menschlichen Probleme lösen zu können, ({6}) die im Zusammenhang mit der Pflege bestehen. ({7}) Die Absicht, eine Pflegeversicherung als Sozialversicherung zu realisieren, war von zwei Zielen bestimmt: erstens die ambulante Versorgung Pflegebedürftiger zu verbessern und eine deutliche Entlastung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen zu erreichen und zweitens zu gewährleisten, daß bei stationärer Versorgung alle Menschen so abgesichert sind, daß sie gegen das Lebensrisiko Pflege in seinen pflegebedingten Kostenteilen versichert sind. Damit sollte vor allen Dingen erreicht werden, daß die Sozialhilfe nicht weiter als Regelsicherungssystem für das Lebensrisiko Pflege herhalten muß. Daß sie bei allen unterschiedlichen politischen Vorstellungen in ihrem Be- und Entlastungsteil gesellschaftlich mittelfristig kalkulierbar bleiben muß, war den Beteiligten klar. Der hier heute in erster Lesung anstehende Gesetzentwurf wird diesen Ansprüchen, die ich eben bewußt so formuliert habe, meiner Auffassung nach nicht gerecht. In der Zielsetzung formuliert die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, daß die besonders mißlungenen Vorschriften des Sozialgesetzbuches XI - Pflegeversicherung - noch vor Inkrafttreten der ersten Leistungsstufe korrigiert werden müßten, ohne daß man die festgelegten Grundstrukturen der Pflegeleistungen kurzfristig ändern könnte. Bei der Aufzählung dessen, was die besonders mißlungenen Vorschriften des SGB XI sind, stößt man dann doch auf wenig Substanz für diese drastische Bewertung. ({8}) Der Gesetzentwurf verlangt erstens, das Ruhen der Leistung bei Auslandsaufenthalten aufzuheben. Begründet wird diese geforderte Änderung damit, daß diese Bestimmung des Pflege-Versicherungsgesetzes auch bei vorübergehenden Auslandsaufenthalten, z. B. Urlaub oder Dienstreisen, Leistungen an Pflegebedürftige unterbreche und dieses Gesetz damit zu einem Ausreiseverbot für Behinderte führe. Schaut man sich die Gesetzesbegründung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwas genauer an, so stellt man aber fest, daß mit ihrem Formulierungsvorschlag nicht dieser Tatbestand geheilt wird, sondern daß gefordert wird, diese Gesetzesvorschrift zu streichen. Sie hat allerdings den Sinn, einen dauerhaften Leistungsbezug im Ausland auszuschließen. Jeder, der die Geschichte des Pflege-Versicherungsgesetzes kennt, weiß, daß die Lösung dieser Problematik wichtige Vorbedingung für die Pflegeversicherung überhaupt war. Im übrigen ruht - nach übereinstimmender Interpretation der Krankenkassen und beispielsweise auch der Pflegekonferenz - der Leistungsanspruch nicht bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt. Als vorübergehend gilt in analoger Anwendung des § 18 Abs. 3 SGB V ein Zeitraum von längstens sechs Wochen im Kalenderjahr. Die zweite Veränderungsabsicht bezieht sich darauf, Pflegesachleistungen durch einen eigenen Pflegebetrieb des Pflegebedürftigen zu erhalten. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird richtig davon ausgegangen, daß wir solche Modelle schon kennen, die auch in Fachkreisen unter den Stichworten „Arbeitgebermodell" oder „Pflegeassistenzmodell" diskutiert werden. Bei der Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen besteht die Voraussetzung, daß die Sachleistung durch eine zugelassene Pflegeeinrichtung erbracht wird. § 77 des Pflege-Versicherungsgesetzes sieht vor, daß die häusliche Pflege auch von Einzelpersonen geleistet werden kann. Zur Gewährung der häuslichen Pflege können die Pflegekassen Verträge mit geeigneten einzelnen Pflegekräften schließen, so daß dieser Weg in der Begründung auch zutreffend angeführt ist. Für mich ergibt sich in dieser Frage die schwierige Abgrenzung zwischen bisher bestehenden Arbeitgebermodellen und Assistenzverträgen sowie der großen Zahl der künftig zu regelnden Fälle bei der Einführung der Leistung im ambulanten Bereich, Bekanntermaßen ist die Sachleistung, die in der ambulanten Versorgung gewährt wird, in ihrem materiellen Wert höher als die Geldleistung. Wo ist bei einer solchen Regelung der Unterschied zwischen einer selbst beschafften Pflegehilfe, die als Familienangehöriger, Lebenspartner, Freund oder Bekannter die Pflege versieht und für die Pflege Geld erhält, und einem Arbeitgebermodell zu sehen? Die gesamte Systematik der Abgrenzung zwischen Geld- und Sachleistung wird damit problematisch. Wir alle wissen aus der Diskussion zum Thema Pflegeversicherung, daß die Leistungen, die bisher von einzelnen Sozialhilfeträgern im Rahmen von Arbeitgebermodellen erbracht werden, bis in Größenordnungen von 10 000, 12 000, in der Spitze bis zu 20 000 DM gehen. Das Argument, daß durch eine rechtliche Änderung der einzelne Behinderte in die Lage versetzt würde, statt der niedrigeren Pflegegeldleistung die höhere Sachleistung in Anspruch nehmen zu können, macht vor dem Hintergrund dieser Summen keinen Sinn. ({9}) Selbst wenn der Härtefall für Sachleistungen von 3 750 DM in Anspruch genommen werden könnte, ist der einzelne Betroffene nach wie vor auf die ergänzende Aufstockung durch die Sozialhilfe angewiesen. An diesem Beispiel werden auch die Probleme der Abgrenzung zwischen den Leistungen, die nach dem Pflege-Versicherungsgesetz erbracht werden, und den Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz offensichtlich. Zusätzlich muß das Argument angeführt werden, daß in den Beratungen des Pflege-Versicherungsgesetzes ausdrücklich festgehalten wurde, daß es bei bisher Betroffenen keine Schlechterstellung durch die Einführung des Pflege-Versicherungsgesetzes geben dürfe. Aus den Diskussionen, die in den Gesetzesberatungen und mit Behindertenverbänden sowie Gruppen von Behinderten geführt wurden, weiß ich allerdings, daß dieser Tatbestand im kommenden Beratungsverfahren im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung noch einmal ausführlich erörtert und geprüft werden sollte. Die dritte Änderung, die vorgeschlagen wird, bezieht sich darauf, daß die Definition des Begriffs Pflegefachkraft ausgeweitet und ergänzt wird. Pflegeeinrichtungen erfüllen die Voraussetzung zur Zulassung nur dann, wenn die Leistungen nach dem Pflege-Versicherungsgesetz unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegekraft erbracht werden. Dies ist § 72 in Verbindung mit § 71 Sozialgesetzbuch XI. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird besonders angeführt, daß bereits heute Pflegesachleistungen nach § 55 Sozialgesetzbuch V erbracht werden, hei denen die Voraussetzung der Leitung durch eine pflegerische Fachkraft nicht gegeben ist. Sowohl die Spitzenverbände der Krankenkassen wie auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und die Vereinigung der Träger von Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene haben Vorschläge entwickelt, die die fachlichen Voraussetzungen für verantwortliche Pflegekräfte definieren. Sie schlagen beispielsweise vor, Heilerziehungspflegerinnen oder Heilerziehungspfleger in die Gruppe der verantwortlichen Pflegekräfte mit einzubeziehen. Auch die Länder teilen diese Position. Unter Beachtung von notwendigen Qualitätsstandards und eines sicherlich starken Bedarfs an Pflegekräften sollte diese Auffassung in der Ausschußberatung sorgsam diskutiert werden. -Gerd Andres Zusammenfassend möchte ich für die SPD-Fraktion als Bewertung folgendes festhalten. Alle drei Punkte, die im Gesetzentwurf angesprochen sind, machen möglicherweise eine Gesetzesänderung überhaupt nicht notwendig. Die Frage des Auslandsaufenthalts ist meiner Auffassung nach schon geklärt. Die Frage der Pflegefachkräfte und ihrer Definition sollte in Gesprächen mit dem BMA und den betroffenen Verbänden weiter erörtert und einer Regelung zugeführt werden. Den Positionen der Bundespflegekonferenz ist möglicherweise nichts hinzuzufügen; ich weiß, daß das dort erörtert worden ist. Das Problem des Arbeitgebermodells ist gegenwärtig so geregelt, daß bestehende Verträge weitergeführt werden können. Ausnahmen sind bereits jetzt durch das Gesetz vorgesehen. Es stellt sich aber die prinzipielle Abgrenzungsproblematik für alle Pflegebedürftigen, da mit einer solchen Arbeitgeberkonstruktion die klare Trennung zwischen Sach- und Geldleistung im Gesetz insgesamt in Frage gestellt wird. Bevor wir dazu eine abschließende Position beziehen, werden wir in den Ausschußberatungen entsprechende fachliche Prüfungen vornehmen und Diskussionen führen. Herzlichen Dank. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Bundesminister, habe ich es richtig verstanden, daß Sie jetzt schon in die Debatte gehen wollen? - Dann haben Sie das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat wollte ich jetzt nicht reden. Aber mich haben die Worte „Wortbruch" und „Vertrauensbruch" gereizt. ({0}) Lieber Kollege Andres, wollen wir die Einführung der Pflegeversicherung wirklich mit diesem Pulverdampf von Agitation begleiten? Wollen Sie das wirklich? Wollen Sie zu einer Verwirrung beitragen, die nur Unsicherheit erzeugt? Ich will einmal prüfen, worauf Sie sich stützen. Ich frage Sie: Wo im Gesetz steht, daß 60 Minuten bei der Pflegestufe 1 der tägliche Pflegebedarf ist? ({1}) Wo steht das? Wo ist Wortbruch begangen worden? Wo? ({2}) Das können Sie ja mit einem Zwischenruf beantworten. - Sie brauchen gar nicht zu suchen. ({3}) - Ja, und ich führe jetzt der deutschen Öffentlichkeit vor, wie inflationär mit Wörtern wie „Wortbruch", „Vertrauensbruch" - das ist ein weiterer Hammer - umgegangen wird. Ist das seriös? Es steht im Gesetz nichts von 60 Minuten. In den Richtlinienentwürfen der Krankenkassen gab es diese 60 Minuten. Darüber haben wir diskutiert. Wir haben uns auf einen Wert von 90 Minuten geeinigt, der im Blick auf die nächsthöhere Pflegestufe nicht aus der Luft gegriffen ist. Ich komme immer wieder auf das Wort „Vertrauensbruch" zurück. Verwenden Sie es ein bißchen sparsamer! ({4}) Da bin ich empfindlich. Wie kamen die 90 Minuten zustande? Die nächsthöhere Pflegestufe, die der Schwerpflegebedürftigen, ist vom Bundessozialgericht mit einem Zeitbedarf von drei Stunden versehen worden. Die Geldleistungen in der Stufe, um die es hier geht, sind halb so hoch. Das ist mehr als ein Grund, sich für diese 90 Minuten zu entscheiden. Ich füge hinzu: Wir befinden uns in der Anlaufphase der Pflegeversicherung. Ich empfehle uns, diese neue Versicherung vorsichtig einzuführen, Erfahrungen zu sammeln. ({5}) Sollte die Vorsicht unbegründet sein, ist es besser, wenn wir die Regelungen in einem zweiten Schritt anpassen, als wenn wir jetzt mit 60 Minuten beginnen und uns dann auf 90 Minuten korrigieren müssen. ({6}) Wo, Kollege Andres, ist der Wortbruch? Auf die Antwort lege ich Wert. Ich möchte hier einmal vorführen, wie leicht es mit den großen Worten ist und wie schwer es ist, sie zu beweisen. Wo ist der Wortbruch? Ich will noch etwas hinzufügen. Die ersten Anträge zeigen, daß sich unsere Schätzungen in Übereinstimmung mit der Realität des jetzigen Antragseingangs befinden. Das ist eine Beruhigung. Eine weitere erfreuliche Mitteilung möchte ich noch machen. Es zeigt sich - jedenfalls nach den Berichten der in der Pflegekonferenz vertretenen Organisationen -, daß jetzt schon die Anträge auf stationäre Pflege zugunsten der ambulanten zurückgehen. Das war ({7}) u. a. Sinn des Gesetzes, und zwar nicht, weil wir keine stationäre Pflege mehr bräuchten. Sie brauchen wir. Aber wir wollten gerade durch den Ausbau der ambulanten Pflege die Chancen dafür erhöhen, daß jeder so lange wie möglich zu Hause bleiben kann. Ich komme zu den Beamten. Das haben wir hier schon einmal diskutiert. Soll ich das noch einmal wiederholen? Wenn bisher Aufwendungen bis 5 400 DM beihilfefähig waren und von der Beihilfe für die Pflege eingesetzt wurden und das jetzt in der ersten Stufe auf Geldleistungen von 400 DM zurückgeführt wird, dann finde ich, daß das eine erstaunliche Anpassungsleistung im Beamtenrecht ist, zumal die Beamten zum ersten Mal jetzt für etwas, was sie bisher als Beihilfe umsonst bekamen, ({8}) Beiträge zahlen müssen und noch eine Kompensation erbringen müssen. Lassen Sie doch endlich einmal diesen armseligen Kampf zwischen Beamten und übrigen Arbeitnehmern beiseite! Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß es um Gleichbehandlung geht. Das wird nie bis zur sechsten Stelle hinter dem Komma reichen. Dafür sind die entsprechenden Regelungen von zu unterschiedlicher Struktur. Aber denjenigen, der eine solche Anpassungsveränderung leistet, sollten Sie nicht mit dem Wort „Wortbruch" belegen. Bei dem nächsten Punkt wird es spannend, Herr Kollege Andres. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal bekommen könnte. ({9}) - Soll ich das noch einmal erzählen? Wollen Sie die Debatte noch einmal geführt haben? Soll ich noch einmal sagen, welche Umstellungen wir zustande gebracht haben? Wenn Sie, Herr Kollege Andres, schon auf das Einhalten von Versprechungen abstellen, dann bitte ich Sie, sich einmal das hessische Gesetz für die Investitionsförderung zur Pflege anzusehen. In der dualen Finanzierung war vereinbart, daß mindestens die Hälfte der Ersparnisse, die die Pflegeversicherung bei der Sozialhilfe ermöglicht, für Investitionen zur Verfügung gestellt wird. Stimmt es oder stimmt es nicht, daß die Vereinbarung lautete, daß die Länder die Gelder für die Investitionen zur Verfügung stellen wollten? ({10}) Ich sehe bei allen Ländern keine große Bereitschaft dazu. Aber das erste Gesetz, das dazu vorliegt, kommt aus Hessen. Es stammt vom Dezember. Dort steht: Investitionen nach Kassenlage. Das ist ein klassischer Widerspruch. Wenn Sie schon mit so großen Worten wie „Wortbruch" um sich hauen, dann sage ich Ihnen die Adressen. Ich gehe mit diesem Wort nicht so leichtfertig um. Wenn Sie dieses Wort verwenden wollen, dann heften wir es der hessischen Landesregierung an, die eine klassische Zusage nicht eingehalten hat. ({11}) Versuchen Sie erst einmal vor der eigenen Tür zu kehren, bevor Sie hier mit dem großen Hammer um sich hauen! ({12}) - Ich habe ja, was Sachsen anbelangt, ausdrücklich gesagt, daß ich alle Länder bitte, ihre Zusagen zu den Investitionen zu halten. Nur, in Gesetzesform hat sich als erstes Land Hessen nicht an die Absprache gehalten. Jetzt zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Ich will darauf hinweisen, daß Sachleistungen nicht exportiert werden und daß Geldleistungen - wie der Kollege Louven schon gesagt hat - nur ein Surrogat sind. Ich glaube, das liegt auch in der Logik der Sache. Wir müssen ja bei den Sachleistungen auch den Qualitätsstandard sicherstellen. Sie können den Qualitätsstandard für eine Sachleistung in Portugal oder anderen Ländern nicht sicherstellen. Das spricht nicht gegen Portugal, aber im deutschen Sozialrecht werden Sachleistungen nicht exportiert. Das ist in der Krankenversicherung genauso. Was den Urlaub anbetrifft, so ist schon gesagt worden, daß Klarheit darüber besteht - das unterliegt ja nicht diesem generellen Exportverbot -, daß bei Urlaubsreisen die Leistungen der Pflegeversicherung natürlich auch im Ausland zur Verfügung stehen. Das ist aber etwas anderes als eine dauerhafte Leistung ins Ausland. Ich denke, daß wir mit dieser Regelung überhaupt kein Neuland betreten, sondern nur das regeln, was im Krankenversicherungsrecht schon von eh und je gilt. Bei der Rentenversicherung geht es um etwas anderes. Da wird ein Einkommen verzehrt. Hier werden Geldleistungen für eine bestimmte Unterstützungsleistung an Pflegebedürftige gewährt. Da muß die Qualität sichergestellt werden, und diese Qualitätssicherung ist sowohl bei den Geld- wie bei den Sachleistungen im Inland sichergestellt. Im Ausland kann das nicht sichergestellt werden. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß man dann aus ganz Europa hierherkommen und mit geringen Beiträgen anschließend die Pflegeleistungen in die ganze Welt exportieren könnte, ohne daß sichergestellt werden könnte, daß diese Pflegeleistungen dann auch wirklich den Pflegebedürftigen irgendwo in der Welt zugute kommen. Was drittens das Arbeitgebermodell anbelangt, so schließe ich mich dem Kollegen Andres an. Wo er recht hat, hat er recht. Das ist ein ganz anderes System. Das, was hier vorgeschlagen wird, wäre im Grunde das System Kostenerstattung. Das ist nicht mehr das System, in dem zwischen Vertragspartnern eine Sachleistung vereinbart wird. Bitte schön. ({13}) Herr Präsident? ({14})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich bitte um Nachsicht. Hier gibt es jetzt ein paar Probleme mit der Rednerreihenfolge. Aber Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe eine Frage. Sie sind jetzt eigentlich schon weiter, aber ich bitte noch einmal zu der Frage des Ruhens der Leistungen bei Auslandsaufenthalt zurückkommen zu dürfen. Sie sagen, daß im Pflegeversicherungsgesetz bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt de facto analog zum Krankenversicherungsgesetz verfahren wird. Warum besteht dann nach Ihrer Meinung ein Regelungsbedarf im Rahmen des § 18 des SGB V, der diesen Leistungsbezug auch bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt vorsieht, und warum besteht dieser Regelungsbedarf im SGB XI, bei der Pflegeversicherung, nicht explizit im Rahmen des Gesetzes, sondern funktioniert über Vereinbarungen der Versicherungsträger?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Das ist doch ganz unstrittig. Es entspricht dem gesunden Menschenverstand, daß jemand, der sich vorübergehend zu einem Urlaub ins Ausland begibt, anders zu behandeln ist als jemand, der seine Pflegeleistungen ins Ausland mitnimmt, so daß Pflegeleistungen an einen Wohnort exportiert werden. Der Urlaubsort ist doch nicht der Wohnort. Ich bitte Sie, da müssen Sie nicht in die höhere Philosophie der Sozialpolitik einsteigen. Es ist etwas anderes, ob jemand an einen Urlaubsort reist und dort vier Wochen mit einem Pflegebedürftigen, den er mitnimmt, bleibt oder ob jemand Pflegeleistungen aus Deutschland irgendwo im fernen Ausland beziehen will, was überhaupt nicht mehr kontrollierbar wäre, was auch im Sinne des Gesetzes überhaupt nicht mehr zu überwachen wäre. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Wenn das gewünscht wird, gern.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich, von Ihnen zu hören, daß Sie das für völlig unstreitig halten. Meine Frage richtete sich aber darauf: Die Ausnahme des vorübergehenden Aufenthaltes ist im SGB V ausdrücklich geregelt. Warum behaupten Sie, daß man das nicht analog im SGB XI regeln müßte?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Wenn Sie beim Pflegegesetz keine anderen Sorgen haben als die Frage, was wann wo und wie geregelt ist, dann kann ich Sie beruhigen. ({0}) - Es wird doch gar nicht bestritten. Es wird von den Pflegekassen gewährt. Wenn Sie jetzt noch eine Diskussion darüber haben wollen, wo was geregelt werden soll, können wir die gern führen. Es verändert aber die faktische Lage überhaupt nicht. Es werden Leistungen im Urlaub gewährt. Das ist doch die wichtigste Nachricht. Das ist das, was die Pflegebedürftigen interessiert. ({1}) Vielleicht sollte ich meinen Beitrag abkürzen: Bei dem Arbeitgebermodell handelt es sich in der Tat um ein anderes Modell. Sie würden dann auf ein Kostenerstattungsprinzip umsteigen. Sie könnten praktisch nicht mehr zwischen Sach- und Geldleistungen unterscheiden. Den Behinderten kommen diese Leistungen auch zugute. Sie werden Pflegegeld erhalten. Die mit dem Arbeitgebermodell angesprochenen Pflegebedürftigen haben einen Anspruch auf Pflegegeld. Die Pflegeversicherung kann aber nicht an die Stelle des von der Eingliederungshilfe finanzierten Arbeitgebermodells treten. Die Pflegeversicherung kann überhaupt nicht alles leisten, was von ihr verlangt wird. Sie kann nicht die Sozialhilfe mit ihren Eingliederungshilfen völlig ersetzen oder die ganze Behindertenpolitik bezahlen. Sie hat auch nicht die Kraft, die ganze Rehabilitation zu finanzieren. Die Pflegeversicherung ist ein wichtiger Fortschritt für die Pflegebedürftigen, aber sie hat nie beansprucht, alle Fragen des Sozialstaates zu lösen. ({2}) Meine Bitte ist wirklich: Strengt euch doch an, daß die Einführungsphase mit weniger Verunsicherungskampagnen versehen wird, daß eher Vertrauenswerbung gemacht wird; ({3}) denn ich fürchte, die Pflegebedürftigen verstehen das ganze Hickhack nicht. Jetzt wird schon über die Leistungen der Pflegeversicherungen geurteilt, sie werden schon schlechtgemacht, bevor sie überhaupt beim ersten angekommen sind. Da sehe ich doch den bösen Willen. ({4}) Das Geld ist noch nicht angekommen, da wird schon gesagt, es sei zu wenig, und es sei falsch organisiert. Wer guten Willen hat, der muß diesem Gesetz eine Chance geben und eher dazu beitragen, daß es bei den Versicherten ankommt; denn es ist ein neues Gesetz, es braucht noch viel Aufklärung, es braucht viel Beratung und viel Unterstützung. ({5}) Darum bitte ich. Laßt doch bitte die großen Kanonen mit „Wortbruch" und ähnlichen demagogischen Übungen beiseite, vor allem, wenn man seine Vorwürfe nicht begründen kann! Darum bitte ich, nicht meinetwegen, sondern der Pflegeversicherung wegen. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm, Sie haben Probleme damit, daß wir das Pflege-Versicherungsgesetz im Vorfeld des Leistungsbezugs kritisieren. Es geht uns doch nicht darum, das Gesetz an sich zu verbannen, sondern Fehler, die im Verlauf von Gesetzesberatungen, noch dazu, wenn sie so schnell durchgeführt werden, auftreten können, noch rechtzeitig zu korrigieren. Bei der Kritik unsererseits geht es in keinem Fall darum, die eigentlich Betroffenen zu verunsichern. ({0}) Das Jahrhundertwerk Pflegeversicherung ist ins Gerede gekommen und zeigt Risse. Was sich von Anfang an andeutete, wird jetzt zunehmend deutlich. Die Pflegeversicherung ist weit davon entfernt, eine adäquate Pflegeabsicherung zu sein. Das Gesetz ist ein Stückwerk, und gewachsene Strukturen in der Pflegeinfrastruktur sind gefährdet. Die eigentlich Betroffenen werden unzureichend in die Entscheidungen einbezogen. Das betrifft insbesondere die mangelnde Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts jüngerer Behinderter. Trotz oder gerade wegen unserer grundsätzlichen Kritik am Pflegeversicherungsmodell unterstützt die PDS den Versuch der Bündnisgrünen, einige besonders gravierende Mängel des Gesetzes im Sinne der Betroffenen auszuräumen. Aus den vielen nicht oder ungenau geregelten Fragen möchte ich vor allem die ungenaue Abgrenzung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz von den Leistungen nach dem Pflege-Versicherungsgesetz herausgreifen. Manche behaupten kühn, daß der Gesetzgeber schlampig, gewissermaßen unter Zeitdruck gearbeitet habe und dieses Manko übersah. Doch augenscheinlich hat das die Regierung beabsichtigt: Das gesamte historisch gewachsene und erkämpfte Hilfesystem, insbesondere zur Sicherung eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen, ({1}) soll radikal zurechtgestutzt, möglichst beseitigt werden. ({2}) Insofern ist der Streit zwischen den überörtlichen Sozialhilfeträgern und den Pflegekassen ein von der Bundesregierung vorprogrammierter Streit mit dem Ziel, gewachsene Konzepte der Behindertenhilfe in Frage zu stellen. ({3}) Eingliederungsmaßnahmen sind ohne integrierte Pflegebestandteile nicht durchführbar, und nur im Einzelfall ist eine organisatorische und damit finanzielle Trennung von „klassischer" Leistung der Eingliederungshilfe und von pflegerischer Leistung möglich. Wenn nun aber die Sozialhilfeträger, wie im Positionspapier der überörtlichen Träger der Sozialhilfe nachzulesen ist, sich weigern, die Kosten für die Eingliederungshilfe wie bisher zu übernehmen, dann ist das nicht nur der Versuch, die Kosten auf Beitragszahlerinnen und -zahler zu verlagern, sondern auch Ergebnis einer Politik des Abbaus sozialer Rechte und Leistungen. Zu den durch die Pflegeversicherung offenbar zu beseitigenden Strukturen scheint auch die individuelle Schwerbehindertenbetreuung zu gehören. Hier stehen sozialpädagogische und sozialarbeiterische Aufgaben im Vordergrund, wird Assistenz und Hilfe geleistet. Betroffene übernehmen die fachliche Anleitung der Pflegekräfte, organisieren ihre Pflege selbst. Das stärkt natürlich ihr Selbstbewußtsein und ihre Unabhängigkeit. Genau das scheint wohl nicht gewollt zu sein. Doch damit nicht genug. Mit der Pflegeversicherung sollen anscheinend behinderte Menschen von ihrem Arbeitsplatz, so sie überhaupt noch einen haben, vertrieben werden. Oder wie soll man sonst das Schreiben vom November 1994 vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung interpretieren? Darin heißt es: Soweit der Personenkreis voll berufstätig ist, sind zumindest Zweifel am Hilfebedarf im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes angebracht. Ich denke, das ist sehr beschämend, gerade auch angesichts der mehr als 180 000 arbeitslos gemeldeten Schwerbehinderten. ({4}) - Das ist kein Quatsch. Wir haben im Ausschuß gestern erst die Zahlen gehört. Die überall auftretenden Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung - wir und sicher auch Sie erhalten täglich Anrufe und Briefe - wären bei klareren Aussagen der Bundesregierung vermeidbar. Auch die notwendigen Verordnungen sind entweder zu spät oder noch gar nicht vorhanden. ({5}) Hinzu kommt, daß derzeit niemand konkret weiß, wie die Leistungen dieser Versicherung ab 1. April an alle Hilfebedürftigen erbracht werden sollen. Seit Januar 1995 sollen von 500 000 Anträgen 125 000 bearbeitet worden sein. Und täglich werden neue Anträge gestellt. Nach Auffassung von Vertreterinnen des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen wird bis zum 1. April nur ein Teil der Begutachtungsaufträge erledigt sein. Es ist also fast sicher, daß nicht alle Menschen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind, die ihnen zustehenden Leistungen auch zum 1. April erhalten werden. ({6}) - So zeitig war das Gesetz nun auch nicht da, Herr Kollege Louven. ({7}) Die PDS wird, ausgehend von Hinweisen und Stellungnahmen sowie Protesten der Behinderten- und Betroffenenverbände, eigene Novellierungsvorschläge einbringen. Sie betreffen insbesondere die Aufnahme der Leistung Kommunikation in den Leistungskatalog der Pflegeversicherung, die Aufwertung von Prävention und Rehabilitation in der Pflege sowie die reale Gleichstellung der familiären, häuslichen Pflege mit der Fremd- bzw. professionellen Hilfe. Nach wie vor halten wir jedoch eine steuerfinanzierte Lösung des Dauerbrenners Pflegeabsicherung für die gerechteste und beste Lösung. Nur bei einer steuerfinanzierten Lösung werden Einkommen und Vermögen aller Bürgerinnen und Bürger angemessen in die Finanzierung einbezogen. Das wäre dann im Ansatz wirklich solidarisch. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Noch einen Satz: Wir werden nicht lockerlassen, schrittweise eine bedarfsdekkende, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Betroffenen stärkende Regelung einzufordern. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, über den wir heute diskutieren, stammt aus dem Dezember des vergangenen Jahres, bevor das Pflegegesetz in Kraft getreten ist und die Leistungen gezahlt wurden. ({0}) Das Schiff wird also zur Reparatur gebracht, noch ehe es vom Stapel läuft. Nun könnte das noch Sinn machen, wenn Ihre Änderungsanträge sich auf Punkte bezögen, die das Gesetz nicht geregelt oder ersichtlich falsch geregelt hätte. Das ist aber, wie ich gleich erklären werde, nicht der Fall. Ihre Absicht wird daher zutreffenderweise nicht im Versuch liegen, das Pflegegesetz zu ändern, sondern lediglich darin, die Diskussion neu zu entfachen. Es ist ein Jammer, daß wir im Gesetzgebungsverfahren kein Institut wie die Rechtskraft eines Urteils oder die Erschwernisse wie bei der Wiederaufnahme eines Verfahrens kennen. Es gibt keinen Schutz vor solchen Anträgen und der Ermüdung, die ihre Behandlung verursacht. Sie wollen das Ruhen der Leistungen der Pflegeversicherung bei Auslandsaufenthalten aufheben. Für das Ruhen bei Auslandsaufenthalten - so kann man in Ihrem Entwurf nachlesen - gebe es keinen sachlichen Grund, und Art. 2 Grundgesetz wird herangezogen. Sie wissen ganz genau, daß die Reisefreiheit der Pflegebedürftigen nicht eingeschränkt wird. Eine Auslandsreise des pflegebedürftigen Menschen allein oder mit seiner Pflegeperson ist durch die Vorschrift nicht ausgeschlossen, wenn es sich um eine Auslandsreise von üblicher Dauer, d. h. 6 Wochen pro Kalenderjahr, oder einen kurzfristigen Auslandsaufenthalt handelt. Zwar können in diesen Fällen im Ausland keine Pflegesachleistungen erbracht werden, die Gewährung von Pflegegeld ist aber auch für diesen Zeitraum möglich. Es ist sichergestellt, daß die Pflegekassen auch in diesem Sinne in der Praxis verfahren werden. Eine Änderung des § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ist daher im Moment nicht angezeigt. Für das Ruhen bei Auslandsaufenthalt gibt es gute Gründe: Auch bei der umlagefinanzierten Pflegeversicherung muß es bei dem Grundsatz bleiben, daß Sachleistungen nicht exportiert werden können. Pflegeleistungen im Ausland können nur dann erbracht werden, wenn in dem jeweiligen Land eine gleichwertige Versicherung besteht. Das ist derzeit allenfalls in Holland möglich. Pflegesachleistungen nach dem Pflege-Versicherungsgesetz können ohnehin nur im Inland von entsprechenden Vertragspartnern der Pflegekassen erbracht werden. Nur hier gibt es die notwendige Qualitätskontrolle. Ebensowenig ist die für die Anspruchsbegründung notwendige Kontrolle der Pflegebedürftigkeit durch den medizinischen Dienst gewährleistet. Meine Damen und Herren, diese Punkte sind in Ausschußsitzungen diverse Male sehr eingehend beraten und bewußt so entschieden worden. Sie wollen, daß Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI auch durch eigene Pflegebetriebe der Pflegebedürftigen erbracht werden können. Das wäre nun wirklich eine Systemänderung. Damit würde die Trennwand zwischen Pflegegeld und Pflegesachleistungen aufgehoben werden. Es könnte sich ja jeder Pflegebedürftige selbst zu einem Pflegebetrieb ernennen und dann statt der Geldleistung, die wir ja aus gutem Grund begrenzt haben, eine Pflegesachleistung beanspruchen. Das wäre eine völlige Umkrempelung in dieser Frage und insofern in unseren Augen kein Weg. Wir haben die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Pflegegeld. Beim Pflegegeld ist der Behinderte durchaus ein Arbeitgeber, nämlich dann, wenn er einen Vertrag abschließt und entsprechende Leistungen dafür bekommt. Das ist mit Absicht so erfolgt. Ich sage Ihnen: Aber die Gruppe der Personen, die Ihnen hier vorschwebt, nämlich die Behinderten, wird im Grunde weder durch die Sachleistung -2 800 DM im Schwerstfall - noch durch das Pflegegeld hinlänglich finanziert. Es handelt sich hier um einen völlig anderen Tatbestand. Wir wissen, daß es Fälle gibt, in denen 20 000 DM im Monat notwendig sind, um die nötige Finanzierung sicherzustellen. Dieses hat die Pflegeversicherung nie ganz finanzieren können noch wollen, sondern wir haben hier ganz bewußt eine Begrenzung, einen schmalen Korridor der Kostenübernahme vorgesehen. Dabei bleibt es. Das heißt aber nicht, daß die Betroffenen nicht in der Weise Hilfe bekommen können, wie die Finanzierung auch derzeit geregelt ist. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für unseren Sozialstaat, wenn wir in einer Größenordnung von 20 000 DM Hilfe finanzieren. An dieser Stelle könnte man ruhig einmal sagen: Anerkennung für den Sozialstaat Deutschland. Als dritten Punkt, meine Damen und Herren, wollen Sie, daß wir von der Vorstellung abgehen, daß eine solche ambulante Pflegedienstleistung eine ausgebildete Pflegekraft als Leitung bekommt. Ich finde es vernünftig und richtig, daß wir bei dein Grundsatz bleiben: Die Leitung einer solchen Pflegediensteinrichtung sollte bei einer ausgebildeten Pflegekraft liegen. Das sollte die Regel sein. Ich halte es auch für richtig, daß wir dies jetzt so starten. Aber ich könnte mir denken, daß wir bei der Frage der Leitung unter Umständen Ausnahmen oder andere Entscheidungen treffen könnten, wenn Erfahrungen mit Kräften vorliegen, die zwar ebenfalls pädagogische Hilfe anbieten, die wir aber nicht finanzieren. Wir werden vielleicht über diese Frage noch einmal sachliche Diskussionen im Ausschuß führen können. Da könnte ich mir flexible Entscheidungen zumindest vorstellen. Wichtig ist, festzuhalten, daß es uns bei den Bestimmungen darum ging, bezüglich der Sachleistungen eine qualitätsvolle und von ausgebildeten Kräften geleistete Pflege zu gewährleisten. Dies wollen wir auch neben Geldleistungen, mit denen wir eine Laienhilfe honorieren können, beibehalten. Zum Schluß möchte ich noch sagen: Die Pflegeversicherung stand möglicherweise zu Beginn unter keinem guten Stern, was jedoch nicht heißt, daß dies so bleiben muß. Bei jeder Novelle und bei jedem neuen Gesetz bestehen enorme Anfangsschwierigkeiten. Alle sind sich einig im Jammern. Wir waren uns aber alle darüber einig, daß es eine große Leistung dieses Gesetzes ist, den Familien die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes zu geben. Daher finde ich den Appell von Norbert Blüm berechtigt, der uns ans Herz gelegt hat, dafür zu werben und darauf zu vertrauen. Jeder bekommt ab Januar einen halben Prozentpunkt von seinen Bezügen abgezogen. ({1}) Jeder zahlt von dem von ihm erworbenen Geld in die Pflegekasse, um dies zu finanzieren. Die Erwerbstätigen verdienen für ihre Leistung Respekt. Wir sollten nicht ständig rummäkeln und sagen, daß dies zuwenig und nicht angemessen sei. Vielmehr sollten wir feststellen, daß es richtig ist, daß die Pflegekasse jetzt in die Lage versetzt wird, diese durchgreifenden ambulanten Hilfen zu leisten. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat mich in seiner Rede aufgefordert, mit dem Wort Wortbruch vorsichtiger umzugehen. Er war dann so geschickt und schlitzohrig, es gleich der Hessischen Landesregierung anzuhängen. Ich habe von mehreren Wortbrüchen gesprochen und werde diese begründen und ausdrücklich wiederholen. Ich halte es für einen Wortbruch, daß die Landesregierung von Sachsen entgegen den Zusagen in der Ministerpräsidentenrunde den Arbeitgeberanteil nicht wie die anderen Länder kompensiert, sondern den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den vollen Beitrag aufbürdet. ({0}) Ich halte es für einen Wortbruch, daß die Bundesregierung bei der Anpassung der Beihilferichtlinien Zeitsätze aufgeschrieben hat, während sie für die Sozialversicherungspflichtigen die Sätze an Geldbeträgen festgemacht hat. Dies halte ich für einen Wortbruch, wenn vorher gesagt wurde, daß beide gleichbehandelt werden sollten. Daran ändert sich auch nichts, Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie sagen, dies begründe sich auf Grund des Verhältnisses zu den alten Beihilferichtlinien. Dies hat damit überhaupt nichts zu tun. Dies ist ein Wortbruch. Ich halte es für einen Wortbruch, Herr Bundesarbeitsminister, daß Sie die Verrichtungszeiten in Ihrem Richtlinienentwurf auf 90 Minuten festgelegt haben. Mir ist so klar wie Ihnen - danach brauchen Sie nicht zu fragen -, daß die 60 bzw. 90 Minuten nicht im Gesetz stehen. Aber wir sind in der gesamten Pflegedebatte, in der gesamten Diskussion über den Gesetzentwurf immer von einer Einheit von 60 Minuten ausgegangen. Vielleicht haben wir bei nächsten Debatten noch Gelegenheit, über das eine oder andere zu reden. Ihr Problem ist jetzt, daß Sie Angst haben, daß der gesetzlich vorgesehene Rahmen durch die Beitragseinnahmen nicht finanziert werden kann. Ihre Begründung lautete: Wir führen dies jetzt erst einmal so ein, und wenn es besser läuft, können wir es nachbessern. Der Punkt ist, daß in der öffentlichen Debatte von etwas anderem ausgegangen worden ist. Ich füge hinzu, Herr Bundesarbeitsminister, daß wir möglicherweise in anderem Zusammenhang noch einmal auf die Wortwahl zurückkommen, nämlich wenn man die eine oder andere Frage, die man so hört, aufgreift oder weitere Beratungen zu möglichen Pflegestufen la, I b, I c oder II a usw. durchführt. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Bundesminister.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich bedanke mich für den Beitrag des Kollegen Andres, denn er konnte an keiner einzigen Stelle seinen schweren Vorwurf beweisen. Was Sachsen macht, ist nach dem Gesetz ausdrücklich als Alternative möglich ({0}) Etwas ganz anderes ist, wie ich dies bewerte. Dieses Gesetz ist nicht allein von der CDU/CSU, sondern auch mit der Stimme des Kollegen Andres beschlossen worden. Wenn er diese Alternative hätte ablehnen wollen, hätte er gegen das Gesetz stimmen müssen. Zweiter Punkt: Es sind bei der ambulanten Pflege nicht Beträge, sondern es sind Zeitansätze festgesetzt worden. Die Zeitansätze stimmen ungefähr mit den heutigen Beträgen der Pflegeversicherung überein. Im übrigen werden Verträge abgeschlossen, wobei diese Verträge auch den Geldfaktor im Griff haben. Aus diesem relativ minimalen Unterschied Wortbruch herzuleiten - ({1}) - Das ist ein minimaler Unterschied, wenn ich bedenke, daß für die Beamten bisher 5 400 DM für die ambulante Pflege beihilfefähig sind und daß die Geldleistung in der ersten Stufe jetzt im Extremfall auf 400 DM heruntergeht. Wenn Sie bestreiten, daß das eine gewaltige Anpassung ist, und wenn Sie das als Wortbruch bezeichnen, dann sind Sie wirklich sehr großzügig mit dem Aussprechen von Beleidigungen. ({2}) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Nein, wir machen ja hier kein Verwirrspiel. Erst wird der Kollege Andres richtiggestellt. Weiterhin stelle ich fest, daß der Kollege Andres zugeben mußte, daß an keiner Stelle im Gesetz „60 Minuten" stand, sondern daß lediglich im Rahmen der Richtlinie über die Alternative 60 oder 90 Minuten diskutiert wurde. Seit wann ist eine Diskussion ein Wortbruch? Weder findet sich im Gesetz das Verbot für die Sachsen, so zu handeln, wie sie handeln, noch befindet sich im Gesetz eine Angabe von 60 Minuten. Ich stelle fest, daß der Vorwurf „Wortbruch" ein großer Rohrkrepierer des Kollegen Andres war. Insofern hat. sich die Debatte jetzt schon gelohnt. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Böhmer ({0}).

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Andres, Hartnäckigkeit macht Äußerungen nicht besser und auch nicht wahrer; das haben Sie eben erfahren. Ich denke auch, daß hier zu Verunsicherungen beigetragen wird - was Sie deutlich getan haben -, wenn falsche Hoffnungen genährt werden und wenn in vieler Weise unbegründete Erwartungen zusätzlich gestützt werden. ({0}) Das trägt nicht dazu bei, daß wir zu einer wirklich stetigen und von der Bevölkerung angenommenen Umsetzung der Pflegeversicherung kommen. ({1}) .Jetzt kommt es darauf an, daß wir alle Kräfte bündeln, um die Pflegeversicherung umzusetzen. ({2}) Wenn wir den Skeptikern und den ewigen Bedenkenträgern gefolgt wären, dann hätten wir heute noch keine Pflegeversicherung. Deshalb müssen wir wirklich voranschreiten. Ich halte es für grundfalsch, liebe Frau Kollegin Fischer, wenn wir jetzt mitten in der ersten Umsetzungsphase Änderungen an der Pflegeversicherung vornehmen. ({3}) Es kann kein Prinzip von Politik sein, jeden Tag mit einer neuen Überraschung und mit einem neuen Anliegen aufzuwarten. Gerade in dieser ersten Phase der Pflegeversicherung ist es wichtig, daß wir dem Grundsatz der Verläßlichkeit und der Kontinuität folDr. Maria Böhmer gen. Denn wie sollte sonst vor Ort wirklich geplant werden? ({4}) Wir sollten uns in der heutigen Debatte nicht nur mit den Vorschlägen auseinandersetzen, die vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgebracht worden sind; denn sie stellen keine tragfähige Alternative zu den im Gesetz vorgesehen Regelungen dar. Das ist mehrfach erläutert worden, und ich will die Erläuterungen nicht wiederholen. Wir werden auch im Ausschuß noch einmal darüber sprechen. Ich glaube, es hat sich sowohl in Ihr Gedächtnis eingeprägt, daß Urlaubsaufenthalte möglich sind, als auch, daß das Arbeitgebermodell sehr wohl von den Sozialhilfeträgern finanziert wird. Ich möchte jetzt einige andere Punkte aus der Umsetzungsphase aufgreifen, die mir sehr wichtig erscheinen: Es wurde eben Kritik daran geübt, daß erst 125 000 Anträge bearbeitet worden seien. Ich halte das für eine stolze Zahl, zu der wir inzwischen gekommen sind. Das bedeutet für viele, die ab 1. April Leistungen erwarten dürfen, eine große Sicherheit. Ich möchte all denjenigen danken, die sich derzeit vor Ort mit aller Kraft dafür einsetzen und tagtäglich Aufklärungsarbeit leisten, auch denen, die bei den Pflegekassen harte Arbeit leisten, damit die Menschen ab 1. April ihre Leistungen erhalten. ({5}) Es scheint mir aber auch wichtig, eines noch einmal in den Blick zu rücken: Aufgrund der zahlreichen Gespräche mit den Betroffenen - so geht es sicherlich vielen von uns - merken wir, daß nach wie vor Schwierigkeiten bestehen, wenn es um die Abgrenzung geht: Was bedeutet Eingliederungshilfe, und was bedeutet eigentlich Abdeckung des Pflegerisikos? Ich denke, wir müssen hier sehr deutlich an den Kriterien festhalten, die im Gesetz genannt sind. Wir müssen an den klaren Abgrenzungen der Eingliederungshilfen festhalten. Natürlich kann es bei Behinderten zu einem Nebeneinander der Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung kommen. Das widerspricht sich aber nicht. Sie wissen aber genausogut wie ich, daß nicht jeder Behinderte zugleich auch pflegebedürftig ist; denn derzeit gibt es in unserem Land 6,5 Millionen Menschen mit einer Behinderung von mindestens 50 %, aber nur 1,6 Millionen Personen sind erheblich, schwer- oder schwerstpflegebedürftig. Das macht doch deutlich, daß die Fälle nicht immer deckungsgleich sind und daß allein schon von daher ein differenziertes Vorgehen notwendig ist. Ein differenziertes Vorgehen ist aber auf Grund der Unterschiede bei den Leistungen und auf Grund der unterschiedlichen Träger notwendig. Eine klare Abgrenzung ist im Interesse der Pflegeversicherung, vor allem aber im Interesse der Pflegebedürftigen nötig, wenn wir die Möglichkeiten für die Zukunft so erhalten wollen, wie sie im Gesetz festgelegt worden sind. Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu der derzeitigen Umsetzung in den Ländern. Hier müssen wir in der Tat große Sorge haben. Der Bundesarbeitsminister hat soeben darauf hingewiesen, daß Hessen seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Ich muß leider feststellen, daß Hessen kein Einzelfall ist. ({6}) In Rheinland-Pfalz haben wir die Situation, ({7}) daß die SPD-geführte Landesregierung erst jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, den sie im Schnellgang durch das Parlament peitschen will. Dieser Gesetzentwurf ähnelt sehr dem hessischen Gesetz; denn einerseits weckt er Hoffnungen, und auf der anderen Seite werden Versprechungen nicht erfüllt. Das bedeutet, daß - genau wie im hessischen Gesetz - ein Finanzierungsvorbehalt besteht. Das schafft in der Tat die eigentliche Unsicherheit bei der Umsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes. ({8}) - Dann schauen Sie doch einmal nach Bayern. Da werden Sie deutliche Unterschiede sehen. Ein Blick in Gesetzentwürfe hilft manchmal. Etwas so pauschal zu sagen führt in keiner Weise weiter. Es zeichnet sich darüber hinaus ab - das sage ich auch vor dem Hintergrund des Gesetzentwurfes in Rheinland-Pfalz -, daß versucht wird, die bewährte Struktur der Sozialstationen in diesem Land auszuhebeln. Heiner Geißler hat die Sozialstationen dort vor Jahren eingeführt. Viele andere sind diesem Beispiel gefolgt. Der Gesetzentwurf für Rheinland-Pfalz sieht die Schaffung sogenannter ambulanter Hilfezentren vor. Im Hinblick auf die Finanzierung ist auch an der Stelle nur eine Nullinie zu erwarten. So kommen wir mit Sicherheit nicht weiter. Die Länder müssen an dieser Stelle endlich ihre Pflicht erfüllen. ({9}) Meine Damen und Herren, bei einem so komplexen Gesetz wie dem über die Pflegeversicherung versteht es sich von selbst, daß nicht jedes Detail im voraus perfekt durchgeplant werden kann. Aber sofort von Veränderungen zu sprechen - das betone ich noch einmal -, halte ich für falsch. Ich halte es allerdings für notwendig, daß wir uns, wenn wir einige Erfahrung gesammelt haben, dann zusammensetzen, wenn wir merken, daß es sich hier nicht nur um Einzelfälle handelt, sondern daß es auch ein Stück weit an bestimmten Strukturen liegt. Dann müssen wir sehr gründlich darüber sprechen, ob einzelne Regelungen noch einmal zu überprüfen sind und ob möglicherweise eine bessere Regelung gefunden werden kann. Wir sollten aber jetzt wirklich alle Kraft daran setzen, denjenigen, die ab 1. April die entsprechenden Leistungen erwarten dürfen, mit der Umsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes zu helfen und zügig voranzukommen. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Mascher.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe ein bißchen geschmunzelt, als der begnadete Demagoge Norbert Blüm einen anderen Kollegen einen Demagogen gescholten hat. Das ist in diesem Fall vielleicht eine hohe Anerkennung. Ich habe mich auch ein wenig gewundert, als hier aus dem hessischen Gesetz zitiert worden ist. Mir liegt der Gesetzentwurf aus Bayern vor. Auch hier heißt es: Der Staat beteiligt sich nach Maßgabe der im Staatshaushalt bereitgestellten Mittel an der Finanzierung usw. ({0}) Auch hier ist es so, daß es diese Einschränkungen gibt. Leider gibt es nicht mehr so sehr viele CDU/ CSU-regierte Länder, so daß es nicht so viele Beispiele gibt. Es gibt mehr sozialdemokratisch regierte Länder. ({1}) Ich glaube, sie sind sich alle einig, daß sie knappe Kassen haben. ({2}) Ich denke, daß wir nach der schwierigen Mehrheitsfindung für eine gesetzliche Pflegeversicherung und nach dem Hin und Her um die Kompensationsleistung für die Arbeitgeber jetzt darangehen sollten, darauf zu achten, wie das Gesetz umgesetzt wird. Werden die Erwartungen, auch die Erwartungen, die durch die schönen, bunten Broschüren des Bundesarbeitsministers besonders hoch gestimmt sind, der Pflegebedürftigen erfüllt? Gibt es wirklich eine Verbesserung, eine Erleichterung der Lebenslage Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen? Ich verfolge mit Sorge die widersprüchlichen Meldungen in der Presse. Einmal kritisiert der Minister die niedrige Ablehnungsquote bei der Festlegung der Pflegestufen durch den Medizinischen Dienst in der „Süddeutschen Zeitung" - vielleicht war es ja falsch -, um kurz darauf dem Medizinischen Dienst wieder sein Vertrauen auszusprechen. Was ist denn hier nur los? Aus vielen Gesprächen mit Wohlfahrtsverbänden, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ambulanten Einrichtungen, mit Betroffenen, mit Familienangehörigen von Betroffenen weiß ich - und ich denke, es geht allen Abgeordneten, die hier sitzen, nicht anders -, daß es eine ganz große Unsicherheit gibt, ({3}) wie die bisher gewachsenen Strukturen in die neue Systematik der Pflegeversicherung eingebaut werden können. Und wenn frau sich dann als pflichtbewußte Abgeordnete aufmacht und versucht, die Fragen zu klären, dann stelle ich fest: Es gibt einfach noch viele ungeklärte Abgrenzungsprobleme. Ich habe leider den Eindruck, daß der Bundesarbeitsminister oder das Bundesarbeitsministerium in aller Regel eine restriktive Auslegung der Pflegeversicherung verfolgt. Das geht dann zu Lasten der Betroffenen. ({4}) Ich vermute, dahinter steckt der Versuch, den Finanzbedarf im Rahmen der Deckelung der Pflegeversicherung zu halten. Angesichts der Horrorberichte über mögliche Kostenentwicklungen ist dieses Bemühen ja vielleicht durchaus ehrenwert, solange - ich sage ausdrücklich: solange - es nicht dazu führt, daß Pflegebedürftige, für die die Pflegeversicherung eigentlich einmal gedacht war, von Leistungen ausgegrenzt werden. ({5}) Ich gestehe dem Bundesarbeitsminister durchaus zu, daß his zum 1. April eine Reihe von Abstimmungen, Interpretationen und notwendigen Abgrenzungen, z. B. zur Sozialhilfe, zur Krankenversicherung, zur Eingliederungshilfe, auch noch zugunsten der Betroffenen erfolgen werden. Hätte ich diese Erwartung nicht, hätte die SPD diese Erwartung nicht, so würde heute nicht nur ein Antrag der GRÜNEN mit drei klärungsbedürftigen Punkten vorliegen, sondern ein sehr viel längerer Katalog von Fragen. Aber wir werden sehr genau prüfen, ob der Arbeitsminister, das Arbeitsministerium, unseren Erwartungen nachkommt. Der vorliegende Antrag der GRÜNEN betrifft eine Gruppe von Behinderten, die trotz einer oft erheblichen Behinderung mit großen Anstrengungen ein selbstbestimmtes Leben erreicht haben. Sie sind teilweise berufstätig, haben aber einen großen Hilfe- oder Assistenzbedarf. Ich denke, es wäre für die Politik beschämend, wenn es nicht gelänge, ihre Lebensform, ihre hart erkämpfte Selbstbestimmung auch mit den Regelungen der Pflegeversicherung in Einklang zu bringen. ({6}) Deshalb sollten wir im Ausschuß sehr sorgfältig beraten, um eine Lösung zu finden, falls dies im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes notwendig ist. Erstens. Das Ruhen der Leistungen bei einem Auslandsaufenthalt darf sicher nicht dazu führen, daß pflege- oder betreuungsbedürftige Menschen per Gesetz vom Urlaub im Ausland oder auch von einem berufsbedingten Auslandsaufenthalt ausgeschlossen werden. In der Praxis scheint schon eine Regelung gefunden worden zu sein. Ich wünsche mir aber, daß die Betroffenen das, was sie angeht, im Gesetz finden, nicht erst in Ausführungsbestimmungen. ({7}) Zweitens. Es gibt eine Reihe von ambulanten Pflegediensten, die im Rahmen der individuellen Schwerbehindertenbetreuung ganz spezielle, nicht nur fachpflegerische Dienste im engen Kontakt mit Betroffenen aufgebaut haben. Ich erwarte, daß diese spezifischen Angebote nicht in einem Abstimmungsmarathon zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den kommunalen Spitzenverbänden, aber auch zwischen dem Bundesarbeits- und dem Bundesgesundheitsminister durch den Rost fallen. Drittens. Es geht auch darum, eine Möglichkeit zu finden, die am spezifischen Hilfebedarf von Pflegebedürftigen ausgerichtete besondere Organisationsform, bei der Pflegebedürftige als Arbeitgeber ihrer Pflegekräfte auftreten, die diese Pflege nicht als Angehörige, sondern als Erwerbstätige leisten, nicht zu zerschlagen. Sie hat sich in vielen Fällen bewährt. Ich hoffe auf eine Klärung, eine Abgrenzung, eine verbindliche Regelung darüber, was die Sozialhilfe, die Pflegeversicherung, die Krankenversicherung, die Krankenkassen leisten. Im Moment besteht natürlich die Gefahr, daß sowohl die Sozialhilfeträger wie auch die Pflege- und Krankenkassen versuchen, die Lasten auf den jeweils anderen abzuschieben. Ich ganz persönlich kann es nicht ertragen, wenn die Pflegebedürftigen hier auf Prozesse verwiesen werden, indem ihnen gesagt wird: Klagt erst einmal! ({8}) Ich hoffe sehr, daß die von uns gemeinsam mühsam genug und mit schmerzlichen Einbußen erreichte gesetzliche Absicherung des Pflegerisikos nicht zu einer Dampfwalze wird, die einzelnen Gruppen ihre mühevoll aufgebauten Versorgungsstrukturen zerstört. Ich bin gern bereit, um Vertrauen für die Pflegeversicherung zu werben. Dann aber müßte ich das Vertrauen haben, daß Regelungen vor allen Dingen mit Blick auf die Betroffenen, nicht mit Blick auf die finanzielle Situation, gefunden werden. So wichtig die Finanzen sind: ({9}) Bei der Pflegeversicherung geht es um die Pflegebedürftigen und deren Angehörige, die in einer ganz schwierigen Lage sind und die wir als erste berücksichtigen sollten. Danke. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die Aussprache ist damit geschlossen. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/99 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, geht es darum, eine Korrektur vorzunehmen. Bei der Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder des Parlamentarischen Beirats der Stiftung für das sorbische Volk, Drucksache 13/ 569, sind irrtümlich der Abgeordnete Gottfried Haschke ({0}) als ordentliches Mitglied und der Abgeordnete Ulrich Klinkert als stellvertretendes Mitglied benannt worden. Die Fraktion der CDU/CSU teilt uns mit, daß es richtig heißen muß: Abgeordneter Ulrich Klinkert als ordentliches Mitglied, Abgeordneter Gottfried Haschke als stellvertretendes Mitglied. Ich gehe davon aus, daß es sich um eine schlichte Richtigstellung handelt. Darf ich davon ausgehen, daß auch Sie das so sehen? ({1}) Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. ({2}) - Das läßt sie zu. Mit gutem Willen ist fast alles möglich, Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Situation des deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes - Drucksache 13/541 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus ({3}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Rolf Olderog, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erleben heute dank unseres Antrages eine Premiere. Oft hat der Bundestag über Landwirtschaft, über Kohle, Stahl und Autoproduktion debattiert, aber noch nie speziell über das Hotel- und Gaststättenwesen. Wir halten es daher für geboten, daß der Bundestag jetzt auch einmal die großen Leistungen und die vielen tüchtigen Persönlichkeiten des Gastgewerbes angemessen würdigt und daß endlich auch dessen ProDr. Rolf Olderog bleme und dessen Perspektiven auf die Tagesordnung des Parlaments kommen. ({0}) Die Zahlen für die wirtschaftliche Bedeutung des Gewerbes sind eindrucksvoll: Umsatz: 100 Milliarden DM, Beschäftigte: 1 Million, Auszubildende: 61 000, Anteil an der Wertschöpfung: 1,4 %. ({1}) 1 Million Beschäftigte - eine imponierende Zahl. Das ist die Größenordnung der Automobilindustrie. Aber während dort die Arbeitsplätze wegrationalisiert oder exportiert werden und schon heute manche davon reden, daß in Deutschland zukünftig nur noch Blaupausenproduktion stattfinden soll, wachsen die Arbeitsplätze im Gastgewerbe, sind sie selbst in schwierigen Zeiten vergleichsweise stabil und kaum durch Abwanderung bedroht. Ich halte es für einen schweren Fehler, beim Thema Arbeitsplätze nur über Industriepolitik zu reden und nicht die großen Chancen im Dienstleistungssektor zu sehen. Zentral ist der Beitrag des Gastgewerbes zu Lebensqualität und Lebensfreude. Reisen, Essen, Trinken und miteinander Fröhlichsein gehört natürlich dazu. ({2}) Das Gastgewerbe bietet Orte des menschlichen Gesprächs und Miteinanders, Orte, an denen Menschen einander kennenlernen und verstehenlernen. ({3}) Gasthäuser, Restaurants, Biergärten und auch Kneipen sind ebenso wie Hotels und Gasthöfe prägende Elemente deutscher Lebenskultur. ({4}) Im deutschen Gastgewerbe sind 180 000 ausländische Arbeitnehmer und 56 000 ausländische Hoteliers und Gastwirte tätig. Ausländer helfen und stützen nicht nur das Gewerbe, nein, sie machen es auch interessanter und vielfältiger, sie sind mit ihrer Arbeit und ihrer Kultur für unser Land und für uns alle in Deutschland eine wirkliche Bereicherung. ({5}) Noch ein Letztes zur Bedeutung des Gastgewerbes: Gastlichkeit ist die Visitenkarte unseres Landes in aller Welt. Vielfalt, Gastfreundschaft und Toleranz steigern nicht nur die Attraktivität des Reise- und Urlaubslandes Deutschland, sondern sie tragen vor allem zu einem positiven Bild von Deutschland und den Deutschen in der Welt bei. ({6}) Anerkennung verdient das Gastgewerbe auch für seinen Beitrag zum Aufbau Ost. Das Gewerbe hat nicht nur mit überdurchschnittlichem Erfolg dazu beigetragen; das Wirtschaftsministerium hat es sogar als „Hoffnungsträger" für den Aufbau Ost bezeichnet. Seit 1991 haben wir bei Gästen und Übernachtungen zweistellige Zuwachsraten - ein hervorragendes Ergebnis. Hier präsentieren wir im Osten einen Wirtschaftsbereich, in dem die Steuerzahlergelder nicht verschwendet, sondern sinnvoll und erfolgreich eingesetzt wurden. Dann, wenn die meisten nach Feierabend sowie an Sonn- und Feiertagen ihre Freizeit genießen, noch für andere mit ganzem persönlichen Einsatz und stets freundlich und hilfsbereit tätig zu sein, verdient Anerkennung. Deswegen möchte ich im Namen meiner Fraktion den im Gastgewerbe Tätigen von Herzen danken. ({7}) Die mittelständische Branche hat eine Fülle von Problemen. 85 % der Betriebe sind Klein- und Mittelbetriebe mit fünf und weniger Beschäftigten. Von allen Seiten sieht sich das Gewerbe bedrängt und bedroht, z. B. durch spezielle Steuern, drastische Gebührenerhöhungen, Schwarzgastronomie und desinteressierte Banken. ({8}) Dabei ist die finanzielle Situation der Betriebe alles andere als rosig. Der Kollege Schmalz wird dazu sprechen. Hinzu kommt: Das Gastgewerbe ist mit einem tiefgreifenden Strukturwandel konfrontiert und sieht sich auch international in hartem Wettbewerb. Sie kennen die Zeichen des Strukturwandels: Fast food, Systemgastronomie, Ketten, Franchising, neue Finanzierungswege, kooperative Konzepte, um einige Stichworte zu nennen. ({9}) Die Lebenskräfte dieses mittelständischen Gewerbes so zu stärken, daß es den großen Herausforderungen gewachsen bleibt, daß es nicht resigniert, sondern ermutigt wird, ist eine Aufgabe der Wirtschaftspolitik. ({10}) Der Erhalt vieler selbständiger Existenzen ist für uns aber vor allem ein wichtiges Gebot der Gesellschaftspolitik. ({11}) Meine Damen und Herren, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband hat ein gutes Beispiel für öffentliches Verantwortungsbewußtsein gegeben. Der Verband hat 40 ökologisch anspruchsvolle Kriterien für den umweltfreundlichen Betrieb, eine Art Gütezeichen, entwickelt. Als Anwälte eines sanften Tourismus danken wir dem DEHOGA für diese Pionierleistung auf dem Gebiet des Umweltschutzes. ({12}) Die Bundesregierung hat in der Antwort auf unsere Große Anfrage einen eindrucksvollen Überblick über das Gastgewerbe vorgelegt. Dafür, lieber Herr Solveen, Ihnen und Ihrer Mannschaft ein herzliches Dankeschön! ({13}) Von der Politik muß, lieber Willfried, jetzt etwas Weiteres hinzukommen: Das Gastgewerbe muß spüren, daß die Politik ihm nach besten Kräften zur Seite steht. ({14}) Wenn die finanziellen Mittel des Staates knapp sind, dann ist es um so wichtiger, dem Gewerbe Orientierung, Perspektiven und Leitbilder zu bieten. Wir müssen den Unternehmern Mut machen, die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und zu neuen Zielen zu streben. Betriebe und Unternehmer, die dies tun, die mutig Risiken übernehmen und verantwortungsbewußt investieren, die dies im Interesse auch ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun und die dies auch tun, damit unsere Bürger abends und an Sonn- und Feiertagen Dienstleistungen entgegennehmen können, haben die Unterstützung durch die Politik verdient. Wir Tourismuspolitiker werden tun, was wir tun können. Herzlichen Dank. ({15})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Iris Follak, SPD-Fraktion.

Iris Follak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002654, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zur Beratung stehende Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Situation des deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes, den Sie heute dem Deutschen Bundestag vorlegen, ist beachtlich. Ich bin tief beeindruckt, ({0}) aber nicht wegen des Inhaltes, sondern weil Sie es geschafft haben, einen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen, den Sie in Ihren eigenen Fraktionsgremien zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal behandelt hatten. ({1}) Diese Vorgehensweise entspricht offensichtlich der nicht selten opportun selbstzufriedenen Eigenart der Regierungskoalition und hat sogar den Beigeschmack fatalistischer Sofapolitik. ({2}) Nicht nur die Tatsache, daß hier auf zwei Seiten genau zehnmal von „weiterhin unterstützen", „fortsetzen" und „Regelungen beibehalten" die Rede ist, läßt das von dem Bürger im Land erwartete konstruktive politische Engagement sowie eine wirklich kritische Reflexion bisheriger Entscheidungen und Maßnahmen vermissen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, es ist doch nicht so, als gäbe es keinen Handlungs- und Entscheidungsbedarf. Wie sieht denn bisher die Unterstützung mittelständischer und kleiner Betriebe in der Praxis aus? Wie steht es denn um die tatsächlichen Möglichkeiten des Hotel- und Gaststättengewerbes - vor allem in den neuen Bundesländern -, sich dem raschen Strukturwandel anzupassen? Wie stellt sich denn die Situation des öffentlichen Personenverkehrs vor allem in ländlichen Gebieten dar? Entscheidende Schwachstellen der derzeitigen Situation, die angepackt werden müssen, sind z. B. folgende: Erstens. Die Förderung von Neugründungen und weiteren Investitionen im Hotel- und Gaststättengewerbe verläuft meist recht bürokratisch und in nicht zufriedenstellendem Umfang. Das, was vor mehreren Jahren investiert wurde, macht sich erst heute in einer gestärkten Position am Markt bemerkbar. Dennoch dämpfen die langwierigen Genehmigungsverfahren und die restriktive Vergabe von Krediten und Fördermitteln die Investitionsplanungen. ({3}) Ich komme aus einem neuen Bundesland und weiß daher, wovon ich spreche, wenn ich hier auf die Probleme der ungeklärten Eigentumsverhältnisse eingehe. Wie soll Wettbewerbsfähigkeit zustande kommen? Ein Hotelier, der bemüht ist, in seinen Betrieb zu investieren, wird dies so lange nicht tun, bis die Besitzverhältnisse geklärt sind. ({4}) Der von der Bundesregierung positiv bewertete Privatisierungsprozeß ist daher noch lange nicht abgeschlossen. ({5}) Die unattraktiven Objekte in strukturschwachen Gebieten, die noch keinen Käufer gefunden haben, sind nur ein Beispiel dafür. Das Modell „Einkommenssicherung durch Dorftourismus", welches vor zwei Jahren von den Ministerien für Wirtschaft und für Landwirtschaft eingerichtet wurde, zeigt, auf welche Art und Weise Unternehmensberater der alten Bundeslänger häufig die Unerfahrenheit der oft jungen Betriebsbesitzer und der Verwaltungen in Ostdeutschland dazu nutzten, um mit möglichst wenig Zeitaufwand möglichst großen Profit zu erlangen. Warum, frage ich Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, mußten Beratungsverträge mit bestimmten westlichen Unternehmen abgeschlossen werden, die ein Drittel der gesamten Fördersumme in Anspruch genommen haben? Diese Gelder hätten doch wirklich effektiver eingesetzt werden können. ({6}) Zweitens. Die Frage der Strukturverbesserung betrifft vor allem die neuen Länder. Die Schaffung und Sicherung leistungsfähiger touristischer Strukturen muß nach wie vor eines der Hauptanliegen des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus sein. ({7}) Hier ist besonders der dringend notwendige Ausbau infrastruktureller Maßnahmen unumgänglich. ({8}) Da, wie im Folgenden noch erläutert wird, bisher zudem das öffentliche Verkehrssystem unzureichend erweitert wurde, beeinflussen diese Mißstände nicht nur indirekt, sondern auch direkt die weitere Investitionsbereitschaft der gastronomischen Betriebe. Ein weiterer Punkt ist sicherlich das immer noch nicht ausreichend vorhandene Kommunikationssystem. Telefon- und Faxanschlüsse sind noch lange nicht lückenlos vorhanden. Somit sind viele Betriebe nicht in der Lage, Reservierungen und Buchungen professionell und unkompliziert abzuwickeln. Hier ist dringend Abhilfe zu schaffen. ({9}) Drittens. Die Bestrebungen der Firmen nach umweltorientierter Geschäftsorganisation und -praxis, welche als ein Ziel in den Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung des Tourismus eingegangen sind, sind meistens nur vorn persönlichen Engagement und Idealismus des einzelnen abhängig. Die Sicherung der Umweltqualität als wichtigstes Kapital des Fremdenverkehrs und Tourismus bedeutet gleichzeitig die Schaffung eines hohen Qualitätsstandards in der Tourismusbranche. Bei den Umweltgütezeichen läßt der „Grüne Koffer" schon lange auf sich warten. Die Errichtung einer geringen Anzahl von Radfahrwegen ({10}) und die damit verbundene Ernennung zur „fahrradfreundlichen Stadt" können doch wohl nicht alles sein, was wir für den ökologischen Grundsatz des Fremdenverkehrs veranlassen wollen. ({11}) Gerade in den fünf neuen Ländern haben wir jetzt die Chance, im Spannungsfeld zwischen Naturschutz und Tourismus guten, zukunftstauglichen Lösungen näherzukommen. Hier erwähne ich nur die zahlreichen Campingplätze, die in der Nähe von noch zu errichtenden Naturparks, Nationalparks und Naturschutzgebieten entstehen. Viertens. In diesem Zusammenhang muß auch die Situation des öffentlichen Personenverkehrs gesehen werden. Mehr als die Hälfte des Autoverkehrs entfällt auf Freizeit- und Urlaubsfahrten. Die Tendenz ist steigend. Um diese Entwicklung zu stoppen, ist ein Ausbau der öffentlichen Verkehrsverbindungen und -anbindungen unerläßlich. ({12}) Sie aber, meine Damen und Herren der Regierungsparteien, haben es zu verantworten, daß die Maßnahmen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz Ende 1994 ausgelaufen sind. ({13}) Besonders in den ländlichen Regionen, z. B. in denen der neuen Länder oder des Rheinlandes, wo oft mit selbstlosem Engagement Strukturverbesserungen und Service in Hotels und Gaststätten vorangetrieben werden, verschlechtern sich jedoch zusehends die Angebote des öffentlichen Personenverkehrs. Schienen- und Buslinien fallen immer häufiger dem Rotstift zum Opfer. Was nützen die größten Investitionen eines Hoteliers oder Gastronomen, wenn sein Hotel, die Restauration nicht in das öffentliche Verkehrssystem integriert ist, der potentielle Gast also gar nicht in der Lage ist, mit Hilfe von Bussen und Bahnen diese Örtlichkeiten zu erreichen? Abschließend: Durch all das wird deutlich, daß es einerseits in der Natur unserer Aufgabenbereiche in Fremdenverkehr und Tourismus liegt, daß gerade hier Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen - vor allem der Ministerien für Wirtschaft, Umwelt, Verkehr sowie Post und Telekommunikation - so unabdingbar wie in kaum einem anderen Ressort ist und erheblich intensiviert werden muß, und daß andererseits ständig nach neuen Möglichkeiten zu suchen ist, um unkompliziert und gegebenenfalls auch kurzfristig wirklich praxisorientierte, interdisziplinär angelegte Problemlösungen, falls erforderlich auch individuell, zu realisieren. ({14}) Dazu fordere ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aller Parteien, in dieser Legislaturperiode auf. Denn nicht zuletzt sind wir es, die dem prosperierenden Wirtschaftsfaktor des Hotel- und Gaststättengewerbes Rechnung tragen sollten. Danke. ({15})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich danke Ihnen, Frau Kollegin Follack, für Ihre erste Bundestagsrede. Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Olaf Feldmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir feiern heute zwei Premieren. Die erste Premiere ist, daß die Kollegin Follack heute im Plenum des Deutschen Bundestages ihre Jungfernrede gehalten hat. Frau Kollegin Follack, dazu möchte ich Ihnen im Namen der F.D.P. herzlich gratulieren, obwohl Sie zum falschen Ergebnis gekommen sind. ({0}) Heute debattieren wir erstmals im Bundestag die Situation und die Perspektiven des deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes. Das ist unsere zweite Premiere. Als arbeitsplatzintensive Dienstleistungsbranche hat das Gastgewerbe einen besonders hohen Stellenwert, gerade heute, wo Rentabilität fast ausschließlich über Arbeitsplatzabbau erreicht werden soll. Das Gastgewerbe ist eine tragende Säule des Tourismus. Vor knapp drei Wochen haben wir uns hier mit dem Tourismusbericht der Bundesregierung befaßt. Das sind Zeichen, daß Parlament und Regierung die enorm gestiegene Bedeutung dieser Wachstumsbranche erkannt haben. Die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen - Wirtschafts- und Beschäftigungszahlen - sind beeindruckend. Der Kollege Olderog hat bereits auf die 1 Million Arbeitnehmer und auf die 100 Milliarden DM Umsatz hingewiesen. Sie belegen die große wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Bedeutung der Branche. Trotzdem bedarf es einer differenzierten Betrachtung. Auch das Gastgewerbe hat mit Problemen zu kämpfen. Es muß seine arbeitsplatzintensive Dienstleistung in einem Hochlohnland erbringen und kann kaum oder nur bedingt rationalisieren. Während die Autoindustrie, Herr Kollege und Betriebsratsvorsitzender Janssen, ihre Produktion aus Kostengründen ins nahe Ausland verlagert, kann das überwiegend mittelständisch strukturierte Gastgewerbe seine arbeitsplatzintensive und teure Dienstleistung nur im Hochlohnland Deutschland erbringen. Es kann nicht auswandern. Es ist standortgebunden. Es erhält und schafft Arbeitsplätze hier in Deutschland. Das ist der große Unterschied. Dies ergibt, Herr Kollege Weng, seinen besonderen Stellenwert. Gerade deswegen muß die Politik dem stärker Rechnung tragen. Es kann z. B. auf Dauer nicht gutgehen, wenn die gesamten Sozialleistungen - von der Renten - über die Kranken- bis hin zur Pflegeversicherung, die wir gerade in der vorhergehenden Runde debattiert haben - als Lohnnebenkosten immer wieder auf die Lohnkosten aufgeschlagen werden. ({1}) Dadurch wird Arbeit in Deutschland unbezahlbar. Arbeit gibt es genug in Deutschland ({2}) - und auch woanders -, aber sie muß bezahlbar sein. Wenn wir sie zu teuer machen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir hier keine neuen Arbeitsplätze schaffen können. Die Schwarzgastronomie ist eine weitere Zusatzbelastung für den gastronomischen Mittelstand. Ich weiß, ich fasse hier ein heißes Eisen an. Während die kleinbetrieblich und mittelständisch strukturierte Gastronomie mit immer neuen Auflagen und bürokratischen Regelungen belastet wird - von der Raumhöhe über die Toilettenausstattung bis hin zur Sperrzeit; der DEHOGA spricht von fast 200 Gesetzen, Verordnungen und Erlassen, die zum Betrieb einer kleinen Kneipe notwendig sind -, geht es in der Freizeitgastronomie locker und leger zu: keine Auflagen, keine Kontrollen. Nach dem Motto „Feste feiern ohne Zwang und ohne Kosten" blüht die Schwarzgastronomie. Ich habe nichts gegen den vom Gesetzgeber in § 12 Gaststättengesetz vorgesehenen „besonderen Anlaß", z. B. das zehnjährige Jubiläum, von mir aus auch das Jahresfest. Aber es muß ein „besonderer Anlaß" für die Gestattung vorliegen. Es darf eben nicht nur um den Verkauf von Speisen und Getränken zur Aufbesserung der Vereinskasse gehen. Die total verlotterte Gestattungspraxis - vor Ort meist politisch gedeckt - ist mehr als nur ein Ärgernis. ({3}) - Ich bin selber im Gemeinderat, ich weiß, wovon ich spreche. Das Vollzugsdefizit im Rahmen des § 12 Gaststättengesetz grenzt an Rechtsbruch.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Feldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner, Ingolstadt?

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich, wenn ich, um diesen Punkt abzuschließen, noch einen Satz sagen darf: Der Gesetzgeber sollte meines Erachtens den „besonderen Anlaß" klar definieren. ({0})

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Feldmann, darf ich Sie als Vertreter einer Partei, die Hans Büttner ({0}) sich sonst in allen Feldern gegen jegliche Regulierung wendet, fragen, ob es nicht der sinnvollere Weg wäre, die Qualifikationsvoraussetzung, die Ausbildung und die Weiterbildung von Gastronomen zur Auflage zu machen, statt hier über mehr regulative Maßnahmen den Wettbewerb einzuschränken?

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Büttner, bei der Deregulierung, die Sie ansprechen, ziehen wir am gleichen Strang in der gleichen Richtung; ebenso, Herr Kollege Büttner, wenn Sie Qualifikationsmaßnahmen anmahnen. In diesem Bereich tut die Bundesregierung viel. Aber wir können ja gemeinsam noch mehr dazu fordern. Vielleicht gibt der Staatssekretär als Mittelstandsbeauftragter der Bundesregierung nachher dazu eine entsprechende Erklärung ab. Ich danke Ihnen für diese hilfreiche Intervention. Lieber Wolfgang Weng, der DEHOGA hat einen entsprechenden Vorschlag zur besseren und klareren Definition des § 12 Gaststättengesetz vorgelegt. Um nicht mißverstanden zu werden, Herr Kollege, möchte ich hinzufügen: Das Ehrenamt ist gesellschaftlich gewünscht und verdient hohen Respekt; darin sind wir uns hoffentlich einig. Die Politik muß aber Prioritäten setzen. Es muß zwischen dem ehrenamtlichen Engagement und der unternehmerischen Tätigkeit, die Arbeitsplätze sichert und Steuern erwirtschaftet, unterschieden werden. Die Politik ist aufgefordert zu helfen, das bisherige Gegeneinander von gewerblicher Gastronomie und Vereinsgastronomie in ein konstruktives Miteinander umzuwandeln. Wir brauchen Rahmenbedingungen für Modelle der Kooperation zwischen Gastgewerbe und Vereinen, um den existenzbedrohenden Wettbewerbsverzerrungen ein Ende zu setzen. Im harten Wettbewerb braucht das Gastgewerbe unternehmerische Handlungsfreiheit, also die von Ihnen angesprochene Deregulierung. Diese wird durch immer neue Belastungen ständig weiter eingeengt. Der behördlichen Regelungswut muß Einhalt geboten werden. Vielleicht beachten Sie einen weiteren Punkt: Die absolute Gewerbefreiheit - z. B. kein Sachkundenachweis, kein Meisterbrief - führt zu einer sehr hohen Fluktuation: Über 20 % - das sind fast 40 000 Betriebe - schließen jährlich. Das sind Zahlen, die uns alarmieren müssen. ({0}) Die unter Abschreibungs- und Steueraspekten aufgelegten Hotel- und Immobilienfonds drohen die traditionellen mittelständischen Familienhotels zu erdrücken; auch sie verzerren den Wettbewerb. ({1}) Die Stadthotellerie leidet unter einer schrankenlosen Kapazitätsausweitung und kommt deswegen nicht mehr auf ihre Kosten. Die F.D.P. begrüßt die Fortführung der mittelständischen Förderprogramme vom ERP bis zum Eigenkapitalhilfeprogramm. ({2}) - Es freut mich, Frau Kollegin Kastner. Wir hatten uns schon anläßlich der Debatte über den Tourismusbericht darauf geeinigt, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm fortgesetzt werden muß. ({3}) Ebenso wichtig sind aber Existenzfestigungsprogramme und eine Verbesserung der Förderung der Unternehmerberatung. Die F.D.P. ist für den Erhalt der Sozialversicherungsfreiheit und der Steuerpauschalierung für geringfügig Beschäftigte. ({4}) Die F.D.P. wird auch weiterhin für den Erhalt der abgabenfreien Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit kämpfen. Diese Zuschläge sind Anerkennung und Anreiz für Leistungen zu atypischen Arbeitszeiten. ({5}) - Haben wir nicht! Dies sollten wir als Politiker ausdrücklich anerkennen. Für das Protokoll: Beifall von allen Seiten des Hauses! ({6}) Die F.D.P. ist für eine Flexibilisierung der Arbeitszeit wie auch für eine Liberalisierung der Ladenschlußzeiten. Zum Schluß darf ich für die F.D.P. das freiwillige Umweltengagement des Gastgewerbes begrüßen. Vor allem das 40-Punkte-Programm des Gastgewerbes für eine umweltfreundliche Betriebsführung ist beispielhaft. Hier wird gezeigt, daß sich Umweltschutz auch betriebswirtschaftlich rechnet. Nicht nur Gebote und Verbote, sondern auch marktwirtschaftliche Anreize fördern umweltfreundliches Verhalten. Das Gastgewerbe ruft nicht nach mehr Subventionen, aber es braucht faire Rahmenbedingungen. Nach den zustimmenden Zurufen der SPD gehe ich davon aus, daß auch die Politiker der SPD - wie selbstverständlich auch die der Koalition - dazu beitragen werden, gute Rahmenbedingungen für das Gastgewerbe zu schaffen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat die Abgeordnete Halo Saibold.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nachdem Sie, Herr Olderog, heute sehr vieHalo Saibold len Gruppen usw. gedankt haben, möchte ich nicht versäumen, auch Ihnen einmal zu danken, weil Sie doch einige Tatsachen richtig dargestellt haben. ({0}) Das Hotel- und Gaststättengewerbe ist nicht nur eine wichtige Säule für den Fremdenverkehr, sondern ist zu einem fast unverzichtbaren Bestandteil des täglichen Lebens vieler Menschen, insbesondere in der Freizeit, geworden. Es ist mehr als nur ein Teil der Wirtschaft; es ist ein Teil unserer Kultur. Wer geht nicht gern in einen Biergarten, in eine Kneipe oder in eine Weinstube? ({1}) Immer mehr Menschen schätzen ein gepflegtes Essen an einem angenehmen Ort der Begegnung. In keinem anderen Sektor spiegelt sich so deutlich die Wirklichkeit unserer multikulturellen Gesellschaft wie in diesem Bereich. ({2}) Das Flair eines Lokals oder eines Hotels hängt jedoch sehr stark von den dort Beschäftigten ab. Freundlichkeit und Gastlichkeit werden manchmal vermißt, und nicht nur, wenn Kinder am Tisch sitzen. Gerade ausländischen Besuchern und Besucherinnen fällt dies besonders unangenehm auf. Hier kann die Politik zwar nicht direkt eingreifen; aber die Rahmenbedingungen könnten einen positiven Einfluß nehmen. ({3}) Die Beschäftigungsverhältnisse sind vielfach saisonal und zeitlich begrenzt. Unzureichend bezahlte Vollerwerbsarbeitsplätze, miserable Unterbringung und kaum zumutbare Arbeitsspitzen führen oft genug zu Unzufriedenheit, zu Motivationsverlust und damit auch zu einer hohen Fluktuation. ({4}) - Da ist die Fluktuation ja nicht so groß, wenn ich Sie anschaue, Herr Irmer. Die Praxis der von Ihnen gewünschten kurzfristigen geringfügigen Beschäftigungen disqualifiziert das Berufsbild im Hotel- und Gaststättenbereich, ({5}) so daß auf Grund unzureichender Arbeitsplatznachfrage dann vielfach ein Arbeitskräftemangel beklagt wird - eine Entwicklung, die Sie mit Ihrer Politik fördern. Wir setzen uns dafür ein, daß die Sozialversicherungsfreiheit geringfügig Beschäftigter aufgehoben wird, weil damit u. a. Vollzeitarbeitsplätze vernichtet werden. Zudem wirken sich diese Beschäftigungsverhältnisse nicht nur auf die Stimmung der Beschäftigten, sondern auch besonders nachteilig bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter aus. Es sei hier auch daran erinnert, daß wieder einmal vorrangig Frauen durch diese ungeschützten Arbeitsverhältnisse betroffen sind. Eine Frage an Herrn Dr. Olderog und insbesondere an Herrn Dr. Feldmann: Haben Sie und Ihre Fraktionen schon einmal die Chancen der Ökosteuern gerade für diesen arbeitsintensiven Bereich überdacht? Wenn man Energie und Rohstoffe verteuerte ({6}) und damit unter Umständen die Lohnnebenkosten senken könnte, dann wäre das gerade für den von Ihnen so hochgehaltenen Bereich sehr vorteilhaft. ({7}) - Eine Reform bedeutet immer eine Umschichtung; das kann ich Ihnen aber ein anderes Mal erklären. ({8}) Wenn das Hotel- und Gaststättengewerbe in seinen Umweltschutzbemühungen unterstützt werden soll, dann reicht es nicht aus, eine Hochglanzbroschüre mit fünfstelligen Beträgen durch die Bundesregierung finanzieren zu lassen. Die Einsicht in die Rentabilität ökologischen Wirtschaftens ist bei vielen Betreibern und Betreiberinnen längst vorhanden. Es müssen endlich Markteinführungsprogramme auf den Tisch, die dem Gewerbe die Möglichkeit geben, seine Umweltschutzgedanken auch praktisch umzusetzen. Dazu gehört die Förderung eines ökologisch verantwortlichen Energieeinsatzes, wie z. B. die Kraft-Wärme-Koppelung. Wir brauchen ein 100 000Dächer-Programm zur Nutzung der Sonnenenergie und vieles mehr. Finanzielle Hilfestellungen zur Errichtung eines zweiten Wasserkreislaufes oder zum Erreichen eines Niedrigenergiehaus-Standards wären ein wesentlicher Beitrag zur Ökologisierung des Gewerbes. ({9}) Durch solche Maßnahmen würde nicht nur die Mitwelt geschont, sondern es würden Arbeitsplätze geschaffen und Einkommen gesichert, was sich sicherlich wiederum zum Vorteil des Hotel- und Gaststättengewerbes auswirken würde. Wenn in Ihrem Antrag wenige Zeilen weiter gefordert wird, daß die kommunalen Abgaben, wie z. B. die Verpackungssteuer, abzulehnen sind, konterkarieren Sie Ihre eigenen Forderungen nach betrieblichem Umweltschutz, es sei denn, Sie bezeichnen McDonald's als einen umweltfreundlichen Betrieb. ({10}) Wenn ich schon beim Fast food angekommen bin, möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Förderung der Vermarktung von frischen Produkten aus ökologischem Anbau eine Voraussetzung dafür wäre, eine bessere Qualität der Angebotspalette zu erreichen. ({11}) - Sehr schön. Das ist sehr erfreulich. Ihre Forderung nach günstigeren Freizeitmöglichkeiten für Familien finde ich natürlich unterstützenswert. Aber wie soll dies denn in der Praxis aussehen? Soll die Bundesregierung die Spielplätze finanzieren? Oder wollen Sie spezielle Steuervergünstigungen, die dann doch wieder nur Einrichtungen wie z. B. Damp 2000 zugute kommen? Das kann es ja wohl nicht sein. Eine kleine Maßnahme, die für Familien und Jugendliche äußerst sinnvoll wäre, nämlich ein alkoholfreies Getränk billiger anzubieten als alkoholische Getränke, stieß auf erbitterten Widerstand der F.D.P.. ({12}) - Ja. Auch ein verstärkter Nichtraucherschutz findet bei Ihnen kein Gehör. Gott sei Dank machen viele Hotels und Gaststätten hier bereits verantwortungsbewußt mit und tragen diesen Bedürfnissen von sich aus Rechnung. ({13}) Es ist ein Trugschluß, wenn Sie meinen, daß die Senkung der Gewerbeertragsteuer dem Hotel- und Gaststättengewerbe zugute käme. ({14}) - Das steht in Ihrem Antrag. Diese Maßnahme begünstigt lediglich den Großbetrieb und nicht den Mittelstand. Zudem müßte dann ehrlicherweise angemerkt werden, daß Sie im Gegenzug eine Mehrwertsteuererhöhung planen. ({15}) Das ist ein wenig verbraucherfreundlicher Schritt, der letztendlich auch zu Lasten des Gastgewerbes gehen würde. Zum Schluß habe ich noch eine Anregung für die Koalitionsparteien. In der elften Legislaturperiode habe ich des öfteren versucht, neben Veränderungen auf dem Speiseplan der Kantine auch im Bundestagsrestaurant Vollwertkost einzuführen. ({16}) Dabei stieß ich auf die Tatsache, daß dieses subventionierte Restaurant ausgerechnet an einen amerikanischen Konzern verpachtet ist. Da dies wohl noch immer so ist, denke ich, könnten Sie Ihre Mittelstandsfreundlichkeit unter Beweis stellen und für Veränderung sorgen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rössel.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion über Situation und Perspektive des Gastgewerbes in Deutschland stellte die Bundesregierung fest, daß dieses in seiner wirtschaftlichen Bedeutung noch vor solchen Sektoren wie der Land- und Forstwirtschaft oder dem Bergbau rangiert. ({0}) - Dagegen habe ich nichts. Eine Million Beschäftigte im Hotel- und Gaststättengewerbe, darunter ca. 300 000 ausländische Bürgerinnen und Bürger, erwirtschaften nach Auskunft des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes 1995 einen Umsatz von voraussichtlich 106 Milliarden DM. ({1}) Das ist in der Tat beeindruckend. 88,4 % der insgesamt 209 000 Gaststättenbetriebe liegen in einer Umsatzgröße unter 500 000 DM jährlich, sind also Klein- und Kleinstunternehmer. Allein schon wegen dieser geringen Umsätze steht so mancher dieser Gastwirte oder Hoteliers ständig am Rand der Existenz. ({2}) Es gibt wohl kaum eine andere Branche, in der der Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen so unmittelbar und so stetig auf die Beschäftigten wirkt wie im Gastgewerbe. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband machte uns darauf aufmerksam, daß das Gastgewerbe selbst in Rezessionszeiten kontinuierlich überdurchschnittlich viele Lehrlinge ausbildet. Seit Jahren sind es konstant um 60 000. ({3}) - Jawohl. - Nach Einschätzung der Gewerkschaft Nahrung - Genuß - Gaststätten ist dies vor allem auch zum Ausgleich der überdurchschnittlichen Fluktuation in dieser Branche notwendig. Unbezahlte oder unterbezahlte Überstunden, ein hoher Anteil von geringfügig Beschäftigten ohne SozialverDr. Uwe-Jens Rudi Rössel sicherung sowie ein nach wie vor bedeutender Anteil von Schwarzarbeit schaffen vielerorts Arbeitsverhältnisse, die in anderen Branchen schon seit längerem weitgehend überwunden sind. ({4}) - Nicht überall! Es ist klar, daß Gaststätten und Hotels ihre Hochdruckzeiten genau dann haben, wenn andere sich erholen wollen. Das ist ihr Schicksal. Aber kann es dennoch sein - so fragen wir -, daß eine Frau, die Jahrzehnte als „Aushilfe" in einer Gaststätte tätig war, keinen Rentenanspruch erhält, weil sie die Grenze von monatlich 580 DM Einkommen nicht überschritten hat? Wir meinen, solche sozialen Ungerechtigkeiten müssen rasch der Vergangenheit angehören. ({5}) Hier ist die Bundesregierung unmittelbar gefordert. In kaum einem anderen Bereich gibt es so viele Arbeitskräfte, die nur stundenweise arbeiten, wie im Gaststättengewerbe. Das ist möglicherweise betriebswirtschaftlich sinnvoll und darüber hinaus auch von so mancher Arbeitnehmerin, so manchem Arbeitnehmer gewünscht. Branchentypisch ist allerdings leider auch, daß diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer meistens nicht einmal als geringfügig Beschäftigte gelten. Diese „Aushilfen" erhalten somit weder Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall noch Anteile an Jahresleistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld. Damit - so meinen wir - sollte endlich Schluß sein. Geringfügig Beschäftigte und Aushilfen müssen in den Schutz der regulären Sozialversicherung kommen. Das ist unsere Forderung. ({6}) - Es ist vielerorts keine Praxis. ({7}) Ein unrühmliches Kapitel ist - so meinen wir - auch das bereits angesprochene Problem der Schwarzarbeit. Ohne jegliche soziale Absicherung wird mancherorts unter Tarif in Stunden- und Vollzeitjobs geschuftet. Von entsprechenden Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern wird - das zeigen auch Untersuchungen der Gewerkschaft - nicht nur die soziale Lage der betroffenen Menschen ausgenutzt, sondern auch die Gesellschaft geprellt. Hier paaren sich mancherorts Hinterziehung von Arbeitgeberanteilen für die Sozialversicherung mit Steuerhinterziehung. Wir meinen, auch hier liegt ein weites Betätigungsfeld für die Bundesregierung. Bei allen konträren Auffassungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, über die Entwicklung in den neuen Bundesländern sind sich wohl alle politischen Strömungen einig: Was sich seit der Wende auf dem Gebiet der Gaststätten- und Hotelkultur getan hat, ist überwiegend ein kultureller und touristischer Gewinn. Viele ostdeutsche Unternehmen stehen jedoch nach wie vor - darüber wurde gesprochen - besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse behindern in so mancher Gemeinde langfristige Investitionen gerade in dieser Branche. ({8}) Rasant steigende Gewerbemieten sowie kommunale Gebühren, vor allem die vielerorts zu beklagende Explosion der Abwasserpreise, wirken kostentreibend. Die Leidtragenden sind wir alle: die Gäste, die Nutzerinnen und Nutzer in Restaurants und Hotels. ({9}) Die Koalition fordert in ihrem Antrag die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und die weitere Senkung der Gewerbeertragsteuer. Die Großunternehmen lassen grüßen! Von adäquater Kompensation der dann fehlenden Einnahmen für die Kommunen ist aber auch in diesem Antrag keine Rede. Wir meinen, die finanziellen Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung dürfen nicht einer weiteren Unternehmensteuerentlastung geopfert werden. Deshalb lehnen wir diese Vorschläge im Antrag entschieden ab. ({10}) - Wir haben Vorschläge unterbreitet. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir einen Antrag zur Kommunalfinanzreform eingebracht. Die Antragsteller beklagen, eine Reihe von bürokratischen Regelungen erschwerten dem Gastgewerbe das flexible Agieren. In der Tat, es ist schwer nachvollziehbar, wenn beispielsweise ein Thai-Restaurant nur zwei Spezialitätenköche aus Nicht-EG-Staaten einstellen darf. Auf der anderen Seite kann aber jeder Schlosser oder Studienabbrecher einen gastronomischen Betrieb eröffnen. Fehlende betriebswirtschaftliche Kenntnisse sind allerdings nicht nur Hauptgrund für Insolvenzen, sondern oft auch für haarsträubende Arbeitsbedingungen von Beschäftigten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Schluß Ihrer Rede kommen.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Dem sollte die Bundesregierung mit gesetzlichen Regelungen Rechnung tragen. Dazu machen wir Vorschläge. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun dem Kollegen Michael Jung das Wort.

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich möchte gerne einige Schwerpunkte bei der Debatte über dieses Thema bilden. Erster Schwerpunkt: Mittelstand. Wir haben eigentlich übereinstimmend über die Fraktionsgrenzen hinweg gehört, daß das Gewerbe, über das wir heute abend diskutieren, mittelständisch geprägt ist. 85 % der Betriebe dieses Gewerbes haben bis zu fünf Beschäftigte. Die Frage, die wir uns in der Tat stellen müssen - das sage ich als Mitglied der Regierungskoalition auch selbstkritisch -, lautet, ob wir überall das, was für den Mittelstand und sein Überleben notwendig ist und gewesen wäre, auch getan haben. Von einigen Rednern ist schon so manches an Defiziten aufgezählt worden. Es ist von bürokratischen Hemmnissen gesprochen worden, von den Schwierigkeiten, Arbeitsplätze zu besetzen, von ungünstigen Arbeitsbedingungen, die auch mit den Arbeitszeiten zusammenhängen. Dort wird zu Zeiten gearbeitet, wo andere gern ihre Freizeit genießen: abends und am Wochenende. Es gibt auch eine Reihe von finanziellen Problemen, Schwierigkeiten der Finanzierung, Fragen der Kreditbedingungen und anderes mehr. Ich glaube, daß einer der Schwerpunkte unserer Politik in der Zukunft sein muß, hier mittelstandsfreundliche Komponenten einzuführen und im Rahmen unserer Möglichkeiten dafür zu sorgen, daß die Strukturen, die wir für sinnvoll und vernünftig halten, auch in Zukunft bestehen. ({0}) Meine Damen und Herren, auch da haben wir in der Politik das eine oder andere gemacht, das eine Belastung darstellt. Wir müssen uns daher die Frage stellen, ob das alles in jeder Facette so notwendig ist, von den Fragebögen bis zu den Statistiken und vielerlei bürokratischen Hemmnissen bei Baugenehmigungsverfahren, Erweiterungen und anderem mehr. Wir müssen den Mittelstand als tragende Säule unseres Systems nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im gesellschaftspolitischen Bereich besonders stützen, weil wir aus anderen Feldern der Politik wissen, daß leider auch durch unsere Entscheidungen die Mittelstandskomponenten nicht mehr die tragenden Komponenten sind, sondern sich andere Strukturen ergeben haben. Wir wollen eine solche Entwicklung in diesem Bereich nicht haben. Das zweite, das ich erwähnen möchte, ist die Tatsache, die uns allen zur Besorgnis Anlaß gibt, daß wir eine immer geringere Anzahl von ausländischen Touristen in Deutschland haben. Wir hatten hier einen Rückgang von über 10 % in den vergangenen Monaten und Jahren. ({1}) Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, wie wir das gemeinsam ändern können. Ein Bereich, der hierbei eine Rolle spielt, ist sicher die Frage der Strukturierung der Deutschen Zentrale für Tourismus. Sie ist von uns gemeinsam beauftragt und im wesentlichen finanziert. ({2}) - Frau Kollegin, das ist ganz einfach. Wir sind uns doch darüber einig, daß Nachfrage nach Hotel- und Gastronomieleistungen von denjenigen, die nach Deutschland kommen, um hier Urlaub zu machen, ausgelöst wird. Sie wissen von einer ganzen Reihe von Feriengebieten, daß dort der Rückgang der Zahl ausländischer Touristen automatisch zu Nachfragerückgängen und damit in einigen Bereichen, die überwiegend von ausländischen Touristen leben, zu Problemen in der mittelständischen Struktur führt. Das ist ganz einfach. Das mag vielleicht nicht für Unterfranken gelten, aber für andere Bereiche unserer geographischen Landschaft sehr wohl. ({3}) - Da ich gebürtiger Würzburger bin, Frau Kollegin, ist mir die Struktur dort sehr bekannt. Ich glaube, daß es eine der wichtigen Aufgaben für uns ist, zu überlegen, wie das Reiseland Deutschland ein positiveres Image im Ausland bekommen kann und wie wir dafür sorgen können, daß sich dadurch das Zahlungsbilanzdefizit, das wir alle kennen, verringert. Wir haben ein Zahlungsbilanzdefizit von 70 Milliarden DM, davon allein 50 Milliarden DM aus dem Reiseverkehr. Die Bundesbürger geben 67 Milliarden DM bei Auslandsreisen aus. Wir erzielen nur 17 Milliarden DM Einnahmen durch Reisen von Ausländern nach Deutschland. Das macht doch deutlich, daß das ein Feld der Betätigung für uns sein muß. Dafür ist die Deutsche Zentrale für Tourismus das Instrumentarium. ({4}) - Wissen Sie, ich habe einen so schönen Wahlkreis, in den ich Sie gerne einmal einlade, Rheingau-Taunus-Limburg, daß ich einen Urlaub woanders gar nicht nötig habe. ({5}) Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen, daß die Auslandswerbung verstärkt wird. Da sind wir auch nicht mit allem zufrieden und einverstanden, was bei der DZT geleistet wird. Wir brauchen neue Strukturen, wir brauchen zusätzliche Gelder von Anbietern in diesem Bereich, um im Ausland sinnvoll und positiv werben zu können. ({6}) Michael Jung ({7}) Ein weiterer Punkt, den ich angesichts der Kürze der Redezeit nur streifen will, ist die Frage des Informations- und Reservierungssystems. Für jemanden, der heute irgendwo Urlaub machen will, ist es einfacher, eine Auslandsreise mit einem Hotelaufenthalt im Ausland zu buchen und sich zu informieren, als dies in Deutschland zu tun. Diese Entwicklung müssen wir dringend ändern, wenn wir international konkurrenzfähig bleiben wollen, weil über die elektronischen Buchungs- und Informationssysteme in Zukunft noch mehr Entscheidungen als bisher getroffen werden, auch bezüglich der Frage, wo man seinen Urlaub verbringt. Deswegen ist dies auch eine wichtige Frage für uns. Es sollte auch in diesem Bereich eigentlich die Zeit der Kleinstaaterei vorbei sein. Wir brauchen ein einheitliches zentrales und kompatibles System in Deutschland, damit auch hier die Nachfrage befriedigt werden kann. Das ist eine wichtige Aufgabe. ({8}) Ich will kurz ein weiteres Stichwort nennen: Revitalisierung von Innenstädten. Wir haben in der Vergangenheit eine Verödung von Innenstädten beobachten müssen, und zwar auf Grund vieler Umstände: zu hoher Mieten, der Flucht zu Kaufhäusern auf der grünen Wiese, in manchen Bereichen auch wegen autofeindlicher Innenstadtpolitik. ({9}) Ich glaube, daß es eine wichtige Aufgabe ist, gerade für Fremdenverkehr und Tourismus, dafür zu sorgen, daß auch in den Innenstädten ein erfolgreiches Wirken des Gastgewerbes möglich ist und daß unsere Innenstädte kommunikative Elemente der Gesellschaft sind und als solche wiederbelebt werden. ({10})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben vielfältige Gründe für die Verödung der Innenstädte angesprochen. Würden Sie mir zustimmen, daß einer der gravierendsten Gründe für dieses beklagenswerte Phänomen das antiquierte Ladenschlußgesetz ist? ({0})

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ein sehr schwieriges Thema. Wir haben uns neulich mit der Frage beschäftigt, was ausländische Touristen stört, die nach Deutschland kommen. Eines der Ergebnisse dieser Befragung war, daß viele aus anderen Ländern, die andere Strukturen haben, es nicht nachvollziehen können, daß in Deutschland hinsichtlich des Einkaufens ein so starres Gesetz gilt. Das ist einer der Punkte gewesen, die Ausländer überrascht haben und die auch dazu geführt haben, daß gesagt wird, hier müßte sich etwas tun. Aber in der Politik müssen Sie mit anderen Feldern abwägen. Auch ich war früher dafür, dies zu ändern, und hielt es für schön, wie im Ausland abends oder samstags und sonntags noch einkaufen zu können. Aber es gibt jetzt zwei Bereiche, die mich davon abhalten, dies für die Patentlösung zu halten. Wir werden genau das, was ich für wichtig erachte, nämlich mittelständische Strukturen, damit beseitigen, und wir werden große Einheiten fördern. ({0}) Das zweite Argument, Herr Kollege, ist - das sage ich auch als Abgeordneter eines ländlichen Raums -: Wir werden - das sehen Sie schon heute an den langen Donnerstagen - die großen zentralen Städte stärken und das flache Land weiter vernachlässigen. Deswegen kann dies nicht das Patentrezept sein. ({1}) Meine Damen und Herren, ich wollte abschließend noch einen Bereich erwähnen, weil er hier mehrfach in Redebeiträgen eine Rolle gespielt hat, und zwar die Frage, ob eventuell die Sozialversicherungsfreiheit für geringfügig Beschäftigte abgeschafft werden soll. Ich halte dies für falsch. Wenn Sie dies tun, wird es das Gastgewerbe schädigen. Gerade die Unternehmer in Hotellerie und Gastronomie sind auf flexible Arbeitseinsätze angewiesen. Deswegen glaube ich, daß für die Bewältigung von Nachfragespitzen nach wie vor die sozialversicherungsfreie Tätigkeit im Gastgewerbe ein wichtiger Bestandteil ist. Deswegen kann ich mich den Forderungen, dies abzuschaffen, nicht anschließen. Ich glaube, daß wir dies brauchen, auch unter den anderen übergeordneten Aspekten des Mittelstandsschutzes, den ich eben genannt habe. Ich möchte abschließend sagen, daß wir in dem wichtigen Feld der Gaststätten- und Hotelpolitik weiterhin auch im Ausschuß, der bisher sehr einvernehmlich zusammenarbeitet, diese Probleme anpakken werden, auch wenn wir sie nicht alle einvernehmlich lösen werden. Wir werden jedenfalls von der Politik aus alles tun, um dort die Arbeitsplätze zu sichern, zu erhalten, und - damit schließt sich der Kreis zur Kollegin Saibold - dafür sorgen, daß es weiterhin die Vielfalt von Gaststätten und Hotels gibt, die wir alle gemeinsam gerne frequentieren. Danke. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun das Wort der Abgeordneten Brunhilde Irber.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inhaltlich ist der vorgelegte Antrag ein reiner Schaufensterantrag. ({0}) Er läßt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit etwas für das deutsche Hotel- und Gaststättengewerbe getan, ({1}) und der Deutsche Bundestag fordert sie nun auf, das weiterhin zu tun. Aber ich will mich ernsthaft mit Ihrer Vorlage auseinandersetzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, Sie listen 13 Forderungen auf, ({2}) die wir hier beschließen sollen. Nach keiner einzigen Forderung soll der Handlungsrahmen, den die Bundesregierung bislang nutzt, erweitert oder verändert werden. Dies ist ein Antrag, der vollständig die bestehende Politik der Bundesregierung gutheißt. Warum also überhaupt solch ein Antrag? ({3}) Ich glaube, dieser Antrag verfolgt den alleinigen Zweck, alle künftigen Anträge der Opposition von vornherein auf ein Abstellgleis zu schieben. ({4}) Wenn wir in Zukunft zur besonderen Situation des Hotel- und Gaststättengewerbes einen Antrag vorlegen wollen, so wird man ihn formal auf Grund dieses beschlossenen Antrags abweisen können. ({5}) Wenn dieser Antrag also genauso wie vorgelegt verabschiedet wird, dann ist das Thema für unsere weiteren Beratungen erschöpft, und das fände ich natürlich schade. ({6}) Aber ist es denn wirklich so, daß eine Änderung der Politik der Bundesregierung nicht notwendig wäre? Ein Blick in die Statistik ist hilfreich und hätte auch Ihnen, Herr Dr. Olderog, aufgezeigt, daß es auf keinen Fall so weitergehen darf wie bislang praktiziert. Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland verzeichnet für den Umsatz des Gastgewerbes eine Stagnation seit 1984. ({7}) Die Zahl der Übernachtungen im Beherbergungsgewerbe ist in den letzten 24 Monaten deutlich rückläufig. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie schreiben, daß sich die kleineren und mittleren Betriebe einem immer härteren internationalen Wettbewerb ausgesetzt sehen. Auch dies zeigt die Statistik. Die Anzahl der Betriebe im Bundesgebiet ist von 45 846 im Jahr 1992 zurückgegangen auf 44 612 in 1993. Trotz des Rückgangs der Zahl der geöffneten Betriebe ist die Zahl der angebotenen Betten leicht angestiegen von 1 787 000 auf 1 795 000. Das heißt: Es gibt eine stetige Entwicklung hin zu größeren Betrieben, also eine Entwicklung zur Konzentration des Angebots. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu finden wir aber in Ihrem Antrag überhaupt keine Hinweise und auch keine Handlungsvorschläge für die Bundesregierung. ({9}) Hingegen finden wir nur die Festschreibung bestehender Schieflagen. Aber ich will mich mit Ihren Forderungen im Detail auseinandersetzen. Als erstes fordern Sie, die Bundesregierung möge den Förderungskatalog beibehalten. Dies hätten Sie sich sparen können, wenn Sie das Eigenkapitalhilfeprogramm, das zum Jahresende auslaufen wird, verlängert hätten. ({10}) In Ihren Koalitionsvereinbarungen haben Sie sich ja auch schon darauf verständigt. Dann machen Sie das doch! Die Betroffenen brauchen die Sicherheit. Verschieben Sie also die Verlängerung nicht auf den letzten Drücker! ({11}) Oder bezweifeln Sie doch noch den Sinn der Sache? ({12}) Gemäß der vierten Forderung soll die Einführung eines Reservierungssystems für die mittelständische Hotellerie unterstützt werden. Hilfreicher wäre es gewesen, wenn Sie hier dargestellt hätten, wie dieses Reservierungssystem aussehen soll, damit es in die heutige Landschaft paßt. ({13}) Dann hätten Sie auch die Bundesregierung auffordern können, gezielt an den bisherigen Schwachpunkten tätig zu werden. Als nächstes fordern Sie die Bundesregierung auf, auch weiterhin wirkungsvoll - das mögen Sie besonders: weiterhin wirkungsvoll ({14}) die mittelständischen Gaststättenbetriebe bei der Auslandswerbung durch die Deutsche Zentrale für Tourismus zu unterstützen. Die DZT ist ein eingetragener Verein, also ein Zuwendungsempfänger. Die Forderung soll dann doch wohl eher heißen, die Bundesregierung solle die DZT weiterhin großzügig finanzieren, ohne auf ihre Zielsetzung maßgeblich Einfluß zu haben. ({15}) Gleich im nächsten Satz, fordern Sie dann aber, daß sich das Gewerbe selbst finanziell stärker an der Werbung beteiligen soll. Soll also dann die Bundesregierung ihre Unterstützung in dem Maße zurückfahren, in dem sich das Gewerbe finanziell selbst beteiligt? Als nächstes regen Sie eine zentrale Stelle zur Koordinierung der verschiedenen Werbeaktivitäten an, also noch eine Organisation, die auch wieder Geld kosten würde. ({16}) Dieser Punkt in Ihrem Forderungskatalog ist in sich nicht schlüssig. ({17}) Dann kommt es aber ganz dick: Die Fremdenverkehrsdebatte als Vehikel für eine Unternehmensteuerreform und für die Forderung nach Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu benutzen, das ist nicht recht ernst zu nehmen. ({18}) Wenn Sie gegen kommunale Abgaben wettern, frage ich mich: Kennen Sie denn das Kasseler Urteil nicht? In einem Antrag der Union und der F.D.P. im Zusammenhang mit dem Wettbewerb den Begriff „fair" zu finden eröffnet für mich ein völlig neues Politikfeeling. Der unlautere Wettbewerb ist gesetzlich erfaßt. Treten Sie denn neuerdings für eine Erweiterung der Menschenrechtsdebatte auf den wirtschaftlichen Wettbewerb ein? ({19}) Im nächsten Punkt fordern Sie, die Schwarzgastronomie wirkungsvoll einzudämmen. Wie das geschehen soll, schreiben Sie in Ihrem Antrag aber nicht. Und überhaupt: Was ist in Ihrem Sprachgebrauch Schwarzgastronomie? Meinen Sie damit die CSU-Gastronomie in Bayern? ({20}) Oder ist es der eingetragene Verein: die Feuerwehr, der Schützenverein? ({21}) - Das weiß ich. Ich habe schon hinter und vor der Theke gestanden, als Vereinsvorsitzende und als Wirtin. Ich weiß schon, wovon ich rede. ({22}) Oder meinen Sie den Verein, der steuerlich als gemeinnützig anerkannt ist und am Rande seiner Mitgliederversammlung zur Finanzierung seines gemeinnützigen Zweckes Getränke verkauft? Wollen Sie hier die Gemeinnützigkeit aushebeln und diesen Bereich für die Steuerabschöpfung erfassen? Sagen Sie das den Vereinen so? Des weiteren wollen Sie die Sozialversicherungsfreiheit für geringfügig Beschäftigte erhalten. Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, daß Sie mit der Propagierung dieser Sozialversicherungsfreiheit die zukünftigen Sozialfälle im Alter schaffen? ({23}) Vor allem wird dadurch die Altersarmut von Frauen von morgen vorprogrammiert. ({24}) Ich könnte Ihnen Beispiele en masse aus Niederbayern nennen. Was Sie dort in viereinhalb dürftigen Zeilen beschrieben haben, trifft das Problem in keiner Weise. ({25}) Wir sind für die generelle Einführung der Versicherungspflicht. Wenn diese Regelung allgemein gültig ist, bestehen auch für das Gastgewerbe keine Wettbewerbsnachteile. ({26}) Was soll denn Ihre sibyllinische Formulierung in der nächsten Forderung, die vorhandenen Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes zu nutzen? - In den Fällen eines prekären Arbeitskräftemangels, wenn Arbeitgeber also händeringend nach Mitarbeitern suchen, wollen Sie die Arbeitsförderungsgesetze heranziehen? Sie meinen doch wohl: Die Zumutbarkeitsregelung bei Arbeitslosen soll überprüft werden. Was haben Sie hier für Geschichten vor? Einen deftigen bayerischen Ausdruck dafür ersparen Sie mir bitte an dieser Stelle. Schreiben Sie deutlich und verständlich in Ihren Antrag, was Sie überhaupt wollen. Ihr vorletzter Punkt, Deregulierung, ist in Ordnung. ({27}) Abbau von Bürokratie ist immer gut. Hier stellt sich aber wieder die Frage: Welche Regelungen wollen Sie denn einschränken oder aufheben, und was soll an deren Stelle treten? Hierzu finden sich leider in Ihrer Vorlage keine Hinweise. Zu guter Letzt: das Subsidiaritätsprinzip. Auch das ist immer gut, vor allem, wenn es so allgemein gehalten ist wie in Ihrem Antrag. ({28}) Welcher Regelungsvorgang der Europäischen Union stößt denn auf Ihr Mißfallen? Welche Regelung könnte denn besser auf regionaler oder lokaler Ebene individuell entschieden werden? ({29}) Ihre Forderung enthält lediglich dieselbe Aussage, die die Bundesregierung bereits in der Antwort auf die Große Anfrage, Drucksache 12/8489, gemacht hat. Also, auch hier nichts Neues. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie wollen also diesen Antrag ernsthaft in das Beratungsverfahren des Fremdenverkehrsausschusses einbringen. ({30}) Ich denke, das geht so nicht. Dafür haben Sie noch eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. ({31}) Erstens. Welche der Bundesregierung zur Verfügung stehenden Instrumente wollen Sie wie einsetzen bzw. wie ändern, um die Zukunft des Hotel- und Gaststättengewerbes langfristig zu sichern? Zweitens. Welche verfassungsrechtlichen Kompetenzen muß die Bundesregierung erhalten, um Ihren Forderungskatalog wirklich erfüllen zu können? Drittens. Wie ist ein Reservierungssystem anzulegen, um damit die mittelständische Hotellerie zu unterstützen? Viertens. Welche Veränderungen wollen Sie im Auslandsmarketing vornehmen, um die mittelständischen Betriebe zu unterstützen? Fünftens. Wie wollen Sie die 40 Kriterien des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes für einen umweltfreundlichen Betrieb umsetzen? ({32}) Welche Instrumente braucht die Bundesregierung, um hierbei hilfreich zu sein? - Aber Sie haben es doch im Antrag drin! - Wir fordern eine deutliche Unterstützung der DEHOGA in ihrem eifrigen Bestreben, umweltfreundlichen Betrieben Hilfe zu gewähren. ({33}) Außerdem frage ich Sie: Wie sieht eine Steuerharmonisierung zugunsten des mittelständischen Gewerbes aus? Wie werden die Steuerausfälle kompensiert, die durch Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und durch Absenkung der Gewerbeertragsteuer entstehen? ({34}) Wie wollen Sie die gewünschte gemeinnützige Schwarzmarktgastronomie von der unerwünschten wirkungsvoll trennen, ohne die Vereine und die Dorfgastronomie gegenseitig auszuspielen? Wenn Sie dann noch eine Deregulierungsverordnung vorlegen können, dann macht die Diskussion um Ihren Antrag Sinn. Wenn Sie diese Fragen nicht beantworten können, dann ziehen Sie doch bitte Ihren Antrag zurück; denn er bringt dem Hotel- und Gaststättengewerbe so überhaupt nichts. ({35})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Sie müssen aber trotzdem zum Schluß kommen.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß: Das Gastgewerbe verdient eine wahrlich bessere Behandlung als das, was Sie hier vorhaben. Ersparen Sie uns im Ausschuß eine längere Debatte darüber damit es nicht heißt: Außer Spesen nichts gewesen! Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Irber, das war Ihre Premiere in diesem Hause. Dazu möchte ich Ihnen herzlich gratulieren. Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Ulrich Schmalz.

Ulrich Schmalz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001990, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegin Irber hat sicherlich eine bemerkenswerte Rede gehalten. Ich fand Sie sehr sympathisch, Sie haben so nett gelacht, Sie passen eigentlich viel besser in die CDU-Fraktion. ({0}) Ausgezeichnet war Ihre intensive Befassung mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen. Das heißt, dieser Antrag muß substantiell eine erhebliche Bedeutung haben; sonst hätten Sie sich nicht so ausführlich mit ihm befaßt. ({1}) Meine Damen und Herren, wer einmal einem Aufsichtsrat einer lokalen Bank angehört hat, der weiß, daß es kaum eine Branche gibt wie das Hotel- und Gaststättengewerbe, in der eine so grausige Bilanz vorherrscht. Das Eigenkapital in der Hotellerie, in der Gastronomie steht in vielen Fällen auf der falschen Seite. Wir haben einmal das Wort „Minuswachstum" gehabt. Hier ist es das „Minuskapital", das die Branche kennzeichnet. Das führt natürlich auch dazu, daß die Banken bei Kreditgewährungen eine ungewöhnliche Zurückhaltung an den Tag legen. - Ich will hier keine Kritik an den Banken üben; denn die Banken sind Treuhänder von Kundeneinlagen. - Bilanzen werden bekanntlich herangezogen, wenn Kredite gewährt werden. Wenn die Bilanzen eben ausweisen, daß es keine Ertragskraft, sondern ein „Minuskapital" gibt, dann fördert das nicht die Bonität. Das führt am Ende zu mangelnder Investitionsfähigkeit. Es gibt eine Statistik, die zeigt, daß die Gastronomen am unteren Ende der Einkommensskala liegen. Es gibt noch eine interessante und betrübliche Feststellung, nämlich daß die Gastronomen der Berufsstand mit der geringsten Lebenserwartung sind. ({2}) - In der Tat, Herr Kollege Feldmann. Sie haben ja - das zeichnet Sie aus - auf dem Gebiet der Gastronomie durchaus beachtliche Kompetenz. Wir haben es in der Gastronomie mit einer hohen Fluktuation zu tun. Wir haben ein hohes Maß an Betriebsaufgaben. Das führt zu mangelnder Kontinuität in der Leistung. Es macht keinen Sinn, sich daran zu berauschen, daß in diesem Bereich eine Million Beschäftigte tätig sind. Vielmehr müssen wir hier und heute die Situation ungeschminkt beschreiben; ({3}) denn nur dann, wenn wir uns wirklich realistisch und ungeschminkt mit der Situation beschäftigen, sind wir in der Lage, auch die richtigen Therapien anzuwenden, die zu einer Gesundung beitragen können. ({4}) Der sehr sympathische und von mir hochgeschätzte Kollege Heiner Geißler würde in solchen Fällen im Zweifel dazu raten, ein Gaststättensicherungsgesetz zu verabschieden und anschließend einen Gaststättenbedarfsplan aufzustellen. In der Wirtschaft haben wir in der Regel andere Möglichkeiten, Ursachenforschung zu betreiben. Ursache Nummer eins ist aus meiner Sicht die Tatsache, daß der Zugang zum Gewerbe ohne besonderen Qualifizierungsnachweis möglich ist. Deshalb ist meine erste Forderung: Wir brauchen in der Gastronomie und in der Hotellerie eine Qualifizierungsoffensive; denn nur wirkliche Unternehmer - nicht Leute, die nur eine Kneipe führen - sind auch in der Lage, sich nach den Usancen des Marktes, des Wettbewerbs zu bewegen. Das heißt, wir brauchen präventiv eine Qualifizierungsoffensive. Wir brauchen aber auch eine Nachqualifizierungsoffensive; denn auch in dieser Branche gelten Gesetzmäßigkeiten. Nicht: Die Großen fressen die Kleinen, sondern: Die Langsamen werden von den Schnellen gefressen. Das heißt, nur derjenige, der wirklich Unternehmer ist, hat in dieser Branche eine Chance. Wir erleben eine ganz beachtliche Veränderung der Strukturen. Wir erleben - wie in fast allen Branchen - eine Segmentierung der Märkte, in der Gastronomie am konsequentesten von der Systemgastronomie angewandt. Denken Sie an die Abteilung „Burger". Dort setzt man auf standardisierte Produkte und auf konsequentes Marketing. Das gleiche gilt für die Ketten der Hotellerie. Auch dort gibt es eine Standardisierung der Produkte, Marketing und Verkaufssteuerung. In der privaten Hotellerie gibt es Ansätze von Kooperation. Denken Sie an „Romantik-Hotels", „RingHotels". Aber das beschränkt sich im wesentlichen auf Marketingmaßnahmen. Ich glaube deshalb, daß es richtig und gut ist, wenn wir auch mit materieller Unterstützung dazu kämen, daß im Rahmen dieser Hotelkooperationen ständig Betriebsvergleiche möglich sind, daß sich die Hotels mit Instrumenten wie bei DER-Data, also bei den Reisebüros, bei denen es monatlich Betriebsvergleiche gibt, der Selbstkontrolle stellen können, daß sie feststellen können, wo Abweichungen sind und wo ein Gegensteuern notwendig ist. Wir brauchen auch ein besseres Binnenmarketing. Jede geschlossene Gaststätte ist ein Stück Kulturverlust. ({5}) Ich glaube auch, daß wir an die Gemeinden appellieren müssen, etwas weniger im Bereich der Para-Gastronomie zu investieren. Ich glaube, es macht keinen Sinn, daß wir auf der einen Seite das Sterben von Gaststätten beklagen und daß die Gemeinden auf der anderen Seite Bürgerhäuser und Dorfgemeinschaftshäuser errichten und damit mit ungleichen Mitteln zum Wettbewerber für die dörfliche Gastronomie werden. ({6}) Binnenmarketing heißt auch, die Gaststätte wieder als Kommunikationsstätte zu sehen. Stammtisch, liebe Freunde, hat auch eine Sozialfunktion. Wer wollte das leugnen? ({7}) Meine Damen und Herren, Urlaub ist kein saisonales Produkt mehr. Die Zeiten, in denen zwei-, dreimal im Jahr Urlaub genommen wurde, sind vorbei. Urlaub erstreckt sich heute über das ganze Jahr. Das heißt, wir haben Urlaubsansprüche, die über das ganze Jahr befriedigt werden. Das bedeutet, daß wir in der Infrastruktur auch Maßnahmen ergreifen müssen, damit eine Saisonverlängerung stattfindet, damit die Betriebe ganzjährig - ungeachtet der Wettersituation - Urlaub anbieten können. Lassen Sie mich noch wenige Sätze zu der heute mehrfach erwähnten Tatsache sagen, daß wir einen real sinkenden Ausländerreiseanteil haben. Es ist schon gesagt worden: 63 Milliarden DM für Auslandsurlaub, 17 Milliarden aus dem Incoming. Das heißt, wir haben ein beträchtliches Leistungsbilanzdefizit, das im wesentlichen aus dieser Differenz herrührt. Es ist schon ein kleines Wunder, daß die D-Mark immer noch so stabil ist. Ich möchte noch eine andere Anregung geben. Wir haben über die DZT gesprochen. Die deutsche Wirtschaft errichtet zur Zeit in einer ganzen Reihe von Ländern, in einer ganzen Reihe von Städten sogenannte Deutsche Häuser. Denken Sie an Shanghai, denken Sie an Singapur, an Japan. Ich glaube, daß es Sinn macht, wenn in den Deutschen Häusern auch eine Filiale der DZT ihren Sitz hat, um ein gebündeltes Leistungsangebot zu erbringen. Meine Damen und Herren, Deutschland sollte in seiner Werbung auch seine Events einbringen, seine Möglichkeiten, die sich aus unserer Geschichte, aus unserem kulturellen Angebot ergeben. Denken Sie daran, daß 1999 Goethes 250. Geburtstag ist. Warum können wir uns nicht entschließen, unsere Dichter, unsere Denker auch ein bißchen im positiven Sinne für Werbung für Deutschland einzuspannen? Das sind Werbeträger! Ein Goethe-Jahr in Deutschland könnte für uns eine beträchtliche Verbesserung der Reiseströme, gerade auch aus dem Ausland, bringen. ({8}) Wir brauchen auch, meine Damen und Herren, eine europäische Initiative - ich rede in voller Kenntnis der Probleme -, nicht eine Mär Europas mit Blick auf Fremdenverkehrsmaßnahmen. Ich glaube, daß es Sinn macht, daß wir uns in Europa so etwas wie die PATA zulegen. Das ist eine Organisation, die im pazifischen Raum Urlaub begünstigt veranstaltet. Europa partizipiert zur Zeit unterschiedlich an den weltweiten Reiseströmen. Deshalb macht es Sinn, auch einmal darüber nachzudenken. Meine Damen und Herren, wir brauchen insgesamt mehr Bewußtsein für die ökonomische Bedeutung dieser Branche. Diese Branche hat auch im gesamtwirtschaftlichen Maßstab eine erhebliche Bedeutung. Lassen Sie mich an dieser Stelle - das ist für ein Mitglied der Koalitionsfraktionen sicherlich ein ungewöhnlicher Vorgang - auch ein Wort der Kritik an die Bundesregierung sagen, meine Damen und Herren.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Trotzdem, Herr Kollege, müssen Sie mit Ihrer Rede nun zum Schluß kommen.

Ulrich Schmalz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001990, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte dies in aller Kürze tun, Herr Präsident, weil an der Bundesregierung nicht sehr langatmig Kritik geübt werden kann. - In den letzten vier Jahren, in denen es erstmals einen Vollausschuß Fremdenverkehr im Bundestag gegeben hat, war der Bundeswirtschaftsminister nicht einmal in diesem Ausschuß. ({0}) Bei aller Wertschätzung für unseren Kollegen und Parlamentarischen Staatssekretär Kolb, der jetzt noch eine besondere Erhöhung erfahren hat, weil er zum Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung ernannt worden ist: Eine Branche mit 1 Million Beschäftigten und 100 Milliarden Umsatz verdient es, daß der Bundeswirtschaftsminister diesem Ausschuß auch einmal persönlich seine Aufwartung macht. Vielen Dank. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unserem Kollegen Kolb, das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muß Ihnen zu Beginn meiner Rede sagen, daß die Kollegen von der Koalition ihren eigenen Antrag umfassend gewürdigt haben. Daher braucht es nur wenig Zeit, dieses jetzt aus der Sicht der Bundesregierung zu tun. ({0}) Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich, auch mit Blick auf die fortgeschrittene Tages- und Debattenzeit, kurzfassen muß. Frau Kollegin Irber, das Kompliment möchte ich Ihnen doch noch machen: Ihr Vortrag war wirklich erfrischend, auch wenn ich ihm inhaltlich in weiten Teilen nicht zustimme. Aber richtig war Ihr Satz: Die Bundesregierung hat etwas für die Branche getan. - Das kann ich nur voll und ganz unterstreichen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tatsache, daß sich der Deutsche Bundestag heute ausführlich mit der Situation im deutschen Hotel- und Gaststerbegewerbe ({2}) - Entschuldigung, Gaststättengewerbe - befaßt, beweist den hohen Stellenwert, den das Parlament dieser Schlüsselbranche des Fremdenverkehrs in Deutschland zu Recht beimißt. Ich denke, daß sicherlich auch - ({3}) - Ich bitte um Auszeit, Herr Präsident. Das Parlament ist nicht ernst genug.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, hier gilt der alte Satz: Ein guter Redner findet sein Publikum. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Das ist sicherlich richtig, Herr Präsident. Wenn aber der Redner zum Lachen gebracht wird, ({0}) ist das natürlich sehr schwer.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Da haben Sie schon recht.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Ich meine, daß die wirtschaftliche Bedeutung dieser Branche hier zu Recht gewürdigt wird. Ich möchte, weil dies heute abend noch nicht geschehen ist, in dieser Debatte feststellen, daß der Geschäftsverlauf im deutschen Hotel- und Gaststättengewerbe zunehmend positiv wird. Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages bei mehr als 4 000 Unternehmen gehen derzeit mehr als drei Viertel der Unternehmen davon aus, daß der Geschäftsverlauf vom Frühjahr an zumindest gleichbleiben oder sich sogar noch verbessern wird. Für diese realistische Einschätzung spricht auch die Tatsache, daß mehr als 70 % der Betriebe Investitionen in die Zukunft planen. Auf die wirtschaftliche Bedeutung, die 1 Million Beschäftigten und die 100 Milliarden Umsatz, ist hier schon hingewiesen worden. Ich möchte nur noch betonen, daß gerade auch in den neuen Ländern spürbare Hilfen von Bund und Ländern dafür sorgen, daß das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe einen vorderen Platz beim wirtschaftlichen Aufbau einnimmt. So wurden u. a. im Rahmen des Eigenkapitalhilfeprogramms 1994 über 1 800 Unternehmen des Gastgewerbes mit 411 Millionen DM gefördert. Das sind immerhin 13,5 % der gesamten Kreditmittel; damit ist dies ein deutlich über dem Anteil der Branche am Bruttoinlandsprodukt liegender Prozentsatz. ({0}) - Frau Kollegin, ich glaube, wir haben uns darüber schon unterhalten. Ich bin in der Not, hier nur noch zwei Minuten zur Verfügung zu haben. Es würde sicherlich mehr Zeit erfordern, darüber zu debattieren. Das werden wir in der nächsten Ausschußsitzung nachholen. Ich möchte der Kollegin Irber insofern beipflichten, als sie zu Recht gesagt hat, daß die Branche unter einem verschärften Wettbewerbsdruck steht: Die Ergebnisse stagnieren. Die Erlöse sind rückläufig. Die Kapazitäten sind stark angestiegen, und die Nachfrage schrumpft, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Nachfrage des Auslandes in den vergangenen Jahren enorm abgenommen hat. ({1}) Als Ergebnis dieser Entwicklung befindet sich diese Branche wie auch andere Wirtschaftssektoren in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Ich bin aber sicher, daß der sich vollziehende Strukturwandel insgesamt zu höherer Leistungs- und damit auch Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes führen wird. Immer mehr Betriebe schließen sich in Marketingkooperationen und Hotelketten zusammen, um das eigene Angebot transparenter vermarkten zu können. ({2}) Ich muß ganz deutlich sagen, Frau Kollegin: Nach meinem Verständnis und auch dem der Bundesregierung sollte man keine Schutzzäune um überholte, nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen ziehen. Das wäre sicherlich auch für die Branche nicht gut. Es geht vielmehr darum, daß wir dem Hotel- und Gaststättengewerbe bei der Bewältigung des Strukturwandels helfen. Das wollen wir sehr gerne tun. ({3}) Zu den Förderungen zähle ich in erster Linie die Zuschüsse im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", das Eigenkapitalhilfeprogramm ({4}) und die zinsgünstigen ERP-Darlehen. - Zahlen habe ich hier schon genannt. - Dazu zähle ich weiter die Unterstützung im Rahmen der Deutschen Zentrale für Tourismus, woran sich der Bund nach wie vor - er wird das auch in Zukunft tun - mit erheblichen Beträgen beteiligt. ({5}) Daß sich aber auch die Wirtschaft selbst, die Unternehmen der Branche, in Zukunft stärker engagieren soll und muß, als das bisher der Fall gewesen ist, ist sicher keine unzulässige Bitte, kein unzulässiger Hinweis. Schließlich möchte ich noch sagen, daß ein flächendeckendes, einheitliches, vom Ausland her zugängliches Reservierungs- und Informationssystem für Beherbergungsbetriebe auf der Tagesordnung steht. ({6}) Wir, das Bundesministerium für Wirtschaft, haben mit der touristischen Informationsnorm wesentliche Vorarbeit geleistet. Ich bin zuversichtlich, daß mit German Soft in Kürze ein entsprechendes System zur Verfügung stehen wird. Es gäbe eine ganze Menge zu sagen zu vielen Punkten, die im Koalitionsantrag richtig erwähnt worden sind: z. B. die Revitalisierung der Innenstädte und die Beibehaltung der Sozialversicherungsfreiheit für geringfügig Beschäftigte, die wir richtig finden, damit den Klein- und Mittelbetrieben des Gastgewerbes die Möglichkeit zur Bewältigung von Saison- und Auftragsspitzen erhalten bleibt. Wir sind auch dafür - das möchte ich noch sagen, bevor ich schließe -, daß es keine Tourismuskompetenz in der europäischen Kommission geben soll. Wir werden dies mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip auch im nächsten Jahr auf der dann stattfindenden Regierungskonferenz zur Revision des Vertrages von Maastricht deutlich machen. Damit ist meine Redezeit leider abgelaufen. Ich hätte gerne noch mehr zum Antrag gesagt. Ich bedanke mich aber für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, daß Sie mein Versprecher von vorhin nicht zu sehr belustigt hat. Vielen Dank. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keine weiteren Vorschläge. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Widerspruchsrecht für die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksache 13/352 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jürgen Rochlitz.

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002763, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwar steht die Fastnacht vor der Tür und damit auch die Zeit der Kostümierung. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Einen Augenblick, Herr Kollege! - Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich bitte wirklich, die Gespräche nach draußen zu verlagern. Wir sind bereits beim nächsten Punkt der Tagesordnung. Wenn Sie weiter stören, unterbreche ich die Sitzung. Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002763, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Trotz Fastnacht haben Sie es hier nicht mit einem Antrag zu tun, der schwarz ist in einem grünen Mäntelchen. Wenn die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei allen umweltrelevanten Entscheidungen im Kabinett ein Vetorecht für die Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit einfordert, dann wollen wir weniger der Koalition einen Gefallen tun als dazu beitragen, daß Umwelt- und Naturschutz konsequent umgesetzt werden, praktisch als überparteiliche Staatsaufgabe. Bisher jedenfalls hat die Bundesregierung die Einsicht vermissen lassen, daß die drängenden Umweltprobleme auf allen Ebenen eine zentrale Herausforderung des Staates darstellen, ohne deren Bewältigung auch der Fortbestand des demokratischen Gemeinwesens einer modernen Gesellschaft gefährdet ist. Trotzdem hat das Parlament in der letzten Legislaturperiode - entgegen den Empfehlungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen - eine Staatszielbestimmung nur in Form eines bloßen Gesetzgebungsauftrags in das Grundgesetz aufgenommen. Art. 20a über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sieht zwar die hohe Verantwortung, für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, dies jedoch nur nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die Verwaltung und Rechtsprechung. Der Sachverständigenrat sprach daher im letzten Umweltgutachten zu Recht von einer entscheidenden Schwächung der Staatszielbestimmung, die der fundamentalen Bedeutung des Umweltschutzes im Sinne einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung nicht gerecht wird. Heute - und dann später im Ausschuß - haben Sie die seltene Gelegenheit, „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung" - wie es im Grundgesetz heißt - die Bundesregierung aufzufordern, die fundamentale Bedeutung des Umweltschutzes in der Geschäftsordnung der Bundesregierung festzuschreiben, und zwar durch ein Widerspruchsrecht, das in Ausübung und Umfang dem des Finanzministers für Entscheidungen innerhalb des Kabinetts entspricht. Denn was würde mehr von ökologischer Reife zeugen als eine Orientierung an einem dauerhaften, vorsorgenden Umweltschutz durch eine umweltpolitische Richtlinienkompetenz für die Umweltministerin? Sie, Frau Merkel, und alle künftigen Umweltminister müssen gegenüber der Konkurrenz der anderen Bundesressorts endlich energisch und offensiv auftreten können und wollen. ({0}) Es kann nicht angehen, daß Entscheidungen der Ressorts wie Verkehr, Wirtschaft oder Landwirtschaft dazu führen, daß nur mehr nachsorgender Umweltschutz möglich ist. Es kann ebensowenig angehen, daß der Umwelthaushalt zukünftig weiterhin Jahr für Jahr im nichtnuklearen Teil gekürzt wird. In Anbetracht der jährlichen Umweltschäden in Höhe von bis zu 300 Milliarden DM stellt der Haushalt der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit 1,3 Milliarden DM nicht mehr als eine vernachlässigbare Größe auf Portokassenniveau dar. ({1}) Dies ist nichts anderes als ein Zeichen der Geringschätzung dauerhaft umweltgerechter Politik im Bundeskabinett. ({2}) Diese Geringschätzung gilt es endlich aufzubrechen, denn sie ist es doch, die uns seit Bestehen dieses Ministeriums die umweltpolitischen Defizite auf der ganzen Linie gebracht hat, Defizite wie ungebremstes Waldsterben, ungebremste Einträge von schädlichen Stoffen in Luft und Grundwasser durch Verkehr und Landwirtschaft und weiterhin - nur beispielhaft - eine nicht einmal im Ansatz gelöste Abfallproblematik mit immer noch steigenden Abfallmengen und fehlenden Kreisläufen. ({3}) Was wäre an Stelle vollmundiger Bekundungen des Kanzlers über den Stellenwert der Umweltpolitik zur Stärkung dauerhaft umweltgerechter Entwicklung geeigneter als eine Stärkung der Position der Umweltministerin am Kabinettstisch? Diese Stärkung von Frau Merkel am Kabinettstisch soll keineswegs bedeuten, daß sie von uns z. B. Flankenschutz in der Frage der Verantwortbarkeit der Atomenergie oder bei ihren leidigen Weisungen und Weisungsrechten nach dem Atomgesetz bekommt. Es trennen uns Welten, wenn die Umweltministerin wie neulich in der „Frankfurter Rundschau" diktiert: Die Kernenergie ist eine verantwortbare Energie, ({4}) die wir jedoch nicht weiterbetreiben können, - Sie hören gleich auf zu klatschen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU wenn die Entsorgungsfrage weiter blockiert wird. In der Tat ist es schon lange unverantwortlich, daß die Weichen für einen dritten Weg der Energieversorgung über die regenerativen Quellen von den anderen Ressorts immer wieder blockiert wurden und werden ({5}) und vom Umweltministerium dann erst gar nicht mehr freigekämpft werden. Wir wollen erreichen, daß die Umweltministerin künftig mehr Verantwortung übernehmen muß, indem sie die Chance bekommt, z. B. die gigantischen Straßenbauversiegelungen auf Grund des Bundesverkehrswegeplans per Vetorecht zu stoppen. Sie muß zu einer Mutter Courage des Umweltschutzes werden, ({6}) die aufbauend auf Erfolgserlebnissen durch das Veto zu ganz neuen Gestaltungsmöglichkeiten der Umweltpolitik findet, nämlich zu einem Höchstmaß an ganzheitlicher Vorsorgepolitik. Stellen Sie sich eine Umweltministerin vor, die per Vetorecht gegenüber dem Landwirtschaftsminister die Landwirtschaftsklausel im neuen Naturschutzgesetz ersatzlos streichen lassen kann. Selbstverständlich möchten wir der Umweltministerin zu wirklichen Erfolgserlebnissen verhelfen, ({7}) z. B. wenn Sie das Flugbenzin besteuern lassen will.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002763, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Einen Moment. Einen Satz noch, dann sehr gerne. - Es wäre ein glanzvoller Tag für die deutsche Umweltpolitik geworden, wenn im Falle der Kerosinbesteuerung des Umweltministers Vetorecht den Kanzler hätte ausbremsen können. ({0}) Bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, würden Sie mir zugeben, daß es neben dem Umweltschutz auch noch andere sehr wesentliche Politikbereiche gibt? Ich nenne einmal die Volksgesundheit oder die Ernährung. ({0}) Wäre es dann nicht folgerichtig, Herr Kollege, daß Sie für jeden Bundesminister, der ein derart wichtiges Ressort vertritt, ein Vetorecht fordern würden, mit der Folge, daß in einer Bundesregierung dann nur noch Leute säßen, die sich mit Vetorechten gegenseitig blockieren könnten, und würden Sie es nicht für die vernünftigere und die zwangsläufigere Alternative halten, daß ein Bundesminister, der sich mit ganz wesentlichen seiner Anliegen in der Regierung nicht durchsetzen kann, dann, statt ein Vetorecht auszuüben, den Rücktritt einreicht?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002763, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, daß Sie ausgerechnet den Bereich des Gesundheitsschutzes und der Nahrung angesprochen haben. In der Tat dokumentieren Sie mit dieser Zwischenfrage, daß dieser Bereich letztendlich mit dem Umweltschutz verquickt ist. ({0}) Der Umweltschutz ist nämlich eine Querschnittsaufgabe und reicht gerade auch in den Gesundheitsschutz hinein. Er ist dem Gesundheitsschutz und auch der Nahrungsmittelproduktion übergeordnet. ({1}) Insofern ist mit dem Vetorecht im Bereich des Umweltschutzes genau das abgedeckt, was Sie mir jetzt unterstellen wollen, daß nämlich noch woanders Vetorechte eingeführt werden sollen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Bitte schön.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, in welchen Bundesländern, wo die Grünen mit an der Regierung sind, haben sie ein solches Vetorecht bereits beantragt und durchgesetzt?

Prof. Dr. Jürgen Rochlitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002763, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Sie wissen genauso gut wie ich, daß wir in den Parlamenten bisher nirgendwo 51 % der Sitze haben. ({0}) Wenn Sie Ihre Politik so fortsetzen, gelingt uns das vielleicht einmal. ({1}) Dann sehen wir auch zu, daß dort diese Vetorechte eingeführt werden. Noch einmal: Wir wollen mit dem vorgeschlagenen Vetorecht dem Aspekt der Vorsorge eine Gasse durch den Dschungel der Kabinettsentscheidungen bahnen. Vorsorge als politisches Leitbild für die deutsche Umweltpolitik bedarf nämlich dringend einer stärkeren Ausprägung. Sobald Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit wie auch für den Erhalt oder die Wiederherstellung natürlicher Lebenszusammenhänge durch anthropogene Einwirkungen oder Veränderungen anzunehmen oder auch nur zu vermuten sind, sollte das Nein der Umweltministerin wirksam werden. Atomrechtliche Weisungen, Frau Merkel, an Niedersachsen oder Hessen würden sich dann von selbst verbieten. Dann wären wir endlich am dringend nötigen Wendepunkt, der uns herausführt aus der auch von Sachverständigen für Umweltfragen beklagten Gegenreformation in der Umweltpolitik, für die andernfalls das Umweltministerium zum Negativsymbol wird. Meine Damen und Herren, stärken Sie mit Ihrer Zustimmung die Umweltministerin. Sie hat es bitter nötig. Die Stärkung gilt dabei der Umweltpolitik in ihrer Gesamtheit. Geben Sie mit dieser Entscheidung der Umweltpolitik in ihrer Gesamtheit das dringend notwendige Gewicht. Ihre Entscheidung hätte dann durchaus eine vergleichbare Bedeutung wie seinerzeit diejenige zur Einrichtung eines Umweltministeriums. Wer wie Frau Merkel kürzlich richtigerweise fordert, es dürfe nicht mehr von der Substanz des Naturkapitals gelebt werden, sondern nur noch von dessen Zinsen, der sollte auch einsehen können, daß dann eine umweltpolitische Richtlinienkompetenz so unverzichtbar ist wie ein Leitzins. Nur so wird das Umweltministerium seiner Verantwortung für den ihm anvertrauten Tresor, das Naturkapital, wirklich gerecht. Ich bitte Sie, sich im Ausschuß in diesem Sinne zu verhalten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel, das Wort. ({0})

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem Antrag der GRÜNEN möchte ich fünf kurze Bemerkungen machen. Herr Fischer, Ihr Fraktionschef, wird doch wohl nicht deshalb fehlen und hier nicht sprechen, weil er uns vorenthalten will, welche Bemühungen er unternommen hat, um zu ähnlichen Rechten zu kommen wie die, die Sie heute für mich fordern? ({0}) Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß Sie sich mit Ihrem Antrag in den Bereich des Selbstorganisationsrechts der Bundesregierung begeben. Wir machen unsere Geschäftsordnung selbst und nehBundesminister Dr. Angela Merkel men Tips gerne entgegen. Diesen werden wir ausschlagen müssen. ({1}) Denn wir haben bereits - darauf möchte ich noch einmal aufmerksam machen - in § 40 Abs. 2 Nr. 3 unserer Gemeinsamen Geschäftsordnung festgehalten, daß in allen Vorlagen anzugeben ist, ob und welche Auswirkungen durch die konkreten Projekte auf die Umwelt zu erwarten sind. Es ist für uns also eine Selbstverständlichkeit, Umweltpolitik bei jeder politischen Entscheidung mit zu berücksichtigen. ({2}) Wir sind eine Regierung, die sich als ein Kollegialorgan versteht, d. h. wir sprechen miteinander, wir debattieren miteinander, und wir versuchen, für die verschiedenen Politikbereiche ein verständnisvolles Verhältnis zu entwickeln. ({3}) In der vergangenen Legislaturperiode war ich Frauenministerin. Da ist für mich genau dasselbe gefordert worden. Ich habe es damals nicht gewollt, und ich bin froh, daß ich heute nicht dauernd das Veto der Frauenministerin erwarten muß, wenn ich umweltpolitische Dinge beschließe, wobei das Umgekehrte genauso gilt. ({4}) Weiterhin möchte ich sagen, daß der Antrag von einem bestimmten Politikverständnis zeugt, das ich nicht teile. Für mich muß Umweltpolitik auch den Kompromiß und die Auseinandersetzung suchen und nicht dauernd die Konfrontation. ({5}) Wenn Sie Umweltpolitik lediglich als Konfrontation mit allem und jedem begreifen, dann kommen Sie genauso weit, wie Sie bisher gekommen sind. Sie werden nämlich nicht in die Lage kommen, Dinge wirklich durchzusetzen. ({6}) Ich muß Ihnen sagen: Ich bin in der Tat sehr froh, daß es mir bei Politikerinnen wie Frau Griefahn möglich ist, Weisungen zu erteilen, weil sie nämlich ein ganz anderes Politikverständnis hat und sich dem, was Recht und Gesetz im Lande ist, nicht beugen will. Da brauchen wir leider eine Weisung. ({7}) Ich würde sie lieber nicht in Anspruch nehmen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Saibold?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, eine. ({0})

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, es ist Ihnen doch sicherlich bekannt, daß die Muttermilch seit Jahren unheimlich verseucht ist und daß sie, wenn sie Kuhmilch wäre, eigentlich nicht mehr zu verkaufen wäre. Ich möchte Sie fragen: Wo ist Ihre Kompromißfähigkeit, wenn Sie sich Ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern bewußt sind?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Mir bleibt etwas verschlossen, wo der Zusammenhang zwischen dem Antrag Ihrer Fraktion und Ihrer Frage ist. Ich vermute: Das ist eine Sache, die den Gesundheitsminister genauso beschäftigen müßte wie mich. Die Verantwortlichkeit besteht natürlich im Hinblick auf jegliche Verschmutzungen. Es ist hier von meinem Vorredner davon gesprochen worden, daß wir das Land seien, in dem Verschmutzungen sozusagen grassieren. Da kann man doch nur sagen: Wenn Sie sich in Europa und in der Welt einmal umschauen, dann werden Sie feststellen, daß wir eine führende Stellung in vielen Bereichen des Umweltschutzes haben. Dort, wo es noch sein muß, werde ich mich weiter dafür einsetzen, daß dies erreicht wird. ({0}) Abschließend möchte ich lediglich darauf hinweisen, daß aus Ihrem Antrag auch ein bestimmtes Verständnis von Demokratie spricht. Ich kann Ihnen sagen, daß ich der Meinung bin: Der Umweltschutz ist in dieser Regierungskoalition stark genug, um sich um Mehrheiten zu bemühen. Wir brauchen kein Vetorecht. Wir haben die Kraft, uns unsere Mehrheiten zu beschaffen. Dies werden wir in dieser Legislaturperiode auch tun. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun der Abgeordnete Dietmar Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Rochlitz, Sie haben es gerade gehört: Ihre sympathische Forderung, die Umweltministerin zu stärken, wird von ihr so beantwortet, daß sie den Auftrag, Umweltentscheidungen zu berücksichtigen, schon hat. Was dabei herausgekommen ist, haben wir alle gemerkt, nämlich gar nichts. ({0}) Wir haben, so muß ich gestehen, vor zwei Perioden, also vor acht Jahren in der 11. Wahlperiode, schon einmal diesen Anspruch als Sozialdemokraten zusammen mit Ihnen gestellt und haben damals zum Ausdruck gebracht, daß wir im Zusammenhang mit den UVP-Richtlinien, also den Prüfungen im Hinblick auf die umweltgerechten Leitlinien, den Bundestag auffordern, bei Entscheidungen der Bundesregierung über Vorhaben des Bundes mit erheblichen Umweltauswirkungen dem Bundesminister für Dietmar Schütz ({1}) Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Anlehnung, wie auch Sie das gesagt haben, an § 26 GOBReg das Recht einzuräumen, Widerspruch zu erheben. Die damalige Bundesregierung hat das abgelehnt, und sie wird das auch heute wieder ablehnen. Das wissen wir wohl. ({2}) Wir haben diese Forderung gleichwohl nicht wiederholt. Auch die GRÜNEN haben sie in der vorigen Periode nicht wiederholt. Daraus sieht man, daß diese Initiative zweifellos eine Initiative mit großem Symbolgehalt ist, aber eben nur mit symbolischem Gehalt. Auf einer ganz grundsätzlichen Ebene geht es Ihnen, glaube ich, darum, zu diskutieren, wieweit der Stellenwert der Umweltpolitik im Kabinett zu erhöhen ist und Umweltpolitik von uns ernstgenommen wird. Sie wollen die Macht des Umweltministers auf dem Wege über ein solches formales Instrument stärken. Ich stimme Ihnen zu, daß der Schutz der Lebensgrundlagen und der natürlichen Umwelt eine solche Schutzmacht verdient. Nur erhöhen wir den Stellenwert der Umwelt nicht dadurch, daß wir eine symbolische Absicherung in der Geschäftsordnung der Bundesregierung schaffen. Wir müssen vielmehr in den Köpfen der Bürger Klarheit darüber schaffen, wie wichtig die richtige umweltpolitische Weichenstellung für die nächste Zukunft ist. ({3}) Wenn wir das schon nicht in der Verfassung durchsetzen, brauchen wir das in der Geschäftsordnung erst recht nicht zu machen. Wir haben, so muß ich gestehen, das Vetorecht, das wir 1988 haben wollten, deshalb nicht weiter verfolgt, weil wir meinen, daß wir ein solches scharfes Recht wie das des Vetos einem Minister, der davon sowieso keinen Gebrauch macht, gar nicht geben sollten. ({4}) Nach meiner Kenntnis ist in der Geschichte des Vetorechts, das der Finanzminister hat - ich habe mich bei Finanzexperten erkundigt -, vom Vetorecht faktisch nie Gebrauch gemacht worden, weil alles eigentlich nur im Vorfeld besprochen worden ist. Dieses Widerspruchsrecht ist nur eine Drohung, ist nur eine „fleet in being", ein Schwert in der Scheide. Es ist aber nie richtig angewandt worden. Dieses Instrument ist eigentlich auch nur in einer Einzelregierung denkbar. In einer Koalitionsregierung ist es nach meinem Verständnis gar nicht denkbar, weil nämlich alle Entscheidungen schon in der Koalitionsvorrunde fallen. Oder können Sie sich vorstellen, daß Herr Waigel, nachdem alles abgekaspert ist, im Kabinett plötzlich sagt: Aber nun nehme ich mein Vetorecht in Anspruch? - Das wird mit der Umweltministerin genauso sein. Ich glaube, dieses Instrument läuft leer. Wir müssen uns ansehen, wie die Konflikte zwischen Umweltministerium und anderen Ministerien in der Vergangenheit bewältigt worden sind. Ich habe zwei Beispiele vor Augen. Eine Sache habe ich selber mit verfolgt: Wir haben vor anderthalb Jahren zwischen Verkehrsminister und Umweltminister eine Einvernehmenssituation betreffend die Befahrensregelung gehabt. Jetzt kommen sie zu einem Kompromiß; ich weiß das. Aber wie lange hat es gedauert, bis die beiden sich einig wurden? Wie lange hat das Hin und Her gedauert, obwohl wir einen gemeinsamen, einstimmig gefaßten Beschluß, daß die beiden sich, verdammt noch mal, einigen sollten, hatten? Schon bei diesem Instrument, hinter dem wir politisch praktisch alle standen, hat das eine so lange Zeit gedauert. Jetzt betrachten Sie das zweite Beispiel, bei dem wir noch gar kein Ergebnis haben. Sie, Herr Rochlitz, haben auch schon darauf hingewiesen. In der Frage des Bundesnaturschutzgesetzes und in der Auseinandersetzung mit dem Landwirtschaftsminister und der Landwirtschaftsklausel haben wir noch immer keine Regelung. Ich glaube auch nicht, daß wir sie durch ein Vetorecht im Kabinett erreichen würden. Es liegt daran, daß Umweltminister nicht beißen, daß sie nicht herangehen und daß sie möglicherweise nicht für etwas einstehen. ({5}) Dann brauchen sie auch kein besonderes Instrument. Wenn sie von sich aus nicht kämpfen, dann brauchen wir ihnen auch nichts zu geben. ({6}) - Ich meine jetzt die Bundesregierung. Ich meine die Konflikte, die wir vor Augen haben. Sie müssen nicht immer Wahlkampf betreiben. ({7}) Die Gestaltungsgeschichte des Bundesnaturschutzgesetzes zeigt uns, daß dieses Instrument eigentlich nur von dem eingesetzt werden kann, der beißen will. Papiertiger beißen nicht; sie brüllen nicht einmal. Das reicht uns nicht. ({8}) Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendeine Trasse, daß irgendeine Straße, daß irgendeine Wasserstraße, die wir nicht haben wollen, durch ein Vetorecht von den Umweltministern verhindert wird. Deswegen sollten wir ein solches Instrument nicht mit der hohen Aura versehen. Herr Rochlitz, Sie denken, daß wir dadurch eine solche Bundesregierung, wie Sie sie selber kennen, zum Springen bringen. Doch sie bleibt immer stehen und tut es nicht. Deswegen bin ich sehr skeptisch, ob wir die Umweltminister durch dieses Vetorecht, das kein gestaltendes Element in der Politik ist, zum Beißen bringen können. Wir werden das im Ausschuß Dietmar Schütz ({9}) diskutieren. Ich bin skeptisch, ob sie springen und beißen. Ich bin ziemlich sicher: Sie tun es nicht. Danke sehr. ({10})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun die Kollegin Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen an Sie, Herr Kollege Rochlitz, möchte ich mich zunächst einmal wenden. Wenn man sich Ihre Rede anhört, könnte man wirklich meinen, in den vergangenen Jahren sei es hier in der Bundesrepublik im Bereich des Umweltschutzes nur viel schlechter und viel schlimmer geworden, und es habe sich überhaupt nichts getan. Ich möchte Sie daher fragen: Woher kommt denn die Spitzenstellung der Bundesrepublik Deutschland im Umweltschutz? ({0}) Wie ist es eigentlich mit der Luftbelastung - beispielsweise bei Staub und Schwefeldioxid -, die gegenüber den 70er Jahren um zwei Drittel bzw. drei Viertel zurückgegangen ist? Wie ist es mit der Abfallvermeidung und -verwertung, die greift? Man braucht beispielsweise jetzt geplante Sondermüllverbrennungsanlagen nicht mehr zu bauen, weil man darauf verzichten kann. Wie ist es damit, daß wir als erstes Land aus der FCKW-Produktion und -verwendung zum Ende letzten Jahres ausgestiegen sind? ({1}) Wie ist es eigentlich mit den Erfolgen im Gewässerschutz - beispielsweise beim Rhein -, die sich sehen lassen können? Ist das alles eigentlich nichts? ({2}) Daher kann ich nur sagen: Man kann zwar immer noch Fortschritte fordern, man kann zwar immer noch Verbesserungen wollen - das wollen wir alle, wir wollen weiterkommen im Umweltschutz -, aber man kann sich doch nicht hierherstellen und sagen, man habe die letzten paar Jahre in dieser Republik nicht mitbekommen. ({3}) Ich möchte jetzt noch einige Worte zu dem Antrag sagen. Sicherlich haben Sie recht, wenn Sie meinen, Umweltschutz sei eine Querschnittsaufgabe. Das sehe ich auch so. Die Bemühungen um Umweltschutz sind um so erfolgreicher, je öfter und je früher er in allen Politikbereichen Berücksichtigung findet. Es ist also auch wichtig, daß wir umweltpolitische Überlegungen in alle Prozesse der politischen Entwicklung und Entscheidungsfindung integrieren. Aber genau dazu taugt der vorliegende Antrag der GRÜNEN nicht. Ihr Antrag setzt am Ende des Entscheidungsprozesses an und will ein Vetorecht für die Umweltministerin. Sie verkennen dabei, daß schon heute in allen relevanten Kabinettsvorlagen neben den Kosten auch die Auswirkungen auf die Umwelt dargestellt werden müssen. Sie verkennen in Ihrem Antrag auch, daß kluge Umweltpolitik um einen Ausgleich mit sozialen und wirtschaftlichen Interessen bemüht sein muß. Darüber hilft ein Veto eben nicht hinweg. Sie fordern hier ein Blockadeinstrument. Das führt nicht zum Interessenausgleich, sondern zur Konfrontation. Damit schaden Sie den Interessen der Umwelt und nützen ihnen nicht. ({4}) Wenn Sie selbst Ihren Antrag ernst nehmen würden, dann hätten Sie dieses Instrument ja dort, wo Sie schon einmal in einer Landesregierung gesessen haben, vorsorglich einführen und ausprobieren können. Dann hätte man wenigstens auf Erfahrungen zurückgreifen können. ({5}) Um es kurz und knapp zusammenzufassen: Der Antrag ist genauso einfallslos wie alt. Er ist ein Fossil aus der grünen Mottenkiste. Wenn wir über irgend etwas diskutieren wollen, dann würde ich Ihnen empfehlen, einmal die neuen Entwicklungen in Großbritannien anzuschauen. Darüber zu diskutieren bin ich bereit; aber das hier bringt uns in keiner Weise weiter. Danke. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Meinrad Belle.

Meinrad Belle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer mit offenen Augen durch unsere Lande, durch unsere Bundesrepublik Deutschland geht, und zwar in Ost und West, der sieht, daß wir in Deutschland eine Spitzenposition haben. Das wird überall eindeutig bestätigt. Man hat manchmal das Gefühl, daß die Kollegen von den GRÜNEN und auch von der SPD gelegentlich von unterschiedlichen Ländern reden. Da trifft das alte Bibelwort zu: Sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen. Denn, meine Damen und Herren, die Umweltpolitik dieser Regierungskoalition war und ist überaus erfolgreich, trotz schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse. ({0}) In der vergangenen Legislaturperiode wurden wichtige Vorhaben realisiert. Stichworte wie Kreislaufwirtschaftsgesetz, Umsetzung der Baseler Konvention, Umweltstatistikgesetz, Umweltinformationsgesetz usw. belegen dies eindrucksvoll. Besonders hervorzuheben ist, daß es durch eine Vielzahl von Umweltschutzsofortmaßnahmen von Bund und Ländern gelungen ist, einen Großteil der ökologischen Verheerungen in den neuen Bundesländern zu beseitigen oder wenigstens erheblich zu mildern. Wer die heutige ökologische Situation in den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks kennt, weiß: Dies ist eine gewaltige Leistung von einmaliger historischer Bedeutung. Dafür gebührt den verantwortlichen Ministern, Klaus Töpfer und Angela Merkel, unser aller Dank. Wir werden mit diesen umweltpolitischen Anstrengungen auch in Zukunft nicht nachlassen. Das beweist doch auch der Haushalt des Umweltministeriums - den Sie offenbar noch gar nicht gelesen haben, Herr Rochlitz -, der in diesem Jahr um deutlich mehr als 6 % ansteigt und damit angesichts einer Steigerungsrate für den Gesamthaushalt von lediglich 0,9 % überproportional angehoben wird. Dieser Haushalt ist eine ausgezeichnete Grundlage für unsere nächsten Vorhaben. Dazu gehören z. B. die Verwirklichung der ehrgeizigen nationalen Klimaschutzpolitik, die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz, die Schaffung des Bodenschutzgesetzes usw. ({1}) Meine Damen und Herren, diese Bilanz zeigt: Das Bundesumweltministerium ist ein starkes Ressort, ({2}) in dessen Händen die Umweltpolitik wahrlich gut aufgehoben ist. Es ist erfolgreich, ohne über das von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nunmehr geforderte Widerspruchsrecht im Kabinett zu verfügen. Auch für mich als Innenpolitiker - als Innenpolitiker spreche ich heute abend, Herr Rochlitz - ist die Umweltpolitik im weitesten Sinne wirklich eine Aufgabe von besonderer, grundsätzlicher, herausragender Bedeutung. Aber - das wollen wir doch nicht verkennen - daneben gibt es weitere äußerst wichtige Bereiche, die unsere Bundesregierung im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung nicht unberücksichtigt lassen kann. Stichworte wie „Sicherheit", „Wohnen", „Arbeitsplatz" mögen genügen. Mit Recht würden andere Ressorts ähnliche Widerspruchsrechte einfordern. Dies kann doch nicht im Sinne einer ersprießlichen und auch sachgerechten, wirkungsvollen Zusammenarbeit innerhalb des Kabinetts sein. ({3}) Auch aus diesem Grunde ist der Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abzulehnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, theoretische Stilübungen und Geschäftsordnungsakrobatik sind keine tauglichen Instrumente einer überzeugenden Politik. Abgesehen davon kann es auch nicht Sache des Parlaments sein, geschweige denn - ich sage dies ein bißchen augenzwinkernd, Herr Rochlitz; es ist demnächst Karneval - einer kleinen Oppositionsfraktion, der Regierung vorzuschreiben, wie sie sich zu organisieren hat. Das macht die Regierung schon selber. Sie ist groß und schlau genug dazu. Wir lehnen daher den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entschieden ab. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es spricht nun der Abgeordnete Rolf Köhne.

Rolf Köhne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002702, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen nicht nur mit den uns anvertrauten Steuergeldern sparsam umgehen, sondern auch mit der außermenschlichen Natur, den vorgefundenen Rohstoffen und der Energie. Diese Erkenntnis setzt sich ja glücklicherweise immer mehr durch. Es ist deshalb logisch, daß nicht nur der Finanzminister das Recht hat, zu sagen, was geht oder was nicht geht, sondern auch die Umweltministerin. Wir versprechen uns in dieser Legislaturperiode jedoch überhaupt nichts davon. Erst gestern kommentierte die „Stuttgarter Zeitung" die 100-Tage-Bilanz unserer Umweltministerin mit der Überschrift: „Die ersten hundert Tage im Schatten des Kanzlers", und das „Handelsblatt" schrieb: „Das Beispiel Flugbenzin zeigt: Wer aktiv Umweltpolitik gestalten will, den bestraft der Kanzler mit einer Abmahnung." Letzte Woche überraschte uns Frau Merkel mit ihrem Vorstoß zur Privatisierung der atomaren Endlager. Sie will also nicht einmal gestalten; sie will den Einfluß von Bund, Ländern und insbesondere den Betroffenen zugunsten der Profitinteressen der Energiekonzerne auf Null bringen. ({0}) - Ja natürlich. Allein um die Sicherung dieser Interessen wird es ihr auch bei den Energiekonsensgesprächen gehen. Unsere Schlußfolgerung ist deshalb: Wichtiger als ein Vetorecht der Umweltministerin ist ein Einspruchs- und Widerstandsrecht all derer, die sich für Umweltschutz engagieren und betroffen sind. ({1}) Nach der neuerlichen Castor-Weisung von Frau Merkel wird es ohnehin Widerstand geben. Die Menschen in Niedersachsen wollen diese Zwischenlagerung auf unbestimmte Zeit in einer Leichtmetallhalle nicht. ({2}) Frau Merkel, Gedankenspiele über eine Neuauflage eines Wiederaufbereitungsprojektes sind Spiele mit dem Feuer. Abschließend möchte ich deshalb sagen: Wir vertrauen mehr auf die Aktivitäten von zahlreichen Bürgerinitiativen, die auch mehr Sachverstand aufweisen können, als auf ein Vetorecht der Umweltministerin. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich sehe und höre nicht, daß es noch weitere Wortmeldungen gibt. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich schließe damit die Aussprache. Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/352 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 und Zusatzpunkt 10 auf: 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Steffen Tippach und der weiteren Abgeordneten der PDS Stopp der Militär- und Wirtschaftshilfe an die Türkei sowie Vermittlung für eine politische Lösung in Kurdistan/Türkei - Drucksache 13/212 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß (federführend] Verteidigungsausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Politik der Bundesregierung gegenüber der Türkei - Drucksache 13/538 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({0}) Verteidigungsausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach jüngsten Berichten von Amnesty International und dem Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission in Genf hat sich die Menschenrechtssituation in der Türkei dramatisch verschlechtert. Das Verschwindenlassen von Menschen durch Sicherheitskräfte sei an der Tagesordnung. Allein im vergangenen Jahr sind fast 400 Menschen politischen Morden seitens der Sicherheitskräfte zum Opfer gefallen. Das sind zwanzigmal mehr als 1991. Das Ausmaß der Folter ist erschreckend. Auch würden die Foltermethoden weiter perfektioniert, um keine Spuren z. B. bei Elektroschocks, Todesdrohungen, sexuellem Mißbrauch und ähnlichem zu hinterlassen. Kritisiert wird in dem Bericht auch die nahezu uneingeschränkte Straffreiheit für Armee und Polizei. Amnesty appelliert an die Regierungen aller Länder, kein Kriegsgerät mehr an die Türkei zu liefern. Natürlich ist mir bekannt, daß die türkische Ministerpräsidentin Ciller und der Parlamentspräsident Cindoruk auf Grund wachsender Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei Reformen angekündigt haben. Ob und wie diese sogenannten Demokratisierungsprozesse tatsächlich auf den Weg gebracht werden sollen, bleibt allerdings abzuwarten. Der „Nationale Sicherheitsrat" bekräftigte jedenfalls nur wenige Tage später, daß er den Kampf gegen separatistische Bestrebungen weiter verstärken wolle. Anfang Februar diesen Jahres wurde die einzige Informationsquelle über die systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und den kurdischen Gebieten, „Özgür Ülke", verboten. Ermordete Journalistinnen und Journalisten, Folter, Gefängnisstrafen und Bombenanschläge pflasterten den Weg dieser prokurdischen Zeitung. Meine Damen und Herren, trotz alledem will die Bundesregierung planmäßig weiter Waffen in die Türkei liefern. Verteidigungsminister Rühe berichtete im Januar 1995 vor dem Verteidigungsausschuß, daß derzeit Rüstungsgüter im Wert von 52 Millionen DM geliefert werden. Darunter befinden sich 39 Bergpanzer, 70 Brückenlegepanzer, Ersatzteile für Kampfpanzer, Flugzeuge und anderes mehr. Es handelt sich hierbei um die erste Rate von noch offenen 118,7 Millionen DM aus dem Materialhilfeabkommen mit der Türkei. Insgesamt hat die Bundesregierung Waffen für 1,5 Milliarden DM zugesagt. Beispielsweise sollen auf Grund einer Zusage des Bundeskanzlers vom Sommer 1993 in diesem Jahr auch 150 Millionen DM zum Bau von Fregatten für die Türkei vom Bundestag bewilligt werden - ein lukrativer Auftrag für Thyssen, Rheinstahl und die Hamburger Werft Blohm & Voss, wie überhaupt die deutsche Rüstungsindustrie kräftig am Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung verdient. Etwa 700 deutsche Rüstungsbetriebe produzieren heute militärisches Material auf türkischem Boden. Der schmutzige Krieg in den kurdischen Gebieten hat 2 000 Dörfer zerstört, über 3 Millionen Menschen vertrieben und über 20 000 Menschen das Leben gekostet. Hören Sie, die Sie zu meiner Rechten sitzen, endlich auf, diesen Krieg weiter zu unterstützen und zu finanzieren! ({0}) Zu Recht schreibt der kurdische Bundesverband „Komkar": Mit über 70 Milliarden Dollar Auslandsverschuldung, mit über 150prozentiger Inflationsrate, mit einer Kriegsausgabe, die die Hälfte des Haushaltes ausmacht, kann der türkische Staat diesen schmutzigen Krieg nicht mehr finanzieren. Nehmen Sie endlich solche Menschen in der Türkei ernst wie den Sprecher des mächtigen Arbeitgeberverbandes „Tüsiad" und Vorsitzenden der neugegründeten türkischen Partei „Bewegung für neue Demokratie", Cern Boyner, der mir übrigens ansonsten politisch nicht besonders nahesteht. Im Rahmen eines Auftritts in Diyarbakir sagte er: Die Politik der Leugnung der kurdischen Identität ist am Ende. Die Türkei muß beginnen, über die kurdische Frage zu reden. Zur Zeit reden wir mit Waffen. In einem heutigen „taz"-Interview mit Boyner ist zu lesen, man habe es „sich zur Angewohnheit gemacht, die kurdische Frage nur unter dem PKK-Gesichtspunkt zu sehen. Diese fehlerhafte Optik bringt falsche Reflexe hervor." Der Ausnahmezustand müsse seiner Ansicht nach aufgehoben werden, die paramilitärischen Dorfschützer, die vom Staat für den Kampf gegen die PKK bezahlt würden, müßten abgeschafft werden, und den Kurden müsse man das volle Organisationsrecht einräumen. Das denke ich auch. Nehmen Sie endlich wahr, daß mehr als 20 kurdische Organisationen und Parteien - einschließlich der PKK - die türkische Regierung wiederholt zu Friedensverhandlungen aufgerufen haben. Setzen Sie sich endlich für einen Dialog ein. Die einseitige und parteiliche Politik, die die Bundesregierung in den vergangenen Jahren betrieben hat und noch betreibt, wird den Konflikt nur weiter verschärfen. Nur Friedensverhandlungen können den unmenschlichen Krieg beenden. Danke. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Anlaß für die heutige Debatte am späten Abend, der Antrag der PDS auf Drucksache 13/212, wird den Problemstellungen in der Türkei in keiner Weise gerecht. ({0}) Allenfalls bietet er die Gelegenheit, in den parlamentarischen Dialog über die Zukunft unserer Beziehungen zur Türkei einzutreten. Bahri Yilmaz, vielen in diesem Hause bekannter Professor an der Universität in Ankara, hat jüngst in einer Analyse vier besonders wichtige Themen als bestimmend für die Zukunft der türkischen Innen- und Außenpolitik bezeichnet. Dies seien zum einen die Beziehungen zur EU, die Krise der türkischen Wirtschaft, die wachsende Stärkung der islamistischen Bewegung und der Terror der PKK. Wenn man den Begriff des Terrors der PKK um die Frage nach der Lösung des Kurdenkonflikts erweitert, so ist diese Aufzählung wohl vollständig und zutreffend. Angesichts dieser vier Krisen ist auf jeden Fall eine Antwort der Europäischen Union nicht weiterführend: die Antwort der Isolation, die Antwort des Bannstrahls auf dieses Land. Wenn ich das sage, knüpfe ich nicht an historische Sentimentalitäten an, als die mancher die traditionell guten deutsch-türkischen Beziehungen ansehen könnte. Ich knüpfe auch nicht nur an die sicherheitspolitische Flankenfunktion an, die die Türkei lange Jahrzehnte im Rahmen des NATO-Verbundes gespielt hat. Ich knüpfe an zweierlei Fragen an, die wichtig sind. Erstens. Wie und auf welche Weise können die Lebensumstände aller in der Türkei wohnenden Menschen verbessert werden, wie kann insbesondere der Konflikt mit den Kurden gelöst und damit verhindert werden, daß die Türkei an diesem Dauerproblem innerlich zerfällt und sich selbst destabilisiert bzw. sich aus der Partnerschaft mit Europa ausgrenzt? Zweitens. Wie können wir Europäer unseren Interessen am besten gegenüber und mit der Türkei dienen? Lassen Sie mich zur ersten Frage kommen. Es besteht überhaupt kein Zweifel, daß es Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gibt. Es besteht auch kein Zweifel, daß wir diese Menschenrechtsverletzungen in keiner Weise billigen können. Das betrifft Einschränkungen der Pressefreiheit genauso wie Drangsalierungen von demokratisch gewählten Abgeordneten oder Folter. Es ist drittens unbestritten, daß die Ansicht, der Kurdenkonflikt lasse sich mit militärischen Mitteln, etwa nach dem System Grosny, lösen, hier so falsch ist wie in Tschetschenien. Nach den Prinzipien der OSZE und des Europarats - beides Organisationen, denen die Türkei angehört - muß die Autonomie der Kurden in der Türkei sichergestellt werden. Das ist kein Gnadenakt, sondern ein Anspruch. Repression kann dieses Problem nicht lösen. Repression wird den Konflikt, so befürchte ich, internationalisieren. Wir haben in Deutschland schon einen Vorgeschmack darauf erhalten. Hierzu noch eine Bemerkung: Ich bestreite, daß die Minderheit gewalttätiger Kurden, die bei uns Autobahnen blockieren, Gebäude besetzen und Gewalt gegen Menschen ausüben, für die Mehrheit der friedliebenden kurdischen Mitbürger in Deutschland sprechen kann. ({1}) Hier ist noch eine weitere Bemerkung zu machen: Frau Jelpke, Herr Gysi und Genossen behaupten in der Begründung ihres Antrags, daß die PKK eine Befreiungsbewegung sei, die die Interessen eines in jeder Hinsicht unterdrückten Volkes vertrete. Selbst wenn man - was ich auch bestreite - die PKK nach den theoretischen Rastern als Freiheitsbewegung ansehen könnte, genügt für uns die Außerung hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland, die von der PKK bzw. ihrem politischen Arm als „Staatsfeind Nr. 2" bezeichnet wird, um sie ganz explizit als in der Praxis - wir wissen das auch durch ihre Taten - terroristisch zu definieren. Im übrigen schadet diese kommunistische PKK - Arbeiterpartei ist mit Sicherheit nicht das richtige Wort; Kommunisten haben immer nur vorgegeben, für die Arbeiter dazusein, sie haben sie aber immer mißbraucht - den Interessen der kurdischen Bürger in der Türkei ganz entschieden. Sie gefährden in Deutschland die innere Sicherheit - ich nenne nur Christian Schmidt ({2}) das Wort „Schutzgelderpressung" - und terrorisieren in den von ihnen beherrschten Gebieten die Bevölkerung, der keine Wahl bleibt, ob sie kämpfen will oder nicht. Nicht nur Programmatik, sondern auch Fakten machen diese Organisation zur einer terroristischen Vereinigung. Unsere Aufgabe muß es sein, die Entscheidungsträger in der Türkei für die Überzeugung zu gewinnen, daß sie mit anderen Mitteln als dem Ausradieren ganzer Dörfer den Wurzeln des Konflikts beikommen können und müssen. Ich weise auf den Satz des oben zitierten Professors Yilmaz hin, der an uns im Westen den Hinweis richtet, daß unsere Meinung, eine politische Lösung sei der einzige Weg - wir haben uns angewöhnt, das zu sagen -, die Tatsachen nicht ganz realitätsgetreu wiedergebe. Er führt aus und begründet, daß das Hauptproblem des betroffenen Gebietes überwiegend wirtschaftlicher und struktureller Art ist. Hohe Bevölkerungszuwächse, hohe Arbeitslosigkeit, feudalistische soziokulturelle Verhältnisse und Ausfälle in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Region durch den abgebrochenen Verkehr zwischen der Türkei und dem Irak bzw. der Golfregion sind für ihn wesentliche Faktoren, bei denen Änderungen ansetzen können und müssen. Ich stimme ihm zu. Dies wird sicherlich nicht in kurzen Zeiträumen zu bewerkstelligen sein. Dennoch muß dieser Weg versucht werden. Wie anders als mit einer engen wirtschaftlichen Kooperation mit der Türkei soll dies geschehen? So richtig es war, die Militärhilfe volumenmäßig zu reduzieren bzw. bis auf einzelne Projekte auslaufen zu lassen, so richtig ist es, daß sich die Europäische Union der wirtschaftlichen Situation in der Türkei annimmt. Die Wirtschaftskrise in der Türkei mit einer Inflationsrate von über 125 % gibt nicht nur dem Konflikt in Südostanatolien Nahrung. Sie läßt auch ein Anwachsen des religiös orientierten islamischen Fundamentalismus befürchten. Damit bin ich bei der zweiten Frage, nämlich der nach unserer Interessenlage. Die Türkei als laizistisch ausgerichteter westlicher Staat, fest in der kemalistischen Tradition stehend, hat trotz mancher nicht realisierter hochfliegender Vorstellungen in den letzten Jahren - ich erinnere an die Schwarzmeerkonferenz, an die Bindung der Turk-Völker an die Türkei - nach wie vor eine Schlüsselstellung gegenüber den kaukasischen und zentralasiatischen Republiken. Sicherlich ist nicht alles auf die Frage Teheran oder Ankara zu reduzieren. Dennoch wird gerade an diesen beiden Städtenamen deutlich, wie wichtig es ist, daß wir die Türkei nicht aus dem westlichen Verbund und aus der westlichen Orientierung herausgleiten lassen. ({3}) Oder kann sich jemand vorstellen, daß unter einer fundamentalistisch-islamistischen Staatsausrichtung die Menschenrechte in der Türkei besser geschützt wären, als sie es gegenwärtig sind? Es wird weder den Menschenrechten in der Türkei noch gar der Stabilität der Region und der Stabilität ganz Europas guttun, wenn der Fundamentalismus Nährboden in der Türkei findet. Die Türkei hat für uns zentrale strategische Bedeutung. Das meine ich nicht nur sicherheitspolitisch, sondern eben weit darüber hinausgehend. Ein Abgleiten wird nicht geschehen, wenn wir uns ernsthaft um eine wirtschaftliche Integration in die Europäische Union bemühen. Hier liegt eine Bringschuld der Europäer vor. Wir müssen gerade heute auch einen Appell an unsere griechischen EU-Partner richten, die Zollunion mit der Türkei nicht aufs neue zu blockieren. Hier wird mit dem Feuer gespielt, und hier ist Solidarität zwischen den europäischen EU-Partnern dringend notwendig. Wir können der Türkei den Weg in eine Integration, die ihr angemessen ist, den Weg in die Europäische Union hinein oder an sie heran nicht verwehren. Wir würden dabei unseren eigenen Interessen widersprechen. Gerade wenn die entscheidenden Schritte gegenwärtig getan worden sind, wenn das Eis in London gebrochen worden ist, ist es fatal, wenn wir via Athen andere Signale nach Ankara schicken würden und müßten. Wir dürfen die Brücken zur Türkei nicht abbrechen, sondern müssen gemeinsam mit den Türken nach Wegen für eine Verbesserung der Lage suchen. Das heißt, daß wir auch in Zukunft den Dialog fortsetzen werden und die Türkei auf einem schwierigen, aber sicher letztendlich erfolgreichen Weg zu einem verläßlichen Partner Europas, wie sie es bisher gewesen ist, machen werden. Ich bedanke mich. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun dem Kollegen Rudolf Bindig das Wort.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die andauernden schweren Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und die notwendigen Folgerungen daraus für unsere Türkeipolitik haben wir hier wiederholt beraten. Vor knapp einem Jahr haben wir in einer gemeinsamen Entschließung zur Eskalation der Gewalt in Südostanatolien, also den Kurdengebieten in der Türkei, Stellung bezogen. Wir haben erklärt, daß wir die Politik der türkischen Regierung für aussichtslos halten, die PKK ausschließlich mit militärischer Gewalt bezwingen zu wollen, und wir haben die terroristischen Gewaltakte der PKK gegen Türken und Kurden, gegen Touristen sowie gegen türkische und deutsche Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland verurteilt. Wir haben die gemeinsame Ansicht vertreten, daß eine Eskalation der Gewalt das Problem nicht lösen kann, und die Überzeugung geäußert, daß die Ursachen der Gewalt in der seit Jahren ungelösten Kurdenfrage liegen. Schließlich haben wir die türkische Große Nationalversammlung und die türkische Regierung dringend aufgefordert, unverzüglich einen konstruktiven Dialog mit allen demokratischen Kurdenorganisationen aufzunehmen, die für eine friedliche Erlangung der legitimen Rechte der Kurden eintreten. All dies gilt es heute zu bekräftigen. Aber wir müssen feststellen, daß nichts davon geschieht. Statt dessen verschärft sich die Lage in der Türkei weiter. Kriegerische Gewaltakte gegen Zivilpersonen in den von Kurden bewohnten Gebieten der Türkei, Folter, politische Morde und das „Verschwindenlassen" von Zivilisten nehmen zu. Obwohl vielfältig belegt worden ist, daß die Sicherheitskräfte der Türkei schwerste Menschenrechtsverletzungen begehen, leugnet die türkische Regierung die Tatsachen. Das UN-Komitee gegen Folter hat die Existenz systematischer Folter in der Türkei durch türkische Sicherheitskräfte ebenso festgestellt wie das europäische Komitee zum Schutz vor Folter. In diesen Tagen wurden erneut zwei Berichte mit erschütterndem Inhalt vorgelegt: Der Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission zum Schutz vor Folter wirft der Türkei ein langes Sündenregister vor. Gefoltert werde insbesondere in Istanbul, Ankara und im Südosten des Landes. Oft würden Gefangene mißhandelt, die auf Grund der AntiTerror-Gesetze festgenommen worden seien. Die Foltermethoden in der Türkei hinterließen keine oder nur wenig Spuren, so das Abspritzen mit kaltem Wasser, das Aufhängen an den Armen, Elektroschocks, Todesdrohungen, sexueller Mißbrauch und Nahrungsentzug. Der aktuelle Bericht von Amnesty International macht die dramatische Verschlechterung der Menschenrechtssituation in der Türkei an einigen Zahlen deutlich: Mit 55 Menschen hat sich 1994 die Zahl der Verschwundenen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Fast 400 Menschen sind demnach politischen Morden zum Opfer gefallen, bei denen zumindest der Verdacht auf eine Mittäterschaft der Sicherheitskräfte besteht. 29 Menschen sind in der Haft an den Folgen von Folter gestorben. Der AI-Bericht belegt auch die Opfer von Terrorakten der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die durch politische Morde an zahlreichen Zivilisten die Lage ständig verschärft. Bis Ende Oktober 1994 zählte AI 167 solcher Morde der PKK. Neueste Zusagen der PKK, sich an die Genfer Konvention zum Schutz von Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen zu halten, wurden laut Amnesty International nicht eingehalten und seien als Lippenbekenntnisse zu werten. Der Versuch der PDS in der Begründung ihres Antrags, die PKK als Befreiungsbewegung zu verharmlosen, welche die Interessen eines in jeder Hinsicht unterdrückten Volkes vertritt, ist deutlich zurückzuweisen. ({0}) Die PKK schadet mit ihren Gewaltakten der kurdischen Bevölkerung und stärkt diejenigen politischen Kräfte in der Türkei, welche auf der Regierungsseite glauben, die Kurdenfrage mit Gewalt lösen zu können. Zwischen diesen beiden Fronten haben es die Kräfte schwer, die den politisch einzigen Weg friedlicher Lösungsansätze gehen wollen. Die Verhaftung und Verurteilung kurdischer Abgeordneter ist deshalb so verhängnisvoll, weil damit Ansätze unterdrückt werden, in der Türkei zu einem politischen Dialog über die Kurdenfrage zu kommen. ({1}) Die politische Lage in der Türkei wird noch dadurch erschwert, daß der laizistische Staat und seine politische Ordnung durch den vordringenden islamischen Fundamentalismus angegriffen und gefährdet werden. Der türkische Staat wird sich in seinem jetzigen Selbstverständnis und seinen Institutionen nur erfolgreich behaupten können, wenn er bei der Abwehr der ihn attackierenden Gefahren nicht die Grundsätze und Werte mißachtet, auf denen er aufgebaut ist. Ein pluralistischer und demokratischer Staat läßt sich nicht durch Folter, Verschwindenlassen und politische Morde verteidigen. ({2}) Terror der PKK und der vordringende Fundamentalismus rechtfertigen keine schweren Menschenrechtsverletzungen. Kein Staat muß foltern oder politisch morden. ({3}) Von Deutschland und von der Bundesregierung aus auf die türkische Regierung und die politischen Kräfte in der Türkei einzuwirken ist sicherlich schwierig. Auf keinen Fall aber dürfen falsche Signale gesetzt werden. Von der Bundesregierung kommen aber leider immer wieder solche falschen Signale. Die Bundesregierung ist offensichtlich nicht in der Lage, eine Türkeipolitik zu entwickeln, die außenpolitische und sicherheitspolitische Aspekte mit einer konsequenten Menschenrechtspolitik verbindet. ({4}) Da die Türkei ihre Politik nicht ändert, muß die Bundesregierung ihre bisherige Türkeipolitik ändern. ({5}) Statt dessen gießt die Bundesregierung Öl ins Feuer, wenn sie im großen Umfang Waffen an die Türkei liefert. ({6}) Ein Programm und eine Tranche eines Lieferprogrammes folgt der nächsten. Zunächst wurde die 18. Tranche der NATO-Verteidigungshilfe 1992 bis 1994 abgewickelt. Es folgen die Materialhilfen im Rahmen des 1,5 Milliarden DM-Programmes und die Lieferungen der Rüstungssonderhilfe II. Die zu ganz anderen Zeiten und ganz anderen Zwecken zugesagten Lieferungen hätten bei der zunehmenden Gewalt in der Türkei und den schweren Menschenrechtsverletzungen nicht fortgeführt werden dürfen. ({7}) Aber selbst die Zusagen, nach der Abwicklung der vertraglich vereinbarten Lieferungen die verschiedenen Waffenlieferungsprogramme einzustellen, werden nun nicht eingehalten. Für die Lieferung der sogenannten MEKO-Fregatten sollen Finanzierungshilfen von über 150 Millionen DM gewährt werden. Der Bundeskanzler selbst hat der türkischen Ministerpräsidentin im September 1993 die Zusage dafür gegeben. Hier wird ein Biedermann zum Brandstifter. ({8}) Der Betrag von 150 Millionen DM entspricht in etwa der Summe, die in zwei Jahren für humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt etatisiert wird. Die finanziell total unterversorgten Menschenrechtsinstitutionen der OSZE oder der Vereinten Nationen können nur davon träumen, einmal mit vergleichbaren Mitteln ausgestattet zu werden. ({9}) Auch für die Türkei wären die 150 Millionen DM in anderen Bereichen gut anzulegen. Wir Sozialdemokraten setzen uns dafür ein, diese und weitere Beträge in der Türkei für zivile Projekte zu verwenden, z. B. für den Ausbau der Infrastruktur in der Osttürkei. ({10}) Mit einem Teilbetrag könnten die Menschenrechtsorganisationen in der Türkei gestärkt und unterstützt werden. Wir sind für eine Beendigung der militärischen Hilfe für die Türkei, treten aber für eine soziale, menschenrechtliche und gezielte wirtschaftliche Hilfe der Bundesrepublik Deutschland an die Türkei ein. Wir wollen die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei fördern und dort Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unterstützen. Ein Totalboykott ist dafür genauso falsch, wie es die ständigen Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei sind. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich noch einmal das Wort an Frau Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Schmidt, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie offensichtlich die Begründung des Antrages nicht ganz richtig gelesen haben. Es wird darin aus einem Gutachten interpretiert, das Norman Paech von der Universität Hamburg erstellt hat zu den völkerrechtlichen Implikationen der Verbotsverfügung des Bundesministeriums des Innern gegenüber kurdischen Vereinen und Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland. Ich denke, es ist legitim, daß vorhin der Satz gesagt wurde, daß die PKK, würden in der Türkei heute Wahlen stattfinden, einen hohen Stimmenanteil in der kurdischen Bevölkerung erhalten würde. Das haben auch bürgerliche Institute erforscht, das will man hier nur nicht zur Kenntnis nehmen. Ich persönlich möchte Ihnen noch einmal ganz klar sagen: Ich bin sicher, daß kein Krieg auf der Welt menschlich verläuft und daß von beiden Seiten Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Das ist für mich überhaupt keine Frage. Die Frage ist, wie wir mit den Dingen umgehen. Fakt ist - Sie haben eben gerade davon gesprochen -: Es gibt etwa 179 Tote seitens der PKK; das ist zweifellos zu bedauern. Wir haben es aber mit 20 000 Toten in diesem Gebiet zu tun. Da muß man einfach klarstellen, daß die meisten Menschen dort von den türkischen Militär- und Sicherheitskräften ermordet werden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Schmidt, Sie haben die Möglichkeit darauf zu antworten. - Das möchten Sie nicht. Dann erteile ich der Kollegin Angelika Beer das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit zwei Beispielen anfangen. Der türkische Schriftsteller Yasar Kemal hat vor kurzem dem „Spiegel" ein Interview gegeben, in dem er sowohl die türkische als auch die deutsche Politik kritisiert hat. Gegen Yasar Kemal läuft heute ein Verfahren mit dem Vorwurf des Separatismus. Ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe. Ich füge ein Zitat an: Und während ich mit Ihnen spreche, - nämlich mit dem „Stern", in dem es heute abgedruckt ist ertappe ich mich dabei, daß ich darüber nachdenke, was mir in der Türkei nach Veröffentlichung dieses Gesprächs passieren wird. Diese Situation ist durchaus vergleichbar mit jener in der NaziZeit, wo sich Deutsche, die im Ausland die regimetreue Justiz angeprangert haben, in Todesgefahr begaben. Etwa hundert Schriftsteller und Journalisten sind derzeit wegen „staatsfeindlicher Aktivität" in türkischen Gefängnissen. Dieses Zitat ist ebenfalls von einem türkischen Schriftsteller, der sich im „Stern" geäußert hat. Es ist Aziz Nesin. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist an der Zeit, den immer wieder im Bundestag geführten Debatten mehr als nur eine Resolution wie im Dezember folgen zu lassen und endlich zu Taten zu kommen. ({0}) Der Deutsche Bundestag hat sich zu Recht über das Urteil gegen demokratisch gewählte kurdische Abgeordnete empört, die bis zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden sind und in Haft sitzen. Wir haben hier einen vorläufigen Abschiebestopp beschlossen. Ich frage Sie: Was machen wir danach? Wir haben diesen ersten Schritt positiv bewertet, wir haben ihn unterstützt. Aber wir bestehen darauf, daß wir uns als Parlament nicht darauf beschränken können, nur aus Empörung über die Verurteilung von Abgeordneten, von ehemaligen Kollegen Maßnahmen zu ergreifen. Vielmehr müssen wir das Ausmaß von Folter, Vernichtung, Vertreibung und Zerstörung, also von Krieg - ich glaube, man muß sagen: Krieg der türkischen Regierung sowie der Militärs gegen die kurdische Bevölkerung, und jeder Krieg ist schmutzig -, benennen und der daraus auch für uns erwachsenen Verantwortung - Kollege Bindig hat gerade gesagt, worin sie besteht - gerecht werden. ({1}) Ich zitiere noch einmal: Für 10 Provinzen der Südosttürkei ist der bisherige Ausnahmezustand ausgedehnt und der Notstand ausgerufen worden. Das Notstandsgesetz enthält die Ermächtigung, zur „Evakuierung bzw. Umsiedlung der Einwohner bestimmter Ortschaften". Hierbei kommt es - wie bei sonstigen großangelegten Aktionen der Sicherheitskräfte im Südosten zu Übergriffen gegenüber Zivilpersonen, wenn diese verdächtig sind, mit der PKK zusammenzuarbeiten... Bisher wurden rund 1 300 Dörfer evakuiert und teilweise oder ganz zerstört. Die Zahl der Dörfer im Notstandsgebiet wird mit insgesamt 12 000 angegeben. Liebe Kolleginnen, das ist nicht irgendeine antitürkische Propaganda, sondern das stammt aus dem nicht veröffentlichten Lagebericht des Auswärtigen Amts. Das heißt, die Bundesregierung weiß genau um die Situation, über die wir heute abend reden. ({2}) Wie reagieren verantwortliche deutsche Politiker? Am 25. Januar erklärt Herr Dr. Beckstein im Bayerischen Landtag, dieser neue Lagebericht bestätige seine Auffassung, daß ein genereller Abschiebestopp nicht notwendig sei. Im Fall Simsek mußte das Bundesverwaltungsgericht einschreiten, um die Abschiebewut Becksteins zu bremsen. Der sächsische Innenminister Eggert versucht durch plumpe Lügen und falsche Darstellungen von Äußerungen von Menschenrechtsvereinsmitgliedern, die Voraussetzungen für weitere Abschiebungen zu schaffen. Liebe Kollegen, ich befürchte, daß nach der Landtagswahl in Hessen Dr. Kanther als Innenminister wieder die Federführung in diesem Trio übernehmen wird und nach den Gesprächen mit dem Geheimdienstchef aus der Türkei, der kürzlich hier zu Besuch war, dafür sorgen wird, daß ein Abschiebevertrag abgeschlossen wird, der möglicherweise genau dann, wenn wir nicht hier sind, nämlich in den folgenden zwei Sitzungswochen und zum Ende des Abschiebestopps am 28. Februar, dazu führt, daß es tatsächlich zu Massenabschiebungen, d. h. Beihilfe zum Mord, kommt. ({3}) Ein Vertrag mit einem Staat, Herr Kollege Irmer, der sämtliche völkerrechtlichen Verträge, die er unterzeichnet hat, gebrochen hat - ich frage Sie: was ist der eigentlich wert? Was ist ein Vertrag wert, wenn Mehdi Zana wegen seiner Rede vor dem Unterausschuß des Europäischen Parlaments zu vier Jahren verurteilt worden ist und jetzt im Gefängnis sitzt? Mit wem wollen Sie eigentlich Verträge abschließen? Wie kommen Sie dazu, mit dieser Türkei, wenn sie nicht nachweislich ihre Zusagen tatsächlich in die Praxis umsetzt, einen Vertrag zu schließen? Wie können Sie sich da schuldig machen und überhaupt noch an einen Vertrag denken? Das ist menschenverachtend! ({4}) Verehrte Kollegen, es geht nicht um die Frage des Einsatzes deutscher Waffen in der Türkei - es ist schlimm genug, daß dies geschieht -, sondern es geht darum, daß die Türkei und das Militär Waffen gegen die Zivilbevölkerung unter dem Vorwand der PKK-Bekämpfung einsetzen. 500 000 schwer bewaffnete Soldaten, auch mit deutschen Waffen ausgerüstet, gegen eine Gruppe von Terroristen - das ist überhaupt kein Verhältnis. Das ist Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. ({5}) Wir beantragen, die Wirtschaftshilfe zu streichen, weil wir wissen - das wird von Instituten bestätigt -, daß die Türkei nicht mehr in der Lage ist, diesen Krieg aus eigener Kraft zu finanzieren. Wir lassen uns nicht vorwerfen, daß wir die Türkei isolieren wollten. Wir haben uns in unserem Antrag für einen Vollzug der Zollunion ausgesprochen, wenn die Türkei nachweisbar den Standard an Menschenrechten einhält. Herr Schäfer, zum Schluß möchte ich Sie heute, am 16. Februar, auffordern - deswegen haben wir au! dieser Debatte heute abend bestanden -, zu berichten, welche Waffensysteme die Türkei bis zum 15. Februar für die 118 Millionen DM denn noch angefordert hat und wie lange diese Lieferungen noch laufen. Sie können hier nicht selbstgefällig sagen, es sei ja nun alles gestoppt. Jede einzelne Waffe, die in den letzten Jahren geliefert worden ist, und jede, die auf Grund deutscher Vertragstreue jetzt noch in diesen Krieg geschickt wird, wird weiter mitmorden. Das ist zu verurteilen; das ist gerade heute abend zu verurteilen. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, daß dieser Abschiebestopp - wir dürfen ihn heute abend nicht vergessen - unbegrenzt verlängert wird. Das betrifft auch diejenigen, die sich hier zu Protesten entschlossen haben; denn Abschiebung bedeutet im Moment Mord und Folter. Ich möchte, daß wir die letzte Glaubwürdigkeit des Parlaments, die durch die Praxis der Bundesregierung, Waffen zu liefern, unterhöhlt wird, nicht preisgeben und darauf bestehen, daß dieser Abschiebestopp fortgesetzt wird. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Abgeordnete Beer, ich wollte Sie während Ihrer Rede nicht unterbrechen. Sie haben dieser Regierung vorgeworfen, daß sie beabsichtige, einen Vertrag zu schließen, der Beihilfe zum Massenmord sei. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf. ({0}) Das Wort hat der Kollege Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon schrecklich, wenn man das hört! Als wenn die Welt so einfach wäre, wie das hier dargestellt wird! Da sind die PKK-Terroristen die armen Verfolgten. Und die Türkei ist ein blutrünstiger Kriegstreiber, ein Ausrotter von Menschenleben und ein schonungsloser Unterdrücker von Menschenrechten. Niemand will das beschönigen, was in der Türkei geschieht. Ganz im Gegenteil. Wir sind um so beunruhigter darüber, daß sich dies auch nicht geändert, nicht verbessert hat, in der letzten Zeit vielmehr umgekehrt, viel schlimmer geworden ist. Wir sind darüber um so fassungsloser, als es sich bei der Türkei nicht um irgendein Land irgendwo auf der Welt handelt, sondern um ein Land, das unseren Organisationen angehört: der OSZE, dem Europarat, der NATO. Dies sind alles Organisationen, die wir auch mit bestimmten Wertvorstellungen verbinden und wo man von allen Mitgliedern erwarten sollte, daß sie diesen Wertvorstellungen nicht nur verbal entsprechen, sondern sich auch in ihrem Verhalten für die Durchsetzung dieser Wertvorstellungen einsetzen. All das ist in der Türkei ohne Zweifel nicht der Fall. Nur, so einfach ist es auch nicht. Wer da sagt: streichen wir für die Türkei die Wirtschaftshilfe und brechen wir die Beziehungen ab, trägt natürlich dazu bei, daß die Türkei erst recht ins Chaos gestürzt wird, daß sich dort die islamistischen Radikalen durchsetzen, sich mit der PKK verbünden, den Staat übernehmen und sich dann auch gegen uns richten. Da könnte man mir jetzt vorwerfen, daß das ein egoistischer Standpunkt sei, aber wir müssen schließlich auch überlegen, daß uns das ganze betrifft, sonst könnte es uns egal sein. Das heißt, ein derartiger Umsturz in der Türkei würde einen zusätzlichen Brandherd von ungeahnten Ausmaßen an den Rand Europas setzen. Ich möchte nicht wissen, wie wir darauf reagieren wollten. ({0}) Wir sollten uns jedoch einmal ernsthaft fragen, was wir denn tun können. Über die Waffenlieferungen kann man geteilter Meinung sein. ({1}) - Nein, warten Sie einmal. Wenn hier behauptet wird, die Fregatten würden eingesetzt, um Menschenleben zu vernichten, speziell in Südostanatolien, dann ist das schlichter Unsinn. Halten Sie diese Debatte von solchen Punkten fern! Aber ich sage, bei anderen Waffenlieferungen kann man ernsthaft darüber diskutieren, ob die Bundesregierung nicht hier ihre Position überprüfen und auch ändern sollte. Darüber kann man gegebenenfalls seriös sprechen. Darüber kann man sich unter unterschiedlichen Aspekten auseinandersetzen. Vergessen Sie nicht, daß die Türkei erstens ein NATO-Verbündeter ist und von daher zumindest einen Anspruch auf waffentechnische Zusammenarbeit hat. Zweitens sind die Behauptungen, die immer aufgestellt worden sind, Waffen, die aus Deutschland geliefert wurden, seien gegen Kurden in Südostanatolien eingesetzt worden, nie bewiesen worden. Dies sind Behauptungen, die mit großem Getöse aufgestellt wurden. Es gibt nicht den Hauch eines Beweises. ({2}) Ich möchte dazusagen: Es kommt nicht darauf an, mit welchen Waffen gegen die Kurden vorgegangen wurde, ob die aus Deutschland kommen oder woher sie kommen. Es ist in jedem Fall schlimm genug. Jetzt frage ich einmal, ob wir nicht außer Bekundungen unserer Entrüstung über das, was dort vorfällt, und über unsinnige Vorschläge wie den Stopp der wirtschaftlichen Beziehungen hinaus Hilfe anbieten könnten. Ich habe den Eindruck - da haben Sie auch nicht die Wahrheit gesagt -, daß sich die türkische Regierung der Probleme sehr wohl bewußt ist, daß sie wohl genau weiß, mit welch immensen Schwierigkeiten sie hier zu tun hat und daß sie sich ihren Weg nach Europa durch diese Vorgänge selber verbaut. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß die Türkei eines Tages Mitglied der Europäischen Union wird. Ganz im Gegenteil, ich bin der Meinung, wir sollten diese Möglichkeit offenhalten - natürlich unter bestimmten Voraussetzungen. Aber die Türkei kann auf Dauer nur stabilisiert werden, wenn wir ihre vernünftige Anbindung an Europa und an das erreichen, wofür Europa steht. Ich frage jetzt einmal ganz konkret, und zwar richten sich diese Fragen an die türkische Regierung: Erstens. Warum sind Sie bisher nicht bereit gewesen, folgende Hilfestellungen von uns anzunehmen, die wir Ihnen geben könnten, gerade weil wir Ihre Probleme verstehen? Warum sind Sie nicht bereit, Ihre Sicherheitskräfte, Polizei, Gefängnispersonal und dergleichen in Menschenrechtshandhabung schulen zu lassen? Das gibt es nämlich. Vielfach aber ist es so, daß dies die Regierung gar nicht will. Im Gegenteil, die Regierung läßt Folterer aus Gefängnissen und solche, denen nachgewiesen wird, daß sie Menschenrechte verletzt haben, verfolgen. Die Praxis ist eine andere. Vergessen Sie nicht: Die Türkei liegt nicht nur in Europa, sondern an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, mit z. T. ganz anderen kulturellen Traditionen. Es ist gar nicht so einfach, da das Foltern in den Gefängnissen par ordre du mufti zu unterbinden. Dazu gehörte vielmehr, daß das Personal, das in den Gefängnissen Dienst tut, in Menschenrechtsfragen geschult wird. Zweitens. Ich möchte von der türkischen Regierung wissen: Warum akzeptieren Sie nicht unsere Angebote, daß wir das, was sich in der Bundeswehr als innere Führung bewährt hat, auch Ihrem eigenen Militär in der Türkei angedeihen lassen? Warum finden keine ständigen Beratungen über die Einführung der Prinzipien der inneren Führung in die türkischen Streitkräfte statt? Drittens. Warum wenden Sie sich in der Türkei in Sachen Terrorismusbekämpfung nicht an die Länder, die hier erhebliche Erfahrungen aufzuweisen haben? Dazu gehören die Bundesrepublik Deutschland, aber auch Spanien und Italien. Es wäre vernünftig, wenn man in einem großangelegten Hilfspaket der Türkei in dieser Beziehung helfen würde. Wir sind jederzeit dazu bereit; alle Mitglieder dieses Hauses sollten das sein. Die Türkei muß dieses Angebot nur annehmen. Dann könnte sie vielleicht einen Beitrag leisten, um diese schrecklichen Probleme, mit denen wir es zu tun haben, in den Griff zu bekommen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat die Abgeordnete Leyla Onur.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich glaube, die Wortbeiträge, die wir eben gehört haben, machen deutlich, daß eine erneute umfassende Debatte über die Situation in der Türkei in diesem Hause notwendig ist. ({0}) Die Debatte, die im April 1994 hier geführt worden ist und sich in 14 Forderungen niedergeschlagen hat, im wesentlichen von der SPD-Fraktion initiiert - sie haben aber dennoch eine Mehrheit gefunden -, ist fortzusetzen. Die Forderungen gelten nach wie vor, müßten allerdings um einige Punkte ergänzt werden. Andere Punkte, die sich inzwischen aus Zeitgründen überholt haben, müßten daraus gestrichen werden. Es bleibt bei der Tatsache, daß wir nach wie vor keine wesentlichen Verbesserungen bezüglich der Menschenrechte und der demokratischen Entwicklung in der Türkei feststellen können. Im Gegenteil, der Bericht von Amnesty zeigt auf, daß gerade im Bereich der Menschenrechtsverletzungen eher eine Verschärfung eingetreten ist denn eine Verbesserung. Ich habe eben gesagt: „keine wesentlichen Verbesserungen". Ich habe das ganz bewußt gesagt, weil ich der Auffassung bin, daß man auch die kleinsten, noch so zarten Pflänzchen, die da langsam aus dem Boden hervorkommen und sich eventuell weiterentwickeln könnten, nicht zertreten, sondern begießen sollte. Ich meine damit die Bemühungen einiger Kräfte in der türkischen Großen Nationalversammlung, nun endlich die Diskussion über die Verfassungsänderungen ernsthaft zu führen. Jede Partei in der Großen Nationalversammlung hat seit der letzten Wahl behauptet, die Verfassung ändern zu wollen. Nur, alle hatten völlig verschiedene Vorstellungen darüber, wie die Verfassungsänderungen aussehen sollten. Nun scheint sich eine Mehrheit abzuzeichnen, die die ersten vorsichtigen Schritte hin zu einer Veränderung der Verfassung einleiten, die noch immer ganz deutlich die Handschrift der Militärdiktatur trägt. Weil dies eine Verfassung ist, die von der Militärdiktatur gemacht wurde, und weil diese Verfassung in allen Bereichen ein Hindernis für eine Entwicklung darstellt, muß zuerst diese Verfassung geändert werden. So behutsam diese ersten Schritte auch sein mögen, die jetzt eingeleitet werden, so sollten wir sie doch mit allen Kräften unterstützen. ({1}) Denn die anderen, die dies nicht wollen - Teile des Militärs, insbesondere die reaktionären und konservativen Kräfte in der Türkei -, wollen um jeden Preis eine Verfassungsänderung verhindern, um ihre böse, menschenunwürdige Politik fortsetzen zu können. Das wollen wir nicht. ({2}) Wir müssen ebenfalls sehr behutsam mit unserem Demokratieverständnis und dem, was in der Türkei, auch in der Bevölkerung, unter Demokratie verstanden wird, umgehen. Unsere Wertvorstellungen und unser Demokratieverständnis stellen eine hohe Meßlatte für den einzigen laizistischen demokratischen Staat in dieser Region dar. Wir sollten nicht vergessen, daß sich viele Staaten im Umfeld der Türkei, also in dieser Region, sozusagen an der Türkei - so defizitär ihre demokratische Situation aus unserer Sicht auch ist - orientieren und sie als ein Modell nehmen. Wir sollten deshalb Kräfte unterstützen, die es in der Türkei gibt - auch im türkischen Parlament -, die die türkische Demokratie im Sinne der westeuropäischen Demokratie weiterentwickeln wollen. ({3}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Die Situation in Südostanatolien ist hier ausreichend beschrieben worden. Ich war oft in Diyarbakir und in der Umgebung und habe mit Menschen gesprochen - mit Taxifahrern, mit der Frau auf dem Markt und mit Passanten -, die ich direkt angesprochen habe, was mir auf Grund meiner türkischen Sprachkenntnisse möglich ist. Das ist natürlich eine Hilfe, wenn man auf die Menschen zugehen will; denn dann kann man von ihnen sehr offen, ehrlich und ohne Abstriche erfahren, wie sie denn nun diese Situation wirklich empfinden. Ich habe von mehreren Besuchen in Südostanatolien mitgebracht, daß die kurdische Bevölkerung dort in Frieden und unter gerechten, sozialen und ökonomischen Bedingungen leben möchte. Die Menschen möchten, daß sie ihre Sprache sprechen können. Sie möchten sozusagen ihre Identität anerkannt bekommen. Sie möchten nicht aus dem türkischen Staatsverband ausscheiden. Sie möchten auch nicht zwischen den beiden Fronten zermahlen werden. Sie wollen Frieden. Genau diese Menschen müssen wir unterstützen. ({4}) Wir haben im letzten Jahr einen Antrag eingebracht, der dazu führen sollte, daß eine OSZE-Delegation nach Südostanatolien entstandt wird. Ich erinnere mich, daß zwar der Bundesaußenminister wohl unsere Auffassung geteilt hat, aber die Regierungsmehrheit sich dem nicht anschließen konnte. Es ist um so mehr zu begrüßen, daß der Präsident der türkischen Nationalversammlung, Herr Cindoruk, eine Parlamentarierdelegation - so muß ich ausdrücklich sagen - der OSZE unter Leitung des Kollegen Wimmer nach Südostanatolien eingeladen hat. ({5}) Die Delegation, der auch ein Vertreter des Auswärtigen Amtes angehören soll, wird Gespräche mit Regierungsvertretern und kurdischen Organisationen führen. Wir sollten das als einen ersten kleinen - sicherlich sehr kleinen - Schritt betrachten, um die starren Positionen aufzuweichen, um die Headliner zurückzuweisen und den notwendigen Dialog wieder in Gang zu bringen. Das ist mir ein ganz besonderes Anliegen; denn nur so können wir unsere Forderung durchsetzen, daß die Menschen aus dem Krieg über politische Lösungen endlich ihren Frieden bekommen, den sie erwarten und auch verlangen dürfen. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus aktuellem Anlaß möchte ich noch einige Sätze zu der bevorstehenden Zollunion sagen. Ich halte es in dieser sensiblen Phase für falsch, die Zollunion jetzt nicht fristgerecht auf den Weg zu bringen. Ich sage das auch auf Grund fünfjähriger Erfahrung als Mitglied des Gemischten Parlamentarischen Ausschusses EG-Türkei im Europäischen Parlament. Wir haben festgestellt, daß die Blockierung des 4. Finanzprotokolls, die Blockierung des Matutes-Pakets - Sie wissen, das war und ist immer noch ein Vorschlag der Kommission im Rahmen des Assoziationsvertrags -, verhindert, ein Paket von Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um eben all unseren gemeinsamen Forderungen bezüglich der Menschenrechte, der demokratischen Entwicklung, der sozialen und ökonomischen Entwicklung Nachdruck verleihen zu können und gezielt Hilfe - auch Wirtschaftshilfe - leisten zu können; denn auch das muß unser Petitum sein. Wenn wir jetzt zur Zollunion nein sagten, würde dieser gerade wiederaufgenommene Dialog abgebrochen. Die Fronten sind verhärtet, die Beziehungen sind eingefroren. Es gibt nichts Schlimmeres und Schwierigeres, wenn man gemeinsame Ziele verwirklichen will, als nicht mehr miteinander zu sprechen. Die Gespräche müssen im Interesse der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, aber insbesondere im Interesse der Menschen in der Türkei wiederaufgenommen werden. Ich bedanke mich. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Sie haben zwar schon im Europäischen Parlament gesprochen, hier heute aber zum erstenmal. Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses herzlich gratulieren. ({0}) Ich erteile dem Kollegen Thomas Kossendey das Wort.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, Sie haben Kollegin Onur auf Grund der Tatsache, daß sie hier zum erstenmal geredet hat, gerade gratuliert. Ich möchte ihr auch zu dem gratulieren, was und wie sie es gesagt hat. ({0}) Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß wir in ihrer Rede einen ersten Punkt gehabt haben, an dem wir sachlich anknüpfen und bei dem wir um Gemeinsamkeiten werben können. Die Probleme der Türkei, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind meines Erachtens zu vielschichtig, als daß man sie mit dem sehr einseitigen Antrag der PDS, der heute zur Diskussion vorliegt, einer Lösung zuführen könnte. ({1}) Wer von Deutschland aus, liebe Frau Beer, mit politischen Repressionen die Politik der Türkei in eine bestimmte Richtung lenken möchte, wird dort Gegendruck erzeugen und kaum dazu beitragen, die wirklich vorhandenen Probleme zu lösen. Die Irreführung in diesem Antrag der PDS - es ist schon ein paarmal darüber gesprochen worden - fängt schon damit an, daß Sie die PKK als „Arbeiterpartei" bezeichnen. Nun mag es sein, daß auf Grund der historischen Vergangenheit der PDS Arbeiterpartei und Terrorismus vielleicht zusammengehören. ({2}) Aber Sie sollten das dann hier nicht verdrängen. Wir müssen klarmachen - das hat der Amnesty-Bericht zum erstenmal sehr deutlich gemacht -, daß die PKK eine terroristische Organisation ist, die allein in den letzten Jahren über 150 Lehrer ermordet hat. Die Opfer des letzten Jahres sind im Amnesty-Bericht aufgezählt worden. Allerdings - das sage ich sehr deutlich - wissen wir auch: Das, was in der Türkei passiert, ist nicht Schuld der PKK allein. Wir wissen, daß die Armee überreagiert; wir wissen, daß die Armee der politischen Kontrolle entgleitet; und wir wissen, daß die Armee an vielem Leid und Elend der Menschen im Südosten des Landes schuld ist. Das müssen wir eingrenzen. Wir wissen auch, daß, was die Gerichtsverfahren und die strafprozessuale Ahndung von Straftaten angeht, die Behandlung durch die Polizei längst nicht so ist, wie wir uns das wünschen sollten. Die Verfahrensvorschriften sind so, daß sie der Polizei, wie wir hören, mehr Möglichkeiten zu Folter geben, als das nach europäischen Standards überhaupt vorstellbar ist. Wenn wir über Waffen gesprochen haben, die dabei gebraucht werden, und uns erregt haben, daß es deutsche sind: Für mich ist das vollkommen egal. Wir müssen den politisch Verantwortlichen in der Türkei klarmachen, daß man Probleme weder im Gefängnis mit Folter noch im Südosten mit Bomben und Jagdbombern regeln kann. Das Problem der Kurden im Südosten der Türkei wird einer politischen Lösung zuzuführen sein, oder es wird nicht gelöst werden. Es ist so, wie Frau Onur sagt - das wissen wir aus den Gesprächen, die wir geführt haben -: Die Menschen sind es mittlerweile satt, von der PKK, von der Armee oder von wem auch immer mit Gewalt überzogen zu werden. Diese Stimmung breitet sich aus und ist vielleicht auch für die Politiker im türkischen Parlament ein Hinweis darauf, daß es gut ist, mehr zu reagieren, als sie das in der Vergangenheit getan haben. Ich will Ihnen deswegen einige Punkte nennen, mit denen wir den türkischen Politikern vielleicht helfen könnten: Erstens. Ich fordere seit langem, auch von dieser Stelle, daß die Bundesregierung endlich eine neue Türkeipolitik formuliert. Deutschland hat ein elementares Interesse an einer innenpolitisch stabilen und einer außenpolitisch handlungsfähigen Türkei. Aber das, was wir dabei tun müssen - die kontinuierliche Entwicklung dieses Landes zu gewährleisten -, macht eine andere Politik nötig als die, die wir in der Vergangenheit gehabt haben. ({3}) Wir müssen den Wirtschaftsminister, wir müssen den Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, unseren Innenminister, den Außenminister und auch unseren Verteidigungsminister einmal an einen Tisch holen. Sie müssen sich so lange zusammensetzen, bis sie sich Gedanken gemacht haben, die wir der Öffentlichkeit, vielleicht auch in diesem Hause, präsentieren können. Zwischen diesen Ressorts muß der zukünftige Kurs erarbeitet werden. Allzulange haben wir in der Vergangenheit geglaubt, die deutsch-türkische Freundschaft mit Rüstungslieferungen als Schmiermittel erhalten zu können. Angesichts der Tatsache, daß wir seit 1963, seit es diese Rüstungshilfen gibt, für rund 7 Milliarden DM Rüstungsgüter in die Türkei geliefert haben, aber nur für rund 5,6 Milliarden DM allgemeine wirtschaftliche Hilfe gewährt haben, scheint mir das in einem krassen Mißverhältnis zu stehen. Ich bin froh, daß diese Rüstungslieferungen aufhören. Wer glaubt, Freundschaft nur auf Waffenlieferungen aufbauen zu können - eine Meinung, die übrigens im türkischen Parlament und von türkischen Politikern häufig vertreten wird -, der wird sehen, daß diese Freundschaft brüchig ist. Ich bin dankbar, daß wir uns darauf in Zukunft nicht mehr verlassen müssen. Ich hoffe also, daß alle Ministerien, die ich genannt habe, irgendwann im Laufe dieses Jahres ein abgestimmtes Konzept vorlegen - ein Konzept, das den wirklichen Problemen der Türkei gerecht wird. Diese bestehen im wesentlichen im wirtschaftlichen Bereich, aber auch im Demokratiedefizit. Zweitens. Wir müssen auch als Parlamentarier der Türkei Hilfe geben und den türkischen Kollegen unsere Hilfe anbieten. Denn Frau Onur hat zu Recht darauf hingewiesen: Wir dürfen die Türkei nicht mit unseren Maßstäben messen und dann feststellen, daß sie denen nicht entspricht, und dürfen dann nicht urteilen, daß das ein schlimmer Staat ist. Wir müssen die Türkei, wenn wir ehrlich mit ihr umgehen wollen, an dem messen, was in ihrer Nachbarschaft vor sich geht. Da ist die Türkei - auch das muß man einmal deutlich sagen - allemal das demokratisch stabilste System mit der am weitesten entwickelten demokratischen Kultur, trotz der Mängel, die wir alle sehen und die abgestellt werden müssen. Aber wenn wir das in Abrede stellen, werden wir mit den türkischen Politikern nicht ins Gespräch kommen. Wir müssen den türkischen Kolleginnen und Kollegen im Parlament sehr präzise Hinweise geben, was in der Verfassung geändert werden muß. Diese 22 Punkte, die jetzt auf den Weg gebracht werden, sind vielleicht ein erster wichtiger Schritt, jedoch längst nicht alles, weil die nachgeordneten Gesetze überprüft werden müssen: das Antiterrorgesetz, das Presserecht, das Versammlungsrecht, das Recht der Gewerkschaften. Wir müßten den türkischen Kolleginnen und Kollegen in der Großen Versammlung klarmachen, daß sie ihre Rechte ernster wahrnehmen müssen. Denn die Rechte, die das Parlament in Ankara hat, entsprechen längst nicht dem Maßstab, den wir in Europa gewohnt sind. Wir sollten in dieser Hinsicht ruhig etwas selbstbewußter sein. Wir müßten den Türken auch klarmachen: Wenn sie sich auf dem Weg nach Europa befindlich sehen, dann müssen sie sich langfristig auch mit europäischen Maßstäben messen lassen. Wer sich nicht auf diesen Weg begeben will, der wird in Europa lange vor der Tür stehen bleiben. Erste Signale aus der Türkei - ich sage das noch einmal - gibt es. Wir müssen sie unterstützen. Drittens. Langfristig wollen wir die Freundschaft zwischen dem deutschen und dem türkischen Volk erhalten und vertiefen. Ja, wir wollen weiterarbeiten an der deutsch-türkischen Freundschaft, aber nicht um den Preis des Schweigens zu innenpolitischen Verhältnissen in der Türkei, zu denen kein Demokrat schweigen darf. Pauschale Verurteilungen helfen hier aber nicht weiter, pauschale Sanktionen werden das türkische Volk und den türkischen Staat in eine Isolation treiben. Undifferenziertes Abweisen der Türken an der europäischen Haustür wird den Fundamentalismus in der Türkei stärken und damit letztendlich die Menschenrechte schwächen. Deswegen bedauere ich die Entscheidung des Europäischen Parlaments, weil sie meines Erachtens kurzsichtig ist und auf diesem Wege weitere Hindernisse aufbauen wird. Sie wird den türkischen Politikern Schwierigkeiten machen, sie wird aber auch auf dem Weg zu mehr Menschenrechten und mehr Demokratie Schwierigkeiten machen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kossendey, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist Ihnen bekannt, daß es inzwischen auf der einen Seite schwarze Listen gibt, die Presseorgane aufführen, z. B. „Stern" und „Spiegel", und daß es auf der anderen Seite schwarze Listen gibt, die Menschenrechtsorganisationen - sowohl Vertreter von Menschenrechtsorganisationen als auch ihre Dolmetscher - betreffen? Sind Ihnen diese Dinge bekannt? Würden Sie auf der Grundlage dieser Kenntnis noch immer sagen, daß unter solchen Bedingungen, sofern sie nicht ausgeräumt werden, Verhandlungsbereitschaft gezeigt werden sollte?

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Dinge müssen, weil sie uns bekannt sind, besprochen und geändert werden. Das werden wir nicht durch einen Beschluß des Bundestages regeln können, das werden wir nur im Dialog regeln können. ({0}) Nur wer mit anderen im Dialog steht, kann sie wirklich beeinflussen. Dieses Mittel des Sprechens sollten wir uns nicht einfach nehmen lassen. „Parlament" kommt von „Sprechen", von „parlare". Wenn wir mit denen, die wir ändern wollen, nicht sprechen, dann berauben wir uns selber eines wichtigen Mittels. Ich glaube, daß wir nicht so dumm sein sollten. ({1}) Frau Jelpke hat auf Cem Boyner Bezug genommen. Wir haben heute nachmittag mit ihm geredet. Wir haben ihn gefragt, was er von der Diskussion über die Türkei in Deutschland hält und ob er es für hilfreich halten würde, wenn wir die Türken vor der europäischen Tür stehenlassen wollten, wenn wir genau das machen wollten, was in Ihrem Antrag steht. Er hat uns gesagt, genau das wäre das Falsche. Da, wo zwischen den Politikern und zwischen den Menschen der Länder keine Verbindung ist, wird auch nichts bewegt werden. Da wird kein Funke der Erkenntnis überspringen, wie wir uns das so gerne wünschen. Lassen Sie mich zum Schluß einen Vorschlag machen. Wir wissen alle, Frau Jelpke, daß es zwischen der PDS und der PKK gute Kontakte gibt. Das haben wir in vielen Zeitungen gelesen. Deshalb nehmen Sie doch Ihre Aufgabe wahr, und fordern Sie auf Grund Ihrer guten Kontakte zur PKK diese Terrorgruppe zum Gewaltverzicht auf. Wir wollen dann mit den demokratischen Politikern im türkischen Parlament reden, damit es in der Türkei langfristig zu einer guten politischen Lösung kommt. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Herr Staatsminister Helmut Schäfer.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mitternacht ist sehr bald erreicht und insofern auch die Diskussion der interessantesten Themen des Deutschen Bundestages. Es wäre wünschenswert, Herr Vizepräsident, wenn wir solche Debatten gelegentlich etwas früher am Tage führten, statt sie sozusagen zu einer Art Mitternachtsschau gegen 24 Uhr entarten zu lassen. ({0}) Ich halte das nicht für glücklich. Wir haben dasselbe bereits vor einer Woche hier erlebt. Vielleicht könnten sich die Parlamentarischen Geschäftsführer einmal darüber einigen, daß man PDS-Anträge - bei allem Verständnis dafür, daß man sie nicht liebt Staatsminister Helmut Schäfer etwas früher behandelt. Es sind ja wichtige Themen, die hier angesprochen werden. ({1}) Ich sage das auch, weil ich ein Mitleidender bin, indem ich freundlicherweise am Schluß das Wort erhalte. ({2}) - Sie sind hier doch ein Parlament. Sie sind doch völlig unabhängig von der Regierung, dachte ich. ({3}) Insofern würde ich Ihnen den Rat geben, das nächste entsprechende Thema einmal ein bißchen früher zu behandeln. Ich finde es ein bißchen seltsam, wenn ich hier grundsätzlich gegen 24 Uhr für die Regierung freundlicherweise das Wort ergreifen darf. Vielleicht könnten wir eine solche Debatte etwas früher abhalten, Herr Hörster. Das wäre von Zeit zu Zeit ganz gut. Die Themen, die wir hier diskutieren, sind ja nicht so ganz unwichtig. ({4}) - Meine Damen und Herren, nachdem wir jetzt Beifall von allen Seiten des Hauses feststellen können, wird sich das schnell ändern. Ich darf sehr herzlich Frau Onur danken. Ich bin der Auffassung, daß sich das, was Sie heute abend gesagt haben, sehr wohltuend von einigem, was Ihnen an Tiraden vorausgegangen ist, abgehoben hat. ({5}) Ich habe fast den Eindruck, Sie haben Verständnis für die Türkei und Vorstellungen von der Türkei. Sie kennen dieses Land, während mir das bei einigen anderen Rednern und Rednerinnen nicht so erscheint. Ich würde jedem, der hier über die Türkei redet, empfehlen, gelegentlich in die Türkei zu reisen, mit Türken und Kurden zu sprechen und hier vielleicht etwas differenzierter aufzutreten, als das immer wieder geschieht. Denn wir reden ja nicht zum erstenmal zu diesem Thema - ein Thema, das mit großem Ernst diskutiert werden muß. ({6}) - Das würde auch schon helfen, Herr Kollege Irmer. Es geht darum, ein Problem zu sehen, das so einfach, wie es einigen hier erscheint, nicht zu lösen ist. Sie reden heute den ganzen Abend über die Kurden und deren Verfolgung. Wir alle sind uns einig in dem Punkt, daß so nicht weitergegangen werden darf und daß die Kurden das Recht auf eine kulturelle Autonomie haben. Das ist die Meinung dieser Bundesregierung. Dieses Recht ließ sich bisher nicht durchsetzen. Die Türkei wird keinen Erfolg damit haben, die Kurden militärisch zu bekämpfen. Aber wenn Sie zu den Kurden sprechen, dann müssen Sie auch ein bißchen genauer hinschauen. Im Norden des Irak haben sich die Kurden im Gefolge des Golfkrieges von dem Terror des SaddamHussein-Regimes weitgehend lösen können. Was geschieht jetzt? Sie bekämpfen sich bis aufs Messer. Die Gruppe Talabani und die Gruppe Basani bekämpfen sich im Norden des Irak bis aufs Messer, und Herr Saddam Hussein ist der lachende Dritte. ({7}) Dann müssen Sie die Frage stellen: Was geht unter den Kurden vor? Es ist einfach nicht wahr, daß die PKK die Vertreterin der Kurden schlechthin ist, sondern es ist wahr, was Frau Onur völlig zu Recht gesagt hat: Sehr viele Kurden sind in keiner Weise einverstanden mit dem, was die PKK ihnen auferlegt - was aber in keiner Weise das Vorgehen türkischer Behörden rechtfertigt, was in keinerlei Weise das, was Amnesty International aufzeichnet, rechtfertigt. Wir sind uns hier völlig einig. Aber es stellt sich doch die Frage: Wie können wir es ändern? Was können wir tun? Genügen solche mitternächtlichen Tiraden? ({8}) - Entschuldigung, Herr Bindig, ich sage immer wieder - vielleicht schon zum sechsten, siebten oder achten Mal in diesem Bundestag -, daß die Parteien sich intensiver für einen Dialog mit den jeweiligen türkischen Parteien einsetzen müssen, damit im Parlament in der Türkei mehr Mut aufkommt, solche Dinge abzustellen: die Sozialdemokraten mit den Sozialdemokraten, ({9}) die christlichen Demokraten mit der Mutterlandpartei; als Liberale Ansprechpartner zu finden ist in der Türkei im Augenblick ein bißchen schwierig; wahrscheinlich finden aber auch wir Ansprechpartner. Es ist nicht gut, wenn wir hier nur verurteilen, statt in der Türkei unablässig Einfluß zu nehmen: von Parlament auf Parlament, von Partei auf Partei, von Regierung auf Regierung. Die Regierung tut es übrigens. Sie tut es auch wieder im Zusammenhang mit der Abschiebung von Kurden. Gerade heute nachmittag fand im Auswärtigen Amt eine Besprechung mit Herrn Kinkel statt, bei der wir sehr genau überlegt haben, wie wir uns einzustellen haben, was wir tun können, was seitens der Türkei erreicht werden muß, um nicht generell sagen zu müssen: Es kann kein Kurde abgeschoben werden. Wir wollen sehr differenziert verfahren und sicherstellen, daß niemandem, der abgeschoben werden muß, in irgendeiner Weise ein Schaden entsteht. Das ist doch die Zielsetzung dieser Regierung. Darin unterscheiden wir uns von Ihnen doch nicht. Glauben Sie es uns. Bei allem Verständnis dafür, daß heute abend wieder der Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen gefordert wird, darf ich Ihnen sagen, was wir wirtschaftlich tun: Mit den von der Bundesregierung zugesagten 150 Millionen DM werden in der Türkei konkrete Entwicklungsvorhaben gefördert: in den Bereichen Umweltschutz - hier müßte das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geradezu toben vor Begeisterung; doch das tun Sie nicht; Frau Beer hört gar nicht erst zu; sie will nicht, daß dort Wirtschaftshilfe geleistet wird -, Trinkwasserversorgung, die auch eine Angelegenheit ist, die ich fast als humanitär ansehen würde, und Aus- und Fortbildung. Sollen wir das stoppen? Ist das die Meinung dieses Hauses, zu sagen: Das bekommen die so lange nicht mehr, bis die Kurden endgültig in eine Art Autonomie entlassen werden? Ich bin dieser Auffassung nicht. Wir haben diese Politik übrigens über viele Jahre auch in anderen Staaten der Welt verfolgt. Wir haben bei Militärregimes in Ländern Südamerikas und in Südafrika immer versucht, solche Projekte fortzusetzen, die den Menschen unmittelbar zugute kommen. Wir haben das von einer Zusammenarbeit mit Regierungen oder Militärdiktaturen, die wir abgelehnt haben, getrennt. Aber wir haben nie aufgehört, Entwicklungshilfe für die Bedürftigen zu geben. Ich hielte es für ganz falsch, das zu tun, was jetzt wiederum im Antrag der PDS steht. Jetzt kommen wir zu den Waffenlieferungen. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Die Waffenlieferungen laufen aus. Machen Sie doch nicht dauernd den Versuch, diese Waffenlieferungen als eine Lust der Bundesregierung darzustellen, der Türkei zur Bekämpfung der Kurden Waffen zuzugestehen. Das ist doch schlicht nicht wahr. Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, daß die Waffenlieferungen etwas mit Verpflichtungen eines NATO-Partners zu tun haben, der sich auf Grund seiner Vergangenheit und seiner Zurückhaltung, die ihm die Vergangenheit auferlegt hat, z. B. im Golfkrieg, dazu verstehen mußte, an anderer Stelle etwas für einen bedrohten Staat zu tun. Schauen Sie sich doch die Geschichte der Verpflichtungen dieser sogenannten Waffenlieferungen innerhalb der NATO an. Dann wissen Sie, daß die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Golfkrieg Versprechungen machen mußte, weil sie sich an anderer Stelle zurückhalten mußte. Dafür hat sie aber der Türkei einiges geben müssen. Die Waffenlieferungen laufen aus; Sie wissen das. Die Materialhilfe und damit sämtliche Rüstungshilfsprogramme für die Türkei werden in diesem Jahr abgeschlossen. Ich will jetzt nicht noch einmal die Debatte über die Fregatten aufwärmen; das wurde in der Fragestunde heute schon in extenso getan. Ich darf nur sagen: Auch die Türkei hat das Recht auf kommerzielle Lieferungen von Waffen und Rüstungsgütern, wenn sich diese Lieferungen nach den Grundsätzen der Bundesregierung für den Waffenexport richten. ({10}) - Herr Kollege Bindig, Sie haben doch die Gelegenheit, Ihre Ansicht über die Höhe solcher Lieferungen - das gilt auch für U-Boote, die an andere Nachbarstaaten geliefert worden sind; da habe ich Ihre Proteste vermißt - in den Ausschüssen zur Kenntnis zu geben. Ich will nur sagen: Lassen Sie die Türkei nicht allein! Bei allem gemeinsamen Verständnis für die Kurden, bei aller gemeinsamen Entschlossenheit, zu verhindern, daß Kurden leiden müssen - darin sind wir uns einig -, machen Sie nicht den Fehler, die Türkei zu isolieren! Herr Irmer und andere haben darauf hingewiesen. Ich bin Frau Onur sehr dankbar, daß sie auch die Zollunion erwähnt hat. Wir wollen die Vollendung dieser Zollunion. Wir wollten es eigentlich schon im zweiten Halbjahr 1994. Sie wissen, daß es griechische Proteste gegeben hat. Ich hatte am vergangen Montag Gelegenheit, in Bordeaux mit dem zuständigen griechischen Minister zu sprechen. Er sagte, es liege nur noch an zwei Kleinigkeiten, daß sie zustimmen. Sie wissen, daß in diesem Zusammenhang auch die Zypernfrage wieder hochkommt. Ich kann nur sagen: Lassen wir die Türkei nicht in ein Vakuum abdriften, das im Endeffekt für die Türkei, für die Kurden, für die Menschen dort sehr viel schrecklichere Folgen haben wird! Nehmen wir, bitte, zur Kenntnis, daß wir auch eine Verantwortung dafür haben, daß sich dieses Land so entwickelt, wie wir es alle wünschen. Ich gehöre nicht zu denen, die der Türkei von vornherein absprechen, daß sie jemals Mitglied der Europäischen Union werden darf. Ich sehe das nicht so. Im Gegenteil, ich bin sogar der Meinung, es würde uns gar nichts schaden. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?

Not found (Gast)

Bitte schön.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, um hier keine falschen Töne aufkommen zu lassen: Sie werden unseren Antrag ja auch gelesen haben. Da wird Ihnen aufgegangen sein, daß wir die Frage der weiteren Wirtschaftshilfe usw. sehr konditioniert ausgesprochen haben. Im übrigen bestehen in der GRÜNEN-Fraktion keine Probleme mit einer perspektivischen Aufnahme der Türkei in die EU; damit werden eher andere Schwierigkeiten haben. ({0}) - Das ist nicht so neu. Das hat die AL in Berlin schon vor zehn Jahren gefordert; aber es muß ganz anders diskutiert werden als hier. Aber dann dürfen Sie doch nicht durch das Fortführen der bisherigen Politik die Türkei geradezu in dem, was sie tut, bestätigen, wobei Sie zwar verbal protestieren, aber im übrigen die Politik so weiterlaufen lassen. Unsere Forderungen - das bitte ich doch zur Kenntnis zu nehmen - sind genau auf das Verhalten konditioniert. Und das vermissen wir auf Ihrer Seite.

Not found (Gast)

Herr Kollege Lippelt, ich konnte ein Fragezeichen zu Ihrem Statement nicht entdecken; aber das macht nichts. Ich möchte Ihnen sagen: Wenn Sie demnächst von Ihrer Fraktion die Chance bekommen, hier einmal an Stelle von Frau Beer eine Rede zur Türkei und zu den Kurden zu halten, dann hört es sich vielleicht ein bißchen gemäßigter an. Wir würden das alle sehr begrüßen. Frau Beer wird in Mitternachtsdebatten arg strapaziert. Schon beim letztenmal hat sie eine ganz ähnliche Rede zu einem ganz anderen Thema gehalten. Liebe Frau Beer, es tut mir leid: Ich sehe in Kollegen Lippelt jemanden, der etwas differenzierter zu sprechen vermag, als Sie es können. Ich darf zum Schluß sagen: Ich bin ja durchaus der Meinung, daß wir die Türkei immer wieder von neuem mahnen müssen. Ich bin auch der Meinung, daß wir alles unternehmen müssen, um dem Mißbrauch von Militär oder Polizei oder Sicherheitskräften in Ost- und Südostanatolien entschieden entgegenzutreten. Ich bin auch der Auffassung, daß unsererseits alles getan werden muß, um eine andere Entwicklung in der Türkei zu fördern. Ich bin weiterhin der Auffassung, daß die Türkei nicht in die Europäische Union kommen kann, wenn ihre Rechtsordnung nicht Züge annimmt, wie wir sie in westeuropäischen Staaten gewohnt sind, und wenn sie das nicht auch in der Praxis umsetzt. All das ist immer wieder gesagt worden. Wir brauchen dazu keine neue Politik der Bundesregierung, sondern ein Zusammenwirken von Parlament und Regierung. Wir brauchen den konstanten Dialog mit diesem Land und seinen Parteien statt dieser immer wiederholten Szenen der Verurteilung. Der Bundestag als Tribunal führt ebensowenig weiter. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/212 und 13/538 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit sind die Überweisungen beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 17. Februar, 9.00 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.