Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/13/1997

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich teile zunächst mit, daß der Kollege Roland Richwien am 4. November 1997 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Seine Nachfolgerin, die Abgeordnete Elke Holzapfel, hat am 5. November 1997 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin und wünsche gute Zusammenarbeit. Herzlich willkommen, Frau Holzapfel. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Rita 'Grießhaber, Kerstin Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Öffentliche Sicherheit stärken - Jugendkriminalität verringern - Drucksache 13/89683. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({3}) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({4}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertfünfunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 13/8393, 13/8507 Nr. 2.2, 13/89784. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Beschluß der Bundesregierung zum Klimaschutzprogramm der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis des Vierten Berichts der Interministeriellen Arbeitsgruppe ,,CO2-Reduktion" ({5}) - Drucksache 13/8936 5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Klimagipfel in Kyoto: Ein neuer Anlauf zum Schutz des Klimas - Drucksache 13/8969 6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS: Haltung der Bundesregierung zu in der Presse zitierten Äußerungen des Bundesverteidigungsministers Volker Rühe zum Konflikt am Golf 7. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsvorschriften ({6}) - Drucksache 13/8962 8. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Wirtschaftskriminalität in Deutschland insgesamt wirkungsvoll bekämpfen - Drucksache 13/89709. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({7}), Gerald Häfner, Kerstin Müller ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform des Straf- und des Sanktionenrechts - Drucksache 13/8957Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Des weiteren soll Tagesordnungspunkt 15 a und b - es handelt sich um Vorlagen zum Psychotherapeuthengesetz - abgesetzt werden. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 197. Sitzung des Deutschen Bundestages am 9. Oktober 1997 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich zusätzlich dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Helmut Wilhelm ({9}), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nutzung des Altschuldenhilfegesetzes für eine Initiative zur Gründung von Wohnungsgenossenschaften - Drucksache 13/8703 überwiesen: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({10}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung Vorschau auf die Sondertagung des Europäischen Rates über Beschäftigung in Luxemburg am 20./21. November 1997 Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sitzung des Europäischen Rates am 20. und 21. November findet in einem Zeitabschnitt entscheidender Weichenstellungen statt. Es geht auf diesem EU-Gipfel und auf dem regulären Gipfel kurze Zeit später um Entscheidungen, die weit in die Zukunft unseres Landes, ja des Kontinents reichen. Ich nenne als wichtigste Beispiele die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und die anstehende Osterweiterung der Europäischen Union. Unser Ziel ist und bleibt, die europäische Einigung unumkehrbar zu machen. ({0}) Das vereinte Europa sichert uns Frieden und Freiheit. Es macht unsere Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger und hilft uns, durch Zusammenarbeit viele Aufgaben besser zu lösen. Das europäische Haus, das wir bauen, soll allen darin wohnenden Menschen ein gutes Zuhause sein. Es soll ihnen eine Chance auf ein Leben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und sozialer Sicherheit geben. Dieses große Vorhaben kann letztlich nur glücken, wenn es uns gelingt, die europäische Einigung zu einer Herzenssache der Menschen zu machen. Dies wird sie allerdings nur dann, wenn die Menschen in Europa spüren, daß dieses Europa für sie gebaut wird und ihnen hilft, die Herausforderungen unserer Zeit auch in ihrem persönlichen Leben besser bewältigen zu können. Das gilt vor allem für die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit von insgesamt 18 Millionen Menschen in den EU-Mitgliedstaaten. Es muß deshalb unser gemeinsames Ziel sein, jene Wachstumskräfte zu stärken, die neue und zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen. Für die Bundesregierung steht fest, daß der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in erster Linie eine nationale Aufgabe ist. Dies ist im übrigen auch die Auffassung meiner Kollegen in der Europäischen Union. ({1}) Dabei sind neben der Politik vor allem die Tarifparteien und die Unternehmen gefordert. Die einzelnen Regierungen müssen für beschäftigungsfördernde Rahmenbedingungen sorgen. Hier hat jeder in der Europäischen Union seine eigenen Aufgaben zu lösen. Es gibt im Rahmen der Kompetenzen der Europäischen Union Felder, in denen wir gemeinsam tätig werden können und müssen. Dies gilt auch für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Diese Möglichkeiten, meine Damen und Herren, müssen wir jetzt in vernünftiger Weise miteinander wahrnehmen. Die Voraussetzungen hierfür verbessern sich in der EU viel schneller, als viele erwartet haben. Daran hat die Vorbereitung auf die Einführung des Euro maßgeblichen Anteil. Die durchschnittliche Inflationsrate in der Europäischen Union liegt derzeit unter 2 Prozent. Beim Abschluß des Maastricht-Vertrages 1991 betrug sie noch 5,5 Prozent. ({2}) Wenn Sie die Vergleichszahlen von vor zehn Jahren nehmen, werden Sie noch ganz andere Prozentsätze feststellen. ({3}) Die langfristigen Zinsen lagen 1991 bei über 10 Prozent; heute betragen sie im EU-Durchschnitt noch 6 Prozent. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen ist in den meisten Mitgliedstaaten der EU sichtbar vorangekommen. Die Staatsdefizite betrugen 1991 4,3 Prozent; 1997 werden sie nach der Schätzung der EU-Kommission nur noch 2,7 Prozent betragen. Es ist unübersehbar, die Unternehmen haben an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Das Vertrauen in die künftige Entwicklung ist gewachsen. Dies sind erste Früchte der Reformanstrengungen in den EU- Mitgliedstaaten. Wir müssen sie gemeinsam fortsetzen. ({4}) Deshalb haben wir auf dem Europäischen Rat vom Juni 1997 in Amsterdam vereinbart, unsere gemeinsamen Anstrengungen noch stärker als bisher in den Dienst der Beschäftigung zu stellen. Grundlagen hierfür sind die Entschließung des Europäischen Rates zu Wachstum und Beschäftigung und der neu in den EG-Vertrag eingeführte Beschäftigungstitel. Meine Damen und Herren, auch wegen einer Diskussion im Bundesrat füge ich hinzu: Natürlich muß der Vertrag erst noch ratifiziert werden. Dennoch waren wir uns in Amsterdam einig, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit unverzüglich zu handeln. Die Entschließung und der Beschäftigungstitel, die dort formuliert wurden, unterstreichen den hohen Rang, den die Gemeinschaft dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und der Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze beimißt. Zentraler Ansatz des Beschäftigungstitels ist es, die beschäftigungspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten abzustimmen und hierfür gemeinsame Leitlinien oder Ziele festzulegen. Aufgabe des in einer Woche beginnenden „Beschäftigungsgipfels" in Luxemburg wird es sein, eine koordinierte Beschäftigungsstrategie weiterzuentwickeln. Diese Strategie muß sich nach unserer Auffassung von folgenden Erfordernissen leiten lassen: Erstens: Die Mitgliedstaaten müssen mit einer stabilitätsorientierten Politik günstige Voraussetzungen für mehr Investitionen und Arbeitsplätze schaffen. Mit dem in Amsterdam verabschiedeten Stabilitätsund Wachstumspakt wird deutlich gemacht: Es besteht kein Gegensatz zwischen Stabilität und Beschäftigung. Im Gegenteil, Preisstabilität und Haushaltsdisziplin sind zentrale Voraussetzungen für dauerhaftes Wachstum und mehr Arbeitsplätze. Auch darin besteht im übrigen Einigkeit unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Alle Mitgliedstaaten sind deshalb gefordert, ihre Konsolidierungspolitik fortzusetzen, um die Staatsquote spürBundeskanzler Dr. Helmut Kohl bar zu senken; denn dies schafft neuen Raum für privatwirtschaftliche Initiative und damit für mehr Beschäftigung. Zweitens: Entscheidend bleibt ferner eine beschäftigungsfördernde Lohnpolitik der Tarifpartner. Sie tragen hier eine besonders große Verantwortung. Zugleich müssen tarifvertragliche Rahmenvereinbarungen den ständig wachsenden Anforderungen an betriebliche und volkswirtschaftliche Flexibilität Rechnung tragen, etwa im Bereich der Produktions- und Arbeitszeiten. In Deutschland sind die Tarifverträge in diesem Jahr erfreulicherweise wieder stärker am Beschäftigungsziel ausgerichtet. Ich denke, dies ist ein gutes Signal für mehr Arbeitsplätze. ({5}) So haben in der Chemieindustrie die Tarifpartner Öffnungsklauseln vereinbart, die den Betrieben zusätzliche Spielräume bei der Lohn- und Arbeitszeitgestaltung eröffnen. Wir müssen auf diesem Weg unbedingt weiter vorangehen. Drittens: Wir sollten von positiven Erfahrungen anderer Mitgliedstaaten lernen. Prüfenswert sind in diesem Zusammenhang durchaus die beschäftigungspolitischen Erfolge der Niederlande und der skandinavischen Länder. Interessant ist, wie diese Länder das Zusammenwirken von staatlicher Förderung, Eigenverantwortung der Arbeitnehmer und notfalls auch der Begrenzung der Leistungen der Solidargemeinschaft neu geregelt haben. Der beim Europäischen Rat in Amsterdam vereinbarte Informationsaustausch wird von uns begrüßt. Wenn jeder von jedem lernt, kann das nur nützen. Meine Damen und Herren, wir können eigene gute Erfahrungen zum Beispiel bei der beruflichen Bildung an unsere Partner weitergeben. Mit unserem weltweit anerkannten dualen Ausbildungssystem und einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat gelingt es seit vielen Jahren, die Jugendarbeitslosigkeit auf einem international vergleichsweise niedrigen Niveau zu halten. - Daß sie für uns in Deutschland dennoch zu hoch ist, weiß jeder. Zuletzt betrug die Jugendarbeitslosigkeit in unserem Land 10,5 Prozent. ({6}) Sie lag damit erheblich unter dem Durchschnitt der Europäischen Union in Höhe von 20,2 Prozent und war sehr viel niedriger als zum Beispiel in Ländern wie Spanien oder Frankreich. Mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz haben wir unsere Arbeitsmarktpolitik umfassend modernisiert. Wir haben neue Instrumente eingeführt, zum Beispiel Einstellungszuschüsse für Existenzgründer, die Arbeitslose einstellen. ({7}) Viertens: Gerade wir Deutsche wissen um die zentrale Bedeutung unserer kleinen und mittleren Unternehmen für mehr Arbeitsplätze. Sie haben allein zwischen 1990 und 1996 rund 1 Million zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, während in den Großunternehmen eine erhebliche Zahl von Arbeitsplätzen verlorenging. In Deutschland schafft zum Beispiel jeder Existenzgründer im Durchschnitt vier neue Arbeitsplätze. Wir brauchen deshalb mehr entschlossene und innovative Unternehmer, die auf zukunftsträchtige Felder, neue Technologien, Verfahren oder Dienstleistungen setzen. ({8}) Aber, meine Damen und Herren, dazu müssen wir Ihnen das Wagnis der Selbständigkeit und Eigenverantwortung erleichtern und sie dazu ermutigen. Die ersten Existenzgründerlehrstühle an den Universitäten sind in diesem Sinne wichtige Signale. Ich wünsche mir gerade auch auf diesem Feld ein noch stärkeres Engagement der Wirtschaft. Natürlich weiß ich wie Sie alle, daß sich auch mancher Existenzgründer von den vielfältigen bürokratischen Aufgaben und Auflagen abschrecken läßt. Wir haben deshalb die Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht und verkürzt. Auf diesem Weg werden wir weiter voranschreiten. Wir wollen einen schlanken Staat, nicht zuletzt deshalb, weil dabei so viele neue Freiräume für die Gründung von Betrieben entstehen. Meine Damen und Herren, dies ist eine Aufgabe, bei der nicht nur die Mitgliedsländer der EU gefordert sind. Auch die Europäische Union selbst muß mehr tun, um das bestehende Regelungsdickicht zu lichten und keine neuen Bürokratien entstehen zu lassen. ({9}) Erste Erfolge sind sichtbar. Die Zahl der Selbständigen nimmt zu. Zwischen 1990 und 1995 haben sich 1,9 Millionen Menschen selbständig gemacht, davon etwa 500 000 in den neuen Ländern. Natürlich weiß ich, daß nicht alle Neugründungen erfolgreich waren. Ein gutes Beispiel für den Aufbruch in die Zukunft, in neue Beschäftigungschancen ist die Biotechnologie. Die Zahl der Biotechnologieunternehmen hat sich von 75 im Jahre 1995 auf rund 150 in 1996 verdoppelt. Experten erwarten, daß sich die Zahl der Biotechnologieunternehmen in Deutschland in Kürze noch einmal verdoppeln wird. Fünftens: Das Amsterdamer Sonderaktionsprogramm der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg kann und muß die nationalen Anstrengungen für kleine und mittlere Unternehmen stärken und sinnvoll ergänzen. Die Europäische Investitionsbank soll aus ihren Überschüssen bis zum Ende des Jahres 2000 knapp 2 Milliarden DM insbesondere zur Förderung von Hochtechnologieprojekten kleiner und mittlerer Unternehmungen bereitstellen. Der Präsident der Europäischen Investitionsbank veranschlagt das hierdurch mögliche Investitionsvolumen auf eine Summe von bis zu 17 Milliarden DM. Die Europäische Investitionsbank ergänzt damit unsere eigenen Bemühungen, etwa durch das Dritte Finanzmarktförderungsgesetz, mehr Wagniskapital für Existenzgründer verfügbar zu machen. Die Bundesregierung begrüßt in diesem Zusammenhang auch die Beschäftigungsinitiative des Europäischen Parlaments. In den nächsten drei Jahren sollen insgesamt rund 850 Millionen DM aus bestehenden Haushaltsmitteln insbesondere als Wagniskapital für Meine und mittlere Unternehmen bereitgestellt werden. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, darüber hinaus sicherzustellen, daß private Initiativen nicht verdrängt werden und daß diese Mittel - das ist entscheidend - die gewünschten Adressaten auch wirklich und möglichst unbürokratisch auf kürzestem Weg erreichen. ({10}) Sechstens: Die verstärkte Qualifizierung der Arbeitnehmer leistet einen wichtigen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Zu unserer heutigen Zeit gehört, daß einmal erlerntes Wissen immer schneller veraltet. Deshalb gilt es, die berufliche Bildung der Arbeitnehmer zusätzlich zu verstärken. Aus meinen Gesprächen in den letzten Wochen weiß ich, daß diese Frage auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten zunehmend an Bedeutung gewinnt. In Deutschland gehört das Fortbildungs- und Umschulungsprogramm der Bundesanstalt für Arbeit seit vielen Jahren zu den wichtigen Instrumenten der beruflichen Weiterbildung. Die Bundesanstalt für Arbeit wendet, wie Sie wissen, pro Jahr über 850 Millionen DM auf, um Hauptschulabgänger für eine Berufsausbildung zu qualifizieren. Damit gleicht sie Lerndefizite im schulischen Bereich aus. Das gehört normalerweise in die Verantwortung der Bundesländer. ({11}) Siebtens: Der Weg zu mehr Arbeitsplätzen führt vor allem über Strukturreformen. Die Amsterdamer Entschließung zu Wachstum und Beschäftigung bekennt sich klar zu weitreichenden Strukturreformen im Bereich der Arbeits- und Gütermärkte. Sie knüpft damit nahtlos an die nach wie vor gültige Strategie des Europäischen Rates von Essen 1994 an. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland wie in Europa ist, wie wir wissen, wesentlich strukturell bedingt. Wir dürfen deshalb jetzt nicht der Illusion Vorschub leisten, wir könnten mit zusätzlichen staatlichen Finanzmitteln für kurzlebige Beschäftigungsprogramme dauerhaft neue Arbeitsplätze schaffen. ({12}) Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen zur umfassenden Modernisierung unseres Landes durchgesetzt. Ich nenne nur wenige Beispiele. Wir haben Bahn, Post, Telekom und neuerdings auch die Lufthansa auf Privatisierungskurs gebracht. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wurde neu geregelt. In der Folge führte das bei der deutschen Wirtschaft zu Einsparungen von über 10 Milliarden DM. Daß im übrigen die Fehlzeiten jetzt auf den niedrigsten Stand der letzten 20 Jahre gesunken sind, ist eine bemerkenswerte Entwicklung. ({13}) Die investitions- und beschäftigungsfeindlichen Substanzsteuern für Unternehmen wurden abgeschafft. Leider ist die dringend nötige umfassende Steuerreform an der Bundesratsmehrheit gescheitert. Die Bundesregierung hält im Interesse der Arbeitsplatzsuchenden weiter unbeirrt am Ziel der Steuerreform fest. ({14}) Es ist dringend geboten, die deutschen Steuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zurückzuführen, der Aushöhlung der Steuerbasis entschlossen entgegenzuwirken, Möglichkeiten zur legalen Steuervermeidung abzubauen und - dieses Thema zu behandeln wird sicherlich in Luxemburg nicht ohne Probleme abgehen - Steueroasen zumindest in der EU auszutrocknen. ({15}) Niedrige Steuersätze mit einer breiten Steuerbasis sind die beste Grundlage für Investitionen und Arbeitsplätze. Eine solche in die Zukunft weisende Steuerreform ist, so glaube ich, zugleich das wirksamste Instrument einer Regierung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({16}) Die Bundesregierung hat mit der Rentenreform aus dem schon heute absehbaren dramatischen Wandel unserer Bevölkerungsstruktur die notwendigen Konsequenzen für den Generationenvertrag gezogen. Steigende Lebenserwartung, ein immer späterer Start in den Beruf und eine der niedrigsten Geburtenraten der EU zwingen zu diesen Reformen. Die Rentenentwicklung muß dem sich dramatisch ändernden Altersaufbau der Bevölkerung unseres Landes Rechnung tragen. Aktuell geht es darum, zu verhindern, daß der Beitragssatz in der Rentenversicherung auf 21 Prozent steigt. Ich denke, wir müssen über alle vernünftigen Maßnahmen sprechen, die geeignet sind, dies zu vermeiden. Trotz der gestern erfolgten Absage hoffe ich immer noch, daß bei den anstehenden Verhandlungen im Vermittlungsausschuß vernünftige Gespräche möglich sind. ({17}) Das Ziel ist klar: Wir müssen in Deutschland die Leistungen unseres Sozialstaats zielgenauer ausgestalten und ihn finanzierbar erhalten. Dies ist unverzichtbar, um die steigenden Sozialkosten einzudämmen, die Lohnzusatzkosten dauerhaft zu begrenzen und damit möglichst viele Impulse für neue Arbeitsplätze zu geben. Achtens: Die koordinierte Beschäftigungsstrategie muß natürlich die jeweiligen nationalen Gegebenheiten berücksichtigen. Die Ursachen der Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union sind aus vielen Gründen von Land zu Land ziemlich unterschiedlich. Es ist offenkundig, daß es kein für alle gültiges Patentrezept gibt. Jedes Land hat seine eigene Geschichte und soziale Tradition. Von Land zu Land gibt es mentale Unterschiede und unterschiedliche Strukturen. Es besteht auch ein wesentlicher Unterschied zwischen der nationalen und der europäischen Ebene. In der EU stehen wir erst am Anfang eines sozialen Dialogs, in den die Tarifpartner eingebunden sind. In Deutschland haben wir bereits eine lange und gute Tradition der Partnerschaft zwischen Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Dieses Miteinander ermöglicht es, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen, ohne daß die notwendige streitige Auseinandersetzung um den besseren Weg dabei unterbunden wird. Damit ist auch die Selbstverpflichtung aller Beteiligten verbunden, ihren eigenen, ihren konkreten Beitrag zur Verwirklichung der Ziele zu leisten. Auf der Ebene der Europäischen Union müssen wir diese Art der Partnerschaft erst noch entwickeln und ausbauen. Europäische Leitlinien sind heute in erster Linie danach zu beurteilen, ob und inwieweit die jeweilige Regierung auch über die Instrumente und Mittel verfügt, diese Zielvorgaben tatsächlich zu erreichen. Ziele können darüber hinaus dazu dienen, zusätzliche Kräfte zu mobilisieren und Verbündete, zum Beispiel die Tarifparteien, für die Entscheidungen zu gewinnen. Jeder muß jedoch wissen: Die Arbeitsplätze werden in erster Linie von Unternehmen geschaffen. Notwendig sind also realistische Ziele und Beschäftigungsstrategien, die den besonderen regionalen und nicht den besonderen sektoralen Erfordernissen in den einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Dies gilt auch für die flankierende aktive Arbeitsmarktpolitik, etwa zur Wiedereingliederung von arbeitslosen Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen. Wir geben heute mehr Geld für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus als jedes andere vergleichbare Mitgliedsland. Für mich, meine Damen und Herren, ist wichtig, daß nationale Zuständigkeiten und der bestehende Finanzrahmen der EU gewahrt bleiben. Darüber besteht mit nahezu allen Kollegen innerhalb der Europäischen Union Einigkeit. Auch die Kommission der Europäischen Union hat noch vor wenigen Stunden durch die Äußerungen ihres Präsidenten die gleiche Position bezogen und noch einmal deutlich gemacht, daß sie keine neuen, zusätzlichen Finanzmittel wünscht. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir sind uns unserer gemeinsamen Verantwortung bewußt, und wir wissen, daß viele Menschen in Europa mit dem Luxemburger Beschäftigungsgipfel besondere Hoffnungen und Erwartungen verbinden. Trotz aller Schwierigkeiten glaube ich, wir können es schaffen, wenn alle Beteiligten - Unternehmen, Gewerkschaften und Staat - in den jeweiligen Ländern ihre Verantwortung wahrnehmen. Handlungsfähigkeit und Bürgernähe der Europäischen Union müssen sich in Luxemburg in konkreten Ergebnissen niederschlagen. ({18}) Angesichts der vor uns liegenden großen europäischen Herausforderungen - Einführung des Euro, Europäische Agenda 2000 mit Osterweiterung und Finanzreform - muß von dem Sonderrat in Luxemburg ein ermutigendes Signal ausgehen. Die Bundesregierung ist bereit, dazu ihren Beitrag zu leisten. ({19})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor der nächste Redner spricht, möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten des Parlaments der Griechischen Republik, Herrn Apostolos Kaklamanis, und seine Delegation ganz herzlich begrüßen. ({0}) Herr Präsident, Sie halten sich in dieser Woche in der Bundesrepublik auf, waren in München, Stuttgart, Bonn und sind anschließend in Berlin. Sie haben viele Begegnungen mit Deutschen und Griechen gehabt. Ich freue mich, daß Sie heute morgen an dieser europapolitischen Debatte ein gutes Stück haben teilnehmen können. Wir möchten Ihnen heute für die jüngsten Friedensinitiativen im südosteuropäischen Raum danken. Der Wunsch unseres Parlamentes lautet: So wie es gelungen ist, in Skopje, in Albanien voranzukommen, möge es auch gelingen, in Zypern voranzukommen. Ihnen alles Gute und einen guten Besuch in Deutschland! ({1}) Als nächsten Redner rufe ich den Kollegen Rudolf Scharping auf.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verpflichtet die Bundesregierung auf vier Ziele: ein angemessenes Wirtschaftswachstum, Stabilität der Preise, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und einen hohen Beschäftigungsstand. Insbesondere das letzte Ziel spielt in der Politik der Bundesregierung leider keine Rolle mehr. Das merkt man an dieser Regierungserklärung, und man merkt es an ihrem aktiven Handeln. ({0}) Herr Bundeskanzler, über die Bedeutung der europäischen Integration und ihre Vertiefung, über die demokratische Stärkung ihrer Institutionen und die Erweiterung der Europäischen Union, über die Einführung einer gemeinsamen Währung im Interesse einer gemeinsamen wirtschaftlichen Entwicklung - über alle diese Grundfragen gibt es keine streitige Debatte zwischen der Regierung und der sozialdemokratischen Opposition. Allerdings: Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß Sie in Ihrer Regierungserklärung wenigstens etwas zu den Zielen Ihrer Politik mit Blick auf den Beschäftigungsgipfel sagen würden. ({1}) Denn im Prozeß der Verwirklichung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion - und danach - käme es doch darauf an, sich jetzt so wie bei der europäischen Währung auf konkrete, nachprüfbare Leitlinien zur Stabilität der Beschäftigung, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Erhöhung des Beschäftigungsniveaus in der Europäischen Union zu verständigen. Dazu haben Sie nichts gesagt. Das ist insbesondere deshalb verblüffend, weil Sie sich doch vor wenigen Tagen mit den christdemokratischen Regierungschefs - das sind wenige genug, aber immerhin einige ({2}) in Toulouse getroffen haben und jedenfalls dort der Eindruck entstanden ist, Sie könnten den Vorschlägen, die vom italienischen oder vom luxemburgischen Ministerpräsidenten kommen, vielleicht doch etwas abgewinnen. Ich finde, die deutsche Öffentlichkeit und das Parlament mit so vielen Allgemeinplätzen abzuspeisen und keine konkreten Ziele zu nennen, das rechtfertigt nun wirklich keine Regierungserklärung. ({3}) Ich hoffe, daß die Debatte darüber Klarheit bringt, ob die Bundesregierung konkrete Festlegungen, konkrete Leitlinien in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unterstützen wird. Es dürfte Ihnen nicht schwerfallen, Herr Bundeskanzler; denn auch wenn Sie sagen, Beschäftigungspolitik sei - das war ja eine Variante zu dem, was Sie früher gesagt haben - vordringlich nationale Aufgabe, müssen Sie doch in der Lage sein, aus Ihrem reklamierten - aus meiner Sicht zu niedrig angesetzten - Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit auch mit Blick auf die Europäische Union die Konsequenz zu ziehen, daß man sich konkret festlegen sollte. ({4}) Sie haben völlig zu Recht gesagt, daß das Projekt der Entwicklung hin zur gemeinsamen Währung - das, was Jean-Claude Juncker den „Konvergenzstreß" nennen würde - mit Blick auf die Haushalte, die Preise, die Zinsentwicklung etc. schon zu einem hohen Maß an Disziplin geführt hat. Das ist richtig. Aber wenn diese Konvergenzkriterien der Währung eine solche Wirkung entfaltet haben, warum sträuben Sie sich dann gegen ähnliche - ich sage nicht: gleichlautende - Festlegungen im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik? ({5}) Wir müssen, Herr Bundeskanzler - dazu hat Ihre Regierungserklärung leider überhaupt keinen Beitrag geleistet -, die Hoffnungen, die Wünsche, die Erwartungen, aber auch die Sorgen der Menschen wieder zur politischen Tagesordnung machen. ({6}) Sie haben sie aber nicht zur politischen Tagesordnung gemacht. Deswegen erwarte ich mir wenigstens von der Aussprache einen Hinweis darauf, ob Sie bereit sind, sich auf der Grundlage konkreter Leitlinien dem Wettbewerb mit den anderen europäischen Mitgliedstaaten zu stellen, das, was die Europäische Kommission unter dem Stichwort „best practice" - wer macht es am besten? - formuliert hat. Es ist doch sehr bezeichnend, daß die Europäische Kommission in der Darstellung aller Entwicklungen in den Mitgliedstaaten hinsichtlich der jeweils besten Entwicklung Deutschland nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar mit dem System der dualen Ausbildung. ({7}) Das ist außerordentlich bezeichnend, weil nach der Einsicht der europäischen Institutionen die Arbeitsmarktpolitik, die Wirtschaftspolitik, die Finanzpolitik bei weitem nicht die Ziele erfüllen, die sie selbst reklamieren. Sind Sie bereit, sich auf der Grundlage konkreter Leitlinien und eines Wettbewerbs unter den Mitgliedstaaten in einem Jahr und danach regelmäßig einer Überprüfung der Politik zu stellen? Wenn es zu diesen scheinbar methodischen Festlegungen nicht kommt, dann wird es in Europa bei dem bedauerlichen Zustand bleiben, daß wir bei den Währungen sehr konkrete Kriterien haben, daß wir einen Stabilitätspakt haben und daß mit Blick auf die Arbeitsmärkte wieder mehr oder weniger Rhetorik geboten wird, von der die Bürgerinnen und Bürger ahnen, daß sie zur Lösung ihrer Probleme wenig, wenn überhaupt etwas, beitragen wird. ({8}) Meine Damen und Herren, was bedeutet das jetzt mit Blick auf die Festlegung jenes Gesetzes? Ich erwähne das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz deshalb, weil es schwer verständlich sein wird, wenn die deutsche Regierung mit einem solchen Gesetz, das Verpflichtungen für sie enthält, nicht in der Lage sein sollte, ähnliche Festlegungen auf der europäischen Ebene mit voranzubringen. Konkret bedeutet das erstens eine Verpflichtung der Europäischen Union auf die Erzeugung eines höheren Beschäftigungsniveaus. Die Schaffung von Arbeitsplätzen selbst ist nicht Aufgabe der Politik. Aufgabe der Politik ist, dafür richtige Rahmenbedingungen zu setzen ({9}) und den Unternehmen Klarheit zu schaffen. Das bedeutet zweitens, sich festzulegen auf einen Ausbau des Hochtechnologiesektors und der Wettbewerbsfähigkeit der Europäer im Zusammenhang mit anderen weltwirtschaftlichen Regionen wie Nordamerika inklusive NAFTA oder Südamerika mit Mercosur oder Südostasien. Es bedeutet drittens, konkrete Festlegungen zu treffen mit Blick auf die Langzeitarbeitslosigkeit. Wenn Sie sagen, die Bundesrepublik Deutschland liege in der Finanzierung aktiver Arbeitsmarktpolitik immer noch an der Spitze in Europa, dann füge ich hinzu: Sie haben mit Ihrer Politik die Instrumente der aktiven Finanzierung von Arbeitsmarktpolitik immer weiter reduziert mit dem Ergebnis, daß heute rund 300 000 Menschen nur deshalb arbeitslos sind, weil Sie das gemacht haben. Das zeigt: Es ist nicht sehr verantwortlich, was Sie da tun. ({10}) Schließlich zur Jugendarbeitslosigkeit. Ich räume ein: Natürlich ist sie in Frankreich, in Spanien oder in anderen Ländern höher. Aber wenn wir uns dem Wettbewerb mit den europäischen Staaten stellen, dann sollten wir uns nicht an solchen Entwicklungen und Daten orientieren, sondern an jenen Ländern, denen es wie Dänemark gelingt, die Jugendarbeitslosigkeit konsequent und vollständig zu beseitigen. ({11}) Warum also, Herr Bundeskanzler, sagen Sie nichts zu der Frage, ob man sich festlegen könnte, daß jeder Mensch, der länger als ein Jahr arbeitslos ist, einen Anspruch erwirbt und - ich füge hinzu - eine Verpflichtung besitzt, sich durch Weiterbildung, Qualifizierung oder aktive Beschäftigungspolitik wieder in den Arbeitsmarkt integrieren zu lassen? ({12}) Warum, Herr Bundeskanzler, sagen Sie nichts dazu, daß man im Zusammenhang mit Jugendarbeitslosigkeit eine Verpflichtung eingehen könnte? Diese Verpflichtung wäre: Jawohl, wir, die Allgemeinheit, bieten jedem unter 25 - so wie in Dänemark - einen Arbeitsplatz an, notfalls im Rahmen lokaler Arbeitsmarktpolitik, im Rahmen sozialer Dienste oder anderer; aber wir erwarten dann auch, daß dieses Angebot angenommen wird. ({13}) Demjenigen, der Wertkonservativismus für sich reklamiert, dürfte es nicht so schwerfallen, für diese Balance von Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten, von Rechten und Pflichten einzutreten. ({14}) Herr Bundeskanzler, ich weiß nicht, ob Sie in den Aktualitäten der deutschen Politik so gefangen sind, daß sich Ihr europäisches Engagement in einer solchen Müdigkeit ausdrückt, wie Sie sie uns heute morgen dargeboten haben. ({15}) Vermutlich liegt der Grund ein wenig tiefer; denn auch Sie spüren doch offenkundig, was jeder in Deutschland mit einem unbefangenen Blick sehen kann. Wenn Sie das, was Sie zum Teil in Deutschland tun, auf Europa übertragen wollten, ({16}) dann würde die Unterstützung für die europäische Integration noch schwächer werden, als sie bedauerlicherweise bereits ist. ({17}) Es beschleicht einen immer wieder das Gefühl, daß Sie zwar geschworen haben, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden, daß aber im Vordergrund all Ihrer Bemühungen nicht mehr diese Verpflichtung steht, sondern der Versuch, Ihre Koalition bis zum 27. September des nächsten Jahres zu retten. ({18}) Diese Bewegungslosigkeit will ich Ihnen an wenigen Beispielen demonstrieren. Sie haben mit Europa und der deutschen Entwicklung zu tun. Vor wenigen Wochen trafen sich die Finanz- und Umweltminister aus neun europäischen Staaten und vereinbarten eine gemeinsame Initiative zur Senkung von Lohnnebenkosten, zur Senkung der Belastungen auf Arbeitsplätze und Arbeitseinkommen, und sie vereinbarten eine Initiative, mit der Energie und Energiedienstleistungen in gleichem Umfang verteuert werden sollten. Sie, Herr Bundeskanzler, haben nichts dazu gesagt. Sie haben auf die Tarifpartner verwiesen, obwohl jeder weiß, daß die Möglichkeiten der Tarifpartner zu einer maßvollen, zu einer beschäftigungsfördernden Tarifpolitik in dem Umfang besser werden, in dem es gelingt, die Belastung der Arbeitseinkommen zu verringern, die durch wachsende Sozialabgaben entstanden ist. ({19}) Sie wissen ganz genau, daß beispielsweise der Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 21 Prozent nicht nur wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit entstanden ist, sondern auch wegen Ihrer historischen Fehlentscheidung, große Teile der deutschen Einheit über die Rentenkasse statt über die Steuerkasse zu finanzieren. ({20}) Wie können Sie denn für eine koordinierte Wirtschaftspolitik, für eine koordinierte Finanzpolitik oder anderes eintreten, wenn Sie erklären müssen, daß wir in Deutschland bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt heute die niedrigste Unternehmensbesteuerung seit 1949 haben und gleichzeitig die höchste Belastung von Arbeitsplätzen und Arbeitseinkommen seit 1949. Jeder weiß, daß diese Politik, induziert durch die deutsche Einheit und Ihre Fehlentscheidungen, kein Beispiel für Europa sein darf. Jeder weiß, daß sich die Europäer dagegen wehren, nach diesem deutschen Maßstab behandelt zu werden. Deshalb wäre es gut, Sie würden das hier korrigieren. ({21}) Sie sagen, Sie hofften auf Gespräche, und erwähnen den Vermittlungsausschuß. Gut, man kann und muß auch dort darüber reden. Das ist völlig unbestritten. Ist Ihnen, Herr Bundeskanzler, eigentlich klargeworden, daß die Sozialdemokratie in der Frage der Absenkung der Lohnnebenkosten, der Herausnahme von versicherungsfremden Leistungen einen großen Schritt hin auf eine gemeinsame Lösung getan hat? Ist Ihnen das eigentlich klargeworden? Warum sagen Sie nichts dazu, ({22}) daß die deutsche Sozialdemokratie ausdrücklich angeboten hat, erstens die Lohnnebenkosten durch Herausnahme versicherungsfremder Leistungen zu senken, zweitens jeden geeigneten Schritt auf diesem Weg zu gehen, insbesondere um das Ansteigen des Rentenversicherungsbeitrags auf 21 Prozent zu vermeiden? Ist Ihnen eigentlich klargeworden, daß die Sozialdemokratie angeboten hat, der Erosion der Einnahmebasis der Sozialversicherung durch Scheinselbständigkeit und Mißbrauch der 610-DM-Jobs und anderes entgegenzuwirken? Wenn Sie schon an einer Lösung interessiert sind, Herr Bundeskanzler, warum sagen Sie dann nicht vor dem Deutschen Bundestag, was Ihre Position ist? Unsere liegt auf dem Tisch; wir sind bereit, eine Entscheidung zu treffen, während Sie dieses Thema mit allgemeinen Floskeln abspeisen. ({23}) Wenn Sie die Verantwortung der Tarifpartner reklamieren, beschleicht mich immer das Gefühl, daß Sie etwas reklamieren, das Ihre Wertschätzung immer nur dann erhält, wenn Sie sich in Schwierigkeiten fühlen. ({24}) Wenn Sie scheinbar aus den Schwierigkeiten herausgekommen sind, schlagen Sie den Tarifpartnern, insbesondere den Gewerkschaften, ins Gesicht. So war es am Ende des Jahres 1995 und zu Beginn des Jahres 1996 mit dem Versuch eines Bündnisses für Arbeit. Kaum hatten Sie die Landtagswahlen im März 1996 mit einem für Sie und die F.D.P. besseren Ergebnis abgeschlossen, haben Sie den deutschen Gewerkschaften ins Gesicht geschlagen und die historische Chance eines Bündnisses für Arbeit und eines hohen Beschäftigungsniveaus in Deutschland aus ausschließlich parteipolitischen Erwägungen zerdeppert. ({25}) Ich wiederhole unsere Aussage: Die Sozialdemokratie in Deutschland ist jederzeit bereit, mit Ihnen über die Senkung der Lohnnebenkosten, über die Herausnahme versicherungsfremder Leistungen, über das Vermeiden eines Rentenversicherungsbeitrages von 21 Prozent und darüber zu reden, wie man die Erosion der Einnahmebasis durch die genannten Mißstände beseitigt. Sie haben etwas zur Steuerentwicklung gesagt. Auch hier möchte ich Sie auf eines aufmerksam machen. In Europa gibt es - wie ich finde: zu Recht - Bestrebungen, das Steuerrecht zu harmonisieren, natürlich unter Einschluß des Austrocknens von Steueroasen. Aber das ist nicht alles. So notwendig das eine ist, das andere darf man dabei nicht vergessen. Deshalb wäre es interessant gewesen, von Ihnen, Herr Bundeskanzler, beispielsweise etwas darüber zu hören, wie Sie den Bericht des europäischen Kommissars Monti, wie Sie die Entschließung des Europäischen Parlaments, wie Sie die Initiativen mancher europäischer Regierungen beurteilen, die Besteuerung von Arbeit und Arbeitseinkommen im Interesse von mehr Arbeitsplätzen und einem höheren Beschäftigungsniveau zu reduzieren und bei den Kapitalerträgen und den großen privaten Vermögen einen entsprechenden Ausgleich zu suchen. Sie können das nicht kommentieren, weil Sie für Deutschland Ihre Vorentscheidungen indirekt schon getroffen haben. Dies wird von Ihnen häufig durch den Hinweis auf vermuteten Sozialneid oder anderes belegt. Ich gönne jedem sein hohes Einkommen. Ich gönne jedem sein großes Vermögen. Ich reklamiere aber, was den schönsten Ausdruck im Vorspruch der Hamburger Landesverfassung gefunden hat, nämlich die Verpflichtung jedes Menschen, zum Wohle der Allgemeinheit beizutragen. Sie haben in dieser Hinsicht die Sozialpflichtigkeit aufgegeben. ({26}) Herr Bundeskanzler, auch dies hat mit europäischer Entwicklung zu tun. Es ist wahr, daß die europäische Integration ein einzigartiges Beispiel klugen Lernens ist. Es ist wahr, daß die europäische Integration gleichermaßen das Erbe des europäischen Bürgertums und seiner Revolutionen und der europäischen Arbeiterbewegung ist. Es ist wahr, daß die europäische Integration auch die Konsequenz aus den fürchterlichen Erfahrungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit dem millionenfachen Tod und der Zerstörung der Städte ist. Das ist alles wahr. Aber als Konsequenz hat man geschlußfolgert: Marktwirtschaft ist von Natur aus für sich allein nicht mit der Demokratie kompatibel, wenn sie nicht sozial- und rechtsstaatlich gezähmt ist. ({27}) Wenn Sie über diese soziale Verpflichtung einfach hinweggehen, verraten Sie nach meinem Urteil die wesentliche christdemokratische Überzeugung, daß nämlich das Streben nach dem Glück des einzelnen in gegenseitiger Verantwortung zu geschehen hat und daß man Rücksicht zu nehmen hat. Sie nennen es Nächstenliebe, wir hatten es Solidarität genannt. Im Kern meint es dasselbe. Was Sie zum Beispiel mit Ihrer Steuerpolitik betreiben, ist nicht nur der Sieg der Betriebswirtschaft und des Egoismus über die Volkswirtschaft und die allgemeine Verpflichtung, sondern ist auch die Aufgabe jenes Prinzips sozialen Zusammenhalts, das die christdemokratischen Volksparteien in anderen europäischen Staaten nach wie vor verfolgen. ({28}) Nun will ich Ihnen auch hierzu sowie zu der Frage der Sozialversicherung konkret sagen: Lassen Sie uns doch wenigstens das entscheiden, was gemeinsam entschieden werden kann. ({29}) Für uns war völlig unverständlich, daß Sie jetzt den Versuch einer Begrenzung oder gar einer Rückführung der Lohnnebenkosten und der Sozialversicherungsbeiträge erneut mit dem seit sieben Monaten leider ohne Erfolg betriebenen Versuch einer Steuerreform belasten. Aber wenn Sie dieses Thema schon in die Debatte einführen, dann lassen Sie uns doch wenigstens den Versuch machen, das manchmal schamhaft Steuerschlupflöcher Genannte - tatsächlich sind es ja Scheunentore - zu schließen und dafür zu sorgen, daß wenigstens in einem ersten Schritt die Erosion der Steuerbasis gestoppt wird. ({30}) Dann können wir gerne über Weiteres reden. Nur, wenn Sie das wollen, Herr Bundeskanzler: Sind Sie nicht mehr Herr der konkreten Entscheidungen? ({31}) Ich habe den Verdacht, daß Sie jeden einzelnen Schritt, den Sie gehen wollen, möglicherweise im Kreise zweier anderer Parteivorsitzender erst besprechen und absichern müssen. Nun gut, so sind die Bedingungen einer Koalition. Aber daß sich der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland jetzt auf das Niveau der bloßen Parteitaktik, auf das Niveau des bloßen Zusammenhalts einer Koalition, auf das Niveau von Herrn Gerhardt und Herrn Waigel, der Parteivorsitzenden, begibt, ({32}) das kennzeichnet, daß Sie nicht mehr als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, sondern nur noch als Vorsitzender der Koalition agieren. Das ist für Deutschland verhängnisvoll. ({33}) Nach Sozialabgaben und Steuern nenne ich ein drittes Beispiel, nämlich Ausbildung und lokale aktive Arbeitsmarktpolitik. Auch da ist die Frage, ob Sie bereit sind, in Europa entsprechende Entscheidungen mitzutragen. Auch da ist die Frage, ob Sie bereit sind, aus den Beispielen anderer Länder zu lernen. Dies gilt auch für die Entwicklung von Forschung und Technologie, beim Abbau von Bürokratie, bei der Finanzierung transeuropäischer Netze, bei einer stärkeren Rolle der Europäischen Investitionsbank. Hatte nicht Ihr Finanzminister noch vor wenigen Tagen die Absicht, Erträge der Europäischen Investitionsbank zur Finanzierung seines eigenen Haushaltes zu mißbrauchen? Ich entnehme Ihren Feststellungen, daß dieses Vorhaben aufgegeben worden ist. Ich schließe mit einer Bemerkung, die sich auf den gesamten Duktus, auf die Argumentation Ihrer Regierungserklärung bezieht: Ich kann nachvollziehen, daß Sie sich einen gewissen Spielraum für die Debatten in Luxemburg offenhalten wollen. Ich kann nachvollziehen, daß der Regierungschef eines jeden Landes darauf achten muß, daß er nicht so festgelegt ist, daß die anderen nur noch mitgehen können oder er nur noch Niederlagen einkassieren kann. Das kann ich alles nachvollziehen. Was ich aber nicht nachvollziehen und nicht akzeptieren kann, ist die Tatsache, daß Sie, Herr Bundeskanzler, so wie bei der Verabschiedung des Beschäftigungskapitels im Amsterdamer Vertrag erneut geschoben, gedrückt - ich will nicht sagen: getragen ({34}) werden müssen, um das zu tun, was Sie aus eigener Kraft, aus eigener Erkenntnis, aus eigener politischer Zielsetzung nicht mehr tun, was aber eigentlich Ihre Verpflichtung wäre und in Deutschland gesetzlich festgeschrieben ist: Diese Regierung tut entweder zu wenig oder eindeutig das Falsche. Die Kombination von außenwirtschaftlichem Gleichgewicht, angemessenem Wirtschaftswachstum, Stabilität der Preise und hohem Beschäftigungsniveau haben Sie aufgegeben, wenn nicht gedanklich, so doch wenigstens tatsächlich in Ihrer Politik. Das ist ein schwerer Schaden für die Überzeugungskraft der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und für Ihre Fähigkeit, die Rolle zu spielen, die Deutschland in Europa spielen sollte: klug interessiert an der Integration, und zwar so, daß die Menschen erkennen können: Die Tagesordnung der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ist auch die Tagesordnung der politischen Entscheidungsträger. Dazu haben Sie heute morgen leider gar keinen Beitrag geleistet. ({35})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

In der Debatte spricht jetzt der Kollege Dr. Heiner Geißler.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist leider so gekommen, wie ich es befürchtet habe, daß wir nämlich diese Europadebatte wieder dazu verwenden - wenn ich sage „wir", dann meine ich zunächst einmal nicht den Bundeskanzler, und auch ich will es nicht tun -, die alten parteipolitischen Vorwürfe über Beschäftigungs- und Wirtschaftsprogramme mit einer Neuauflage zu versehen. Wir wollen uns doch heute über das wirklich große Thema unterhalten: Wie kann man in Europa und natürlich auch bei uns in Deutschland eine der wichtigsten Aufgaben unserer Politik verbessern, nämlich den Menschen angesichts einer in der Tat großen Arbeitslosigkeit von 18 Millionen Menschen in Europa Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt zu geben? Ich glaube, daß dies auf dem Beschäftigungsgipfel in Luxemburg deswegen von besonderer Bedeutung ist, weil wir Europa alle wollen, aber eben gleichzeitig klarmachen müssen, daß Europa für uns nicht nur ein Gegenstand finanzpolitischer und währungspolitischer Aktivitäten ist, daß sich mit dem Gedanken Europa eben nicht nur Geld, Banken, Zinsen und Konvergenzkriterien verbinden, sondern in erster Linie das Schicksal der Menschen. Daß es uns in den letzten Jahren vielleicht nicht so gelungen ist, klarzumachen, daß Europa etwas mit der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen zu tun hat, ist möglicherweise der Grund dafür, daß Europa insgesamt noch nicht die gewünschte Akzeptanz gefunden hat. Weil der Beschäftigungsgipfel in Luxemburg genau dies zum Ziel hat, nämlich deutlich zu machen, daß Europa eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bringen kann, wollen wir, daß der Gipfel ein Erfolg wird. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wollen die Bundesregierung und den Ratspräsidenten darin bestärken, daß sie dafür sorgen, daß dieser Gipfel von den Menschen als ein wichtiger und erfolgreicher Beitrag angesehen wird, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. ({0}) Nur werden wir das natürlich nicht schaffen, wenn wir den Menschen von vornherein den Mut nehmen, indem wir die innenpolitische Auseinandersetzung auf die europapolitische Debatte übertragen. Wir müssen über die Beschäftigungspolitik reden. Aber wenn wir das tun, sollten wir zunächst einmal über die Vorteile reden, die die bisherige Europapolitik für die Menschen und für mehr Arbeitsplätze gebracht hat. Vor vier Jahren gab es in der Europäischen Union ein Haushaltsdefizit von 6,3 Prozent; ich glaube, der Bundeskanzler hat bereits darauf hingewiesen. Jetzt liegen die allermeisten Länder in Europa unter 3 Prozent. Wir hatten Mitte der 80er Jahre sogar Inflationsraten von 14 Prozent in Europa. Jetzt liegen die allermeisten Länder unter 2 Prozent. Es gab also eine Entwicklung, von der wir doch sagen müssen, daß sie, weil sie inflationsbekämpfend gewirkt hat, und zwar in einem Ausmaß, wie wir uns das überhaupt nicht vorstellen konnten, natürlich ein wichtiger Beitrag dafür gewesen ist, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten, und natürlich auch ein wichtiger Beitrag für die soziale Sicherung. Welches Sozialprogramm für den kleinen Mann gibt es eigentlich, das besser wäre, ihm zu helfen, als wenn man die Inflation von 14 Prozent auf unter 2 Prozent zurückführt? ({1}) Wenn es diese Macht der Konvergenz nicht gegeben hätte, wäre uns das doch gar nicht gelungen. Wir hören überall, die Konvergenzkriterien, die Europäische Union und das, was wir da miteinander anstreben, hätten zum Sozialabbau, zur Einschränkung von Arbeitsmarktprogrammen und zu vielem anderen geführt. In Wirklichkeit aber haben die Konvergenzkriterien dazu geführt, daß in allen wichtigen europäischen Ländern die ökonomischen Daten so verbessert worden sind, daß wir eine viel bessere Ausgangsbasis für eine vernünftige Beschäftigungspolitik haben, als wir sie hätten, wenn es die Konvergenzkriterien und das Ziel einer Europäischen Währungsunion nicht gegeben hätte. ({2}) Die CDU/CSU-Fraktion hat am letzten Montag ein Hearing über die Möglichkeiten eines Beschäftigungsgipfels, aber natürlich auch über die Auswirkungen des Euro durchgeführt. Es war hochinteressant. Hinsichtlich der Frage, ob man eine europäische Beschäftigungspolitik machen soll, wie es die Kommission in einigen Punkten vorgeschlagen hat, gingen die Auffassungen berechtigterweise hin und her. Es gab höchst unterschiedliche, auch unterschiedlich begründete Positionen. In einem Punkt waren sich aber alle Experten, die bei dem Hearing zu Wort gekommen sind, mit einer einzigen Ausnahme einig, nämlich darin, daß die pünktliche, stabilitätsorientierte und den Konvergenzkriterien entsprechende Einführung des Euro, wie es die Bundesregierung, meine Fraktion und die Koalition immer vertreten haben, die wichtigste Voraussetzung dafür ist, daß wir überhaupt positive Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt bekommen. ({3}) Das kann man ganz einfach begründen. Man muß einmal für die Phase von 1991 bis 1995 den Zusammenhang zwischen Wechselkursen und Beschäftigung herstellen. Wechselkursänderungen sind im Grunde genommen nicht anders zu bewerten als Lohnerhöhungen. Es macht für die Beschäftigung keinen Unterschied, ob die Löhne national um einen bestimmten Prozentsatz ansteigen oder ob der Wechselkurs um den gleichen Prozentsatz ansteigt. In dem genannten Zeitraum gab es im internationalen Vergleich bei fast gleichbleibenden Lohnstückkosten eine erhebliche Aufwertung der D-Mark gegenüber den EU-Währungen von ungefähr 17 Prozent. Das hatte eine unmittelbare negative Auswirkung, und zwar gerade so, als wenn wir eine Lohnsteigerung in erheblicher Größenordnung in Deutschland gehabt hätten. Infolgedessen ist die Einführung des Euro eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß die Aufwertungsschocks für unseren Arbeitsmarkt endgültig aus der Welt geschafft werden. ({4}) Ich sage dies an die Adresse all derjenigen, die die pünktliche Einführung des Euro in Frage stellen. ({5}) Das muß ich an die Adresse unserer eigenen Leute sagen; aber ich muß es natürlich genauso an Ihre Adresse sagen: Wir sollten endlich aufhören, in Deutschland - egal, um wen es sich handelt, ob es also um Ihre Leute oder um unsere Leute geht - die pünktliche Einführung des Euro ständig zu problematisieren, weil wir dadurch die Arbeitsplätze nicht sichern oder nicht weiter ausbauen, sondern die Arbeitsmarktsituation in Deutschland gefährden. ({6}) Ich will in diesem Zusammenhang, weil es etwas mit der Frage der Beschäftigungspolitik zu tun hat, darauf aufmerksam machen, daß ein interessanter Gedanke zur Debatte gestellt worden ist. Wir haben die Europäische Zentralbank. Es gibt neben den Punkten, die ich gerade genannt habe, noch einige andere Faktoren, die mit dem Euro zusammenhängen, zum Beispiel die Stabilität der Finanzmärkte und vieles andere mehr. Einige haben gesagt, es gebe das Risiko, daß die Europäische Zentralbank aus Angst davor, daß sich in einzelnen Ländern zum Beispiel die übrigen ökonomischen Kriterien negativ entwickeln, am Anfang möglicherweise eine restriktivere Zinspolitik betreiben könnte. Es ist der Vorschlag gemacht worden, daß sich, um diese Gefahr zu beseitigen, die Tarifvertragsparteien, auch in Deutschland, darauf verständigen, im nächsten Jahr mittelfristige Lohnabschlüsse zu tätigen, damit für die Europäische Zentralbank auch hinsichtlich der Lohnentwicklung eine Sicherheit vorhanden ist, die es ihr ermöglicht, eine Zinspolitik zu betreiben, die zwar stabilitätsorientiert ist, aber nicht deflatorisch wirkt. Ich finde, daß diese Überlegung absolut richtig ist. Nun haben Sie, Herr Scharping, gesagt, man solle - dies ist ja auch ein wichtiger Punkt auf dem Beschäftigungsgipfel - die besten Praktiken miteinander vergleichen. Das ist eine sehr gute Idee. Man kann nicht oft genug betonen, daß ein Wettbewerb auch in sozialen und arbeitsmarktpolitischen Fragen innerhalb der Europäischen Union richtig ist. Weiter sagten Sie, vom dualen System in Deutschland könne man lernen, wie Jugendarbeitslosigkeit bekämpft werden kann. Das duale System funktioniert aber auch in Deutschland nur so lange, wie wir den Hunderttausenden und Millionen kleiner und mittlerer Betriebe, von denen das Funktionieren des dualen Systems abhängt, nicht die Luft nehmen, die sie benötigen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Aus diesem Grunde ist - ich komme jetzt auf unser Steuersystem zu sprechen - in den Kommissionsrichtlinien ausdrücklich festgelegt, daß das Steuersystem beschäftigungsorientiert ausgerichtet sein müsse. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({7}) Daher stelle ich jetzt einmal trotz allem Hin und Her - Sie haben ja aufgezählt, in welchen Punkten Sie mit uns übereinstimmen, und gesagt, Sie würden gerne einmal von der Koalition wissen, was sie will - fest: Wir haben die Steuerreform verabschiedet; sie ist vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden. ({8}) Auf der Basis dieses Vorschlages sollten wir doch miteinander reden. Die Leute draußen können es doch gar nicht mehr hören. In den letzten Tagen haben sie den Eindruck bekommen, wir bewegten uns, würden wieder miteinander Gespräche führen und zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können. Jetzt haben sie erneut den Eindruck, es gehe wieder nicht. ({9}) Alle Modelle, die Sie uns immer wieder vorstellen, seien sie aus Holland, Dänemark oder Schweden, Modelle, die mit Einschränkungen von sozialen Leistungen und einem reformierten Steuersystem funktionieren, sind Konsensmodelle, das heißt, sie sind in Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition, Gewerkschaften und Unternehmen durchgesetzt worden. ({10}) Jetzt müssen Sie doch endlich einmal mitmachen. Wir sind doch auf dem richtigen Wege. ({11}) Sie sind doch auch dafür, daß Steuervergünstigungen abgebaut werden, daß die Spitzen- und die Eingangssteuersätze gesenkt werden. Bei den wichtigsten Elementen sind wir einer Meinung. Die Leute draußen verstehen nicht mehr, daß eine als notwendig erkannte Reform von denen, die sie nach Bonn geschickt haben, nun schon seit Monaten blockiert und verhindert wird. Das verstehen die Menschen nimmer! ({12}) Da Sie christliche Demokraten - auch gegen meine eigene Partei - hier anführen, möchte ich Ihnen entgegenhalten, was Premierministers Juncker auf unserem Parteitag gesagt hat: Es stehen nicht nur Christdemokraten in Europa in der Regierungsverantwortung, sondern auch Sozialisten können, wenn sie wollen, Steuerreformen durchführen, Spitzensteuersätze senken, Steuerschlupflöcher beseitigen - wir benutzen diesen Ausdruck nicht so gerne, aber ich referiere Juncker - und dafür sorgen, daß durch niedrigere Steuern am Ende ein höherer Steuerertrag in die Staatskasse eingefahren wird. ({13}) Man muß kein Christdemokrat sein, um das zu tun. Es wäre nur gut, wenn alle Sozialisten dies so täten. ({14}) Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie, dazu beizutragen, daß wir in der Frage der Steuer- und auch der Rentenreform zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Herr Scharping, nicht nur bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sind wir besser als die anderen; nicht nur hier können Sie etwas von uns lernen. Zwar können auch wir viel von den anderen lernen. Das ist aber nicht das Thema, das ich jetzt behandeln möchte. Mir geht es darum: Wir haben in Deutschland eine höhere Produktivität als in England oder in Frankreich, sogar eine höhere als in Amerika. ({15}) Diese höhere Produktivität ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die deutschen Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände in den letzten Jahren und Jahrzehnten - man kann sogar sagen: seit Mitte der 50er Jahre - eine im wesentlichen produktivitätsorientierte Lohnpolitik betrieben haben. Das steht im Gegensatz zur expansiven Lohnpolitik, die in den gewerkschaftlichen Diskussionen der 50er Jahre bis in die 60er Jahre hinein in Frankreich und England eine große Rolle gespielt hat. Produktivitätsorientierte Lohnpolitik bedeutet eben, daß Löhne und Lohnnebenkosten sich an der Produktivität orientieren. Es ist ebenfalls Bestandteil der Vorschläge der Kommission, daß wir eine solche Lohnpolitik betreiben, die sich beschäftigungspolitisch rentiert und auswirkt. Jetzt frage ich einmal den Ministerpräsidenten des Saarlandes, wie er es mit diesem als richtig erkannten Ziel vereinbaren kann, vor 14 Tagen plötzlich ein Ende der Bescheidenheit in der Lohnpolitik zu propagieren. ({16}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ende der Bescheidenheit in der Lohnpolitik? ({17}) - Wenn Sie es nicht gesagt haben, dann haben es andere gesagt; auf jeden Fall haben Sie dem zugestimmt. Was heißt denn „Ende der Bescheidenheit"? Wir machen ja die Leute verrückt, die Mittelständler, die Unternehmer. Wir haben ein Beschäftigungsprogramm, ein Beschäftigungspaket verabschiedet, wo wir die Kosten gesenkt haben - mit einer Aufforderung, daß jetzt Leute eingestellt werden. Das ist noch nicht erfolgt, das weiß ich auch. Wir monieren es und sagen, das muß jetzt geschehen. Es kann auch geschehen, zum Beispiel durch Überstundenabbau usw. ({18}) Bei den Unternehmern, den Handwerkern und den Mittelständlern, bei den kleinen und mittleren Unternehmen werden nämlich die Arbeitsplätze geschaffen. Meinen Sie denn, die Bereitschaft, Leute einzustellen, wird gestärkt, wenn Sie jetzt in dieser kritischen Situation ein Ende der Bescheidenheit fordern? Damit machen Sie genau das Gegenteil von dem, was man tun muß. ({19}) Außerdem: Beschäftigungspolitik brauchen wir. Wir sind auch in der Lage, durchaus konkrete Ziele anzusprechen. Wir müssen entsprechend dem Kommissionsvorschlag der Frauenarbeitslosigkeit besondere Aufmerksamkeit widmen und den Jugendlichen helfen. Wir sagen: Jedem Jugendlichen, der es wünscht und dazu befähigt ist, muß ein Ausbildungsplatz oder zumindest ein Einstiegsangebot zur beruflichen Qualifizierung angeboten werden. ({20}) Wir haben Anfang nächster Woche einen Kongreß in Berlin, wo wir genau diese Fragen noch einmal im Detail bereden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Problem ist: Wir können das Ganze nicht auf europäischer Ebene lösen. Vielmehr müssen wir Langzeitarbeitslose, Jugendarbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosenhilfeempfänger wieder in den normalen Arbeitsmarkt hinüberführen. ({21}) Das können wir nicht von Brüssel aus dirigieren. Das wissen wir. Wir brauchen dezentralisierte Programme. Deswegen sollten wir auf dem Beschäftigungsgipfel nicht quantifizierte Ziele formulieren. Was macht es für einen Sinn, wenn wir sagen, wir müssen auf 7 Prozent runter, statt auf 12 Prozent, und 500 000 müssen rein oder nur 400 000. Das hilft uns da nicht weiter. Die Lage ist in Portugal und Spanien anders als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Laßt uns doch über die Methoden und über die Instrumente reden. Dann brauchen wir eine Dezentralisierung, und da kann man voneinander lernen. Man kann zum Beispiel auch die Lohnpolitik dezentralisieren. Wir machen jetzt in Ostdeutschland und überall in der Bundesrepublik flexible Tarifverträge mit Korridoren usw. Das kann ich doch nur dezentralisiert machen, selbstverständlich in Brandenburg anders als in Portugal. Infolgedessen: Dezentralisierte Programme für Langzeitarbeitslose und Maßnahmen zur Wiedereingliederung. Wir sind mit der Kommission völlig einer Meinung, daß wir hier inhaltliche Ziele für Arbeitslosenhilfeempfänger und Sozialhilfeempfänger ansprechen müssen. Wir müssen auch Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe besser koordinieren. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für die Langzeitarbeitslosen. Das alles kann man sehr konkret in Brüssel ansprechen und formulieren. Dennoch, meine sehr verehrten Damen und Herren, bleibt überhaupt keine andere Alternative: Wenn wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, müssen wir auf der nationalen Ebene - da kann man in der Tat von den anderen Staaten lernen - die ökonomischen Voraussetzungen schaffen, damit die Betriebe wieder mehr Menschen einstellen. Denn es hat ja keinen Sinn, Menschen auf Dauer im zweiten oder dritten Arbeitsmarkt zu halten. Was wir brauchen, ist der Übergang von diesen steuerfinanzierten Arbeitsmärkten zu Dauerarbeitsplätzen, die sich rentieren. Das ist doch der entscheidende Punkt. ({22}) Wir brauchen für den Übergang arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Laßt uns miteinander darüber debattieren, was man da von anderen Ländern lernen kann. Auch unsere Fraktion ist selbstverständlich für eine Weiterführung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Dies gilt vor allem für die Bildungsmaßnahmen; das ist ein ganz entscheidender Gesichtspunkt. Auch das ist auf diesem Beschäftigungsgipfel anzusprechen und ist in den Programmen ja auch vorhanden. Aber uns bleibt nichts anderes übrig, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir müssen die Wettbewerbsbedingungen unserer Unternehmen verbessern. Die Leitlinie ist die Produktivität. Wir müssen mit den Kosten herunter. Wir dürfen aber mit den Kosten nicht so weit heruntergehen, daß der Sozialstaat zerstört wird. ({23}) Wir können gern darüber debattieren, wo eine Grenze dafür liegt. Das ist der Punkt, um den es geht. Diesbezüglich bin ich doch der Meinung: Wenn auf 100 DM Lohn in Deutschland 85 DM Lohnnebenkosten kommen ({24}) und es in der Baubranche sogar 100 DM sind - ich komme ja gleich dazu -, ({25}) so sind von dem erstgenannten Betrag 42 DM durch die Sozialversicherung und 43 DM durch betriebliche und tarifliche Vereinbarungen bedingt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kern des Sozialstaates sind vor allem die Rente und die Gesundheit. Aber Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, Sie könnten diesen Kern des Sozialstaats nur durch Umfinanzierung erhalten. Sie müssen, allein wenn Sie an die Rentenversicherung denken, auch Maßnahmen ergreifen - und zwar strukturelle Maßnahmen -, die die Belastungen der Rentenversicherung zwischen Jüngeren und Älteren ausgleichen. ({26}) Das lehnen Sie zum Beispiel ab. ({27}) Sie wollen die Rentenversicherung durch eine Umfinanzierung finanzieren. Darin sind wir mit Ihnen einig; aber wir sind genauso der Auffassung, daß wir neben der Umfinanzierung eben auch eine Strukturreform brauchen, wenn wir die Soziallasten in Schach und Proportion halten wollen. Deswegen gilt auch für die Rentenreform: Wir werden die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze nur schaffen, wenn wir uns als reformfähig erweisen, so wie das bei anderen Ländern auch der Fall gewesen ist. Ich habe sie gerade aufgeführt. Dies ist nur möglich gewesen, weil man zusammengearbeitet und nicht gegeneinander gewirkt hat. Dieser europäische Beschäftigungsgipfel kann auch ein Signal dafür sein, daß wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht in der Konfrontation lösen, sondern in der Kooperation, im Konsens. Dazu laden wir Sie ein. Sagen Sie nicht ständig nein zu den Vorschlägen, die wir machen. ({28}) Alles haben Sie abgelehnt: die Gesundheitsreform, die Rentenreform, die Steuerreform. Sie sagen zu allem, was an Initiativen ergriffen worden ist, nein. Das ist das Gegenteil von Konsens, das ist Konfrontation, also genau das, was wir in Europa und natürlich auch in Deutschland nicht brauchen können. ({29})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Kollege Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Arbeitslosigkeit ist das drängendste Problem unseres Landes und auch der Europäischen Union. 18 Millionen Arbeitslose und eine dramatische Jugendarbeitslosigkeit zeigen, daß es bisher nicht gelungen ist, auf diesem Gebiet eine europäisch abgestimmte Politik zum Tragen zu bringen und zum Erfolg zu führen. Endlich findet jetzt ein Sondergipfel der Europäischen Union für Beschäftigung in Luxemburg statt, über den wir heute diskutieren. Allerdings gebietet es die Forderung nach historischer Wahrheit, zu sagen, daß dieser Sondergipfel nur gegen den erbitterten Widerstand dieser Bundesregierung zustande gekommen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Das ist unwahr!) - Das ist nicht die Unwahrheit, Herr Bundeskanzler. Joseph Fischer ({0}) Sie waren die ganze Zeit der Meinung, Wirtschaft finde in der Wirtschaft statt, und entsprechend haben Sie sich auch auf europäischer Ebene verhalten. Ohne eine die Mehrheitsverhältnisse verändernde Wahlentscheidung des französischen Volkes, ohne eine Veränderung der Mehrheiten in Großbritannien, ohne eine Veränderung der politischen Landschaft in unseren wichtigsten Partnerländern würde der europäische Sondergipfel in Luxemburg nicht stattfinden. Sie hätten die Initiative dazu nicht übernommen. ({1}) Herr Bundeskanzler, wer Ihnen heute morgen zugehört hat, der weiß, wo zumindest in diesem Lande das Problem liegt, nämlich in der Politik. Was Sie heute morgen hier geboten haben, das bräsige Heruntermurmeln von sattsam Bekanntem, das bisher nicht oder nicht zureichend gewirkt hat, zeigt die ganze Leidenschaft, die Sie in die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit legen. Es ist zum Weinen, wenn man dies mitverfolgt hat. ({2}) Dabei, Herr Bundeskanzler, sind wir uns in der Frage der Verwirklichung der Europäischen Währungsunion völlig einig. ({3}) - Bei mir nicht plötzlich. Ich war von Anfang an dafür, Kollege Haussmann. Das war nicht plötzlich. Gerade wenn ich die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion zur Bezugsgröße nehme und davon ausgehe, daß der Euro pünktlich kommt, dann muß man bereits heute über den Tag der Einführung des Euro hinausdenken angesichts dessen, daß wir wissen, daß das Problem der Arbeitslosigkeit ein strukturelles Problem ist, das wir nicht in einem Schritt werden lösen können. Aber der erste Schritt ist zu tun und muß strategisch auf die Tatsachen ausgerichtet werden, die sich aus einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion und dem gemeinsamen Geld ergeben. Herr Bundeskanzler, ich behaupte: Die Vergemeinschaftung der Geldpolitik durch eine gemeinsame Währung wird auch eine Vergemeinschaftung der Politik der beteiligten Länder notwendig machen, wenn wir an der Nachhaltigkeit der Kriterien ein Interesse haben. Diese Vergemeinschaftung kann man nicht auf die Abstimmung der einzelnen Zentralbanken und auf die Europäische Zentralbank reduzieren. Das heißt aber im Klartext, daß der nächste Schritt natürlich eine Abstimmung der Finanz-, Haushaltsund Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder auf der Grundlage des Euros sein muß, wenn dessen Einführung erfolgreich sein soll. ({4}) - Jetzt kommt der oberkluge Liberale und sagt: Aber nicht der Arbeitsmarktpolitik. ({5}) Wie können Sie sich angesichts von 18 Millionen Arbeitslosen eine abgestimmte Wirtschaftspolitik vorstellen, die dann nicht auch einen gewaltigen Vergemeinschaftungsdruck auf die Arbeitsmarktpolitik ausübt? Man muß offensichtlich Mitglied der F.D.P. sein, um das nicht im Kopf zusammenzubekommen. ({6}) - Sie sprechen doch nach mir. Erzählen Sie Ihre Ansicht nachher vom Podium. Dann können es alle mitbekommen. Es ist so intelligent, was Sie mir dauernd zurufen, daß alle es mitbekommen sollten. ({7}) Die Konsequenz der Nachhaltigkeit der Konvergenzkriterien wird sein, daß wir eine Vergemeinschaftung der Arbeitsmarktpolitik bekommen. ({8}) Ich füge hinzu: Ich hoffe, daß dieser Vergemeinschaftungsdruck zu weiterer Souveränitätsübertragung der erste Schritt zu einer Souveränitätskoordination auch der beteiligten Nationalparlamente in diesem Bereich sein wird, wenn wir das Ganze nicht nur vordemokratisch auf der exekutiven Ebene belassen wollen. Das setzt aber voraus, daß die gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik selbstverständlich dann auch einen gemeinsamen europäischen Sozialraum, eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik schaffen muß. Daran wird kein Weg vorbeiführen, Herr Bundeskanzler. Deswegen ist das, was Sie bei all Ihrem Bekenntnis zum Euro und all Ihrer Leidenschaft beim Einsatz für die Umsetzung von Maastricht und die Einführung des gemeinsamen Geldes heute geboten haben, ohne jede Zukunft und richtet sich nicht in eine europäische Zukunft, sondern bestätigt Ihre innenpolitische Unfähigkeit. ({9}) Wir werden aus ökonomischen, politischen und sozialen Gründen nicht umhin kommen, die Konvergenzkriterien zu erweitern, weil die Menschen Europa sonst nicht akzeptieren würden. Ein Deflationseuropa, ein Europa, das in der Beschäftigung keine Fortschritte erreicht, wird gegen die Wand fahren. Das wäre so ziemlich das Schlimmste, was ich mir - auch und gerade in historischer Perspektive - vorstellen kann. Deswegen brauchen wir, Herr Bundeskanzler, endlich in der EU abgestimmte, verbindliche Beschäftigungsleitlinien. ({10}) Joseph Fischer ({11}) Deswegen brauchen wir ein beständiges, auf europäischer Ebene abgestimmtes Kriterium, das den Abbau von Arbeitslosigkeit und die Stärkung von Qualifizierung und Requalifizierung des Arbeitskräftepotentials, von Jugendarbeitslosen und Langzeitarbeitslosen, zu europäischer Politik macht. Es nützt nichts, dies nur auf nationaler Ebene zu betreiben. Wir brauchen hier ähnlich wie in der Finanz-, Haushalts- und Währungspolitik ein verbindliches Konvergenzkriterium, auf das alle beteiligten Länder hinarbeiten. Sonst läuft die Sache schief. ({12}) Meine Damen und Herren, das setzt voraus, daß wir auch in der Geldpolitik so manche Schablone, wie sie zum Beispiel der Kollege Geißler gerade wieder vorgetragen hat, für einen Augenblick überdenken, kritisch überprüfen und vielleicht auch vergessen. Herr Kollege Geißler, ich schätze Sie sehr. Sie haben sich gerade zur Entwicklung der Produktivität geäußert. Wenn es denn stimmen würde! Deutschland ist die einzige große Volkswirtschaft, die in der Binnennachfrage sträflich hinterherhinkt. ({13}) Nun sage ich gar nicht: Laßt uns staatlich finanzierte Ausgabenprogramme durchführen! Der entscheidende Punkt ist doch, daß die Produktivitätsentwicklung der Reallohnentwicklung davonläuft. Wenn eine Produktivitätsentwicklung höher ist als die Reallohnentwicklung und nicht durch weitere Arbeitszeitverkürzungen aufgefangen wird, bewirkt sie den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das ist logisch. ({14}) - Zur Steuerreform und zu den Liberalen komme ich gleich. Kollege Geißler, da sage ich Ihnen: Wir haben heute ein Deflationsrisiko. Das ist an der Entwicklung der öffentlichen Haushalte bereits zu erkennen. Wenn wir über Binnennachfrage reden, reden wir doch nicht nur über den individuellen Konsum, sondern auch über die zusammengebrochene Binnennachfrage der öffentlichen Haushalte auf regionaler und kommunaler Ebene, ({15}) die vor allen Dingen für die regionale, nicht exportierende Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Hier müssen wir feststellen, daß es richtiggehend zu einem Zusammenbruch gekommen ist. Was in diesem Zusammenhang die Triumphmeldungen des Finanzgenies Waigel angeht, so mag er mit seinen Finanztricks den Bankrott der Bundeskasse noch bis zum Jahr 1999 vertagen können. Aber bei den Ländern und bei den Gemeinden richtet er damit ein Debakel an, womit wir das Deflationsrisiko sogar noch potenziert haben. ({16}) - Ich komme gleich noch zur Steuerreform, Geduld! Hinzu kommt eine Reallohnentwicklung, zu der ich Ihnen, Kollege Geißler, sage: Die Reallöhne stehen heute auf dem Niveau von 1989. Das ist eine Tatsache. Worunter die Unternehmen ächzen und stöhnen, ist die hohe Bruttolohnentwicklung. Kollege Geißler und Herr Bundeskanzler, wenn Sie von diesem Platz aus die hohen Bruttolöhne im Lande beklagen, die Arbeitsplätze vernichten und investitionsfeindlich und -abschreckend sind, dann frage ich Sie, woher denn diese hohe Bruttolohnentwicklung kommt. Ist sie denn vom Himmel gefallen? Das Gegenteil ist der Fall. Kollege Scharping hat völlig zu Recht darauf hingewiesen. Bei den Krankenkassen ist das Problem auf Grund der Regionalisierung offensichtlich geworden. Die Krankenkassen im Osten - das ist keine Schuld der Menschen im Osten, sondern Konsequenz Ihrer verfehlten Politik und einer dramatisch anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland - sind faktisch pleite, und in der Krise des Rentensystems mit Beiträgen von 21 Prozent kommt jetzt das gleiche zum Ausdruck. Wir haben ein Strukturproblem; aber dieses Strukturproblem macht sich nicht an den gegenwärtigen 21 Prozent fest. Vielmehr sind diese 21 Prozent das Ergebnis einer Überlastung der Rentenkassen durch Ihre Einheitspolitik, bei der es Steuererhöhungen nicht geben sollte. ({17}) Dadurch haben Sie eine schwere Erblast auf sich geladen und sich meines Erachtens an vielen Arbeitslosen versündigt. Die Arbeitsplätze, die wegen Ihrer falschen Politik auf Ihr Konto gehen, werden Sie vermutlich nicht mehr in Hunderttausenden allein messen können. ({18}) Wir stehen heute also vor der Situation, daß in dieser Koalition nichts mehr geht. Ich versuche mir Helmut Kohl auf dem Weg nach Luxemburg vorzustellen. In Luxemburg tritt er dann mit seinen Vorschlägen zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit an. Da werden Sie, Herr Bundeskanzler, dann auf Partner stoßen, die sich fragen werden, was Sie zu Hause machen. Schauen wir es uns doch einmal im einzelnen an! Zuerst sprachen Sie von der Halbierung der Arbeitslosenzahlen bis zum Jahr 2000. ({19}) Eher werden Sie sich halbieren, als daß Ihnen bis zum Jahr 2000 eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen gelingt; davon können Sie sicher ausgehen. ({20}) Joseph Fischer ({21}) Damit wird es angesichts der Zeit, die Sie vertan haben, nichts werden, auch dann nicht, wenn es 1998 einen Regierungswechsel gibt. Sie haben das Ziel faktisch aufgegeben; beim Bündnis für Arbeit ist von Ihnen ganz persönlich die große Chance vertan worden, um das Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit zu erreichen. Dann haben Sie die Überstunden als das große Problem erkannt. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Was hat denn diese Bundesregierung bisher getan, um das Problem der Überstunden zu bekämpfen? Wo ist denn Ihre Vorlage des entsprechenden Entwurfes eines Arbeitszeitgesetzes? Wir haben einen Vorschlag entwickelt, mit dem Sie die Lohnnebenkosten in einem Bonus-Malus-System einsetzen könnten, um beschäftigungsfreundliche Unternehmen zu fördern und andere wiederum mehr zu bestrafen. Nichts dergleichen kommt von Ihnen, sondern Sie haben ein paar Sprüchlein abgesondert und sind dann zum nächsten Problem übergegangen. Wie ist es denn mit der Teilzeitarbeit und dem holländischen Modell, das Sie immer predigen? Sie hätten doch schon längst handeln können, Herr Bundeskanzler. Keine Opposition hätte Sie daran gehindert; im Gegenteil, wir hätten begeistert mitgemacht. Aber nichts ist getan worden. Oder denken Sie an das Staatsbürgerschaftsrecht oder an die 610-DMJobs. Liegt es denn an der Blockade durch die Opposition, oder liegt es daran, daß Sie, eingeklemmt zwischen CSU und F.D.P., in all diesen Fragen zu Lasten unseres Landes letztendlich bewegungsunfähig geworden sind? ({22}) Dann ist der Bundeskanzler plötzlich aufgewacht. Grund dafür war der 21-Prozent-Hammer des Norbert Blüm, der gestern in der Aktuellen Stunde wieder in der bekannten Manier eines Lämmerschwänzchens, das von nichts wußte, aufgetreten ist: der kleine Norbert, verfolgt von allen bösen Kräften der Welt. Nein, nein, so ist das nicht. Die „FAZ" - immerhin der Wirtschaftsteil der „FAZ", gemeinhin nicht das zentrale Veröffentlichungsblatt rot-grüner Politik - hat es zu Recht beschrieben. „Der Kanzler war es", so lese ich als Überschrift. Und weiter: Gewiß, der Arbeitsminister war immer dabei, und er hat nie laut protestiert. Aber die Verantwortung für die keineswegs nur demographisch bedingte Misere der Rentenversicherung liegt beim Regierungschef. Kohl mag nicht ganz übersehen haben, wie teuer seine Durchwursteleien sind. Von der Verantwortung entbindet ihn das nicht. Klarer kann man das meines Erachtens nicht sagen: Die 21 Prozent sind ein direktes Ergebnis Ihrer verfehlten Einheitspolitik, Herr Bundeskanzler. Sie wollten die Steuern nicht erhöhen. 1990 hieß es: Wer CDU wählt, wählt keine Steuererhöhungen, wer SPD wählt, wählt Steuererhöhungen. - Aber das geht ja gerade so weiter. Die 21 Prozent sind angesichts von knapp 4,5 Millionen registrierten Arbeitslosen in diesem Lande in der Tat dramatisch. Nun ist Ihnen die SPD sehr weit entgegengekommen. Wir sind Ihnen auch gemeinsam mit dem unechten Vermittlungsergebnis sehr weit entgegengekommen, nämlich indem wir gesagt haben: Laßt uns die streitigen Dinge streitig stellen und die nicht streitigen Dinge gemeinsam anpacken, wie auch bei der Steuerreform. Mit uns wäre eine Senkung des Spitzensteuersatzes und eine Senkung des Eingangssteuersatzes möglich gewesen. Ich sage Ihnen nochmals: Was mit uns nicht möglich ist - davon reden Sie angesichts der Waigelschen Haushaltslöcher heute nicht mehr -, ist eine Nettoentlastung. ({23}) Alles andere, inklusive des Schließens der Steuerschlupflöcher, hätten wir regeln können. ({24}) Ich hatte schon die Befürchtung, die SPD vergesse unter dem Eindruck eines bedeutenden automobilpolitischen Sprechers dieser Partei ihre ökologischen Grundsätze, ({25}) Wenn Sie eine ökologische Steuerreform auf europäischer Ebene durchsetzten, würde Sie das am Ende Ihrer Amtstage zieren, Herr Bundeskanzler. Auch das sage ich Ihnen hier. Der entscheidende Punkt aber ist ein anderer. Der entscheidende Punkt ist: Die SPD kam Ihnen unter dem Eindruck dieser 21 Prozent nochmals einen Schritt entgegen. Was war Ihre Antwort? Haben Sie die ausgestreckte Hand ergriffen? - Nein, das Gegenteil war der Fall. Die F.D.P., die nur ein Problem hat, nämlich: Wie profiliere ich mich bei all den Steuererhöhungen - denen sie zustimmt - als Steuersenkungspartei?, hat erklärt: Wir machen das nur, wenn gleichzeitig das ganze Projekt - zu dem die SPD immer erklärt hat, daß sie nicht zustimmt, weil es auf eine Senkung des Rentenniveaus hinausläuft - auf das Jahr 1998 vorgezogen wird. Das heißt: Die ausgestreckte Hand wurde mit einem Fausthieb mitten in das Gesicht der Sozialdemokraten beantwortet, und zwar allein aus Koalitionsräson. ({26}) Die Interessen des Landes zählen bei Ihnen nichts mehr; das ist das Prinzip Kohl. Bei Ihnen zählt allein die Erhaltung der Koalition und damit der Machterhalt. Das ist die wirkliche Blockade in diesem Land, meine Damen und Herren. ({27}) Nein, Herr Bundeskanzler, wenn Sie nach Luxemburg gehen, dann werden Sie unter der Überschrift Joseph Fischer ({28}) hingehen: Stillstand, dein Name ist Helmut Kohl in diesem Land. ({29}) Und Ihnen wird es anders gehen als dem Apostel Paulus vor Damaskus. Ihnen ist die Gnade, daß der Heilige Geist noch über Sie kommt, nicht beschieden. Vielmehr müssen die Wählerinnen und Wähler nächstes Jahr über Sie kommen, damit dieses Land endlich vorankommt. ({30})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Helmut Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war interessant: Der erste Ansatz von den Oppositionsrednern war, über europäische Beschäftigungspolitik zu reden; am Schluß endete es im deutsch-deutschen Wahlkampf. Meine Damen und Herren, Sie müssen sich wirklich entscheiden, was Sie in den Mittelpunkt stellen. Ich habe gehört, wie Herr Scharping die Betriebswirtschaft gegen die Volkswirtschaft ausspielte. Wie sollen wir denn unter den Bedingungen der Globalisierung Arbeitsplätze sichern, Herr Scharping, ohne betriebswirtschaftliche Grundsätze in den Betrieben zu berücksichtigen? Das ist doch Teil des amerikanischen Beschäftigungserfolges. Sie, Herr Fischer, haben von der Quantifizierung gesprochen. Darüber kann man reden. Nur, die gesamteuropäische Arbeitslosigkeit ist die Addition nationaler Arbeitslosigkeiten. Das heißt: Wenn Sie hier bei der Innenpolitik mitmachen und wenn wir in Deutschland 1 Million Arbeitsplätze schaffen, dann reduzieren Sie die europäische Arbeitslosigkeit um fast 10 Prozent. Daraus wird ein Schuh. ({0}) Ein dritter Punkt: Herr Fischer, ich kann mir richtig vorstellen, wie Sie Ihren Antrittsbesuch als Außenminister in Amerika machen - mit dem NATO-Austritt und einer Benzinpreiserhöhung auf 5 DM. Bevor Sie hier die ganz großen Sprüche zur Währungsunion machen, klären Sie einmal eines: Ihre Fraktion hat im Europa-Ausschuß angekündigt, daß sie dem Maastricht-II-Vertrag nicht zustimmen werde. Das heißt, die Währungsunion ist ohne Stabilitätspakt. Bringen Sie doch einmal Ihren eigenen Laden in Ordnung, bevor Sie hier so groß auftreten, Herr Fischer! ({1}) Bei der letzten Bundestagsdebatte war Herr Fischer im Plenum für den Euro, abends war der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen bei einer „Pro-und-Contra"-Sendung im Fernsehen dagegen. Das ist grüne Politik. Wenn Herr Fischer, wenn Herr Scharping und nachher Herr Lafontaine versuchen, den Bundeskanzler und die Koalition in Sachen Europapolitik zu überholen, so ist das lächerlich. Das ist absolut lächerlich! Das versteht in den anderen europäischen Ländern doch überhaupt niemand. ({2}) Wer ist denn von Anfang an für den Vertrag von Maastricht gewesen, als Herr Schröder noch von „Monopoly-Geld" gesprochen hat? Wer ist denn für eine fünfjährige Verschiebung der Währungsunion? ({3}) Das ist doch der Möchtegern-Blair, Herr Schröder. Wer hat denn in London jetzt schon wieder eine Rede gehalten nach dem Motto, wir übernähmen uns bei der Osterweiterung und vor Ablauf von zehn Jahren sei da nichts zu machen? Meine Damen und Herren, wer so im Ausland die europapolitische Linie der Bundesregierung beschädigt, schafft damit natürlich keine zusätzlichen Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland. ({4}) Ich habe gelesen, daß Ministerpräsidentin Simonis auf einem hochrangigen Seminar in München vom deutschen Bundeskanzler nur als dem „Dicken" redete. Sie hat dort vor dem österreichischen Bundeskanzler ausgeführt, man habe das 60-Prozent-Kriterium nur erfunden, um die „Itaker" herauszuhalten. Das ist unglaublich, meine Damen und Herren! Auch sozialdemokratische Ministerpräsidenten müssen sich einmal angewöhnen, im Ausland in gebührender Form deutsche Interessen zu vertreten. Das ist ein absoluter Skandal! ({5}) Ich kehre zum Thema zurück und sage Ihnen: Jede Rede über Beschäftigung in Europa muß mir der Währungsunion und mit dem Binnenmarkt beginnen. Es gibt auf der europäischen Ebene überhaupt nichts Wichtigeres, als für eine Vertiefung des Binnenmarktes und für eine pünktliche Einführung der Währungsunion zu sorgen. Ohne Binnenmarkt, ohne gemeinsame Währung sind die Europäer im weltweiten Wettbewerb um Arbeitsplätze mit Amerikanern, mit Japanern hoffnungslos unterlegen. ({6}) Wer die Währungsunion verschieben will und Wer, wie Herr Schröder, ständig davon redet, trägt natürlich auch dazu bei, daß sich zum Beispiel der deutsche Mittelstand - das ist ein großes Problem - nicht pünktlich auf den Euro einstellt. Die Leute sagen: Wenn bedeutende Kanzlerkandidaten von fünf Jahren Verschiebung reden, warte ich mal ab. ({7}) - Ich will jetzt nicht auf die Münchner Diskussion eingehen, sondern mich den Sozialdemokraten zuwenden. Generell gilt: Alle Ministerpräsidenten sollten sich um ihre Dinge vor Ort kümmern, vor allem um die Bildungs- und Kulturpolitik, ({8}) denn die Bildungs- und Kulturpolitik ist der entscheidende Faktor für die Menschen, sich angesichts der Globalisierung zu behaupten. ({9}) Sie sollten keine falschen Signale setzen, denn solche Signale werden im Ausland anders gedeutet, meine Damen und Herren. Die pünktliche Einführung der Währungsunion ist die große Chance, amerikanische und japanische Direktinvestitionen nach Deutschland zu holen. Ein Markt, eine Währung, deutsche Sprache, deutsche Produktivität der Arbeitskräfte sind hochattraktive Standortfaktoren für asiatische und amerikanische Unternehmen. Ein Wort zur Personaldiskussion: Hierzu kann die Bundesregierung keine Aussage machen, wir können nur empfehlen, Kurs zu halten. Das Amt des ersten Präsidenten unserer neuen europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main ist entscheidend für die neue Währung. Ich sehe in Herrn Duisenberg einen ausgezeichneten Mann. ({10}) Ich sehe, daß Holland in bezug auf Preisstabilität, geringe Verschuldung und den Zuwachs an Beschäftigung in Europa die besten Daten aufzuweisen hat. Ich habe es auch nie so verstanden, daß Herr Duisenberg kurzfristig nur Statthalter beim EWI sein und den Platz für andere Leute freihalten sollte. Nein, die internationale Personaldiskussion darf nicht zu Lasten der wichtigen europäischen Währung geführt werden. ({11}) Was kann man neben der Errichtung der Währungsunion und des Binnenmarkts auf europäischer Ebene noch tun? - Man kann natürlich von anderen lernen. Ich meine jetzt nicht nur das System der dualen Ausbildung, sondern zum Beispiel auch die Produktivität deutscher mittelständischer Betriebe. Der Internationalisierungsgrad des deutschen Mittelstandes ist von einer Höhe, die leider in Ländern wie Frankreich und Spanien noch längst nicht erreicht ist. Wenn Sie an unsere „geheimen" mittelständischen Weltmarktführer wie zum Beispiel die Firma Recaro oder die Firma Kärcher oder die Firma Steiffdenken, dann werden Sie mir zustimmen, daß sie Vorbilder sind, die trotz der Tatsache, daß sie auf den internationalen Märkten Erfolg haben, in Deutschland selbst ständig zusätzlich Arbeitsplätze schaffen. Insofern sollte im Mittelpunkt der Politik der Europäischen Union stehen, daß sie die Versorgung mit Risikokapital sicherstellt und daß sie durch Deregulierung Möglichkeiten schafft, neue Märkte zu erschließen. Herr Fischer, die Vergemeinschaftung der Arbeitsmarktpolitik wäre das sichere Ende des Vertrages von Maastricht. Man kann das nicht bezahlen. Damit würde man ja auch auf jegliche nationale Feinsteuerung verzichten. Man kann letztlich nicht beides gleichzeitig machen. Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Herr Blair, mit dem Sie sich immer schmücken, macht, ist eher neoliberal als altlink-grün. Und es ist auch nicht altsozialistisch. Herr Blair betreibt eine sehr bewußte nationale Arbeitsmarkt- und Standortpolitik. Das hat mit Vergemeinschaftung überhaupt nichts zu tun. Der Begriff der „employability", der lebenslangen Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmern, weist darauf hin, daß bei offenen Märkten die Verantwortung des Staates zurückgeht und sich auf die Rahmensetzung beschränkt, daß aber die europäischen Unternehmen selbst durch Innovationen und Eroberung der Märkte in Asien und Amerika höhere Weltmarktanteile erzielen müssen, wenn die Beschäftigung in ihren jeweiligen Ländern erhöht werden soll. Auch auf die Arbeitnehmer kommt unter diesen neuen Bedingungen eine neue Verantwortung zu. Wer sich zum Beispiel über die sogenannte Scheinselbständigkeit in arroganter Weise äußert, der hat vom Arbeitsmarkt der Zukunft nichts verstanden. Ich sage dazu: Lieber eine Scheinarbeitslosigkeit als eine Dauerarbeitslosigkeit. ({12}) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß in Amerika und in Asien viele Arbeitnehmer den Konzernen den Rücken kehren, sich selbständig machen und durch die Aufnahme mehrerer Beschäftigungsverhältnisse in eigener Verantwortung für ihr Einkommen sorgen. Die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz in einem Konzern ein Leben lang zu behalten, wird es im Arbeitsmarkt der Zukunft nicht geben. ({13}) Deshalb kommt der nationalen Arbeitsmarktpolitik, der nationalen Bildungspolitik und der nationalen Mobilitätspolitik eine so hohe Bedeutung zu. Ich komme zum Schluß. Wer die derzeitige internationale Diskussion verfolgt, wer zum Beispiel die Probleme der vier sogenannten Tiger-Staaten in Asien sieht, wer zum Beispiel heute liest, daß der amerikanische Präsident vom Kongreß nicht die Möglichkeit erhalten hat, in Zukunft im Rahmen des WTO internationale Wirtschaftsverträge abzuschließen, der wird einsehen, daß auch die asiatischen und ameriDr. Helmut Haussmann kanischen Bäume nicht in den Himmel wachsen. Diese Erkenntnis führt uns zurück zum liberalen europäischen Modell, in dem stabile Rahmenbedingungen, marktwirtschaftlich orientierte Einstellungen und sozialer Zusammenhalt zusammenkommen. Dieses Modell ist richtig. Deshalb kommt es darauf an, daß auf allen Ebenen in Europa, auf der nationalen Ebene, auf der regionalen Ebene und auch von den Tarifpartnern selbst, den Arbeitnehmern und Unternehmern, für mehr Beschäftigungsmöglichkeiten gesorgt wird. Denn es gibt in Europa keine größere Gefahr für die politische Stabilität als eine zunehmende Arbeitslosigkeit. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie geben sich ja bekanntlich die größte Mühe, den Deutschen die Ängste vor der europäischen Integration zu nehmen, sie hoffnungsvoll zu stimmen, daß ihnen die europäische Integration etwas bringen würde, sie auch auf die Währungsunion einzustimmen. Ich frage Sie, wie Sie das eigentlich leisten wollen, wenn Sie den Deutschen gleichzeitig sagen: Von Europa wird es aber mit Zustimmung dieser Bundesregierung keinerlei Beschäftigungspolitik geben. Das heißt, wenn Sie versuchen, den Deutschen zu erklären, dieses Europa wird zwar künftig über den Wert ihrer Sparguthaben, über Zinsen, über alles mögliche entscheiden, aber mit Beschäftigungspolitik und insofern mit dem Hauptproblem unserer Gesellschaft nichts zu tun haben, dann kann so eine europäische Integration nicht funktionieren. ({0}) Entweder wollen wir uns tatsächlich als Europäerinnen und Europäer begreifen, dann, glaube ich, muß es auch eine europäische Beschäftigungspolitik geben, oder das Ganze wird nicht funktionieren, die Ablehnung und auch die Ängste werden zunehmen. ({1}) Wie sich die Bundesregierung auf diesen Beschäftigungsgipfel wider Willen vorbereitet hat, ist schon eine beachtliche Fehlleistung. Im Grunde genommen machen Sie in Ihrem Papier den anderen europäischen Regierungen drei Vorschläge: Sie sagen, es darf in Zukunft in Europa nur noch moderate Tarifabschlüsse geben; Sie verlangen, daß die Lohnentwicklung hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleibt; Sie fordern eine Steuer- und Abgabenentlastung, um zu niedrigeren Arbeitskosten zu kommen. Das ist eine Politik, die Sie hier seit 15 Jahren betreiben und die seit 15 Jahren zu immer mehr Arbeitslosigkeit geführt hat. Und das bieten Sie im Ernst den anderen europäischen Ländern als Chance an, die Beschäftigungssituation zu verbessern! Ich glaube, für solche Vorschläge ist diese Bundesregierung am ungeeignetsten, weil sie nämlich auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ein Fiasko hinterlassen hat. Sie sollten dort besser zuhören, nicht verweigern, wie Sie das tun, anstatt Ihre neoliberalen Rezepte auch noch zur Nachahmung zu empfehlen. ({2}) In Wirklichkeit ist es doch so: Sie haben seit Jahren dafür gesorgt, daß die großen Konzerne in Deutschland praktisch so gut wie keine Steuern mehr bezahlen. Ich mag auch das Wort „Steuerschlupflöcher" nicht, weil das immer nach „illegal" klingt. Man muß darauf hinweisen: Es war die Mehrheit dieses Bundestages, die die Rechtsvorschriften für die Abschreibungsmöglichkeiten in Kraft gesetzt hat. Das heißt, die Leute verhalten sich ja nur gesetzlich! ({3}) Sie können denen doch nicht zuerst eine Möglichkeit geben und ihnen dann vorwerfen, daß sie die Möglichkeit nutzen. Wenn Sie das wirklich nicht wollen, dann müssen Sie eben die Gesetze ändern! Und Sie hätten hier im Bundestag immer die Mehrheit gehabt, wenn Sie gegen diese sogenannten Schlupflöcher gewesen wären. Aber das sind Sie ja gar nicht. Sie lassen es eben zu, daß die Finanzierung dieser Bundesrepublik Deutschland nur noch von den Lohnabhängigen erfolgt und von den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Da drücken die Lasten immer stärker, aber nicht bei den Banken, nicht bei den Versicherungen und nicht bei den großen Konzernen! Das ist das eigentliche Problem, mit dem wir es zu tun haben. ({4}) Insofern hat diese Steuersenkungspolitik bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit überhaupt nichts gebracht. Nehmen wir den letzten Fall. Auf Wunsch der F.D.P. und ihrer kleinen Klientel haben Sie gegen unseren Willen beschlossen, den Solidaritätszuschlag zu senken, wieder mit der Begründung, damit Beschäftigung zu schaffen. Wir alle wissen: Dadurch entsteht kein einziger Arbeitsplatz in Deutschland! Wir alle wissen, daß das Mehr an Geld, das hier Jahr für Jahr insbesondere bei den Vermögenden und Reichen entsteht, nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen genutzt wird, sondern zur Durchführung von Finanzgeschäften, zur Spekulation, die Sie auch nicht besteuern. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben. Das führt dazu, daß der Staat immer weiter verarmt, obwohl der Reichtum in dieser Gesellschaft zunimmt, und mithin immer geringere Möglichkeiten hat, Sozialleistungen zu finanzieren, einen öffentlichen Beschäftigungssektor zu finanzieren und eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, die es endlich ermöglichen würde, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zurückzuführen. ({5}) Ich möchte bei diesem Beispiel bleiben: Dieser Bundestag hat also beschlossen, den Solidaritätszuschlag zurückzufahren. Die dadurch eintretenden Verluste entsprechen exakt der Summe, die den Rentenkassen zur Verfügung gestellt werden müßte, um den Anstieg des Beitrags zur gesetzlichen Rentenversicherung auf 21 Prozent zu verhindern. Allerdings verstehe ich auch nicht die Haltung der SPD-regierten Länder im Bundesrat, weshalb gegen dieses Gesetz nicht wenigstens Einspruch eingelegt wurde, weshalb man die Senkung des Solidaritätszuschlages einfach hat passieren lassen. Wir hätten nämlich im Falle eines Einspruchs hier eine spannende Debatte bekommen, wenn wir dieser Regierungskoalition hätten sagen können: Das ist genau der Betrag, der in die Rentenkassen eingezahlt werden müßte, um den Anstieg des Beitrages zur Rentenversicherung zu verhindern. Dann hätte man gar nicht über so viele andere Modelle - und das alles innerhalb einer Woche - verhandeln müssen, sondern es hätte einen ganz einfachen Weg gegeben. ({6}) Aber dafür hätten wir eine Debatte darüber ermöglichen müssen. Jetzt ist das sozusagen rechtskräftig, wie der Jurist sagt, jetzt wird es so kommen: Das Geld wird fehlen, für die Rentenkasse und auch für andere Zwecke. Es ist verheerend, daß diese Bundesregierung die eigentliche Bremserin bei der europäischen Beschäftigungspolitik ist. Damit nehmen Sie Europa die Attraktivität. Ein Europa ohne Beschäftigungspolitik wird von den Menschen in den europäischen Ländern niemals akzeptiert werden. Deshalb sind nicht diejenigen, die vor einem falschen Euro warnen, die Gegner Europas, sondern jene, die eine solch verheerende europäische Politik betreiben. ({7}) Sie fordern, daß die Tarifabschlüsse moderat sein sollen und die Löhne hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleiben sollen. Das passiert seit Jahren in Deutschland. Niemand bestreitet, daß die Lohnabschlüsse in den letzten Jahren moderat waren; niemand bestreitet, daß die Produktivitätsentwicklung sogar wesentlich schneller ist als der Anstieg von Löhnen. Für den Arbeitsmarkt hat das gar nichts gebracht - im Gegenteil. Sie haben dadurch - zusammen mit dem Sozialabbau - erreicht, daß die Kaufkraft in Deutschland so stark rückgängig ist, daß der Binnenmarkt permanent schrumpft, was in der Folge zu immer mehr Arbeitslosen führt. 80 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Binnenmarkt ab. Wenn Sie nicht endlich dafür sorgen, daß die Nachfrage wieder steigt, wird es auch keine neuen Arbeitsplätze geben. Da können Sie noch so massiv die Steuern oder die Abgaben der Unternehmen senken: Sie werden nicht mehr produzieren, sie werden nur mehr spekulieren. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({8}) - Es kann schon sein, daß Sie mehr Ahnung haben, aber hier geht es um Kenntnisse. Deshalb sage ich Ihnen dazu noch folgendes: Wenn Sie denn mehr Ahnung hätten und dies auch noch mit Kenntnissen verbinden würden, dann müßte diese Politik, die Sie hier seit Jahren betreiben, irgendwann einmal ein positives Ergebnis hervorbringen. Was hat denn der Rückgang der Kaufkraft an Arbeitsplätzen in Deutschland gebracht? - Keinen einzigen! Sie wissen genausogut wie ich, daß Sie die Kaufkraft nur derjenigen erhöhen können, die auf den Empfang von Sozialleistungen angewiesen sind oder die normale Löhne und Gehälter beziehen. Unsere Diäten können Sie noch viermal erhöhen; dadurch wird sich an der Kaufkraft in dieser Gesellschaft nichts verändern, weil wir höchstens mehr sparen, aber nicht mehr kaufen. Unten in der Gesellschaft müssen Sie die Kaufkraft erhöhen, nicht oben, wie Sie das hier seit Jahren betreiben! ({9}) Sie können doch nicht leugnen, daß der Reichtum in dieser Gesellschaft zugenommen hat. Sie können doch nicht leugnen, daß bei 10 Prozent der Bevölkerung inzwischen der größte Teil des Reichtums dieser Gesellschaft liegt und dieser jährlich um Hunderte von Milliarden DM zunimmt. Aber der Staat ist nicht einmal daran beteiligt. Sie kriegen von diesem Reichtum keine einzige Mark mehr Steuern! Die Steuereinnahmen sind immer geringer, weil es immer mehr Arbeitslose gibt. Sie sind zur Wahrnehmung Ihrer sozialen, ökologischen und kulturellen Ausgleichsfunktion überhaupt nicht mehr in der Lage. Wann wollen Sie daran etwas ändern? ({10}) Sie verletzen täglich Art. 14 des Grundgesetzes. Wo ist denn noch die Sozialverpflichtung des Eigentums in dieser Gesellschaft angesichts der Tatsache, daß mehr Eigentum immer weniger Sozialverpflichtung bedeutet? - Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Beschäftigung kommt dabei nun wirklich überhaupt nicht heraus. Deshalb hatte ich eigentlich erwartet, Herr Bundeskanzler, es käme einmal so etwas wie selbstkritische Töne. ({11}) - Ich hatte vielleicht nicht erwartet, aber doch wenigstens gehofft, Sie würden sagen: Wir akzeptieren, es geht so nicht weiter, wir brauchen einen Umbruch; wir brauchen, um Arbeit in Deutschland und in Europa zu schaffen, eine radikale Arbeitszeitverkürzung, statt diese alberne Diskussion um eine Ausdehnung der Wochen- und der Lebensarbeitszeit zu führen, während andere eine Null-ArbeitsstundenWoche haben. Wir brauchen natürlich eine Neustrukturierung der Lohnnebenkosten und damit eine neue Bemessungsgrundlage. Wir brauchen gesetzliche Änderungen, damit endlich nicht mehr so viel und so sinnlos abgeschrieben werden kann. Da kaufen vermögende Leute aus den alten Bundesländern Eigentumswohnungen in den neuen Bundesländern - die wissen nicht mal, wo die einzelnen Städte liegen -, nur um abschreiben zu können. Das ist völlig sinnlos; es bringt uns nichts in den neuen Bundesländern. Aber es führt zu Steuerverlusten, die nicht mehr zu verkraften sind. Gibt es eine Revision Ihrer Politik? Die neueste Steuerschätzung liegt vor. Reagieren Sie darauf? - In keiner Weise. ({12}) Ich sage Ihnen: Sie sind handlungsunfähig. Der Gipfel des Ganzen ist: Dann fliegen Sie auch noch zum europäischen Beschäftigungsgipfel, verkaufen Ihre bisherige völlig fehlgeschlagene Politik auch noch als Markenzeichen für die anderen europäischen Staaten und lehnen eine gemeinsame europäische Beschäftigungspolitik ab. Damit zerreden Sie die europäische Idee. Sie sind es, nicht die anderen. Sie sollten sich endlich zu Ihrer Verantwortung bekennen. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich rufe jetzt auf den Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Recht erwarten die Menschen vom Beschäftigungsgipfel in Luxemburg, daß von diesem Ereignis Impulse ausgehen und daß es zu einer Verbesserung ihrer individuellen Situation kommt. Deshalb kann und wird ein solcher Gipfel für die Bundesregierung keine Pflichtübung sein. Wir werden vielmehr alles daransetzen, daß es zu vernünftigen Ergebnissen kommt, daß diese umgesetzt werden und daß ein solcher Gipfel auch Hoffnung erzeugt. Das ist das eine. Das andere ist: Es ist töricht, anzunehmen, daß ein solches Ereignis, ein Papier, das am Ende eines solchen Gipfels steht, mit der Lösung der Probleme insgesamt gleichzusetzen wäre. ({0}) Schon einen solchen Eindruck zu erwecken ist falsch. Ich plädiere hier für Nüchternheit. Ich plädiere hier für Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit ist Nähe zur Realität. Wir müssen uns im klaren darüber sein, daß weder die Kommission noch irgendein Staat in der Lage ist, Arbeitsplätze quasi per Dekret zu schaffen. Das geht nur im öffentlichen Dienst. Die so verordneten Arbeitsplätze sind volkswirtschaftlich in aller Regel unsinnig. Sie führen in aller Regel zu mehr Bürokratie und zu erhöhten Kosten. Wir müssen es offen aussprechen, meine Damen und Herren: Der Staat darf Arbeitsplätze nicht per Dekret schaffen. Ausnahmen, insbesondere bei Forschung und Entwicklung sowie im Bildungsbereich, mögen die Regel bestätigen. Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik kann nur dafür Sorge tragen, daß die Bedingungen stimmen und daß Anreize gegeben sind, damit Unternehmen und Freiberufler in Arbeitsplätze investieren. Das ist unsere Politik. Da gibt es die Unterschiede zur Opposition. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie mit Ihren Ideen und mit Ihrer Politik nicht alles daransetzen, Arbeitsplätze zu schaffen. Aber wir haben unterschiedliche Vorstellungen, wenn es um den Weg geht. ({1}) Im übrigen haben wir nicht zu allen von Ihnen Unterschiede. Sie sprechen da ja nicht mit einer Zunge. Sie verwickeln sich in merkwürdige Widersprüche. Die einen folgen dem Prinzip der Angebotsorientierung und damit im Prinzip unserer Reformpolitik. Die anderen messen dem staatlichen Eingriff in die Wirtschaft eine Bedeutung zu, die er, wie die Erfahrung lehrt, niemals haben kann. Eine solche Politik ist mit dem Namen von Oskar Lafontaine und dem Namen seines wirtschaftspolitischen Beraters Flassbeck vom Berliner DIW verbunden. Sie wollen, soweit Sie diese Politik vertreten, eine Wirtschaftsphilosophie verwirklichen, die unrealistisch geworden ist und die nur unter den Bedingungen eines quasi regionalen, abgeschotteten Marktes funktioniert. Das ist die Politik der 70er Jahre. Diese Politik kann heute nicht mehr funktionieren. Dann ist es immer so einfach, mit der Binsenweisheit zu argumentieren, ({2}) daß ohne die Stärkung der Massenkaufkraft nichts gehe. Das ist richtig, das wird auch von unserer Seite nicht bestritten. Die Frage ist nur: Wie wollen Sie die Binnennachfrage stärken? Wollen Sie sie durch staatliche Ausgabenprogramme stärken? Wollen Sie sie durch Kreditfinanzierung stärken? ({3}) Wollen Sie sie durch die Kostenbelastung der Unternehmen, die die 32-Stunden-Woche mit sich bringt, oder mit dem „Ende der Bescheidenheit" stärken? Es ist unsere Politik, daß wir weniger Steuern und Abgaben wollen. Sie verweigern sich dieser Politik in weiten Bereichen. Deshalb ist es Unsinn, zu argumentieren, die Binnennachfrage müssen gestärkt werden, wenn Sie gleichzeitig alles daransetzen, daß die Differenz zwischen brutto und netto so groß bleibt, wie sie ist. Sie verweigern sich durch Ihre Politik. ({4}) Frau Fuchs, damit sind wir beim Beschäftigungsgipfel in Luxemburg. Für mich ist klar: Es gibt viele Gebiete, auf denen wir durch koordiniertes, durch abgestimmtes Vorgehen eine Menge für zusätzliche Beschäftigung in Europa erreichen können. Wir wollen dazu als Bundesregierung unseren Beitrag leisten. Ich sage noch einmal: Wir wollen das nicht mit einer Pflichtübung tun. Aber wir können diese zusätzliche Beschäftigung nicht schaffen, indem wir einfach vorgeben, welche Ziele erreicht werden sollen, ohne zu sagen, wie wir diese Ziele erreichen wollen. Das Entscheidende ist, daß wir die richtige Politik machen. Das Entscheidende ist nicht, daß wir mit neuen Programmen, die wir ohnehin nicht finanzieren können, aufwarten und Vorstellungen entstehen lassen, denen wir niemals gerecht werden können. ({5}) Ich bin sehr dafür, daß wir uns in Europa - auch in Luxemburg - ehrgeizige Ziele setzen: auf staatlicher Ebene und auf europäischer Ebene. Aber das Entscheidende und Wichtige ist, daß wir den Weg finden, auf dem wir diese Ziele erreichen können. ({6}) Diese Politik muß abgestimmt werden; wir können hier viel voneinander lernen. Aber: Die Verantwortung muß bei den nationalen Regierungen, bei den Mitgliedstaaten bleiben. Sie sprechen immer - Herr Scharping hat das gerade groß getan - von quantitativen Zielen. Meine Damen und Herren, die Menschen draußen verstehen gar nicht, was damit gemeint ist. „Quantitative Ziele" heißt beispielsweise: Die Europäische Union sagt: 50 Prozent weniger Langzeitarbeitslose in fünf Jahren. Oder die Europäische Union sagt: Alle arbeitslosen Jugendlichen müssen innerhalb von sechs Monaten ein Angebot für einen Ausbildungsplatz erhalten. - Das hört sich gut an, das ist herausfordernd. Aber ich hinterfrage: Können wir, meine Damen und Herrenwirklich erwarten, daß mit einer solchen Vorgabe in Europa in jedem Land, in jeder Region so etwas erreicht werden kann? ({7}) - Das hat nichts mit Wollen zu tun. Es geht um die konkreten Maßnahmen, die wir ergreifen müssen. Sehen Sie sich andere Länder - auch sozialistisch regierte Länder - an. Wir können uns diesem Ziel nur Schritt für Schritt mit einer richtigen Politik nähern. Ich sage es noch einmal - hören Sie zu -: Wir wollen ehrgeizige Ziele formulieren - wir haben das auch in Deutschland getan -, aber wir können nicht Dinge in den Raum stellen und proklamieren, die niemals erreichbar sind. Das Ergebnis wären Enttäuschung, Verärgerung und neue Vorbehalte gegenüber der Europäischen Union. ({8}) - Richtiges Stichwort, Herr Scharping. Ziele können wir uns auf nationaler Ebene, auf regionaler Ebene setzen, und dann müssen wir die richtige Politik machen, um diesen Zielen näherzukommen. Ich nehme dazu das Papier der Kommission der Europäischen Union. Die Kommission sagt: Wir wollen den Unternehmergeist durch Erleichterung der Existenzgründungen, durch ein beschäftigungsfreundliches Steuersystem und den Aufbau von Risikokapitalmärkten stärken. - Meine Damen und Herren, wer wollte dem widersprechen? Das ist unsere Politik. Das ist angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Die machen wir im Mittelstand, beim Risikokapital, und die machen wir auch sonst. Die kann man zwar an einem quantitativen Ziel orientieren, aber das quantitative Ziel ist nicht mehr als ein Ziel, an dem man sich orientiert, nicht das Ergebnis. Sie dagegen, meine Damen und Herren von der Opposition, erwecken den Eindruck, als ob die Vorgabe eines Prozentsatzes mit dem Erreichen dieses Prozentsatzes gleichzusetzen wäre. Das ist Unsinn. Das ist auch unglaubwürdig, und das wissen Sie ganz genau. Die Europäische Union sagt: Wir brauchen bessere Beschäftigungschancen durch Ausbildung, durch Anreize, um Leistungsempfänger in den Arbeitsmarkt zu bekommen, und durch eine Orientierung an maßvollen Tarifabschlüssen. - Das ist unsere Politik. Die machen wir seit langem. Aber die Politik in Europa kann nicht so weit gehen, daß die Tarifabschlüsse vorgegeben werden. Hier sind die gesellschaftlichen Gruppen gefragt und niemand anderes. Wenn es um Ausbildung geht und die duale Ausbildung in Deutschland hervorgehoben wird, sage ich in Ihre Richtung, meine Damen und Herren von der Opposition, ganz deutlich: Lassen Sie uns darauf achten, daß wir den Wettbewerbsvorteil durch die duale Ausbildung behalten und nicht durch eine Ausbildungsabgabe kaputtmachen, wie Sie sie proklamieren. Das ist der falsche Weg und würde diesen Vorteil noch aufs Spiel setzen. ({9}) Die Europäische Union spricht von moderner und flexibler Arbeitsorganisation. Wir brauchen den internationalen Wettbewerb wie die Luft zum Atmen. Wir übernehmen also diese Vorstellung, aber nur in der Form, daß die Tarifparteien entsprechende Vereinbarungen treffen, und nicht in der Form, daß die Kommission einschlägige Beihilferegelungen oder Regelungen für steuerliche Hilfen bei Fortbildung vorgibt. Das kann von der Kommission nicht vorgegeben werden. Das ist eine nationale Aufgabe. ({10}) Dies gilt auch für die Schaffung von verbesserten Chancen für Frauen am Arbeitsmarkt. Hier müssen die Europäische Union, die Mitgliedstaaten, die Regionen und die Betriebe die richtigen Zeichen setzen. Es ist richtig, daß wir „best practices" anwenden wollen; also vergleichen und das jeweils Beste nehmen. Wir wollen keine Uniformität. Wir können - das kann Europa vorgeben - das übernehmen, was andere besser machen als wir. Und auch wir haben etwas anzubieten, was wir besser machen als andere. Insofern ist das, was dort gedacht wird, richtig. Wir verstehen den Gipfel so: ernsthaft, auf Impulse ausgerichtet, Hoffnung erzeugen, aber den einzelnen Staaten und Regionen die Freiheit lassen, die richtige Politik zu machen. Um diese Politik müssen wir ringen. Darum ringen wir in Europa, im Bundestag und in dieser Gesellschaft. Lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen: Ich habe es satt, daß in diesem Land ständig der Eindruck erweckt wird, als ob sich nichts mehr bewege, als ob alles in Stillstand verharre. Bei uns hat es trotz einer Verweigerungshaltung der SPD in wichtigen Verfassungsorganen ungeheuer viel Wandel und Veränderungen gegeben; Wandel und Veränderungen bei den Unternehmen, die wieder wettbewerbsfähig geworden sind, die sich anders organisiert haben, die weltweit operieren, die Gewinne schreiben, damit sie investieren können. Dieser Wandel, der sich sehen lassen kann, hat sich auf Grund der Politik vollzogen, die wir eingeleitet haben. Es hat in diesem Land einen großen Wandel bei Dienstleistungen, bei Information und Kommunikation, bei Vermarktung von Infrastrukturleistungen, im Gesundheitswesen, im Handel, in freien Berufen gegeben. Dort gibt es eine Straffung der Aufgaben, es gibt neue Aufgaben und neue Betätigungsfelder. Dieses Land hat enorme Fortschritte gemacht. Dies gilt auch für das, was durch die Politik zu beeinflussen ist, nämlich für die Deregulierung. Gestern haben wir grünes Licht für die Reform der Energiemärkte gegeben, bei der Privatisierung auf dem Arbeitsmarkt, wo die Tarifpartner, die aufeinander zugegangen sind, ungeheure Fortschritte gemacht haben. Natürlich fehlen noch die Impulse bei der Steuerreform. Natürlich ist noch vieles bei der Bildungsreform zu tun. Hier sind primär aber Sie gefordert. Ich wehre mich gegen die Behauptung, daß in diesem Land die Reformen nicht vorankämen. Überall dort, wo wir freie Hand haben, wo wir ein Stück Spielraum haben, kommen die Reformen voran, auch bei den Unternehmen. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, das wird auch auf den Arbeitsmarkt überspringen. Das ist ein schwieriger Prozeß. Der Gipfel in Luxemburg ist dafür ein wichtiges Ereignis, ein Ereignis, das wir ernst nehmen, das wir gut vorbereitet haben und dessen Ergebnisse wir auch umsetzen werden. Die Menschen müssen aber ehrlicherweise erfahren, daß ein Papier, das es in wenigen Tagen geben wird, noch nicht die Lösung der Probleme bedeutet, sondern daß es jeden Tag angestrengter Politik und Bemühungen aller gesellschaftlichen Gruppen bedarf, um das Ziel von mehr Beschäftigung zu erreichen. Die Bundesregierung wird weiterhin ihren Beitrag dazu leisten. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer den Wirtschaftsminister jetzt hier hat reden hören, der fragt sich, warum zu Hause zugesagt wird - das hat die Bundesregierung durch Bundeskanzler Kohl immer wieder betont -, ein quantitatives Ziel bei der Reduzierung der Arbeitslosigkeit zu setzen, nämlich sie zu halbieren, und man gleichzeitig verweigern will, daß sich die EU-Mitgliedstaaten auf quantitative Ziele bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit festlegen. ({0}) Das ist ein Fall von politischer Schizophrenie, der bei den Rednern der Regierung heute morgen übrigens öfter vorgekommen ist. ({1}) Ich will an dieser Stelle auf folgendes hinweisen: Wenn man das hört, was Wirtschaftsminister Rexrodt hier gesagt hat, dann hat man das Gefühl: Die Bundesregierung will das, was sie als verfehltes wirtschafts- und finanzpolitisches Konzept zu Hause betreibt, jetzt auch noch der Europäischen Union vorschreiben. ({2}) Man kann dazu nur sagen: Sie haben im letzten Jahr ein Gesetzespaket gegen den großen Widerstand in der Bevölkerung und auch im Deutschen Bundestag durchgepaukt, dessen Ziele angeblich Wachstum und Beschäftigung waren, das aber faktisch Leistungskürzungen beinhaltete. Sie haben dieses Gesetzespaket im letzten Jahr durchgepaukt, und was ist das Ergebnis? Das Ergebnis sind wachsende Arbeitslosenzahlen. Das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten, auf Lohnsenkung zielenden und auf die sozialen Sicherungssysteme drückenden Politik. ({3}) Das ist das Ergebnis dessen, was Sie damit erreichen. Jetzt zum Stichwort „politische Schizophrenie". In dieser Bundesregierung weiß keiner mehr, was der andere festgelegt hat. Die wenigsten haben sich angeschaut, was die Regierung der Europäischen Kommission als „beste Beispiele" dessen, was zu Hause zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht wird, vorgelegt hat. Zwar hat die Bundesregierung letztes Jahr das Gesetz durchgepaukt, sie glaubt aber offensichtlich selber nicht, daß es das bringt, was sie sagt. Sie hat es nämlich nicht als eines der „besten Beispiele" nach Brüssel gemeldet, sondern hat das System der dualen Ausbildung genannt. Es muß denjenigen, die in der Bundesregierung und in den Regierungsparteien sitzen, doch zu denken geben, daß unter den 40 Beispielen, die sie der EU-Kommission als die „besten Beispiele" zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgeschlagen hat, kein einziges ist, das aus Ihrer Regierungszeit stammt. Das muß Ihnen doch außerordentlich zu denken geben! ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Beispiel zum Stichwort „politische Schizophrenie". Da redet jetzt der Wirtschaftsminister gegen die Festlegungen von quantitativen Zielen auf EU-Ebene und sagt, das sei alles schlimmer Dirigismus. Von Helmut Kohl hörte man heute morgen eigentlich nur Phrasen. Jetzt zitiere ich einmal aus einer Sitzung, an der der Bundeskanzler teilgenommen hat und in der das, was der Wirtschaftsminister jetzt massiv bekämpft, festgelegt worden ist. Ich muß sagen: Chaos, dein Name ist Bundesregierung. Das ist ganz eindeutig der Fall. ({5}) Ich zitiere jetzt einmal, was die FAZ vom 11. November zu einer Tagung der europäischen Regierungschefs aus dem christdemokratischen und konservativen Lager gesagt hat. Dort wird der EU-Ratspräsident Juncker zitiert: Die christlich-demokratischen Regierungschefs hätten sich auf Leitlinien verständigt, über die in Luxemburg beraten werden solle. Wirksame Schritte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit müßten beschlossen werden. „Genug der Worte, der Analysen, der guten Absichten", sagte Juncker ... Es müßten Konsequenzen gezogen werden. Dann heißt es weiter: Nach Junckers Vorstellungen sollen beim „Beschäftigungsgipfel" Leitlinien beschlossen werden, die für alle EU-Mitgliedsländer verbindlich sind. ({6}) Wolle ein Staat diese nicht verwirklichen, müsse er dies vor der Kommission begründen. Juncker erläuterte, daß „bezifferte Ziele" für die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, der Jugendarbeitslosigkeit und im Bereich der Aus- und Fortbildung festgelegt werden sollten. Dafür haben sich also die christlich-demokratischen Regierungschefs ausgesprochen, und dafür sind auch wir. Da kann man nur sagen: Machen Sie das doch! Fordern Sie mit uns zusammen, daß daraus die entsprechenden Konsequenzen für den anstehenden Beschäftigungsgipfel der Europäischen Union gezogen werden. ({7}) Herr Rexrodt, treten Sie hier doch offen auf und sagen Sie: Was Helmut Kohl da mitbeschlossen hat - wozu er heute morgen gar nicht mehr stehen will -, ist aus meiner Sicht Unsinn. Aber benennen Sie nicht die Kommission als diejenige, die angeblich die schlimmen Ziele setzt. Was gilt denn nun für diese Bundesregierung? Ich sage nur: Wer die Vorbereitung von EU-Gipfeltreffen derart betreibt, muß natürlich auch wissen, daß der Einfluß der Bundesrepublik Deutschland dadurch sinkt. Denn was sollen eigentlich die Partner in der Europäischen Union von einer Bundesregierung halten, die drei Parteien in ihrer Koalition hat und auch bei EU-Gipfeln mit mindestens drei Positionen auftritt? ({8}) Vorhin hat der Kollege Geißler hier die Notwendigkeit des Euro betont. Da ist auch Ihre Strategie deutlich geworden: Sie wollen nichts für Beschäftigung machen und konzentrieren sich auf den Euro. Nun gehöre ich, wie Sie wissen, zu denjenigen, die der Meinung sind, daß die fristgerechte und vertragsgerechte Einführung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und des Euro von erheblicher Bedeutung für die weitere wirtschaftliche Entwicklung ist. Wer nämlich etwas gegen Währungsspekulation tun will, muß dazu beitragen, daß der Euro tatsächlich eingeführt wird ({9}) und so ein Gegengewicht gegen Währungsspekulation gesetzt wird. ({10}) Aber eines ist doch auch klar - und das haben wir mit dem Beschäftigungskapitel gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt -: Man kann keine Währungsunion schaffen und glauben, die Wirtschaftspolitik werde nach wie vor, nach der Methode Rexrodt, zu Hause gemacht. Vielmehr braucht man eine abgestimmte Wirtschaftspolitik, braucht man eine abgestimmte Steuerpolitik, und man braucht Regelungen gegen Steuerdumping in der Europäischen Union. ({11}) Wo bleiben diese Verpflichtungen auf dem Gipfel? Denn eines ist doch klar: Wenn Sie dazu beitragen würden, daß einerseits die Lohnnebenkosten gesenkt werden und andererseits der Einstieg in die ökologische Steuerreform geschafft wird, wie es das Europäische Parlament gefordert hat und wie auch wir es fordern, dann wäre damit ein riesiger Schritt in die Richtung getan, daß Arbeitslosigkeit bekämpft und Arbeit weniger teuer wird. Wir hätten einen Schritt zu mehr Innovation im Bereich ökologischer und neuer Technologien getan. ({12}) Das fehlt bei Ihnen absolut. Das zweite, was Sie wissen müssen - ich sage das auch an Ihre Adresse, Herr Haussmann -: Weil wir wollen, daß die Europäische Währungsunion funktioHeidemarie Wieczorek-Zeul niert, müssen wir sagen: Es braucht auch die abgestimmte Beschäftigungspolitik, ({13}) es braucht entsprechende Regelungen. Dann frage ich Sie: Warum haben Sie, wie Sie auch jetzt wieder Initiativen für mehr Beschäftigung verweigern, lange dagegen gekämpft - zum Schluß allein -, daß das Beschäftigungskapitel im Amsterdam-Vertrag verankert wurde? ({14}) Das war unsere Forderung, und wir haben sie gegen Sie durchgesetzt. Manchmal sieht die CDU ja nachträglich etwas ein. Ich habe mit Freude gelesen, daß Sie in den Beschlüssen auf Ihrem letzten Parteitag gesagt haben: Das war doch etwas Gutes. Ich hoffe, Sie kommen früher oder später auch in anderen Fragen auf die Position der Sozialdemokraten zurück. Aber so lange kann das Land nicht warten. ({15}) Deshalb frage ich noch einmal: Was spricht dagegen, Herr Rexrodt, daß, wie in der Währungsunion, einerseits Konvergenzziele zur Reduzierung der Inflationsraten festgelegt werden - ohne diese Festlegung gäbe es heute nicht die Reduzierung der Preisentwicklung, der Inflationsraten - und daß sich die Regierungen andererseits dazu verpflichten, Konvergenzziele zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit festzulegen? ({16}) Das ist die notwendige Ergänzung, die finanzielle und soziale Stabilität miteinander verbindet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle etwas zu einem Thema sagen, das heute morgen niemand angesprochen hat, auch die Frauenministerin nicht. Ich finde - das kann ich wohl für viele Frauen und auch Männer in diesem Hause sagen -, daß das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Anerkennung der Frauenquote im Zuge der Frauenförderung nach dem nordrhein-westfälischen Gleichberechtigungsgesetz ein großer Erfolg für die Frauen ist ({17}) und auch ein großer Erfolg für das europäische Denken. Ich fordere Frau Nolte jetzt auf: Begrüßen Sie das Urteil nicht nur, betonen Sie nicht nur, daß jetzt mehr Rechtssicherheit vorhanden ist, sondern legen Sie einen Gesetzentwurf zur Frauenförderung, einschließlich der Quote, vor, der wirklich den Namen „Frauenförderung" verdient! ({18}) Tun Sie was, und zwar nicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern für die vielen Frauen im Bereich der privaten Wirtschaft, damit die Gleichberechtigung von Frauen endlich vorankommt! ({19}) Verstecken Sie sich nicht, wie Sie es bisher getan haben, hinter konservativen Richtern! Ich erwarte von Ihnen, daß Sie in dieser Frage auch in einer solchen Debatte etwas sagen. Zu „best practices" hat nämlich - das muß man kritisch sagen - keine der Regierungen einen Vorschlag gemacht, der die Frage der Gleichberechtigung von Frauen im Bereich der Arbeit behandelt. Deshalb ist es unsere Verpflichtung, auf diesem Gebiet voranzugehen. ({20}) Heiner Geißler hat in der Diskussion immer nur vom Euro gesprochen und alle anderen Bereiche ausgespart. Ich möchte deshalb gerne einmal die Beschlüsse des Europäischen Parlaments zur Beschäftigung zitieren, die alle Christdemokraten - bis auf zwei deutsche - mitgetragen haben. Ich lese Ihnen das vor und frage: Wer blockiert hier im Deutschen Bundestag? ({21}) In der Beschlußfassung des Europäischen Parlaments heißt es - hören Sie bitte gut zu -: ... die vereinten Anstrengungen der Mitgliedstaaten und der EU müssen darauf abzielen, die derzeitige Beschäftigungsrate innerhalb von fünf Jahren von 60,4 % auf 65 % zu erhöhen und die Arbeitslosenquote auf 7 % zu senken. Dazu sagen Sie nein. Wer blockiert denn hier? Ihre christdemokratischen Kollegen im Europaparlament haben für diese Zielsetzung gestimmt. Nehmen Sie sich ein Beispiel an diesen Leuten! Sie sind weniger borniert und stehen weniger unter dem Einfluß der F.D.P.; diese ist nämlich im Europaparlament gar nicht mehr vertreten. ({22}) Aber das hat noch keiner gemerkt. Der zweite Punkt. Es heißt in dem Beschluß des Europäischen Parlaments ferner - ich zitiere -: Das Europäische Parlament ... fordert rasche Beschlüsse über die Senkung der steuerlichen Belastung der Arbeit durch europäische Vereinbarungen über die Verlagerung der Steuerlast auf Umweltbelastung, Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen, Energie ... Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre christdemokratischen Freunde im Europaparlament haben dieser Forderung zugestimmt. Wer blockiert im Deutschen Bundestag den Ansatz, Lohnnebenkosten zu senken und dafür den Einstieg in die ökologische Steuerreform zu machen? Sie! ({23}) Stimmen Sie den Forderungen, die das Europaparlament und wir erheben, zu, und leisten Sie damit einen aktiven Beitrag zur Vorbereitung des Beschäftigungsgipfels! Der dritte Punkt: Das Europaparlament hat eine „Umschichtung von passiven zu aktiven Beschäftigungsmaßnahmen" gefordert. Das ist eine Forderung, die auch wir erheben. Stimmen Sie dieser Regelung zu! Hören Sie auf, in Deutschland Gesetze durchzupauken, die das genaue Gegenteil dessen bewirken, was hier gefordert wird! Denn mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz - ein gräßliches Wort und ein gräßlicher Inhalt - wird die aktive Arbeitsmarktpolitik zurückgefahren. Wir brauchen demgegenüber Finanzmittel vor Ort, damit wirklich eine aktive Beschäftigungspolitik betrieben werden kann und nicht Arbeitslosigkeit finanziert wird. ({24}) Ich habe jetzt nur drei Beispiele herausgegriffen, die deutlich machen, daß es in dieser Debatte in letzter Konsequenz um die Frage geht: Warum hat die Bundesregierung das Beschäftigungskapitel blokkiert? Warum ist sie im Vorfeld des EU-Beschäftigungsgipfels jetzt wieder der Blockierer? Ich sage Ihnen, worum es geht - Herr Rexrodt hat dafür ja wirklich ein Beispiel gegeben -: Es geht darum, daß diese Bundesregierung Angst hat, daß es einen klaren Politikwechsel - weg vom Neoliberalismus hin zu einer Politik der ökonomischen Kooperation in Europa und der aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - und vor allen Dingen eine Überprüfung der Ziele geben könnte. ({25}) Denn wenn das kommt, was jetzt im Beschäftigungskapitel steht, dann können Sie nach einem Jahr nicht mehr sagen: ({26}) Wir haben doch die Arbeitslosigkeit bekämpft. Das wird dann überprüft. Dann wird Ihre unsägliche und unfähige Wirtschafts- und Finanzpolitik auf dem Prüfstand europäischer Politik stehen. Man wird dann Ihr Versagen noch deutlicher erkennen. ({27}) Der Kollege Haussmann ruft - schonen Sie doch Ihre Stimme, Herr Kollege Haussmann - dazwischen: „Tony Blair!". ({28}) Wenn das Angebot von Tony Blair an 250 000 arbeitslose Jugendliche auf der Linie liberaler Politik liegt, dann tragen Sie doch, statt darüber zu reden, dazu bei, daß die Bundesrepublik Deutschland dafür sorgt, daß sich alle Regierungen beim Beschäftigungsgipfel darauf verpflichten, keinen Jugendlichen von der Schule in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Es muß unser Ziel sein, allen jungen Leuten die Perspektive der Beschäftigung und Ausbildung anzubieten. ({29}) Das wäre ein attraktives Europa für junge Menschen; damit könnte man ihnen Hoffnung geben. Die Art und Weise, wie Sie sich heute morgen hierzu stellen, zeigt, daß durch die Fortsetzung Ihrer Politik auch diese Perspektive und die riesengroße Chance, die die Europäische Union im Bewußtsein der Menschen darstellen könnte, beschädigt werden. ({30}) Es ist deshalb nicht nur im nationalen Interesse notwendig, daß Sie abgelöst werden, sondern es liegt auch im Interesse der Europäischen Union, damit in dieser Frage Fortschritte möglich werden. ({31})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Martin Mayer.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn Sie, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, jetzt Tony Blair in hohen Tönen loben, muß man daran erinnern, daß der Erfolg, der in Großbritannien zu verbuchen ist, in erster Linie darauf zurückzuführen ist, daß eine konservative Regierung die Voraussetzungen für die Entstehung neuer Arbeitsplätze geschaffen hat. ({0}) Ich will hier die Maßnahmen der früheren konservativen Regierung in Großbritannien im einzelnen nicht verteidigen, aber im Ergebnis waren sie erfolgreich. Es ist richtig, daß wir uns heute in einer Debatte ausführlich mit dem Thema „Schaffung neuer Arbeitsplätze in Europa" befassen; denn angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und vieler Menschen, die um ihren Arbeitsplatz Angst und Sorge haben, müssen wir uns mit diesem Thema ernsthaft beschäftigen. Es muß von daher ein vorrangiges Ziel der Politik sein, neue Arbeitsplätze in Europa zu schaffen. Es ist deshalb auch gut, wenn sich ein eigener Gipfel der Regierungschefs mit diesem Thema befaßt. Wir sollten aber nicht vergessen, daß in Europa, ohne daß es ausdrücklich in Verträgen erwähnt wurde, bereits Dr. Martin Mayer ({1}) Arbeitsmarktpolitik betrieben wird und vom europäischen Binnenmarkt und vom Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion wesentliche Impulse für neue Arbeitsplätze in Europa ausgegangen sind. Der Binnenmarkt - als deutlich vergrößerter Heimmarkt - hat den international tätigen Unternehmen in Europa und besonders auch in Deutschland - man könnte hier all die großen Namen nennen - die Chance eröffnet, sich Wettbewerbsvorteile auf den internationalen Märkten zu verschaffen. Durch größere Wettbewerbsstärke können folglich auch mehr Arbeitsplätze entstehen. Ich will dafür ein ganz konkretes Beispiel bringen: Die Entwicklung von GSM als Standard für Mobilfunk konnte nur deshalb zum Erfolg führen, weil sich diese Technik auf einem großen Binnenmarkt durchsetzen konnte. Wir haben eine große Chance, daß wir mit diesem Standard einen Weltstandard entwickeln, was letztlich zu neuen Arbeitsplätzen in Europa führen wird. Auch das muß man in einer solchen Debatte einmal sagen. ({2}) Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen: den Bereich Telekommunikation. Durch eine kluge Politik - Bundesminister Bötsch hat hier ein ganz großes Verdienst ({3}) ist es gelungen, die Deregulierung und Privatisierung der Telekommunikationsmärkte in Europa voranzutreiben. Die Koalition hat mit ihrer Politik erreicht, daß Deutschland in diesem Bereich in Kontinentaleuropa - die Briten lagen einmal vor uns - die erste Stelle einnimmt. Auch das gibt neue Arbeitsplätze in der Wachstumsbranche Informationstechnologie. Weil die SPD hier so große Töne spuckt, muß man wieder an folgenden Punkt erinnern: In bezug auf die Telekommunikationspolitik saß die SPD immer im Bremserhäuschen. ({4}) Wir mußten gegen den Widerstand der SPD die Politik durchsetzen, die zu neuen Arbeitsplätzen führt. Der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion und der von Theo Waigel durchgesetzte Stabilitätspakt haben dazu geführt, daß wir in Europa zu einer einmaligen Stabilitätskultur gekommen sind. ({5}) Schauen Sie doch einmal nach Italien und insbesondere nach Frankreich, und betrachten Sie einmal, was diese Länder für Anstrengungen unternommen und an Erfolgen erreicht haben! Damit schaffen wir langfristig - das geht nicht von einem Tag auf den anderen - günstige Voraussetzungen für Investitionen und damit für neue Arbeitsplätze in Europa. Im übrigen geht es im Rahmen der europäischen Beschäftigungspolitik nicht darum, daß wir Geld in Beschäftigungsprogramme hineinstecken und damit Strohfeuer entzünden, die nur kurzfristig wirken und die langfristig über eine erhöhte Staatsquote negative Folgen haben. Wir müssen in Europa aufpassen. Die Europäische Kommission zeigt nämlich eine gewisse Tendenz: Wenn sie Zuständigkeiten hat, versteht sie diese immer so - ich könnte dafür Beispiele aufführen -, daß sie zusätzliche Finanzmittel bekommt, um damit eigene Programme zu entwickeln. Das ist eine Sache, bei der wir sehr aufpassen müssen. Wenn in der Beschäftigungspolitik zusätzliche finanzielle Anstrengungen notwendig sind, dann müssen diese auf nationaler Ebene unternommen werden; denn jede zusätzliche Mark, die in Europa für Beschäftigungsprogramme ausgegeben wird, verstärkt unsere Nettozahlerposition. Es kann doch nicht im deutschen Interesse liegen, daß wir Forderungen erheben, durch deren Realisierung unsere Nettozahlungen erhöht werden. Das Gegenteil muß doch der Fall sein. Deshalb muß es bei der EU-Beschäftigungspolitik um die Koordination nationaler Politiken und um den Wettbewerb gehen. Daneben muß es auch darum gehen - in diesem Punkt gibt es ja eine breite Übereinstimmung -, daß im Bereich der Steuerpolitik gewisse Harmonisierungen durchgeführt werden. Es kann nämlich nicht sein, daß bestimmte Länder in der Europäischen Union - ich nenne einmal Irland - hohe Zuwendungen aus der europäischen Kasse erhalten und auf Grund dieser Zuwendungen die Steuersätze für bestimmte Branchen senken können, um so Investitionen an sich zu ziehen, die zum Teil in Deutschland getätigt werden müßten. Das darf auf Dauer nicht sein. ({6}) Wir haben Theo Waigel immer nachdrücklich unterstützt, wenn er dieses Thema aufgegriffen hat. ({7}) - Was kann denn die SPD bewirken? Frau Wieczorek-Zeul, wenn man der SPD zuhört, dann hat man das Gefühl, Sie hängen folgender Illusion nach: Wenn es in Brüssel ein neues Gremium gibt und in Brüssel zwei neue Papiere vorgelegt werden, dann sind damit schon neue Arbeitsplätze geschaffen. ({8}) Sie haben mit keinem einzigen Wort erwähnt, daß es in Deutschland und anderen Ländern Europas nur dann neue Arbeitsplätze gibt, wenn Menschen bereit sind, Unternehmen zu gründen, und wenn Unternehmen bereit sind, auf Grund zusätzlicher Auftragseingänge neue Arbeitskräfte einzustellen. ({9}) Auch die Unternehmen sind nicht völlig frei. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Zitat des VorDr. Martin Mayer ({10}) standsvorsitzenden eines großen Unternehmens bringen, der besonders legitimiert ist, zu diesem Thema etwas zu sagen, weil er einem Unternehmen angehört, das in den vergangenen Jahren neue Arbeitsplätze geschaffen hat, und zwar in großer Zahl. Bernd Pischetsrieder von BMW sagt: Unser Arbeitgeber ist der Kunde. ({11}) Ich glaube, wenn wir die Debatte über Arbeitsplätze führen und Tarifpartner beieinandersitzen und wenn sich jemand um seinen Arbeitsplatz sorgt, dann müßte er diesen Satz, daß unser Arbeitgeber der Kunde ist, immer vor Augen haben. Wenn eben jemand in München oder in Bonn, in Tokio, in Berlin oder in Washington einen BMW kauft, dann ist er Arbeitgeber für die Beschäftigten bei BMW. Wenn jemand in die Werkstatt A und nicht in die Werkstatt B geht, um seinen Wagen reparieren zu lassen, dann ist er Arbeitgeber für die Werkstatt A. Ich meine, daß wir uns diesen Satz und diesen grundlegenden Gedanken immer wieder vor Augen halten müssen. In diesem Wettbewerb um den Kunden muß der Staat die Rahmenbedingungen entsprechend setzen, und zwar so, daß die Unternehmen im Wettbewerb um die Kunden leistungsfähig sind. Die Rahmenbedingungen können eben nicht auf EU-Ebene in gleicher Weise festgelegt werden, sondern sind Sache der Nationalstaaten. Die Tarifpartner haben eine große Verantwortung. In deren Tarifhoheit müssen die Rahmenbedingungen für die Tarifregionen festgelegt werden. Ich möchte es noch einmal sagen: In der jetzigen Zeit haben die Tarifpartner auch für die Beschäftigungspolitik eine außergewöhnliche Verantwortung. Man darf als Tarifpartner nicht in den guten Zeiten sagen, die Politik darf uns nicht hineinreden, wir machen das selbst, wir machen das in eigener Verantwortung, aber dann, wenn es wirklich schwierig wird - wir sind in einer schwierigen Zeit -, auf die Politik verweisen. Es geht letztlich um das Verhältnis von Leistung und Kosten. Es geht um die Rolle der Löhne, für uns in der Politik um die Lohnzusatzkosten und um die Lohnsteuer. Bezüglich der Lohnzusatzkosten hat diese Bundesregierung, hat diese Koalition bereits erhebliche Anstrengungen unternommen und auch Erfolge zur Dämpfung des Anstiegs dieser Kosten verzeichnen können. Wir sind da noch nicht über den Berg, sondern müssen noch eine ganze Menge tun. All das, was wir in diesem Bereich getan haben, sind im Grunde unpopuläre Maßnahmen. Aber es waren notwendige Entscheidungen. Manchmal hat man schon den Eindruck, daß in der SPD deshalb so häufig davon geredet wird, die Zuständigkeit dafür nach Europa zu schieben, ({12}) um sich selbst aus der Verantwortung für diese unpopulären, aber notwendigen Entscheidungen davonstehlen zu können. Das ist zwar eine schöne Masche, aber das können wir nicht durchgehen lassen. Wir dürfen der Verantwortung in diesem Bereich nicht ausweichen. ({13}) Es geht in dieser Frage nicht nur um die Kosten, sondern auch um die Einstellung zu Innovationen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal einen Unternehmenschef zitieren, der folgendes sagt: Wettbewerbsfähig sind heute - und werden es bleiben - der Staat oder die Unternehmen, die fähig sind, die Innovationskraft aller zu aktivieren. In der Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft ist der Mensch ein Erfolgs- und Leistungsträger und kein Kostenfaktor. Diesbezüglich sind wir ja einig. ({14}) In Ihrem Entschließungsantrag steht ein Satz, den wir voll unterschreiben können, und diesen zitiere ich: „Neue Technologien müssen besser akzeptiert und zügiger umgesetzt werden". Hierzu kann ich nur sagen: Lassen Sie diesen Worten auch Taten folgen, wenn es zum Beispiel um den Transrapid geht, und unterstützen Sie ihn inhaltlich voll! Lassen Sie diesen Worten auch Taten folgen, wenn es beispielsweise um die Gentechnik und um die Entwicklung einer Neutronenquelle, einen Forschungsreaktor, geht, der eine wichtige Voraussetzung für Innovationen und neue Arbeitsplätze ist. Lassen Sie diesen Worten auch Taten folgen, wenn es um die Kernenergie geht. Denn sie ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß wir im Energiebereich wettbewerbsfähig und umweltfreundlich produzieren und daß damit wieder neue Arbeitsplätze in Europa entstehen können. ({15}) Der Staat und vor allem die Tarifpartner sind besonders gefordert, wenn es darum geht, die Arbeitsanforderungen an die Erfordernisse der Zeit anzupassen. Heute war von der SPD wieder zu hören, daß sie neue Vorschriften einführen will, um die Zahl der Überstunden zu beschränken ({16}) - wir wollen die Überstunden abbauen, aber nicht durch staatliche Gesetze -, und daß sie nicht bereit ist, die Flexibilität der Arbeitszeit von staatlicher Seite zu erweitern. ({17}) Denn es hilft ja nichts, wenn ich dann zum Beispiel bei einem konkreten Projekt, in dem bestimmte Menschen in einer bestimmten Zeit etwas fertigstellen müssen, durch zusätzliche Vorschriften Hemmnisse aufbaue. Dadurch werden keine neuen Unternehmensgründungen erfolgen. Wir müssen die Vorschriften vielmehr lockern. Dr. Martin Mayer ({18}) Das gilt insbesondere auch für die Arbeitnehmerüberlassung. Ich werde mich dieses Themas ganz besonders annehmen, weil bestimmte Aufgaben in Zukunft nur noch dadurch zu lösen sind, daß sich für die Verwirklichung eines Projektes verschiedene Unternehmen auf Zeit zu einem neuen Unternehmen zusammenschließen, ({19}) um auf diese Weise zu Ergebnissen zu kommen. Das geht eben nur durch die Überlassung von Arbeitnehmern. Zudem sollte ein wenig mehr Bereitschaft zum Ortswechsel bestehen. Die Europäische Union kann bei all diesen Aufgaben nur eine koordinierende Rolle einnehmen. Handeln müssen die Mitgliedstaaten. Auch wir in Deutschland werden handeln. Wenn Sie von seiten der Opposition mehr Arbeitsplätze wollen, dann kann ich an Sie nur appellieren: Hören Sie mit Ihrer Blockade bei der Steuerreform und bei der Rentenreform auf! ({20}) Helfen Sie mit, den Rahmen so zu erweitern, daß mehr Flexibilität entsteht! Hören Sie auf, den Bürgern vor neuen und innovativen Techniken Angst zu machen. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe damit die Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt. Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen auf Drucksache 13/8971 und 13/8992 und den soeben eingereichten neuen Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 13/9050 ({0}) zur federführenden Beratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Finanzausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. ({1}) - Er ist mir soeben eingereicht worden. ({2}) Sind Sie mit diesen Überweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 2 auf: 3. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({3}), Günter Graf ({4}), Thomas Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Jugendstrafrecht und Präventionsstrategien - Drucksachen 13/4765, 13/8284 ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({5}), Rita Grießhaber, Kerstin Müller ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Öffentliche Sicherheit stärken - Jugendkriminalität verringern - Drucksache 13/8968 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({7}) Innenausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die seit Anfang der 90er Jahre wieder wachsende Kriminalitätsbelastung junger Menschen sowie die Kriminalitätsfurcht eines zunehmenden Teils der Bevölkerung müssen mit großer Sorge zur Kenntnis genommen werden. Kinder- und Jugenddelinquenz ... stellen eine besondere Herausforderung für Gesellschaft und Staat in Deutschland dar. Mit dieser zutreffenden Feststellung beginnt die Bundesregierung ihre nach zwei langen Anläufen endlich im Juli dieses Jahres vorgelegte Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zu Jugendstrafrecht und Präventionsstrategien. Es bereitet Sorge und darf trotz der bekannten Probleme derartiger Statistiken nicht verharmlost werden, daß in den Jahren von 1993 bis 1996 beispielsweise die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen von 207 000 auf 277 000 und die Zahl der tatverdächtigen Kinder von rund 88 000 auf über 130 000 zugenommen hat. Das ist innerhalb von drei Jahren ein Anstieg um mehr als 30 bzw. 40 Prozent. Diese besorgniserregende Entwicklung darf aber auch nicht dramatisiert oder gar zum Anheizen einer ganz und gar realitätsfernen Kriminalitätsfurcht mißbraucht werden. Auch 1996 ist nur eine kleine Minderheit von weniger als 7 Prozent aller Jugendlichen als Tatverdächtige in Erscheinung getreten, und für Dr. Jürgen Meyer ({0}) die meisten von ihnen bleibt die Delinquenz nach wie vor eine Episode ihres Jugendalters. Unsere Hauptsorge muß dem starken Anstieg der Zahl der Intensivtäter und hier besonders der Gewalttäter gelten. Diese machen zwar insgesamt weniger als 1 Prozent aller Jugendlichen aus, aber unbestreitbar haben sich die Zahlen tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher etwa beim Raub und bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung mehr als verdoppelt. Dabei ist die Zahl der jugendlichen Opfer etwa im selben Maße gestiegen wie die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen. Offenbar handelt es sich vor allem um schwerwiegende Konflikte innerhalb der jugendlichen männlichen Bevölkerung. Besonders betroffen sind junge Menschen in den neuen Bundesländern. Kriminologen erklären dies mit einem Prozeß der Anomie, also der Normlosigkeit, der Desorientierung, des Wertewandels und der Suche nach neuer Identität. Danach ist Jugendkriminalität eine von mehreren Ausdrucksformen mangelnder Integration junger Menschen in die Gesellschaft. Andere Formen sind Gewalt gegen die eigene Person durch Drogen- oder Alkoholkonsum sowie Desinteresse an dieser Gesellschaft bis hin zu rechtsradikalen oder autoritären Orientierungen. Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, stellt sich die Frage nach den Ursachen derartiger Entwicklungen. Wer nur auf Repression durch Strafrecht setzt, handelt offensichtlich zu spät. Zugleich ist er in der Gefahr, sich einer geradezu menschenverachtenden Sprache zu bedienen. Auch wenn wir über Jugendkriminalität reden, sollten wir nicht vergessen, daß es dabei um unsere Kinder und um Jugendliche geht, für die wir politische Verantwortung, aber auch Erziehungsverantwortung tragen. Mich hat erschreckt, daß Theo Waigel auf dem kürzlich abgehaltenen CDU-Parteitag unter Hinweis auf seine frühere Tätigkeit als Staatsanwalt unter dem Beifall vieler Delegierter ausrief: „Null Toleranz! Das ist die einzige Sprache, die diese Typen verstehen." Welch eine Sprache! Auch die sogenannten Typen sind unsere Kinder und unsere Jugendlichen. ({1}) Der Ruf allein nach Repression ist ein durchsichtiger Versuch, von der politischen Verantwortung für schwierige gesellschaftliche Bedingungen abzulenken, unter denen junge Menschen aufwachsen müssen. ({2}) Wesentlich überzeugender ist die Antwort, Herr Kollege Geis, welche die Bundesregierung unter Federführung des Justizministeriums auf unsere Abschlußfrage 38 zur künftigen Politik gibt: ({3}) Kriminalität und Gewalt, darunter auch fremdenfeindlich und extremistisch motivierte Gewalttaten, lassen sich nicht nur mit den Mitteln der Polizei und der Strafverfolgung bekämpfen. Es ist besser, Straftaten zu verhüten, als sie verfolgen zu müssen. Deshalb erscheint es notwendig, verstärkte Aktivitäten einer junge Menschen integrierenden und der Delinquenz vorbeugenden Gesellschaftspolitik zu unternehmen. Angesprochen sind alle Politikbereiche. Insbesondere müssen die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen verbessert werden, die Familien mit Kindern Zukunftsperspektiven aufzeigen. Neben den Eltern trifft insbesondere die Schule, die Berufsbildung und den Arbeitsmarkt die Verpflichtung, junge Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Das alles, Herr Justizminister, findet unsere Zustimmung. In unserem heute vorgelegten Entschließungsantrag verdeutlichen wir im einzelnen, wie eine Politik der Prävention gegen Jugendkriminalität konkret aussehen könnte. Was wir brauchen, ist ein Bündnis aller gesellschaftlichen Kräfte gegen Jugendkriminalität. - Meine Kollegen Thomas Krüger und Ute Vogt werden sich dazu noch ausführlich äußern. Ich will hier nur noch anmerken, daß sich die Bundesregierung in erhebliche Widersprüche verstrickt, wenn sie in der Einleitung ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage den Anstieg der Jugendkriminalität unter Hinweis auf die 60er und 70er Jahre auch und offenbar maßgeblich mit gestiegenem Wohlstand zu erklären versucht. Die mehr als 1 Million Kinder, die inzwischen von Sozialhilfe leben müssen, und die Aussiedler, denen die Bundesregierung die für ihre Integration unverzichtbaren Mittel für Sprachunterricht gestrichen hat, können das nur als zynisch empfinden. ({4}) Wir Sozialdemokraten bekennen uns nach wie vor zu dem Satz von Franz von Liszt: Sozialpolitik ist zugleich die beste und wirksamste Kriminalpolitik. Ich füge hinzu: Das gilt auch für die Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik, bei der wir in dieser Republik eine Wende brauchen. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das heißt natürlich nicht, daß wir auf Strafrecht verzichten könnten. ({6}) Die Forderung nach „Erziehung vor Strafe" bedeutet eben auch „Erziehung und Strafe". Unser Jugendstrafrecht muß nicht verschärft werden. ({7}) Aber die Sanktionen sollten zeitnah, also möglichst bald nach der Tat, verhängt werden und erzieherisch sinnvoll sein. ({8}) Dr. Jürgen Meyer ({9}) Beispielsweise könnte der Ladendieb in dem von ihm beklauten Geschäft unentgeltlich arbeiten. ({10}) - Wenn der Geschäftsführer nicht mitmacht, Herr Kollege Geis, kommt gemeinnützige Arbeit in Betracht. ({11}) Der Sprayer sollte seine vermeintlichen Kunstwerke selbst entfernen. Und durch verstärkte Anwendung des Täter-Opfer-Ausgleichs sollte der Täter zur Schadenswiedergutmachung angehalten werden und in persönlicher Begegnung, wenn das Opfer darin einwilligt, mit den Folgen seiner Tat konfrontiert werden. Im Strafvollzug sollten Gewalttäter durch Antiaggressionstraining lernen, daß die Anwendung körperlicher Gewalt, zumal gegen Schwächere, erbärmlich und alles andere als ein Zeichen von Stärke ist. ({12}) Hingegen werden die von konservativer Seite immer wieder erhobenen Reformforderungen nach Verschärfungen des geltenden Jugendstrafrechts von fast allen Fachleuten abgelehnt, ({13}) zuletzt bei Sachverständigenanhörungen der SPD- Fraktion im Oktober und der CDU/CSU-Fraktion im August dieses Jahres. ({14}) Die Forderung nach grundsätzlicher Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende, also auf 18- bis 21jährige, Herr Kollege Geis, übersieht, daß der bei schädlichen Neigungen oder Schwere der Schuld geltende Regelstrafrahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz von sechs Monaten bis zu zehn Jahren in den meisten Fällen nicht zu kürzeren, sondern zu längeren Freiheitsstrafen führt, daß die Resozialisierung junger Menschen in Jugendanstalten eher gelingen kann als in Erwachsenenstrafanstalten und vor allem daß auch für Heranwachsende der aus der Menschenwürde abgeleitete Schuldgrundsatz gilt. Deshalb ist es Sache des für den Einzelfall zuständigen Gerichts und nicht des Gesetzgebers, ({15}) festzustellen, welcher Heranwachsende bereits die Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit eines Erwachsenen hat. ({16}) Ein ähnlicher Einwand richtet sich im unteren Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts gegen die Forderung, zwölf- oder dreizehnjährige Kinder durch Machtspruch des Gesetzgebers für strafmündig zu erklären. ({17}) Es gibt keine einzige auch nur annähernd repräsentative Untersuchung, mit der man belegen könnte, daß Zwölf- oder Dreizehnjährige heute strafmündiger wären als ihre Altersgenossen vor 10 oder 20 Jahren. ({18}) Wichtiger aber ist, daß die Forderungen nach Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters geeignet sind, die strafrechtliche Verantwortung der Erwachsenen zu überdecken, die noch nicht strafmündige Kinder zur Begehung von Straftaten anleiten. Die vermeintlichen Täter werden dadurch in Wirklichkeit zu Opfern der Erwachsenen. Es bedarf keiner Begründung, daß in diesen Fällen gegen die sogenannten Hintermänner strafrechtlich vorgegangen werden kann und muß. Sie sind als mittelbare Täter, die sich eines nicht schuldfähigen Werkzeuges bedienen, nach den bereits geltenden Bestimmungen für die von den Kindern begangenen Delikte zu bestrafen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Stetten?

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte schön.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Meyer, wollen Sie behaupten, daß ein Dreizehnjähriger, der stiehlt, kein Unrechtsbewußtsein hat? Wir haben es doch schon mit Banden rumänischer Kinder zu tun. Wir haben es in Frankfurt mit marokkanischen Kinderbanden zu tun, die Heroin verteilen. Sie wollen doch nicht behaupten, daß sie kein Unrechtsbewußtsein haben! Sagen Sie, wie Sie diese Kinder von der Straße bekommen und die Bürger vor ihnen schützen wollen, wenn Sie kategorisch irgendeine Strafsanktion gegen diese Kinder ablehnen. ({0})

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege von Stetten, das will ich Ihnen gerne sagen: Es geht nicht generell darum, ob Dreizehnjährige, die Straftaten begehen, kein Unrechtsbewußtsein haben, sondern es geht in den Fällen, die ich soeben angesprochen habe, darum, daß dreizehnjährige Kinder, die von Erwachsenen zur Begehung der Taten losgeschickt werden, schon zweifeln müssen, welche Normen eigentlich in unserer Gesellschaft gelten. Dann geht es darum - auch das gehört zur Schuld -, daß sie diesem Druck ihnen überlegener Erwachsener standhalten, also nach ihrem hoffentlich doch noch vorhandenen Unrechtsbewußtsein handeln können. Dr. Jürgen Meyer ({0}) Nur dann, wenn Sie beides bejahen, können Sie generell die Strafmündigkeit von dreizehnjährigen Kindern bejahen. Dazu gibt es aber keine seriöse wissenschaftliche Untersuchung. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. ({1}) Im übrigen weise ich Sie auf etwas hin, was vielfach übersehen wird: Erziehungsberechtigte haben eine Garantenstellung, die mit einem Bestrafungsrisiko verbunden ist, wenn sie ihre Kinder nicht aktiv von der Begehung von Delikten abhalten. Angesichts der Zunahme der Begehung solcher Delikte durch Kinder sollten wir uns also, was das Strafrecht angeht, eher an die dafür verantwortlichen Erwachsenen halten. ({2}) Wer die Unterbringung von Kindern in geschlossenen Heimen fordert, muß wissen, daß die Entweichungen aus derartigen Heimen ebenso häufig sind wie diejenigen aus offenen Erziehungsheimen. ({3}) Oder, verehrte Kollegen von der Koalition, will man dies dadurch ändern, daß man künftig eine Art von Hochsicherheitstrakten für Kinder schafft? Dann könnten sie nicht mehr entweichen. ({4}) Statt bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität nach mehr Repression zu rufen, sollten wir uns gemeinsam um bessere Prävention bemühen. ({5}) Ich zitiere abschließend einen der besten Experten, Horst Viehmann: Wer Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität, zwischen Ausgrenzung und Gewalt, zwischen Versagungserlebnissen, mangelnder emotionaler Zuwendung, fehlender Anerkennung, verbreiteter Perspektivlosigkeit, medialem Gewalteinfluß, Alkohol usw. und den Auffälligkeiten Jugendlicher leugnet und zur Bekämpfung der Auffälligkeitsvarianten Gewalt und Kriminalität allein auf Bestrafung setzt, hat auf das falsche Pferd gesetzt und damit nicht nur Ressourcen vergeudet, sondern er hat auch versäumt, rechtzeitig sinnvolle Auswege zu finden. Längst sind die richtigen Diagnosen gestellt. Ich füge hinzu: Handeln wir endlich danach! ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Abgeordnete Eckart von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anstieg der Jugendkriminalität in den letzten Jahren - das hat der Kollege Professor Meyer richtig ausgeführt - macht uns alle besorgt. Die betreffenden Zahlen sind in den letzten Jahren um ein Drittel gestiegen. 1993 hatten wir noch 5163 Tatverdächtige pro 100 000 Jugendliche zu beklagen; 1996 waren es bereits 6881 Tatverdächtige. Die Ursachen für den Anstieg der Jugendkriminalität sind sicherlich vielfältig. Frau Kollegin Eichhorn wird auf einige Ursachen tiefer eingehen, als ich das jetzt tun kann. Ich will jetzt nur einige Punkte nennen: unzureichende emotionale Bindung an das Elternhaus, unzureichendes Wertebewußtsein, fehlende Befähigung zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung, Straffälligkeit der Eltern, was dann nachgeahmt wird, gesteigerte Verführsituation mit vermeintlichem Konsumzwang, konzentrierte Unterbringung von Personen aus Bevölkerungsgruppen mit sozialen Problemen in einem Stadtteil, fehlende Anerkennung von Autorität und natürlich auch die uns alle bedrückende Jugendarbeitslosigkeit. Ich will hier den Hinweis anbringen, daß ein Grund für die Jugendarbeitslosigkeit - so stellt sich das jedenfalls aus meiner Sicht dar - auch eine verfehlte Schul- und Bildungspolitik in vielen Bundesländern ist. Handwerker, diejenigen, die junge Menschen ausbilden, beklagen immer mehr, daß die Grundvoraussetzungen für eine vernünftige Berufsausbildung nicht mehr gegeben sind. Ich glaube, in diesem Zusammenhang sagen zu können, daß eine bessere Schul- und Bildungspolitik ein guter Beitrag dazu wäre, die Kinder- und Jugendkriminalität zu bekämpfen. In dem Bundesland, aus dem ich komme, in Niedersachsen, verhält es sich jedenfalls so, daß die Schülerzahl kontinuierlich steigt und daß gleichzeitig die Lehrerzahl kontinuierlich abnimmt. Wenn wir uns vor Augen halten, welche Herausforderungen die Schule heute bewältigen muß, dann müssen wir einräumen, daß das sicherlich eine Fehlentwicklung ist. ({0}) - Ich habe von meinem Heimatland gesprochen, Kollege Beck. Ich kenne die Situation in Baden-Württemberg nicht so gut. Ich will aber gern zugestehen, daß in diesem Zusammenhang eine parteipolitische Schuldzuweisung nicht sinnvoll ist. Bei dem Politiker, der das Thema Jugendkriminalität und darüber hinaus das der Ausländerkriminalität zu populistischen Ausfällen nutzt, handelt es sich leider um den Ministerpräsidenten aus Niedersachsen, der sich anschickt, Kanzlerkandidat der SPD zu werden. Seine diesbezüglichen Ausführungen im Bundesrat widersprechen in allen Punkten den Ausführungen von Ihnen, Herr Professor Meyer. Daß dieser populistische Kurs von Gerhard Schröder mittlerEckart von Klaeden weile „Erfolg" hat, zeigt eine Presseerklärung der Deutschen Volksunion vom 23. September. ({1}) Dort heißt es, daß die rechtsextreme Deutsche Volksunion die Chancen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder in bezug auf die SPD- Kanzlerkandidatur fördern will, indem sie bei der Landtagswahl in Niedersachsen im März nicht antritt. Daran schließt sich ein Lob von Frey auf Gerhard Schröder für seine Äußerungen an. ({2}) Es gibt drei Punkte, die als Reaktion auf die steigende Kinder- und Jugendkriminalität diskutiert werden: Das ist zum einen die Absenkung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 12 Jahre, das ist zum zweiten die generelle Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende, und das ist drittens die Anhebung der Höchststrafe im Jugendstrafrecht von 10 auf 15 Jahre Freiheitsentzug für besonders schwere Straftaten Heranwachsender. ({3}) Ich möchte mit der Frage der Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 12 Jahre beginnen. In bezug darauf sind wir ja einer Meinung. Die CDU/CSU-Fraktion hat gemeinsam mit der F.D.P.- Fraktion eine Anhörung zu diesem Thema durchgeführt. Wir und alle Sachverständigen sind zu dem einhelligen Ergebnis gekommen, daß eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters nicht sinnvoll ist. ({4}) - Ich weiß, daß es dazu unterschiedliche Ansichten auch in unserer Fraktion gibt. Mir fehlt jetzt die Zeit, die Ausführungen von Gerhard Schröder im Bundesrat vorzulesen, in denen er sich exakt für eine solche Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters und auch noch für die eine oder andere Absurdität eingesetzt hat. Neben diesem populistischen Charakter ist ja an den Ausführungen von Gerhard Schröder interessant, daß ihm offensichtlich die Rechtslage nicht bekannt ist. In seinen Ausführungen zur Ausländerkriminalität und zum Ausländerrecht im September hat er genau das gefordert, was wir im Sommer gemeinsam durchgesetzt haben. Es ist ja sowieso ein faszinierendes Problem, daß zum Populismus dann auch noch die Unkenntnis in einem Maße hinzutritt, wie man das eigentlich von einem niedersächsischen Ministerpräsidenten nicht erwarten kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege von Klaeden, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege von Klaeden, würden Sie meine Auffassung teilen, daß es vielleicht sinnvoll wäre, insbesondere über das Ausländerrecht unter Landespolitikern generell eine Aufklärungskampagne durchzuführen, da ja das Land Bayern gerade die Äußerungen von Herrn Schröder wortwörtlich als Antrag im Bundesrat gestellt hat und insofern wohl die Unkenntnis über die ausländerrechtlichen Regelungen weite Kreise gezogen hat? ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir sind die bayerischen Kollegen aus den Koalitionsverhandlungen, die schließlich auch zu einer Beschlußfassung geführt haben, ja gut bekannt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Unkenntnis in Bayern so vorhanden ist, wie Sie es gerade hier geschildert haben. ({0}) Ich habe eher den Eindruck, daß sich hinsichtlich der Entwicklung des Rechtsstaates alle Fraktionen an Bayern durchaus ein Beispiel nehmen können. ({1}) Wir lehnen eine Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze ab. Ein Grund ist die Notwendigkeit, immer wieder Gutachten anzufertigen, ob tatsächlich die individuelle Strafreife nach § 3 JGG vorhanden ist. Das würde sicherlich zu unnötigen Kosten führen und wäre insgesamt nicht effizient. Zum zweiten Punkt, zur stärkeren oder generellen Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende. Das ist ja insbesondere die Problematik des § 105 des Jugendgerichtsgesetzes. Dazu will ich zunächst einmal darauf hinweisen, daß die pauschale Behauptung, für Heranwachsende werde generell das Jugendstrafrecht angewandt und das Erwachsenenstrafrecht komme nicht zur Anwendung, falsch ist. Es ist im Gegenteil so, daß lediglich auf 60 Prozent der Heranwachsenden das Jugendstrafrecht angewandt wird und auf die anderen eben das Erwachsenenstrafrecht Anwendung findet. Daß wir mit unserem Jugendstrafrecht auch bei Heranwachsenden gute Erfolge erzielen können und daß das ein differenziertes Mittel ist, der Delinquenz von Heranwachsenden zu begegnen, zeigt ja der Blick in andere Länder, wo das Jugendstrafrecht für Heranwachsende nicht angewandt wird. Vor kurzem ist ja der Fall von Louise Woodward, dem Au-pair-Mädchen in Cambridge, Massachusetts, durch die Öffentlichkeit gegangen. Trotz der schweren Verfehlung, die dieses Mädchen dort auf sich geladen hat, bestand generell die Ansicht, daß die Bestrafung nach Erwachsenenstrafrecht nicht richtig ist. Man hat die Korrektur im Grunde über einen Verfahrensweg vornehmen können, aber de facto ist es so, daß die Rechtslage, die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht, dort das eigentliche Problem gewesen ist und dies von allen - jedenfalls von denen, die sich intensiver mit dem Fall beschäftigt haben - für falsch gehalten wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, der Kollege von Stetten möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gem.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege von Klaeden, ich bin zehn Jahre Jugendrichter an Land- und Amtsgerichten gewesen. Stimmen Sie mir zu, daß ein 19- und 20jähriger, der raubt und mordet, in der Regel den Verstand hat, zu wissen, was er tut? Eigentlich sollten diese Täter, so wie es von § 105 JGG vorgesehen ist, nur in Ausnahmefällen nach Jugendstrafrecht verurteilt werden. Das ist bei uns eben nicht der Fall, sondern 60 Prozent - und das ist weit mehr als die Hälfte - werden automatisch nach Jugendstrafrecht behandelt. Ist es nicht sinnvoll, hier im Gesetz einen Hinweis anzubringen, daß das die Ausnahme bleiben soll und nicht bei jedem Jugendlichen oder Heranwachsenden irgendeine Macke gesucht wird, damit er nach Jugendrecht bestraft werden kann? ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will nicht bestreiten, daß es Fälle gibt, in denen eine derartige automatische Anwendung des Jugendstrafrechts vorliegt, aber es ist vom Gesetzgeber so nicht gewollt. Die jüngsten Zahlen zeigen ja auch, daß die Zahl der Verurteilungen von Heranwachsenden nach Erwachsenenstrafrecht zugenommen hat. Ich habe daher den Eindruck, daß die öffentliche Diskussion, die wir hier führen, auch für die Rechtsprechung ihre Konsequenzen hat und daß insgesamt die Entwicklung dort auf einem gute Wege ist, ohne daß jetzt eine Änderung des § 105 JGG notwendig ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, gem.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege von Klaeden, würden Sie mir zustimmen, daß die Zwischenfrage des geschätzten Kollegen von Stetten möglicherweise in einem Punkt in die falsche Richtung weist, weil sie den Eindruck erweckt, als würde Jugendstrafrecht regelmäßig das sanftere Strafrecht im Verhältnis zum Erwachsenenstrafrecht sein, ({0}) und daß wir uns deswegen vielleicht sogar überlegen müßten, ob nicht Grundsätze des Jugendstrafrechts im Einzelfall möglicherweise nicht nur für die 19- bis 20jährigen die richtigeren wären, sondern möglicherweise sogar auch für junge Erwachsene? ({1})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube nicht, daß der Kollege von Stetten die Ansicht intendiert hat, daß Jugendstrafrecht in jedem Fall das mildere Strafrecht ist. Denn aus der Arbeitsgruppe weiß ich, daß ihm auf Grund seiner beruflichen Praxis das Jugendstrafrecht gut bekannt ist. Aber der Hinweis, den Sie geben, ist ohne Zweifel richtig: Das Jugendstrafrecht ist im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht kein Minus, sondern tatsächlich ein, wie wir Juristen sagen, Aliud, also etwas anderes. Es gibt mit den Sanktionen die Möglichkeit, auf das Täterprofil unmittelbar pädagogisch einwirken zu können: Es kann eher zum Arrest kommen, man hat über die Weisungen die Möglichkeit, unmittelbar auf die Delinquenz zu reagieren. Das ist - da bin ich ganz Ihrer Ansicht - sicher besser, als nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen. ({0}) Inwieweit man die Erfahrungen mit dem Jugendstrafrecht im Erwachsenenstrafrecht anwenden kann, vermag ich im Augenblick nicht zu beurteilen. Aber sicher kann man eine Diskussion darüber führen. Man muß, so finde ich, bedenken, welche Konsequenz es hat, wenn man Heranwachsende regelmäßig nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Das hat zur Folge, daß die Regelstrafe, nämlich die Geldstrafe, ausgesprochen wird. Weil oft nicht genug Geld da ist, werden Ersatzfreiheitsstrafen verhängt. Somit kommen die Jugendlichen in die Strafanstalt für Erwachsene und lernen dort erst „echte", schwere Kriminalität kennen. Das ist vor dem Hintergrund der Idee der Generalprävention des Strafrechts sicher keine gute Entwicklung. Deswegen mein Appell von hier, § 105 des Jugendgerichtsgesetzes differenziert anzuwenden. Aus meiner Sicht jedenfalls ist eine Änderung des § 105 JGG zur Zeit nicht notwendig. ({1}) Der dritte Punkt, den ich noch ansprechen wollte, betrifft die Frage, ob es nicht nötig ist, darüber nachzudenken, die Höchststrafe im Jugendstrafrecht von 10 auf 15 Jahre zumindest für die Delikte heraufzusetzen, in denen das Erwachsenenstrafrecht die lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht. Uns wurde in der Anhörung eine ganze Reihe von Fällen geschildert, von denen ich hier folgenden herausgreifen will: Ein 19jähriger, bis dahin ein unauffälliger Abiturient, der nach einem Gaststättenbesuch mit seinem Pkw in erheblich alkoholisiertem Zustand nach Hause fuhr, wollte eine Passantengruppe erschrecken, indem er auf sie zufuhr. Kurz vorher, so hatte er sich vorgestellt, wollte er ausweichen. Dann ist ihm aber das Lenkrad aus der Hand geglitten, und auf diese Weise hat er zwei Menschen umgebracht. ({2}) Hier ist Jugendstrafrecht angewandt worden. Uns ist ein anderer Fall geschildert worden: Ein Mann ist von einer Gruppe Skinheads, die zusammen aufgetreten sind, auf bestialische Weise umgebracht worden. Ein Teil der Gruppe wurde wegen der absoluten Strafandrohung des § 211 des Strafgesetzbuches zu „lebenslänglich" verurteilt. Die anderen, die nur ein halbes Jahr jünger waren, sind nach Jugendstrafrecht verurteilt worden. Im Strafmaß ist eine auffällige Diskrepanz festzustellen gewesen. ({3}) Ich glaube, dieses Problem offensichtlicher Ungerechtigkeit kann man dadurch auffangen, daß man für diese Fälle die Strafandrohung von 10 auf 15 Jahre erhöht. Dies entspricht nämlich gleichzeitig dem Zeitraum, nach dem im Erwachsenenstrafrecht regelmäßig die lebenslange Freiheitsstrafe zu überprüfen ist. Das heißt, es ergäbe sich eine systematische Anknüpfung. ({4}) Vielleicht können wir über diese Überlegung einmal nachdenken. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Besorgnis um den Anstieg der Jugendkriminalität ist bereits mehrfach geäußert worden. Bündnis 90/Die Grünen teilen diese Sorge. Allen Versuchen, diesem Problem durch Ausbau repressiver Elemente gerecht zu werden, erteilen wir aber eine eindeutige Absage. Die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze wäre ebenso wie die grundsätzliche Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende eine jugendpolitische Kapitulation und kriminalpolitisch unverantwortlich. ({0}) Die Forderung darf nicht lauten: Erwachsenenstrafrecht für Heranwachsende! Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Für alle Heranwachsenden sollte grundsätzlich das jugendstrafrechtliche Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung gestellt werden. Meine Damen und Herren, ich fände es schlimm, wenn unsere Gesellschaft Jugend vor allem als Gefahr und Bedrohung ansähe, wie dies in Forderungen von Herrn Geis zum Ausdruck kommt: Ausgehverbot für Jugendliche. ({1}) Genauso schlimm ist es, wenn eine Gesellschaft Jugendliche ohne Perspektiven in die Welt entläßt. Prävention und erzieherische Maßnahmen müssen bei der Auseinandersetzung mit der Jugendkriminalität im Vordergrund stehen. Wir sollten uns die französische Regierung zum Vorbild nehmen. Wir brauchen eine Initiative zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit. ({2}) Durch aktive Beschäftigungspolitik und Schaffung von Lehrstellen über eine Ausbildungsplatzabgabe müssen wir der Jugend wieder eine Perspektive geben. Lassen Sie uns in der Diskussion über Jugendkriminalität einen rationalen Weg finden. Der liegt jenseits von Verharmlosung und Dramatisierung. Wir müssen die Erscheinungsformen und die Ursachen beim Namen nennen. Manche Zahlen in dieser Debatte sind mit Vorsicht zu genießen. Der dramatische Anstieg registrierter Ladendiebstähle bei Jugendlichen um etwa 93 Prozent seit 1984 muß nicht bedeuten, daß doppelt soviel gestohlen wurde. Er kann auch bedeuten, daß durch verstärkte Kontrollen mehr Ladendiebe erwischt wurden. Ebenso kommt einem etwaigen Wandel der Anzeigebereitschaft Bedeutung zu. Im Unterschied zu vielen anderen Staaten werden in der Bundesrepublik die amtlichen Statistiken nicht durch Dunkelfeldforschungen ergänzt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Stetten?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, Sie haben den enormen Anstieg der Zahl der Ladendiebstähle angesprochen. Kann es nicht auch sein, daß der Ladendiebstahl nicht mehr als Kriminaldelikt gesehen wird, weil Sie zum Beispiel fordern, daß Ladendiebstahl bis 250 DM ohne Strafverfolgung bleibt, wenn man hinterher bezahlt? Kann es nicht sein, daß deswegen das Unrechtsbewußtsein auch bei Jugendlichen fehlt und deswegen die Zahl der Ladendiebstähle deutlich angestiegen ist?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr von Stetten, das kann eindeutig nicht der Fall sein, weil die Forderung, die Sie gerade geäußert haVolker Beck ({0}) ben, Ihrer Propagandamaschine entspringt, von uns in dieser Form aber nie vertreten wurde. ({1}) - Lesen Sie mal genau! Wir haben vielmehr gesagt: Im Strafrecht soll bei Bagatellkriminalität Schadenswiedergutmachung vor Strafe gelten. Das heißt nicht, daß man im Nachgang einfach nur den gestohlenen Betrag zurückzahlt, sondern man muß das Doppelte drauflegen. Das ist bei Ersttätern eine empfindliche Sanktion. Bei Wiederholungstätern wollen wir von der Strafbarkeit nicht absehen. Wir nehmen diese Delikte nicht aus dem Strafrecht heraus. Wir wollen - was in der StPO übrigens für alle Straftaten angedacht ist - den Täter-Opfer-Ausgleich im Bereich des Ladendiebstahls bei kleinen Schäden gesetzlich regeln, um eine einheitliche Regelung zu haben. Sie wissen genau, wie unterschiedlich die Strafverfolgungspraxis in den Ländern auf Grund der Erlasse der Landesjustizministerien an die Staatsanwaltschaften ist. Da wird bei ganz unter- schiedlichen Summen strafverfolgt. Bei anderen wird eingestellt. Ich meine, in einem Rechtsstaat muß gleiches Recht im gesamten Rechtsgebiet herrschen. Deshalb ist unser Vorschlag: eine Verbesserung des Opferschutzes für die Ladendiebe ({2}) - Entschuldigung: eine Verbesserung des Opferschutzes für den Ladenbesitzer. Das bedeutet eine Effizienzsteigerung bei den Strafverfolgungsbehörden. Es ermöglicht, die Ressourcen der Strafrechtspflege dort zu konzentrieren, wo wir dringenden Nachbesserungsbedarf haben: bei der schweren Gewaltkriminalität, bei der Kriminalität im öffentlichen Raum, die den Bürgerinnen und Bürgern große Sorgen machen. Hören Sie sich doch einmal an, was der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Herr Lutz, in den letzten Wochen gesagt hat: Das, was wir im Bereich der Bagatellkriminalität zum Teil tun, ist nur eine Arbeit für die Statistik. Wir kommen überhaupt nicht zu einer effizienten Strafverfolgung. Ich meine, wir sollten an diesem Punkt keine ideologischen Schlachten führen, sondern überlegen: Wie können wir hier effizienter, bürokratieärmer vorgehen? Wie können wir den Opferschutz auch für Ladenbesitzer verbessern? Dazu ist unser Antrag ein Beitrag. Ich bin froh, daß Sie selbst einen anderen Vorschlag aus diesem Antrag im 6. Strafrechtsreformgesetz aufgegriffen haben, das wir morgen in diesem Hause diskutieren werden. Nun möchte ich gern mit meiner Rede fortfahren. Ich hatte zum Thema Dunkelfeldforschungen gesprochen und wollte daran anknüpfen, daß Aussagen über Jugendkriminalität deshalb zunächst Aussagen über registrierte Jugendkriminalität sind. Ein Rückschluß von registrierter auf wirkliche Kriminalität ist deshalb allenfalls im Sinne der Plausibilität möglich. Es können hier Indizien abgeleitet werden, aber man darf die Entwicklung nicht 1 : 1 für die Realität halten. Selbst wenn ein solcher einfacher Rückschluß auf die Kriminalitätswirklichkeit durch die amtlichen Statistiken nicht möglich ist, können wir bestimmte Erkenntnisse daraus gewinnen, Herr von Stetten: Sie zeigen uns nämlich, daß es sich bei den meisten Delikten, die Kinder und Jugendliche begehen, um Bagatellkriminalität, um kleine Eigentumsdelikte handelt. Es zeigt sich ein Weiteres: Straffälliges Handeln von Kindern und Jugendlichen hat überwiegend zeitlich begrenzten, vorübergehenden und eher episodenhaften Charakter. Der seit Ende der 80er Jahre zu beobachtende Anstieg von Fällen der Jugendgewalt, die im übrigen in erster Linie Jungengewalt ist, geht primär zu Lasten Gleichaltriger und Jüngerer. ({3}) Das Risiko älterer Menschen, Opfer einer Gewalttat zu werden, hat demgegenüber in den letzten Jahren kaum zugenommen oder ist in bestimmten Deliktbereichen erfreulicherweise sogar gesunken. Stichwort Jungengewalt: Das Problem der Jugendgewalt ist auch ein Problem der Geschlechterrollen, ein Problem falscher Bilder von Männlichkeit. Hier müssen Schule und Jugendarbeit ansetzen. Wir dürfen nicht weiter lauter kleine Rambos heranziehen. ({4}) Kindheitserfahrungen mit Gewalt sind ein relevanter Risikofaktor für Gewalt und Kriminalität in späteren Lebensphasen. Wer über Jugendgewalt spricht, darf nicht zur Gewalt an Kindern und Jugendlichen, zur Gewalt in der Familie schweigen. Wir brauchen auch in der Erziehung eine glasklare gesellschaftliche Achtung der Gewalt. ({5}) Hier haben Sie eine eindeutige Formulierung beim Kindschaftsrecht verhindert. ({6}) Die steigende Jugendkriminalitätsrate läßt sich im wesentlichen auf die wachsende soziale Ausgrenzung zurückführen. Der Mangel an Ausbildungsplätzen und fehlende Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie langfristige Benachteiligungen verhindern die gesellschaftliche Integration der nachwachsenden Generation. Sie können als die wesentlichen Ursachen für Kinder- und Jugendkriminalität angesehen werden. Volker Beck ({7}) Dies zeigt auch der europäische Vergleich. Je mehr in den letzten Jahren die sozialen Gegensätze angewachsen sind, um so höher ist die Zahl der Jugendgewalttaten angestiegen. In Deutschland hat die Zahl der Sozialhilfeempfänger im Vergleich zu anderen Altersgruppen am stärksten bei Jugendlichen und Heranwachsenden zugenommen, während sich bei den über 25jährigen weit geringere Anstiegsquoten ergeben. Auf der anderen Seite ist allein zwischen 1988 und 1993 die Zahl der Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen in Höhe von über 10 000 DM um fast das Dreifache angewachsen. Hier zeigt sich, wie notwendig es wäre, in diese soziale Schieflage durch den Staat einzugreifen. Jugendliche aus der sozialen Unterschicht, die über einen guten Ausbildungsplatz verfügen, zeigen keine besonderen Auffälligkeiten. Wer dagegen ohne eine solche Perspektive in die Rolle des frustrierten Zuschauers gerät, wer erleben muß, daß sich andere scheinbar alles leisten können, während er selber ausgeschlossen ist, der unterliegt eher der Versuchung, seine Probleme mit kriminellen Mitteln zu lösen. Hiergegen hilft weder die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters noch die verstärkte Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende oder gar die vermehrte Unterbringung straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher in geschlossenen Heimen. ({8}) - Das sage ich gerne Herrn Schröder und auch Herrn Stoiber. Wenn sie in meine Sprechstunde in meinem Wahlkreis kommen, werde ich Sie darüber aufklären. Wenn man Kinder und Jugendliche in geschlossene Heime einweist, weckt man lediglich die Illusion, daß sie dort sicher untergebracht sind. Tatsache ist jedoch, daß Kinder aus geschlossenen Heimen ebenso oft weglaufen wie aus offenen Einrichtungen. Eine Verbesserung für die Sicherheit der Bevölkerung ist durch geschlossene Heimunterbringung nicht zu erreichen. Und bei der Resozialisierung haben sich geschlossene Heime als außerordentlich kontraproduktiv erwiesen. Die Forderung, Heranwachsende wie Erwachsene zu bestrafen, beruht auf der falschen Vorstellung, das Jugendstrafrecht sei milder als das Erwachsenenstrafrecht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gleich, aber erst würde ich gern diesen Gedanken zu Ende führen. Dann kann Herr Krüger eine Zwischenfrage stellen. Das ist aber mitnichten der Fall. Zum Teil ist das Jugendstrafrecht sogar schärfer. So ist etwa das Risiko, für einen Diebstahl ins Gefängnis zu kommen, nach dem Jugendstrafrecht größer, da die Richter die Möglichkeit haben, Arrest von bis zu vier Wochen zu verhängen. Dies geht nach dem Erwachsenenstrafrecht nicht. Mit seiner flexiblen, täterbezogenen Reaktionsweise bietet das Jugendstrafrecht die besseren präventiven Möglichkeiten als das Erwachsenenstrafrecht. ({0}) Die Jugendrichter können gegenüber einem jungen Menschen, der sich in der Ausbildung befindet, zum Beispiel die Leistung gemeinnütziger Arbeit anordnen. Verhaltensauffällige Straftäter können mit mehrmonatigen sozialen Trainingskursen oder einer längeren Betreuungsweisung belegt werden. So kann zum Beispiel bei Sexualstraftätern wie bei Gewalttätern oft mit großem Erfolg spezifisch korrigierend auf ihr Verhalten eingewirkt werden, weil dort nachgeholt wird, was die Sozialisationsinstanzen unserer Gesellschaft wie Familie, Schule und Jugendarbeit zum Teil versäumt haben. ({1}) Diese Vielzahl der Reaktionsmöglichkeiten sollte für Heranwachsende grundsätzlich zur Verfügung gestellt werden. ({2}) Bitte schön, Herr Krüger.

Thomas Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002708, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter, ich habe eine Frage zu einem Thema, das Sie kurz angesprochen haben, nämlich zu der geschlossenen Unterbringung in Heimen. Teilen Sie meine Auffassung, daß das Kinder- und Jugendhilfegesetz geschlossene Einrichtungen der Jugendhilfe nicht mehr vorsieht und mit der Inobhutnahme nach dem KJHG eine geschlossene Unterbringung so, wie sie bislang diskutiert worden ist, auch nicht gemeint ist und daß es weder in der Rechtssystematik noch im Duktus des Kinder- und Jugendhilfegesetzes liegt, sozusagen die Arbeit mit Straffälligen zu übernehmen?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich teile Ihre Auffassung in dem Punkt, daß die geschlossene Unterbringung in Heimen nicht vorgesehen ist. Wir sollten dies auch nicht wieder einführen. Es gibt auf Grund der desolaten Finanzsituation von Kommunen und Ländern echte Defizite - für die wir uns alle nicht auf die Schulter klopfen können - bei der Jugendarbeit und bei der Ausstattung der Jugendämter in den Kommunen. ({0}) - Wir können uns hier alle nicht auf die Schulter klopfen; richtig. - Dies ist in allen Bundesländern und Kommunen, egal von wem sie regiert werden, gleichermaßen ein Problem. Damit die Instrumentarien des KJHG überhaupt zur Wirkung kommen können, haben wir eine Menge rechtlicher Möglichkeiten geschaffen. Diese Volker Beck ({1}) Instrumentarien können in der Realität bei der Intervention allerdings überhaupt keine Rolle spielen, weil es das Personal dafür nicht gibt. Das gleiche gilt auch für die Gerichtshilfe, also die Bewährungshilfe und die Jugendgerichtshilfe. Hier könnte man einiges viel effizienter machen. Dazu bräuchte man aber genügend qualifiziertes Personal, das die Zeit hat und beispielsweise einen Delinquenten nicht einfach nur einbestellt, um den Termin abhaken zu können, ohne mit dem Jugendlichen wirklich gearbeitet zu haben, mit ihm seine Probleme besprochen und auch weitere Perspektiven entwickelt zu haben. Deshalb sollten wir über die Inkraftsetzung ganz vieler Gedanken im KJHG nachdenken und die Diskussion über die geschlossenen Heime unter Rechtsgeschichte im Sozialrecht abheften. Neben dem Risiko, erwischt zu werden, kommt der zügigen Durchführung der Hauptverhandlung eine ganz entscheidende erzieherische Qualität zu. Ich glaube, in diesem Punkt besteht Einigkeit hier im Hause. ({2}) Es kann nicht angehen, daß ein Jugendlicher mehrere Monate, womöglich sogar noch in Untersuchungshaft, auf die Hauptverhandlung warten muß, obwohl er bereits gleich nach der Tat ein Geständnis abgelegt hat. ({3}) Damit die rechtsstaatlichen Bedingungen gewahrt bleiben, müssen aber sowohl Polizei als auch Justiz für diese Aufgabe hinreichend personell ausgestattet werden. Wir sollten, wie das zum Beispiel in Frankfurt geschieht, für eine frühe Beiordnung des Verteidigers sorgen. Dort hat dies zu einer erheblichen Beschleunigung der Verfahren geführt. Darüber hinaus sind die bereits bestehenden kinder- und jugendhilferechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten zur Anwendung zu bringen. Dies läßt sich durch eine funktionierende Kooperation zwischen Jugend- und Sozialhilfe, Schule, Polizei und sonstigen Trägern der Jugendarbeit erreichen. Hierzu gibt es in einigen Kommunen und Ländern mit kriminalpräventiven Räten positive Ansätze. Wer demgegenüber im wesentlichen auf Strafrecht setzt - das geht an Herrn Schröder und Herrn Stoiber gleichermaßen ({4}) und dann auch noch behauptet, so die anstehenden Probleme bewältigen zu können, hat sich in den Denkmodellen des 19. Jahrhunderts verfangen. Hier darf eine moderne Politik nicht mitbieten. Die zunehmende Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen bringt keinen Sicherheitsgewinn. ({5}) Sie trägt vielmehr zur Brutalisierung der Gesellschaft bei. Eine gute Sicherheitspolitik erkennt auch ihre Grenzen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kinder- und Jugendkriminalität steigt in unserem Land in bedenklichem Maße in den letzten Jahren an. Aber dennoch sollten wir uns klarmachen: Nicht nur in Deutschland treffen wir auf dieses Phänomen, sondern in allen umliegenden Ländern, sowohl in den östlich von uns gelegenen Ländern, die in ihrer Entwicklung natürlich ganz andere Probleme haben, als auch in den westlich Deutschlands gelegenen Ländern: überall eine in etwa gleich ansteigende Jugendkriminalität. Also bitte nicht nur nach Binnenursachen suchen, sondern auch nach den Ursachen, die erkennbar in all diesen Ländern in ähnlicher Weise gegeben sind. Ich möchte meine Freude darüber ausdrücken, daß die Diskussion zu einem hochemotionalen Thema wie dem des Anwachsens der Kriminalität hier nicht in Ritualen erstarrt nach dem Motto: „Die Konservativen fordern höhere Strafen", und diejenigen, die sich als links verstehen, sagen: „Die Produktionsverhältnisse müssen geändert werden", sondern daß wir in der Analyse aufeinander zugehen und den Versuch machen, auch gemeinsam Lösungen zu finden. Ich muß sagen: Die einzelnen Forderungen sind sehr unterschiedlich zu beurteilen. Wenn Konservative sagen: „Wir brauchen mehr Polizei sichtbar auf den Straßen als Beitrag zur Verminderung der Kriminalität", dann ist diese Forderung richtig und wird von uns nachhaltig unterstützt. Wenn Konservative sagen, daß die Familie gestärkt werden muß, weil intakte Familien in der Tat ein Bollwerk gegen das Entstehen von Kriminalität sind, dann liegen sie richtig und werden nachhaltig von der F.D.P. unterstützt. Wenn Linke - wenn es so etwas heute überhaupt noch gibt ({0}) sagen, daß Bedingungen, unter denen hier junge Menschen leben, das Entstehen von Kriminalität begünstigen, dann haben sie ebenso recht. Deswegen müssen wir die Dinge sehr genau analysieren und versuchen, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich möchte eines wiederholen, was Herr Beck zu Recht angesprochen hat: Kinder und Jugendliche, die kriminell werden, richten unermeßlichen Schaden bei anderen an: an der Seele, am Körper, sicherlich auch am Eigentum vieler. Die Opfer von kindlicher Kriminalität sind in der Regel auch wieder Kinder. Deswegen müssen wir das ganze Thema auch Hildebrecht Braun ({1}) als ein Problem der Kinder- und Jugendpolitik verstehen; es muß sich dort alles einordnen. Kinder, die andere schädigen, schädigen aber sich selbst zugleich; denn sie schädigen ihre Zukunftsperspektive, sie nehmen sich selber ihre Lebenschancen. Es besteht also aller Anlaß, hier tätig zu werden. Ich möchte deutlich machen, daß die Rolle der Richter in diesem Zusammenhang ganz gewiß nicht die einer Reparaturwerkstatt für alle Fehlentwicklungen in der Gesellschaft sein kann. Richter können nur reagieren, und sie müssen oft, speziell bei Wiederholungstätern, sagen: Junger Mann, du hast dir die letzte Strafe nicht zur Warnung dienen lassen, und deswegen mußt du jetzt stärker bestraft werden. Das steht so in unserem Strafgesetzbuch. Es ist allerdings oft eine Antwort auf Problemverhalten von Jugendlichen, die der Problematik des Einzelfalles nicht gerecht wird. Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir ganz besonders wichtig ist: Wir müssen feststellen, daß Wertorientierung, Wertebildung in der Erziehung der Kinder oft zu kurz kommen. Ich meine, daß Wertorientierung auch nicht nur eine Frage des Religionsunterrichts sein kann und darf. Vielmehr muß Wertebildung in allen Bereichen - und dies von frühester Kindheit an -, insbesondere in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, Basis jeglicher Erziehung sein. Nicht das Erlernen der Unterschiede der Konfessionen ist für das Kind entscheidend, sondern die Verinnerlichung der Normen, die unser Zusammenleben überhaupt erst ermöglichen. Rücksichtnahme auf die anderen Kinder, Respekt vor der Andersartigkeit der anderen, Mitgefühl für die Leidenden und Schwachen, das sind Erziehungsziele, die in manchen Bereichen in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Kindern bei alledem auch Grenzen aufzuzeigen ist eine Sache, die unverzichtbar ist. ({2}) Besonders wichtig ist wohl, daß wir unseren Kindern und Jugendlichen beibringen, wie man mit Enttäuschungen, wie man mit Frust umgehen muß. Kinder müssen auch verlieren lernen. Sie müssen die innere Stärke erwerben, die sie in die Lage versetzt, auf Frustration nicht mit ungehemmter Aggression gegenüber anderen zu antworten. Sie müssen auch lernen, daß wirtschaftliche Güter nicht das Glück selbst, sondern allenfalls Instrumente auf dem Weg zum Glück sein können. Die meisten Kinder und Jugendlichen bekommen genügend wertorientierte Erziehung, um jedenfalls nicht straffällig zu werden. Für viele trifft dies aber nicht zu. Sie schaffen uns und sich selbst die Probleme, die wir jetzt beklagen. Die mangelnde Bereitschaft zur Erziehung in der Familie ist ein Grund dieser Entwicklung, die wir europaweit beklagen. Sie mag auch damit zu tun haben, daß viele Eltern mit der Erziehungsaufgabe schlicht überfordert sind. In keiner Schule wird gelehrt, wie zukünftige Eltern Kinder zu erziehen haben. Unsere Gesellschaft geht vielmehr von der aberwitzigen Fehleinschätzung aus, daß Eltern mit der Erlangung der Fortpflanzungsfähigkeit zugleich die Fähigkeit erwerben, Kinder zu erziehen. Dabei ist dies eine der verantwortungsvollsten und eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt in unserer Gesellschaft. So kommt es nicht von ungefähr, daß viele Eltern die Erziehungsaufgabe dem Fernseher übertragen. Das wissen wir alle. Dennoch sind unsere Rundfunkräte, Medienräte und Fernsehräte noch lange nicht mutig genug, um dafür zu sorgen, daß unser Fernsehen in seiner vielfältigen Ausprägung nicht unsere Kinder kaputtmacht. Ich mache keinen Hehl aus meiner festen Überzeugung: Unendlich viele Programme im Fernsehen fördern die Gewaltbereitschaft, statt unseren Kindern und Jugendlichen beizubringen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Der Held ist häufig der Gewaltanwender und nicht derjenige, der Gewalt zu verhindern trachtet. Daß wir unseren Kindern solche Leitbilder millionenfach servieren, ist unverantwortlich und nicht hinnehmbar. Wer meint, daß Kinder und Jugendliche nach 23 Uhr nicht mehr fernsehen, und deshalb Gewaltsendungen im Fernsehen ab dieser Zeit befürwortet, verkennt, daß unsere Kinder oft besser als wir selber den Videorecorder timen und sich zu jeder Tageszeit Sendungen von ganz anderen Tageszeiten reinziehen können, Sendungen, denen sie nicht gewachsen sind. Ich will bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, daß die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Freizeiteinrichtungen und in Vereinen, speziell im Bereich des Sports, durch Ehrenamtliche von unschätzbarem Wert für die Kriminalitätsprophylaxe ist. Wir müssen die Menschen, die heute noch bereit sind, ohne Bezahlung und bisher in der Regel auch ohne öffentliche Anerkennung ihre Freizeit, ihr Geld und ihre Energie für unsere Kinder zur Verfügung zu stellen, fördern und dafür sorgen, daß sie die öffentliche Anerkennung zumindest von uns Politikern tatsächlich bekommen. ({3}) Denn diese Ehrenamtlichen biegen oft vieles wieder gerade, was in der Familie, im Kindergarten, in der Schule danebenging. Wir brauchen aber auch Psychologen und Sozialarbeiter in unseren Schulen, speziell in der Hauptschule, die Fehlentwicklungen erkennen und die darauf reagieren können, die dafür sorgen, daß der Kontakt zwischen Schule und Elternhaus - soweit das noch existiert - hergestellt wird und daß Beobachtungen in der Schule durch ein Verändern des Verhaltens zu Hause oder jedenfalls im Bereich außerhalb der Schule umgesetzt werden. Ich möchte deutlich machen, daß Ganztagsschulen als Angebot außerordentlich wichtig wären. Denn die Zeit zwischen Schulschluß und der Zeit, zu der Eltern von der Arbeit zurückkommen, ist mit die gefährlichste für Kinder und Jugendliche. Insofern hier ein ganz klares Votum zugunsten dieses Angebots. Wir alle wissen: Was ein Häkchen werden will, krümmt sich schon beizeiten. Deswegen muß schon im Kindergarten sozial schädliches Verhalten erkannt und dagegen angegangen werden. Lehrer, die ihren Auftrag nur in der Vermittlung von Fachwissen verstehen, verkennen ihre Aufgabe. Lehrer sind immer und überall Vorbilder, und sie müssen, wie ich betont habe, Werte vermitteln. ({4}) Lassen Sie mich einen letzten Gedanken vortragen, der mir besonders am Herzen liegt. Wir wollen die Augen überhaupt nicht davor verschließen, daß Kinder aus ausländischen Familien eine erhöhte Kriminalität aufweisen, aber auch und gerade Kinder von deutschen Aussiedlern. Warum? Weil beide Gruppen ähnliche Probleme haben. Die Kinder beider Gruppen werden, weil sie nicht so gut Deutsch können oder irgendwie anders zu sein scheinen als einheimische Kinder, oft ausgegrenzt. Das gilt es zu verhindern. Wer im Kindergarten, in der Schule und im sozialen Leben ausgegrenzt wird, wird sich dagegen wehren. Ausgrenzung fördert Kriminalität. Deswegen müssen wir mit aller Kraft genau hiergegen angehen. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Redezeit war leider schon überschritten, Herr Kollege Krüger, als Sie sich gemeldet haben. Aber wenn Sie versprechen, es kurz zu machen, dann lasse ich Ihre Zwischenfrage noch zu. Bitte. ({0})

Thomas Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002708, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Braun, teilen Sie denn die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, daß in Deutschland lebende ausländische Kinder nicht kriminalitätsanfälliger sind als in Deutschland lebende deutsche Kinder?

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedauere, diese Annahme nicht teilen zu können. Ich würde darüber gerne sehr präzise sprechen; ich habe allerdings jetzt keine Zeit mehr. Vielleicht gibt es aber außerhalb dieses Rahmens eine Möglichkeit dafür; denn dieses Thema treibt uns beide um. Ich wünschte, es wäre so, daß es keine Unterschiede gibt. Es ist aber leider nicht so.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, daß wir uns in diesem Hohen Hause über die Fraktionen hinweg einig sind, daß die Bedingungen, die Straftaten von Kindern und Jugendlichen befördern, nicht über die Erhöhung des Strafmaßes oder die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters allein zu beseitigen sind. Die Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zu Jugendstrafrecht und Präventionsstrategien belegt die wachsende Zahl von Straftaten, die von Kindern und Jugendlichen begangen wurden. Gewaltige Steigerungen gab es in den Jahren von 1993 bis 1996, besonders auch - das ist bedauerlich - in den neuen Bundesländern, auf die der Kollege Dr. Meyer schon eingegangen ist. Einbrüche, Ladendiebstähle, Handtaschenraub oder Gewalttaten beunruhigen die Bevölkerung. Es scheint, daß Kriminalität und Gewalt ein Problem der Jugend sind und daß sich vornehmlich Jugendliche als Gewalttäter und Kriminelle betätigen. Es wird übersehen, daß über 90 Prozent der jungen Menschen eben nicht straffällig werden und neun von zehn Jugendlichen Gewalt gänzlich ablehnen. Aber in Zeiten wachsender Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen und einer steigenden Zahl besonders von Aggressivitätsdelikten stellt sich für mich die Frage nach den Ursachen, und diese sind nicht nur unter Kindern und Jugendlichen, sondern in unserer Gesellschaft selbst zu suchen. Lassen Sie mich stichwortartig einige markante Probleme benennen. Die Arbeitslosigkeit und die zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit führt in vielen Familien in das Aus. Eine halbe Million junger Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren ist arbeitslos gemeldet; ein Viertel aller Arbeitslosen in der Bundesrepublik ist jünger als 30 Jahre; jedes zehnte Kind in der Bundesrepublik ist auf Sozialhilfeleistungen angewiesen; 50 000 Jugendliche sind obdachlos; jährlich wird die Zahl der Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz finden, größer; 7 Prozent aller deutschen und 21 Prozent aller ausländischen Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluß; viele junge Menschen können im Elternhaus kaum Zuwendung und Verständnis für ihre Ängste erwarten. Meine Damen und Herren, ich könnte die Aufzählung sicherlich fortsetzen; ich möchte es aber dabei belassen. Aber all diese Probleme bergen in meinen Augen Gefahren für Jugendkriminalität und -gewalt, vor allen Dingen machen sie auch Wiederholungstaten wahrscheinlich. Vermeintliche Rezepte sind von der Bundesregierung und der Koalition sehr schnell gefunden. Bezogen auf das Jugendstrafrecht bedeutet das unter anderem, wie aus den Pressemitteilungen zu erkennen war, folgende Forderungen: höheres Strafmaß, Einschränkung von Strafverhängungen auf Bewährung, Erziehung in geschlossenen Heimen, verstärkte Anwendung von Untersuchungshaft, Jugendarrest und dem unheilvollen Ungehorsamsarrest oder auch der Ruf nach mehr Polizei. Als kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Bundestagsgruppe der PDS möchte ich an dieser Stelle betonen, daß ein repressiver Gebrauch des Strafrechts nicht die eigentlichen Ursachen von Gewalt und Kriminalität beseitigt. ({0}) Die Justiz darf nicht die Reparaturwerkstatt für Fehler der Gesellschaft sein. Vielmehr müssen im Mittelpunkt der Politik solche Maßnahmen stehen, die zur sozialen Integration beitragen, der Ausbreitung von Armut unter Kindern und Jugendlichen entgegenwirken sowie die Kriminalisierung und Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen verhindern. Eine wichtige Frage für uns ist auch, daß wir uns mit der Frage der Existenzsicherung von Kindern beschäftigen. Das heißt auch, Bedingungen für die Wahrnehmung der demokratischen Rechte von Kindern und Jugendlichen zu schaffen sowie ihre Chancen zur Selbstbestimmung zu erhöhen. Wenn die Gesellschaft bei Fragen der Jugendgewalt und Jugendkriminalität mit verantwortlich ist, dann muß der Bundesregierung und der Koalition spätestens in den Haushaltsdebatten, die ja in zwei Wochen anstehen, auffallen, daß sie eine Milchmädchenrechnung macht. Wer in allen Bereichen der Jugendarbeit rasant zu sparen versucht und zuläßt, daß sich die Bildungs- und Ausbildungschancen der jungen Menschen laufend verringern, muß hinterher weitaus höhere Kosten bei der Bekämpfung der Folgen dieser Politik tragen. Auch die immer wieder gepriesenen Modellprojekte stellen aus meiner Sicht keine Lösung dar. Im Gegenteil: Die zum Beispiel in Thüringen eingerichteten kriminalpräventiven Räte sind aus unserer Sicht nicht bürgernah genug, und die Mitsprache der Bürger wird nicht umgesetzt. Ein anderes Beispiel ist das AgaG-Programm. Es schafft für kurze Zeit Abhilfe, stigmatisiert die jungen Menschen, grenzt sie aus und entsolidarisiert. Wir können nicht zulassen, daß die Kinder- und Jugendpolitik der Bundesregierung nach wie vor eine Politik für Randgruppen ist, die in den Waigelschen Haushaltslöchern nahezu untergeht. Die kleinen Anhebungen bzw. geschickten Umverteilungen im Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind der erneute Versuch, falsche Schwerpunktsetzung und eine ganze Liste von Versäumnissen der Bundesregierung notdürftig zu kaschieren. Damit verkennt meiner Meinung nach die Bundesregierung und mit ihr auch die zuständige Ministerin zentrale Probleme des gesellschaftlichen Wandels und ignoriert noch obendrein den dringenden Handlungsbedarf. Wir befinden uns offensichtlich in einem gesellschaftlichen Klima, in dem die „Verwahrung" von Menschen auf Grund des Unvermögens, die Probleme zu lösen, als Allheilmittel gesehen wird. Ich denke, daß die Jugendstrafe und deren Verbüßung im Strafvollzug das letzte Mittel bleiben muß. Nicht mehr, sondern weniger Strafrecht wird den besonderen Problemlagen und verschärften Integrationsproblemen junger Menschen gerecht. Eine präventive Jugend- und Sozialarbeit sowie die Schaffung eines ausländerfreundlichen, gewaltfreien Meinungsklimas müssen zusammenkommen. Auch hier haben wir noch einen immensen Nachholbedarf. Sorgen wir dafür, daß in jeder Stadt und in jeder Kommune - eben wurde schon auf die Haushaltslage der Kommunen eingegangen - für Kinder und Jugendliche ein entsprechendes Angebot an Freizeit- und Sporteinrichtungen, aber auch an entsprechenden Beratungsstellen vorhanden ist. Im Bereich der Bildungspolitik - die ist ebenfalls schon angesprochen worden - ist es ganz wichtig, zum Beispiel über die Klassenstärken bzw. über das Lehrer-Schüler-Verhältnis neu nachzudenken. Meine Damen und Herren, Hilfe statt Strafe - das ist das vorrangige Gebot. Danke. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt der Herr Bundesminister der Justiz, Edzard Schmidt-Jortzig, das Wort.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Minister:in)

Politiker ID: 11002781

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß wir hier eine Debatte führen - wenn auch bei relativ dürftiger Besetzung, jedenfalls quantitativ dürftiger Besetzung; ({0}) qualitativ sind wir natürlich mindestens soviel wert wie ein gefülltes Plenum - über Jugendkriminalität, ihre Ursachen und Strategien zu ihrer Bekämpfung, ist wahrlich notwendig. Es läßt sich nun einmal überhaupt nicht bestreiten, daß die Jugendkriminalität seit 1989 kontinuierlich angewachsen ist. Die Delinquenz von Kindern ist im übrigen stärker als die von Jugendlichen und die wiederum etwas mehr als die von Heranwachsenden angewachsen. Die Gruppe der sogenannten Jungerwachsenen, die Erwachsenen zwischen 21 und 25 Jahren, weist in der Kriminalitätsstatistik deutlich niedrigere Werte auf. Insofern ist es wichtig, daß wir diesem Problem entschlossen begegnen. Deshalb werden in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion Grundsätze für eine verantwortungsvolle und zielführende Kriminal- und Präventionspolitik entwickelt. Besondere Sorgfalt in der Antwort der Bundesregierung wurde auf die gründliche Ursachenanalyse verwandt. Darauf haben sich die meisten der bisherigen Beiträge vorwiegend bezogen. Ohne eine solche gründliche Ursachenanalyse bleibt jedes Behandlungskonzept wirkungslos. So wissen wir, daß die erheblichen sozialen und gesellschaftlichen Umbrüche in unserer Gesellschaft mitursächlich für die steigende Jugendkriminalität sind. Ein Beispiel: Eine große Anzahl jugendlicher Aussiedler und Asylsuchender sieht sich mit einem völlig fremden Lebensumfeld konfrontiert; darauf ist schon hingewiesen worden, aber man kann es nicht oft genug sagen. Ein anderes Beispiel: Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der deutschen Einigung haben für viele Jugendliche in den neuen Ländern zu Verunsicherungen geführt. Auch strukturelle Schwierigkeiten wie Arbeitslosigkeit, Armut oder eine schwierige Wohnsituation können mitursächlich für Jugendkriminalität sein. Außerdem sind Kinder und Jugendliche zunehmend überfordert, wenn sie sich in unserer pluralistischen Gesellschaft, in der gemeinsame Grundwerte immer undeutlicher werden, eigenständig ihren Weg suchen müssen. All das ist in der Antwort der Bundesregierung ausführlich dargelegt. Man kann einzelne Stellen in dieser Antwort nur noch mit unterschiedlichen Akzenten versehen. Angesichts dieser Schwierigkeiten muß es primär darum gehen, erzieherische und soziale Maßnahmen zu ergreifen, um Jugendkriminalität zu bekämpfen und - das sage ich hier ausdrücklich - um Jugendkriminalität vorzubeugen. Entwicklungshindernisse müssen ausgeräumt werden, indem beispielsweise Hilfe bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche geleistet wird oder indem Programme gegen Gewalt in Schulen bzw. gegen Drogenmißbrauch durchgeführt werden. Ganz grundlegend ist freilich, die Jugendlichen wieder für die Werte und Normen zu sensibilisieren, die unsere Gesellschaft tragen. ({1}) Gefordert sind insoweit nicht nur die staatliche Jugendhilfe und andere staatliche Institutionen, sondern auch Schulen, Kirchen, Vereine und natürlich und ganz zuvörderst Eltern und Familie. Denn was Eltern und Familie versäumen, können öffentliche Einrichtungen nur äußerst schwer - wenn überhaupt - aufholen. ({2}) Kriminal- und Gewaltprävention ist eben nicht nur ein Auftrag an Polizei und Jugendhilfe, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns mit allen zur Verfügung stehenden Kräften stellen müssen. Immer wieder scheinen das diejenigen zu übersehen - ich sage das ganz deutlich -, denen als erste und laute Antwort auf die steigende Jugendkriminalität nur der Ruf nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts einfällt. ({3}) Das Jugendstrafrecht kann die präventiven Bemühungen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen und unterstützen. In dieser Funktion freilich - das ist ein Unterschied zu Ihrer Position, Herr Kollege Beck - ist das Jugendstrafrecht durchaus von erheblicher Bedeutung; denn der Staat muß durch eine unverzügliche, eine konsequente und eine verläßliche Reaktion auf jugendliche Delinquenz klarstellen, daß es in der Gesellschaft für alles selbstvergessene Tun Grenzen gibt, die nicht reaktionslos überschritten werden können. ({4}) - Doch, ich habe sie sehr deutlich gehört, aber dazu überhaupt nichts vernehmen können. Die entsprechenden rechtlichen Instrumentarien hierfür stehen zur Verfügung. Unser geltendes Jugendstrafrecht hält ebenso angemessene wie differenzierte Reaktionsformen bereit. Wichtig ist allerdings, daß das Jugendstrafrecht insoweit auch konsequent und schnell angewendet wird. Hier kann noch einiges verbessert werden. Insbesondere ist es dringend erforderlich, daß die Länder für eine sachliche und personelle Ausstattung der Jugendstaatsanwaltschaften und Gerichte sorgen, die den gestiegenen Fallzahlen entspricht. Das, was uns das Gutachten des Professors Pfeifer für die entsprechende Situation in der Hansestadt Hamburg vorgelegt hat, kann jedenfalls nicht deutlich und abschreckend genug herausgekehrt werden. ({5}) Dort blieb den Jugendstaatsanwälten quasi aus Notwehr nichts anderes übrig, als bei schwindender Personalzahl gegenüber den steigenden Fällen diese bürokratisch und durchgehend einzustellen. Auch ist das vereinfachte Verfahren in der Jugendgerichtsbarkeit, das ein rasches Reagieren ermöglicht, noch viel stärker zu nutzen. Forderungen nach Verschärfung des Jugendstrafrechts halte ich dagegen für wenig hilfreich. So wird die immer wieder zur Diskussion gestellte Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters sicher nicht zu einem Rückgang der Kinder- und Jugenddelinquenz führen. Ich bin sehr beglückt darüber, daß an diesem Punkt in der Debatte überhaupt gar keine Differenz zu bestehen scheint. Von Fachleuten aus der Kinder- und Jugendpsychologie hören wir, daß 12- und 13jährige Kinder in ihrer Entwicklung zumeist noch nicht soweit sind, daß sie die strafrechtliche Verantwortung für ihre Taten übernehmen können. Es ist in der Tat nicht das fehlende Unrechtsbewußtsein, sondern die fehlende Einsicht, dann danach zu handeln und sich gegenüber gegenläufigen Einflüssen damit durchzusetzen. In meinen Augen ist hier deshalb eher die Jugendhilfe gefordert, aktiv zu werden und gerade auch delinquente Kinder als ihre Klientel zu akzeptieren. Auch hier gilt freilich, daß diese Einrichtungen mit hinreichenden Ressourcen ausgestattet sein müssen. Unter Umständen - ich will das ganz vorsichtig anmerken - sind gesetzlich die Möglichkeiten zu verbessern, Erziehungshilfen gegen den Willen der Eltern anzuordnen; denn jeder, der sich mit den Fällen beschäftigt, weiß, daß Eltern aus falsch verstandener Rücksicht, aus Verkennung der Situation ihres Sprößlings, aber vor allen Dingen auch gegenüber dem sozialen Druck der Nachbarschaft häufig ihre Mitwirkung nicht in dem Maße liefern, wie es erforderlich wäre. Wenig förderlich scheint mir die Forderung zu sein, auf Heranwachsende regelmäßig das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden. Auch das will ich hier deutlich sagen. ({6}) Das jugendgerichtliche Reaktionspotential hat sich nach allen Ergebnissen der Rückfallforschung gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht als präventiv überlegen erwiesen. Ohnehin können - darauf haben viele schon hingewiesen - auch harte Strafen, zum Teil in der Praxis durchaus härter wirkende Strafen als im Erwachsenenstrafrecht, also immerhin bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug nach dem geltenden Jugendstrafrecht verhängt werden. Ich will deutlich sagen, daß ich die Idee, die Herr Kollege von Klaeden hier vorgetragen hat, für bedenkenswert halte. Das Jugendstrafrecht ist also keineswegs milder und wirkungsloser als das Erwachsenenstrafrecht. Im Gegenteil: Es ist das flexiblere und das präventiv bessere Recht. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Geis?

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Minister:in)

Politiker ID: 11002781

Ja.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, halten Sie es bei aller Wertschätzung des Jugendstrafrechtes, worin wir uns gar nicht unterscheiden, nicht doch für problematisch, wenn jemand mit 19 oder 20 Jahren nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wird, dann für zehn Jahre im Jugendstrafvollzug ist und längst Erwachsener ist?

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Minister:in)

Politiker ID: 11002781

Es wird ja gottlob - denn dies gebietet die Unabhängigkeit des Richters und die vorliegende Spanne der Vorschriften im Jugendstrafrecht - auf das jeweilige Befinden des Einzelfalles durch den verantwortungsvollen Richter ankommen, ob er in einer solchen Situation jemanden mit 18 Jahren und 11 Monaten oder mit 20 Jahren und 11 Monaten möglicherweise noch zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt oder in solchen Fällen das Erwachsenenstrafrecht anwendet. Es stimmt ja nicht - auch darauf ist hingewiesen worden -, daß das Jugendstrafrecht eo ipso in den Fällen der Delinquenz bei Heranwachsenden angewendet wird. Deswegen spielt bei der Erwägung, die Sie in Ihrer Frage ansprechen, für den verantwortungsvollen Richter natürlich eine Rolle, wie er das Verhalten, das er nun aburteilen soll, bewertet. Es ist es in der Tat, wie ich finde, überlegenswert, daß man einen 20jährigen nicht zehn Jahre in die Jugenstrafe schickt. Also wäre in solchen Fällen die Reaktion vielleicht eine Erwachsenenstrafe von drei Jahren. Meine Damen und Herren, ich will zum Schluß kommen. Die Bekämpfung der Jugendkriminalität ist jedenfalls nach meiner festen Überzeugung eine gesellschaftspolitische Aufgabe ersten Ranges - dies betone ich ausdrücklich -, die weit über strafrechtliche Bezüge hinausgeht. Insoweit kann ich hier nur davor warnen, Ad-hoc-Ergebnisse erzwingen zu wollen, indem wir uns in einen vordergründigen Gesetzesaktionismus stürzen. Weder die Ursachen noch die Symptome der Jugendkriminalität lassen sich dadurch wirksam bekämpfen. Es kommt vielmehr darauf an, die Diskussion über wirksame Kriminal- und Präventionsstrategien sachlich und unaufgeregt zu führen, Praxisdefizite zu beseitigen und auf eine verläßliche und konsequente Anwendung des geltenden Jugendstrafrechts hinzuwirken. Danke sehr. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Abgeordnete Thomas Krüger.

Thomas Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002708, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Beantwortung der Großen Anfrage unserer Fraktion durch die Bundesregierung hat eine Vielzahl von sehr hilfreichen Fakten hier auf den Tisch gelegt. Auf dieser Basis läßt sich kompetenter als bisher arbeiten und argumentieren. Unklar bleibt jedoch die Strategie der Bundesregierung. Bei ausführlicher Lektüre ist festzustellen, daß sowohl die Präferenz eher repressiver Ansätze als auch die Präferenz eher präventiver Ansätze unabgestimmt ineinandergreifen. Das hat offenbar damit zu tun - Herr Meyer hat das schon angeprochen -, daß sich die einzelnen Ressorts der Bundesregierung nach wie vor in der Sache nicht einig sind. Das Grundproblem der Argumentation in dieser Thematik ist, daß hier von den verschiedenen Ressorts kein übergreifendes Konzept entwickelt wird, sondern jeder für sich versucht, Ansätze zu entwickeln sowie zu argumentieren und diese Dinge dann unabgestimmt ablaufen. Das führt dazu, daß in dieser Frage der Blick für das Ganze verlorengeht. Ich komme darauf gleich noch zu sprechen. Der rapide Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität kann und darf nicht hingenommen werden. Das will ich an dieser Stelle deutlich betonen. Allerdings brauchen wir in unserer Gesellschaft verbindliche Regeln des Zusammenlebens. Diese müssen Kindern und Jugendlichen glaubhaft - das ist das Entscheidende - vermittelt werden. Denn es ist wohl unbestritten, daß die Kinder- und Jugendkriminalität ein gehöriges Maß an gesellschaftlichen Ursachen mit im Marschgepäck trägt. Wer Kinder und Jugendliche auf die Grenzen ihres Handelns hinweist, der muß sich natürlich fragen lassen, was er bereit ist, für ihre Lebensperspektiven zu tun. ({0}) Hier liegt der Hund begraben. Die Generation der Erwachsenen ist in unserem Land dabei, die moralische Autorität erzieherischen Handelns gegenüber den Heranwachsenden zu verspielen. Der Generationenvertrag ist durch die individuellen Bedürfnisse der Erwachsenen fast schon entwertet worden. Wir haben ja den Satz von Herrn Braun gehört: „Kinder müssen auch verlieren lernen." Kinder sind die Verlierer unserer Gesellschaft, meine Damen und Herren. Das muß an dieser Stelle doch deutlich unterstrichen werden. ({1}) Die Realität ist bekannt: 1,5 Millionen Kinder sind in Deutschland direkt oder indirekt von Sozialhilfe abhängig, die Kinderarmut nimmt vor allem bei kinderreichen Familien und Einelternfamilien dramatisch zu. Die Situation der Schulen ist alles andere als ermutigend; dies muß auch an die Adresse der Länder und Kommunen gerichtet werden. ({2}) Allerorten fehlen Ausbildungsplätze, und die Langzeitarbeitslosigkeit Jugendlicher gehört zu den beängstigenden Wachstumsfaktoren in unserer Gesellschaft. ({3}) Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit. Die Situation der Jugendlichen in unserer Gesellschaft muß in diesem Kontext diskutiert werden. ({4}) Die Politik der Bundesregierung hat diese Ergebnisse maßgeblich mitzuverantworten. Sie unternimmt eben keine Anstrengungen für die nächste Generation, sie zementiert Stillstand und Besitzstandswahrung. ({5}) So wird Deutschland mehr und mehr zur Flaschenhalsgesellschaft für die heranwachsende Generation. Chancen und Perspektiven gehen für junge Leute verloren. Wer über Kinder- und Jugendkriminalität redet, muß deshalb auch über diese Politik reden. Herr Schmidt-Jortzig, Sie haben recht, wenn Sie das schnelle und populistische Zugreifen auf das Jugendstrafrecht zurückweisen. ({6}) Da greife ich die Positionen auf, die Herr Braun hier vertreten hat. Aber die Versäumnisse bei der Familienpolitik, der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik müssen hier auch auf den Tisch. Ansonsten bekommen wir das Thema überhaupt nicht vernünftig in den Griff. ({7}) Wir brauchen erstens eine Besserstellung einkommensschwacher Familien durch einen gerechten Familienlastenausgleich, zweitens mehr Ausbildungsplätze, unterstützt durch geeignete Instrumente wie etwa die differenzierte Umlagefinanzierung, drittens den Abbau der Jugendarbeitslosigkeit durch zukunftsträchtige Arbeitsplätze, was eine vernünftige Wirtschafts- und Technologiepolitik erfordert. Sie alle wissen, daß in den zukunftsträchtigen Arbeitsmärkten junge Leute besondere Chancen hätten; aber da liegen auch die Versäumnisse. Viertens ist in diesem Zusammenhang auf die UN-Kinderrechtekonvention hinzuweisen, die die Bundesregierung unterzeichnet hat. In Art. 12 dieser Konvention steht, daß mehr Beteiligung bei Entscheidungsprozessen und die direkte und indirekte Übernahme von Verantwortung durch Kinder und Jugendliche realisiert werden müssen. ({8}) Ich möchte jetzt einige Ausführungen zu dem Bereich der präventiven Arbeit machen und verdeutlichen, daß im Bereich der Jugendhilfe in den letzten Jahren eine wirkliche Professionalisierung der Arbeit stattgefunden hat. Im Unterschied zu vielen Kritikern bin ich der Meinung, daß das AgAG-Programm in den neuen Bundesländern durchaus hilfreich und praktisch gewesen ist, und zwar nicht bloß als aktionistisches Programm, das unmittelbar auf die damaligen Ausfälle in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda reagierte. Vielmehr haben in der Praxis die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in diesen Projekten gearbeitet haben, innovative neue Ansätze entwickelt, allen voran den sogenannten integrativen Ansatz. In den neuen Bundesländern hat man nicht mehr die Kategorisierung in verschiedenste Felder der Jugendhilfe. Dort muß man die Arbeit ganz anders organisieren, und dort werden unter Rückgriff auf Erziehungshilfen, auf Jugendarbeit und auf die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen sogenannte Hilfemixe zusammengestellt. Das wird zielgruppenspezifisch, also von der Klientel her, unternommen und nicht in einer Mentalität, die besagt, daß in der Jugendhilfe alles so weitergehen müsse wie bisher. Ich halte das für sehr innovativ. Frau Ministerin, es wäre sehr sinnvoll, wenn man in der Bundesregierung einmal darüber nachdenkt, ob nicht die bundesweite Ausweitung eines solchen Programmes unter dem Gesichtspunkt auch der Verzahnung mit Fortbildung und Weiterbildung in den nächsten Jahren unternommen werden kann; denn die Präventionsarbeit gehört für meine Begriffe auch in den Kinder- und Jugendplan hinein. Man kann nicht nur über Kinder- und Jugendkriminalität reden, man muß auch praktisch etwas tun. Dazu haben Sie, Frau Nolte, durch eine entsprechend innovative Ausgestaltung des Kinder- und Jugendplanes Gelegenheit. ({9}) Der zweite Punkt ist der Bereich der Kinder- und Jugendkulturarbeit, der in unserem Land leider noch immer völlig unterschätzt wird. ({10}) Die Kinder- und Jugendkulturarbeit kann ein Schlüssel bei der Bekämpfung von Kinder- und Jugendkriminalität werden, weil hier nicht an den Schwächen der Jugendlichen, sondern an ihren Stärken, an ihrem Selbstbewußtsein und an ihrer Eigenverantwortung angesetzt wird. Leider ist diese Arbeit nach wie vor unterfinanziert. Frau Nolte, auch hier haben Sie Gelegenheit, Maßstäbe zu setzen und den Ländern und Kommunen ein bißchen Mut zu machen. Sie haben ja im Kinder- und Jugendplan einen Ansatz für Kinder- und Jugendkulturarbeit und auch für die kulturelle Bildung. Wir wollen deshalb anregen, in diesem Zusammenhang über ein weiteres Thema nachzudenken. Es gibt bei der Kinder- und Jugendarbeit mittlerweile Projekte, die sehr interessante Schnittstellen zu den neuen arbeitsmarktrelevanten Bereichen in der Kulturwirtschaft, in der Medienwirtschaft und in Dienstleistungsbranchen haben. Wenn man es schafft, die Kinder- und Jugendkulturarbeit auch unter diesen Gesichtspunkten zu verstärken, dann haben junge Leute, die die Kulturarbeit nicht als Hobby betreiben, sondern mit professionellen Ansprüchen, ganz andere Perspektiven, auf die neuen Arbeitsmärkte zu gelangen. Ich finde, eine solche Jugendhilfearbeit, eine Kinder- und Jugendkulturarbeit, ist auch mit dem Blick auf den Arbeitsmarkt zu diskutieren. Ich habe schon ganz kurz den Bereich der Fort- und Weiterbildung angesprochen. Die Fort- und Weiterbildung, die Qualifizierung und Professionalisierung des Personals im Bereich der Jugendhilfe ist einer der Schlüsselfaktoren. Hier müssen wir sowohl über die Jugendministerkonferenz Anstöße an Länder und Kommunen geben als auch mit entsprechenden Modellen und guten Beispielen vorangehen. Fort- und Weiterbildung hat nun einmal unter dem Gesichtspunkt des lebenslangen Lernens damit zu tun, Maßstäbe zu setzen und diese Arbeit, die sich wirklich sehr differenziert und sehr gut entwickelt hat, weiter zu unterstützen. Frau Ministerin, Sie könnten einen weiteren Punkt ins Gespräch bringen: Im Bereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gibt es durch die zunehmenden Rechtsansprüche auf Erziehungshilfen und auf Kindergartenplätze einen immer enger werdenden Spielraum für die Jugendarbeit; und auch dies ist nach dem KJHG Pflichtaufgabe. Die Haushalte der Länder und Kommunen aber werden durch die Rechtsansprüche quasi immer enger. Man muß meines Erachtens darauf reagieren, indem man Anstöße gibt, zum Beispiel durch die Festlegung von Mindestquoten für den Bereich der Jugendarbeit in den Ausführungsgesetzen der Länder. Aber diese Diskussionen müssen Sie führen, Frau Nolte. Sie können sich nicht einfach zurücklehnen und sagen: Dafür sind die Länder und Kommunen zuständig. ({11}) Außerdem: Im Bereich der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen ist die Sekundär- und Tertiärprävention hilfreich und sinnvoll. Sie stellt ein besonders erfolgreiches Feld der Jugendhilfe dar. Das ist unbestritten, bei Fachleuten und auch bei Ihnen. Wenn man in den Ländern und Kommunen nachfragt, erfährt man immer wieder, daß dies eine sehr sinnvolle und erfolgreiche Arbeit ist. Da müssen Maßstäbe gesetzt werden und Verstärkungen der Initiativen in den Ländern und Kommunen stattfinden. Ich möchte abschließend darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß wir durch die Differenzierung bei den Erziehungshilfen - es gibt nicht nur die stationären Angebote, sondern auch eine Vielzahl von ambulanten und teilstationären Angeboten - eine Flexibilisierung haben und diese Mittel der Erziehungshilfen, mit Jugendarbeit und mit der Infrastruktur im Sportbereich kombiniert, einen wirklich innovativen Ansatz darstellen können, um etwas gegen Kinder- und Jugendkriminalität zu tun, Perspektiven für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Ich bin sehr gespannt, Frau Ministerin, was Sie uns nachher erzählen werden, welche Perspektiven Sie aufzeigen und welche Auswege Sie uns weisen. In der Bundesregierung darf nicht weiter Stillstand herrschen. Kindern und Jugendlichen müssen Perspektiven gegeben werden. Ich erwarte von Ihnen, Frau Ministerin, daß Sie sich in dieser Frage auch einmal kontrovers ins Zeug legen und nicht nur über die Gefahren des Internet räsonieren und uns eine skandalisierte Kinder- und Jugendwelt vorführen. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe der Abgeordneten Maria Eichhorn das Wort.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schüler prügeln sich, eine Lehrerin geht dazwischen und trennt die Kampfhähne - eine selbstverständliche Reaktion der Pädagogin, ein Fall, der häufig in der Schule vorkommt? Nicht ganz; denn dieser Fall, der in meiner Heimat großes Aufsehen erregt hat, hatte noch ein Nachspiel: Die Lehrerin mußte Schadenersatz zahlen, weil sie von den Eltern des Schlägers angezeigt wurde. Dies war Anlaß für eine Gesprächsrunde, zu der auch ich geladen war. Es ist Tatsache, daß die Gewalt nicht nur in Schulen, sondern in unserer Gesellschaft insgesamt zugenommen hat. Es ist aber auch Tatsache, daß wir oft nicht recht wissen, wie wir damit umzugehen haben. Die Zunahme von Jugendkriminalität betrifft meistens Kleinkriminalität. Auch ist sie oft eine vorübergehende Erscheinung und betrifft nur einen kleinen Teil der Jugend. Allerdings ist der überproportionale Zuwachs im Bereich der Gewaltkriminalität besorgniserregend, und diesen müssen wir sehr ernst nehmen. Kriminalität entwickelt sich nicht von heute auf morgen. Um sie einzudämmen, müssen wir die Hintergründe und Ursachen der Gewaltbereitschaft Heranwachsender, die äußerst vielschichtig sind, geMaria Eichhorn nauer hinterfragen. Es geht um individuelle Faktoren wie zum Beispiel ein gestörtes Selbstwertgefühl, verschiedene familiäre Faktoren oder gesellschaftliche Hintergründe. Hierzu gehört sicher auch, daß junge Menschen Angst um ihre Zukunft haben, wenn sie zum Beispiel keinen Ausbildungsplatz finden. Die Armutsdiskussion, die heute immer wieder angeführt wurde, kann auf Mißstände hinweisen, aber die stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe, die davon etwas versteht, sagt, daß sie keine Erklärung für Gewalt und Jugendkriminalität ist. Es ist also zwar eine Erklärungsmöglichkeit, aber man kann nicht sagen, daß es die alleinige Ursache ist. Wir alle wissen, daß die ersten Lebensjahre ein Kind für das ganze Leben prägen. Werden die Weichen falsch gestellt, kann sich dies auf die Entwicklung der jungen Menschen sehr negativ auswirken. In der Wissenschaft wird darauf hingewiesen, daß alle extremen Erziehungshaltungen und Erziehungsstile gewaltfördernd sein können. Eine extrem autoritäre Erziehung behindert die Entwicklung von Kindern genauso wie eine extrem überbehütende. Wenn Eltern und Erzieher aus Bequemlichkeit, aus Angst vor der Auseinandersetzung oder aus Unsicherheit keine Grenzen setzen, lernen Kinder und Jugendliche auch nicht, damit umzugehen. Kinder müssen wissen: Bis hierher und nicht weiter! Ein Teil der Straftäter kommt aus zerrütteten Familien. Die Scheidung der Eltern kann vielerlei Probleme für Kinder mit sich bringen, die sie oft nicht verarbeiten können. Kinder aus gestörten Familienverhältnissen neigen oft dazu, ihre Sehnsucht nach emotionaler Zuwendung, nach Geborgenheit, nach Anerkennung in der Gruppe zu suchen, und geraten dabei mitunter in schlechte Gesellschaft. Unbestritten ist der Einfluß der Medien. Die heutige Medienszene ist in vielen Bereichen eine Szene der Gewalt. ({0}) Das beginnt mit dem Kult der Gewalt in bestimmten Bereichen der Hardrock-Musik. Der intensivste Gewaltkonsum Heranwachsender findet jedoch über das Fernsehen oder über das Videogerät statt. ({1}) In einer Studie der Universität Regensburg wird festgestellt, daß 75 Prozent jugendlicher Straffälliger indizierte Horrorvideoware konsumiert haben. Wir müssen uns auch fragen, ob Werteveränderungen in unserer Gesellschaft und Defizite bei der Vermittlung gesellschaftlicher Werte nicht zur Orientierungslosigkeit junger Menschen beitragen. Orientierungslosigkeit oder oft auch Langeweile, weil man nicht gelernt hat, Freizeit sinnvoll zu gestalten, können zu Aggression und Gewalt, aber auch zu Flucht in Drogen und Alkohol führen. Wer in der Familie, im Fernsehen, in der Gesellschaft erlebt und sieht, daß Rücksichtslosigkeit und Gewalt wirksame Mittel der Durchsetzung eigener Interessen sind und daß sich die Einhaltung von Regeln nicht lohnt, wird dadurch in seiner Verhaltensmotivation sicher massiv beeinflußt. ({2}) Andererseits werden die Bindungen an die Familie, an Nachbarschaften, an Vereine, Verbände oder Parteien immer geringer. Bindungslosigkeit, soziale Benachteiligung und Ausgrenzung trifft besonders junge Menschen, die in anderen Ländern unter anderen kulturellen Bedingungen aufgewachsen sind und sich nun in Deutschland zurechtfinden müssen. Meine Damen und Herren, um die Gewalt von Kindern und Jugendlichen einzudämmen, müssen wir vorrangig auf Prävention setzen. Eine werte- und bindungsorientierte Erziehung im Elternhaus muß im Vordergrund stehen. Wertevermittlung muß im täglichen Leben, im alltäglichen Miteinander geleistet werden. Wenn sich Kinder von Anfang an an ihren Eltern orientieren und sich auf sie verlassen können, ({3}) entwickeln sie Selbstvertrauen und Vertrauen zur Gemeinschaft. Familien müssen in unserer Gesellschaft aber auch wieder den richtigen Stellenwert erhalten. ({4}) Sie haben sich als die tragfähigste Form des Zusammenlebens erwiesen. Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft muß wieder zur Selbstverständlichkeit werden. Wie wollen sich Kinder ernstgenommen fühlen, wie wollen wir sie zur Toleranz erziehen, wenn Erwachsene nicht in der Lage sind, Kinderlärm zu ertragen? ({5}) Ein familienfreundliches Umfeld und eine familienfreundlichere Bauweise können Aggressionen und damit Gewalt verhindern. Denn Kinder müssen sich austoben können. Wichtig ist ebenso das Angebot einer aktiven Freizeitgestaltung, das von jungen Menschen auch genutzt wird. Wenn Kommunen Jugendtreffs und spezielle Angebote der offenen Jugendarbeit einrichten, ist dies der richtige Weg. ({6}) Eine Antwort auf die besondere Belastung von Kindern, wenn sich Eltern scheiden lassen, haben wir durch das neue Kindschaftrecht gegeben. Es ermöglicht das gemeinsame Sorgerecht und verbesserte Umgangsrechte und kann so den Schaden der Trennung der Eltern abmildern. ({7}) Auch in der Schule müssen Kinder ihre Grenzen und ihre Verantwortlichkeit für eigenes Verhalten erfahren. Die Schule muß wieder stärker die Aufgabe übernehmen, Werte zu vermitteln. Junge Menschen müssen lernen, daß sie Rechte, aber auch Pflichten haben. Wir müssen ihnen jedoch insbesondere das Gefühl vermitteln, daß wir sie brauchen, daß wir sie haben wollen und daß sie in unserem Gemeinwesen eine Chance haben. Um die negativen Einflüsse der Medien auf Kinder und Jugendliche einzudämmen, ist es mir wichtig, die Medienkompetenz zu stärken, zum Beispiel über das Fach Medienkunde. Die Einrichtung eines Jugendschutzbeauftragten im IuKDG, das wir verabschiedet haben, vorzusehen war sicher ein richtiger Schritt. Die Anstrengungen der Bundesregierung, für ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen zu sorgen, sind für die Perspektive von Jugendlichen besonders wichtig. Dazu gehört unser Maßnahmenpaket, mit dem wir im Rahmen des „Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung" mehr Arbeitsplätze schaffen wollen. ({8}) Wir müssen ebenfalls die Maßnahmen zur Integration junger Ausländer und Aussiedler fortsetzen. Es gibt dazu ermutigende Projekte, die sich gut bewährt haben, wie das Förderprogramm „Integration junger Ausländer". Die Verharmlosung von Drogen ist nicht die richtige Antwort auf die Drogenkriminalität. Wichtig ist vielmehr die Einschränkung der Drogennachfrage durch Prävention, durch ausreichende Hilfen für Abhängige und durch eine entschlossene Bekämpfung der Dealerkriminalität. Meine Damen und Herren, der Staat muß alles tun, um Familien zu unterstützen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz trägt dazu bei, Eltern bei ihrer Erziehungsaufgabe und Kindern und Jugendlichen zu helfen. Bei straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen ist mir wichtig, daß ihnen die Folge ihres Tuns vor Augen geführt und sie durch eigene Leistungen zur Wiedergutmachung des Schadens verpflichtet werden. Neben solchen Maßnahmen kann auch Strafe ein Mittel der Erziehung sein. Alle Fachleute sind sich darin einig, daß eine erzieherische Wirkung jedoch nur dann erreicht wird, wenn eine rasche Verurteilung mit unmittelbar folgender Strafe erwartet werden kann. ({9}) Wird eine Straftat erst nach Monaten geahndet, hat der Jugendliche bis dahin jegliches Unrechtsbewußtsein verloren. Deswegen ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz und Jugendhilfe erforderlich. ({10}) Bei einer Anhörung, die die Koalition im August durchgeführt hat, hat sich gezeigt, daß die bestehenden Gesetze ausreichen. Sie müssen jedoch konsequent angewendet werden. Eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters würde uns nicht weiterhelfen. Gezeigt hat sich in der Anhörung jedoch auch, daß eine bessere Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Jugendgerichtsbarkeit notwendig ist. ({11}) Es ist aber auch über eine Einweisung in geschlossene Heime nachzudenken. Wer glaubt, daß es sich bei gut geführten geschlossenen Heimen um verkappte Jugendgefängnisse handelt, irrt. Sie sind eine letzte Möglichkeit, jungen Menschen, die es bisher nicht geschafft haben, im Leben zurechtzukommen, zu helfen. Pädagogen und Psychologen bemühen sich darum, bei einem Heimaufenthalt den Weg zurück in die Selbständigkeit für ein eigenverantwortliches Leben zu ebnen. ({12}) Die Jugend ist das wichtigste Kapital unserer Gesellschaft. Es ist Aufgabe von Familie, Staat und Schule, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Dies ist die beste Möglichkeit, Kriminalität zu bekämpfen. ({13})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ute Vogt.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Eichhorn, Ihre Betroffenheit über den Verfall der Werte in allen Ehren, aber denken Sie nicht auch, daß es gerade die Verantwortung der Politik ist, die Werte prägt? Schauen wir uns an, wer in den vergangenen 15 Jahren regiert hat. Welche Ergebnisse hat die sogenannte geistig-moralische Wende? Jugendliche wurden dazu gedrängt, in eine Ellenbogengesellschaft zu gehen, sich vor allem darum zu kümmern, schnell durch die Schule zu kommen, schnell fertig zu werden, sich um nichts weiter zu kümmern, um wenigstens eine Chance zu haben, in dieser Gesellschaft auch wieder einen Platz zu finden. Das alles führt nicht dazu, ein gewisses Wertebewußtsein zu entwickeln. Ich bin schon erschüttert, daß Sie die Vermittlung von Werten den Familien, den Lehrerinnen und Lehrern, öffentlichen Einrichtungen aller Art aufdrükken, aber keine einzige Silbe dazu gesagt haben, welche Verantwortung die Politik gerade auch in der Vorbildfunktion zur Vermittlung von Werten hat. ({0}) Ute Vogt ({1}) In der Antwort der Bundesregierung heißt es: Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung ... hat für die Bundesregierung einen hohen Stellenwert. ({2}) Diese Antwort ist ja ganz nett, aber ich möchte es gern mit der täglichen Praxis dieser Politik vergleichen, weil nämlich Worte und Taten deutlich auseinanderklaffen. Wir haben die Arbeitslosigkeit mit als Hauptursache für Jugendkriminalität erkannt. Auch dies geht aus der Antwort Ihrer Bundesregierung hervor. Aber es gibt keine Taten, um den jungen Leuten zu Ausbildungsplätzen zu verhelfen. Sie appellieren an die Unternehmerinnen und Unternehmer, aber Sie machen nicht konsequent Gesetzentwürfe und stimmen auch nicht dem Gesetzentwurf der SPD zu, der klar festlegt: Unternehmerinnen und Unternehmer können auch gezwungen werden, Ausbildungsplätze zu schaffen. - Statt dessen belassen Sie es bei Appellen und hoffen, daß Jugendliche irgendwann zufällig unterkommen. In der Antwort der Bundesregierung heißt es weiter, „daß der aktuelle Anstieg nicht auf ein vermeintlich zu mildes strafrechtliches Vorgehen zurückgeführt werden kann". Auch diese Einschätzung teilen wir. Nur, ich bin Innenpolitikerin. Von Kollegen Ihrer Fraktion im Innenausschuß höre ich ganz andere Töne. Was dort vertreten wird, ist alles andere als ein erzieherischer Ansatz bei Jugendkriminalität, sondern ist der Ruf nach härteren Strafen, zum Beispiel auch nach Senkung des Strafmündigkeitsalters. In der Antwort stellt die Bundesregierung weiterhin fest, daß Familien eine große Bedeutung für Halt und Orientierung der Jugendlichen haben. Auch da geben wir Ihnen gern recht, Sie haben es ja auch entsprechend ausgeführt, aber Sie sind noch nicht einmal in der Lage und bereit, Familien dann auch die notwendige ganz konkrete Unterstützung zu geben. Das fängt beim angemessenen Kindergeld an und hört bei der Entlastung von Familien im steuerlichen Bereich auf. Ich denke, die Bundesregierung würde gut daran tun, damit aufzuhören, die Familie hochzuhalten und in der Ideologie zu loben, aber es dann in der Praxis einfach an konkreten Hilfen fehlen zu lassen. ({3}) Der gravierende Unterschied zwischen den Worten, die hier fallen, die in der Antwort zu lesen sind, die auch von Ihnen vorgetragen wurden, und den Taten der konkreten Politik ist es, was die Bürgerinnen und Bürger verdrossen macht, aber auf junge Leute eine ganz besondere Wirkung hat. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit der Politik und um die Vorbildfunktion. Zunehmende Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen hat sicher mit fehlender Orientierung zu tun. Aber durch eine Politik, die so redet und völlig anders handelt, kann eine solche Orientierung auf keinen Fall gegeben werden. ({4}) Die zunehmende Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen ist nicht nur ein Problem von jugendlichen Tätern, sondern auch ein Problem von jugendlichen Opfern. Deshalb ist es enorm wichtig, daß wir uns anstrengen, eine Jugendarbeit in Gang zu bringen, die junge Menschen stark macht. Nicht belehrende Broschüren sind die richtige Antwort, sondern konkrete Unterstützung bei Modellprojekten ist erforderlich, wo Jugendliche lernen, selbstbewußt zu sein, ihre Meinung zu sagen, wo sie auch ernst genommen werden. ({5}) Es reicht nicht, Programme erst dann aufzustellen, wenn irgendwo ein Krawall passiert ist. Wenn etwas vorgefallen ist, schickt man schnell die Sozialarbeiter vor Ort. Sinnvoll ist es, das Kind zu retten, bevor es in den Brunnen fällt, weil man es sonst vielleicht gar nicht mehr herausholen kann. Ich möchte jetzt noch einen speziellen Punkt ansprechen, nämlich die jungen Aussiedlerinnen und Aussiedler, die ja häufiger eine Rolle gespielt haben. In der Antwort der Bundesregierung heißt es: Die Gefahr, durch ... Arbeitslosigkeit, relative Armut und soziale Isolation dauerhaft in eine gesellschaftliche Außenseiterrolle zu geraten, ist für einen Teil, insbesondere der zuletzt zugewanderten jungen Aussiedler, gestiegen. Die Erkenntnis stimmt, aber unseren Antrag, den Garantiefonds zu erhöhen, Integrationshilfen zu steigern, verstärkten Sprachunterricht zu geben, haben Sie im Innenausschuß bei den Haushaltsberatungen abgelehnt. ({6}) Weil die Debatte relativ friedlich verlief und man zumindest bei den ersten Rednern darauf hoffen kann, daß bei dem Thema noch eine gewisse Bewegung möglich ist, möchte ich ein letztes Zitat aus der Antwort der Bundesregierung bemühen: Es ist besser, Straftaten zu verhüten, als sie verfolgen zu müssen. Deshalb erscheint es notwendig, verstärkte Aktivitäten einer junge Menschen integrierenden und der Delinquenz vorbeugenden Gesellschaftspolitik zu unternehmen. Einmal davon abgesehen, daß dies eine sehr jugend- und insgesamt bevölkerungsunfreundliche Formulierung ist, ist das genau der Ansatzpunkt, den auch wir verfolgen. Wir sagen allerdings nicht nur „Es erscheint uns notwendig", sondern „Es ist notwendig". ({7}) Wenn sich die Koalitionsfraktionen diese Antwort der Bundesregierung zu eigen machen, dann dürfte es keine Probleme damit geben, daß Sie dem EntschlieUte Vogt ({8}) ßungsantrag der SPD-Fraktion, der in die Ausschüsse zur Beratung überwiesen wird, unverändert zustimmen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe nun das Wort der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte.

Claudia Nolte (Minister:in)

Politiker ID: 11001621

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Krüger, was ich wirklich nicht will, ist, ein skandalisiertes Bild von unserer Jugend zu zeichnen - im Gegenteil. Wenn Sie mich kennen, stellen Sie fest: Ich breche eine Lanze für unsere Jugend. Denn ich finde es nicht richtig, daß wir von den wenigen, die kriminell werden, Rückschlüsse auf die gesamte Jugend ziehen, und diese dann stigmatisieren. Das ist einfach nicht richtig. ({0}) Ich fand es übrigens wenig hilfreich, daß kurz vor der Wahl plötzlich große Töne gespuckt und ursprünglich eherne Grundsätze über den Haufen geworfen werden. ({1}) Ich bin heilfroh, daß Sie für dieses Schauspiel, das einige SPD-Größen vor der Hamburg-Wahl geliefert haben, von den Wählern die richtige Quittung bekommen haben. ({2}) Denn Stammtischparolen und Hauruckmethoden können nicht unsere Devise sein. ({3}) Die leisten der Bekämpfung von Kinder- und Jugenddelinquenz einen Bärendienst. Wir müssen gründlich analysieren - das haben wir bei der Bearbeitung der Großen Anfrage getan - und daraus richtige Schlußfolgerungen ziehen. In vielen Fragen sind wir gar nicht so weit auseinander. Es gehört leider zu den Fakten, daß die Anzahl tatverdächtiger Jugendlicher angestiegen ist. Die Mehrzahl der Straftaten Jugendlicher - das kann man aus der Art der Straftaten ablesen - ist eher als ein Probierverhalten oder als Mutprobe, zum Beispiel Ladendiebstahl, Wandschmierereien, Raufereien, Schwarzfahren, zu kennzeichnen. Man kann davon ausgehen, daß sie eher episodenhaften Charakter haben und sich nicht verfestigen. Trotzdem nehme ich auch solche Straftaten sehr ernst. Besorgniserregend ist zudem der überproportionale Zuwachs im Bereich der Gewaltkriminalität. Nun gibt es natürlich unterschiedliche Interpretationen und Wertungen: Woher kommt dies? Was sind die Ursachen? Warum steigt in letzter Zeit die Delinquenz in besonderer Weise an? Einigkeit besteht in einem Punkt: Es gibt nicht das Schema, das für alle jüngeren Täter gleichermaßen gilt. Dafür sind ihre Lebensläufe und Hintergründe zu verschieden. Das kann für uns nur heißen: Wenn es nicht die Ursache für Kinder- und Jugenddelinquenz gibt, dann gibt es auch nicht die eine Maßnahme und die eine Antwort zur Lösung des Problems. Deshalb, Herr Krüger - auch da muß ich Sie enttäuschen -, bin ich mir mit dem Justizminister eigentlich einig. ({4}) - Auch mit dem Innenminister! ({5}) Wir sind uns einig: Es geht nicht um Entweder-Oder; vielmehr brauchen wir Prävention und Repression. ({6}) Beispielsweise muß - das kann gar keine Frage sein, Sie haben das ja hier selber mehrfach gesagt - eine schnelle und konsequente Strafverfolgung erfolgen. Je länger die Zeitspanne zwischen Tat und Konsequenz ist, um so geringer ist die Wirkung, die die Strafe hat. ({7}) Es ist gar keine Frage: Wir müssen Sorge dafür tragen, daß das Risiko, bei einer Tat erwischt zu werden, entsprechend hoch ist. Das scheint mir die Hauptaufgabe von Justiz und Polizei zu sein. Wir brauchen deshalb überhaupt nicht über Gesetzesänderungen zu reden. Wir brauchen vielmehr Änderungen in der Praxis. Hier muß entsprechend gehandelt und reagiert werden. ({8}) Mir ist wichtig, daß wir eine breite Palette von Sanktionsmöglichkeiten haben, um im Einzelfall adäquat reagieren zu können. Gerade weil wir es in der Mehrzahl nicht mit verfestigten Kriminalitätskarrieren zu tun haben, scheinen mir Konzepte wie Konfrontation mit der Tat oder mit dem Opfer, Verpflichtung zur Wiedergutmachung und auch Heranziehung zu gemeinschaftlichen Arbeitsleistungen nach wie vor gute Ansätze zu sein, die positive Auswirkungen haben. Es ist aber auch richtig - und dazu stehe ich -, im Einzelfall zu entscheiden, ob man bei einem jungen Heranwachsenden nach dem Jugend- oder nach dem Erwachsenenstrafrecht urteilt. Allein die Tatsache, daß ein Heranwachsender eine Straftat begangen hat, ist noch kein Indiz für Unreife. Die soll - so will es der Gesetzgeber - im Einzelfall nachgewiesen werden. ({9}) Auf der anderen Seite - das möchte ich genauso deutlich sagen - halte ich überhaupt nichts von den Vorschlägen, das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen; ({10}) denn das ist keine adäquate Reaktion. Für die betroffenen Kinder verfehlen Maßnahmen nach dem Jugendstrafrecht, die über das hinausgehen, was das Kinder- und Jugendhilfegesetz ermöglicht, vollkommen ihr sozialpädagogisches Ziel. Ich halte es in der Tat für problematisch, daß neuerdings wieder häufiger die geschlossene Unterbringung als Rezept gegen Kinderkriminalität gefordert wird. Das, was dazu gesagt worden ist, ist richtig. Wir haben als Ultima ratio der Kinder- und Jugendhilfe auch heute noch die geschlossene Unterbringung. Sie ist aber ein pädagogisches Instrument und nicht eine andere Form von Haftstrafe oder Sicherungsverwahrung. So sollte das auch bleiben.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krüger?

Claudia Nolte (Minister:in)

Politiker ID: 11001621

Selbstverständlich. Wie kann man Herrn Krüger etwas ausschlagen?

Thomas Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002708, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Ministerin, ich habe eine Frage, die sich auf die von Ihnen eben angesprochenen unter 14 Jahre alten straffälligen Kinder bezieht. Sie schlagen vor, daß man keine Absenkung des Strafmündigkeitsalters vornehmen soll. Aus der Beantwortung der Großen Anfrage geht aber hervor, daß - das stellt man auch fest, wenn man mit Vertretern der Kommunen redet und die dortigen Statistiken zur Kenntnis nimmt - eine nicht unwesentliche Anzahl von Kindern straffällig wird, und das serienweise. Was sind Ihrer Meinung nach die Konzepte im Umgang mit diesen unter 14 Jahre alten Kindern und Jugendlichen, die nach Verübung der Straftat und nachdem sie erwischt worden sind, oftmals eher zu Hause sind als die Polizei? Es macht keinen Sinn, wenn das Kind, das straffällig geworden ist, dem Polizisten sehr schnell wieder bei der Verübung einer neuen Straftat begegnet, wieder erwischt wird, und wieder passiert nichts. Was schlagen Sie dazu aus dem Jugendhilfebereich vor? Wie unterstützen Sie da entsprechende Ansätze?

Claudia Nolte (Minister:in)

Politiker ID: 11001621

Ich denke, es geht gar nicht anders, als die Mittel des Kinder- und Jugendhilferechts zu nutzen. Inwieweit kann man der betreffenden Familie und damit auch dem Kind erzieherische Hilfestellung geben? Man muß mit diesem Kind sozialpädagogisch sehr intensiv arbeiten. Wenn Sie es an eine Justizanstalt übergeben - das wäre der einzige Weg, der über andere erzieherische Maßnahmen hinausgehen würde; es geht dann praktisch um Festsetzung -, lernen diese Kinder auf kriminellem Gebiet eher dazu. Dann haben Sie im Zweifel nachher genauso einen Serientäter. ({0}) - Herr Krüger, in der Praxis passiert da doch schon wesentlich mehr. ({1}) - Ich denke, daß da inzwischen mehr passiert als nur Hilflosigkeit. Das leitet über zu einem anderen Aspekt. Wir sind uns auch darüber einig, daß ausschließlich Verschärfung oder Verbesserung bei der Strafverfolgung und beim Strafvollzug nicht ausreichen. Es ist in der Diskussion schon sehr deutlich geworden, daß vor dem Hintergrund veränderter Sozialisationsbedingungen - Stichwort: „neue Miterzieher", also Medien, Gleichaltrigengruppen - Erziehung und gesellschaftliche Integration von Kindern und Jugendlichen in einer sich pluralisierenden und individualisierenden Gesellschaft objektiv schwieriger werden. Junge Menschen brauchen aber eine Erziehung. Sie brauchen Eltern als Vorbilder. Sie müssen Möglichkeiten und Chancen, aber auch Grenzen, die sie in der Gesellschaft haben, aufgezeigt bekommen. Eltern, Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Medien, Politik - Frau Vogt, ich nehme Sie da gern mit ins Boot - müssen ihre Verantwortung gemeinsam wahrnehmen. Was mir häufig übersehen zu werden scheint, ist der Bedeutungszuwachs von Gleichaltrigengruppen. Wir haben es mit einer zunehmenden Verstädterung, mit einer räumlichen Absonderung sozialer Problemgruppen, einer Ausgrenzung ethnisch dominierter Wohnbezirke mit den damit verbundenen Konflikten zu tun. Das hat dazu geführt, daß wir in einigen Bereichen sehr ausgeprägte Jugendmilieus, Cliquen und in Extremfällen Streetgangs mit hoher krimineller Energie haben. Dazu kommt die gesonderte Betrachtung für die neuen Bundesländer, in denen sich im Vergleich zur alten Bundesrepublik Deutschland viele Prozesse in beschleunigtem Tempo vollzogen haben. Dort ist in einer Art Zeitraffer vieles nachgeholt worden, was von jungen Menschen natürlich als enormer sozialer Umbruch empfunden worden ist. Ein Teil der Jugend fühlt sich davon überfordert und kann darauf nicht adäquat reagieren. Deshalb ist es mir wichtig, deutlich zu machen, daß hierfür eine allein am Einzelfall ausgerichtete individualpädagogische Jugendhilfe keine adäquate Hilfe sein kann. Hier brauchen wir neue Wege, neue Konzepte. Für mich ist dabei immer das Wichtigste, StrafBundesministerin Claudia Nolte taten von vornherein zu verhindern. Also geht es für mich in diesem Bereich letztendlich um Prävention. Allerdings sind diese erzieherischen und sozialen Antworten sowohl wegen der erforderlichen Breite als auch wegen der Qualität der notwendigen Maßnahmen nicht leicht. Wir können bei solchen auf Erziehung angelegten Maßnahmen nicht mit kurzfristigen Erfolgen rechnen. Sie brauchen Zeit, und natürlich kosten sie Geld. Sie kosten viel Geld. Aber ich wiederhole: Wir sollten lieber dort Geld ausgeben; denn wenn wir es nicht tun, werden wir es später an anderen Stellen sehr viel teurer bezahlen. ({2}) Für eine gezielte Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugenddelinquenz sowohl im Bereich der primären als auch im Bereich der tertiären Prävention stehen rechtliche Regelungen und fachliche sozialpädagogische Instrumente zur Verfügung. Hier ist insbesondere das 1990 reformierte Kinder- und Jugendhilfegesetz zu nennen, das nicht ausschließlich die Kriminalprävention, sondern die Förderung von Kindern und Jugendlichen zum Ziel hat. Dort, wo ihm diese gut gelingt, wirkt es mittelbar auch kriminalpräventiv. Die Chancen der Jugendhilfe, der Kinder- und Jugenddelinquenz entgegenzuwirken, hängen davon ab, ob es gelingt, das Leistungsniveau auch in finanziell schwierigen Zeiten zu sichern und ({3}) das pädagogische Instrumentarium im Sinne der Delinquenzvorbeugung fortzuentwickeln und gezielter einzusetzen. Es geht nicht immer nur um Geldausweitung, sondern eben auch um eine gezielte Einsetzung. Dazu gehört für mich ganz elementar, daß wir zu einer wesentlich verbesserten und wirkungsvolleren Zusammenarbeit von Polizei, Justiz, Schule, Jugendhilfe und anderen Stellen vor Ort kommen. Dort sind noch viele Reserven vorhanden. Dort, wo diese Zusammenarbeit stattfindet, erzielt man gute Ergebnisse. Ich kann nur sagen, Herr Krüger: Wir in der Bundesregierung sind sehr bemüht, die Länder und Kommunen bei ihrer originären Aufgabe zu unterstützen. Sie tragen nun einmal die Hauptverantwortung. Das können wir auch nicht so einfach außer Kraft setzen, nur weil wir es gern wollen oder weil die Kommunen im Moment kein Geld haben. ({4}) Die meisten Ihrer Forderungen in Ihrem Antrag - lesen Sie noch einmal nach - richten sich nun einmal eindeutig an die Länder und Kommunen. ({5}) Da Ihre Partei häufig in der Länderverantwortung steht, müßte es vor Ort eigentlich relativ gut aussehen. ({6}) Wir haben in der Vergangenheit eine Reihe von Forschungs-, Informations- und Modellmaßnahmen durchgeführt. Ich möchte das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt erwähnen. Ich bin dankbar, daß Sie die positive Wirkung hervorgehoben haben; denn es hat in der Tat zukunftsweisende Ergebnisse gebracht und sich sehr bewährt. Ich habe Ihnen vor kurzem die Veröffentlichung zugeschickt. Nun muß man sagen: Es hat sich gezeigt, daß die dort gewählten Ansätze richtig sind, Herr Krüger. Das heißt, der Beweis ist erbracht worden. Die Impulsgebung, die Aufgabe der Bundesregierung ist, ist erfolgt. Jetzt liegt es an den Ländern und Kommunen, das in die Praxis zu überführen und aufzunehmen. Wir haben zudem ein Forschungsvorhaben beim Deutschen Jugendinstitut in Auftrag gegeben, um die Ursachen und Hintergründe für die besorgniserregende Entwicklung bei den minderjährigen strafunmündigen Kindern genauer zu erkunden und um von dort Handlungsansätze zu erhalten. Das zielt auf Ihre ursprüngliche Frage. ({7}) Ich verspreche mir von diesem Forschungsvorhaben in der Tat neue Erkenntnisse. Sie haben gefragt: Was tun Sie, haben Sie etwas Neues entdeckt? Nun, das zielt genau darauf ab. Sie sagten: Dazu brauchen wir ein Projekt. Ich finde, wir brauchen dazu erst einmal gute Kenntnisse und Vorschläge, wie so etwas aussehen könnte. Das ist also in Angriff genommen worden. ({8}) - Doch, in diesem Bereich schon; denn dazu, welche Wege wirklich bei strafunmündigen Kindern helfen, brauchen wir in der Tat noch mehr fundierte Kenntnisse, die Handlungsansätze aufzeigen. Wir haben nicht nur nach Hintergründen zu fragen, sondern daraus auch Konzepte zu entwickeln. Es kann natürlich sein, daß sich daraus auch ein Projekt entwickelt. ({9}) Mir ist es in diesem Zusammenhang wichtig, noch einmal zu betonen, daß wir zwischen episodenhafter Delinquenz und krimineller Karriere unterscheiden müssen. Gerade bei Erstauffälligen gilt es, an dieser Wegscheide sehr viel genauer danach zu schauen, in welcher Form ein besonderer Beratungs- und Hilfebedarf besteht. Dann kann man Jugendhilfe sehr viel konkreter und gezielter einsetzen. Dazu haben wir in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin entsprechende Modellprogramme auf den Weg gebracht. Dort werden neue Konzepte erprobt. Mein Haus übernimmt die fachliche Begleitung dafür. Ein drittes Beispiel für die Dinge, die die Bundesregierung an diesen Brennpunkten in Angriff genommen hat, ist, daß wir das Deutsche Jugendinstitut beauftragt haben, eine zentrale Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendkriminalprävention einzurichten. Sie hat die Aufgabe übernommen, alle in diesem Bereich durchgeführten Maßnahmen zu evaluieren, zu sichten und auf die Qualität und auf das, was dabei herausgekommen ist, zu prüfen, um sie einem breiten Nutzerkreis zur Verfügung zu stellen. Dies ist auch die Forderung der Kommunen. Wir wollen das Rad nicht immer neu erfinden; wir wollen vielmehr auch schauen, was andere vor uns gemacht haben, und zwar erfolgreich gemacht haben. So haben wir jetzt in Deutschland eine Bundeszentrale Anlaufstelle und einen zentralen fachlichen Ansprechpartner für Fragen der Kinder- und Jugenddelinquenz, insbesondere für Fragen der präventiven sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe. Lieber Herr Krüger, lassen Sie mich anmerken: Ihr Antrag dazu kommt viel zu spät. Das, was Sie fordern, haben wir schon vor einem Jahr angedacht. Ich denke, daß sich die Maßnahmen, die wir in Angriff genommen haben, sehr wohl der Herausforderung von Kinder- und Jugendkriminalität stellen und sich bewähren. ({10}) Vielen Dank. ({11}) - Es ist in Kraft gesetzt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Damit schließe ich die Aussprache. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/8972 federführend an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie zur Mitberatung an den Rechts- und den Innenausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 13/8968 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21a bis 21s auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland ({0}) - Drucksache 13/8933 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 17. März 1992 über die grenzüberschreitenden Auswirkungen von Industrieunfällen - Drucksache 13/8710 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes - Drucksache 13/8808 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. November 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über den Luftverkehr - Drucksache 13/8816 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({3}) Finanzausschuß e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. April 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Finnland über Soziale Sicherheit - Drucksache 13/8817 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Ausschuß für Gesundheit f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit - Drucksache 13/8818 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({5}) Ausschuß für Gesundheit g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 176 der In- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch ternationalen Arbeitsorganisation vom 22. Juni 1995 über den Arbeitsschutz in Bergwerken - Drucksache 13/8819 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 20. Dezember 1994 über den Beitritt des Fürstentums Monaco zum Übereinkommen zum Schutze der Alpen ({6}) - Drucksache 13/8825 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Sportausschuß Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juni 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Katar über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8826 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. Mai 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8827 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. März 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ecuador über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8828 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. Juni 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8829 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indien über die Förderung und den Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8830 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. September 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Republik Brasilien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8831 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft o) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. Mai 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Nicaragua über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8832 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft p) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. April 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kuba über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/8834 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft q) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1998 ({8}) - Drucksache 13/8833 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({9}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß r) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Veräußerung einer Teilfläche der ehemaligen US-Ferris-Kaserne in Erlangen an die TLG Treuhandliegenschaftsgesellschaft mbH bzw. die Stadt Erlangen - Drucksache 13/8754 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch s) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI ({10}) Gutachten des Sozialbeirats zu den mittel- und langfristigen Vorausberechnungen des Rentenversicherungsberichtes 1997 - Drucksache 13/8300 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({11}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß Es handelt sich um Überweisungen ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zur Behandlung einer Reihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 22 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. April 1994 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes - Drucksache 13/7556 -({12}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13}) - Drucksache 13/8743 - Berichterstattung: Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Wolfgang Behrendt Dr. Jürgen Rochlitz Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 13/8743, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 b: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. September 1996 zum Abkommen vom 13. Juli 1978 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Argentinien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 13/7618 -({14}) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({15}) - Drucksache 13/8771 Berichterstattung: Abgeordneter Reiner Krziskewitz Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 8771, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit allen Stimmen des Hauses angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 c: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 13. Juni 1994 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die weitere Verringerung von Schwefelemissionen - Drucksache 13/7557 - ({16}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17}) - Drucksache 13/8766 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Renate Hellwig Klaus Lennartz Dr. Jürgen Rochlitz Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf der Drucksache 13/8766, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 d: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Genf am 19. März 1991 unterzeichneten Fassung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz von Pflanzenzüchtungen - Drucksache 13/7619 -({18}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({19}) - Drucksache 13/8909 Berichterstattung: Abgeordneter Matthias Weisheit Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 13/8909, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß auch dieser Gesetzentwurf einmütig angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 e: Zweite und Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Fischwirtschaftsgesetzes und der Fischwirtschaftsverordnung - Drucksache 13/8471 - ({20}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({21}) - Drucksache 13/8951 - Berichterstattung: Abgeordnete Ilse Janz Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist. Damit treten wir in die dritte Beratung und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 f: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({22}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Städtebaulicher Bericht 1996 Nachhaltige Stadtentwicklung - Drucksachen 13/5490, 13/8960 -Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Mertens Der Ausschuß empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung, eine Entschließung anzunehmen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Gruppe der PDS ({23}) bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 g: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({24}) zu dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes ,,Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" für das Wirtschaftsjahr 1995 - Drucksachen 13/6700, 13/8756 -Berichterstattung: Abgeordnete Dankward Buwitt Dr. Wolfgang Weng ({25}) Adolf Roth ({26}) Manfred Hampel Oswald Metzger Wer der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung einmütig angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 h: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({27}) zu dem Antrag der Präsidentin des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1995 - Drucksachen 13/4278, 13/8757 - Berichterstattung: Abgeordnete Rudolf Purps Wilfried Seibel Oswald Metzger Dr. Wolfgang Weng ({28}) Wer der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung einmütig angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22 i: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 251 zu Petitionen - Drucksache 13/8866 Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltungen im übrigen angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 22j: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 252 zu Petitionen - Drucksache 13/8867 Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit demselben Stimmenverhältnis wie soeben angenommen worden ist. Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({31}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Einhundertfünfunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - - Drucksachen 13/8393, 13/8507 Nr. 2.2, 13/ 8978 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Höfken Wer der Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist. Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes und des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz - Drucksache 13/8641 - ({32}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({33}) - Drucksache 13/8958 -Berichterstattung: Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Dietmar Schütz ({34}) Birgit Homburger bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({35}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 13/9030 - Berichterstattung: Abgeordnete Eckart Kuhlwein Adolf Roth ({36}) Kristin Heyne Dr. Wolfgang Weng b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen - Drucksache 13/8635 -({37}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({38}) - Drucksache 13/8975 Berichterstattung: Abgeordneter Volker Jung ({39}) bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({40}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 13/8976 - Berichterstattung: Abgeordnete Dankwart Buwitt Dr. Wolfgang Weng ({41}) Manfred Hampel Antje Hermenau Dazu liegen Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS vor. Außerdem hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Änderungsantrag eingebracht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Kolb das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um den Wirtschaftsstandort Deutschland für das 21. Jahrhundert fit zu machen, müssen auch einige Rahmenbedingungen für die Energiewirtschaft an neue Erfordernisse angepaßt werden. Deshalb verfolgt die Bundesregierung drei Vorhaben, die Kernelemente einer konzeptionellen Runderneuerung des energiepolitischen Rahmens sind, nämlich erstens die Reform des energierechtlichen Ordnungsrahmens, über den wir uns demnächst hier unterhalten werden, zweitens die Neuordnung der Steinkohlesubventionen, ein Konzept, zu dem wir Übereinstimmung mit den Beteiligten erzielt haben, und drittens die Novellierung des Atomgesetzes. Mit dem Gesetzentwurf zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen, der Ihnen heute in zweiter und dritter Lesung zur Beschlußfassung vorliegt, setzt die Bundesregierung, wie Sie wissen, die kohlepolitischen Vereinbarungen mit Bergbau und Revierländern vom Frühjahr dieses Jahres um. Ich möchte Ihnen zunächst für die zügige Beratung dieses Gesetzes danken, das wir bereits zum 1. Januar 1998 für die Neugestaltung des Subventionssystems brauchen. Das gemeinsame Verständnis, das diesem wichtigen Subventionspaket zugrunde liegt, ist klar: Die Hilfen werden bis 2005 deutlich zurückgeführt, der Anpassungsprozeß im deutschen Steinkohlebergbau muß verstärkt fortgeführt werden, und die degressive Finanzlinie, auf die wir uns geeinigt haben, erlaubt dennoch eine sozialverträgliche Anpassung in den Revieren ohne strukturelle Brüche. Nach Einschätzung der IGBCE werden zwar bis 2005 rund 45 000 bis 50 000 Arbeitsplätze im Bergbau wegfallen. Die Streckung auf der Zeitachse macht diesen Strukturwandel aber beherrschbar. Der Bund wird dies mit einer gewaltigen finanzpolitischen Kraftanstrengung ermöglichen. Angesichts der Finanznöte und Konsolidierungszwänge sind die Zusagen des Bundes zweifellos das Äußerste des wirtschafts- und haushaltspolitisch Vertretbaren. Nordrhein-Westfalen wird sich übrigens ab 1998 mit 1 Milliarde DM pro Jahr an den Hilfen beteiligen. Das Saarland dagegen wird künftig leider keinen Beitrag zu den Kohleplafonds leisten. Die Unternehmen erhalten auf dieser Basis die notwendige Planungssicherheit, um in eigener Verantwortung über Absatz und Stillegungen zu entscheiden. Ich bin froh, daß die Bergbauunternehmen mit ihren in diesen Tagen bekanntgegebenen Beschlüssen zur Stillegung sehr rasch Klarheit für alle Beteiligten geschaffen haben. Ich begrüße in diesem Zusammenhang auch, daß wir vor wenigen Tagen die Verhandlungen mit der Ruhrkohle AG über die Gründung der Deutschen Steinkohle AG abschließen konnten. Jetzt sind die beiden Landesregierungen gefordert, ihre Gespräche mit dem Bergbau zu einem guten Abschluß zu bringen. Ich bin sicher, das alles wird den Prozeß der Strukturanpassung auch revierübergreifend erleichtern. Den Revierländern kommt jetzt vor allem die Aufgabe zu, den weiteren Anpassungsprozeß auch regionalpolitisch zu gestalten. Sie müssen die Zeit nutzen, um den Menschen in den Revieren neue Zukunftsperspektiven zu öffnen. Wichtig ist, daß die Kohleregionen an Saar und Ruhr Zielgebiete der nationalen und europäischen Regionalförderung bleiben. Alle Fördermaßnahmen für die Regionen müssen sinnvoll konzentriert werden, um zukunftssichere neue Arbeitsplätze zu schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es keine förmliche Verknüpfung zwischen dem Gesetzentwurf zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen und dem vorliegenden Entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Atomgesetzes gibt, so muß doch hervorgehoben werden, daß auch diese Maßnahme zu der dringend gebotenen Runderneuerung der energiepolitischen Rahmenbedingungen gehört, die ich eingangs angesprochen habe. Die nach wie vor preisgünstige Kernenergie ist mit einem Anteil von rund einem Drittel eine tragende Säule der deutschen Stromerzeugung. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer diversifizierten Stromversorgung. Die Kernenergie ist derzeit die einzige in ausreichenden Mengen vorhandene und wettbewerbsfähige CO2-freie Energie. Allein die im Betrieb befindlichen Kernkraftwerke in Deutschland vermeiden jährlich rund 150 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. Die Kernenergie ist somit für eine ausgewogene und umweltverträgliche Energieversorgung in Deutschland viel zu wichtig, um ihre künftige Nutzung etwa durch endlose Diskussionsblockaden aufs Spiel zu setzen. Das bedeutet, auch für diesen Energieträger müssen langfristige, verläßliche Rahmenbedingungen gesetzt werden, an denen die Wirtschaft ihre Investitionen orientieren kann. Dabei geht es im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland auch um den Erhalt von Arbeitsplätzen und Know-how in einem Hochtechnologiebereich. Folgerichtig wird mit der Novelle unter anderem die Weiterentwicklung der kerntechnischen Sicherheit durch die Einführung eines neuen, standortunabhängigen Prüfverfahrens verankert und damit die Option auf die Nutzung dieses Energieträgers erhalten. Dies ist im übrigen auch erforderlich, um gegenüber den kernenergienutzenden Staaten Osteuropas die Kooperation in Fragen der Sicherheit weiterhin gewährleisten zu können. Es ist eine Tatsache, daß weltweit, insbesondere in Asien, ein Ausbau der Kernkraft auf Grund des rapide steigenden Energiebedarfs zu verzeichnen ist. Deutschland hat vor diesem Hintergrund ein vitales wirtschaftliches und Sicherheitsinteresse, daß diese Kraftwerke mit den höchstmöglichen Anforderungen sicher gebaut und betrieben werden. Darüber hinaus wird mit der Atomgesetznovelle das Entsorgungskonzept fortentwickelt. Dabei sollen unter anderem die Abfallverursacher zukünftig stärker eingebunden werden und der weitere Sachstand für zukünftige Endlager unter verläßlichen Bedingungen festgestellt werden. Denn eines muß in aller Deutlichkeit gesagt werden: Wie immer man zur zukünftigen Nutzung der Kernenergie steht, es ist einfach unverantwortlich, in der in unserer nationalen Verantwortung liegenden Frage der Entsorgung eine Blockadehaltung einzunehmen. Die Bundesregierung macht mit der Änderung des Atomgesetzes deutlich, daß sie sich ihrer Verantwortung bewußt ist und sich dieser stellt; denn die Wirtschaft braucht dringend Rahmenbedingungen, auf die sie sich auch künftig verlassen kann. Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, fördern wir die Investitionstätigkeit der Unternehmen, und nur so sichern und schaffen wir Arbeitsplätze. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hans Berger.

Hans Berger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es waren schwierige Geburtswehen, die dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Kohlefinanzierung vorausgingen. Viele von uns waren froh, als dann der Gesetzentwurf endlich vorlag. Dennoch: Ungeteilt glücklich ist sowohl draußen als auch hier drinnen niemand. Dies ist angesichts der diametral entgegenstehenden Auffassungen zur Kohlepolitik wohl auch erklärlich. Die Gegner der bisherigen Kohlepolitik vertreten nach wie vor massiv die Meinung, mit dem Abbau der Subventionsmittel könnten neben der strukturellen Verbesserung unserer Volkswirtschaft auch positive finanzpolitische Wirkungen erzielt werden. Ich sage: Diese Meinung ist falsch! ({0}) Ich setze die Behauptung dagegen, daß uns der Abbau der Subventionen gegenwärtig angesichts des Tatbestandes, daß der Arbeitsmarkt die verlorenen Arbeitsplätze im Bergbau und den davon betroffenen Wirtschaftsbereichen nicht ersetzt, teurer zu stehen kommt als eine Fortsetzung der Subventionen. ({1}) Ich weiß, welche Einwände Sie jetzt formulieren. Aber die wirkliche Entwicklung im Lande gibt uns recht. 100 000 zusätzliche Arbeitslose werden das Ergebnis der jetzt veränderten Kohlepolitik sein. Fast alle Ihrer angeblichen Einsparmaßnahmen endeten mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit und der entsprechenden Kosten. Nichts ist finanzpolitisch besser geworden. Wir bleiben bei unserer Auffassung: Der Bergbau - dies gilt auch für die Landwirtschaft - ist eben nicht mit einer Frittenbude oder einer Hemden- und Sokkenfabrik gleichzusetzen. ({2}) Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Sie bleiben in dieser Frage im Unrecht. Es wäre finanz- und energiepolitisch wünschenswerter und vernünftiger gewesen, die Kohlevereinbarungen vom November 1991 bis zum Jahre 2005 durchzuhalten. Es wäre für den Arbeitsmarkt, für die Staatsfinanzen und für die Energieversorgungssicherheit besser gewesen. Landauf und landab haben Sie erklärt, man solle das Geld statt für Kohlesubventionen für zukunftsträchtige Arbeitsplätze ausgeben. Nun sind die Kohlesubventionen 1998 gegenüber 1996 um rund 2 Milliarden DM abgebaut worden. Als im Mai dieses Jahres der Bundeswirtschaftsminister auf der Ruhr-Konferenz in Gelsenkirchen eine Rede hielt, hatte ich erwartet, daß er nun erklärt, ({3}) daß mindestens 1 Milliarde DM von den eingesparten 2 Milliarden DM zur Förderung der Umstrukturierung in den Revieren und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt würde. ({4}) Nichts davon, lediglich zinsgünstigere Kredite wurden angeboten. Angesichts der geplanten Rücknahme der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" bleiben die großartigen Ankündigungen am Ende ein Flop; man könnte dies auch bösartiger formulieren. Meine Damen und Herren, ein paar Sätze möchte ich an dieser Stelle zu den ständigen Vorwürfen der Ungleichbehandlung ostdeutscher Bergleute im Verhältnis zu den westdeutschen sagen. Die Eingeweihten unter Ihnen wissen sehr genau - manche haben mir dies auch aus Anlaß meiner Verabschiedung als Vorsitzender der IGBE geschrieben -, daß ohne die Anstrengungen meiner Gewerkschaft der ostdeutsche Braunkohlebergbau und die damit verbundene Energiewirtschaft in den Abgrund gerutscht wären. Ich gebe zu: Es ist zu wenig übriggeblieben - aber nicht auf Grund unserer Politik. Wenn heute wichtige Kristallisationspunkte in den neuen Bundesländern um den Bergbau und um die chemische Industrie herum vorhanden sind, dann sollten Sie sich bei Hermann Rappe, beim Bundeskanzler, bei Herrn Ludewig, bei Herrn Schucht, aber auch bei mir bedanken. ({5}) Ich füge hinzu: Hätten wir uns an den aktuellen Tagespreisen ausgerichtet, wie Sie es hier immer propagieren, dann gäbe es diese Industriekerne auch nicht. Um es mit den Worten des Bundeskanzlers zu sagen: Für diese Auffassung und für die entsprechende Politik gibt es nicht den Ludwig-ErhardPreis, aber sie bleiben dennoch richtig. Wenn nicht so viele von Ihnen ideologisch verbohrt gewesen wären, hätten wir im Osten gemeinsam noch mehr an industrieller Produktion bewegen können. ({6}) Bei neuen Vorwürfen schauen Sie also lieber in den Spiegel. Viele hier unter Ihnen, die den deutschen Steinkohlebergbau schnell zu Ende bringen wollen, sind nahezu begeisterte Anhänger der Kernenergie. Da es derzeit wohl nicht die Kosten sein können, wie Ihnen die Fachleute bestätigen werden, läßt sich eine positive Haltung doch nur aus Gründen zukünftiger Ressourcenknappheit bzw. aus Gründen der Versorgungssicherheit ableiten. Aber genau diese Gründe wischen Sie in der Diskussion einfach weg. Am 9. Oktober, also vor wenigen Wochen, erklärte der Kollege Uldall: Um es klar zu sagen: Die heimische Kohle ist aus Gründen der Versorgungssicherheit nicht notwendig. Es gibt auf dem Weltmarkt heute und in Zukunft genügend Kohle zu wettbewerbsfähigen Preisen. Ich frage: Warum brauchen wir dann die Kernenergie mit ihren dicken Problemen? ({7}) Ich stehe im Gegensatz zur großen Mehrheit meiner Partei zur Kernenergieoption, weil ich weiß, daß es keine Versorgungssicherheit ohne Nutzung aller Optionen gibt. Dazu gehört die deutsche Stein- und Braunkohle, dazu gehört meiner Meinung nach die Kernenergie, dazu gehören Energiesparmaßnahmen, dazu gehört die Entwicklung und umfassende Nutzung der Energie aus Biomasse, aus Wind- und Sonnenkraft. Meine Redezeit ist zu kurz, um auf die energiestrategische Diskussion in Nordamerika, Japan, China oder anderswo einzugehen. Deshalb nur wenige Sätze zu dieser Problematik. Heute verbraucht die Weltwirtschaft fast fünfmal soviel Energie wie 1950. Es ist alles andere als Spekulation, der Prognose zu folgen, daß sich in den nächsten 25 Jahren der Weltenergieverbrauch verdoppeln wird, also auf mehr als 20 Milliarden t SKE. Trotz dann hoffentlich umfassender Effizienzsteigerung und der umfassenden Nutzung von Wind und Sonne wird der heutige Überfluß an fossiler Energie zu Ende sein. Dazu bedarf es keiner höheren Mathematik. Deshalb haben sich in der Vergangenheit so viele für einen Energiemix unter Einschluß der heimischen Kohle eingesetzt. Dies war richtig, und dies bleibt auch künftig richtig. Deshalb wäre es weitaus vernünftiger gewesen, nicht nur eine Vereinbarung bis 2005, sondern eine für die nächsten 20 bis 30 Jahre zu treffen. ({8}) Franz Josef Strauß hat in einem Diskussionsbeitrag 1978 hier im Bundestag darauf hingewiesen, daß die sichere Energieversorgung nicht allein eine Frage des Marktes ist. Er hat damals auf die Kleinkariertheit reinen Marktdenkens hingewiesen. Dies hat auch der Bundeskanzler indirekt vor ein paar Tagen getan, als er aus Anlaß meiner Verabschiedung zum Kohlekompromiß vom März folgendes ausführte - ich zitiere -: Natürlich ist es wahr. Ich habe es ja selbst gesehen. Wenn Sie die gewaltigen Fördererträge im Tagebau in Australien einmal sehen, dann stellt sich natürlich die Frage: Sind wir da noch konkurrenzfähig? Aber ich denke auch, die Frage ist am Platz: Was geschieht eigentlich in kritischen Zonen der Weltpolitik? Wir wissen überhaupt nicht, ob wir ein Abonnement darauf haben, daß alles so bleibt, wie es jetzt ist, und wir dann diese Energiereserve nicht haben. Es gibt da Leute im Bundestag, auch außerhalb, die ganz klugen Gums, auch in den Wirtschaftsteilen großer deutscher Tageszeitungen, die wußten ganz genau, das sei altmodisch. Mir ist dies ziemlich egal. Ich möchte jedenfalls nicht mit meinem Namen eine Entwicklung verbinden, daß die Energiereserve im fossilen Bereich - Stein- und Braunkohle - in Deutschland aufgegeben wird. Ich halte das für eine kapitale Dummheit. ({9}) Soweit der Bundeskanzler. Wir Sozialdemokraten können jedes dieser Worte unterstreichen. Deshalb sage ich an die Adresse des Bundeskanzlers einen herzlichen Dank. ({10}) - Herr Schauerte, hören Sie einmal zu. Es hätte finanz-, energie- und regionalpolitisch besser kommen können, wenn nicht so viele von Ihnen quergestanden hätten. ({11}) Deshalb zum Schluß meine Bitte - ich wiederhole -: Stimmen Sie jetzt wenigstens diesem Gesetzentwurf zu, und sorgen Sie mit uns für eine verläßliche, belastbare und vernünftige Umsetzung! ({12})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ursula Schönberger.

Ursula Schönberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002786, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Atomenergie zu fördern und vor ihren Gefahren zu schützen sind zwei gleichgewichtige Zielsetzungen des bestehenden Atomgesetzes. Wir kennen die jahrelange Praxis, daß das Gesetz einseitig als Fördergesetz ausgelegt wird. Doch seit Grüne in den Ländern mitregieren, setzen atomenergiekritische Landesregierungen dieser traditionell einseitigen Auslegung des Atomgesetzes als Fördergesetz den dezidiert sicherheitsorientierten Vollzug entgegen. So unspektakulär und unbefriedigend dieser sicherheitsorientierte Vollzug immer wieder war, so schmerzhaft ist es aber offensichtlich für die Atomlobby, daß das Gesetz nicht mehr prinzipiell zu ihren Gunsten ausgelegt wird. Hinzu kommen gerichtliche Entscheidungen, die den Sicherheitsaspekt stärker gewichten, so das Krümmel-Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes und die Stillegung des Reaktors Mülheim-Kärlich durch das Oberverwaltungsgericht Koblenz. Hinzu kommt die Standhaftigkeit von Menschen wie Graf Bernstorff, der allen finanziellen Verlockungen zum Trotz sich seine Salzrechte im Wendland nicht abkaufen ließ. Statt aber die Politik an die Gesetzeslage anzupassen und auch die Interessen der Atomwirtschaft den Grundnormen des Atomgesetzes zu unterwerfen, wollen Sie, Frau Merkel, umgekehrt die Gesetzeslage noch weiter den Interessen der Atomwirtschaft anpassen. Für eine Förderung der Atomwirtschaft gehen Sie so weit, daß Sie Konflikte mit der Verfassung in Kauf nehmen. Die Relativierung, daß Atomkraftwerke nicht mehr nach Stand von Wissenschaft und Technik laufen müssen, sondern Nachrüstungen für den Betreiber wirtschaftlich vertretbar zu sein haben, verstößt gegen Art. 2 des Grundgesetzes, der das Recht auf Leben und Unversehrtheit garantiert, und gegen die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, dokumentiert im Kalkar-Urteil. Der Ausschluß der Öffentlichkeit aus standortunabhängigen Prüfverfahren, die natürlich bindende Wirkung für spätere Genehmigungsverfahren haben werden, verstößt gegen die verfassungsmäßig verbrieften Rechte auf Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in Verwaltungsverfahren. Weiter führt die Novelle zu einer unzulässigen Mischverwaltung von Bund und Land und enthält verdeckte Einzelfallgesetze wie die Lex Bernstorff. Auf die Frage Morsleben wird Ministerin Heidecke noch näher eingehen. Auf der anderen Seite gibt es seit 1992 eine Richtlinie der Europäischen Union, die verlangt, daß Atomtransporte künftig zwei Monate vor ihrer Durchführung den Behörden angezeigt werden müssen. Die also ausnahmsweise einmal für die Betroffenen durchaus wünschenswerte Änderung des Atomgesetzes wird nicht umgesetzt. Die Bundesregierung setzt diese Richtlinie seit 1994 nicht in nationales Recht um und ist deswegen sogar vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt worden. Wir haben einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, die EU-Richtlinie endlich vollständig umzusetzen. ({0}) Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auf, wenigstens diesem Antrag heute zuzustimmen. ({1}) Die Sachverständigen haben all die schwerwiegenden verfassungsrechtlichen und anderen Bedenken in der öffentlichen Anhörung des Umweltausschusses vorgebracht. Doch Sie, Frau Merkel, und auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, wollen wieder einmal nicht hören. So werden Sie eben vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Ich finde es nicht gut, daß Verfassungsgerichte immer die Letztentscheidung über Gesetze haben. Aber was bleibt denn anderes übrig, wenn die Bundesregierung allen Hinweisen zum Trotz mit den Grundlagen unseres Rechtssystems spielt? Es geht nicht um die Frage, daß wir gegen die Atomenergie sind und die Regierung dafür. Das ist schon immer so gewesen. Es geht nicht damm, daß wir mit dem Atomgesetz unzufrieden sind. Auch das ist schon immer so gewesen. Es geht um eine ganz grundsätzliche Frage unseres Rechtssystems, nämlich ob ein Gesetz, von dem die Allgemeinheit betroffen ist, einseitig zugunsten einer Interessengruppe und zu Lasten der Mehrheit verändert werden darf. Die Frage stellt sich natürlich bei vielen Gesetzesvorhaben, inwieweit einzelne von einem Gesetz begünstigt werden. Aber bei dieser Novelle ist es wirklich eindeutig, daß sie sogar gegen verfassungsmäßige Grundrechte verstößt. Das heißt, mit dieser Novelle rühren Sie wirklich an die Grundfragen unseres Rechtssystems. Die Konsequenzen werden Sie vor dem Bundesverfassungsgericht sehen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Professor Dr. Rainer Ortleb das Wort.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001657, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der mir für die Debatte zur Verfügung stehenden Redezeit werde ich mich auf die Novelle des Atomgesetzes konzentrieren. Zur Steinkohleförderung möchte ich nur soviel sagen: Dieses kostenträchtige Gesetz löst bei der F.D.P. keinen Jubel aus. Insbesondere aus der Sicht der neuen Länder kann diese langfristige Absicherung eines unausweichlichen Strukturwandels nur als sehr großzügig angesehen werden. ({0}) Sächsischen und brandenburgischen Braunkohlenkumpeln oder ehemaligen Braunkohlenkumpeln dies zu erklären ist nicht ganz so einfach. Meine zweite Bemerkung betrifft die Frage, welche Position die Grünen zur Steinkohleförderung haben. Entweder steht man gegenüber den Kumpeln zu Treueschwüren aus Zeiten der Barrikaden für die Förderung der doch wohl klimaschädlichen Steinkohle. Oder man kommt zwischen Zustimmung zum Gesetz und Verrat des Wahlprogrammes in Konflikt. Kohle oder nicht Kohle? Man bleibe bei kompromißlosen ökologischen Prinzipien und Wahlprogramm, mit dem Sie die Steinkohleförderung ablehnen. Dann begehen Sie Verrat an den Kumpeln. Man lerne daraus: Populismus ist immer ein zweischneidiges Schwert. Nun aber zur Novelle zum Atomgesetz. Sie ist, wie nicht anders zu erwarten, Kristallisationspunkt für die ideologische Auseinandersetzung über die Kernenergie. Hier gibt es zunächst nicht mehr ganz übersichtliche Frontverläufe. Teile der SPD unterstützen ihren wirtschaftsorientierten eventuellen Kanzlerkandidaten Schröder im Bemühen für den Energiekonsens; andere SPD-Repräsentanten wie zum Beispiel Sie, lieber Kollege Müller, bekämpfen ihn deswegen. Die Grünen wedeln mit Ausstiegsbeschlüssen ({1}) und beleben ab und an den lokalen Bürgerkrieg um Gorleben, sind aber wild entschlossen, mit der SPD, unter welchem Kanzler auch immer, an die Regierung zu kommen. Wie bei Garzweiler II in NordDr. Rainer Ortleb rhein-Westfalen werden die Grünen auch hier zu verblüffen wissen. Die F.D.P. unterstützt die Novelle zum Atomgesetz. ({2}) - Aber heute können wir das doch wohl. Ein Grund dafür ist, daß wir unabhängig von der Haltung zur Kernkraft die Entsorgung der radioaktiven Abfälle aus den laufenden Kernkraftwerken sicherstellen müssen. Das sind wir den zukünftigen Generationen schuldig. Deshalb ist die rot-grüne Taktik, durch das Verstopfen aller Entsorgungswege letztlich zur Schließung der Kernkraftwerke in Deutschland zu gelangen, unverantwortlich. Selbst wenn sie zum Erfolg führt, brauchen wir End- und Zwischenlager. Mit dem Entschließungsantrag der Koalition werben wir noch einmal für den dringend notwendigen Entsorgungskonsens. Des weiteren bin ich überzeugt, daß wir die Sicherheit der Kernkraftwerke fortentwickeln müssen. Das gilt sowohl für die laufenden Kraftwerke als auch für die Entwicklung neuerer, sicherer Reaktortypen. ({3}) Deshalb ist es richtig, daß wir bei den Nachrüstungsgenehmigungen für Rechtsklarheit sorgen und zum Zwecke der Risikominimierung die Nachrüstung erleichtern. Daher findet das standortungebundene Prüfverfahren von neuen Sicherheitskonzepten unsere Zustimmung. Denn es ist beim Einsatz von technischem Gerät durchaus üblich, daß man es zunächst einmal ohne Beantwortung der Frage, wo es verwendet wird, daraufhin prüft, ob es sicher ist. ({4}) Ich erwähne den jüngsten Großauftrag Chinas an die USA. Wenn wir Risiken mindern wollen, dürfen wir uns aus der Entwicklung von Kernkraftwerken nicht verabschieden, sondern müssen durch eigene Konzepte den Weltstandard auf diesem Gebiet mitbestimmen. ({5}) Auch dazu dienen Prüfverfahren und nicht zur Aushebelung der ortsgebundenen Genehmigungsverfahren, wie behauptet wird. Denn am Ende muß ein Verfahren vor Ort durchgeführt werden. Wir wissen übrigens ganz genau, daß es in Deutschland mit Genehmigungsverfahren wohl nichts werden wird. Denn die erkennbare Bereitschaft von Elektrizitätsversorgungsunternehmen, neue Kernkraftwerke zu bauen, ist nicht vorhanden. Sie alle wissen, warum. Die vom Bundesrat und von der Opposition vorgeschobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Gesetz wurden in der Anhörung widerlegt. Die große Mehrheit der Sachverständigen sieht insbesondere kein Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates zu dem Gesetz. Ebenso wird auch die Zulässigkeit der Verlängerung der Genehmigung des Endlagers in Morsleben nicht ernsthaft bezweifelt. So wie wir per Einigungsvertrag und durch dazugehörigen Gesetzesbeschluß die aus DDR-Zeiten stammende Genehmigung befristen konnten, können wir als derselbe Gesetzgeber jetzt auch diese Befristung verlängern. ({6}) Das steht Mitgliedern aus beiden Teilen Deutschlands, die in diesem Hause Abgeordnete sind, zu. Dabei geht es nicht um eine inhaltliche Veränderung oder um die Veränderung von Kapazitäten. Wir wollen und werden nicht mehr als das zugelassene Inventar einlagern. Aber wir brauchen mehr Zeit für ein geordnetes rechtsstaatliches Stillegungsverfahren. ({7}) Ich erspare mir einen Appell an die Opposition, diesen vernünftigen und verantwortungsvollen Regelungen zuzustimmen. Ideologische Fixierungen und innere Widersprüche, wie eingangs von mir angerissen, erlauben Ihnen keine wirkliche Entscheidung. Die Ablehnung der Novellierung des Atomgesetzes wird für Sie der bequeme Ausweg sein. Die Koalition dagegen wird ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Roll Köhne das Wort.

Rolf Köhne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002702, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine allgemeine Vorbemerkung: Atomenergie ist zwar CO2- frei, aber nicht risikofrei. Dieses Risiko ist permanent, während wir bezüglich des Klimaproblems, zeitlich gesehen, noch einigen Spielraum haben. Wer wirklich eine Runderneuerung der energiepolitischen Rahmenbedingungen will, muß die Voraussetzungen schaffen, daß sich Energieeffizienz und regenerative Energien durchsetzen. Da ist das Festhalten an der Atomenergie eher kontraproduktiv - insbesondere wegen der vorhandenen Überkapazitäten bei der Stromerzeugung, die den erforderlichen Strukturwandel blokkieren. Dann noch eine Bemerkung zur Kohlesubvention: Wenn man wirklich Anstrengungen unternommen hätte, mehr Energieeffizienz zu erreichen und Primärenergie einzusparen, dann hätte man die Chance gehabt, die vorgesehenen Ziele im Rahmen der Klimapolitik zu erreichen, ohne einen so drastischen Abbau von Arbeitsplätzen, wie er jetzt mit 28 000 Arbeitsplätzen im Bergbau erfolgt, vornehmen zu müssen. Auch das wäre gegangen, hätte allerdings vorausgesetzt, daß man den Ausstieg aus der Atomenergie vorangetrieben hätte. In diesem Sinne spreche ich von Zumutungen, die mit der Änderung des Atomgesetzes hier auf der Tagesordnung stehen: Erstens. Änderungen an laufenden Atomkraftwerken sollen sich zukünftig nicht mehr am Stand von Wissenschaft und Technik messen lassen, sondern nur noch am Prinzip wirtschaftlicher Verhältnismäßigkeit. Im Klartext: je älter ein Atomkraftwerk, desto geringer sein Restwert und desto geringer die Sicherheitsanforderungen bei wesentlichen Änderungen. Das widerspricht ganz eindeutig der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes mit seinem KalkarUrteil. Zweitens. An die Stelle eines öffentlichen Genehmigungsverfahrens soll nun bei Neubauten ein geheimes Prüfverfahren treten, um dem europäischen Druckwasserreaktor ein Exportgütesiegel zu verschaffen. Wesentliche Sicherheitsfragen werden somit vorab entschieden, ohne daß Betroffene ihre Rechte wahrnehmen können und ohne daß die entscheidenden Sicherheitsfragen in der Öffentlichkeit erörtert werden können. Aber gerade das wäre notwendig. Schließlich waren sich bei der Anhörung im Umweltausschuß die anwesenden Physiker sicher, daß der EPR nicht hundertprozentig inhärent sicher ist. Diese Einführung eines Geheimverfahrens ist aber auch deshalb skandalös ({0}) - ja, ein Geheimverfahren -, weil die Öffentlichkeit von Verwaltungsverfahren seit der Französischen Revolution zum festen Bestandteil eines modernen Rechtsstaates gehört. Zur Einführung von demokratischen und transparenten Verwaltungsverfahren bedarf es wohl auch in Deutschland noch einer Revolution. ({1}) Drittens. An Stelle eines Planfeststellungsverfahrens, das entsprechend dem Stand von Wissenschaft und Technik durchgeführt wird und das zum Beispiel auch die Langzeitsicherheit überprüft, soll durch eine Gesetzesänderung der Weiterbetrieb des ehemaligen DDR-Endlagers Morsleben erreicht werden. Der Bundestag konterkariert damit eigentlich seine eigene Gesetzgebung und bricht den Einigungsvertrag. Er wird die Betroffenen in diesem Falle schlechterstellen, als wenn es die DDR noch gäbe; denn die Strahlenschutzbehörde der DDR hätte Morsleben längst schließen müssen, weil eine wesentliche Auflage der Betriebsgenehmigung von 1986 nicht erfüllt ist. Doch das alles interessiert in diesem Hohen Hause offensichtlich nicht. Viertens soll noch eine Sondergesetzgebung eingeführt werden, um den weiteren Ausbau des atomaren Endlagers in Gorleben zu ermöglichen, indem eine Vorschrift eingeführt wird, nach der der Grundbesitzer Graf Bernstorff dort enteignet werden kann. Fünftens stiehlt sich der Bund aus seiner Verantwortung zur Errichtung von sicheren atomaren Endlagern, indem er deren Erkundung und Errichtung privatisieren will. Diesen Zumutungen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, werden wir nicht zustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hartmut Schauerte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Berger, wenn Sie hier ernsthaft vortragen wollen, daß die Erhöhung der Steinkohlesubventionen ein volkswirtschaftlich vernünftiger Vorgang zur wirksamen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei, dann stehen Sie wirklich alleine gegen jeden Sachverstand in Deutschland. ({0}) Ich habe mich gewundert, daß die SPD an dieser Stelle applaudieren konnte. Wenn das aber richtig wäre, dann erwarte ich eigentlich, daß Sie in Ihrem neuen Wahlkonzept für 1998 den Programmpunkt aufnehmen: „Wir wollen die Subventionen für die Kohle erhöhen, um einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu leisten." Das wäre dann logisch. Aber auf einen solchen Antrag zu Ihrem Wahlprogramm werde ich sehr wahrscheinlich vergeblich warten. Ich fand es etwas erheiternd, daß Sie uns am Ende Ihrer Rede aufforderten, dem Regierungsentwurf zuzustimmen. Das, was wir hier vorgelegt haben, ist unser Entwurf. Wir sind ja froh, daß Sie zustimmen, aber die Ermunterung, unserem eigenen Entwurf zuzustimmen, brauchten wir nicht. Mit diesem Entwurf halten wir Wort - auch bei der Salzbraunkohle; das will ich nur erwähnen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Wir halten Wort! Die Entwicklung läuft, wie vereinbart: Die Ruhrkohle legt ihre Konzepte vor. Die Akzeptanz bei den Mitarbeitern ist in den zumutbaren Grenzen vorhanden. Das respektiere ich ausdrücklich. Ich halte das für sehr wichtig und für wertvoll, auch die Art der Mitarbeit der Betriebsräte an diesen Konzepten. All das ist in Ordnung. ({1}) Es bleibt aber dabei, Herr Berger, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Wenn wir all das so machen, wie es jetzt vereinbart ist, dann werden im Jahre 2005 noch immer 6 Milliarden DM, davon 4,3 Milliarden DM vom Bund, an Kohlesubventionen gezahlt und bis zum Jahr 2005, wenn ich alles zusammenrechne, 72,6 Milliarden DM für heute noch 86000 und dann vielleicht 36 000 Arbeitnehmer aufgewendet. Man muß es doch einmal in aller DeutlichHartmut Schauerte keit sagen: Das ist eine Subventionierung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - auf keinem vergleichbaren Feld, das wir kennen - noch nicht gegeben hat und hoffentlich auch nicht mehr geben wird, da es sonst an unserem Standort wirklich unbezahlbar würde. ({2}) Dabei habe ich zum Beispiel ganz außer acht gelassen, daß wir 15 Milliarden DM pro Jahr in die Knappschaft stecken. Dieser Zuschuß, den wir leisten, ist ja, so will ich es einmal sagen, eine umgekehrte versicherungsfremde Leistung. ({3}) Dieser Zuschuß hat es in sich. Laßt uns einmal sachlich darüber reden! Diese Veränderungen sind schmerzlich, aber unvermeidbar. ({4}) Aber schauen Sie sich einmal an, welche Veränderungen wir anderen Bereichen zumuten: Die Steinkohle hatte von 1991 bis 1996 einen Belegschaftsabbau von 31 Prozent, jährlich 7500 Stellen, zu verzeichnen, der Bereich Textil/Bekleidung im gleichen Zeitraum einen Abbau von 38 Prozent, jährlich 23 000 Stellen. Beim Maschinenbau betrug der Abbau 25 Prozent, jährlich 58 000 Stellen. ({5}) Vor diesem Hintergrund haben wir doch wirklich Enormes für die Kohle und die Kumpel getan. Das sollte man einmal anerkennen. ({6}) Man sollte nicht nur permanent herummäkeln. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege - Hartmut Schauerte ({0}): Nein, ich lasse keine Fragen zu. - Für keinen Bereich wird soviel getan wie für diesen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich habe Sie nicht verstanden. Sie lassen keine Fragen zu?

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich lasse im Moment keine Fragen zu. Wenn Sie es immer noch nicht glauben, will ich es noch einmal deutlich machen: Die Subvention pro Arbeitsplatz lag im Jahr 1986 bei 41 000 DM, im Jahr 1991 bei 86 000 DM und im Jahr 1996 bei 135 000 DM, bei 11,5 Milliarden DM insgesamt. ({0}) Das reicht; wir tun eine Menge für die Kohle. ({1}) - Ziemlich wenig. - Mehr kann man - auch mit Blick auf die anderen Branchen und mit Blick auf die Belastung mit Steuern und Abgaben in Deutschland - wirklich nicht verantworten. ({2}) Ich möchte aber noch einen anderen Aspekt aufgreifen, der mir sehr wichtig ist: Was passiert nach dem Jahr 2005? Ich lege großen Wert darauf, daß wir das redlich miteinander verabreden; denn wir haben nur eine Vereinbarung bis zum Jahre 2005. Vermutlich - ich sage sogar: unvermeidlich - wird der Anpassungsprozeß an diesem Jahrestag nicht sein Ende nehmen; er wird vielmehr weitergehen. ({3}) Es ist nicht zu erkennen, daß sich bis zu diesem Zeitpunkt die Verhältnisse so gravierend verändert haben werden, daß wir dann sagen könnten: Die Strukturen, die wir jetzt haben, rechnen sich, sind bezahlbar, sind geboten und angesichts der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung, die wir tragen, verantwortbar. Das ist eine schwierige Aufgabe. Ich bitte nur um eines: Wecken wir keine falschen Hoffnungen! Tun wir nicht so, als sei das der Sockel! Es wird notwendigerweise ganz andere Sockelentwicklungen geben müssen, es sei denn, die Verhältnisse ändern sich. Ich sehe nicht, daß sie sich ändern. Deswegen: Wecken Sie bitte keine neuen Hoffnungen! Ich möchte nicht in wenigen Jahren wieder den Vorwurf hören, die Politik habe zugelassen, daß sich die Betroffenen etwas vorstellen konnten und nun kurzfristig ins kalte Wasser geworfen werden. Das nennt man dann Vertrauensbruch, Wortbruch. Wir wirken an der langsamen, systematischen Vorbereitung eines - später möglichen - neuen Vorwurfs, wir hätten unser Wort gebrochen, nicht mit. ({4}) Wir werden das ganz sorgfältig offenhalten müssen. Ich darf auch die SPD bitten, in diesem Punkt wirklich mitzumachen. Eine letzte Bemerkung, weil wir das Ganze auch vor dem europäischen Hintergrund diskutieren: Der EGKS-Vertrag läuft im Jahr 2002 aus. Im Jahr 2005 werden alle europäischen Länder ihre Kohlesubventionen auf Null gestellt haben. ({5}) - Alle. Warten Sie es ab! Belgien, Spanien, Frankreich und Großbritannien werden ihre Subventionen im Jahr 2005 auf Null stehen haben. ({6}) Dann müssen auch Sie sich sorgfältig darauf vorbereiten. Wir müssen uns darauf vorbereiten, daß zu diesem Zeitpunkt eine erneute hohe Subventionierung auf Genehmigungsprobleme in Europa stoßen würde.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich zum Schluß ein Zitat bringen, warum schneller Strukturwandel sinnvoll ist. Die FAZ vom 12. November 1997 schreibt zu Rheinhausen - ein hochinteressanter Vorgang -: „Die vor zehn Jahren von den Arbeitern des Rheinhausener Krupp-Stahlwerks erkämpfte Verschiebung der Stillegung war rückblickend ein Fehler", sagt Ralf Meurer, der Geschäftsführer der Duisburger Gesellschaft für Wirtschaftsförderung. „Hätte man schon 1989 mit der Ansiedlung neuer Betriebe auf dem Stahlwerksgelände beginnen können, wären wir heute weiter." Lassen Sie uns die Fehler von Rheinhausen nicht wiederholen! Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich Herrn Abgeordneten Urbaniak das Wort.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schauerte, wir sind uns darüber im klaren, um welchen Komplex in der Energiepolitik es sich handelt. Wenn Sie sich die Geschichte des Steinkohlebergbaus und des Braunkohlebergbaus nach 1945 betrachten, so stellen Sie fest, daß wir zu Beginn der 60er Jahre in beiden Bereichen fast 1 Million Beschäftigte hatten. Die Zahl der Beschäftigten ist zurückgenommen worden, und das hat natürlich Folgen für ihre eigene Versicherung. Darum war schon damals die Verpflichtung des Bundes aus der Reichsversicherungsordnung notwendig, um die Zahlungsfähigkeit des Versicherungszweiges der Knappschaft sicherzustellen. Darüber kann man hier doch nicht lamentieren! Das ist eine Selbstverständlichkeit, weil wir das auch in anderen Bereichen tun. Dies ist ebenfalls Ausdruck des Strukturwandels in diesem Bereich. Wir hoffen, daß das, was vereinbart wurde - Hans Berger hat an Sie entsprechend appelliert -, durchgehalten wird und daß Sie nicht wieder mit einem Artikelgesetz kommen und zu demontieren anfangen. Was wir jetzt haben, muß stehen. Wenn wir regieren, werden wir der Kohle erst einmal eine Perspektive geben. ({0}) - Machen Sie sich keine Hoffnungen, daß Sie dabei sind. Die Bevölkerung hat Sie schon als erledigt erklärt. Die Größenordnung von Subventionen in anderen Bereichen - ich will sie nicht nennen - können Sie überhaupt nicht beziffern. Die Bergleute und die IG Bergbau haben ihren Dienst am Volk getan, und zwar ganz großartig. Sonst hätten wir während des Aufbaus Deutschlands überhaupt keine Grundlagen für die Entwicklung des Wohlstandes gehabt. Jetzt muß die andere Karte gezogen und auch bezahlt werden. Das wollen wir in vernünftiger Weise im Konsens tun. Dafür sollten wir der IG Bergbau und Herrn Berger ganz besonders danken. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Schauerte, bitte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Urbaniak, ich habe zu Beginn meiner Rede gesagt, daß wir Wort halten. Daran gibt es auch nichts zu zweifeln und zu deuteln. Zur Frage der Knappschaft, die Sie besonders erregt hat: Wir haben in vielen Bereichen unserer gewerblichen Wirtschaft massive Strukturanpassungen. Die Konsequenzen aus dieser Strukturanpassung, nämlich Wegfall von Arbeitsplätzen in speziellen Bereichen, tragen alle Versicherten durch ihre Beiträge mit. Die Knappschaft ist ein Sonderfall. Wir wissen, daß dort mittlerweile rund 26 Prozent Beitrag gezahlt werden: 16 Prozent vom Arbeitgeber und 10 Prozent von den Arbeitnehmern. Weil die Knappschaft so gesondert gehalten und gefahren worden ist, gibt es dort jetzt eine besonders große Deckungslücke, die normalerweise in jeder anderen Branche von allen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam mit Versicherungsbeiträgen aufgefangen wird, in diesem speziellen Bereich mit steigenden Beiträgen von jetzt 15 Milliarden DM vom Staat. Wenn auf der einen Seite immer von versicherungsfremden Leistungen gesprochen wird - darüber kann man ja wirklich trefflich diskutieren -, dann gehört es sich auf der anderen Seite, daß man darauf hinweisen kann: Hier macht der Staat mit allgemeinen Steuermitteln für einen speziellen gewerblichen Bereich etwas, was in allen anderen Fällen die Versichertengemeinschaft trägt. Dabei handelt es sich um eine versicherungsfremde Leistung im umgekehrten Sinne. Ich habe ja nicht gesagt: Wir schaffen das ab. Aber wir müssen doch noch die Wahrheit benennen dürHartmut Schauerte fen, ohne daß man in einen falschen Verdacht gerät. Das Schlimmste in dieser politischen Auseinandersetzung ist nämlich, daß wir die Wahrheit und die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Wenn wir das nicht tun, können wir nicht vorwärtskommen und zu Verbesserungen gelangen, die wir im Interesse der Arbeitsplätze in Deutschland dringend brauchen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dietmar Schütz. ({0})

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So akzeptabel die Kohlefrage gelöst ist - mein Dank geht auch noch einmal besonders an Hans Berger, der tüchtig mitgeholfen hat -, so ambivalent ist es, daß gestern die Koalitionsmehrheit in den Ausschüssen für Wirtschaft und Umwelt das Energiewirtschaftsgesetz und das Stromeinspeisungsgesetz abschließend beraten hat - mit nicht akzeptablen Positionen ({0}) gegen die Wettbewerbsfreiheit, bei der Frage des Netzzugangs, der so, wie es jetzt geregelt wird, die bestehenden Monopole begünstigt und sie zementiert, gegen die Wahrung kommunaler Positionen bei der Sicherung kleinerer Stadtwerke und bei der kommunalen Energieversorgung und gegen die langfristigen Perspektiven für regenerative Energien, die schon im Jahre 2000 gedeckelt werden sollen. ({1}) Heute - jetzt komme ich zum heutigen Thema - sollen wir in abschließender Lesung eine Atomrechtsnovelle verabschieden, die die gesetzestechnischen Voraussetzungen für eine neue Reaktorgeneration auf den Weg bringen und die Änderungen auch an bestehenden Atomkraftwerken erleichtern soll, indem man sich nicht mehr an dem dynamischen Prinzip des „Standes von Wissenschaft und Technik" orientiert. Dies ist die neue - und zugleich alte - Prioritätenentscheidung der Bundesregierung für die Weiterentwicklung der Kernkraft, die wir so nicht akzeptieren. ({2}) Wir akzeptieren auch nicht, daß in die Beratungen eine solche Eile hineingebracht wurde. Am 9. Oktober gab es die erste Lesung. Wir hatten am 29. Oktober eine Anhörung, bei der die Koalitionsfraktionen mit ganzen zwei Personen vertreten waren. ({3}) - Drei. Heute haben wir die zweite und dritte Lesung. Ich frage mich: Wer treibt Sie, was treibt Sie? Für den EPR-Reaktor von Siemens und Framatome besteht, soweit ich die Energielandschaft in der Bundesrepublik überblicke, überhaupt kein Bedarf bei uns, im Gegenteil: Es gibt bei uns eine erhebliche Überproduktion von Strom. Ein prüffähiges Basisdesign für eine standortunabhängige Prüfung liegt allenfalls in Monaten, wenn nicht erst in Jahren vor; also besteht auch von daher kein Anlaß zur Eile. Ich halte das gesamte standortunabhängige Prüfverfahren für völlig überflüssig. ({4}) Sie wollen einzelne Fragen dieses Reaktortyps auf ihre Übereinstimmung mit den Normen des Atomgesetzes überprüfen. Das Ergebnis dieser Prüfung - so haben Sie das vor - soll im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Dies klingt nach einem feststellenden Verwaltungsakt, wäre da nicht Ihre Erklärung in der Begründung des Gesetzentwurfs. Aus ihr geht nämlich hervor, daß eine Bindungswirkung für diese Prüfung gar nicht eintreten soll. Sie veranstalten quasi ein öffentlich-rechtliches Verfahren, ohne allerdings die Öffentlichkeit überhaupt zu beteiligen. Sie wollen eine solche L'art-pour-l'art-Veranstaltung ohne Bindungswirkung durchführen, um - wie Herr Birkhofer in der Anhörung gesagt hat - Signale an das Ausland - dabei handelt es sich wohl um Exportsignale - zu senden. Wie muß man diese Signale interpretieren? Entweder hat das Prüfergebnis zumindest nach dem Prinzip der normativen Kraft des Faktischen eine Wirkung und schafft somit ein Präjudiz für spätere Entscheidungen - dann ist dieses am Bundesrat vorbeigehende Verfahren verfassungswidrig, weil das Prüfergebnis Sie schon bindet -, oder es handelt sich tatsächlich um eine L'art-pour-l'art-Veranstaltung für das Bundesamt für Strahlenschutz und auch für den Antragsteller. Dann ist es völlig nutzlos und hat in dem Gesetz nichts zu suchen. Man kann das Bundesamt für Strahlenschutz auch über einen Gutachterauftrag einschalten. Das ganze Prüfverfahren ist weder Fisch noch Fleisch. ({5}) Ebenso überflüssig ist nach dem Ergebnis der Einlassung aller Experten in der Anhörung die geplante Novellierung der Änderungsgenehmigungen. Schon in der Vergangenheit haben die Gerichte das Verhältnismäßigkeitsprinzip angewendet. Sie haben immer berücksichtigt, daß die Anwendung des dynamischen Prinzips des „Standes von Wissenschaft und Technik" nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterschiedlich erfolgen muß, je nachdem, ob es sich um eine Neuanlage oder um eine Änderungsgenehmigung handelt. Wir haben nicht nur das vage Gefühl, sondern den nachhaltigen Eindruck, daß der Verzicht auf den hohen Standard von Wissenschaft und Technik ein „downsizing" des Standards bedeutet, um die Gerichte an diese unteren Standards zu binden. Die permanente RunderneueDietmar Schütz ({6}) rung von Kernkraftwerken darf nach unserer Meinung nicht zugelassen werden. ({7}) Wir müssen, meine Damen und Herren, an einem dynamischen Fortschreiben der Sicherheitsanforderungen festhalten; sonst verfehlen wir den Schutzauftrag aus Art. 2 GG hinsichtlich Gesundheit und Leben. ({8}) - Nicht EPR, sondern gar kein Atomkraftwerk, Herr Kollege Hirche. ({9}) Mindestens für den Bereich der Schadensvorsorge, also für die Beherrschung von Auslegungsstörfällen, darf es gar kein Verhältnismäßigkeitsprinzip geben. Hier muß - das haben uns die Wissenschaftler noch einmal gesagt - im Rahmen der Schadensvorsorge ohne jeden Abstrich eine Orientierung auf Wissenschaft und Technik vorgenommen werden, und das muß so bleiben. Zum dritten Änderungskomplex, nämlich zu den Entsorgungsbereichen, will ich mich in der Sache nicht äußern. Das wird Frau Heidecke sicherlich tun. Ich will hier nur darauf hinweisen, daß die systematische Aushebelung der Länderkompetenzen und der Ländermitsprache - und dadurch des Bundesrates - zu einem Unterlaufen des föderalen Prinzips auch an dieser Stelle führt; das werden wir nicht hinnehmen. ({10}) Es ist ja jetzt schon fast herrschende Praxis, meine Damen und Herren der Bundesregierung, alles am Bundesrat vorbei zu regeln, weil Sie den Diskurs mit der Länderebene vermeiden wollen. Sie haben - nicht nur auf diesem Gebiet - den Weg der Konsensfindung völlig verlassen, Sie handeln nach der Devise: Friß, Vogel, oder stirb! Für eine derartige Politik bekommen Sie nicht unsere Unterstützung. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Kurt-Dieter Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Urbaniak, ich kann nicht umhin, am Anfang meiner Rede zu sagen: Es wäre ganz schön, wenn sich die Kohle daran erinnerte, daß die Kernenergie über 20 Jahre zur Finanzierung der Kohlesubventionen in Deutschland beigetragen hat. ({0}) Wenn Sie von Solidarität in diesem Lande reden, dann kann ich Ihnen als Niedersachse nur sagen: Die niedersächsischen Bürger und die niedersächsische Wirtschaft haben für die Kohlesubvention im Jahre 1995 noch blanke 850 Millionen DM überwiesen. Und Sie lassen die Kernenergie mit dem Beitrag des Kollegen Schütz schmählich im Stich, Sie weigern sich schlicht und einfach, die Realitäten in diesem Lande zur Kenntnis zu nehmen. Das ist die Wirklichkeit. ({1}) Das zweite, meine Damen und Herren: Es ist ganz interessant, was Frau Schönberger und auch der Kollege Schütz hier zu der Anhörung der Experten gesagt haben. Ich frage mich allen Ernstes, woher Sie die Behauptung nehmen, daß alle, die wir angehört haben, Ihre Auffassung bestätigt hätten, was die Novellierung dieses Gesetzes angeht: sowohl was die Frage der Nachrüstung, die Frage der Verfassungskonformität, die Frage der juristischen Konformität als auch die Frage der technisch-wissenschaftlichen Konformität betrifft. Sie haben sich mit Ihren Experten höchstens blamiert, wenn ich mal an den Auftritt von Herrn Duphorn denke, der gar nicht in der Lage war, auf die Fragen, die wir zu stellen hatten, irgendeine Antwort zu geben. ({2}) Die Experten sind also wirklich kein Beleg für das, was Sie hier vortragen, schon gar nicht für die Verfassungswidrigkeit, die Sie hier behaupten. Und eines weise ich mit allem Nachdruck zurück: daß Sie sich hier hinstellen und - wider besseres Wissen, behaupte ich - die Art. 2 und 20 des Grundgesetzes aus Ihrer Sicht als verletzt ansehen. Sie sollten es unterlassen, der Bundesregierung und der Koalition, die die Mehrheit in diesem Hause hat, zu unterstellen, sie würden die Sicherheit der Menschen in Deutschland mit der Kernenergie aufs Spiel setzen. Das ist eine infame, polemische Diffamierung einer verantwortungsbewußten Politik, wie wir sie in Deutschland betreiben. ({3}) Das dritte, meine Damen und Herren, ist, wenn man sich den Gesetzestext anschaut: Wir bitten Sie überhaupt nicht, mit uns mitzuhalten - obwohl wir uns darüber freuen würden - und die Option der Kernenergie in Deutschland offenzuhalten, weil Sie uns einmal belegen müssen, wie denn eigentlich Ihre Politik im Hinblick auf das aussieht, was wir ja im Anschluß diskutieren. Alle Kernenergieausstiegsmodelle gehen zu Lasten der wachsenden CO2Emissionen. Das ist in Schweden so, das ist anderswo so. ({4}) - Ich kann es Ihnen vielfach belegen, Herr Müller. Es stimmt: Die Kernenergie erspart Deutschland 150 Millionen Tonnen CO2. Sie haben kein Ausstiegskonzept, das klimaverträglich ist. ({5}) In diesem Zusammenhang sage ich: Die Novelle wird, was die Nachrüstung angeht, den Gerichtsurteilen zu Krümmel gerecht. Wir stellen die Option deutlich in den Vordergrund und schaffen damit keine Bürgerbeteiligung ab; sie ist später im Standortverfahren gewährleistet. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Grill - Kurt-Dieter Grill ({0}): Ich beantworte keine Zwischenfragen, Herr Präsident. Wir haben eine Entschließung vorgelegt, die deutlich macht, wie wir uns Entsorgung in Deutschland vorstellen. Frau Schönberger, Ihre Fraktion hat ja einen schönen Antrag verfaßt. Nach dem Lesen habe ich den Eindruck: Die Grünen wollen alle bestehenden Anlagen abschaffen, weil sie nicht geeignet sind. Ihr Fraktionsvorsitzender sagt aber draußen: Aus moralischer und ethischer Verantwortung darf Deutschland keine Auslandsentsorgung vornehmen: Schreiben Sie doch einmal auf grünem Papier auf, was Sie wollen, aber tun Sie nicht so, als könnten Sie mit der Abschaffung der bestehenden Anlagen der Forderung Ihres Fraktionsvorsitzenden nach einer moralisch verantwortbaren nationalen Entsorgung gerecht werden. Schreiben Sie es uns vor der Bundestagswahl auf, damit wir Sie anschließend - wenn das Unglück geschähe, daß Sie in die Regierung kommen ({1}) beim Worte nehmen können. Ich möchte es gerne vorher wissen. Sie haben überhaupt keine Veranlassung, hier über die Einhaltung von Recht und Gesetz durch diese Regierung zu lamentieren. Heute mittag ist in Hannover ein Vertrag zwischen der GNS und der niedersächsischen Umweltministerin veröffentlicht worden. ({2}) - Ein sagenhaftes Stück Papier! Im Juni 1993 haben die Grünen-Abgeordneten Dückert und Kempmann zusammen mit dem Ministerpräsidenten und Frau Griefahn verabredet, die zweite Teilerrichtungsgenehmigung für die PKA in Gorleben nicht zu erteilen. Im September hat ein Beamter Ihrer Couleur der Ministerin aufgeschrieben, daß es rechtswidrig sei, diese zweite Teilerrichtungsgenehmigung nicht zu erteilen. Er wurde innerhalb von Stunden versetzt. Heute hat Frau Griefahn entschieden, daß sie im Zusammenhang mit Gorleben in Zukunft alles ganz brav machen wird, nur damit sie nicht die Schadenersatzforderung - das Landgericht Hannover hätte über eine Klage in Höhe von 24 Millionen DM zu entscheiden - aufgebrummt bekommt. Wenn es überhaupt einen Beleg gibt, daß Sie das Kernenergiegesetz rechtswidrig, willkürlich und fälschlich ausstiegsorientiert genutzt haben, dann ist es dieses Dokument, das heute mittag in Hannover veröffentlicht worden ist. ({3}) Bevor Sie anderen Rechtsbruch vorwerfen, sollten Sie in den Spiegel gucken. Sie stehen für Rechtsbruch an vielen Stellen. Auch in diesem Fall sind Sie daran beteiligt gewesen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Dietmar Schütz das Wort.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Grill, mir ist einfach noch nicht klargeworden - auch Ihre Gutachter haben das nicht deutlich machen können -, worin denn eigentlich der Unterschied liegt zwischen der bestehenden Rechtslage, die ja nach den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts - Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips - festgezurrt ist, und dem, was Sie ändern wollen. Ihre Gutachter haben uns immer erklärt: Schon heute würde das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet. Mir will nicht einleuchten, wieso Sie für Änderungsgenehmigungen die Passage „Prüfung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik" streichen wollen. Darauf sollten Sie konkret eingehen. Sagen Sie, was Sie dadurch zusätzlich gewinnen. Sie müssen doch zugeben, daß man sich beim Nachbessern schon jetzt an diesen Prinzipien orientiert, weil die Gerichte das festgeschrieben haben. Meine Befürchtung ist, daß der Gesetzgeber die Gerichte jetzt möglicherweise auf einen darunterliegenden Standard bindet. Das wäre eine fatale Situation.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Grill, Sie können antworten, bitte. ({0})

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will auf diese etwas flachen Zwischenrufe nicht eingehen. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ich in Gorleben tue, habe ich angefangen zu einer Zeit, als Ihr Bundeskanzler Helmut Schmidt Leute wie mich dafür gelobt hat, daß wir in der Lage sind, die Entsorgung nuklearer Abfälle in Deutschland sicherzustellen. Sie sollten sich schämen, die Leute, die die Arbeit für die Kernenergie in Deutschland tun, auf diese Art und Weise zu diffamieren. ({0}) Herr Kollege Schütz, zunächst einmal zu Ihrer Behauptung hier im Plenum, die Sie in den Raum gestellt haben, daß die Juristen und die technischen Sachverständigen Ihre Auffassung in der Frage der Nachrüstung bestätigt haben. ({1}) - Wenn Sie es nicht gesagt haben, ist es schön. Es war aber so zu verstehen. In dem Sinne stelle ich hier noch einmal sehr deutlich fest, daß keiner der Juristen die Richtigkeit dessen, was an Novelle in diesem Teil vorgeschlagen worden ist, bestritten hat. Das zweite ist, daß wir auch aus dem Gerichtsurteil zu Krümmel Konsequenzen ziehen. Das wissen Sie ganz genau. Das dritte ist, daß es schlicht und einfach eine falsche Behauptung ist, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir machten einen Abstrich bei der Sicherheit der Kernenergie in Deutschland. Nehmen Sie diese falsche Behauptung zurück! Sie können sie gar nicht beweisen. Das ist ein übler Versuch, uns in eine falsche Ecke zu stellen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun spricht als Mitglied des Bundesrates die Ministerin für Raumordnung, Landwirtschaft und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt, Frau Heidrun Heidecke. Ministerin Heidrun Heidecke ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die derzeitige Bonner Atompolitik ist gekennzeichnet von zwei Grundlinien: Sie hebelt systematisch die Interessen der Länder aus, und sie mißt in Ost- und in Westdeutschland auf bezeichnende Weise mit zweierlei Maß. Meine Damen und Herren, die strikte Anwendung der geltenden atomrechtlichen Maßstäbe des Bundes im Geltungsbereich der Länder ruft bei der Bundesumweltministerin regelmäßig eine ganz bestimmte Reaktion hervor. Kaum artikulieren die Länder Sicherheitsbedenken und -forderungen und begründen diese mit geltendem Atomrecht, reagiert der Bund mit dem allbekannten „Weisungsreflex": Landesministerien wird ein Maulkorb umgehängt. So geschehen in Niedersachsen mit Schacht Konrad, so geschehen in Hessen mit Biblis, so geschehen in Sachsen-Anhalt mit Morsleben, dem einzigen bundesdeutschen Endlager für radioaktive Stoffe. Doch lassen sich Sicherheitsbedenken der von Bürgerinnen und Bürgern gewählten Landesregierungen eben nicht per Weisung aus Bonn zerstreuen. ({1}) Meine Damen und Herren, es mutet mich eigenartig an, daß eine Bundesumweltministerin - ausgerechnet eine Ostdeutsche - in dieser Weise versucht, den ansonsten viel und zu Recht gescholtenen Umweltstandards eines Unrechtsregimes zur fortgeltenden Durchsetzung zu verhelfen. Niemand müßte es doch besser wissen als Frau Merkel, wie unzureichend, ja leichtfertig und fahrlässig der Umgang mit und die Entsorgung von radioaktiven Stoffen zu DDR-Zeiten gelaufen ist. Diese verantwortungslose Praxis wollen Sie fortsetzen, indem Sie geltendes bundesdeutsches Recht für das Endlager Morsleben außer Kraft setzen. ({2}) Sie verwechseln „blühende Landschaften" mit strahlenden Endlagern. ({3}) Gegen Ihre mit der Weisungsknute durchgedrückten Wunschvorstellungen „blühender Atomlandschaften" im Osten, Frau Merkel, setzen wir die Anwendung gleichen Rechts und bundeseinheitlicher Sicherheitsstandards. ({4}) Als Vertreterin ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger frage ich: Warum werden wir als Menschen zweiter Klasse behandelt? ({5}) Denn nur so kann ich Ihre Pläne verstehen, in Morsleben noch bis zum Jahre 2005 nach DDR-Recht einzulagern. ({6}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung behauptet, sie wolle gar nicht mehr Abfälle als ohnehin geplant nach Morsleben bringen, sondern sich nur fünf Jahre länger Zeit dafür lassen. Ich kann nur eines sagen: Lassen Sie sich keinen Sand in die Augen streuen! Fakt ist: In den letzten 25 Jahren sind ganze 7 Prozent jenes Strahleninventars eingelagert worden, das jetzt noch unter Bundesaufsicht ohne Planfeststellungsverfahren unter die Erde soll. Das bedeutet: Noch über 90 Prozent des strahlenden Mülls hat Morsleben bis 2005 zu erwarten. Heute werden die strahlenden Altlasten von morgen produziert. Es ist ein beispielloser Countdown angezählt worden, an dessen Ende nicht ein glückliches „Take-off", sondern ein trauriges atomares „Fall-out" stehen mag. Die Bevormundung der Länder setzt sich fort mit der Absicht, über das Bundesamt für Strahlenschutz zugleich auch die atomrechtliche Zuständigkeit für Planfeststellungen an sich zu ziehen oder etwa standortunabhängige Genehmigungsverfahren für eine neue Reaktorgeneration durchzuführen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, ich behaupte: Sie fahren wider besseres Wissen einen atompolitischen Kurs, der in einer Sackgasse mündet. Der von Ihnen angezettelte „Elchtest" in Sachen A-Klasse - hier: Atomklasse - wird Ihnen gründlich mißlingen. ({7}) Ministerin Heidrun Heidecke ({8}) Ihr atompolitischer Schleuderkurs gerät zum Überschlag, da Sie schlichtweg an tragenden Bauteilen herumpfuschen. Für die betroffenen Bundesländer gibt es nichts zu wanken, nichts zu schleudern und nichts zu überschlagen. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Ihnen helfen keine Nachbesserungen am Fahrwerk. Nehmen Sie sich ein Beispiel an der Industrie, nehmen Sie Ihr Modell des Atomgesetzes vom Markt! Wir als Länder werden alles dafür tun, und sei es vor dem Bundesverfassungsgericht. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Frau Dr. Angela Merkel. ({0}) - Eine Sekunde bitte! Die Redezeit beginnt noch nicht. Ich bin gern bereit, zu unterbrechen, bis Ruhe eingekehrt ist. - Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schütz, wir haben den Diskurs - ich bin ein Freund des Diskurses, wir können ihn gern anwenden - in unzähligen energiepolitischen Gesprächen angewandt. Aber irgendwann - das erwarten die Bürgerinnen und Bürger mit Recht - müssen Diskurse zu einem Ende und zu praktikablen Verfahrensvorschriften führen. Genau das haben wir mit der Novelle des Atomgesetzes gemacht. Einige sprechen von der Aushebelung der Mitwirkung der Länder. Ich habe immer wieder gesagt, und ich wiederhole es hier: Finden wir eine Mehrheit im Bundesrat für eine solche Novelle, so bin ich gern bereit, die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern aufzuteilen. Dieses Angebot gilt bis zur abschließenden Beratung im Bundesrat. Was die Rechtmäßigkeit der Atomgesetznovelle anbelangt, so gehört es sicherlich zu den Kuriositäten, daß niemals ein für Recht zuständiger Fachausschuß im Bundestag oder Bundesrat gesagt hat, sie sei nicht recht- oder verfassungsmäßig, sondern es waren immer andere Ausschüsse, die dieses Urteil gefällt haben. Ich glaube, auch das sollte uns ein wenig zu denken geben. Lassen Sie mich kurz zu den zentralen Punkten sprechen. Das Prüfverfahren für die Weiterentwicklung in der Sicherheitstechnik ist Gegenstand heftigster Kritik. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Die Weiterentwicklung der Sicherheitstechnik auf dem Gebiet der Kernenergie ist dafür ausschlaggebend, inwieweit wir auch international vorankommen, inwieweit wir Menschen besser schützen können. Wir als Bundesrepublik Deutschland sollten in Mittel- und Osteuropa und.in anderen Teilen der Welt ein elementares Interesse daran haben, für mehr Sicherheit, als wir heute haben, zu sorgen. ({0}) Deshalb führen wir das deutsch-französische Gemeinschaftsprojekt weiter. Deshalb haben wir zwischen Deutschland und Frankreich harmonisierte Sicherheitsrichtlinien, und deshalb kann das der Ausgangspunkt für mehr Sicherheit weltweit sein. Andere handeln - Sie haben es gesehen -; zwischen China und den Vereinigten Staaten finden Verkäufe von Kernkraftwerken statt. Ich finde, wir sollten uns mit unseren Sicherheitsstandards auf hohem Niveau an dieser Weiterentwicklung beteiligen. ({1}) - Das war überhaupt nicht entlarvend, Herr Abgeordneter, sondern Ausdruck der Tatsache, daß wir Mittel- und Osteuropa nichts, aber auch gar nichts zur Verbesserung der Sicherheit zu sagen haben, wenn wir selber nicht aktiv daran mitarbeiten. Das kann ich Ihnen schriftlich geben. ({2}) Meine Damen und Herren, sicherheitstechnische Verbesserungen müssen nicht nur im Ausland stattfinden, sondern auch bei uns. Die Klarstellung, die wir in diesem Gesetz noch einmal vorgenommen haben, hatte ihre Ursache in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Krümmel, das nahegelegt hat - ich sage das in aller Deutlichkeit -, daß die Investoren oder aber die Betreiber der Kernkraftwerke in Zukunft vielleicht nicht mehr bereit sein werden, Nachrüstungen, die die Sicherheit verbessern, überhaupt noch durchzuführen, weil sie fürchten, daß diese sie wirtschaftlich völlig in den Ruin treiben würden. Dies hieße: weniger Sicherheit. Wir wollen aber mehr Sicherheit. Deshalb sagen wir: Wir müssen den Stand von Wissenschaft und Technik umsetzen, aber natürlich nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wie wir es aus unserem Grundgesetz kennen. Wir haben dies klargestellt, weil wir gesehen haben, daß die Entwicklungen und die gutachterlichen Tätigkeiten in die andere Richtung laufen. Der Vollzug ist hier schon angesprochen worden. Schauen Sie einmal nach Hessen und darauf, wie wir bei der Sicherheitsverbesserung von Biblis vorankommen. Dann werden Sie sehen, daß durch einen Nichtvollzug, durch eine Verschleppung dafür gesorgt wird, daß sicherheitstechnisch nichts mehr gemacht werden kann. Wenn das das Ergebnis von rotgrüner Politik ist, kann ich nur sagen: Das ist gegen die Interessen der Menschen in Deutschland gerichtet. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Schönberger?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Ja.

Ursula Schönberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002786, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, Sie haben vorhin ausgeführt, daß Sie die Regelung in § 7 Abs. 2 des Atomgesetzes gemacht haben, damit es zu einer Verbesserung und nicht zu einer Verschlechterung des Sicherheitsstandards kommt, weil ohne die Regelung, daß Investitionen für die Betreiber auch wirtschaftlich vertretbar sein müssen, diese vielleicht gar nicht mehr nachrüsten würden. Stimmen Sie mir zu, daß das Atomgesetz nach der gegenwärtigen Rechtsprechung die Atomaufsicht - wie in Biblis geschehen - verpflichtet, dafür zu sorgen, daß ein Atomkraftwerk nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zu betreiben ist und daß die Aufsichtsbehörde sogar von sich aus tätig werden und den Betreiber per Auflage dazu verpflichten muß, diese Nachrüstungen zu machen, daß es also nicht im freien Belieben des Betreibers liegt, ob er nachrüstet oder nicht, und daß es allein Ihre bundesaufsichtliche Weisung gewesen ist, die das Land Hessen daran gehindert hat, dieser atomaufsichtlichen Pflicht nachzukommen?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Kollegin, erstens ist es natürlich die Aufgabe der Atomaufsicht, darauf zu achten, daß die Standards eingehalten werden. Das ist überhaupt nicht anzuzweifeln. Zweitens ist es im Zweifelsfall immer besser, daß ein Betreiber auch von sich aus agiert. Das ist zum Teil auch der Fall. Um dies nicht völlig zu unterminieren, ist es wichtig, daß der Betreiber weiß, daß nicht jede Veränderung seiner Anlage hin zu mehr Sicherheit Ausgangspunkt von völlig unsinnigen, verfahrensverlängernden Dingen ist. Genau dies haben wir noch einmal klargestellt. Wir haben auch klargestellt, daß eine Verbesserung der Sicherheit nicht mit Kosten verbunden sein muß, die dazu führen, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht mehr gewahrt ist. Bei allen Maßnahmen - auch bei den atomrechtlichen Maßnahmen -, die wir in unserem Land durchführen, leben wir immer in dem Spannungsfeld zwischen Verhältnismäßigkeit und dem Stand von Wissenschaft und Technik, der im Atomrecht gilt. ({0}) Es geht um dieses Spannungsfeld. Hierzu haben wir noch einmal eine Klarstellung des geltenden Verständnisses des Atomgesetzes vorgenommen, es aber nicht verändert. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat auch vor der Novelle gegolten. Das ist völlig klar.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Erlauben Sie eine zweite Zwischenfrage?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, aber das ist dann die letzte.

Ursula Schönberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002786, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, ich frage nach, ob Sie mir recht geben, daß zwischen sonstigen Industrieanlagen und den Atomkraftwerken ein Unterschied bezüglich der tödlichen Gefahr besteht, die von Atomkraftwerken insbesondere im Falle eines Unfalles ausgehen kann, und daher der Stand von Wissenschaft und Technik und der Sicherheit höher zu gewichten ist als bei anderen Anlagen und in Relation dazu die wirtschaftliche Vertretbarkeit dort nicht in dem Maße gegeben sein kann, wie Sie das mit Ihrer Novelle beabsichtigen?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Kollegin, dies betrifft genau den Unterschied zwischen dem Stand der Technik, der in den einzelnen Umweltgesetzen sogar unterschiedlich definiert ist, und dem Stand von Wissenschaft und Technik, nämlich dem höchsten denkbaren Stand, den wir im Atomrecht als Maßstab nehmen, um die Sicherheit vor den Gefahren für die Gesundheit der Menschen, die von den Kraftwerken ausgehen könnten, zu gewährleisten. Von diesem Stand rücken wir nicht ab. ({0}) Veränderungsgenehmigungen im Immissionsschutzrecht bedürfen in Zukunft zum Teil nur noch der Anzeige, wenn sie zur Verbesserung der Sicherheit beitragen. Darüber redet im Atomrecht kein Mensch. Den Stand von Wissenschaft und Technik als Maßstab gibt es nur im Atomrecht, und zwar aus genau den Gründen, die Sie dargelegt haben. Davon rücken wir auch nicht ab. Wenn Sie sagen: „Das stimmt nicht", dann muß ich Ihnen entgegnen, daß es doch stimmt, daß es genau so ist, und daß es im übrigen so sogar noch im Gesetz steht. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich möchte zwei Dinge nennen, die sich mit der Entsorgung beschäftigen. Es gehört bei dieser Debatte sicherlich dazu, zu sagen, daß es einigermaßen bedauerlich ist, daß das Interesse der Sozialdemokraten an Entsorgungsfragen mit dem Tag gesunken ist, an dem die Kohlefragen geklärt waren. ({1}) Es gehört auch zu den bedauerlichen Erscheinungen dieser energiepolitischen Gespräche, daß diese nicht an den Konzeptionen für die Zukunft gescheitert sind, sondern an den ganz konkreten Fragestellungen unseres Alltags, nämlich: Wohin gehen die nächsten Castor-Transporte? Nach La Hague, nach Gorleben oder nach Ahaus? Auch das muß man sagen. Wir können nicht Projekte für in zehn Jahren schmieden, aber uns nicht damit befassen, was in den nächsten zwei Jahren passiert. Das wäre eine Politik, die nicht verantwortbar wäre. Deshalb sage ich Ihnen: Mit dieser Novelle des Atomgesetzes ist der Weg frei, weiter über alle Fragen zu sprechen, die nichts mit rechtstechnischen Änderungen, sondern mit Vollzug und praktischer Politik zu tun haben. Aus diesem Grunde hoffe ich, daß wir auch für die Fragen der nächsten Jahre zu einer vernünftigen Einigung kommen. Ein abschließendes Wort, Frau Heidecke: Den Antrag zum Planfeststellungsverfahren für die Stilllegung von Morsleben hat diese Bundesregierung durch das BfS gestellt. Sie wissen genauso gut wie ich, daß dieses Planfeststellungsverfahren bis zum Jahr 2000 nicht zu schaffen ist. Sie würden sogar schreien, ich würde die Bürgerbeteiligung ausschalten, wenn ich ein solches Verfahren durchpeitschen wollte, wie Sie das wahrscheinlich nennen würden. Aus diesem Grunde haben wir genauso wie für die Wismut eine Verlängerung der Fristen des Einigungsvertrages in diesem Gesetz vorgenommen - nicht weniger und nicht mehr. Wir werden die vereinbarten Mengen nicht überschreiten. Wir werden das Planfeststellungsverfahren nach westdeutschem Recht durchführen. Wir werden es nicht etwa auf Weiterbetrieb durchführen, sondern auf Stillegung. Dies ist genau meine ostdeutsche Antwort auf die Tatsache - auch das will ich hier ganz klar sagen -, daß es die alte Bundesrepublik bis heute nicht geschafft hat, ein Endlager für mittel- und schwachradioaktive Stoffe aus Medizin, Forschung und anderen Bereichen einzurichten. Das muß sich ändern. ({2}) Deshalb brauchen wir Konrad. Deshalb wird in Morsleben das Planfeststellungsverfahren auf Schließung durchgeführt. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Wir stimmen zunächst über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes und des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz ab. Das sind die Drucksachen 13/8641 und 13/8958 Nr. 1. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/8986 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und einer Stimme aus der SPD gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/8958 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/8987 ({0}). Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der SPD abgelehnt worden. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/8988. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden. Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 4 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen; das sind die Drucksachen 13/8635 und 13/8975. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich nunmehr zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden, also mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: ZP4 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Beschluß der Bundesregierung zum Mimaschutzprogramm der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis des Vierten Berichts der Interministeriellen Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion" ({1}) - Drucksache 13/8936 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Klimagipfel in Moto: Ein neuer Anlauf zum Schutz des Klimas - Drucksache 13/8969 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wiederum die Bundesministerin Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß heute Gelegenheit ist, im Vorfeld der Konferenz von Kioto, der dritten Vertragsstaatenkonferenz, über unsere nationalen Maßnahmen zur CO2-Minderung zu debattieren. Ich kann sagen, daß sich der Vierte Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe CO2-Reduktion genau diesem Ziel verschreibt, wobei er sich in der Kontinuität der anderen Berichte befindet. Sie wissen, daß die CO2-Reduktion seit 1990 systematisch und inzwischen mit über 150 Maßnahmen vorangetrieben wurde. Wenn man den Antrag der SPD-Fraktion liest, so muß man feststellen, daß Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, diese Tatsache offensichtlich überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Es sind bereits in anderen Kabinettsitzungen in den Jahren 1991 und 1994 und nunmehr auch in 1997 Maßnahmen beschlossen worden. Die Bundesregierung hält an dem Ziel fest, die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Wir haben einen Katalog mit über 150 Maßnahmen, der dies unterstreicht. Es wird im übrigen inzwischen auch von den Nichtregierungsorganisationen weltweit anerkannt, daß wir in dieser Republik über Maßnahmen verfügen, die anderswo mit größten Augen bestaunt werden. Als ich jetzt von meinen Kollegen aus Kanada gefragt wurde, was man denn in Deutschland mit der Automobilindustrie mache, damit diese die CO2-Emissionen ihrer Produkte senke, und ich von der Selbstverpflichtung erzählt habe, haben sie mich mit größten Augen angeschaut und gefragt: Auch die Importeure? Ich sagte: Ja, auch die Importeure haben in Deutschland mitgemacht, weil hier ein Klima herrscht, bei dem klar ist, daß wir etwas zur CO2-Minderung tun müssen. Deshalb haben wir auch Erfolge erzielt. Zwischen 1990 und 1996 sind die CO2-Emissionen um 10,3 Prozent - das sind 104 Millionen Tonnen - gesunken. Dabei wurde der Rückgang zwischen 1990 und 1995 durch zwei sehr kalte Winter leider aufgehalten. Wir hoffen aber, daß wir den Trend wieder in die richtige Richtung bringen. Viel wichtiger ist, daß das Verhältnis der energiebedingten CO2-Emissionen zum Bruttoinlandsprodukt in Deutschland zwischen 1990 und 1996 um 19 Prozent gesunken ist. Das zeigt, daß wir in unserem Lande Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch entkoppelt haben. Das ist ein ganz wichtiges Ergebnis. Bei den anderen Treibhausgasen waren erhebliche Reduktionen zu verzeichnen. Wir müssen sagen, daß sich Deutschland mit der Gesamtbilanz international sehr wohl sehen lassen kann und dazu beiträgt, daß die Europäische Union als Ganzes im Jahre 2000 die Verpflichtungen aus der Klimarahmenkonvention mit größter Wahrscheinlichkeit einhalten wird, nämlich die Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union auf das Niveau des Jahres 1990 zu senken. Es wird immer wieder gesagt - das ist einer der Vorwürfe, über die man redlich diskutieren muß -, der gesamte Rückgang der Treibhausgasemissionen sei durch Umstrukturierungen und den Abbau von Industrien in den neuen Bundesländern erreicht worden. Dies ist einerseits richtig. Andererseits haben wir aber in den letzten Jahren in den neuen Bundesländern bis zu 8 Prozent reales Wirtschaftswachstum gehabt, ohne daß die CO2-Emissionen wieder angestiegen sind. Wir haben ferner Effizienzverbesserungen in vielen Bereichen erreicht. Das wird jeder, der durch die neuen Bundesländer fährt, sehen. ({0}) Viel wichtiger ist aber, daß sich auch in den alten Bundesländern die spezifischen CO2-Emissionen pro Kopf verringert haben, nämlich von 12 auf 11,1 Tonnen, wobei dies aber leider durch das Bevölkerungswachstum - wir haben heute 3 Millionen mehr Menschen - wieder aufgefressen wurde, was uns nicht zufriedenstellen kann. ({1}) Aber ich sage ganz deutlich: Pro Kopf gesehen sind die CO2-Emissionen auch in den alten BundeslänBundesministerin Dr. Angela Merkel dern gesunken. Ich finde, wir müssen auch einmal Hoffnung verbreiten, damit nicht immer wieder die alte Leier vorgebracht wird, es gehe nichts, es ruiniere den Wirtschaftsstandort Deutschland. Das Gegenteil zu beweisen ist unsere gemeinsame Aufgabe. Meine Damen und Herren, wir wissen, daß wir mit den bisherigen Maßnahmen nach allen Prognosen und Szenarien, die uns vorliegen, bis zum Jahre 2005 gegenüber 1990 eine CO2-Minderung von etwa 15 bis 17 Prozent erreichen werden. Die Konsequenz heißt, wir brauchen neue, zusätzliche Maßnahmen. ({2}) - Herr Müller, es ist doch ein ganz normaler Vorgang, daß man, wenn man sich ein Ziel für einen Zeitraum von 15 Jahren, nämlich von 1990 bis 2005, setzt, zwischendurch Schritte definiert. Wir haben weit über 100 Maßnahmen. Wir haben jetzt geschaut, was sie bringen. Dann macht man ein neues Szenario und sagt, man brauche noch zusätzliche Maßnahmen. Das ist bei einer langfristig angesetzten Politik doch das Normalste von der Welt. Wir haben jetzt eine CO2-Reduktion von 15 bis 17 Prozent bis 2005. Das bedeutet, daß wir noch eine zusätzliche Reduktion von 8 bis 10 Prozent brauchen. Das macht 80 bis 100 Millionen Tonnen aus. Wir haben hierfür im Kabinett einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, über den wir heute diskutieren wollen. Frau Präsidentin, ich habe 15 Minuten Redezeit und nicht fünf. Insofern irritieren mich die Null bzw. das Minuszeichen hier am Rednerpult. Wir arbeiten zwar an der Reduktion von CO2; aber ich möchte- hier nicht im Minusbereich sprechen. Das verwirrt mich.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Auf meinem Zettel steht, daß von Ihrer Fraktion eine Redezeit von fünf Minuten angemeldet worden ist. Sie dürfen, grundgesetzmäßig verankert, natürlich sowieso so lange reden, wie Sie wollen. Vielleicht können wir das eben klären. Jetzt reden Sie erst einmal in Ruhe weiter.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Ich will die im Kabinett vorgestellten Maßnahmen nennen. Zum einen ist es die Weiterentwicklung der Erklärung der deutschen Wirtschaft zur Klimavorsorge. Wir werden in der nächsten Woche gemeinsam mit der Wirtschaft den ersten Monitoring-Bericht entgegennehmen. Wir erwarten von dieser Weiterentwicklung eine zusätzliche CO2-Minderung von 10 bis 20 Millionen Tonnen. Wir wollen den Einsatz erneuerbarer Energien fördern. Ich glaube, mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes und dem dazugehörigen Stromeinspeisungsgesetz wird uns ein wichtiger Schritt gerade in Richtung Biomasse gelingen. Wir wollen die Wärmeschutzverordnung und die Heizungsanlagen-Verordung im Zusammenhang mit einer Energiesparverordnung novellieren. Das bringt eine weitere Einsparung von 16 bis 24 Millionen Tonnen CO2. Wir wollen die verstärkte Nutzung der industriellen und kommunalen Kraft-Wärme-Kopplung. Wir wollen Fortbildungsprogramme sowie eine verstärkte Information und Aufklärung zu kraftstoffsparendem Fahren. Darüber hinaus halten wir noch eine ganze Reihe von weiteren Maßnahmen für erforderlich, so die Einführung einer EU-weiten aufkommens- und wettbewerbsneutralen CO2-/Energiesteuer oder einer vergleichbaren steuerlichen Regelung. Dies bleibt auf der Tagesordnung und wird vorangetrieben. Wir wollen streckenbezogene Straßenbenutzungsgebühren für Lkw einführen mit dem Ziel, die Wegekosten gerechter zu gestalten. Außerdem haben wir die Selbstverpflichtung der Automobilindustrie erreicht, von der ich schon gesprochen habe. Außerdem sollten wir auch nicht übersehen, daß wir bei den abfallwirtschaftlichen Aktivitäten ein erhebliches Minderungspotential ausschöpfen werden und daß die Einbindung von Kohlenstoff in CO2-Senken in der CO2-Bilanz der Bundesregierung nicht enthalten ist, obwohl dazu im Rahmen der internationalen Klimarahmenkonvention die Möglichkeit gegeben wäre - auch dies sollte ein wichtiger Punkt in Kioto sein -, und daß es neben den Aktivitäten der Bundesregierung erfreulicherweise auch noch Länder und Kommunen gibt, in denen erfreulicherweise im Zusammenhang mit dem Agenda-21-Prozeß inzwischen vieles Wichtige geschieht, das zu weiteren Reduktionen führen wird. Ich halte es für richtig, daß wir unser nationales Programm in die europäische Klimaschutzstrategie einbeziehen und versuchen wollen, hier weitere Dinge voranzutreiben. Ich nenne die internationale, über Europa hinausgehende Besteuerung von Flugkraftstoffen - ein ganz wichtiger Punkt. All das sind wichtige Projekte, die zu CO2- Minderungen führen. Wir machen das gerne; wir müssen nur noch einige Länder überzeugen. ({0}) Zum deutschen Klimaschutzprogramm gehören auch die sogenannten „joint implementations" oder die „activities implemented jointly"-Projekte, von denen wir inzwischen eine große Zahl unterstützen: Windkraftanlagen in Lettland, Solar-Hybrid-Konzepte in Indonesien, Optimierung des Energieverbrauchs von Kompressorstationen beim Erdgastransport in Rußland sowie die Sanierung der Energieversorgung des Skoda-Werkes und die Errichtung und Sanierung von Zementwerken in Tschechien. Ich glaube, die gemeinsame Umsetzung solcher Programme mit mittel- und osteuropäischen Staaten und den Entwicklungsländern ist ein ganz wichtiger Schritt. Die Bundesregierung tritt für eine Koordinierung dieser Maßnahmen im gemeinsamen Wirtschaftsraum der Europäischen Union ein. Ich möchte hier ausdrücklich hervorheben, daß es im Hinblick auf die Klimaverhandlungen in Kioto von größter Bedeutung ist, daß die Europäische Union vorgeschlagen hat, die Emmissionen von CO2, CH4 und N2O bis 2005 um mindestens 7,5 % und bis zum Jahre 2010 um 15 Prozent zu reduzieren. Daß die Europäische Union dies vorschlagen konnte, ist darin begründet, daß die Bundesrepublik Deutschland erhebliche Anstrengungen und erhebliche Beiträge für diese Reduktion leistet. Deshalb können wir bei den Verhandlungen in Kioto selbstbewußt auftreten und von unseren Erfolgen vor Ort berichten, damit die Horrorszenarien, wie sie leider in den Vereinigten Staaten zu Zeit in Werbespots gezeigt werden, endlich einmal entkräftet werden. Wir können zeigen, daß die Maßnahmen zur Energieeinsparung und zur CO2-Reduktion auch richtige Gewinnoptionen für unsere eigene Wirtschaft beinhalten. Genau dies wird nämlich immer wieder übersehen und wird uns auch von den Entwicklungsländern nicht geglaubt, wenn wir es nicht am eigenen Beispiel belegen. ({1}) In Kioto stehen uns allen sehr schwierige Verhandlungen bevor. Ich würde sagen, es werden mit die schwierigsten Verhandlungen sein, die wir jemals im Umweltbereich zu führen hatten, weil es um rechtlich bindende Verpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasen auf der Basis von meßbaren Zahlen und Fakten geht. Das ist sehr viel schwieriger, als allgemeine Texte aufzustellen. Wir werden deshalb auch weiter sehr entschieden dafür werben müssen, daß die Vorschläge, die heute von den Vereinigten Staaten und Japan auf dem Tisch liegen, verbessert werden ({2}) und daß andere Länder, die überhaupt noch keine Vorschläge unterbreitet haben, dies nun endlich einmal tun. Ich denke dabei an Australien, Neuseeland, Kanada und viele andere Länder. Wir werden weiter weltweit für unser nationales Know-how werben müssen und sagen: Es ist ein Fortschritt nicht nur für das Klima, sondern auch für die Verbesserung der Energieeffizienz und damit für die Verbesserung unserer Standorte. Ich denke, daß die Bundesregierung mit dem vorgelegten Bericht einen wichtigen Schritt gegangen ist, der zeigt, daß das CO2-Minderungsziel von 25 Prozent auch bei wirtschaftlichem Wachstum erreichbar ist. Wir können das schaffen. Dafür wollen wir weiter arbeiten. Herzlichen Dank. ({3})

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Die reale Gefahr einer durch Menschen verursachten Klimakatastrophe fordert uns alle. Deshalb, Frau Ministerin, sagen wir unbeschadet aller Kontroversen auf diesem Gebiet: Wir wünschen einen Erfolg der Konferenz in Kioto. Wir sagen auch, daß wir jede Ihrer Anstrengungen, die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, unterstützen. Das gilt unbeschadet aller sonstigen Kontroversen in diesem Feld. ({0}) Hier geht es nicht um Peanuts; hier geht es um eine Herausforderung, die mit der Frage der Friedensfähigkeit der Menschheit gleichzusetzen ist. Der Wunsch nach Erfolg der Konferenz von Kioto wird daher ungeachtet aller Meinungsunterschiede von uns mitgetragen. ({1}) Man darf es nicht leichtmachen und sagen, Klimaänderungen seien eine Folge der Erhöhung der Temperatur in allen Breiten der Erde. Tatsächlich sind Klimaänderungen gekoppelt mit zum Teil gravierenden Verschiebungen aller unserer wichtigen Lebensfaktoren wie beispielsweise der Windverhältnisse, der Niederschlagsverteilung, der Eisschichten und - darauf möchte ich am Anfang ein wenig zu sprechen kommen - der Meeresströmungen. Es ist wirklich besorgniserregend, was im Augenblick insbesondere im Pazifik vor der lateinamerikanischen Küste passiert, nämlich die Aufquellung des Ozeans im Zuge der Erwärmung auf Grund des ElNiño-Effektes. Es ist richtig, wenn man sagt: Der ElNiño-Effekt ist ein Effekt, den wir seit 150 Jahren kennen und der schon etwa vierzigmal vorgekommen ist. Was uns aber Sorge macht, ist, daß dieser Aufwärmungsprozeß eine immer größere Wucht, eine immer größere Ausdehnung annimmt und eine immer höhere Temperatur bewirkt. Dieses ist ein sehr gefährliches Zeichen von Klimaänderung; denn wir wissen aus Forschungsarbeiten, daß die Meeresströmungen eigentlich sehr träge reagieren. Das bedeutet: Was wir im Augenblick auf der anderen Seite unserer Erde erleben, ist ein alarmierendes Zeichen dafür, daß der Prozeß der durch Menschen verursachten Klimaänderungen sehr viel weiter vorangeschritten ist, als wir auf Grund unserer momentanen Beobachtungen erkennen können. ({2}) Es ist ein Alarmzeichen. Wir müssen handeln. Sonst gefährden die zerstörerischen Folgen des El-Niño-Effektes unsere Lebenschancen. Die Folgen des El-Niño-Effekts sind nicht nur darin zu sehen, daß beispielsweise schon mehrere lateinamerikanische Länder den Notstand ausgerufen haben. Es gibt nicht nur - das kennen wir aus den Zeitungen - die dramatische, anhaltende Dürre in Indonesien, Malaysia und Neuguinea mit der Folge großer Waldbrände, die zum Teil natürlich durch frevelhaftes menschliches Verhalten, aber auch zum Teil durch den ausbleibenden Monsunregen hervorgerufen wurden. Michael Müller ({3}) Ich möchte hinzufügen: Der El-Niño-Effekt wirkt sich besonders in den ärmsten Regionen der Erde aus. Es muß uns angst machen, wenn wir erleben, daß in Afrika auf Grund der Klimaänderung eine zweite große Hungerzone entsteht, wo nach Angaben der FAO 2,6 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind. Diese Folgen gehen uns alle an, denn wir sind die Hauptverursacher von Klimaänderungen. Deshalb dürfen wir nicht sagen: Das sind Prozesse, die auf der anderen Seite der Erde stattfinden. Nein, wir sind die Verursacher, und deshalb haben wir eine besondere Verpflichtung, darauf hinzuwirken, daß die Konferenz von Moto ein Erfolg wird. ({4}) Die Klimaveränderungen zeigen uns vielerlei. Erstens. Die Erde wird mehr und mehr zu einer zerbrechlichen Einheit. Zweitens. Klimaveränderungen - das haben wir noch nicht begriffen - haben einen Vorlauf von mehreren Jahrzehnten. Das heißt, es wird auf jeden Fall zu weiteren Verschlechterungen kommen. Wir können sie heute aber nicht mehr verhindern. Sie sind sozusagen schon im System. Drittens. Hauptbetroffene sind vor allem die ärmsten Zonen der Erde, die sich am wenigsten schützen können. Viertens - auch das müssen wir wissen -: Die Hauptprobleme liegen noch vor uns, weil nämlich drei Viertel der Erde unsere Entwicklung noch vor sich haben. Wenn diese Länder nachmachen, was wir ihnen vorgemacht haben, dann ist die Katastrophe da. Wir haben es bei diesen Prozessen letztlich immer auch mit Unwissenheit zu tun. Wir wissen nicht, wie die ökologischen Systeme auf die menschlichen Eingriffe reagieren. Es kann ganz rapide zu Verschlechterungen kommen. Wir müssen deshalb wissen: Was wir derzeit machen, ist nichts anderes als eine neue Form des Kolonialismus gegenüber zukünftigen Generationen. ({5}) Es ist ein unverantwortliches Handeln, wenn wir ökologische Grenzen nicht beachten. Während der hektischen Diskussion über Industriestandorte und über das Motto „Wachstum, Wachstum über alles" haben wir die Lektion der letzten Jahrzehnte anscheinend nicht gelernt. Wir müssen wissen: In der Zukunft ist Wohlstand auch davon abhängig, ob wir ökologische Grenzen beachten. Wachstum und Wohlstand würden in das Gegenteil umschlagen, wenn wir diese Lektion nicht lernen. ({6}) Deshalb: Klimaschutz ist nicht eine Gefahr, sondern eröffnet eine große Chance für die Menschheit, erstens zusammenzuarbeiten und zweitens im Hinblick auf ein neues Modell von Entwicklung zur Vernunft zu kommen. Diese Chance müssen wir nutzen. Wir müssen klarmachen: Klimaschutz ist ein Zwang, unsere Ökonomie und unsere Technik auf eine langfristig verträgliche Basis zu stellen. Nur das gibt der Menschheit eine Zukunft und eine Perspektive. Diese Lektion muß in Kioto insbesondere von den Europäern vertreten werden. Übrigens ist das die Alternative zu dem unsinnigen, ohnmächtigen Kurs der Anpassung an die ökonomischen Strategien von autoritären Entwicklungsdiktaturen in Fernost. Wir Europäer sollten auf die ökologische Karte setzen. Das ist die Chance für Europa. Das ist die Chance für die Welt. ({7}) Frau Ministerin, unser Problem ist, daß in Deutschland ein eklatanter Widerspruch zwischen Ankündigung und Taten besteht. ({8}) Deshalb muß man immer wieder den Beschluß der Bundesregierung vom November 1990 zitieren. Er lautete: Wir wollen in der Bundesrepublik, und zwar in den alten Bundesländern - ich wiederhole: in den alten Bundesländern - eine absolute CO2-Reduktion um mindestens 25 Prozent bis zum Jahre 2005 erreichen. Dann ging der Beschluß weiter: und in den neuen Bundesländern um einen deutlich höheren Prozentsatz. Wenn wir heute eine Bestandsaufnahme machen, so ergibt sich, daß es zu einer tendenziellen Entkoppelung zwischen Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum gekommen ist. Aber real, also absolut - darauf war es bezogen -, hat es in Westdeutschland, also in den alten Bundesländern, noch in keinem Jahr eine Reduktion der CO2-Emission gegeben. Das ist die traurige Wirklichkeit. Es hat eine dramatische Reduktion auf Grund verschiedenster Faktoren in den neuen Bundesländern gegeben. Aber auch da steigen die Zahlen seit 1996 wieder an. Das ist leider das Bild, das wir zeichnen müssen. Wir sollten uns an der Wahrheit nicht vorbeidrücken. Ich will es auf den Punkt bringen: Es ist schön und gut, Frau Ministerin, wenn Sie sagen, daß das Umweltministerium Klimaschutz ernst nimmt. Wir verlangen aber, daß die Bundesregierung insgesamt Klimaschutz ernst nimmt. Das sehen wir nicht. Wir sehen das weder beim Landwirtschaftsminister noch beim Wirtschaftsminister, noch beim Verkehrsminister. Das ist das eigentliche Problem. ({9}) Wir haben bis heute nicht begriffen, daß Klimaschutz eine Chance für die Erneuerung und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist. Deshalb muß dies unabhängig von Kioto auf der Tagesordnung bleiben. Wir verlangen daher unabhängig davon, wie die Konferenz ausgeht: Machen wir in der Bundesrepublik Ernst! Machen wir in der Europäischen Union Ernst. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lange erwartet und lange gefordert worden ist das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung, mit dem nachgebessert werden sollte, damit das Klimaschutzziel noch erreicht werden kann. Lange lief Frau Ministerin Merkel damit schwanger. ({0}) Aber das, was jetzt auf den Tisch gelegt wurde, ist kein properes Kind, noch nicht einmal ein schwächliches Kind. Es ist schlicht und einfach überhaupt nichts. Von einem Klimaschutzprogramm kann man dabei einfach nicht reden. Da werden keine Ärmel hochgekrempelt, um das CO2-Ziel doch noch zu erreichen, sondern es ist einfach nur der Versuch, zu blenden und das andauernde Nichtstun mit Sprechblasen zu überdecken. Die IMA-Vorschläge sind absolut substanzlos. Ich bringe einmal ein paar Beispiele. Wir suchen vergeblich nach einer Verstärkung des Altbausanierungsprogramms. Hier liegt das größte Potential für den Klimaschutz. Aber das ist wohl in den Waigelschen Haushaltslöchern versickert. Die Wärmeschutzverordnung haben Sie schon im Koalitionsvertrag stehen. Sie ist jetzt vier Jahre angekündigt, verschleppt und verzögert und kommt jetzt als Wahlversprechen auf den Tisch. Zur Förderung regenerativer Energien. Angesichts dessen, daß nur Demonstrationen und gute Oppositionsarbeit verhindern, daß von Ihnen das Stromeinspeisungsgesetz demontiert wird, ist es geradezu eine Frechheit, auf die Selbstverpflichtung der Stromkonzerne zu setzen. Im Verkehrsbereich - das ist absolut lächerlich - bei einer zu erwartenden Steigerung von 10 Prozent des Pkw- und 40 Prozent des Lkw-Verkehrs in nächster Zeit nur auf eine Aufklärungskampagne für treibstoffsparendes Fahren zu setzen ist die Hilflosigkeit in Person. ({1}) So werden Sie das CO2-Ziel leider nicht erreichen. Das ist der Offenbarungseid Ihrer Politik, der Schlußpunkt unter einer erfolglosen Umweltpolitik. Sie haben trotz Ihrer vorsichtigen Worte hier folgendes nicht begriffen: Klimaschutz und Umweltschutz sind für den Wirtschaftsstandort Deutschland keine Hemmnisse, sondern können, wenn es richtig gemacht wird, zum Modernisierungsmotor für Politik und Wirtschaft werden. Grüne Politik richtig betrieben bedeutet eben auch, schwarze Zahlen zu schreiben. Vor allem stärkt dies den Innovationsstandort Deutschland. Bei wachsender Weltbevölkerung, wachsendem Güterverbrauch und gleichzeitig sinkender Fähigkeit der Erde, Emissionen und Abfälle aufzunehmen, sind Umwelttechniken ein absolut sicherer Zukunftsmarkt. Die OECD spricht dabei von Wachstumsraten um 5 Prozent. Der Einsatz der Photovoltaik wächst jährlich um 18 Prozent. Man muß Pionierland sein, um auf diesem Markt mitzumischen. Wenn Sie immer nur warten und Ihre Maßnahmen erst dann durchführen, wenn andere diese Märkte besetzt haben, dann werden Sie hier keinen Blumentopf gewinnen können. ({2}) Also Mut zur aktiven Klimaschutzpolitik! Dann werden wir im Innovationswettbewerb bestehen. Das bedeutet dann aber auch, nationaler Vorreiter im Umweltschutz zu sein. Notwendig dafür wäre, Maßnahmen durchzuführen, die den Klimaschutz auf der einen Seite entscheidend voranbringen und auf der anderen Seite auch deshalb akzeptiert werden, weil sie die Lösung anderer Probleme bringen. Dazu gehört zum Beispiel die ökologische Reform des Finanzsystems. Sie jammern darüber, daß Sie die Rentenbeiträge eigentlich nicht erhöhen wollten und beschlossen dies sogar im Kabinett. Die Lösung wäre die Einführung einer Energiesteuer oder die Erhöhung der Mineralölsteuer. ({3}) Dazu gehört genauso die Ausdehnung des Wirkungsbereiches des Stromeinspeisungsgesetzes auf den Bereich der Photovoltaik, um eine kostendekkende Vergütung zu erreichen und dadurch eine Innovationsoffensive zu starten. Dazu gehören ein großangelegtes Altbausanierungsprogramm und eine Investitionsoffensive für die Schiene, um Arbeitsplätze zu schaffen und damit der Bauwirtschaft eine Zukunft zu geben. Wir sind uns dabei völlig einig, daß die Vorschläge der USA und Japans für Kioto völlig unakzeptabel sind. Dadurch, daß die USA auch die Entwicklungsländer in den Klimaschutz einbeziehen wollen, gefährden sie insgesamt das Ergebnis. Auch Japans Position wird in Kioto zu einem absoluten Mißerfolg führen. Im Klimaschutz ist eben keine „Leadership" der USA zu erwarten. Diese müssen die EU und auch Deutschland übernehmen. Frau Merkel, wir werden deswegen Ihre Position und die Position der EU in Kioto unterstützen. Ich möchte Sie darin bestärken, nicht auf den Druck von Japan einzugehen, schon jetzt in Richtung Kompromisse zu marschieren. Wenn aber in Moto kein Erfolg zustande kommt, dann tragen auch Sie Mitschuld daran, daß die deutschen und europäischen Forderungen so lange unglaubwürdig bleiben, bis sie im eigenen Land mit aktiver Politik unterfüttert werden. Sie tragen Verantwortung auch dafür, daß die Stimmung in diesem Lande, die Gefahren des Treibhauseffektes zu verharmlosen oder auch zu verleugnen, stärker wird. Das nämlich ist der Ausweg, den sich die Gesellschaft suchen wird, wenn in Kioto ein Scheitern zustande kommt und wenn der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln bestehenbleibt. Am Ende steht dann nämlich Verdrängung, weil dieser Widerspruch für die Gesellschaft und auch für den einzelnen nicht dauerhaft auszuhalten ist. Sie werden leider bis 1998 weiterdümpeln. Hoffentlich haben wir dann eine neue Regierung, die die verlorene Zeit Ihrer Amtsperiode, Frau Merkel, wieder aufholt. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hustedt, Sie sollten sich eigentlich freuen, daß wir heute über den Vierten Bericht der IMA zur CO2-Reduktion diskutieren. Noch in der vorletzten Debatte in diesem Hause haben Sie uns schlicht und ergreifend nicht zugetraut, daß dieser IMA-Bericht vorgelegt wird und man sich überhaupt einigen könnte. Es wurde Ihnen wieder einmal bewiesen, daß man sich natürlich geeinigt hat, zusätzliche Maßnahmen vorschlägt und diese jetzt auch vorlegt. Eigentlich müßten Sie erst einmal sagen, daß Sie sich in den vergangenen Monaten fürchterlich getäuscht haben. ({0}) Ich freue mich auch, daß die Bundesregierung mit diesem IMA-Bericht unterstreicht, daß sie an ihrem Ziel, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent zu reduzieren, festhält. Das wird mit der Festlegung neuer Maßnahmen dokumentiert. Wenige Wochen vor dem Beginn der 3. Vertragsstaatenkonferenz zum Klimaschutz in Kioto ist das ein wichtiges Signal der Bundesrepublik Deutschland an die anderen Verhandlungspartner. Es zeigt nämlich, daß wir bereit sind, im eigenen Land Maßnahmen zu ergreifen, um die CO2-Emissionen drastisch zu verringern. Das ist um so wichtiger, als in den letzten Wochen auch andere Industriestaaten ihre Vorstellungen zur CO2-Reduktion vorgelegt haben. Insbesondere die Ankündigung der USA war ein herber Rückschlag auf dem Weg, in Kioto zu verbindlichen Vereinbarungen zu kommen. Die USA als weltweit größter CO2- Emittent sind mit ihren Ankündigungen weit hinter den bereits festgelegten Werten der Klimarahmenkonvention zurückgeblieben. Die Vertragsstaaten dieser Klimarahmenkonvention hatten sich nämlich bereits verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2000 auf das Niveau des Jahres 1990 zurückzuführen. Die USA wollen das jetzt auf die Jahre 2008 bis 2012 hinausschieben. Dieser Vorschlag mag zwar Ausdruck der innenpolitischen Lage sein, aber für grundlegende Fortschritte im Klimaschutz ist er schädlich. Ich finde, das ist eine kleinliche und peinliche Haltung für ein Land, das selbst den Anspruch erhebt, eine führende Industrienation zu sein. Aber auch die Haltung des gastgebenden Landes Japan - das wurde schon angesprochen - bringt nicht gerade große Dynamik in die Verhandlungen. Ich halte das Reduktionsziel der EU, nämlich eine Reduzierung der Treibhausgase um 15 Prozent bis zum Jahre 2010 auf der Basis von 1990, für das Minimum, auf das auch andere Industrieländer eingehen müssen. Auf die Industrieländer entfallen heute immerhin drei Viertel des weltweiten Energiebedarfs, und sie verursachen etwa drei Viertel des damit verbundenen CO2-Ausstoßes. Nur wenn die Industriestaaten mit gutem Beispiel vorangehen, werden auch die sich entwickelnden Länder zu einer Beschränkung des Zuwachses ihrer Treibhausgasemissionen bereit sein. Insofern war der europäische Kompromiß aus deutscher Sicht - wir wollten gerne weiter gehen - zwar nicht ausreichend, aber immerhin hat er ein wichtiges internationales Signal gesetzt. Für die Verhandlungen in Kioto bleibt es von besonderer Bedeutung, daß die Europäer auch in den weiteren schwierigen Verhandlungen Einigkeit demonstrieren und sich nicht auseinanderdividieren lassen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, den bisherigen Abstimmungsprozeß mit den europäischen Partnern bis zur Konferenz noch weiter zu verstärken. Allerdings freue ich mich - auch das sollte man an dieser Stelle bemerken -, daß sich die Entwicklungsländer, China und die OPEC-Staaten nicht zuletzt auf Grund intensiver Gespräche mit der Bundesregierung mittlerweile dem europäischen Vorschlag angeschlossen haben. In dieser Hinsicht ist vieles in Bewegung gesetzt und einiges erreicht worden. Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland hat international unbestritten die Funktion des Motors für die Entwicklung des Klimaschutzes übernommen. Ich denke nicht, Frau Kollegin Hustedt, daß Sie sich hinstellen und die Bundesregierung dazu erst noch auffordern müssen. ({1}) Wir sollten uns einmal angucken, was die Grünen in ihrem Entschließungsantrag und auch in ihren Reden im Plenum zu diesen Punkten vortragen und wie sie das Problem lösen wollen. Zunächst schreiben Sie, es sei „nicht nachvollziehbar", warum die freiwilligen Selbstverpflichtungen „nachgebessert werden müssen", wie es im IMA-Bericht vorgeschlagen ist. Ich glaube, Sie haben wieder einmal nicht aufgepaßt: Das muß nicht nachgebessert werden, man will das machen. Bereits in den Jahren 1995 und 1996 hat man Anpassungen vorgenommen: Man hat zum Beispiel das Basisjahr von 1987 auf 1990 geändert, man hat die relativierende „bis zu" -Klausel herausgenommen, und man hat zusätzliche Verbände gefunden, die sich dieser Vereinbarung angeschlossen haben. Das ist doch ein dynamischer Prozeß. Wenn man sieht, daß es besser läuft als erwartet, dann sollte man gemeinsam schauen, in welchen Punkten man noch weiter gehen kann und welche zusätzlichen Maßnahmen man ergreifen kann, um weitere Chancen für die Reduzierung der CO2-Emissionen zu schaffen. Deswegen ist es auch kein Widerspruch, das so zu machen; vielmehr ist es vernünftig und richtig. Was Sie daneben bieten, ist ein altbekannter Horrorkatalog. Sie widersprechen sich selber: Sie werfen der Bundesregierung vor, das Kennzeichen dieses IMA-Berichtes sei ein „Übergewicht ordnungsrechtlicher Maßnahmen" und „ein Mangel an ökonomischen Anreizen". Was machen Sie? Sie schlagen eine Reihe von ordnungsrechtlichen Maßnahmen vor und kombinieren das Ganze mit zusätzlichen Steuern und Abgaben. Man hat doch nicht gesagt, die freiwilligen Selbstverpflichtungen würden akzeptiert, und deswegen werde irgend etwas anderes aufgegeben. Wir haben doch vielmehr gesagt: Wenn über freiwillige Selbstverpflichtungen die CO2-Reduktion erreicht werden kann, dann nehmen wir das gerne an. Aber man muß doch nicht noch etwas draufsatteln. Sie aber packen in Ihrem Antrag, wie man es bei Ihnen kennt, wieder beides zusammen. Ein Weiteres ist das immer und ewig währende Konzept „Ausstieg aus der Atomenergie". Sie beantworten aber nicht die Frage, wie Sie dann den Energiebedarf decken wollen. Das Ganze ist doch illusorisch, dilettantisch und unverantwortlich. ({2}) Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. Wenn Sie, Frau Kollegin Hustedt, die ganze Zeit durch die Gegend ziehen und erklären, daß durch gute Oppositionsarbeit im Stromeinspeisungsgesetz Schlimmeres verhindert wurde oder das Energiewirtschaftsrecht verbessert wurde, dann muß ich Ihnen sagen: Ich glaube, Sie wissen nicht, was abgeht. Es interessiert nämlich überhaupt niemanden, ob Sie dazu in irgendeiner Form eine Meinung vortragen, wie Sie es gemacht haben. Die internen Beratungen, die wir geführt haben, in denen wir uns dem Prozeß unterzogen haben, die Vorstellungen der Umwelt- und der Wirtschaftspolitiker zusammenzubringen,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie müssen Ihren letzten Satz nun wirklich zum Schluß bringen.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- haben letztendlich die Verbesserung gebracht. Lassen Sie den Erfolg bitte bei denen, die ihn geschafft haben. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen Monat vor Kioto scheint allerorten die Zeit für umweltpolitischen Aktionismus zu sein. Nun überkam es die deutsche Politik. Nach dem fatalen ergebnislosen Ende der internationalen Vorbereitungskonferenz hier in Bonn vor zwei Wochen bekommt nun auch die deutsche Umweltministerin kalte Füße. Schließlich hat sich, wie wir wissen, ihr Chef bereits 1995 auf eine Reduktion von 25 Prozent bis zum Jahr 2005, bezogen auf das Jahr 1990, festgelegt. Frau Merkel, Sie stehen sicher unter Druck. Von unten drängeln die Umweltorganisationen, denen angesichts der nicht eingelösten Versprechen langsam der Kragen platzt. Von oben wirkt die Industrie, die Energie- und Autolobby, denen jede CO2-Einsparung ein Übel ist. Zusätzlich - das macht die Sache nicht einfacher - blocken die USA und Japan in Sachen Klimaschutz. Für die Wirtschaft ist dies Grund genug, Ihnen die Standortkeule über den Nacken zu ziehen. In diesem Lichte ist wohl das letzten Donnerstag verabschiedete Aktionsprogramm des Kabinetts zum Klimaschutz zu sehen. Auch das Ergebnis der am selben Tag beendeten Bund-Länder-Umweltkonferenz ist wohl nur als ein vorsichtiger Befreiungsschlag zu werten: Hier ein bißchen Wärmedämmung, da ein wenig Kritik am unökologischen Steuersystem - alles häppchengerecht und ohne am Status quo zu kratzen. Mit dem vorrangig auf die Reduzierung von Wärmeverlusten ausgerichteten Aktionsprogramm soll „ein wichtiges Signal an die internationale Staatengemeinschaft" gegeben werden, so die Umweltministerin. Ich würde es lieber eine weitere Seite der Klimaprosa der Bundesregierung nennen. Natürlich sind Zuschüsse für Niedrigenergiehäuser, die Förderung alternativer Energien und die verstärkte Nutzung der Kraft-Wärme-Koppelung zu begrüßen. Doch solange die heiligen Kühe wie Autoverkehr - darüber wurde schon gesprochen - und Ressourcenverbrauch nicht geschlachtet werden, können wir wohl kaum von nachhaltiger Klimapolitik reden. Hat das Bundesumweltamt nicht erst Anfang Oktober bekanntgegeben, daß insbesondere der weiter anwachsende Straßenverkehr in Deutschland alle Bemühungen zunichte machen wird, den CO2-Ausstoß zu verringern? Statt der vom Bundeskanzler versprochenen Senkung von 25 Prozent werden bis zum Jahre 2010 gerade mal 10 Prozent zu erwarten sein. ({0}) - Anstieg. Was die Rohstoffentnahme betrifft, so ist diese entgegen den Verlautbarungen über den Umweltstandard Deutschland seit der deutschen Einheit bis zum Jahr 1994 förmlich explodiert. Dies beweist eine auf den Daten des Statistischen Bundesamtes fußende Pro-Kopf-Betrachtung. Danach stieg die Entnahme um durchschnittlich jährlich 6,6 Prozent auf 129 Prozent. Den ökologischen Rucksack für diesen ungestillten Ressourcenhunger tragen in der Mehrheit andere Völker, sei es durch abgeholzte Wälder, geplünderte Bergwerke oder CO2-Ausstöße beim Transport in die erste Welt. Selbst innerhalb Deutschlands hat sich der Kohlendioxidausstoß trotz des Zusammenbruchs der ostdeutschen Industrie seit 1990 nicht, wie von der Bundesregierung behauptet, reduziert, sondern bis 1994 pro Kopf um 1,3 Prozent erhöht. Angesichts dieses Desasters scheint die angekündigte Novelle zur WärEva Bulling-Schröter meschutzverordnung nur ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Zudem steht die Verabschiedung einer Wärmenutzungsverordnung, die Großenergieerzeuger und -verbraucher zum klimaschützenden Umgang mit Energie verpflichten würde, noch immer im Bonner Nachthimmel. Am Ende meiner Rede bleibt der deutschen Delegation in Kioto viel Spaß zu wünschen. Die PDS wurde ja von der Bundesregierung ausgeladen. Kein sehr demokratischer Akt - oder? ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Lippold. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Freu dich nicht zu früh! Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs einige Bemerkungen zu meinen Vorrednern machen. Einer Opposition im Hause kann man es grundsätzlich nicht recht machen. Legt man ein neues Programm auf, sagt Frau Bulling-Schröter, das ist Aktionismus. Frau Hustedt sagt andererseits: Die machen gar nichts. Können Sie sich entscheiden, ob es Aktionismus ist und wir etwas tun oder ob wir nichts machen? ({0}) - Werden Sie doch nicht gleich unruhig. Nun will ich auf einen weiteren Punkt eingehen. Wir sagen ganz klar: Wir und die Bundesregierung haben 25 Prozent an Reduktion versprochen. Das werden wir auch halten. Jetzt kommt wieder Ihr Uraltargument - das ist nicht ausrottbar -, daß Sie hier zur Hälfte der Zeit sagen: Ihr habt die 25 Prozent noch nicht erreicht. Es ist aber erst die Hälfte der Zeit vergangen. Das ist so, als wenn Sie beim 100-MeterLauf an der 50-Meter-Marke stehen und fragen, warum die 100-Meter-Marke noch nicht erreicht worden ist. Weil erst 50 Meter gelaufen wurden. Genauso ist das heute hinsichtlich der Reduktion mit der Zeitschiene. ({1}) Wann werden Sie den einfachen Sachverhalt begreifen, daß wir noch sieben weitere Jahre Zeit haben, dies zu tun? Was haben wir gemacht? Wir haben Prozesse eingeleitet, die zu einer Absenkung der CO2-Emissionen um 10 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland geführt haben. Es gibt kein vergleichbares Industrieland, das so viel an CO2-Reduktion erreicht hat: Die USA legen bei den Emissionen zu, Australien legt bei den Emissionen dramatisch zu, Kanada legt bei den Emissionen zu. Wir sind diejenigen, die reduzieren. Sie aber sagen, wir seien nicht beispielhaft. Dann loben Sie doch einmal diejenigen, die beispielhaft sind und bereits jetzt deutlich reduziert haben, während andere zulegen. ({2}) In diesem Zusammenhang ist es ganz besonders schön, wenn man lesen kann, „daß die EU" - so steht es in dem Vorschlag der Grünen - „ihre angekündigte Führungsrolle in den Verhandlungen überzeugend übernimmt". Die EU hat eine Reduktion um 7,5 Prozent bis zum Jahre 2005 versprochen. Sie sagen: Das ist eine überzeugende Führungsrolle. Wer bringt denn diese 7,5 Prozent minus auf? Sie sind doch nur darauf zurückzuführen, daß in erster Linie, die Bundesrepublik und in zweiter Linie die Niederlande etwas reduzieren, während alle anderen europäischen Staaten zulegen. Das heißt, Sie loben die EU. Die Leistungen der EU sind aber ganz eindeutig auf die Politik dieser Bundesregierung in diesem Land zurückzuführen. Sie verstehen also noch nicht einmal, was Sie loben. Denn im nächsten Satz sagen Sie, was in der Bundesrepublik gemacht wird, ist zuwenig.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Michaele Hustedt?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich. Nur noch ein Satz. Auf der einen Seite sagen Sie, die EU ist gut, weil das nicht diese Bundesregierung ist. Auf der anderen Seite wollen Sie diejenigen, die das geschaffen haben, miesreden, im Vertrauen darauf, daß es die Menschen draußen nicht merken. ({0}) Wir lassen es nicht zu, daß Sie so desinformieren, wie Sie es tun. Das ist Ihrer unwürdig. Fechten Sie doch richtig, mit offenem Visier, und verstecken Sie sich nicht! ({1})

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Lippold, ich möchte Sie folgendes fragen: Kennen Sie die folgende Position des UN-Klimasekretariats, die im ,,Climate Change Bulletin" Nr. 14 steht? Dort steht: Kein Annex I-Staat wird das CO2-Stabilisierungsziel auf Grund einer ausdrücklichen Klimaschutzstrategie erreichen. Man könnte argumentieren, daß es nicht besonders wichtig ist, wie das Ziel erreicht wird, solange es erreicht wird. Aber ein glückliches Ereignis - „happy accident"; damit ist die Wiedervereinigung und der wirtschaftliche Zusammenbruch der ehemaligen Ostblockstaaten gemeint ersetzt keine Strategie und wird sich wahrscheinlich nicht mehr wiederholen. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Hustedt, das ist auf der einen Seite ein Einstieg; auf der anderen Seite muß ich allerdings sagen, daß das nicht die ganze Wahrheit ist. Ich habe gerade noch einmal deutlich gemacht, daß wir in einen Prozeß eingestiegen sind. Dieser Prozeß ist eine Kombination von neuen Instrumenten - von Instrumenten, die andere Länder nicht haben. Aber auch die EU denkt jetzt daran, sie anzuwenden. Die Selbstverpflichtung ist eines der wirksamsten und zielführendsten Instrumente im Umweltschutz. Selbst Sie sehen es ja. Aber lassen Sie mich noch auf andere Punkte hinweisen, um deutlich zu machen, wie es sich verhält. Ich habe gerade darauf hingewiesen, daß Sie diejenigen loben, die sich auf unseren Leistungen ausruhen. Aber wo kritisieren Sie denn diejenigen, die nichts tun? Sie tragen doch in den Bundesländern Verantwortung mit. Was geschieht denn dort? Was geschieht denn in Hessen, wo Sie die Umweltministerin stellen? Dort könnten Sie etwas in bezug auf Energieeinsparung im Altbaubestand tun. Es gibt riesige Wohnungsbaugesellschaften, die dem Land Hessen gehören. Sie könnten also Energieeinsparmaßnahmen beim Altbaubestand durchführen. Was tun Sie? Sie nehmen keine müde Mark in die Hand. Wir dagegen haben Energieeinsparprogramme für den Altbaubestand. Das heißt, dort, wo Sie das Sagen haben, passiert gar nichts. Zwei simple, einfache Broschürchen zum Thema der nachhaltigen Entwicklung haben Sie herausgebracht; ihre Farbe ist etwas blaß, ihre Aussagen sind schwach. Ansonsten haben Sie gar nichts gemacht. Das heißt, dort, wo Sie Verantwortung tragen, machen Sie ein bißchen Marketing - und das noch sehr schlecht -, aber Sie handeln überhaupt nicht. Frau Hustedt, Sie haben angesichts des Versagens Ihrer Minister auf Länderebene - es gibt überhaupt kein konkretes Reduktionsprogramm - überhaupt nicht das Recht, hier auch nur einen Hauch von Kritik zu äußern, da wir die einzigen sind, die bundesweit handeln. Sie sollten sich für Ihre Umweltminister, schämen, die in dieser Beziehung das Wort „Umwelt" in ihrem Titel überhaupt nicht verdienen. ({0}) Sie sind Präsenzminister mit Einkommensberechtigung, aber sonst gar nichts. ({1}) - Das ist überhaupt nicht peinlich. Schauen Sie sich doch einmal an, was in Hessen passiert ist. Die einzige konkrete Maßnahme in Hessen in puncto Nachhaltigkeit war, daß die Referentin, die für nachhaltige Entwicklung zuständig ist, von der Landesanstalt für Umwelt in das Ministerium geholt wurde. Seitdem ist nichts weiter passiert. So sieht die grüne Politik in Hessen bei der Nachhaltigkeit aus! Ansonsten ist nur diese Mini-Broschüre herausgegeben worden, die ihr Geld nicht wert ist und bei der es sich um reinen Papierverbrauch handelt. Deshalb sage ich: Diejenigen, die dort, wo sie Verantwortung tragen, nichts tun, sind überhaupt nicht berechtigt, diese Bundesregierung anzugreifen, die vorbildhaft in Europa ist. Machen wir uns doch nichts vor: In der internationalen Diskussion werden wir doch gelobt. Die japanischen Parlamentarier, die aus Anlaß der letzten Klimakonferenz in Bonn waren, haben gesagt: Wir greifen eure Anregungen auf; wir wollen bei unserer Regierung das durchsetzen, was ihr durchgesetzt habt; ihr habt beispielhaft gehandelt. - Die Vertreter der japanischen Umweltverbände, der NGOs sagen: Wenn wir das hinbekommen, was ihr in Deutschland hinbekommen habt, dann schätzen wir uns glücklich. - So sieht die Realität draußen in der Welt aus. Sie versuchen, das aus Gefühlen der Kleinlichkeit und aus Parteiegozentrik heraus kleinzureden. Aber die Leute draußen verstehen es Gott sei Dank besser, weil sie nüchtern urteilen und sich nicht von dem Wahlkampf anstecken lassen, den Sie bereits eröffnet haben. ({2}) Ich lobe jetzt einmal ausnahmsweise - das geschieht ja nicht oft - den Kollegen Michael Müller, der heute in den meisten Punkten eine sehr sachliche Analyse vorgetragen hat. - Er hat nichts zur Tropenholzanalyse in Ihrem Antrag gesagt, bei der Sie nach wie vor die alten Fehler wiederholen. Darauf will ich jetzt nicht eingehen. - Der Analyse von Michael Müller kann man weitgehend folgen. Wenn Sie sich dann noch die Taten dieser Bundesregierung zu eigen machen würden, dann wären auch Sie auf dem richtigen Weg. Dazu laden wir Sie ein. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Matschie.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lippold, ich finde es fast gefährlich, wie Sie mit dem Thema umgehen. Ich glaube, das ist der Debatte und auch dem Problem, vor dem wir stehen, nicht angemessen. ({0}) Wer die Aufgabe, die CO2-Emissionen deutlich zu reduzieren, wirklich angehen will, muß sich bewußt sein, daß er tief in die bisherigen Strukturen unseres Wirtschaftens und unseres Konsumierens eingreifen wird. Es ist eine Riesenaufgabe, die nicht im Vorbeigehen zu erledigen ist; sie ist auch nicht mit beschönigenden Aussagen und Schuldzuweisungen zu lösen. Wer den Wandel wirklich will, braucht als erstes einmal eine ganz klare und ehrliche Analyse. Zum zweiten braucht er klare, für die Gesellschaft nachvollziehbare und berechenbare Vorgaben und Gesetze. Ich glaube, daß es auf seiten der Bundesregierung an beiden Dingen mangelt. Auch Ihr Beitrag hat da nicht viel Neues bringen können. Ich will Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen, was die klare, ehrliche Analyse betrifft. Ich war ein bißchen geschockt, als ich mir Ihre Pressemitteilung gründlich angesehen habe, die Sie zum IMA- Bericht herausgegeben haben. Da steht auf Seite eins - das geht ja dann auch durch die Medien, und es wurde auch hier wieder verkündet -, wir haben zwischen 1990 und 1996 die Pro-Kopf-Emission um 13,3 Prozent vermindert. Das ist eine tolle Aussage, aber wir lügen uns doch damit partiell selbst in die Tasche. Denn wenn man das ganze Papier umdreht und sich die letzte Seite in Anlage 6 anschaut, wie sich die Pro-Kopf-Emissionen in den alten Bundesländern entwickelt haben, und dann mal einen Strich macht, stellt man fest: Die Höhe der Säule auf dieser Übersicht für die alten Bundesländern 1990 ist genauso hoch wie die für Gesamtdeutschland 1996. Aber das ist doch eigentlich der spannende Punkt: Gelingt es in entwickelten alten Industriegesellschaften, so weit umzustrukturieren, daß wir mit den ProKopf-Emissionen herunterkommen, oder gelingt das nicht? ({1}) Ich will ja gar nicht kleinreden, was in Ostdeutschland gelungen ist. Auch da ist sehr viel passiert. Da sind Investitionen in die Hand genommen worden, damit es zu einer Angleichung in den Pro-Kopf-Emissionen kommt. Vielleicht ist es uns auch gelungen - das kann man durch die unterschiedlichen Jahrestemperaturen im Moment noch nicht ganz genau sagen -, im Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 in den alten Ländern ein klein wenig herunterzukommen. ({2}) Aber das, was hier dargestellt wird, ist längst nicht erreicht. Diese Entwicklung zeigt: Es ist uns zwar gelungen, Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoß zu entkoppeln - das muß man würdigen; nur wenige Staaten haben das bisher geschafft -, aber wir machen uns etwas vor, wenn wir behaupten, es ist uns auch gelungen, sozusagen langfristig die Pro-Kopf-Emission in der Bundesrepublik deutlich zurückzuführen. Das ist nicht nur unlauter, ich halte es auch für gefährlich, weil es dazu beiträgt, die Aufgabe zu unterschätzen. Eigentlich müßte die Bundesregierung aus dem Prozeß der deutschen Einheit gelernt haben, daß es langfristig überhaupt nicht weiterhilft, Schönfärberei zu betreiben und Aufgaben zu unterschätzen. Herr Schauerte hat durchaus recht, wenn er vorhin in der Debatte gesagt hat, das Schlimmste in der Politik ist, wenn man die Wahrheit nicht mehr zur Kenntnis nehmen will. Die Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen ist die Grundlage für jede glaubwürdige Politik im Klimaschutz. Damit bin ich bei meinem zweiten Vorwurf: Es fehlt an vielen Stellen ein klares, berechenbares Vorgehen. Nehmen wir einmal den IMA-Bericht. Da steht auf Seite 20: ... wird die Bundesregierung finanzpolitische Maßnahmen unter anderem daraufhin überprüfen, inwieweit diese klimaschutzpolitischen Zielen entgegenstehen. Es geht hier um die Reduzierung von ökologisch schädlichen Subventionen. Dasselbe findet sich schon im ersten Beschluß der Bundesregierung vom 7. November 1990, die gleiche Ankündigung. Es heißt da zum Beispiel: BML prüft, inwieweit es möglich ist, durch Abbau ... eine Verminderung des Energieverbrauchs und damit auch eine Senkung der CO2Emissionen zu erreichen. Dann haben das Ifo-Institut und andere Institutionen Listen vorgelegt, was man an ökologisch schädlichen Subventionen abbauen soll. Eine, die immer wieder da auftaucht und einen erheblichen Umfang hat, nämlich fast eine Milliarde, ist die sogenannte Gasölverbilligung für die Landwirtschaft. Nun nehme ich mir den Landwirtschaftsbericht von 1997 her, und da finde ich auf Seite 119 unter Punkt 6.2, Gasölverbilligung: Die Ausgaben hierfür betrugen 1996 rund 835 Millionen DM aus Bundesmitteln. ({3}) Seit 1990 ist also nichts passiert, trotz anderer Ankündigung. Da kann ich nur sagen: Was für eine Regierung, was für eine Entschlossenheit, die hier dahintersteht! Ähnlich sieht es im Verkehrsbereich aus. ({4}) Hier steigen die CO2-Emissionen am deutlichsten an. Alle, die sich damit beschäftigen, wissen das. Ich habe mir einmal den UBA-Bericht von 1996 hergenommen. Der spricht im Kapitel 11 beim Verkehrssektor von weiteren „durchaus deutlichen" Zunahmen der CO2-Emissionen und sagt dann: Im Jahre 2005 wären die verkehrsbedingten CO2Emissionen etwa doppelt so hoch wie jene aus der gesamten Industrie ... Die angestrebten klimaschutzpolitischen Ziele werden ... nur dann erfolgreich umgesetzt werden können, wenn die Zunahme der CO2-Emissionen gestoppt oder der Emissionstrend sogar umgedreht werden könnte. Aber der Bericht spricht von durchaus deutlicher Zunahme nach den bisher vorliegenden Prognosen. Im IMA-Bericht liest sich das dann so - ich zitiere -: Prognosen des Umweltbundesamtes rechnen zunächst noch mit einem leichten Anstieg der CO2Emissionen des Straßenverkehrs bis zum Jahr 2005 und einer anschließenden Stabilisierung. So verfälschend und verharmlosend diese Darstellung im IMA-Bericht ist, so vage und unkonkret sind auch die aufgeführten Maßnahmen. Das ist eine Fundgrube für Allgemeinplätze, aber kein politisches Programm. Die Bundesregierung begrüßt, sie ist zuversichtlich, aber sie handelt nicht. Sie macht keine konkreten Vorgaben. Ich finde es gut, daß die Bundesregierung ein großes Versprechen abgegeben hat. Ich finde es auch gut, daß sich die Umweltministerin international für Verhandlungsziele einsetzt, die wirklich zur Reduzierung führen. Aber ich finde es schlimm, wie sich diese Bundesregierung zu Hause durchmogelt, wenn es um die nationale Umsetzung der eigenen Programme geht. Wer so eigene Defizite und Handlungsunfähigkeit kaschiert, der verpielt natürlich auch international irgendwann die Glaubwürdigkeit. Mercedes war das beste Beispiel dafür: Ein gut poliertes Image reicht nicht. Frau Heidecke hatte durchaus recht, als sie vorhin gesagt hat: Gäbe es einen Eichtest für die Politik, Sie wären längst gekippt. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Matschie, da Sie sich ja um Redlichkeit bemüht und versucht haben, Ihre Auffassung anhand von Zahlen aufzuzeigen, hat es mich doch gereizt, hierzu eine Bemerkung zu machen. Sie haben behauptet, daß der Pro-Kopf-Verbrauch laut dieser Statistiken zwischen 1990 und 1996 nicht zurückgegangen ist. Da haben Sie aber Äpfel mit Birnen verglichen. Der Pro-Kopf-Verbrauch 1990 in den alten Bundesländern im Vergleich zu 1996 in den neuen Bundesländern ist etwas niedriger, aber der Verbrauch im gesamten Deutschland ist - weil er in den neuen Bundesländern immer noch etwas höher liegt -, verglichen mit den Werten von 1990 für die alten Bundesländer, identisch. Wenn es hier um Redlichkeit geht - ich habe ja schon zugegeben, daß die Masse der Reduktion auf die neuen Bundesländer entfiel -, muß man auch auf diesen Punkt hinweisen: Man darf nicht den Gesamtverbrauch mit dem Verbrauch in den alten Bundesländern vergleichen. Das war nicht in Ordnung. Der Unterschied beträgt -12,8 Tonnen zu 11,1 Tonnen -1,7 Tonnen. Wenn Sie die prozentuale Reduktion ausrechnen, stellen Sie fest, daß das nicht unerheblich ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Möchten Sie antworten, Herr Matschie? - Nein. Dann schließe ich damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/8936 und 13/8969 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Außerdem ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/8993 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Finanzausschuß, an den Ausschuß für Wirtschaft, an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, an den Ausschuß für Verkehr, an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Sie sind auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS Haltung der Bundesregierung zu in der Presse zitierten Äußerungen des Bundesverteidigungsministers Volker Rühe zum Konflikt am Golf Ich eröffne die Aussprache. Als erster in der Debatte hat der Abgeordnete Graf von Einsiedel das Wort.

Heinrich Einsiedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002645, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesverteidigungsminister hat sich zur Irak-Krise geäußert. Ich verzichte darauf, zu zitieren, was in der „Morgenpost" darüber gestanden hat. Ich habe nicht so viel Zutrauen in die Zuverlässigkeit dieser Zeitung. Deshalb zitiere ich nur, was der Sprecher des Ministeriums in einer Art Dementi erklärt hat: Der Bundesminister hat gesagt: Wenn wir 1991 die Bundeswehr von heute gehabt hätten, dann hätten wir uns damals wohl in anderer Weise beteiligt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Mit dieser Äußerung hat Bundesminister Rühe die Katze aus dem Sack gelassen. Wenn die Bundeswehr 1991 schon so weit gewesen wäre wie heute, dann hätten wir uns damals, also am Golfkrieg, wohl anders beteiligt. Das kann doch nichts anderes heißen als: Wir hätten nicht nur gezahlt - läppische 16 Milliarden DM -, sondern wir wären mitmarschiert. Jede Minute kann ein neuer Golfkrieg ausbrechen. Ihre Äußerung, Herr Minister, läßt keinen Zweifel daran aufkommen: Die Bundesregierung ist bereit, sich mit der Bundeswehr daran zu beteiligen. Deutsche Soldaten sollen nach Ihrer Meinung jetzt mitschießen. Es sind wohl die Nachwirkungen des Golfkriegssyndroms, die Sie veranlaßt haben, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Ihnen ist der damalige Vorwurf der Scheckbuchdiplomatie peinlich. Diesmal, sagen Sie, werden wir dabeisein. Natürlich haben Sie sich beeilt, hinzuzufügen, wir seien nicht in einer vergleichbaren Situation. Aber wir wissen doch aus Erfahrung, wie schnell solche Konflikte eskalieren können, vor allem dann, wenn eine politische Situation derart verfahren ist wie gegenwärtig am Golf. Für diesen Fall haben Sie ohne Not den Einsatz der Bundeswehr in Aussicht gestellt. Das ist ein fatales Signal - nach innen wie nach außen. Nach innen heißt es: Stellt euch darauf ein, daß wir künftig mitschießen, mitbombardieren werden und daß es Opfer geben wird. Nach außen heißt es: Die Bundeswehr hat die Zeit einer reinen Verteidigungsarmee hinter sich. Jetzt sind wir bereit, uns gemeinsam mit anderen als Ordnungsmacht weltweit zu betätigen - auch außerhalb des NATO-Gebiets und außerhalb Europas. Dafür auch der Aufbau der Krisenreaktionskräfte, dafür die - nicht nur finanziell - abenteuerlichen, umfangreichen Beschaffungsvorhaben wie den Eurofighter 2000. Die Vorhaltungen von Herrn Brzezinski in Berlin wollten Sie wahrscheinlich nicht so einfach auf sich sitzenlassen. Aber Sie haben Ihre Einlassung doch nicht im luftleeren Raum getätigt, sondern in einem konkreten politischen Umfeld. Sie hätten Brzezinski antworten sollen: Es ist nicht unsere Aufgabe, für Washington die Kastanien aus dem Feuer zu holen, für das die seit zehn bis 15 Jahren rational nicht mehr nachzuvollziehende amerikanische Nahostpolitik verantwortlich ist. Interpretieren Sie unsere Haltung nicht falsch: Die Arbeit der UN-Inspektoren im Irak darf nicht behindert werden. Sie müssen ihren Job tun. Die restlose Beseitigung der Massenvernichtungswaffen muß durchgesetzt werden. Aber dazu muß man Lösungen suchen, die einen wirklichen Ausweg aus der Krise zeigen. Militäreinsätze - darüber sind sich viele einig - bringen nichts. Sie verlängern und verstärken nur die Leiden der irakischen Zivilbevölkerung bis ins Unendliche. ({0}) Wir verlangen, daß nach einer Verhandlungslösung gesucht wird, die dem Irak eine Perspektive eröffnet, wenn er eindeutig mit der UNO kooperiert. Dafür gibt es Vorschläge. Das hätten Sie Brzezinski sagen können. Aber Bündnispartnern unbequeme Wahrheiten zu sagen ist ja bekanntlich nicht gerade die Stärke der Bundesregierung. Dann möchten Sie schon lieber dem „Übervater" loyal beistehen und im Mainstream mitschwimmen - beim nächsten Mal ganz vornan und nicht als Zahlmeister auf der Zuschauertribüne. Sie, Herr Minister, haben damit Ihren Teil dazu beigetragen, das Eskalationsklima anzuheizen und den Einsatz militärischer Gewalt auch von seiten der Bundesregierung psychologisch vorzubereiten. Wir fordern Sie auf: Erklären Sie unmißverständlich, daß sich Deutschland nicht an einer Militäraktion, wie sie jetzt in den USA diskutiert wird, beteiligen wird. ({1}) Die Bundeswehr hat am Persischen Golf nichts verloren. Wenn Sie dazu nicht bereit sind, dann muß der Bundestag vorsorglich einen entsprechenden Beschluß fassen. ({2}) Deiche zu schützen ist das eine, Herr Minister; aber Krieg zu führen ist etwas anderes. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.

Volker Rühe (Minister:in)

Politiker ID: 11001897

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es nützt der Debatte, wenn ich zunächst einmal sage, was ich nicht gesagt habe. Denn das, was ich gesagt habe, ist immer noch wichtig genug, daß wir darüber dann noch sprechen können. ({0}) Ich habe in Berlin in der Debatte mit Brzezinski eindeutig gesagt: Was ich sage, hat nichts zu tun mit der aktuellen Krise im Irak. ({1}) Das ist der eigentliche Skandal: daß versucht wird, das dorthin zu drehen. Damit hat es nichts zu tun. Ich werde dazu später noch etwas sagen. Das zweite ist - es wurde unterstellt, daß wir die Entscheidungsbefugnis des Bundestages in Frage stellen wollen -: Es gibt nur wenige, die den Charakter des Parlamentsheers so betont haben wie ich. ({2}) Natürlich wird es dabei bleiben; genauso war es, als wir die Entscheidungen über die deutsche Beteiligung an IFOR und SFOR getroffen haben. An dieser Haltung hat sich überhaupt nichts geändert. Wozu ich mich geäußert habe, ist etwas anderes. Es ging um die Situation im Jahre 1991. Die jetzige Situation am Golf hat damit überhaupt nichts zu tun. Sie ist völlig unvergleichbar. Es geht darum, daß die Entscheidung für internationale Einsätze in Deutschland heute von anderen Parametern geprägt wird als zur Zeit des Golfkriegs 1990/91. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Damals haben wir bei unserer Zurückhaltung die besonderen Bedingungen des deutschen Einigungsprozesses, die damals strittige Interpretation des Grundgesetzes wie auch die unzureichende Eignung unserer Streitkräfte für eine Beteiligung an solchen Einsätzen zugrunde gelegt. ({3}) - Daß ich mit Ihnen unterschiedlicher Meinung bin, dürfte Sie nicht überraschen. Das ist in der Tat richtig. ({4}) - Ich hätte in schrecklicher Weise etwas falsch gemacht, wenn ich mit der PDS einer Meinung wäre. Heute ist die Verfassungsfrage geklärt. ({5}) Es gibt einen breiten Konsens im Parlament und in der Öffentlichkeit über den Auftrag und die Rolle der deutschen Streitkräfte. ({6}) - Nachdem manche so verbissen waren, ist das nicht schlimm. Trotzdem ist es ein sehr ernstes und wichtiges Thema. Wir haben eine Strukturreform der Bundeswehr auf den Weg gebracht, die in Krisenzeiten einen deutschen Solidarbeitrag ermöglichen würde, immer vorausgesetzt, der Deutsche Bundestag gibt seine Zustimmung. Deswegen gibt es überhaupt keinen Zweifel: Wenn wir 1990/91 den Weg der letzten sechs Jahre hinter uns gehabt hätten, dann hätte sich Deutschland in anderer Weise beteiligt, als das damals der Fall war. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Noch einmal: Das bezieht sich nicht auf die jetzige Situation am Golf. Es ist aber schon wichtig, dies im Auge zu behalten, wenn wieder einmal die Solidarität Deutschlands gefordert sein sollte. ({7}) Jetzt zu der Krise im Irak, zu der ich in Berlin und in Hamburg nichts gesagt habe. Ich glaube, wir schulden es der Situation, daß ich dazu ein paar Worte sage. Die Bundesregierung verfolgt mit Sorge die derzeitige Entwicklung im Irak. Die Behinderung des UNO-Inspektionsteams bei der Erfüllung seiner wichtigen Aufgabe ist ebensowenig zu dulden wie der Versuch des Irak, die Solidarität der Weltgemeinschaft durch die Ausweisung der Inspektoren auf die Probe zu stellen. Es geht darum, daß womöglich Potential für biologische oder chemische Kriegsführung entsteht oder verborgen wird, ein Potential, das sich zu einer existentiellen Bedrohung für die Staaten und Völker in der Region und darüber hinaus entwickeln könnte. Seit dem Ende des Golfkriegs Ende Februar 1991 haben die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängten Waffenstillstandsbedingungen wie auch die Mechanismen ihrer Überprüfung und Kontrolle außerordentlich stabilisierende Wirkung auf die Situation in der Region gehabt. Die Bundesregierung hat einen wesentlichen Beitrag zur Überprüfung der Waffenstillstandsbedingungen geleistet. Die Bundeswehr hat mehr als fünf Jahre lang die Inspektoren der Vereinten Nationen durch Lufttransport mit Flugzeugen und Hubschraubern unterstützt. Außerdem stellt Deutschland fachkundiges Personal für die Inspektionsteams ab. Mit diesem Beitrag hat die Bundesrepublik Deutschland große Anerkennung in der Völkergemeinschaft gefunden. Unser Beitrag ist von allen Beteiligten sehr hoch eingeschätzt worden. ({8}) Die intensive Behandlung der Krise im Irak findet dort statt, wo sie hingehört: im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dort wird entschieden und beschlossen, welche Maßnahmen angemessen und notwendig sind, um die Sanktionen der Vereinten Nationen durchzusetzen oder auch zu erweitern. Hierzu ist festzustellen - da schließt sich der Kreis -, daß die Situationen von 1990/91 und von heute völlig unvergleichbar sind. Damals hat sich die große Koalition der Staaten der Weltgemeinschaft engagiert, weil ein Land, nämlich Kuwait, von der Landkarte getilgt wurde. Es gibt weder eine Entscheidung der Vereinten Nationen, jetzt mit militärischen Mitteln im Irak einzugreifen, noch gibt es eine internationale Konstellation, die einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland in der jetzigen Situation erwarten oder fordern würde. Es besteht deshalb auf deutscher Seite auch keinerlei Handlungsbedarf, schon gar nicht, was die deutschen Streitkräfte angeht. Lassen Sie uns über das streiten, worum es wirklich geht. Ich fasse den Kern zusammen: Ich habe mit Brzezinski angesichts seiner Forderung nach einer globalen sicherheitspolitischen Rolle der Europäer und der Forderung, sich als Militärmacht weltpolitisch zu engagieren, und angesichts der Kritik, die es dort gegeben hat, gesprochen. Nach meiner festen Überzeugung muß Deutschland in vergleichbarer Weise wie andere europäische Staaten Solidarität zeigen. Das konnten wir in der spezifischen Situation von 1990/91 nicht. Deshalb haben wir uns damals auf die logistische und finanzielle Unterstützung beschränkt. Für mich gibt es aber überhaupt keinen Zweifel, daß über jeden Einzelfall entschieden werden muß. Dies hat nichts mit der jetzigen Golfkrise zu tun. Aber natürlich wird es immer wieder Herausforderungen geben, die auf uns zukommen und wo sich Deutschland nicht ausklinken kann. Dann werden wir unsere Entscheidung auf der Basis der positiven Entwicklungen treffen, die es seit 1990/91 gegeben hat. Wir haben eine Bundeswehr, die in zwei Jahren Krisenreaktionskräfte in einem Umfang von 50 000 Mann haben wird. Diese werden dann, wenn das politisch so beschlossen ist, für internationale EinBundesminister Volker Rühe Sätze zur Verfügung stehen. Das Bundesverfassungsgericht hat hier Klarheit geschaffen. Wir haben zudem einen gewachsenen Konsens in diesem Lande und auch in diesem Parlament, so daß man wirklich sagen kann: Wir haben eine andere Entscheidungsgrundlage, als dies 1990/91 der Fall war. Das bedeutet nicht, daß wir in jedem Einzelfall übereinstimmen werden. Aber es wird sich niemand prinzipiell ausklinken können. Ich glaube, wir können auch sehr froh sein, daß die Bundeswehr heute im Unterschied zu früher alle Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung bewältigen kann. Dies wird weiterhin der Schwerpunkt sein. Deswegen kämpfe ich auch für die Wehrpflicht. Dazu kommen aber auch internationale Einsätze. Darauf ist die Bundeswehr vorbereitet. Dies ist kein Grund, hier laut zu schreien. Daß dies der PDS nicht gefällt, ist klar. Eines werden wir allerdings nie machen, nämlich das, was Sie als Mitglieder der SED mit dem Überfall auf die Tschechoslowakei gemacht haben. So etwas werden wir nie machen. ({9}) - Natürlich. Sie stehen doch in der Verantwortung der SED. Die meisten von Ihnen waren doch in der SED. Sie haben die Verantwortung für so etwas. Deswegen ist es merkwürdig, wenn so etwas gerade von der PDS kommt. Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland zusammen mit anderen europäischen Nationen und zusammen mit unseren amerikanischen Freunden zur internationalen Solidarität fähig ist. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karsten Voigt.

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesverteidigungsminister, Sie haben versucht, durch eine Interpretation Ihrer Äußerung einen schweren politischen Fehler, den Sie in Berlin begangen haben, teilweise zu korrigieren. Aber dies ändert nichts darin, daß es ein schwerer politischer Fehler war. Es ist ein schwerer politischer Fehler, wenn Sie als ehemaliger Außenpolitiker und als jemand, der auch heute noch entsprechende Ambitionen hat, dann, wenn in Amerika über einen Militäreinsatz geredet wird, gleichzeitig über einen Militäreinsatz der Bundeswehr sprechen, ({0}) und zwar insbesondere dann über eine mögliche Beteiligung der Bundeswehr bei einem Golfkonflikt reden, während sich gerade eine militärische Krise am Golf abzeichnet. Dies ist ein schwerer politischer Fehler, der durch ihre heutige Interpretation teilweise korrigiert wird, was aber nichts daran ändert, daß er zu dem Zeitpunkt ein Fehler war. ({1}) Es war ein Verstoß gegen das uns alle verbindende Prinzip der Zurückhaltung. Man sollte nicht über Krieg reden, während im UNO-Sicherheitsrat noch über eine friedliche Beilegung des Konfliktes verhandelt wird. Man sollte nicht über eine deutsche Beteiligung reden, bevor der UNO-Sicherheitsrat entschieden hat und bevor die Bündnispartner überhaupt bei den Deutschen angefragt haben. Weiterhin sollte man in einem solchen politischen Kontext einer Golfkrise nicht darüber reden, ob sich die Bundeswehr daran beteiligen soll. Dies gilt, obwohl - wie Sie selber heute sagen die Lage am Golf damals mit der heute überhaupt nichts zu tun hat. Dem stimme ich zu. Deshalb hätte man auch nicht darüber reden sollen. Die Fehler, die Sie gemacht haben, versuchen Sie jetzt zu korrigieren. Das ist zu begrüßen. Aber die Kritik an Ihren Fehlern ändert nichts an der Notwendigkeit zu zwei zusätzlichen Bemerkungen. Erstens. Der Irak muß die UNO-Sicherheitsmaßnahmen einhalten. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. ({2}) Er muß diese Maßnahmen auch deshalb einhalten, weil er schon in der Vergangenheit Massenvernichtungswaffen gegenüber Kurden und gegenüber dem Iran angewandt hat. Er hat ein anderes Land, Kuwait, überfallen. Das heißt, beim Irak handelt es sich um einen Staat, der Völkerrecht mißachtet und der kriegerische Aggressionen begangen hat. Deshalb muß die Völkergemeinschaft darauf drängen, daß er - das muß im Vordergrund stehen - sich jetzt an das Völkerrecht hält. Dazu gehört auch, daß er amerikanischen Inspektoren den Zugang ermöglicht. Daran gibt es bei uns überhaupt keinen Zweifel. Zweitens. Es gibt auch überhaupt keinen Zweifel daran, daß es völliger Unsinn ist, wenn die Grünen in diesem Zusammenhang von Sehnsüchten der Bundesrepublik Deutschland reden, Weltpolizei zu werden. Das ist, auf einen Fehler des Bundesverteidigungsministers, den er gemacht hat und den wir kritisieren, sozusagen wie ein Pawlowscher Reflex zu reagieren. Man braucht bei den Grünen in einer Situation, in der ein Teil noch an der Fundi-Position festhält und entsprechende Vorstellungen über die Bundeswehr und über die NATO verbreitet, offensichtlich ein altes Feindbild, um Mehrheiten um sich zu scharen, die auf dem Parteitag hoffentlich nicht vorhanden sind. Für uns steht auf jeden Fall fest, daß wir - ich bin selber für eine rot-grüne Zusammenarbeit - im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit die Garanten der außenpolitischen Stabilität sein und uns an einer solchen Politik nicht orientieren werden, Karsten D. Voigt ({3}) sondern dafür sorgen, daß sie in einer Koalition nicht zum Tragen kommt. ({4}) Wir haben in der Vergangenheit Wert darauf gelegt und werden das auch in Zukunft so halten, daß wir vor einem Militäreinsatz der Bundeswehr erstens alle friedlichen Mittel ausgeschöpft sehen wollen, daß wir zweitens Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrates abwarten, drittens bei solchen internationalen Vorgängen mit unseren Bündnispartnern genau abstimmen, was wir machen, und viertens im Parlament auf der Grundlage einer Vorlage der Bundesregierung entscheiden. Jedes Schwadronieren davor über Militäreinsätze halten wir für nicht verantwortbar, weil alle diese Punkte vorher geklärt sein müssen. ({5}) Denn sonst kann uns niemand bei einer solchen Entscheidung in Zukunft ernst nehmen. Über die PDS brauche ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht zu reden, auch nicht über Koalitionen, weil in der PDS - unabhängig von der Vergangenheit, die Sie wieder angeführt haben, Herr Rühe - in der Außen- und Sicherheitspolitik Vorstellungen bestehen, die eine Zusammenarbeit nicht einmal für fünf Minuten ermöglichen würde, weil es von ihren Positionen her einfach nicht geht. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Christian Schmidt das Wort.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich in die Auseinandersetzung auf der linken Seite des Hauses nicht einmischen, sondern zu dem Thema zurückkommen, das ursprünglich Gegenstand der Aktuellen Stunde sein sollte. Es wurde nämlich etwas behauptet, was nicht gesagt worden ist, und es ist hier etwas gesagt worden, was lieber nicht behauptet werden sollte. Ich komme mit dem Vorstand der Parlamentariergruppe gerade aus Israel zurück. Ich habe mit dem Kollegen Gerster, der mein Vorgänger als Vorsitzender der Parlamentariergruppe war, gesprochen. Er hat noch einmal geschildert, wie es 1991 war, als die deutschen Bundestagsabgeordneten mit den Kollegen im Schutzraum des King-David-Hotels in Jerusalem saßen, Schutzmasken ausprobierten, auf Raketen warteten und hofften, daß sie nicht einschlagen würden. Es waren die Raketen von Saddam Hussein. Der Mann ist kein Salontiger, er ist ein gefährlicher Aggressor. ({0}) Wenn man über die Frage, wie man diesem Aggressor begegnet, spricht, dann muß man im nachhinein auch darüber diskutieren und überlegen, welche Verantwortung auf jeden einzelnen zukommt. Das hat mit Eskalationsklima überhaupt nichts zu tun. Wenn jemand Eskalationsklima schürt, kann doch nicht ein verantwortungsvoller Außenminister, der in einer Diskussion sehr vernünftige und überlegte Perspektiven aus der Vergangenheit heraus entwickelt, dafür in Anspruch genommen werden. ({1}): Der ist doch Verteidigungsminister! - Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch immer Ihren Waigel zum Außenminister machen!) - Hatte ich von Außenminister gesprochen? Sie sehen, in der Tat ist die nahtlose Übereinstimmung zwischen Außen- und Sicherheitspolitik in der CSU und der CDU so groß, daß ich mir weitere Spekulationen darüber nicht anmaße. ({2}) Der Verteidigungsminister Volker Rühe hat nicht für Eskalationen gesorgt. Es eskalieren diejenigen, die die USA singularisieren und politisch alleinstellen. Das tun diejenigen, die in einer Situation, in der die letzte Tickermeldung lautet, daß die irakische Regierung, der Revolutionäre Führungsrat, die amerikanischen Rüstungsinspekteure ausgewiesen hat, so tun, als wolle man mit Amerika auch in einer aktuellen krisenhaften Situation nichts tun, als sich zu distanzieren. ({3}) - Es reicht halt nicht aus, Frau Beer, weiße Laken aus den Fenstern zu hängen, Kerzen ins Fenster zu stellen ({4}) und zu hoffen, daß der Aggressor seine Raketen nicht auf Israel abschießen möge. Hier ist eine Solidarität innerhalb der Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen gefordert. Nichts anderes als die Frage, mit welchen Möglichkeiten und welchen Verpflichtungen man sich in der Vergangenheit in konkreten Situationen verhalten hat und in der Zukunft in solchen Situationen verhalten muß, wurde diskutiert. Im übrigen ist das nicht nur eine Diskussion der Vergangenheit. Es scheint der Aufmerksamkeit der geneigten Kritiker entgangen zu sein, daß wir gegenwärtig sehr wohl in einem multilateralen Einsatz stehen, gerade aus der Konsequenz des Golfkrieges Christian Schmidt ({5}) heraus. Die Konsequenzen, die Volker Rühe diskutiert hat, ({6}) sind doch in diesem Parlament und in Karlsruhe gezogen worden, ({7}) nämlich SFOR und IFOR und in Zukunft eine weitere Streitmacht, die verhindert, daß der Krieg in Bosnien wieder ausbricht. ({8}) Das sind doch die Reaktionen, die aus unseren Erfahrungen auch aus der Zeit vor 1990 herrühren. ({9}) Nun zum Thema „Deiche halten", Graf Einsiedel. Wer Deiche gegen Flut und Deiche gegen Aggressionen auseinanderdividiert und in beiden Fällen der Bundeswehr, wie auf Ihren Hamburger Plakaten, schlimme Sachen unterstellt, ist nicht befugt, über dieses Thema hier überhaupt fundiert zu diskutieren. ({10}) - Das müssen Sie sich anhören. Wir müssen uns leider auch von Ihnen einiges anhören, was in anderen Parlamenten besser zu Hause gewesen wäre als hier. ({11}) - Ich habe gelernt, daß der Redner die Möglichkeit hat, so lange zu warten, bis wieder Ruhe im Hause eingekehrt ist, daß er gehört werden darf. ({12}) Zu den Grünen nur noch ein Punkt. Kollege Lippelt und Frau Beer, Sie mögen heute sehr laut auftreten und Zwischenrufe machen. Sie werden dahinter aber nicht verbergen, daß Ihre Partei das größte Risiko in dieser Diskussion ist. ({13}) Sie sind in einer Situation, die durchaus dazu beiträgt, daß Konflikte auch deswegen eskalieren können, weil manche Aggressoren den Eindruck bekommen könnten, wir wären im Zweifelsfall nicht bereit, den Dingen mit vernünftigen, klugen Maßnahmen, mit diplomatischen und anderen Maßnahmen, zuallerletzt mit militärischen Maßnahmen, entgegenzutreten. ({14}) Schauen Sie, daß Sie in Ihrem eigenen Haus Ordnung haben. Dann kommen Sie wieder und diskutieren mit uns. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man könnte diese Aktuelle Stunde auch nennen: „Was passiert, wenn ein Minister von seinem Redekonzept abweicht?" Aber die Ernsthaftigkeit der Abweichung ist eben nicht zu verharmlosen und auch nicht lächerlich. Herr Kollege Rühe, Herr Verteidigungsminister, im „Tagesspiegel" vom 7. November werden Sie zitiert, daß die Bundeswehr in zwei Jahren über 50 000 Soldaten der Krisenreaktionskräfte verfügen werde. Sollte es zu einer vergleichbaren Situation wie beim Golfkrieg kommen, werde sich Deutschland militärisch beteiligen. Allerdings - und hier zitiert der „Tagesspiegel" wörtlich - würden sie „nie wieder bei einem UNO-Einsatz unter militärischer Führung der UNO mitmachen". „Das wäre unverantwortlich, das wäre ein Desaster". Sie dürfen sich nicht wundern, wenn eine derartige Äußerung angesichts der gegenwärtigen Krise im Irak eine öffentliche Debatte hervorruft. Ich möchte drei Interpretationen anbieten, von denen ich glaube, daß sie zulässig sind. Erstens. Sie haben zuvor zu viele Stunden auf sicherheitspolitischen Tagungen und innerhalb der Generalität verbracht und einfach Ihren Wunschträumen freien Lauf gelassen. Meine zweite Interpretation wäre, daß Sie - entgegen Ihrer Gepflogenheit, mehr Außenminister als Verteidigungsminister zu sein - einige Tage die Entwicklung im Nahen Osten nicht mehr mitbekommen haben - schlimm genug! ({0}) Die dritte Interpretationsmöglichkeit, die meiner Befürchtung nach am ehesten gegeben ist, besteht darin, daß Sie es für zeitlich gegeben halten, die Öffentlichkeit mit der bewährten Salamitaktik darauf vorzubereiten, daß nun auch noch die letzte Zurückhaltung Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik aufgegeben werden muß. Erstens manifestieren Sie damit den deutschen Anspruch, sich potentiell an allen Arten von Militäraktionen zu beteiligen. Zweitens machen Sie einmal mehr deutlich, daß Sie Ihre Politik der Marginalisierung der Vereinten Nationen fortsetzen. Drittens stelAngelika Beer len Sie das Recht dieses Parlaments in Frage, in jedem Einzelfall zu entscheiden. Viertens beteiligen Sie sich während einer internationalen, äußerst ernsten Krise, in der Außenminister Kinkel innerhalb der Europäischen Union versucht, dahin gehend eine Einigung zu erzielen, daß jeder Militärschlag abgelehnt wird, an Muskelspielen und tragen dazu bei, daß ein solcher Versuch möglicherweise scheitert. Da Sie darüber hinaus auch noch ein militärisches Weltordnungsmodell präferieren, das für die Zivilisierung der internationalen Beziehungen hinderlich ist, möchte ich auf den zweiten Golfkrieg noch einmal grundsätzlich eingehen. Der Überfall von Saddam Hussein auf Kuwait war völkerrechtswidrig. Es gab Beschlüsse, mit diplomatischen Sanktionen Hussein zu zwingen, seine Truppen zurückzuziehen. Ohne daß man abwartete, wie diese Sanktionen überhaupt wirkten, gab es die Intervention der Amerikaner, nicht um Saddam zu beseitigen, nicht im Interesse des Völkerrechts, sondern um eigene Ölinteressen in dieser Region aufrechtzuerhalten. Das Ziel der Vereinigten Staaten war nicht der Einsatz für Menschenrechte; denn sonst wäre die Politik nach dem zweiten Golfkrieg ganz anders formuliert worden. Man hätte die Kurden nicht dem neu entstandenen Zwiespalt zwischen der Türkei und dem Irak überlassen, man hätte nicht eine Sanktionspolitik verhängt, deren Wirkung darin besteht, das einzig wahre demokratische Potential im Irak, das wieder wachsen muß, nämlich die Bevölkerung, diesem Mann auszuliefern, und die Menschen verhungern, die Kinder tagtäglich zu Hunderten sterben läßt. Das sind alles politische Maßnahmen, die Sie, Volker Rühe mit Ihrer Äußerung unterstützen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: ({1}) Es ist nicht unmoralisch, Militär nicht einzusetzen; vielmehr ist es unmoralisch, eine Politik zu praktizieren, die dazu führt, daß erst ab der Ebene der Militäreinsätze darüber diskutiert wird. ({2}) Unmoralisch ist es, diese Sanktionspolitik der Vereinten Nationen zu unterstützen. Unmoralisch war es vor allem, Herr Verteidigungsminister, ein Regime wie das irakische über Jahre bis unter die Zähne aufzurüsten; 110 deutsche Firmen waren an der Proliferation von B- und C-Waffen beteiligt. Wenn Sie jetzt nur noch militärische Antworten haben, statt eine politische Strategie zu entwickeln, um die bedenkliche Proliferation von Massenvernichtsungswaffen zu verhindern, dann droht uns Schlechtes, falls Ihre Politik sich durchsetzen sollte. Wir haben nach dem ersten und nach dem zweiten Golfkrieg hier im Deutschen Bundestag gefordert, daß wir uns dafür einsetzen, unter der Verantwortung der Vereinten Nationen eine Nahost-Friedenskonferenz einzuberufen. Wer diesen Schritt heute immer noch verweigert, trägt dazu bei, daß zu „counter proliferation"-Strategie, zu militärischen Muskelspielen, und damit zur Vorbereitung auf einen dritten Golfkrieg keine Alternative bleibt. Das wäre fatal, vor allen Dingen für die Menschen in der Region. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Beer, ich denke, es wäre schon hilfreich, wenn man sich einmal den gesamten Redetext der Äußerung ansieht, auf den sich die PDS hier bezieht. Es sollte dabei auch der gesamthistorische und -politische Kontext berücksichtigt werden, ehe man zu einer Bewertung kommt. Worum geht es denn eigentlich? ({0}) - Es geht darum, Herr Kollege Lippelt, daß ein hochrangiger Analyst aus den USA mehr Verantwortung seitens der Europäer eingefordert hat; hierauf hat der Bundesminister der Verteidigung in einem Redebeitrag festgestellt, daß die Europäer und damit auch Deutschland dazu bereit sind. Als Vertreter der F.D.P.-Bundestagsfraktion kann ich daran nichts Kritikwürdiges feststellen. Insbesondere, Frau Kollegin Beer, hat der Kollege Rühe in keiner Weise den Parlamentsvorbehalt in Frage gestellt. Sie hätten hier einmal von Ihrem Text, den Sie sich vorher aufgeschrieben hatten, abweichen und zur Kenntnis nehmen sollen, was Minister Rühe dazu gesagt hat. ({1}) Spätestens, seitdem die Europäer beschlossen hatten, im Rahmen der WEU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einzuführen und die WEU zum europäischen Arm der NATO weiterzuentwikkeln, ist doch völlig klar, daß Europa und damit auch wir als Teil Europas mehr Verantwortung tragen werden. In bezug auf diese Haltung gibt es mit großen Teilen der Opposition eine breite Übereinstimmung. Diese Haltung ist auch ganz dezidiert die Position der Freien Demokraten hier im Hause. Wir wissen, daß wir mehr Verantwortung werden tragen müssen. Ich füge hinzu: Wir wollen uns ihr auch stellen und dieser Verantwortung nicht ausweichen. ({2}) Dies bedeutet, daß wir uns als wiedervereinte Nation besonders in multinationalen Systemen wie UNO, OSZE, NATO, EU und WEU stärker einbringen. Aus unserer Sicht bedeutet mehr Verantwortung aber natürlich auch, daß unsere Stimme stärker gewichtet wird. Lassen Sie mich noch näher auf die Sachlage, über die wir heute diskutieren, eingehen. Bis zum Jahr 1994 war Deutschland verfassungsrechtlich und - das sage ich ganz bewußt dazu - politisch nicht in der Lage, sich an bestimmten Operationen außerhalb der NATO, also etwa unter UNO-Mandat, zu beteiligen. Unabhängig davon - Minister Rühe hat darauf hingewiesen - hätten wir damals aber auch noch gar nicht die Ressourcen und Strukturen gehabt, um uns daran beteiligen zu können. ({3}) Mittlerweile ist die verfassungsrechtliche und auch die verfassungspolitische Seite geklärt. Auch hat die Bundeswehr seither Umstrukturierungen vorgenommen; dieser Prozeß ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Die Weltgemeinschaft und insbesondere unsere Verbündeten verfolgen unsere Entwicklung und begrüßen sie. Deutschland genießt das Ansehen eines souveränen Staates, an den aber auch entsprechende Anforderungen und Erwartungen gerichtet sind. Ich wiederhole: Diesen wollen wir uns auch stellen. Ich will allerdings hier auch darauf hinweisen: Mit der F.D.P.-Bundestagsfraktion wird es keinen Automatismus geben. Die Regierung wird keine Carte blanche bekommen. Wir Liberalen halten daran fest, daß jeder bewaffnete Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes hier im Deutschen Bundestag beraten und beschlossen werden muß, das heißt, das Parlament wird über jeden Fall einzeln entscheiden. Ich unterstütze ausdrücklich, was der Bundesminister dazu gesagt hat: Die Bundeswehr bleibt Parlamentsarmee. Das ist gut so. Ich denke, auch hierüber besteht Einigkeit. ({4}) Die F.D.P.-Fraktion hat keinen Grund, die bisherige Praxis der Bundesregierung bezüglich der Unterrichtung und der Beteiligung des Parlamentes zu kritisieren. Ich will auch dazusagen, es ist Sache des Parlamentes, in jedem Einzelfall darauf zu achten, daß es bei dieser Handhabung bleibt. Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate führen uns in dieser Diskussion nicht weiter. Es ist auch falsch, wie es Kollegin Beer tat, hier eine Gefährdung der Parlamentsrechte an die Wand zu malen. Herr Kollege Graf Einsiedel, es ist wirklich geradezu absurd, wenn ein Vertreter der Nachfolgeorganisation der SED uns über Fragen des Parlamentarismus und der Demokratie belehren will. War es nicht die SED, die dafür mitverantwortlich war, daß zum Beispiel der Prager Frühling zerschlagen wurde und 18 Millionen Deutsche 40 Jahre in Unfreiheit leben mußten? ({5}) Frau Kollegin Beer, weil Sie hier von Moral sprechen, sage ich: Es kann unmoralisch sein, eine Armee einzusetzen. Es kann aber auch unmoralisch sein, eine Armee nicht einzusetzen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Gysi.

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es stimmt nicht, was hier von manchen, auch von Karsten Voigt, gesagt wurde, der Verteidigungsminister habe sich korrigiert. Er hat heute - zu dieser Feststellung kommt man, wenn die Zitate stimmen; sie sind nicht dementiert worden - im Grunde genommen klipp und klar bestätigt, was er gesagt hat. Kollege Nolting, zum Thema Automatismus hat er gesagt: Sollte noch einmal eine Konstellation wie 1990/91 entstehen, so besteht überhaupt kein Zweifel, daß die Bundeswehr an Aktionen beteiligt ist. Wenn das keine Vorwegnahme einer Entscheidung durch den Bundestag ist, dann möchte ich wissen, was sonst eine Vorwegnahme sein soll. ({0}) In dieser Haltung drückt sich nicht nur eine Ignoranz gegenüber der Entscheidungshoheit des Bundestages aus. Dadurch wird auch das Risiko der Gefahr-in-Verzug-Regelung im Urteil des Bundesverfassungsgerichts deutlich; denn es ist leider immer noch nicht aus der Diskussion, zumindest seitens der USA, daß ein Militärschlag gegen den Irak geführt wird. Ich möchte einmal wissen, Herr Verteidigungsminister, was Sie eigentlich machen, wenn von Ihnen über Nacht, wie von hohen amerikanischen Vertretern nach dem Motto „mehr Verantwortung der Europäer" gefordert, eine Beteiligung verlangt wird. Sie haben heute hier erklärt: Es besteht überhaupt kein Zweifel: Wenn wir noch einmal um Solidarität gebeten werden - damit meinen Sie ja militärische Solidarität -, machen wir mit. Dieses bedeutet wieder eine Vorwegnahme der Entscheidung des Bundestages. Die Zielrichtung der Bundesregierung ist also klar: Beteiligung der Bundeswehr an einem neuen Golfkrieg, wenn er noch einmal passieren sollte, was wir alle nicht wünschen. Die Äußerung von Verteidigungsminister Rühe kam zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt. Die UN bemüht sich nämlich noch um eine friedliche Lösung. Die Äußerung zeigt genau, in welche Richtung die Militärpolitik der Bundesregierung gehen soll. Dabei spielt nicht nur die Symbolik, Mitglied im Klub der Großen zu sein, eine Rolle, sondern es gibt handfeste Hintergründe. Ich erspare mir das erneute Zitieren der verteidigungspolitischen Richtlinien aus seinem Hause, Stichwort: Zugang zu Rohstoffen. Ein Hintergrund besteht darin, einen globalen Führungsanspruch der Bundesrepublik innerhalb Europas gleichberechtigt neben den USA geltend zu machen. ({1}) Die Golfregion braucht keinen Militärschlag. Sie braucht endlich einen Durchbruch in der Eskalations- und Gewaltspirale. Zweifellos muß die irakische Führung die Kontrollen von UNSCOM zulassen; diese müssen durchgesetzt werden, aber nicht mit militärischer Gewalt. Es muß vielmehr ein anderer Kurs eingeschlagen werden; ein Kurs positiver Anreize, mit dem vor allem das Leiden der irakischen Zivilbevölkerung eingedämmt wird. Ich will ein Zitat aus einer arabischen Zeitung bringen, in der es heißt: Ein weiser und starker Mann wird dem Schwachen immer eine Option zu einem Rückzug in Würde geben. Doch die Vereinigten Staaten haben dem Irak nichts außer Blut, Schweiß und Tränen angeboten. ({2}) Wir stellen heute fest, daß auch in den Medien zur Kenntnis genommen wird, welche verheerenden Folgen diese Art von Embargopolitik gegenüber dem Irak, vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung, haben. In diesem Kontext ist die Erklärung Rühes fatal. Wer jetzt bereits ankündigt, Deutschland werde sich an zukünftigen Kriegsszenarien beteiligen, der erteilt Abenteuerstrategen aus dem Pentagon heute schon die Absolution und ermuntert sie. Das ist kontraproduktiv für eine friedliche Lösung der Krise in der Golfregion. Es ist auch bezeichnend, daß Sie parallel zu den UN-Verhandlungen und zu der Bemühung einer diplomatischen Beilegung der Krise eine solche Äußerung machen. Wir warnen davor - das ist genau Sinn und Zweck dieser Aktuellen Stunde -, diesen Vorgang nur als einen verbalen Ausrutscher zu kritisieren. Wir wollen die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, daß der Verteidigungsminister etwas gesagt hat, was mit der politischen Zielsetzung der Bundesregierung zu tun hat, nämlich mit deren militärpolitischem Kurs. Heute morgen wurde in der Debatte zum Sondergipfel zur Beschäftigungspolitik gesagt: Wer Kohl wählt, wählt Stillstand und Stagnation. Das mag sicherlich für die so dringend benötigten Reformen in dieser Gesellschaft zutreffend sein. Für die Frage des Aufenthalts deutscher Soldaten ist die Aussage wohl nicht ganz richtig. Da gilt offenkundig vielmehr: Wer Kohl und Rühe wählt, wählt die Gefahr eines Marschbefehls an den Golf. Das herauszuarbeiten war Aufgabe dieser Aktuellen Stunde. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reichardt.

Klaus Dieter Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002758, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will einige Hinweise aus der bisherigen Debatte aufnehmen und zu verdeutlichen versuchen, daß hier doch das Phänomen - ich sage es mit allem Nachdruck, wenngleich auch mit aller Kollegialität - der fehlenden geistigen Klarheit zu beobachten ist. Zum einen, Frau Kollegin Beer, werfen Sie dem Bundesminister der Verteidigung vor, er habe gesagt, daß unter seiner Verantwortung nie mehr Einsätze unter militärischer Führung der UN seitens der Bundeswehr mitgestaltet werden dürfen. ({0}) - Sie können das gem im Protokoll nachlesen. Gleichzeitig und parallel dazu sagten Sie, es sei unmoralisch, die UN-Sanktionspolitik zu unterstützen. ({1}) - Das war dann nicht sehr deutlich ausgesprochen. Jedenfalls war in unseren Reihen „UN" zu hören. Wir sind für die Korrektur sehr dankbar, aber aus dem Duktus Ihrer Rede war auch nicht erkennbar, daß diese Korrektur eine zwangsläufige ist. Die zweite Behauptung lautete, der Bundesminister habe das Recht des Parlaments in Frage gestellt, über militärische Aktionen zu entscheiden. Der Bundesminister kennt, trägt mit, unterstützt und bejaht nach meiner Kenntnis die Rechtslage. ({2}) Demnach ist keinerlei Unterstellung ihm gegenüber angemessen, er wolle in irgendeiner Form diese Rechtslage unterlaufen, aushöhlen oder auch nur für sich selbst in Frage stellen. ({3}) Der nächste Punkt ist die Behauptung, es würde erst ab der militärischen Stufe ernsthaft diskutiert. Ich bin jetzt seit drei Jahren Mitglied des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, und wir haben in dieser Zeit sehr viele Themen ernsthaft und variantenreich diskutiert, kontrovers diskutiert, manchmal zur Ermüdung der einen und zur nicht erfolgten Belustigung und Aufklärung der anderen, aber mir ist eines noch nicht aufgefallen: daß wir erst ab der militärischen Stufe ernsthaft diskutiert hätten. Wir haben in drei Jahren alle Herausforderungen, die uns national und international gestellt waren, ernsthaft diskutiert. Wir haben dies seriös getan, wir haben verantwortungsbewußt und verantwortungsvoll entschieden. Wenn man die Dinge in der Zusammenschau bewertet, dann sieht man, daß dieser Vorwurf schlicht und einfach nicht haltbar ist. ({4}) Ich sage das mit allem Ernst, auch ganz privat als jemand, der zwei kleine Söhne - zwei Jahre und zehn Monate bzw. ein Jahr und neun Monate alt - hat und daher auch an die nächsten Jahrzehnte, langfristig, denkt. ({5}) - Das habe ich von Ihnen nie lernen können. Ich komme nachher auf Sie schon noch zurück. Die Isolierung in der Dimension der Verantwortung, Frau Beer, das ist das eigentlich Gefährliche in der Doppelläufigkeit der grünen Politik. Klaus Dieter Reichardt ({6}) Was Volker Rühe gesagt hat, ist etwas, was hier in diesem Haus im Plenum - ich habe es selbst gehört - im Grundsatz Joschka Fischer gleichfalls bejaht hat und was Sie jetzt in der Möglichkeit, dies in Verantwortung aussprechen zu können, bestreiten. Diese Gespaltenheit führt Sie letztlich aus der Verantwortung heraus. ({7}) Sie führt Sie heraus aus der Dimension jedweder internationalen Kooperationsfähigkeit. Sie werden sich dennoch nicht darüber hinwegtäuschen können: Die Entwicklungen in den Vereinten Nationen, in der NATO, in den internationalen Gremien werden sich nicht nach den Spaltungserscheinungen der Bündnisgrünen ausrichten. Sie sind in all diesen Fragen ({8}) durch Ihre Gespaltenheit de facto isoliert und nicht entscheidungsfähig. Herr Kollege Nolting, während die einen immer gleich die rote Karte ziehen, wann auch immer etwas kommt, worüber sie einmal neu nachdenken müßten, meine ich dennoch, daß Sie die Union nicht dahin gehend mißverstehen sollten, wir stellten dem Minister eine Carte blanche aus. Es ist vielmehr für die vernünftigen Kräfte in diesem Parlament klar, daß wir allesamt das Karlsruher Urteil in all seinen Facetten bewertet, gewürdigt und meines Erachtens auch verinnerlicht haben. Daher bleibt die Bundeswehr eine Parlamentsarmee, insbesondere dann, wenn es um Out-of-area-Einsätze geht. ({9}) Der nächste Punkt: Liebe Frau Gysi - ich sage jetzt einmal „lieb", denn ich habe kurz vor Weihnachten 1996 eine kleine Auseinandersetzung mit ihr gehabt -, ({10}) Sie sprachen von einem in einer arabischen Zeitung erwähnten weisen Mann. Ich verstehe kein Arabisch, weiß aber, daß es dort gewöhnlich weise Männer gibt. Wenn Sie sich zu Gemüte führen, was der US-Botschafter Richardson gestern im UN-Sicherheitsrat in der Debatte über die Resolution 1137 ausgeführt hat, kommen Sie zu folgendem Ergebnis. Er fügte hinzu, die USA hätten nicht den Wunsch, den Irak, „a land of past greatness that could be great again", permanent unter Sanktionen zu sehen. Man erwarte den Tag, an dem die Sanktionen aufgehoben werden könnten. Sie sehen aus meinem Originalzitat, daß man nicht mit Pauschalverdächtigungen, mit 30, 40, 50 Jahre alten Pauschalformulierungen und mit Sprüchen wie „Abenteuerstrategen im Pentagon" und ähnlichem etwas bewerten kann. Dafür ist die Thematik am Golf viel zu ernst. Sie sollte sehr seriös behandelt werden. Genau dies haben Sie in der Art, wie Sie die Debatte heute angehen, im Grunde politisch einmal mehr verweigert. Ich gebe Ihnen noch eines zu Ihrer eigenen Geschichte zu bedenken.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, die Redezeit ist weit überschritten.

Klaus Dieter Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002758, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Noch ganz kurz: Die Nettokosten der Beseitigung von überschüssigem NVA-Gerödel betragen mehr als 1,4 Milliarden DM. Das ist nur der fiskalische Teil. Über den geistigen Müll, den Sie von der PDS verbreiten, will ich mich heute nicht weiter äußern. Danke. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Kolbow, SPD-Fraktion.

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schlußfolgerung von Frau Gysi, daß sich derjenige, der Kohl oder Rühe wähle, für den Marschbefehl an den Golf entscheide, ist sicherlich abwegig. ({0}) Daß wir über solche Verdächtigungen diskutieren müssen, haben Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, aber schon mitverursacht. Als ich die Rede von Herrn Schmidt gehört habe, hat sich bei mir der Eindruck verstärkt - auch wenn ich nicht die Schlußfolgerung der PDS ziehe -, daß es doch ganz gut gewesen wäre, wenn wir 1991 am Golf dabeigewesen wären, und daß sich daraus die zwingende Folgerung für einen Einsatz dann auch in jeder anderen Konfliktsituation - auch in dieser Region - ergibt. Sie hätten Herrn Brzezinski eine ganz andere Antwort als die in der Diskussion geben müssen. - Dies betrifft ja nicht Ihre Rede insgesamt. Ihre Rede war völlig in Ordnung. Es war viel sozialdemokratisches Gedankengut dabei. ({1}) Ein Stichwort war die gemeinsame Sicherheit. Das hat Egon Bahr erfunden und wird nun fortgesetzt von Volker Rühe. - Sie hätten aber Herrn Brzezinski auf seine Frage, wie es die Bundesrepublik in einer möglichen Konfliktsituation in dieser Region und bei internationalen Einsätzen halte, zum Beispiel sagen können - ich lese Ihnen einmal eine Antwort aus dem „Tagesspiegel" vom 12. November 1997 vor -: ... die Frage kann abstrakt nicht beantwortet werden. Allerdings ist in den letzten Jahren in der Bundesrepublik ein genereller Konsens in Grundfragen erreicht worden. Die Grundfrage war: Ist es Deutschland nach der Verfassung erWalter Kolbow laubt, außerhalb der Grenzen des NATO-Bündnisses Soldaten einzusetzen, ja oder nein? Dennoch gilt, daß in jedem Einzelfall das Parlament sein Ja oder Nein sagen muß. Eine inhaltliche Aussage im Zusammenhang „über eine mögliche deutsche Mitwirkung" kann im Augenblick weder mit Befürwortung noch mit Ausschluß beantwortet werden. ({2}) Mit dieser Antwort hat sich der CDU-Kollege Hornhues, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, ({3}) sehr viel diplomatischer und der Interessenlage unseres Volkes und der Streitkräfte angemessener geäußert als Sie, Herr Rühe, in Ihrer Antwort an Herrn Brzezinski. ({4}) Ich stelle die Frage, warum Sie so geantwortet haben. Sie sind ein im Umgang mit Medien erfahrener Mann. Sie reisen nach Bosnien-Herzegowina, wenn es Herrn Waigel als CSU-Vorsitzendem vor einem schweren Parteitag nützt, und verlassen dann auch Ausschußsitzungen - in Kollision mit Ihrer Pflicht, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. ({5}) Was war also Ihr Beweggrund, Herrn Brzezinski so zu antworten? - Sie wollten die Botschaft geben, daß sich Amerika bei weltweiten Einsätzen auf diese Regierung verlassen kann und uns auf Grund seiner Interessenlage in so etwas hineinziehen kann. Das ist die falsche Antwort gewesen, denn es kann nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, wir wären immer und überall zur Stelle, wenn Amerika es will. Dahin ging nämlich die Absicht Brzezinskis. Aber das ist nicht der Anspruch einer zivilen Friedensmacht, wie sie die Bundesrepublik Deutschland unserer Meinung nach sein sollte. Das halten wir Ihnen vor, Herr Bundesminister der Verteidigung. ({6}) Sie haben dann auch das deutsche Publikum bedacht. Sie fangen die Aussage ein und sagen, es werde keine vergleichbare Situation geben. Also: Allen recht getan? - Das geht nicht. Es muß Klarheit darüber bestehen, daß wir in jedem Einzelfall prüfen, ob ein eindeutiges und auch politisch stimmiges Mandat vorliegt, ob vor Operationen mit dem Recht auf Erzwingung alle nichtmilitärischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind und ob der friedensichernde Charakter der Maßnahme unbezweifelbar ist. Das hätten Sie Herrn Brzezinski sagen müssen. Sie hätten ihm auch sagen müssen, daß politische Hintergründe berücksichtigt werden müssen, die möglicherweise speziell Deutschland betreffen, daß das Ausmaß des Risikos für die beteiligten Soldaten, für die Sie der Oberbefehlshaber im Frieden sind und deren Wohl Ihnen ganz besonders am Herzen liegen muß, und daß die tatsächlichen praktischen Möglichkeiten einer Situation erkannt und berücksichtigt werden müssen. So hätten Sie antworten müssen, dann hätten Sie richtig geantwortet und hätten auf einer internationalen Veranstaltung einen Auftritt im Interesse unseres Landes gehabt. Sie haben das nicht getan; das ist bedauerlich und hat unserem Land nicht genützt. ({7})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich noch gut an den Golfkrieg. Ich erinnere mich daran, daß Saddam Hussein ihn begonnen hat, und daran, daß es, als er ein wehrloses Land überfiel, von dieser Seite des Hauses, meine Damen und Herren von der Opposition, erstaunlich wenig Proteste gegeben hat. ({0}) Ich erinnere mich daran, daß es, als dann eine Koalition von Staaten unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika auf der Grundlage eines Mandates der Vereinten Nationen den völkerrechtswidrigen Angriff Saddam Husseins rückgängig gemacht hat, indem sie am Golf eingriff, sehr wenig Solidarität und Unterstützung Ihrerseits gegeben hat. Ich habe es damals - genauso wie viele andere in meiner Fraktion und in der Koalition - als beklemmend empfunden, daß aus den Fenstern vieler von Ihnen damals Bettlaken mit Sprüchen wie „Gegen Amerika!" oder „Amerika soll sich raushalten!" hingen. ({1}) Ich kann mich auch noch an Sprüche wie „Desertieren statt krepieren!" erinnern. Das war die unwürdige Haltung und die unwürdige Reaktion von manchen auf Ihrer Seite. Die kritisieren wir. Das muß man heute wieder betonen. ({2}) Die Amerikaner hatten damals und haben heute Anspruch auf unsere Solidarität. Dabei gibt es zwei Dinge zu unterscheiden, die Sie unzulässigerweise versuchen zusammenzubringen. Das eine ist die damalige Situation. Kurz nach der Wiedervereinigung waren wir nicht weit genug, das zu tun, was eigentlich erforderlich und notwendig gewesen wäre, nämlich uns zu beteiligen. Das möchte ich in dieser Klarheit und Eindeutigkeit einmal sagen. Alle anderen Länder haben sich beteiligt, und ich und meine Fraktion möchten nicht einen nationalen Sonderweg für uns Deutsche. Wir sind in einem Bündnis. Wenn innerhalb dieses Bündnisses eine solche große Koalition zustande kommt, dann ist es meines Erachtens eine Selbstverständlichkeit, die der Minister ausgesprochen hat, nämlich daß wir uns daran beteiligen müssen. Das ist doch nichts Schlimmes. Das ist die eine Seite der Medaille. Mit dem, was wir heute an Ausbildung haben, und mit dem, was wir heute an verfassungsrechtlichen Grundlagen haben, hätten wir uns in der damaligen Situation nicht verweigert. Wir haben etwas ganz anderes gemacht: Wir haben die UNSCOM-Mission der Vereinten Nationen unterstützt. Das ist unendlich wichtig gewesen. Die UNSCOM ist die Organisation unter Leitung der Vereinten Nationen, die im Irak dafür gesorgt hat, daß dort in den letzten Jahren nicht weiter A-, B- und C- Waffen gebaut wurden, die bereits gegenüber dem Iran und der kurdischen Bevölkerung eingesetzt worden waren. Es gibt Tausende von Giftgasopfern als Opfer von Saddam Hussein. Was hier auch unter Führung des Verteidigungsministers mit Beteiligung der Bundeswehr gemacht worden ist, daß sich nämlich deutsche Soldaten an der UNSCOM-Mission durch Hubschrauber- und Transallflüge und durch die Zurverfügungstellung von Personal beteiligt haben, war keine Kriegstreiberei, sondern eine der größten Friedens- und Abrüstungsinitiativen in der Geschichte, und darauf sind wir stolz. Das ist das eigentliche Thema, über das wir uns heute hier unterhalten sollten. ({3}) Die UNSCOM-Mission war wichtig. Das sehen wir allein daran, daß Saddam Hussein immer wieder alle Welt beschwindelt hat. Wir haben das erlebt, als sein Schwiegersohn im August 1995 nach Jordanien geflohen ist und Material aus dem Irak geschmuggelt hat. Daraus wurde deutlich, daß Saddam Hussein 1991 bereits über biologische und chemische Waffen größeren Ausmaßes verfügte und daß er geplant hatte, diese mit Skud-Raketen auf Israel abzuschießen. Ich kann nur sagen: Es ist meines Erachtens ganz wichtig, daß die UNSCOM-Organisation im Irak weiter arbeiten kann und daß sie von uns die volle Solidarität erfährt. ({4}) Zuerst war es Herr Ekeus, jetzt Herr Butler. Sie sind wirklich keine Kriegstreiber, sondern verantwortliche Leute, die von den Vereinten Nationen dorthin geschickt werden. Wenn Saddam Hussein erstens sagt: „Die und die Inspektoren gefallen mir nicht" und zweitens sagt: „Ich schieße ein Aufklärungsflugzeug ab", dann muß die Weltgemeinschaft reagieren, ({5}) und zwar hart, entschieden und eindeutig. Wenn sie das nämlich nicht tut, dann wird jede weitere Bemühung um Eindämmung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen in Zukunft unglaubwürdig werden, ({6}) dann bereiten wir neuen Kriegen und neuen Einsätzen von Massenvernichtungswaffen geradezu den Weg. Dann tun wir genau nicht das, was Sie hier mit großen Worten als Friedenspolitik preisen. Dann tun wir denjenigen, die Krieg wollen, einen großen Gefallen. Deshalb muß man jetzt an jeder Stelle, wo Saddam Hussein internationales Recht bricht, eingreifen und klar sagen: Das machen wir nicht mit. Nun behaupten Sie, aus den Äußerungen des Ministers könne man irgendwelche Rückschlüsse auf die heutige Situation ziehen. Das ist nicht der Fall. Es hat niemand nach einer militärischen Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland nachgefragt, und es wird auch niemand anfragen. Ich will aber hinzufügen: Wenn die Iraker ein Aufklärungsflugzeug der Amerikaner abschießen und Amerika dann zurückschlägt, wird Amerika selbstverständlich die Solidarität Deutschlands haben. Herr Kollege Kolbow, das lassen wir uns von Ihnen nicht schlechtreden.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Ende. Ihre Redezeit ist weit überschritten.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Amerika hat unsere politische Solidarität. ({0}) Diese Solidarität ist dringend notwendig in einer schwierigen Welt. Wir wollen Amerika hier bei uns in Europa haben. Wir haben deshalb auch das Interesse daran, Amerika politische Solidarität zu geben, wenn es gegen solche Völkerrechtsbrecher und die Hersteller von Massenvernichtungswaffen geht. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn am Rednerpult das Licht mit der Aufschrift „Präsident" blinkt, dann heißt das: Die Redezeit ist zu Ende. Das bedeutet, daß dann schnell der letzte Satz gesprochen werden soll. Wir haben hier gleiche Chancen für alle. Als nächster hat der Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel das Wort.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Pflüger, Ihr emotionaler Beginn ({0}) führt mich zu einer prinzipiellen Bemerkung. - Herr Kollege, es spricht viel dafür, vor allem in Debatten, in denen es um Krieg und Frieden geht, die Emotionen zu unterdrücken. Herr Kollege Pflüger, ich werde der Idee des aus meiner Sicht bedeutendsten Preußen, Immanuel Kant, nämlich der Idee des ewigen Friedens, weiter zustimmen und engagiert für sie streiten. Ich halte alle Menschen, die, auch in teilweise emotionalen und vielleicht im Detail nicht richtigen Formen, für diese Idee demonstrieren - dazu gehört auch die damalige Demonstration mit Kerzen und Bettüchern -, allemal für sympathischer als jene Menschen, die, auch in Preußens Namen, mit der Notwendigkeit der Verteidigung der Sicherheit von Menschen ein tragisches Schindluder getrieben haben, mit dem wir immer wieder konfrontiert werden. ({1}) Deshalb würde ich mit Emotionen gegen Menschen, die für Frieden demonstrieren, zurückhaltend sein. ({2}) - Wenn Sie das für perfide halten, habe ich Ihre Emotionen an der richtigen Stelle getroffen. ({3}) - Das habe ich ganz ruhig gesagt. Das ist ja das, was Sie irritiert: daß man Ihnen ruhig die Wahrheit sagt, nicht mit Emotionen. Ich würde jetzt aber gern zur Sache kommen. ({4}) Die Sache ist der Frieden, nicht Ihre Emotionen. Bei der Behandlung von Fragen der Beziehungen zum Mittleren Osten werbe ich darum, drei Ziele miteinander in Übereinstimmung zu bringen: unsere Sicherheitsinteressen, die Interessen gemeinsamer wirtschaftlicher Aktivitäten und die Menschenrechte. Bei dem, worüber wir jetzt sprechen, steht zuerst die Sicherheitsfrage an. Ich mache dazu eine erste Bemerkung: Meine Kenntnisse von den Bemühungen, ({5}) im Irak A-, B- oder C-Waffen herzustellen, sind die, daß Gefahren durch diese Waffen auch für Europa und jedenfalls eindeutig für Israel nicht auszuschließen sind. Um diese Gefahren zu bannen, halte ich auf der Basis von Beschlüssen der UNO Einsätze und auch eine deutsche Beteiligung im Rahmen der Verfassung für möglich. Im Rahmen der Verfassung aber heißt: Es muß einen rationalen Dialog im Deutschen Bundestag über die strategischen Ziele und Zusammenhänge geben. Mein Eindruck ist - das ist meine kritische Bemerkung zu Ihren Äußerungen, Herr Bundesverteidigungsminister -: Ein rationaler Dialog über die strategischen Ziele im Zusammenhang mit unserem Sicherheitsinteresse gegenüber dem Irak hat seit der Kuwait-Krise nicht stattgefunden. Die Klagen über das Ausbleiben eines gründlichen Sicherheitsdialogs zwischen den Vereinigten Staaten und Europa sind bekannt. Auch Ihr Haus führt diese Klagen. Der zweite Punkt ist: Es ist zu fragen, ob Ausreichendes getan worden ist, um offenkundig nicht funktionierende Sanktionen mit unvermeidlichen Folgen an Leid für die Bevölkerung des Irak möglicherweise durch andere Strategien zu ersetzen. Mir fehlt ein ausreichendes Engagement der Bundesregierung in der Frage: Können Initiativen, die sich an der erfolgreichen Strategie von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa orientieren, auch auf den Nahen Osten angewandt werden? ({6}) Zu diesen Strategien gehört die Klärung der Voraussetzung. Die Voraussetzung - man muß sie deutlich aussprechen - ist: Wir Europäer und auch Israel haben es leicht. Beide haben die atomare Garantie der Vereinigten Staaten. Aber dazu, unter dieser Voraussetzung alles zu prüfen, was sonst getan werden kann, gehört, auch die Frage zu stellen: Wie empfinden das die Israelis? Ich weiß, daß Israel zu Recht essentielle Angst vor Angriffen mit A-, B- oder C-Waffen aus dem Iran oder dem Irak hat. Aber man wird diese Angst nur abbauen können, wenn man bei aller Klarheit über sämtliche Potentiale dieser Art in der Region - laut Abrüstungsbericht der Bundesregierung mit außerordentlich hoher Wahrscheinlichkeit auch in Israel, was die vornehmste Umschreibung des Nicht-zugeben-Wollens eines Faktums ist - einen offenen Dialog beginnt, um dann in Schritte eintreten zu können, die zur Verifikation in der ganzen Region führen. Das ist versäumt worden. Jetzt stehen wir wieder vor einer Situation, die sehr kritisch ist. Es stellt sich die Frage: dort eingreifen oder nicht? Ich halte es nicht für nützlich, schon vor einer rationalen Diskussion darüber, was dort passieren kann, zu signalisieren - und so wird es empfunden -: Deutsche Soldaten werden sich beteiligen. ({7}) - Dieser Eindruck ist enstanden; das haben wir Ihnen gesagt. ({8}) Wenn Sie es schafften, jetzt in diesen rationalen Dialog einzutreten, wäre das ein Fortschritt. Ich will als letztes eine Kritik an einem Aspekt der amerikanischen Diskussion, der mich erschreckt, äußern. Solange es in den Vereinigten Staaten Diskussionsbeiträge gibt, die besagen, Gott habe wegen Saddam Hussein die Cruise-Missiles erfunden, zeigt das für mich, daß dort ein Klima herrscht, dem entgegengetreten werden muß und dem man nicht dadurch Vorschub leisten darf, daß man voreilig signaliDr. Christoph Zöpel siert, man könnte hier ohne Klärung der Zusammenhänge etwas tun. Herzlichen Dank. ({9})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Krautscheid, CDU/ CSU-Fraktion.

Andreas Krautscheid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe von dieser Debatte den Eindruck bekommen, daß es sich bei ihr schon um eine Gespensterdiskussion handelt. Wir haben gerade zwei emotionale Reden von seiten der SPD-Fraktion gehört. Wenn man sie auf ihren rationalen Gehalt zurückführt, dann muß man sagen, daß durch sie im Prinzip das bestätigt wurde, was der Minister gesagt hat. In bezug auf die grundsätzliche Position trennt uns offensichtlich nichts. Alles, was darüber hinausgeht, wird als möglicher Eindruck, als eventuell denkbare Auslegung bezeichnet. Liebe Freunde, diese Variante entsteht in euren Köpfen, aber sie gibt es nicht in der Wirklichkeit. Das ist der Unterschied. ({0}) Ich werfe dem Kollegen Kolbow schon vor, daß er sich in einigen Teilen seiner Rede nicht sauber von den Initiatoren dieser Debatte und auch nicht von der Kollegin Beer abgegrenzt hat. ({1}) Denn nach meiner Meinung ist der eigentliche Grund für diese Debatte nicht ein längst richtiggestelltes und in seinem Kern als völlig richtig zu bewertendes Zitat des Bundesministers. ({2}) Vielmehr glaube ich, daß wir uns hier wieder einmal mit einer Lieblingsneurose der Linken zu beschäftigen haben - sie steckt in Ihren Köpfen drin -, nämlich mit der Fama von der Militarisierung der Außenpolitik. ({3}) Darauf ist es letztlich zurückzuführen, daß man auf Grund einer vagabundierenden Zeitungsmeldung, die längst korrigiert und richtiggestellt war, eine Aktuelle Stunde beantragt hat. Daß das auf einmal nötig ist, hängt, glaube ich, damit zusammen, daß in der politischen Linken und damit auch in einem Teil der SPD einige Leute bis auf den heutigen Tag nicht damit fertig geworden sind, daß man verrückt gewordene Aggressoren weder mit Bettlaken noch mit Lichterketten aufhalten kann. Jedesmal, wenn wir vor einer solchen Situation stehen, ist dieses Gespenst in den Köpfen zu finden. Das war 1991 beim Golfkrieg so; das war 1994 in Jugoslawien so, und - mit Verlaub - dieser Denkfehler steckte auch schon 1939 in einigen Köpfen. Ich will damit die Ereignisse nicht vergleichen. Ich glaube aber, es handelt sich um den gleichen Denkfehler. Deshalb ist es auch ein politisch verheerendes Signal, wenn man, obwohl die Haltung des Ministers völlig klar und unzweideutig ist - es ist vom klaren Parlamentsvorbehalt die Rede gewesen -, und obwohl ein Großteil der Opposition diese Meinung teilt, in einer solchen Debatte den Eindruck zu erwecken versucht, als sei doch vielleicht irgendwo ein Hintertürchen offen. Dies ist klargestellt worden. Es gibt keinen Anlaß für eine derartige Debatte. Ihr Anlaß war eine unbewältigte Neurose, die darin besteht, daß manche glauben, daß jetzt in der Außenpolitik nur noch das Militär gefragt sei. Jeder von uns, einschließlich des Ministers, ist von einer solchen Auffassung weit entfernt. Ich finde, eine Stunde unserer Arbeitszeit ist eigentlich zu schade, sie damit zu verplempern, dauernd diese linken Spinnereien zu bekämpfen. Ich danke Ihnen. ({4})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Brigitte Schulte, SPD-Fraktion.

Brigitte Traupe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im „Hamburger Abendblatt" vom 8. November 1997 mußte man lesen, daß der Leiter der Führungsakademie der Bundeswehr, Konteradmiral Lange, öffentlich behauptet hat, daß sein Dienstherr Volker Rühe Deutschlands einziger globaler Denker sei. ({0}) O Gott, welch beflissener Offizier, Herr Kollege Nolting, den der Außenminister nun als obersten UN-Offizier empfehlen soll! ({1}) - Sie sind also damit einverstanden, daß Herr Rühe als Deutschlands einziger globaler Denker bezeichnet wird? - Hervorragend! ({2}) In bezug auf die Golfregion hat Herr Rühe diese globalen Fähigkeiten weiß Gott nicht unter Beweis gestellt. Haben Sie mir im Jahre 1993 noch leid getan, Herr Kollege Rühe, als Sie beim Besuch der deutschen Soldaten in Somalia vor laufenden FernBrigitte Schulte ({3}) sehkameras stolperten, so habe ich mich schon darüber geärgert, daß Sie und die gesamte Bundesregierung es versäumt haben, nach der Bundestagswahl 1994 mit genügendem Abstand aufzuarbeiten, daß die westlichen Demokratien in Somalia einen Mißerfolg hinterlassen haben. Erfolg und Mißerfolg von Soldaten in internationalen Einsätzen zu analysieren ist doch aber eine Aufgabe des Bundesverteidigungsministers, denn er ist doch besonders für sie verantwortlich, zumal dann, wenn er sich, wie Sie, nicht gerade als globaler Denker, aber auch in außenpolitischer Funktion versteht. Wenn er den Mut besäße, dann ließe er auch seine Soldaten die kritischen Äußerungen tun, die ihnen nach Somalia dann sehr schnell unterbunden worden sind. Was Sie aber geritten hat, bei einem so sensiblen Thema wie der aktuellen Irak-Krise die Teilnahme der Bundeswehr am Golfkrieg nachträglich zu diskutieren, das bleibt Ihr Geheimnis. Wie schreibt die „Berliner Morgenpost" am 7. 11. in ihrem Kommentar? Der Bundesverteidigungsminister hat gestern in Berlin eine militärpolitische Bombe gezündet ... Wir hoffen doch nicht! Nein, Herr Kollege Rühe, man kann mit solchen Ausführungen nicht sorgfältig genug sein. Natürlich ist Saddam Hussein ein ruchloser Politiker. Der schwedische Diplomat Rolf Ekeus hat ja uns allen bestätigt, wie weit dieser Diktator mit der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen war, und seine von ihm selbst später ermordeten Schwiegersöhne haben bestätigt, wie er weiterhin trotz aller Kontrollen an der B- und C-Waffenforschung arbeitet. Aber in einer solchen kritischen Phase über den Einsatz von deutschen Soldaten am Golf zu reflektieren, das hilft uns allen wenig. Die Bundesregierung muß doch selbst alles tun, damit diese Krise entschärft wird. Ich finde es sehr wichtig, über das nachzudenken, was der Kollege Dr. Zöpel gesagt hat. Mit Ihrem Diskussionsbeitrag in Berlin haben Sie uns allen keinen Gefallen getan. Statt an der Diplomatie festzuhalten, haben Sie sich als globaler Denker disqualifiziert, ({4}) und Sie haben vor allem etwas getan, was ich sehr schlimm finde. Wenn es einmal um den Einsatz von Soldaten in militärischer Mission geht, dann müssen wir doch alle ein Interesse daran haben, daß das möglichst im breiten Konsens und nach sorgfältiger Diskussion erfolgt. Dann geht das nicht so, dann nehmen Sie sich bitte wieder zurück. Versuchen Sie nicht, diese schrecklichen Rambo-Allüren, die Ihnen ab und zu eigen sind, wieder darzustellen. Wir alle können nur gemeinsam hoffen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß uns ein Kampfeinsatz deutscher Soldaten - in welcher Region auch immer - noch lange erspart bleibt. ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Lummer, CDU/CSU- Fraktion.

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An sich soll man das Selbstverständliche nicht immer wieder betonen, weil es selbstverständlich ist. Aber manchmal muß man es unterstreichen. Selbstverständlich ist, daß friedliche Mittel ausgeschöpft werden müssen, wenn Krisen sind - es ist heute wieder bezweifelt worden -, daß die Vereinten Nationen ein Mandat liefern müssen - nicht die Vereinigten Staaten, wie manche hier unterstellen oder suggerieren wollen -, daß der Bundestag beteiligt wird - das heißt Einzelfallprüfung vor Aktionen - und natürlich auch, daß Verbündete konsultiert werden. Das ist selbstverständlich, da muß man sich einig sein. Wenn ich mir die Debatte angehört habe, dann frage ich mich, welche Motivation bei der Interpretation dieser Äußerung des Verteidigungsministers im Hintergrund gestanden hat. Bei einigen ist das ein Stück Antiamerikanismus. Sie haben Sorge, daß sie in den Trend amerikanischer Interessenpolitik geraten. Wir werden darauf achten müssen, daß das nicht geschieht. Aber Antiamerikanismus ist fehl am Platze. Das zweite aber, meine Damen und Herren, hat, glaube ich, mit folgendem zu tun: Ein Mitarbeiter der „Neuen Zürcher Zeitung" hat im Oktober 1996 einen Bericht über eine wehrpolitische Tagung verfaßt und geschrieben: Doch mit dem steigenden Gewicht des vergrößerten Staates kam ein Wandel in den Erwartungen des Auslands, das Deutschland mahnt, nicht mehr vorwiegend Konsument, sondern umgekehrt Produzent von Sicherheit zu werden. Bei der Tagung war zu hören, aus einem Objekt der Weltgeschichte sei man zum Subjekt geworden. Der noch immer umstrittene und eingeschränkte Einsatz der Bundeswehr zu Friedensmissionen werde eines Tages Normalität werden. Das ist, so glaube ich, genau der Begriff, mit dem wir uns hier im Haus und in der deutschen Gesellschaft schwertun: ({0}) Was ist „normal" in diesem Zusammenhang? Wir in Deutschland haben eine Sondersituation hinter uns, die wir auch immer wieder in Anspruch genommen haben - jene Sondersituation, die aus der Geschichte und dem geteilten Land hervorging und darin gipfelte, daß wir in der Frage der Außen- und Verteidigungspolitik einen spezifisch gesinnungsethischen Ansatz verfolgten. Das drückt sich in Äußerungen zur Pershing-Stationierung und anderen Aktionen aus, genauso wie in der Entlastung des Gewissens durch Lichterketten usw. Nur, je mehr wir in die Normalität der internationalen Politik hineinwachsen - dieser Prozeß hat längst begonnen und sich weit entwickelt -, desto mehr müssen wir von diesen „einfachen" Kategorien der Gesinnungsethik hin zu den „schwierigen" Kategorien der Verantwortungsethik kommen. Das ist der Prozeß, vor dem wir stehen. Die Ausführung des Verteidigungsministers habe ich so verstanden, daß er sie grundsätzlich gemeint hat, nicht bezogen auf den Einzelfall. Das heißt eben, daß wir in Zukunft zu prüfen haben, wann und wo wir mittun. Wir können uns nicht mehr mit irgendeinem Hinweis auf die Geschichte drücken, ({1}) sondern müssen konkret prüfen, was, wie der Kollege Zöpel gesagt hat, im Interesse des Landes ist, was im Interesse der Menschenrechte ist, was im Interesse der Weltgemeinschaft ist. Das bedeutet - die letzte Rednerin hat es gesagt - eine Globalisierung auch in der Verteidigungspolitik. Die Globalisierung beschränkt sich nicht auf die Wirtschaft, sondern zeigt sich auch in diesem Bereich. Damit geht ein Hineinwachsen Deutschlands in die internationale verteidigungspolitische Verantwortung einher. Der Standpunkt „Ohne mich!" ist da nicht mehr auf Dauer aufrechtzuerhalten. Über diese Situation, in der wir leben, sollten wir grundsätzlich nachdenken, damit wir solche Streitigkeiten nicht zu führen haben. Sie waren zum Teil wirklich unangemessen und gingen an der Sache vorbei. ({2}) Abschließend, Frau Präsidentin - im Zusammenhang mit dem Grundsätzlichen -, ein Zitat von einer Dame. Marie von Ebner-Eschenbach hat über das deutsche Sprichwort des Klügeren, der immer nachgibt, gesagt: „Wenn der Klügere immer nachgibt, bedeutet dies die Herrschaft der Dummheit." Meine Damen und Herren, bezogen auf Saddam Hussein heißt das: Wenn der Bessere immer nachgibt, wer hat dann die Herrschaft der Welt? Darüber sollten wir in der Diskussion über diese Fragen nachdenken, wenn einer meint, wir könnten uns immer drücken und das Feld denen überlassen, die die Welt mit Gewalt und auf sonstige Weise beherrschen wollen. Wir haben Verantwortung, und wir sollten die Verantwortung als Gleiche unter Gleichen annehmen. ({3})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler - Drucksache 13/8850 -({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 13/8983 - Berichterstattung: Abgeordnete Hartmut Koschyk Jochen Welt Cornelia Schmalz-Jacobsen b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes - Drucksache 13/6915 -Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Für eine integrative Aussiedlerpolitik - Drucksache 13/5569 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({3}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Andres, Christel Deichmann, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen - Drucksachen 13/3336, 13/7326 -Berichterstattung: Abgeordnete Eva-Maria Kors Jochen Welt Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Abgeordnete Ulla Jelpke von der Gruppe der PDS hat aus gesundheitlichen Gründen gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Ist das Haus damit einverstanden? - Gut, dann ist das so beschlossen.*) *) Anlage 2 Vizepräsidentin Michaela Geiger Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Horst Waffenschmidt, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Horst Waffenschmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002403, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Initiative der Koalitionsfraktionen zum Wohnortezuweisungsgesetz dient der weiteren sachgerechten Verteilung der Aussiedler in ganz Deutschland. Indem die Bindungsfristen bis zum Auslaufen des Gesetzes im Jahre 2000 verlängert werden, können neue Ballungsräume mit ihren Problemen verhindert werden. Das ist eine gute Zielsetzung. Ich will gleich an dieser Stelle sagen: Dieses Gesetz ist ein Gesetz für die Aussiedler und nicht gegen die Aussiedler. Deshalb bin ich froh, daß es wahrscheinlich eine breite Zustimmung finden wird. ({0}) Es dient insbesondere auch der besseren Akzeptanz der Spätaussiedler in der einheimischen Bevölkerung. Die sinkende Zahl der nach Deutschland kommenden Aussiedler und das Wohnortezuweisungsgesetz zusammen haben wesentlich geholfen, Probleme bei der Aussiedlerintegration zu bewältigen. Ich rufe die Bundesländer heute aber auch noch einmal dazu auf, in ihren jeweiligen Bereichen weiter intensiv von diesem Gesetz Gebrauch zu machen; ({1}) denn es reicht nicht, daß wir auf die Länder nur gleichmäßig verteilen; es muß in den Ländern auch umgesetzt werden. ({2}) Ich darf an dieser Stelle sagen: Es ist eine gute Sache, daß es weithin geschieht. Es gibt allerdings auch immer wieder die Notwendigkeit, Herr Kollege Graf, daran zu erinnern, daß hier jeder seinen Part spielen muß. Zusammengefaßt: Diese Ergänzung des Wohnortezuweisungsgesetzes ist eine Maßnahme für die bessere Akzeptanz der Aussiedler; sie soll den Aussiedlern, die zu uns kommen, dienen und keine Maßnahme gegen die Interessen der Aussiedler sein. Das scheint mir ganz wichtig zu sein. ({3}) Wir behandeln in dieser Debatte eine zweite Initiative. Sie kommt von der SPD und besagt: Es soll einen regelmäßigen Bericht des Aussiedlerbeauftragten an das Parlament geben. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, darüber haben wir schon im Innenausschuß gesprochen: Das ist überflüssig. Sie wissen: Ich gebe gerne regelmäßig und immer dann, wenn es gewünscht wird, Berichte und führe Diskussionen in Fachausschüssen, ({4}) ich schicke Ihnen auch gerne Informationen - aber wenn wir immer weiter formalisierte Berichtspflichten einführen, dann ist das kein Beitrag zum schlanken Staat. Deshalb sollten wir das lassen. ({5}) Nun komme ich zu einer weiteren Initiative. Sie geht schon etwas mehr ans Eingemachte. Es geht um die Initiative des Bundesrates zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Ich will hier schon zu Anfang sagen, meine Damen und Herren: Ich hoffe, daß dieser Vorschlag, diese Initiative der SPD-Mehrheit im Bundesrat nie in das Bundesgesetzblatt kommt; ({6}) denn sie ist eine Initiative, die den Aussiedlern sehr schaden würde. Mit dieser Länderinitiative nämlich soll den Rußlanddeutschen das gemeinschaftliche Kriegsfolgenschicksal aberkannt werden. ({7}) Diese Initiative verkennt völlig die Tatsachen und fällt den Rußlanddeutschen praktisch in den Rücken. ({8}) Selbst die russische Regierung hat angekündigt, daß es zu einer Rehabilitierung der Rußlanddeutschen kommen muß. Präsident Jelzin selbst und auch Ministerpräsident Tschernomyrdin haben sich ausdrücklich dazu bekannt, daß diese Rehabilitierung bei dem repressierten Volk der Rußlanddeutschen ansteht. Meine Damen und Herren, was würde wohl los sein, wenn wir in Deutschland sagen würden: „Diese Rußlanddeutschen haben gar kein Kriegsfolgenschicksal mehr"? - Auch in Rußland würden in allen Amtsstuben die Bücher zugemacht, und es würde gesagt: Wenn die Deutschen selber sagen, sie haben kein Kriegsfolgenschicksal mehr, dann brauchen wir auch nichts mehr für die Rehabilitierung dieser Menschen zu tun. - Deshalb sage ich: Dieser Gesetzesvorschlag darf keine Mehrheit finden. ({9}) Ich glaube, damit tun wir etwas zugunsten dieser leidgeprüften Menschen. Eine weitere Initiative der SPD beschäftigt sich mit Aktivitäten für die Integration der deutschen Spätaussiedler. Meine Damen und Herren, wir sind uns hier im Hause in großem Maße einig, daß wir ein Maximum an Anstrengungen auf uns nehmen müssen. Ich will kurz ins Gedächtnis rufen, was wir schon alles machen, weil das manchmal untergeht. Trotz notwendiger Sparmaßnahmen gibt der Bund in diesem Jahr rund 3 Milliarden DM für die Integration der deutschen Spätaussiedler in Deutschland aus, allein 1,5 Milliarden DM im Etat des Bundesarbeitsministers für Sprachförderung und Eingliederungshilfen. Wenn wir uns ansehen, welche Schwierigkeiten wir in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzsituation haben, mit den Etats und ihren AnforderunDr. Horst Waffenschmidt gen im einzelnen fertig zu werden, dann können wir feststellen, daß 3 Milliarden DM für die Integration der zu uns kommenden Aussiedler ein deutlicher Beweis dafür sind: Die Bundesregierung möchte auch in schwieriger Zeit an der Seite der Aussiedler stehen. ({10}) Ich möchte hier gern einen ganz besonders wichtigen Punkt aufnehmen. Mit Recht hat die SPD deutlich gemacht, daß die Kenntnis der deutschen Sprache ein Schlüssel zur Integration ist. Ich glaube, da sind wir uns hier alle einig. Wir müssen alles daransetzen, auf vielen Wegen, daß sich die Menschen, die zu uns kommen, bei uns als Deutsche verständlich machen können. Wir haben, weil wir sehen, daß diese Sprachkurse in Deutschland oft nicht ausreichen, in Rußland und in Kasachstan eine große Sprachoffensive begonnen. Wir sollten uns eigentlich alle in diesem Hause darüber einig sein, daß das, was wir hier betreiben, eine ganz große Kulturinitiative und ein Brückenbau zwischen den beiden Ländern ist. Es wird auch die Integration erleichtern. ({11}) Ich nenne die Zahlen: Wir haben in diesem Jahr über 128 000 außerschulische Sprachlernplätze für Deutsche in Rußland und Kasachstan zur Verfügung gestellt. Es ist eine gewaltige Leistung, wenn man das in solchen Ländern aufbaut. ({12}) Ich möchte Ihnen etwas weitergeben: Ich durfte neulich Bundespräsident Herzog bei seinem Staatsbesuch nach Rußland begleiten.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Herr Bundespräsident, ich muß Ihnen zu dieser tollen Initiative gratulieren, durch die so viele Menschen in Rußland Deutsch lernen können; wir freuen uns, daß auch Russen in die Kurse gehen können, um Deutsch zu lernen. Sie sehen an dieser Initiative, daß sie ein guter Brückenbau zwischen den beiden Ländern ist. In Verbindung damit ist zu sehen, daß wir hunderttausend Sprachtests durchführen. Wir überprüfen, ob die Leute, die gern zu uns kommen wollen, auch über die Sprachkenntnisse verfügen, über die sie nach dem Bundesvertriebenengesetz verfügen müssen. Ich nehme gern die Gelegenheit wahr, deutlich zu machen, daß Sprachtests in den Herkunftsgebieten letztlich auch den Aussiedlern helfen sollen und keine Schikane sind; ({0}) denn keinem Aussiedler ist geholfen, wenn er einen Fragebogen ausfüllt und schreibt, daß er gut Deutsch kann, wenn dem nicht so ist. Später kommt ein solcher Aussiedler zum Landratsamt A oder zur Stadtverwaltung B, und die Beamten stellen fest: Er kann gar kein Deutsch. Ich habe oft erlebt - ich glaube, dem Kollegen Welt geht es genauso -, daß man solchen „Aussiedlern" den Aufnahmebescheid aberkannt und ihnen gesagt hat: Ihr seid keine Aussiedler, zurück nach Rußland oder Kasachstan! - Wir müssen den Menschen auch um ihrer selbst willen ersparen, daß sie zurückmüssen, nachdem sie alles aufgegeben haben. ({1}) Deshalb halte ich es für eine kluge Maßnahme, daß wir die Sprachtests durchführen. Es ist schon eine tolle Sache, daß sich immer wieder - wir haben einen rollierenden Einsatz - 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und des Bundesverwaltungsamtes bereit erklären, nach Rußland und Kasachstan zu gehen und Konsularsprechtage im weiten Land abzuhalten, um diese Sprachtests durchzuführen. Ich sage das vor der Öffentlichkeit: Diese Sprachzeugnisse werden nicht bei der Mafia erworben, sondern bei deutschen Beamten wird der Test abgelegt. Darauf legen wir auch Wert. ({2}) Meine Damen und Herren, aus Anlaß dieser Debatte will ich gern darauf hinweisen, daß wir gute Ergebnisse bei den Integrationsmaßnahmen in Deutschland erzielt haben. Ich will das gar nicht schönreden; es gibt viele Probleme. Wir haben aber zwei Sonderreferate im Innenministerium und im Bundesverwaltungsamt geschaffen, in denen Experten sitzen, die über Fördermittel verfügen und in der Praxis - Kollege Graf, Sie wissen das - Projekte zur Integration besonders unterstützen. Es gibt auch Tausende ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Wir haben in diesem Jahr wieder den Bundeswettbewerb zur vorbildlichen Integration von Aussiedlern durchgeführt. Es haben sich 338 Initiativen beteiligt, und über 150 Preise in Gold, Silber und Bronze sind von einer unabhängigen Jury zugesprochen worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in über 338 ehrenamtlichen Initiativen steckt eine große Kraft und ein großer Einsatz für die Aussiedler. Ihnen wollen wir für ihr Engagement herzlich danken. ({3}) Zusammenfassend möchte ich in dieser kurzen Aussprache sagen: Es ist gut, festzustellen, daß wir in Deutschland alle gemeinsam - Bund, Länder und Gemeinden, Kirchen, soziale Verbände, Industrie, Gewerkschaften und wer sich sonst noch beteiligt - eine große Gemeinschaftsleistung vollbracht haben, indem wir in den letzten Jahren immerhin rund 2,5 Millionen Menschen bei uns integriert haben. Das ist mal besser gelungen, mal mit Schwierigkeiten; das kann niemand leugnen. Aber dies ist eine riesige Gemeinschaftsleistung. Ich möchte an dieser Stelle gern betonen: Es ist letztlich nicht nur wichtig, wieviel D-Mark wir haDr. Horst Waffenschmidt ben, sondern es ist auch wichtig, daß wir uns den Menschen zuwenden, daß wir sagen: Wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt, seid ihr nach wie vor bei uns willkommen. Ich möchte mit dem Satz schließen: Nach wie vor sind in vielen Bereichen unseres öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens die Rußlanddeutschen mit ihren großen Familien und vielen Kindern ein Gewinn für unser Land. Herzlichen Dank. ({4})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jochen Welt, SPD-Fraktion.

Jochen Welt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002472, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stimmen heute über eine Verlängerung des Wohnraumzuweisungsgesetzes für Spätaussiedler ab. Das machen wir Sozialdemokraten nicht voller Freude und auch nicht in der Gewißheit, daß eine weitere Wohnraumzuweisung in einem besonderen Maße eingliederungsfördernd ist. Nein, ein solches Gesetz ist leider notwendig, weil die vorhin von Herrn Waffenschmidt so über den grünen Klee gelobte Integrationspolitik, die Eingliederungspolitik dieser Bundesregierung in den vergangenen Jahren so kläglich versagt hat. Diese Eingliederungspolitik hat zu Problemen bei der Unterbringung in den Gemeinden, zu Problemen bei der beruflichen Integration und der sprachlichen Eingliederung sowie zu Problemen bei den jugendlichen Spätaussiedlern geführt. Auf Grund differenzierter Untersuchungen aus Nordrhein-Westfalen wissen wir, daß die Arbeitslosenquote bei den Spätaussiedlern bei fast 30 Prozent liegt, bei Jugendlichen sogar noch höher. Bei einer solchen Ausgangslage werden die Integrationsleistungen, die Hilfen des Bundes rigoros zusammengestrichen. Nach den Berechnungen der betreuenden Wohlfahrtsverbände ist in den Jahren 1994 bis 1996 trotz stabiler Aussiedlerzahlen das Geld für Eingliederungs- und Förderprogramme fast halbiert worden. Wenn sich die Spätaussiedler in solchen Notsituationen dahin orientieren, wo bereits Freunde und Verwandte sind, wo sie eine Notgemeinschaft finden, ist das mehr als nachvollziehbar. Mein Kollege Günter Graf hat in den vergangenen Jahren mehrfach aus seinem Wahlkreis von Aussiedlerquoten von über 20 Prozent, von zunehmender Jugendproblematik und steigenden Kriminalitätsraten berichtet. Was wir statt einer weiteren Wohnraumreglementierung eigentlich bräuchten, wäre eine verbesserte Integrationshilfe, wären mehr Sprachkurse, zielgruppengenaue Projekte für heranwachsende Jugendliche und spezielle Ausbildungs- und Arbeitsplätze in den besonders belasteten Regionen. ({0}) Für uns Sozialdemokraten ist klar: Eine wirksame Eingliederung, eine zur Selbsthilfe auffordernde Hilfe muß oberste Priorität einer wirksamen Spätaussiedlerpolitik sein. Eine solche Politik ist jedoch mit dieser Regierung offensichtlich nicht zu machen. Wir können nicht sehenden Auges zulassen, daß diese Kane weiter in den Dreck gefahren wird. Wir können nicht zulassen, daß in Gemeinden in Niedersachsen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen unter dem wachsenden Druck von Eingliederungsproblemen radikalisiert wird. Wir können andererseits die Spätaussiedler in den Ballungsgebieten auch nicht den Gefahren einer zunehmenden Aussiedlerfeindlichkeit dort aussetzen. ({1}) Daher haben wir zur Verbesserung der Situation in den Schwerpunktgemeinden im vergangenen Jahr über die sozialdemokratischen Innenminister der Länder das Wohnraumzuweisungsgesetz mit seiner längeren Zuweisungsdauer auf den Weg gebracht. Wir haben es hier gemeinsam mit den Stimmen der Koalition beschlossen. Nach den uns nun vorliegenden Erkenntnissen hat es zu Entlastungen in den Ballungsgebieten und zu einer gerechten Lastenverteilung in Deutschland geführt. Nur die Gesamtsituation hat sich noch nicht verbessert. Die Eingliederungspolitik der Bundesregierung ist nach wie vor desolat. Die Angst der Gemeinden vor einer Zuspitzung der Situation nach Auslaufen der Zuweisungsfrist im kommenden Jahr ist groß. Deshalb bejahen wir die Verlängerung der Zuweisungsfrist bis zum Jahr 2000, obwohl wir wissen, daß wir den Zuwanderern hier einiges zumuten. Es gibt ernst zu nehmende Stimmen, die das Gleichheitsgebot und das Recht auf Freizügigkeit unserer Verfassung in Gefahr sehen. Hier gilt es, zwischen der individuellen Beeinträchtigung und der Gefahr genereller sozialer Verwerfungen abzuwägen. Die Verfassungsbedenken können wir so allerdings nicht teilen, weil es hier ausschließlich darum geht, die notwendigen Integrations- und Sozialleistungen an den zugewiesenen Wohnraum zu binden. Nun bezieht sich unser Antrag zur Integration von Spätaussiedlern folgerichtig auch darauf, die Zuwanderung für Spätaussiedler zu quotieren, sie berechenbar zu machen und die Zahl der zu uns Kommenden an der Integrationsleistungsfähigkeit zu orientieren, das heißt an den bereitstehenden Mitteln und Möglichkeiten sowie an den Chancen, die sich bei der Qualifizierung sowie im Arbeits- und im Wohnungsmarkt ergeben. Wir haben uns 1992 gemeinsam auf eine Quote von 200 000 Spätaussiedlern geeinigt, vor dem Hintergrund der damaligen Eingliederungsbedingungen und der damaligen Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten haben sich inzwischen dramatisch verschlechtert. Ich fordere Sie deshalb eindringlich auf: Seien Sie in der Frage der Integration doch ehrlich! Sagen Sie den Menschen draußen deutlich, was machbar ist! Sagen Sie, daß bei der gegenwärtigen Leistungsfähigkeit dieses Staates guten Gewissens nicht mehr als 100 000 Spätaussiedler aufgenommen werden können! Dies wäre eine ehrliche Konsequenz. ({2}) Aber, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie sind nicht ehrlich. Sie fingern jetzt mit Sprachtests herum, die in ihrer Qualität und Aussagekraft höchst unterschiedlich bewertet werden. So wollen Sie auf kaltem Weg, verbunden mit einer von Fachleuten vermuteten Antragshortung beim Bundesverwaltungsamt, wenigstens kurzfristig - vielleicht bis zu den kommenden Bundestagswahlen - ebenfalls eine Reduzierung der Spätaussiedlerzahlen erreichen. Aber auch die Vertreter der Landsmannschaften der Spätaussiedler und der Betreuungsverbände haben dieses dubiose Spiel längst durchschaut. Meine Damen und Herren von der Koalition, verlassen Sie diesen Weg der Roßtäuscherei! Die Menschen sind nicht so dumm, wie Sie denken. Unsere Forderungen liegen auf dem Tisch: Erstens. Einigen Sie sich mit uns auf eine jährlich festzulegende Quote für Spätaussiedler, die sich an den sozialen und ökonomischen sowie finanziellen Bedingungen orientiert! Wir dürfen nur diejenigen zu uns bitten, denen wir in unserem Lande ein menschenwürdiges Zuhause bieten können. Dies muß die Richtschnur unserer Bemühungen sein. ({3}) Zweitens. Hellen Sie endlich den Ballungsräumen und Schwerpunktgebieten der Spätaussiedler mit zusätzlichen Integrationshilfen! Drittens. Entlasten Sie die Gemeinden, anstatt die Garantiefondsmittel und die Sprachkurse immer weiter zurückzufahren! Die Mittel für den Garantiefonds, mit dem in besonderen Problemsituationen mit Projekten und ähnlichem geholfen werden konnte - das gilt insbesondere für den Bereich gefährdeter Jugendlicher -, müssen aufgestockt werden, mindestens auf das Niveau von 1994. ({4}) Wenn Sie uns in diesem Zusammenhang nicht glauben, dann hören Sie doch wenigstens auf den Bundespräsidenten. Gestern sagte er in Berlin: Deutsch für Ausländer gehört zu den wichtigsten pädagogischen Aufgaben in unserem Land. Das gilt gerade auch für unsere Spätaussiedler. ({5}) - Sie wissen genauso gut wie ich, Herr Kollege Marschewski, daß diejenigen, die zu uns kommen, über immer weniger Deutschkenntnisse verfügen. Insoweit sind sie durchaus mit Ausländern vergleichbar. Wenn Sie dem nicht Rechnung tragen, haben Sie von der Sache keine Ahnung. Das ist die Situation. ({6}) Deshalb viertens: Entwickeln Sie doch endlich einmal konzeptionell Sprachkurse, die eine soziale und vor allen Dingen eine berufliche Integration schneller ermöglichen. Das betrifft die Inhalte, aber auch die Dauer solcher Sprachkurse. Ein Crashkurs von drei Monaten bietet hier überhaupt keine Chancen. Sollten Sie diese Forderungen nicht erfüllen, sollten Sie auch dazu nicht in der Lage sein, dann muß die Zahl der Einreisenden an den tatsächlichen Möglichkeiten, die wir haben, orientiert werden. Das bedeutet vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzsituation und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Reduzierung auf nicht mehr als 100 000 zu uns reisender Spätaussiedler pro Jahr - dies unter Beibehaltung des grundsätzlichen Zuwanderungsanspruches. Die Wechselwirkung ist dann für alle Seiten durchschaubar und fair. Die jetzige Politik der Bundesregierung ist dagegen eine Quotierung durch die Hintertür. Diese führt bei den Kommunen, aber auch bei den einreisenden Menschen zu erheblichen Unsicherheiten, und sie führt zu Verärgerung im Land. Immer mehr Menschen, die inzwischen hier sind, wissen, daß die von Herrn Waffenschmidt so oft zitierten offenen Türen in Wirklichkeit Drehtüren sind. Sie gestatten dem größten Teil der Spätaussiedler einen kurzen Blick ins gelobte Land und leiten sie dann wieder nach draußen vor die Tür in die soziale Kälte. Ihre Spätaussiedlerpolitik hat nicht nur zu Belastungen für die Spätaussiedler, für die Gemeinden und Verbände geführt, sondern sie hat auch zu mehr Unfrieden in unserem Land geführt. Es ist eine bittere Realität, wenn in den Publikationsorganen und durch Verbandsvertreter der Spätaussiedler in Deutschland inzwischen massiv Front gegen die Eingliederungspolitik und die Versprechenspolitik dieser Bundesregierung gemacht wird. Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, auf: Stimmen Sie unserem vorliegenden Antrag zu. Grenzen Sie die zu uns kommenden Menschen nicht länger aus, sondern beziehen Sie sie in eine ehrliche, sozial ausgewogene und leistbare Integrationspolitik ein! ({7})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst mit drei Feststellungen beginnen, bei denen ich davon ausgehe, daß wir in diesen Fragen im Hause Einigkeit haben. Zum einen glaube ich - das wurde in den bisherigen Reden, die wir in diesem Hause zu dem Thema hatten, deutlich -: Die klassischen Regelungen für die Aussiedlerpolitik laufen aus. Wir führen im Grunde eine Debatte, die wir in einigen Jahren in dieser Form mit Sicherheit nicht mehr führen können. Zweiter Punkt. Wir sind uns im Ziel einig, nämlich daß wir eine gerechtere Verteilung der Aussiedler über die Bundesländer und über die Kommunen wollen. Allerdings sind wir uns nicht in den Methoden einig; das möchte ich ausdrücklich der Rede des Kollegen Welt von der SPD hinzufügen. Ich teile Ihre Kritik an der Bundesregierung, komme allerdings - das werde ich ausführen - zu einem anderen Ergebnis. Der dritte Punkt. Wir sind uns sicherlich auch darin einig, daß die Aussiedler größtenteils ein sehr grausames, ein sehr unmenschliches Schicksal hinter sich haben. Die Menschen, die in der ehemaligen Sowjetunion, vor allem in der Stalin-Ara, dafür leiden mußten, daß sie deutscher Herkunft waren, mußten stellvertretend für die Nazidiktatur einen sehr hohen Preis zahlen. Insofern sind wir uns darin einig, daß wir für diese Menschen Verantwortung haben und uns hier nicht wegdrücken können. Allerdings gehören die Aussagen in Sonntagsreden, daß die Aussiedler ein Gewinn für unsere Republik seien und daß das Tor offen bleibe, all diese Aussagen, die wir in Festreden gehört haben, zunehmend der Vergangenheit an. Auch die Union muß erkennen - der Kollege Welt hat das ausgeführt -, daß die Aussiedler für die Union nicht mehr ein „g'mäht's Wiesle" sind, wie man im Schwäbischen sagen würde, das heißt, daß sie nicht mehr blindlings darauf vertrauen kann, daß die Aussiedler das Kreuz da machen, wo „Union" steht. Die Aussiedler schauen genau hin, wie es mit den Integrationsleistungen aussieht und beobachten sehr aufmerksam, daß die Union, die davon spricht, daß das Tor offen sei, dieselbe Union ist, die bei den Sprachkursen, bei den Integrationskursen und bei den Eingliederungshilfen kürzt und damit massive Probleme vor Ort erzeugt. Zunehmend werden die Aussiedler zu Stiefkindern, und die Absatzbewegungen sind nicht mehr zu kaschieren. Dazu gehören mit Sicherheit auch die hohen Hürden bei den Sprachtests, die eingeführt worden sind. Ich glaube nicht, daß es eine Lösung ist, die Zahl der Aussiedler auf diese Weise zu reduzieren. Ich stimme hier dem Kollegen Welt zu: Wir müssen uns über neue Methoden unterhalten, wie wir die Aussiedlerfrage lösen können. Einerseits sagen Sie nein zu einem Einwanderungsgesetz, das sicherlich nach einer Übergangsfrist, in der der Vertrauensschutz gewährleistet werden muß, eine neue, nicht an ethnischen Kriterien orientierte Regelung wie Zuwanderung bieten könnte. Andererseits vergeht quasi kein Monat, in dem uns nicht Staatssekretär Waffenschmidt mit neuen Rekordergebnissen überrascht, daß die Zahl der Aussiedler im Vergleich zum Vormonat, im Vergleich zum Vorjahr und im Vergleich zum Vorjahrzehnt zurückgegangen sei. Sie feiern das jedesmal geradezu als Erfolg. Das übrigens auch als Anmerkung zum Antrag der SPD: Ich glaube - bei aller Kritik an der Arbeit dieser Bundesregierung - nicht, daß es einen Mangel an Berichten gibt. Herr Waffenschmidt gehört mit Sicherheit zu den Staatssekretären, die mit die eifrigsten sind, sicherlich auch, was das Produzieren von Papier angeht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir weitere Berichte brauchen. Man könnte sich darüber unterhalten, ob man das bündeln könnte. ({0}) Aber ich glaube nicht, daß wir einen Mangel an Papier haben. Der Wind in der Gesellschaft weht rauher; er weht auch rauher ins Gesicht von Aussiedlern. Wir merken das an den Kürzungen, die wir überall haben. Wir merken aber auch, daß die Probleme vor Ort dramatischer werden. Besonders den Aussiedlern schlagen Ressentiments ins Gesicht. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, gerade auf das Schicksal von Jugendlichen hinzuweisen, die besonders dramatisch darunter zu leiden haben, denen man in Rußland immer erzählt hat, daß sie ein deutsches Bewußtsein zu pflegen hätten, und die jetzt hier genau dies in Frage gestellt bekommen und zum Teil mit Gewalt, zum Teil mit dem Weg ins Ghetto reagieren. Ich glaube, wir sollten hier ein klares Signal setzen, daß die Aussiedler - und nicht nur die Aussiedler, sondern all diejenigen, die in dieser Gesellschaft leben müssen, die woanders herkommen - mit unserer Solidarität rechnen können. Wir sollten all denen, die diese Menschen als Rucksackdeutsche oder in ähnlicher Weise verunglimpfen, sagen: So darf man mit diesen Menschen nicht umgehen. ({1}) Ich muß leider zum Schluß kommen. Deshalb, wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, mein letzter Satz. Ich möchte es noch einmal ausdrücklich sagen: Wir können dem Wohnortzuweisungsgesetz nicht zustimmen, weil dieses Gesetz, wenn man es abwägt - wir haben es wirklich kritisch abgewägt -, einen schwerwiegenden Eingriff ins Grundgesetz darstellt. Ich glaube nicht, daß man das Problem so lösen darf. Wir brauchen künftig eine Debatte über das gesamte Thema Zuwanderung. Wir dürfen sie nicht länger mit ideologischen Scheuklappen führen. Ich danke Ihnen. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile jetzt der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Jahr für Jahr größte Gruppe an Zuwanderern, die Deutschland hat. Sie ist quotiert worden und unterschreitet Jahr für Jahr diese Quote. Es sind enorme Leistungen an Integration vollbracht worden, und zwar von beiden Seiten: sowohl von seiten der aufnehmenden Gesellschaft wie von seiten der Menschen, die zu uns gekommen sind. ({0}) Das hält im Prinzip weiter an. Aber wir dürfen die Augen nicht vor Problemen verschließen - deswegen sitzen wir heute hier und beraten eine Gesetzesverlängerung -, die sich vor Ort ergeben haben. Es ist nicht leicht - ich glaube, kaum einem, der hier zustimmt, fällt diese Entscheidung leicht -, ein Wohnraumzuweisungsgesetz a) zu beschließen - was wir getan haben - und b) zu verlängern. Es geht schlicht um nicht mehr, aber auch um nicht weniger, als darum, Freizügigkeit für eine bestimmte Personengruppe, die Sozialhilfe erhält, einzuschränken. Aber wir wären fahrlässig, wenn wir die Probleme vor Ort nicht sehen würden. Schon der Beschluß des Gesetzes ist uns nicht leichtgefallen. Zahlreiche Schreiben von Dachverbänden und Kirchen ermahnen uns, man dürfe Freizügigkeit schon aus Gründen der Grundsätzlichkeit nicht einschränken, man dürfe Vertrauen nicht zerstören. Das alles ist wahr. Aber Stimmen aus Kirchengemeinden und von Verbänden vor Ort, die mit den Schwierigkeiten konfrontiert sind, klingen anders, sehr viel realitätsbezogener. Das wissen wir doch. ({1}) Ich selber ärgere mich, offen gestanden, darüber, daß wir die Bindung an die Zuweisung beim ersten Beschluß zu diesem Gesetz auf zwei Jahre begrenzt haben. Wir hätten damals klüger sein müssen. Es fällt auch mir schwer, das rückwirkend zu machen. Und weil uns das schwerfällt, haben wir die Verfassungsmäßigkeit angefragt und überprüfen lassen. Da bestehen nun offenbar keine Probleme mehr. Die Schwierigkeiten vor Ort sind vielfältig. Sie haben etwas mit der Zusammenballung zu tun. Ziel unserer Gesetzesverlängerung ist, daß Menschen an möglichst vielen Orten Wurzeln schlagen, daß sich die Verteilung der Spätaussiedler entzerrt. Das ist wichtig. Ich will Ihnen sagen: Die Initiativen, die vor Ort mit Spätaussiedlern zusammenarbeiten, haben die Unterscheidung - die häufig nur in den Köpfen vorgenommen wird, allerdings auch im Paß steht - längst über Bord geworfen, daß sie das eine für Spätaussiedler und das andere für Ausländer machen. Die Hälfte der kommunalen Ausländerbeauftragten - das weiß ich gut - macht da keinen Unterschied. Sie sind nämlich für beide Gruppen zuständig. Das halte ich für absolut vernünftig. ({2}) Es ist richtig, daß der Kollege Waffenschmidt immer wieder Anpassungen vorgenommen hat, daß zum Beispiel der Deutschunterricht am Herkunftsort stattfindet. Ich halte es grundsätzlich für unglücklich, wenn jemand die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, der der Landessprache nicht mächtig ist. Das gilt für alle. ({3}) Es ist vernünftig, die Probleme vor Ort zu sehen und die Menschen, die in einer gleichen Situation sind, auch gleichzubehandeln. Es ist höchst unvernünftig, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen. Die Menschen können nichts dafür, wenn sie bei ihrer Ankunft schwierigere Verhältnisse vorfinden, als sie sich das vorher gedacht haben. Dann nützt es nichts, auf deren Rücken - um welche Gruppe auch immer es sich handeln mag - irgendwelche Wahlkämpfe auszufechten. Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland hat die Probleme der Zuwanderung im großen und ganzen äußerst vernünftig bewältigt. Das möchte ich hier doch einmal sagen. ({4}) Wir haben eine große Anzahl an Zuwanderungen gehabt und haben sie - vor allen Dingen durch diese eine Gruppe - bis auf den heutigen Tag. Lassen Sie mich auch noch sagen: Der ländliche Raum hat sehr großen Anteil an der Bewältigung der Probleme dieser Gruppe. Dafür bin ich sehr dankbar. ({5}) Nun lassen Sie uns realitätsbezogen bleiben und nicht weiter diese Teilung vornehmen, damit wir die vielfältigen Aufgaben auch in Zukunft vernünftig bewältigen können. Danke schön. ({6})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, darf ich Ihnen noch bekanntgeben, daß die Abgeordnete Christa Lörcher eine Erklärung gemäß § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben hat.*) Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler, Drucksache 13/8850. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/8983, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen liegen keine vor. Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/ CSU, F.D.P. und - mit einer Ausnahme - SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkte 5 b und 5 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6915 und 13/5569 an die in der Tagesord- *) Anlage 3 Vizepräsidentin Michaela Geiger nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 5 d: Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Erstellung eines jährlichen Berichts des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, Drucksache 13/7326. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3336 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Norbert Gansel, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre - Drucksache 13/6452 - ({0}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gerald Häfner, Rezzo Schlauch, Volker Beck ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre - Drucksache 13/7329 -({2}) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes - Drucksache 13/7554 - ({3}) a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksache 13/8974 - Berichterstattung: Abgeordnete Erwin Marschewski Peter Conradi Rezzo Schlauch Dr. Max Stadler Ulla Jelpke b) Berichte des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 13/9031, 13/9032, 13/9033 - Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Dr. Wolfgang Weng ({6}) Ina Albowitz Karl Diller Uta Titze-Stecher Oswald Metzger Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Erwin Marschewski, CDU/CSU- Fraktion.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ist das, was unsere Bundesminister oder zum Beispiel der Bundeskanzler verdienen, eigentlich unangemessen? Sie wissen, in Wirtschaft und Industrie wird ein Vielfaches gezahlt. Der Bankdirektor meiner Heimatbank in Recklinghausen, einer mittelgroßen Stadt, verdient mehr als ein Bundesminister. Ich meine, darüber muß man einmal nachdenken. Auf Grund der Tatsache, daß der Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Industrieunternehmens, Herr Schrempp, das Sechs- bis Siebenfache von dem verdient, was der Bundeskanzler bekommt, müssen wir uns wirklich die Frage stellen: Sind unsere Spitzenleute - und damit eigentlich auch wir so wenig wert? Auch die Versorgungsbezüge in der Wirtschaft liegen bei weitem über denen, die Bundesminister bekommen. ({0}) - Herr Kollege, ich möchte mit meiner Rede fortfahren. Heute ist das Übergangsgeld Thema dieser Debatte. Warum zahlen wir Übergangsgeld? Wir zahlen es, weil wir die Unabhängigkeit der Regierungsmitglieder sicherstellen wollen und weil wir den Übergang ins Berufsleben erleichtern wollen. Es ist doch so, daß die berufliche Stellung aufgegeben wird und daß keine Einengung der politischen Entscheidungsfreiheit wegen späterer beruflicher Absicherung geschehen soll. Zum Vorschlag der Bundesregierung: Im geltenden Recht werden Einkünfte aus einer Berufstätigkeit im öffentlichen Dienst auf das Übergangsgeld angerechnet. Diese Regelung wollen wir konkret erweitern. Wir wollen auch die Erwerbseinkünfte aus privater Berufstätigkeit anrechnen, und zwar in voller Höhe. Ich meine, Herr Kollege Conradi, dies ist doch ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Was wir wollen, ist, Überversorgung und Doppelalimentation soweit wie möglich einzuschränken. Meine Damen und Herren der SPD und insbesondere der Grünen, Sie wollen mehr. Sie wollen insbesondere die Abkoppelung der Amtsbezüge von der Beamtenbesoldung und begründen dies damit, die notwendige Transparenz sei ansonsten nicht gegeben. Ich muß dem widersprechen. Sie wissen ja, daß eine Ankoppelung an die B-11-Bezüge besteht. Jedesmal, wenn wir im Deutschen Bundestag über die Beamtenbesoldung entscheiden, wissen wir natürlich, daß wir auch über die Besoldung dieses Teils der Exekutive, also die der Bundesminister und des Bundeskanzlers, mit entscheiden. Dies ist sachgerecht, da die Bundesregierung völlig unstreitig zur Exekutive gehört. ({1}) - Darauf haben wir leider keinen Einfluß. Ich weiß, was in der Diskussion eine Rolle spielen könnte. Ich würde die Situation gerne verändern; das ist richtig. Aber das liegt in der Kompetenz der Länderparlamente. Nun zum Gesetzentwurf der Grünen: Sie wollen das Ruhegehalt erneut mindern und das Übergangsgeld herabsetzen. Ich will in dieser Debatte nicht scharf werden. Aber ich bin fast versucht, zu sagen, die Grünen wollen Wasser predigen und Wein trinken. ({2}) Warum sage ich dies? Ein bekannter Kollege von den Grünen hat nach seinem Ausscheiden als hessischer Minister bis Oktober letzten Jahres Übergangsgelder bezogen. ({3}) Für seine Tätigkeit von 1991 bis 1994 standen ihm Übergangsgelder in Höhe von über 258 000 DM zu, die er - mir ist nichts anderes bekannt - angenommen hat. ({4}) Meine Kollegen von den Grünen, ist es denn redlich, erst dann eine andere Regelung zu fordern, nachdem Ihr Boß abkassiert hat? Ich nenne einen weiteren Fall aus Hessen, der insbesondere Sie von den Grünen angeht. Da gibt es den Staatssekretär a. D. Schädler. Er war vier Monate im Amt und bekommt jetzt fünf Jahre lang 75 Prozent der B-9-Bezüge. Wer nicht weiß, wie hoch diese Besoldung ist, dem sage ich: Es handelt sich um rund 660 000 DM. Das ist eine Regelung, die die grün-rote Landesregierung in Hessen beschlossen hat. Ich sage in aller Sachlichkeit: Bitte nicht Wasser predigen und Wein trinken. Ihre Forderung weicht auch ab von der Realität. Sie begründen Ihre Forderung mit der Auffassung, es sei eine Anpassung an entsprechende Regelungen im Beamtenrecht vonnöten. Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Ich meine, daß insbesondere Minister eine besondere Verantwortung tragen. Dafür sollte auch ein besonderes Entgelt gezahlt werden. Es ist doch überwiegend so, daß die meisten Minister noch mehr als die meisten Abgeordneten gefordert sind; das ist sicher richtig. Aber ich will - nur zum Nachdenken - doch sagen: Es gibt auch Abgeordnete, die sicherlich Vergleichbares leisten. Ich denke, Herr Kollege Penner, an die Ausschußvorsitzenden. ({5}) Ich denke an andere besondere Verantwortungsträger, Herr Kollege Eylmann, in den Fraktionen. Ich meine, wir sollten darüber nachdenken, ob diese nicht auch eine angemessene Bundestagsentschädigung erhalten können. Ich würde dies meinerseits selbstverständlich anregen. Zurück zu den Ministern und zu den Parlamentarischen Staatssekretären: Ich meine, sie müssen Übergangsgeld erhalten, weil ihnen eine anderweitige berufliche Tätigkeit untersagt ist und weil sie sich eben nicht auf eine gewisse Dauer ihrer Amtszeit einrichten können. Natürlich muß das mit anderen Einkünften verrechnet werden. Das, was in der unmittelbaren Vergangenheit geschehen ist, wird es nicht mehr geben. Öffentliche Einkünfte und private Einkünfte werden in Zukunft entsprechend angerechnet. Jetzt wollen die Grünen noch mehr. Sie wollen, daß auch das Geld eines Bundestagsabgeordneten erhöht angerechnet wird auf das Geld, das Minister als Pension oder - wenn sie im Dienst sind - als Ministergehalt bekommen. Ich halte eine teilweise Anrechnung für richtig; sie erfolgt ja auch zu 50 Prozent. Aber ich bin nicht dafür, eine vollständige Anrechnung vorzunehmen, und zwar deswegen nicht, weil ein Minister in der Regel auch Abgeordneter ist. Er muß im Wahlkreis präsent sein, er muß Kontakt zu den Bürgern halten, er muß sich in den Parteiorganisationen betätigen. Der Alimentationsgrundsatz besagt doch: Wer mehr arbeitet, soll mehr Geld bekommen. Deswegen halten wir diese Regelung, die Sie anstreben, nicht für richtig. Meine Damen und Herren, ich konzediere eines: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung regelt nur einen Teil der anstehenden Problematik. Das ist richtig, aber dieser Teil muß heute geregelt werden. Deswegen bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen und nicht dem Begehren von Kollegen der SPD und anderer Kollegen nach einer Vertagung oder einer Rücküberweisung zu folgen. Ich schlage vor, daß wir weiter im Gespräch bleiben, daß wir diese Probleme weiter erörtern. Eines aber, meine Damen und Herren, sollte letzten Endes klar sein: Wir wollen, daß die Besten unseres Volkes im Parlament vertreten sind, und wir wollen, daß die Besten davon Minister werden und der Allerbeste von ihnen natürlich Bundeskanzler wird. Wer viel leistet, meine Damen und Herren - das ist wieder genauso ernst gemeint -, wer sein Privatleben opfert, wer seine Gesundheit opfert, wer Tag und Nacht arbeitet, der hat, meine ich, ein angemessenes Entgelt verdient, und nur um solches handelt es sich hier. Ich bitte Sie, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({6})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Conradi, SPD-Fraktion.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Herbst 1996 schlugen der Abgeordnete Norbert Gansel und ich der SPD-Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesministergesetzes vor. Wir wollten zum einen, daß bei ausscheidenden Regierungsmitgliedern die sonstigen Erwerbseinkünfte - so wie bei Abgeordneten - voll auf das Übergangsgeld angerechnet werden. Wir wollten zum anderen, daß die Amtsgehälter von Mitgliedern der Bundesregierung von der Beamtenbesoldung abgekoppelt und in D-Mark-Beträgen ausgewiesen werden. Erlauben Sie mir eine Anmerkung zu unserem früheren Kollegen Norbert Gansel: Norbert Gansel hat hier jahrzehntelang gegen Rüstungsexporte gesprochen und gestimmt, obwohl es in seinem Wahlkreis Rüstungsfirmen gab. Die Kieler haben ihn trotzdem immer wieder in den Bundestag und am Schluß zum Oberbürgermeister seiner Stadt gewählt. Gansel hat als Abgeordneter ein Beispiel für den aufrechten Gang gegeben, und wir sollten uns daran erinnern. Gelegentlich hat man den Eindruck, daß sich Abgeordnete als nach Bonn versetzte Kommunalpolitiker oder als Interessenvertreter von Firmen ihres Wahlkreises verstehen. Wir sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und Abgeordnete des ganzen Volkes; so hat Norbert Gansel sein Mandat verstanden. ({0}) Zurück zum Bundesministergesetz. Die SPD-Fraktion hat den Gesetzentwurf übernommen und mit den Koalitionsfraktionen darüber gesprochen, mit dem Ziel ihn gemeinsam einzubringen. Aber die Koalition wollte nicht. Dann kam der Fall der Parlamentarischen Staatssekretärin Yzer von der CDU, die von der schönen Regierungsbank zurück auf die harte Abgeordnetenbank mußte - allerdings gut gepolstert durch ein reichlich bemessenes Übergangsgeld und üppige Bezüge eines Lobbyistenverbands. Das gab dann einen solchen Lärm, daß die Regierung einlenkte und nun ihrerseits auch einen Entwurf zur Änderung des Bundesministergesetzes eingebracht hat. Im Innenausschuß haben wir uns darauf verständigt, daß bei ausscheidenden Regierungsmitgliedern so wie bei ausscheidenden Bundestagsabgeordneten die Erwerbseinkünfte - nur diese; nicht Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie Kapitaleinkünfte - voll angerechnet werden. Herr Abgeordneter Marschewski, wenn Sie hier sagen, die Gehälter der Regierungsmitglieder seien angemessen, dann stelle ich dazu fest: Niemand hat beantragt, die Gehälter der Regierungsmitglieder abzusenken. Ich habe in der ersten Lesung zu diesem Gesetz gesagt: Eigentlich verdienen in Deutschland Politiker in Spitzenämtern zuwenig. Es geht hier alleine um Übergangsgelder in erheblicher Höhe. Diese müssen wir neu regeln. Nun bleiben trotz der Anrechnung ganz hübsche Übergangsgelder übrig, wenn ein Bundesminister nach langer Dienstzeit wieder auf die Abgeordnetenbank dieses Hauses zurückkehrt und „nur" noch ein Abgeordnetengehalt erhält. Man fragt sich allerdings, warum Regierungsmitglieder, wenn sie als einfache Abgeordnete wieder in den Bundestag zurückkehren, überhaupt ein Übergangsgeld brauchen. ({1}) Es bleiben weitere Ungerechtigkeiten. Ich weiß nicht, ob uns allen klar ist, daß Regierungsmitglieder für jeden Monat ihrer Dienstzeit Übergangsgeld bekommen, und zwar maximal drei Jahre lang. ({2}) - Herr Mahlo, das steht so im Gesetz. ({3}) - Ich habe gesagt: Sie bekommen ein Übergangsgeld für jeden Monat ihrer Dienstzeit, während Abgeordnete das Übergangsgeld für ein Jahr ihres Mandats bekommen. Das heißt, das Verhältnis bei uns ist 1 : 12 und dort 1 : 1. Diese und andere Ungleichheiten hat nun der Rechtsausschuß gerügt. Ich glaube, er hat in seiner Kritik recht. Der Innenausschuß sah sich nicht mehr in der Lage zu entscheiden; die Mehrheit wollte diese Ungleichheiten nicht reparieren. Nun liegt dem Haus ein Änderungsantrag der Fraktion der Bündnisgrünen vor. Wir begrüßen ihn. Er nimmt weitgehend die Kritik des Rechtsausschusses auf. ({4}) - Herr Kollege, ich glaube, Sie sind Mitglied des Rechtsausschusses. Sie haben also ebenfalls gegen das Gesetz gestimmt; denn es ist dort einstimmig votiert worden. ({5}) - Dann waren Sie nicht da. Dann machen Sie hier keine Zwischenrufe. Wer nicht in der Ausschußsitzung war, sollte hier keine Zwischenrufe machen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter Conradi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freiherr von Stetten?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn er aufsteht, gerne.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich nehme an, daß er aufsteht. Dann ist die Frage also zugelassen.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich mache diese Zwischenfrage gerne im Stehen. - Herr Conradi, waren Sie im Rechtsausschuß, oder war ich im Rechtsausschuß?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe gelesen, daß der Rechtsausschuß den Gesetzentwurf einstimmig abgelehnt hat. ({0}) - Dann ist der Regierungsentwurf wohl nur mehrheitlich abgelehnt worden, und Sie waren für den Regierungsentwurf? ({1}) - Es hat im Rechtsausschuß heftige Kritik am Regierungsentwurf wegen der Ungleichbehandlung von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten gegeben. Das können Sie nicht bestreiten. So war es doch! ({2}) Nun kommt ein Änderungsantrag, der das abstellen will. Wir werden diesem Änderungsantrag zustimmen. Wir begrüßen ihn. Wir sind gespannt, wie die Koalitionsmitglieder des Rechtsausschusses hier abstimmen werden. Sie können dem Änderungsantrag der Bündnisgrünen zustimmen. Sie können den Gesetzentwurf ablehnen. Sie können einen Antrag auf Rücküberweisung stellen. Eines können Sie nicht: Sie können nicht im Rechtsausschuß das große Wort führen und dann hier im Plenum einknicken und dem Regierungsentwurf doch zustimmen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter Conradi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eylmann?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber mit Vergnügen.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Conradi, ich glaube, es wäre nützlich, wenn ich als Vorsitzender des Rechtsausschusses kurz berichte, wie es tatsächlich war. Das wäre aber eigentlich ein Anlaß für eine Kurzintervention.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Sie können es ja vielleicht in eine Frage kleiden.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wäre dann ein Kunststück. Ich habe mich eigentlich für eine Kurzintervention gemeldet und würde das lieber auf diese Weise tun.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Dann machen Sie die Kurzintervention im Anschluß an die Rede von Herrn Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit unserem zweiten Anliegen, die Regierungsgehälter von der Beamtenbesoldung abzukoppeln, sind wir leider gescheitert. Mit fest geschlossenen Reihen haben die Koalitionsabgeordneten im Innenausschuß das abgelehnt. Wir bedauern das, weil wir wissen, daß auch unter ihnen viele sind, die die Ankoppelung der Regierungsgehälter an die Beamtenbesoldung für falsch halten. Nun ist es ja möglich, daß sich die Fronten im 14. Deutschen Bundestag ändern. Dann können Sie als Oppositionsfraktion das, was Sie jetzt als Koalition ablehnen, erneut einbringen. Mit der Abkoppelung hätten wir nämlich d e n Landesregierungen ein Signal gegeben, die damals, als es um die Regelung der Abgeordnetengehälter ging, von uns Offenheit und Transparenz verlangten. Das sind dieselben Landesregierungen, die ihre Gehälter in aller Stille Jahr für Jahr durch den Bundestag mit der Beamtenbesoldung erhöhen lassen. Nun ist uns Populismus nicht völlig fremd. Aber den Bundestag öffentlich für etwas zu verurteilen, was man selbst Jahr für Jahr geschehen läßt, halte ich für unanständig. Das möchte ich in aller Klarheit sagen. ({0}) In Sachen Übergangsgeld findet der Regierungsentwurf also unsere Zustimmung. Daß die Abkoppelung von der Beamtenbesoldung nicht gelungen ist, bedauern wir. Wenn der Änderungsantrag der Bündnisgrünen eine Mehrheit findet, können wir dem Regierungsentwurf unter Zurückstellung von Bedenken - Stichwort: Abkoppelung - zustimmen; findet er keine Mehrheit, werden wir den Regierungsentwurf ablehnen. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Eylmann das Wort zu einer Kurzintervention.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der gestrigen Ausschußsitzung ist von Mitgliedern des Rechtsausschusses gerügt worden, daß die Regelung der Übergangsgelder für die Regierungsmitglieder anders, und zwar besser, ausgefallen sei als vor gut einem Jahr die Neuregelung der Übergangsgelder für die Abgeordneten. Es ist die Frage gestellt worden, worin die Gründe für die Besserstellung der Regierungsmitglieder lägen. Daraufhin ist uns von der anwesenden Vertreterin des Innenministeriums gesagt worden, die entscheidende Ursache liege darin, daß die Regierungsmitglieder ihren Beruf nicht mehr ausüben könnten, wohingegen es den Abgeordneten gestattet sei, nebenher noch zu arbeiten. ({0}) Man möge mir verzeihen: Als Vorsitzender eines Ausschusses, der mit Arbeit sehr belastet ist, habe ich diese Erklärung nicht sehr gern gehört. Ich halte es im Grunde für hanebüchen, daß uns eine solche Erklärung angeboten wird. ({1}) Daraufhin hat der Ausschuß - einstimmig - nicht etwa den Antrag abgelehnt, sondern die Bitte an den Innenausschuß gerichtet, den Gesetzentwurf im Hinblick auf eine Gleichbehandlung der Regierungsmitglieder und der Abgeordneten in puncto Übergangsgelder zu überarbeiten. Das ist der Sachverhalt. Ich will noch hinzufügen: Solange mir keine überzeugende Begründung für die unterschiedliche Regelung der Übergangsgelder vorgetragen wird, werde ich dem Gesetzentwurf - auch im Licht dessen, was wir in den letzten Jahren mit den Diäten erlebt haben - nicht zustimmen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Danke, Herr Abgeordneter. - Herr Conradi, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke dem verehrten Abgeordneten Eylmann, dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses, für seine Klarstellung. Das ist auch meine Auffassung: Es ist nicht vertretbar, daß die Übergangsregelungen für Mitglieder der Bundesregierung weit besser sind als die für Abgeordnete. Herr Abgeordneter Eylmann, Ihrem Petitum, das anzugleichen, kommt der grüne Antrag entgegen. Er setzt übrigens Abgeordnete nicht mit Mitgliedern der Bundesregierung gleich. Vielmehr ist ein Mitglied der Bundesregierung auch nach dem Antrag der Grünen beim Übergangsgeld noch bessergestellt als ein Bundestagsabgeordneter. Dieser Unterschied soll angesichts der großen Verantwortung der Regierungsmitglieder - wie Herr Marschewski ausgeführt hat - bestehenbleiben. Aber der Unterschied ist nicht mehr so groß; die Positionen kommen einander näher. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie und die Mitglieder des Rechtsausschusses, die diese Ungleichbehandlung doch einstimmig gerügt haben - jetzt habe ich es hoffentlich richtig gesagt -, nicht dem Änderungsantrag der Grünen zustimmen, der dem entspricht, was der Rechtsausschuß wollte. Mir wäre es am liebsten, das Gesetz würde zurücküberwiesen und könnte noch einmal in Ruhe beraten werden, damit wir die Unstimmigkeiten ausbügeln. Aber das müssen Sie beantragen, nicht ich. Ich danke Ihnen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Gerald Häfner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will ausnahmsweise mit dem Versöhnlichen anfangen. Die bisherige skandalöse Regelung bei den Übergangsgeldern wird heute nach dem Willen aller Fraktionen gestrichen. Wir sind uns darüber einig, daß Übergangsgelder nur dann berechtigt sind, wenn nach dem Ausscheiden aus einem Amt oder nach Niederlegung eines Mandats vorübergehend kein anderes oder kein ausreichendes anderes Einkommen erzielt wird. Es soll den Übergang zu einer neuen Beschäftigung sichern, aber doch nicht ein goldenes Zubrot zu anderweitig erzielten, ohnehin enormen Einkünften sein. Das ist das einzige, was nach dem Willen der Bundesregierung geschehen soll. Aber auch das erwuchs nicht aus besserer Einsicht, sondern war eine Folge der massiven öffentlichen Debatten in den Fällen Yzer und anderer. Es gibt aber seit langem - Herr Eylmann hat das deutlich gesagt -, ich finde: berechtigter- und verständlicherweise, extremen Unmut in der Öffentlichkeit über nicht mehr nachvollziehbare Regelungen bei der Versorgung von Politikern. Der Deutsche Bundestag hat im letzten Jahr für sich selbst die schlimmsten Auswüchse beseitigt - ich finde, wir können stolz sein, daß es dafür eine Mehrheit über alle Fraktionen hinweg gegeben hat - und bei den Übergangsgeldern und der Altersversorgung Regelungen getroffen, die sich durchaus sehen lassen können. Schon in der damaligen Debatte haben die Redner aller Fraktionen gesagt, daß sie davon ausgehen, daß nun natürlich auch die Bundesregierung für die ihre Mitglieder betreffenden Regelungen einen Änderungsentwurf vorlegt. Was aber liegt uns heute als Entwurf vor? Es ist ein Entwurf, der in einer wirklich skandalösen Weise an für niemanden mehr nachvollziehbaren Regelungen festhält, und das in einer Zeit, in der man der Bevölkerung wegen der dramatischen Ebbe in den öffentlichen Haushalten ständig neue Kürzungen bei den Sozialleistungen und nun auch bei den Renten zumutet, in der man die Bevölkerung mit Steuererhöhungen und vieles andere mehr zumutet. In einer solchen Zeit ist es nicht mehr zu rechtfertigen, daß - nur um eine Zahl zu nennen - ein Arbeitnehmer nach zwei Jahren Tätigkeit im allerhöchsten Fall, also ein Spitzenverdiener, monatlich eine Rente von 170,78 DM erhält, ein Minister aber schon nach zwei Jahren Tätigkeit ein Ruhegehalt von 3494 DM, der Arbeitnehmer die Rente nach dem 65. Lebensjahr bekommt, der Minister aber schon nach dem 60., der Arbeitnehmer 20,3 Prozent, bald 21 Prozent seines Bruttogehalts an Rentenbeiträgen gezahlt hat, der Minister gar nichts und der Minister nach vier Jahren 6607 DM an Altersversorgung bekommt - er hat in seinem Leben auch noch anderes getan, was noch addiert werden muß -, der Spitzenverdiener unter den Arbeitnehmern aber für den gleichen Zeitraum gerade einmal etwas über 300 DM pro Monat. Der Minister erhält das Zwanzigfache, und das ist nicht mehr nachvollziehbar. Genausowenig nachvollziehbar ist - das wurde eben schon angesprochen -, daß Abgeordnete des Deutschen Bundestages für ein Jahr Mitgliedschaft im Parlament lediglich einen Monat Übergangsgeld erhalten, während Regierungsmitglieder für ein Jahr ein ganzes weiteres Jahr Übergangsgeld erhalten, allerdings, wie Herr Mahlo sagte, nur den halben Satz - Sie bekommen demnach in der Summe das Sechsfache dessen, was Parlamentsmitglieder erhalten -, daß die Altersbezüge der Regierungsmitglieder in den ersten vier Jahren pro Jahr um 7 Prozent steigen, während für Abgeordnete eine 3 prozentige SteigeGerald Häfner rung gilt, daß der Höchstsatz für Abgeordnete bei 69 Prozent der Bezüge liegt, für Minister und Parlamentarische Staatssekretäre bei 75 Prozent und daß der maximale Zeitraum für den Bezug von Übergangsgeldern bei ausgeschiedenen Abgeordneten wesentlich kürzer gefaßt ist. Wir Abgeordnete bekommen nach einer dreijährigen Tätigkeit drei Monate Übergangsgeld, während ein Minister nach drei Jahren drei Jahre lang Übergangsgelder bezieht. Das summiert sich zu Beträgen, die niemand in der Bevölkerung mehr nachvollziehen kann. Ich kann nicht begreifen, wie Sie an einer solchen Regelung festhalten können. Im Rechtsausschuß ist es nach dem Vortragen genau dieser Sachverhalte gelungen, alle Ausschußmitglieder fraktionsübergreifend davon zu überzeugen, daß dieses Gesetz vom Deutschen Bundestag so nicht beschlossen werden kann. Der Rechtsausschuß hat deshalb den Innenausschuß einstimmig aufgefordert, das Gesetz zu überarbeiten mit der Maßgabe, die Regelungen im Ministergesetz für die Versorgung ehemaliger Minister und Parlamentarischer Staatssekretäre den Regelungen im Abgeordnetengesetz anzupassen. Dies ist aber nicht erfolgt. Deshalb meine ich, daß dem Gesetz in der vorliegenden Form heute nicht zugestimmt werden kann. Wir haben darum einen Änderungsantrag eingebracht, dessen Annahme wenigstens die schlimmsten Auswüchse beseitigen würde. Dieser Änderungsantrag verzichtet auf alles, was sozusagen in die Richtung weitergehender grüner Ideen geht, und legt lediglich das als Maßstab an, was wir hier im Hause fraktionsübergreifend bereits für uns alle beschlossen haben. Ich kann nur hoffen, daß Sie diesem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmen werden.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte kommen Sie zum Schluß, Herr Abgeordneter. Die Redezeit ist längst überschritten.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluß, Frau Geiger. - Ich kann nur hoffen, daß Sie dem Antrag zustimmen werden. Andernfalls, da bin ich sicher, werden Sie sich vor dem Sturm der öffentlichen Entrüstung nicht mehr retten können. Deshalb geht an Sie meine Aufforderung, dem Antrag zu folgen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Versorgungsbezüge von Politikern sind immer wieder Gegenstand öffentlicher Erörterungen. Diese entzünden sich häufig an aktuellen Einzelfällen und verlaufen stets sehr kritisch gegenüber der Politik. Meist bleibt es beim allgemeinen Austausch der Argumente. Manchmal löst die öffentliche Debatte aber auch eine konkrete Reaktion des Gesetzgebers aus. ({0}) So war es zum Beispiel, als das Problem ins allgemeine Bewußtsein rückte, wie sich denn Erwerbseinkünfte ausgeschiedener Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentarischer Staatssekretäre auf das Übergangsgeld auswirken sollten. Aus der Vielzahl der Probleme, die der gesamte Komplex Politikerversorgung aufwirft, hat der heute in zweiter und dritter Lesung zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung diese eine Detailfrage herausgegriffen. Die richtige Lösung kann natürlich nur sein, im Gegensatz zur derzeit geltenden Rechtslage künftig auch Erwerbseinkünfte aus einer privaten Berufstätigkeit auf Übergangsgelder von Ministern und Parlamentarischen Staatssekretären anzurechnen. ({1}) Die Richtigkeit dieser Lösung liegt auf der Hand. Wenn und soweit schon private Erwerbseinkünfte in entsprechender Höhe erzielt werden, besteht kein Bedürfnis und keine Rechtfertigung für ein Übergangsgeld. Diese Logik ist ebenso einfach wie zwingend, so daß man sich wundern mag, warum die bisherige Rechtslage anders war. Jedenfalls besteht jetzt insoweit Einigkeit im gesamten Haus, als diese längst überfällige Änderung des Bundesministergesetzes beschlossen wird. Im Rechtsausschuß ist aber die Frage der Gleichbehandlung der Übergangsgelder von Ministern und Abgeordneten problematisiert worden. Hier könnte die Lösung theoretisch natürlich darin liegen, die Regelung für Minister zu verschlechtern. Sie könnte theoretisch aber auch darin zu finden sein, diejenige für Abgeordnete zu verbessern. ({2}) - Theoretisch! Jedenfalls hat die Koalition im federführenden Innenausschuß meiner Meinung nach zu Recht die Auffassung vertreten, daß es sich bei dem Recht der Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre und bei dem Recht der Abgeordneten um unterschiedliche Materien handelt, ({3}) die man schon vom Verfahren her nicht vermengen sollte. Veränderungen im Versorgungsrecht der Abgeordneten zu beschließen - was ja theoretisch auch ein Lösungsweg gewesen wäre -, ohne den üblichen parlamentarischen Weg einzuhalten - also Befassung des Präsidiums, des Bundestages und der Rechtsstellungskommission mit der Materie sowie Beratung im ersten Ausschuß -, erschien uns nicht angebracht. Ebenso haben wir es abgelehnt, weitergehende Änderungswünsche der Opposition in den Gesetzentwurf einzubeziehen. Damit ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, daß diese Themen in anderem Zusammenhang wieder aufgegriffen werden. Im Gegenteil, die F.D.P. tritt für die Überprüfung aller Versorgungssysteme ein, für eine Rentenreform und für Änderungen bei den Beamtenpensionen. Es ist selbstverständlich, daß daher auch die Versorgung von Politikern nicht in allen Punkten dauerhaft so bleiben wird wie jetzt. Im laufenden Gesetzgebungsverfahren ging es uns aber nur um die Lösung eines einzigen ganz konkreten Problems, um die Beseitigung eines bestimmten Mißstandes - nicht um mehr und nicht um weniger. Die F.D.P.-Fraktion wird dem Gesetzentwurf der Bundesregierung daher zustimmen. ({4})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann, PDS.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dank dem „stern" sind wir ja nun darüber informiert, was so einzelne Minister und Staatssekretäre verdienen - vielleicht sollte man besser sagen: was sie bekommen ({0}) und welche Pensionsansprüche zum Teil schon nach sehr kurzer Zeit erworben werden. Das sind übrigens Antworten, auf die der Kollege Schlauch zum Teil heute noch wartet. Die Bundesregierung hat erklärt, daß sie einfach nicht in der Lage ist, in kurzer Zeit diese Antworten zu geben. Da wird wohl mancher Rentner und manche Rentnerin blaß werden vor Neid. Aber die Frage ist: Geht es hier tatsächlich um Neid oder vielleicht sogar um Sozialneid, wie manchen vorgeworfen wird? - Nein, meine Damen und Herren, hier geht es um schreiende Ungerechtigkeit. Ich meine, daß Konsequenz an dieser Stelle uns allen sehr gut getan hätte. ({1}) Das hätte gegen Politik - - oder - sagen wir es besser - gegen Politikerverdrossenheit und gegen die Unglaubwürdigkeit von Politikern gewirkt. ({2}) Ich muß sagen, mich haben die jüngsten Umfrageergebnisse zum Thema Glaubwürdigkeit oder Vertrauen eigentlich sehr schockiert. Das Ergebnis war nämlich, daß das Vertrauen in die Kirche, in Greenpeace, in die Polizei, ja, sogar in die Bundeswehr größer ist als das Vertrauen in Politiker. Ich werde auch im letzten Jahr meiner Zugehörigkeit zu diesem Haus nicht kapieren, mit welcher Unverfrorenheit Sie angesichts riesiger Steuerausfälle Sparmaßnahmen vor allem im sozialen Bereich durchboxen und gleichzeitig Besitzstandswahrung bei Abgeordnetenbezügen, Minister- und Staatssekretärsgehältern betreiben. Mit großer Kaltblütigkeit haben Sie die Bedingungen für künftige gravierende Einschnitte bei Renten eines großen Teils der Bürgerinnen und Bürger geschaffen; Pensionsansprüche von ehemaligen Staatssekretären aber bleiben unangetastet. Von den vielen guten Vorschlägen der Opposition zur Neuregelung des Bundesministergesetzes ist nur einer übriggeblieben, nämlich die Anrechnung von Erwerbseinkünften aus privater Berufstätigkeit auf das Übergangsgeld. Glaubt man eigentlich, damit den Volkszorn beruhigen zu können, mit einer Maßnahme, die, wie auch Kollege Stadler gesagt hat, längst überfällig war und bei der er sich selber wundert, warum sie nicht schon längst durchgekommen ist? Diese Neuregelung kam ja eigentlich nur deswegen zustande, weil die Presse die Öffentlichkeit über diese Situation informiert hat und sich die Öffentlichkeit dann für eine solche Neuregelung stark gemacht hat. Ich fürchte nämlich, daß ansonsten nichts passiert wäre. Dann wird in einer solchen Situation der Vorwurf erhoben, daß durch Debatten dieser Art, also durch Debatten, die durch das Parlament selbst initiiert wurden, sich das Parlament selbst beschädigen würde. Wodurch beschädigt sich eigentlich dieses Parlament? Durch eine Politik, die den Kleinen nimmt und den Großen immer mehr gibt, ({3}) durch eine Klientelpolitik, bei der die Schwächsten der Gesellschaft auf der Strecke bleiben. ({4}) Das Parlament beschädigt sich durch Kungelei, durch Politik hinter verschlossenen Türen ohne Öffentlichkeit, ({5}) auch durch fehlende Transparenz im Umgang mit Rechten von Abgeordneten, Ministern und Staatssekretären, einschließlich der Versorgungsbezüge. Seit Jahren ist es nicht nur Herr von Arnim, ({6}) der immer wieder die überzogenen Ansprüche, Pensionsregelungen, Übergangszahlungen kritisiert. Seit Jahren erleben wir eine Inflation von Parlamentarischen Staatssekretären, die nicht angetastet werden. Vor diesem Hintergrund ist die Neuregelung ein kleiner Schritt, der völlig unzureichend ist. Aber ansonsten gibt es absolut keine Bewegung. Aber das Personalkarussell dreht sich schon wieder, allerdings nicht bei den Staatssekretären.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Abgeordnete, bitte kommen Sie zum Schluß. Die Redezeit ist zu Ende.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum letzten Satz. - Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt. ({0}) Diesmal ist der Bauministerposten zu haben. Es bleibt also nur zu fragen: Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Der Betreffende würde auch diverse Pensionsansprüche erwerben. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich schließe die Aussprache. Der Abgeordnete Gerald Häfner möchte einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen. Ich erteile ihm das Wort.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle gemäß der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages den Antrag, die heute im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes zur Abstimmung stehenden Vorlagen an die nachfolgenden Ausschüsse zur nochmaligen Beratung zurückzuüberweisen: federführend an den Innenausschuß und mitberatend an den Rechtsausschuß und den Haushaltsausschuß. Der Grund ist ganz einfach. Es ist ja vorhin in der Debatte schon zur Sprache gekommen. Ich beziehe mich zunächst nur auf den Teil der Beratung, den ich selbst miterlebt habe. Ich bin Mitglied des Rechtsausschusses. Wir haben die Vorlage am Mittwoch dieser Woche, also gestern, im Rechtsausschuß erstmalig beraten. Der Rechtsausschuß war über die eklatante Ungleichbehandlung von Regierungsmitgliedern auf der einen und Parlamentsmitgliedern auf der anderen Seite verwundert, sah auch Probleme im Hinblick auf Art. 3 des Grundgesetzes und hat deshalb einstimmig folgendes beschlossen: Der Rechtsausschuß empfiehlt einstimmig, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 13/7554 im Hinblick auf eine Gleichbehandlung von Abgeordneten und Mitgliedern der Bundesregierung zu überarbeiten. Dies ist bis zum heutigen Tage nicht erfolgt. Ich meine, daß wir es als Abgeordnete und Mitglieder dieses Hauses und damit auch als Vertreter derer, die uns gewählt haben, als Vertreterinnen und Vertreter des deutschen Volkes, uns und den Wählerinnen und Wählern schuldig sind, unsere Beschlüsse einzuhalten. Wenn wir der Ansicht sind, eine solche Sache ist nicht zu Ende beraten und bedarf einer Überarbeitung, können wir nicht nach dem Motto „Augen zu und durch" die Beratungen einfach abschließen, sondern dann müssen wir uns die Zeit für eine gründliche Beratung nehmen. Dies ist meine persönliche Auffassung, und es ist der Antrag meiner Fraktion. Ich glaube aber, dies entspricht auch dem Willen aller Mitglieder des Rechtsausschusses, die den von mir eben vorgetragenen Beschluß einstimmig über alle Fraktionsgrenzen hinweg gefaßt haben. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Wer wünscht das Wort zu dem Geschäftsordnungsantrag? - Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir weisen diesen Antrag, verehrter Kollege Häfner, zurück. Wenn wir nicht beschließen, was heute Gegenstand der Beratung ist, dann erfolgt weiterhin eine Ungleichbehandlung zwischen öffentlichem Einkommen und privatem Einkommen. Wir wollen, daß die Fälle der letzten unmittelbaren Vergangenheit gelöst werden. Das geht nur so, daß wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen. Eine zweite kurze Bemerkung. Wir haben nun wirklich mehrfach im Innenausschuß darüber diskutiert. Wir haben in der letzten Sitzung auch noch einmal darüber diskutiert, wir haben abgestimmt, wir haben uns seit vielen Wochen damit befaßt. Ich denke, dies ist wirklich verabschiedungsreif. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Als nächster hat das Wort zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Rücküberweisung gäbe die Möglichkeit, die eklatante Ungleichbehandlung von Mitgliedern der Bundesregierung und Bundestagsabgeordneten hinsichtlich der Übergangsgelder - und darum geht es - noch einmal ernsthaft im Rechtsausschuß sowie im Innenausschuß zu beraten. Deswegen stimmen wir dem Überweisungsantrag zu, zumal wir der Meinung sind, viele Kollegen mißbilligen diese Ungleichbehandlung. Vielleicht finden wir einen gescheiten Weg, das abzubauen. Deswegen werden wir zustimmen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Dr. Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stimmen ebenfalls diesem Überweisungsantrag zu, selbst wenn es Differenzen zum Inhalt geben sollte. Ich denke, es geht in erster Linie um eine saubere gesetzgeberische Arbeit. Die sind wir unseren Wählerinnen und Wählern schuldig. Deshalb sollten wir alle für eine Rücküberweisung plädieren. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor. Sie haben gehört, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abgeordnete Häfner hat die Rücküberweisung des Gesetzentwurfs federführend an den Innenausschuß sowie an den Rechts- und den Haushaltsaussschuß beantragt. Über diesen Antrag stimmen wir zuerst ab. Wer stimmt für den Antrag des Abgeordneten Häfner? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Geschäftsordnungsantrag des Abgeordneten Häfner mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei zwei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen aus der CDU/CSU gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen, SPD und PDS abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesministergesetzes auf Drucksache 13/7554. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/8974 Nr. 1, den Gesetzentwurf auf Drucksache 13/7554 unverändert anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/9039? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei vier Enthaltungen der CDU/CSU gegen die Stimmen des restlichen Hauses abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, SPD und PDS und eine Stimme aus der CDU/CSU angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre auf Drucksache 13/6452. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/8974 Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/6452 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre auf Drucksache 13/7329. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/8974 Nr. 3, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/7329 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes - Drucksache 13/8705 - ({0}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges ({1}) - Drucksache 13/8246 - ({2}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) - Drucksache 13/8980 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Fischer ({4}) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. Leistungsausschluß bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({6}), Andrea Fischer ({7}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Versorgungsrenten für Kriegsverbrecher und Angehörige der Waffen-SS - Drucksachen 13/7061, 13/1467, 13/8980 -Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Fischer ({8}) Es liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor. Vizepräsidentin Michaela Geiger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, CDU/ CSU-Fraktion.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist es endlich gelungen, eine Ungerechtigkeit im Versorgungsgesetz zu beseitigen. Denn es ist natürlich eine Ungerechtigkeit, wenn NS-Schergen, die sich feiger und unmenschlicher Verbrechen schuldig gemacht haben, staatlich versorgt werden, während die Opfer keinerlei Entschädigung erhalten. Allerdings gab es zwei Sachverhalte, die bei einer Neuregelung beachtet werden mußten. Erstens. Sozialrecht ist grundsätzlich kein Strafrecht. Verbrechen sollen im Gefängnis verbüßt werden und nicht durch Altersarmut. Der Rechtsstaat verdient seinen Namen nicht zuletzt wegen seiner immanenten Systematik, wegen der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Aber: Verbrechern gegen die Menschlichkeit auch noch staatliche Versorgung angedeihen zu lassen, das ist, glaube ich, absolut untragbar. ({0}) Das Dilemma, das sich hier auftut, ist kein leicht lösbares. Die Normen des Rechtsstaates sollten nicht leichtfertig angetastet werden. Andererseits geht es uns absolut gegen den Strich, NS-Folterknechten und Mördern Renten zu zahlen - auch wenn sie eine Kriegsverletzung davongetragen haben. Die Regierungskoalition und die Bündnisgrünen haben einen, wie ich finde, vertretbaren und angemessenen Weg gefunden. Das Prinzip dabei lautet: Greueltaten müssen schwerer wiegen als Kriegsverletzungen. Wer Menschen gequält, gemeuchelt und massakriert hat, kann dafür von der Bundesrepublik keine Versorgungsleistungen erwarten, auch wenn er im weiteren Verlauf des Krieges einen Arm, ein Bein verloren hat. Sozialrecht wird dadurch nicht zum Strafrecht. Es behält sich nur vor, Verbrechen nicht auch noch mit Versorgung zu belohnen. ({1}) Auch in der Anhörung vor dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung im Mai dieses Jahres wurde überzeugend dargestellt, daß gegen die Einführung eines Ausschlußtatbestandes in das Bundesversorgungsgesetz für solche Personen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben, grundsätzlich keine durchgreifenden Bedenken bestehen. Die Möglichkeit eines Ausschlusses aus der Versorgung sind wir, glaube ich, den Opfern schuldig - aber auch Millionen von deutschen Soldaten, die, ohne Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, an der Front gekämpft haben. Mördern die gleiche Versorgungsleistung wie Soldaten zu gewähren, das halte ich für absolut inakzeptabel. ({2}) Damit komme ich zu einem zweiten Punkt, den es bei der Neuregelung zu beachten galt, nämlich: Wie erkenne ich die Mörder und unterscheide sie von denjenigen Soldaten oder Zivilisten, die sich keines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben? Denn die Beweislage ist natürlich allein auf Grund der Überlieferung sehr lückenhaft; wir sind heute 50 Jahre weiter. Auch diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wir haben im Ausschuß lange über die Möglichkeiten beraten, die es hierbei gibt. Für jeden Abgeordneten, egal, welcher Partei, war klar, daß kein Parteibonze, kein SS-Angehöriger, kein Wehrmachtssoldat oder Polizeibeamter aus seiner individuellen Schuld entlassen werden soll. Darüber gab es, glaube ich, große Einigkeit im Ausschuß. Der Dissens betraf die Frage, ob allein die Zugehörigkeit zu einer Formation, speziell der Waffen-SS, schon ein Grund zum Ausschluß aus der Kriegsopferversorgung sein kann. Die Debatte, die über die Kriterien damals im Deutschen Bundestag ablief, war äußerst schwierig und, ich finde, der brisanten Thematik angemessen. Auch die Ausschußdiskussion war fair und dieser Thematik angemessen. Dafür möchte ich mich bei allen Kollegen herzlich bedanken. Ich brauche, glaube ich, jetzt nicht noch einmal die unterschiedlichen Positionen auszuführen. Alle Beteiligten wissen, daß die Regierungskoalition immer gesagt hat: Wir wollen von der individuellen Schuld reden. Die Grünen haben lange Zeit gesagt: Laßt uns die Zugehörigkeit zu einer Organisation zum Kriterium machen. Es ist gut, daß wir heute so weit sind, sagen zu können: Der Nachweis einer individuellen Schuld muß - wir halten das gemeinsam für richtig - geführt werden. Diese Einigung hinsichtlich dieser Thematik ist, glaube ich, sehr wertvoll. Die Neuerung, die jetzt in das Versorgunsgesetz aufgenommen wurde, trägt dem Rechnung. In Zukunft müssen Mitglieder der Waffen-SS oder anderer besonders belasteter Organisationen besonders überprüft werden, wenn sie Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten oder beantragen. Können ihnen Verbrechen nachgewiesen werden, werden die Leistungen eingestellt. ({3}) Ich möchte auf eines hinweisen, was hier sehr wichtig ist, und zwar auf die Vertrauenssituation. Das Vertrauen in die Situation des Berechtigten gegen seine Verstrickung in den Terror muß eine Rolle spielen und abgewogen werden. Ich möchte ein Beispiel nennen. 60 Prozent der Bezieher von Leistungen aus dem Bundesversorgungsgesetz sind Witwen, die häufig noch nicht einmal wissen, welche Verbrechen ihre Männer im NazireBirgit Schnieber-Jastram gime begangen haben. Sie dafür haftbar zu machen, was die Männer getan haben, und sie in die Armut zu schicken, das wäre, glaube ich, verantwortungslos. Das geht, glaube ich, nicht. Daß aber bei Organisationen wie der Waffen-SS, die sich während des Krieges einen grausamen Ruf erworben hat und die für viele Massaker verantwortlich war, eine sorgfältige Prüfung des Leistungsempfängers erfolgt, halten wir für richtig. Es ist meiner Meinung nach eine Lösung, die verfassungsmäßig möglich ist, dem rechtsstaatlichen Prinzip des individuellen Schuldnachweises entspricht und trotzdem weitgehend ausschließt, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch noch staatlich alimentiert werden. In diesem Zusammenhang begrüße ich, daß die Fraktion der Grünen im Ausschuß den Antrag gestellt hat, daß wir dazu nach Ablauf eines Jahres einen Bericht erhalten; denn wir müssen in der Tat sehen, wie dieses Gesetz wirkt und wie realistisch und realisierbar es in seinen einzelnen Teilen ist. Den Antrag der PDS zu diesem Thema werden wir heute ablehnen, weil wir sagen: Wenn wir dem Antrag zu diesem Zeitpunkt zustimmen, haben wir kein Gesetz. Ich denke, daß wir nach der Zwischenbilanz in einem Jahr über alles gut reden können. Wir sind sehr froh, daß wir nach einer langen Diskussion auch in den SPD-Reihen viele Kollegen finden, die sich dem anschließen. Wir respektieren auch andere Meinungen in diesem Bereich. Es ist uns gelungen, eine Schwachstelle aus dem Sozialrecht zu beseitigen, weil wir heute nach 50 Jahren manches anders sehen als diejenigen, die das früher geregelt haben. Ich möchte mich für die gute Diskussion im Parlament und im Ausschuß bedanken. Ich hoffe darauf, daß wir eine große Mehrheit für die Lösung eines Problems finden, bei dem wir alle eine besondere Verantwortung tragen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Mascher.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die SPD-Fraktion wird dem Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes in der vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beschlossenen Fassung zustimmen. Sie stimmt diesem Gesetzentwurf zu, weil sie das Signal, das von dieser Änderung des Bundesversorgungsgesetzes ausgehen soll, unterstützt. Die SPD-Bundestagsfraktion will auch nach außen ein deutliches Zeichen für einen anderen Umgang mit den Verbrechen und den Verbrechern der Naziherrschaft setzen. So wird das, was wir heute im Bundestag beschließen werden, auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen. „Die Zeit" schrieb in der letzten Woche unter der Überschrift „Aus für die Schergen": „Der Bundestag streicht NS-Verbrechern die Rente". Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat sich in einer öffentlichen Anhörung mit den verfassungsrechtlichen, aber auch mit den praktischen Umsetzungsproblemen dieser Gesetzesmaterie und der geplanten Änderung sehr gründlich auseinandergesetzt. Es geht dabei nicht um die allgemeinen Altersrenten oder Pensionsansprüche von Kriegsverbrechern oder Tätern des Naziregimes, sondern es geht darum, ob eine Entschädigungsrente für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schädigung infolge Kriegseinwirkung gestrichen oder gekürzt werden kann. Das Gesetz, das heute beschlossen wird, kann nur diejenigen Täter treffen, die zum Beispiel ein Bein verloren haben. Es könnte aber auch die Witwe eines Täters treffen, der bei einem Luftangriff umgekommen ist. Der Bundestag schafft heute also nicht die Voraussetzungen dafür, den NS-Verbrechern die Rente zu streichen, sondern er versucht, für einen durch äußere Kriegseinwirkungen eher zufällig definierten Personenkreis die Möglichkeit der Rentenkürzung oder -streichung zu schaffen. Wie schwierig das für Personen ist, die seit 40 Jahren diese Rente bekommen, zeigt die komplizierte Regelung des sogenannten Vertrauensschutzes, die die erwünschte Wirkung des Gesetzes möglicherweise erheblich einschränkt. Ich zitiere hier ein Beispiel aus der Begründung - Frau Schnieber-Jastram hat es bereits angeführt -: Wenn beispielsweise eine Witwe, die von den Greueltaten ihres verstorbenen Ehemannes bisher nicht einmal Kenntnis hatte, seit Jahrzehnten Hinterbliebenenversorgung erhält, kann in diesem Fall das Vertrauen auf die Fortgewährung der Leistung überwiegen. Die hochgespannten Erwartungen, endlich die jahrzehntelangen beschämenden Versäumnisse bei der Strafverfolgung von Tätern, die gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben, damit aufarbeiten zu können, werden, fürchte ich, ins Leere gehen. Ob es um Kriegsrichter oder um die Richter am Volksgerichtshof geht, um die Ärzte, die grausame und unmenschliche Experimente an KZ-Häftlingen vorgenommen haben, ob es um Verbrechen der Wehrmacht geht: Das Gesetz, das heute beschlossen wird, wird sie nicht erreichen, es sei denn, sie hätten gesundheitliche Schäden durch Kriegshandlungen erfahren. Aber ich will das Zeichen, das von dieser Gesetzesänderung ausgehen kann, gar nicht kleinreden. Die SPD-Fraktion stimmt diesem Gesetz ja auch zu. Ich möchte nur festhalten, daß es auch gute, rechtsstaatliche Gründe gibt, dieses Gesetz abzulehnen, weil es nach Meinung derjenigen, die dem nicht zustimmen werden, durch die Streichung oder Kürzung sozialrechtlicher Ansprüche den falschen Weg einschlägt, weil es damit strafrechtliche Bewertungen vornimmt. In unserem Rechtsstaat haben Strafgerichte darüber zu entscheiden, ob Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit vorliegen, welche Schuld den Täter trifft und welches Strafmaß der Tat angemessen ist. Wohin die Vermischung von Strafrecht und der Aberkennung von sozialrechtlichen Versorgungsansprüchen führt, zeigt die Aberkennung von sozialrechtlichen Ansprüchen für Kriegsdienstverweigerer, Fahnenflüchtige und Wehrkraftzersetzer wegen „Unwürdigkeit" durch die deutsche Wehrmachtsgerichtsbarkeit. Ich gebe zu, dies waren nicht unbedingt rechtsstaatliche Gerichte. Ich bedanke mich bei allen Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, daß es in unseren Ausschußberatungen gelungen ist, beide Positionen - die breite Zustimmung und die Ablehnung - sorgfältig zu beraten und beide Positionen zu respektieren. Für die Mitglieder im Ausschuß war es klar, daß es bei der Ablehnung des Gesetzes durch einige sozialdemokratische Abgeordnete nicht darum geht, ob diese Abgeordneten die antifaschistische Tradition ihrer Partei verraten, wie das Volker Beck in einem Interview mit der „taz" unterstellt hat. Herr Beck, es ist anmaßend und arrogant, jemandem wie Rudolf Dreßler, Konrad Gilges und anderen den Bruch mit der antifaschistischen Tradition der SPD zu unterstellen. ({0}) Ich fordere Sie auf, nein, ich bitte Sie, diese Unterstellung zurückzunehmen. ({1}) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages versuchen heute, mit diesem Gesetz ein Stück Gerechtigkeit zu schaffen und ein Zeichen für einen anderen Umgang mit der deutschen Vergangenheit zu setzen. Dazu gehört aber auch der für die SPD viel entscheidendere Schritt hin zu einem anderen Umgang mit den Opfern des Naziterrors, mit den Deserteuren, ({2}) den Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen in den deutschen Industriebetrieben oder den GhettoBetrieben wie zum Beispiel in Lodz, mit den Opfern aus den Konzentrationslagern in Osteuropa - ich erinnere nur an die Lage der wenigen alten überlebenden Juden des Holocaust in den baltischen Staaten -, mit den Homosexuellen, den Sinti und Roma oder den Zwangssterilisierten. Die Liste der vergessenen Opfer ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Ich weiß, einiges ist auf dem Verhandlungswege. Ob es zu einem guten, befriedigenden und befriedenden Ergebnis führt - ich hoffe es. Aber gerade die neuen Urteile zur Entschädigung und zur Anerkennung von Ansprüchen von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen zeigen, wieviel von uns hier im Bundestag noch getan werden muß. Das Wieviel bezieht sich nicht nur auf materielle Leistungen, sondern auch auf die Anerkennung der Opfer. Nur wenn alle Parteien im Bundestag diese Aufgabe der Anerkennung und Unterstützung der bisher verdrängten und vergessenen Opfer anpacken, kann der Versuch gelingen, ein Mehr an Gerechtigkeit im Umgang mit unserer deutschen Vergangenheit zu erringen. ({3}) Der Entschließungsantrag der PDS wird von der SPD-Fraktion abgelehnt, weil er für diese Anstrengung, den Opfern gerecht zu werden, der untaugliche Versuch ist. Danke. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Der Bundestag beschließt heute mit Unterstützung aller Fraktionen die Streichung der Kriegsopferrenten für Kriegsverbrecher. Dies ist ein großer moralischer und politischer Erfolg und Fortschritt. Noch 1995 hatten alle Parteien die Meinung vertreten, es gehe nicht. Jahrelanges Bohren der Grünen hat bei der Diskussion um Kriegsopferrenten für Kriegsverbrecher ein Einlenken von Regierung und Koalition und diese Woche auch von der SPD bewirkt. Damit sind wir sehr zufrieden. Diese Frage berührt das düsterste Kapitel unserer Geschichte. Es bedurfte zwar 50 Jahre und der öffentlichen Skandalisierung der Praxis bei den Versorgungsrenten. Aber schließlich hat der Bundestag die Kraft gefunden, falsche Bewertungen des Gesetzgebers zu korrigieren. Er hat damit auch einen wichtigen Schritt für die Geschichtsaufarbeitung geleistet. Wir kommen damit Forderungen vieler Verbände aus der jüdischen Welt, der Initiative „Gegen das Vergessen" und des Bundesrates nach. Es ist uns gelungen, in den Verhandlungen zwei Verbesserungen des Gesetzentwurfes durchzusetzen: Erstens. Bei freiwilliger Mitgliedschaft in der SS oder Waffen-SS wird künftig besonders intensiv geprüft, ob der Ausschlußtatbestand gegeben ist. Zweitens. Aus der dehnbaren Soll-Bestimmung beim Leistungsentzug ist eine verbindliche Muß-Bestimmung unter Wahrung des Vertrauensschutzes geworden. Wir wollten bei Mitgliedschaft in der SS grundsätzlich einen Leistungsausschluß vorsehen. Vor dem Hintergrund der Regelungen des Bundesentschädigungsgesetzes, das übrigens als soziales Leistungsgesetz bezüglich eines anderen Unrechtstatbestandes, eines besonderen Schicksals, durchaus vergleichbar ist - schon die bloße Mitgliedschaft in der NSDAP führt zum Leistungsausschluß -, ist dies durchaus vertretbar. Diese Forderung war allerdings nicht durchsetzbar. Ich meine, wir müssen hier durchaus bewerten, ob eine besondere Solidarleistung der Gemeinschaft der Steuerzahler für Kriegsverbrecher, die eine Kriegsverletzung erlitten haben, angemessen ist. Wir haben diese Frage in der Vergangenheit immer verneint. Frau Mascher, ich habe nicht verstanden, daß die SPD vor dem Hintergrund ihrer antifaschistischen Volker Beck ({0}) Tradition bei dieser Frage so große Schwierigkeiten gehabt hat, ({1}) insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, daß wir in dieser Wahlperiode ähnliche Gesetzesvorhaben mit den Stimmen der SPD verabschiedet haben. ({2}) Ich wollte aber mit diesen Aussagen und dem Ausdruck meines Unverständnisses niemand persönlich beleidigen. Ich respektiere Ihre Beweggründe, obwohl ich sie inhaltlich weder zu teilen noch nachzuvollziehen vermag. Wir werden in einem Jahr zu prüfen haben, wie die Praxis mit diesem Gesetzentwurf gelaufen ist. Vor diesem Hintergrund werden wir auch prüfen, ob man Nachbesserungen vornehmen muß. Gerade die besondere Großzügigkeit des Gesetzgebers gegenüber den Tätern, den Kriegsverbrechern unter den Kriegsopfern, hat NS-Opfer-Verbände und jüdische Organisationen in der Vergangenheit immer wieder empört. Sie klagen aber auch über immer noch offene Fragen bei der Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Seit Grüne diesem Hause angehören, haben wir sie dabei aktiv unterstützt. Meine Damen und Herren, für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, die Entschädigungsrenten für schwerstverfolgte Juden aus Osteuropa und die vergessenen NS-Opfer in Deutschland liegen unsere Vorschläge auf dem Tisch des Hauses. Die Zeit ist knapp. Ich appelliere an Sie alle, diese Problematik zu erwägen. Die heutige Entscheidung macht die Lösung dieser Fragen nicht weniger dringlich. Ich wünschte mir auch bei der Entschädigung der NS- Opfer eine ähnlich breite Mehrheit hier im Hause wie bei dieser heutigen Reform. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Dr. Babel, F.D.P.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung eine Änderung des Bundesversorgungsgesetzes, das weit in die Vergangenheit Deutschlands zurückreicht. Ich begrüße es sehr, daß es gelungen ist, diese Änderung der einschlägigen Vorschriften auf einen so breiten, parteiübergreifenden parlamentarischen Konsens zu gründen. Das Bundesversorgungsgesetz regelte die Ansprüche von Kriegsopfern gegenüber dem Staat. Nun hat es aber auch Kriegsopfer gegeben, die während des Krieges schwere Schuld auf sich geladen haben. Es gibt Kriegsopfer, die sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit haben zuschulden kommen lassen. Bereits bei der Verabschiedung des Bundesversorgungsgesetzes in den 50er Jahren hat eine ausgedehnte parlamentarische Debatte über die Frage stattgefunden, ob man auch denjenigen eine solche Opferrente gewähren sollte, die Kriegsverbrechen begangen haben. Damals hat man eine seltsame Lösung gefunden. Man hat das nämlich für das Inland anders als für das Ausland geregelt. Für im Inland lebende Opfer hat man gesagt: Solche Versorgungsansprüche gewährt man unabhängig von der Frage, ob Verbrechen vorliegen, während man die Strafverfolgung für diese Verbrechen ausschließlich den Strafgerichten überlassen wollte. Für im Ausland lebende Opfer hingegen hat man gesagt: Hier ist es, gerade weil das in den Ostländern nicht ganz überschaubar war, nicht sicher ob es eine Strafverfolgung geben würde. Deshalb hat man die Opferrente hier unter die Bedingung gestellt, daß keine Verbrechen begangen worden sind. Über die damals gefundene Lösung wollen wir heute nicht schulmeisterlich rechten. Ohne konkreten Anlaß hätten wir die Vorschriften nach so langer Zeit der Rechtspraxis vielleicht auch nicht geändert. Aber diesen konkreten Anlaß gab es - Herr Beck, entschuldigen Sie, daß ich da nicht ganz Ihrer Wertung folge, daß das nur die Initiative der Grünen war -: Nach Wegfall des Eisernen Vorhangs galt es nämlich zu entscheiden und neu zu bewerten, ob nun auch ehemalige Wehrmachtsangehörige in den baltischen Staaten Versorgungsansprüche geltend machen könnten und ob es hier nun wiederum eine Versagung wegen Menschenrechtsverletzung geben sollte. Wir waren also erneut in die Entscheidung gerufen worden. Es ist einleuchtend, daß in diesem Zusammenhang die Diskussion neu aufbrach, ob die damalige Entscheidung, den im Inland lebenden Kriegsverbrechern eine Kriegsopferrente zu gewähren, richtig ist oder ob sie verändert werden muß. Nach eingehender Beratung und Anhörung kommt es jetzt zu der Korrektur, die ich seitens der F.D.P. sehr begrüße. ({0}) Danach wird es künftig möglich sein, Kriegsverbrechern im Inland wie im Ausland eine Leistung zu versagen. Die Diskussion hat sich lange an der Frage entzündet - Frau Mascher hat das hier noch einmal deutlich ausgeführt -, ob mit dieser Neuausrichtung des Bundesversorgungsgesetzes strafrechtliche Elemente in ein Sozialrecht hineingetragen werden. Ich bin der Meinung, daß das nicht der Fall ist. Sozialrecht darf nicht zu strafrechtlichen Zwecken genutzt werden. Aber hier sind es Sozialleistungen, die nicht auf den eigenen Beiträgen der Betroffenen beruhen. Insofern ist das eine andere Bewertung als bei der Rente. Bei den Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz hat der Staat ein breiteres Ermessen - das zeigt sich auch an der differenzierten Lösung, die damals gefunden worden ist -, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Leistungen gewährt werden. Daß Verbrechen gegen Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit einen Versagensgrund nach dem Bundesvers sorgungsgesetz darstellen können, gilt jetzt in gleicher Weise für Inland und Ausland. Im Einvernehmen mit den Verfassungsressorts, dem Bundesjustiz- und -innenministerium, haben wir nach meiner Überzeugung eine gute Lösung gefunden. Ich begrüße es ausdrücklich, daß sich Bündnis 90/Die Grünen dieser Lösung jetzt angeschlossen haben und daß sie die bloße Mitgliedschaft in der SS noch nicht als einen Versagungsgrund, sondern nur als ein Indiz für die genauere Überprüfung, ob Kriegsverbrechen vorliegen, anerkannt haben. Nach meiner Auffassung ist es auch ein Gebot des Rechtsstaates, daß vor der Versagung einer sozialen Leistung individuell die Schuld nachgewiesen werden muß. Die freiwillige Mitgliedschaft soll nach Willen des Gesetzgebers nur dieses Indiz sein. Ich glaube, daß das ein Weg ist, der für alle gangbar ist. Insgesamt haben wir bei diesem sehr sensiblen und schwierigen Thema jetzt ein Ergebnis gefunden, das verfassungsrechtlich korrekt, vor allem aber gerecht ist. Die F.D.P.-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Dr. Knake-Werner, PDS.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die PDS begrüßt, daß heute vom Bundestag ein einmütiges Signal für einen anderen Umgang mit Verbrechern des Naziregimes ausgeht; endlich, 50 Jahre danach. Wir haben uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf dennoch relativ schwergetan. Denn gerade bei uns besteht die Sorge, daß damit erneut eine unheilige Vermischung von Sozialrecht und Strafrecht entsteht - eine nicht ganz unbegründete Sorge, wie Sie alle wissen. Ich denke allerdings, das Problem liegt hier tatsächlich anders. Das Bundesversorgungsgesetz kennt schon jetzt Ausschlußregelungen. Frau Babel hat darauf hingewiesen. Wir halten es für mehr als berechtigt, daß jene ihre Ansprüche auf Entschädigung verwirken, die zum Zeitpunkt der Schädigung selbst an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren. Dieser Grundsatz - im Zivilrecht gang und gäbe - muß auch im Bundesversorgungsgesetz greifen und damit endlich für Kriegsverbrecher und andere Verbrechen der NS-Herrschaft gelten. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, daß mit dem Bundesversorgungsgesetz 1950 ein Sozialrecht geschaffen wurde, dem auch höchst politische Motive zugrunde lagen. Man kann wohl davon ausgehen, daß dieses Gesetz insbesondere durch die Regelung, neben den notwendigen medizinischen auch den beruflichen Nachteilsausgleich zu schaffen, auch für die privilegierte Versorgung von Tätern des NS- Regimes funktionierte. Dies, denke ich, muß endlich korrigiert werden. Deshalb werden ich und die meisten anderen Abgeordneten der PDS dem Gesetzentwurf, der hier vorliegt, zustimmen. Unabhängig von unserem Abstimmungsverhalten sind wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht zufrieden. Ich finde, er bleibt in einzelnen Punkten doch recht schwammig und läßt offen, wie und gegen wen das Aberkennungsverfahren laufen soll. Wie weisen wir individuelle Schuld nach? Müssen Verurteilungen vorliegen, oder welche anderen Prüfkriterien soll es geben? Es bleibt ein wirklich schwieriges Feld. Die Entscheidung heute ist trotzdem ein wichtiges Signal für die Öffentlichkeit. Deshalb wollen wir Sie auch mittragen. Aber, das gesamte Regelwerk des Versorgungs-, Fürsorge- und Entschädigungsrechts für die NS-Herrschaft gehört überprüft und politisch verantwortlich und sozial gerecht ausgestaltet. Dies, Frau Schnieber-Jastram, ist auch das Anliegen unseres Entschließungsantrages. Es geht uns nicht darum, den Gesetzentwurf aufzuhalten, sondern einen weitergehenden Auftrag zu formulieren. Wir wissen alle, daß es in dieser Beziehung noch viel zu tun gibt. Von den Kolleginnen und Kollegen ist das hier genannt worden. Wir müssen also nicht nur dafür sorgen, daß Opferrenten für Kriegsverbrecher beseitigt werden, sondern wir müssen vor allen Dingen auch dafür sorgen, daß endlich die Opfer des NS-Regimes angemessen entschädigt werden. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes. Das sind die Drucksachen 13/8705 und 13/8980 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen drei Stimmen aus der SPD-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen; Abstimmungsverhältnis wie zuvor. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/8980 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist, soweit ich gesehen habe, einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/ 8995. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose und der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes. Das ist die Drucksache 13/8980 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 13/8246 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu einem Leistungsausschluß bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit, Drucksache 13/8980 Nr. 4. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 7061 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Keine Versorgungsrenten für Kriegsverbrecher und Angehörige der WaffenSS", Drucksache 13/8980 Nr. 5. Der Ausschuß empfiehlt, auch diesen Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts - Drucksache 13/8725 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre aber eben, daß die Redner ihre Beiträge zur Debatte zu Protokoll geben. Es handelt sich um die Kollegen Karl Diller, Gunnar Uldall, die Kollegin Magareta Wolf, den Kollegen Paul K. Friedhoff, die Kollegin Dr. Christa Luft und den Kollegen Dr. Heinrich L. Kolb.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus mit dieser Verfahrensweise einverstanden ist. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann schließe ich die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der SPD „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts", Drucksache 13/8725. Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. haben beantragt, die Vorlage zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Die Fraktion der SPD verlangt dagegen sofortige Abstimmung. ({0}) *) Anlage 4 - Also keine sofortige Abstimmung. Dann frage ich, ob die Überweisungen wie vorgeschlagen vorgenommen werden sollen? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann wird so verfahren. Ich höre, daß es wegen der Verfahrensweise hinsichtlich des nächsten Tagesordnungspunktes ein kleines zeitliches Problem gibt. Deshalb unterbreche ich die Sitzung für etwa fünf Minuten. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Margareta Wolf ({0}), Antje Hermenau, Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Begrenzung der Bankenmacht und Verbesserung der Unternehmenskontrolle - Voraussetzung für mehr Transparenz und Innovation - Drucksache 13/7737 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 10 Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vom Bundeskabinett in der letzten Woche vorgelegte Aktienrechtsnovelle ist -ich glaube, das ist auf der Seite der Opposition unstreitig - ein zahnloser Papiertiger und zur Begrenzung der Bankenmacht völlig ungeeignet. ({0}) Vom ursprünglichen Anspruch der Bundesregierung, den Einfluß der Banken zu beschränken und insbesondere ihren dauerhaften Industriebesitz zu begrenzen, ist praktisch nichts mehr übriggeblieben. Wir bedauern, daß auch die fast einjährige Beratungszeit, Herr Kollege Gres, zwischen Referentenentwurf und Kabinettsbeschluß nicht dafür genutzt worden ist, wirksame Reformmaßnahmen zur Stärkung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Gesetzentwurf zu verankern. ({1}) - Genau. Margareta Wolf ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie verfahren nach dem Motto: Es wird viel geändert, damit alles bleibt, wie es ist. Spätestens seit den spektakulären Firmenpleiten von Schneider, KHD und Balsam - um nur einige zu nennen - wissen wir doch, wissen Sie auch, daß die Banken einen entscheidenden Einfluß auf die deutsche Wirtschaft nehmen, eine Kontrolle von außen aber kaum möglich ist. Mit wechselseitigen Beteiligungen kontrollieren sich die vier größten Banken sowie die großen Versicherungskonzerne untereinander selbst. Mit Hilfe dieser Ring- und Überkreuzverflechtungen hat sich eine geschlossene Gesellschaft etabliert, die gegen Wettbewerb und demokratische Kontrolle weitgehend abgeschirmt ist. Diesen wettbewerblichen Nachteilen wollen wir durch unseren Antrag begegnen. Obwohl der verehrte Herr Wirtschaftsminister die für das Bankensystem typische Akkumulation der Einflußmöglichkeiten der Banken vor noch gar nicht allzu langer Zeit als „wettbewerbliches Gefahrenpotential" bezeichnet hat, tun Sie so, als gäbe es weder ein Wettbewerbs- noch ein Innovationsproblem. Obwohl auch Landesminister Brüderle und der ehemalige wirtschaftspolitische Sprecher Otto Graf Lambsdorff in den vergangenen Monaten vermehrt auf die Wettbewerbsnachteile durch Beteiligung hingewiesen haben, legen die F.D.P.-Minister im Kabinett einen Gesetzentwurf vor, der die Schwäche des Finanzplatzes Deutschland eher verstärken wird. - Soviel zur sogenannten Wirtschaftspartei, soviel zur Homogenität der völlig ausgelaugten F.D.P. ({3}) Wir verfolgen mit unserem vorliegenden Antrag die Zielsetzung, den direkten und indirekten Beteiligungsbesitz von Banken an branchenfremden Unternehmen auf 5 Prozent des Grundkapitals zu begrenzen. Enge Ausnahmen sollten zum Beispiel für Risikokapitalgesellschaften gelten. Wir wissen doch, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß die gesetzlich zulässige Wahrnehmung von mehreren Aufsichtsratsmandaten zu einer erheblichen personellen Verflechtung zwischen Kreditinstituten und branchenfremden Unternehmen mit der Folge der Konzentration ökonomischer und politischer Macht in der Hand einer relativ kleinen Gruppe geführt hat. Auch an diesen Sachverhalt trauen Sie sich nicht heran. Sie ziehen keine Folgerungen aus dem demokratischen Problem - ich sage explizit: dem demokratischen Problem -, das wir bei der gescheiterten feindlichen Übernahme im Frühjahr dieses Jahres bei Krupp/Thyssen erlebt haben. Warum verbieten Sie nicht die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in konkurrierenden Unternehmen? Warum begegnen Sie nicht der Klage ausländischer Anleger, die sagen, daß der Zugang zum deutschen Kapitalmarkt sehr schwierig sei? Aus der Sicht meiner Fraktion sind insbesondere folgende Maßnahmen erforderlich, um das volkswirtschaftlich schädliche Einflußpotential der Banken zu reduzieren. Das ist erstens die Beschränkung des Beteiligungsbesitzes an branchenfremden Unternehmen auf maximal 5 Prozent. Das sind zweitens die Abschaffung des weisungslosen Depotstimmrechts der Banken und die Begrenzung der maximalen Zahl von Aufsichtsratsmandaten auf fünf. Das ist drittens das Verbot der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in konkurrierenden Unternehmen sowie viertens die Sicherstellung der Unabhängigkeit der Kapitalanlagegesellschaften. Der Anteilsbesitz von Banken an Kapitalgesellschaften ist Quelle verschiedener Interessenkonflikte - das ist inzwischen bekannt - und gilt vielfach als Grund dafür, daß das Investmentsparen in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich nur eine geringe Bedeutung hat. Darauf hat Dieter Wolf, der Chef des Bundeskartellamtes, auf meine Frage in der Anhörung hingewiesen. Ein empirisch zu beobachtendes Indiz für Mißstände in diesem Bereich ist die Tatsache, daß Anlageberater der Banken Kunden oft nachdrücklich auf die Investmentfonds der Tochtergesellschaften hinweisen, ohne über mögliche Alternativen anderer Gesellschaften oder Anlageformen zu informieren. Außerdem ist empirisch ebenfalls belegt, daß Anlageentscheidungen bankeigener Kapitalanlagegesellschaften entscheidend davon abhängen, an welchen Emissionen die Bankmutter beteiligt ist, was als Zeichen für verbotenen Insiderhandel bzw. für ineffiziente Aktienemissionen zum Nachteil der Investmentsparer gewertet werden kann. Wir orientieren uns in unserem Antrag an den USA. Hier gibt es die strikte Trennung von Geschäftsbanken und Investmentfonds mit der Folge, daß das Investmentvermögen in den USA im Jahre 1995 pro Kopf 15 758 DM betrug. In Deutschland waren es in 1995 lediglich 3 073 DM. Ich muß mich doch sehr wundern, daß die Bundesregierung hier überhaupt keinen Handlungsbedarf sieht. Weiterhin sehen wir entsprechend der internationalen Standards verbindliche Regelungen für Unternehmensübernahmen vor. Dies sind Standards, die den Kleinaktionär schützen und somit die Akzeptanz für Übernahmen fördern. Ich freue mich, daß wir in vielen dieser Punkte die Unterstützung von Persönlichkeiten wie Otto Graf Lambsdorff, Dieter Wolf und auch der Investmentbank Goldman Sachs haben. Auch zahlreiche Wissenschaftler, die in diesem Sektor tätig sind, unterstützen die Position der SPD und die von uns. Ich habe manchmal den Eindruck, daß Sie von der Koalition bei der Beratung Ihres Gesetzentwurfes völlig isoliert und dickhäutig nur mit der alten strukturkonservativen Garde in den Banken diskutiert haben. Meine Damen und Herren, wir brauchen endlich für die Zukunftsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland ein Aktienrecht, das den Eigentümern direkte Einflußmöglichkeiten gibt. Wir brauchen im Aktienrecht die Voraussetzung dafür, daß das Rentensystem eine zusätzliche Säule erhält und endlich auf VermöMargareta Wolf ({4}) gensbildung und Vorsorge aufbaut. Wir brauchen endlich ein Wertpapier- und Börsenrecht, das das Vertrauen der inländischen und ausländischen Anleger in den Aktienmarkt fördert. Wir brauchen die Rahmenbedingungen für eine Aktienkultur in Deutschland, die wir bisher nicht haben. Gegenüber den anderen internationalen Finanzplätzen krankt der Finanzplatz Frankfurt auf der Produktseite ganz eindeutig an einer Innovationsschwäche. Problematisch ist das unzureichende Produktangebot an DM-Aktien. In vergleichbaren Ländern ist die Börsenkapitalisierung deutlich höher. Das ist bekannt. Voraussetzungen für eine Aktienkultur sind mehr Transparenz und Wettbewerb im Bankensektor. Voraussetzung für mehr Transparenz und Wettbewerb sind die beschriebenen Rahmenbedingungen. Systembedingt haben deutsche Banken kein Interesse an einer starken Entwicklung des Aktienmarktes. Lassen Sie mich diese These an einem Beispiel erklären: Ein kapitalsuchendes Unternehmen mit ausschließlichem Zugang zu deutschen Universalbanken hat bei Fragen zur Eigenkapitalausstattung in der Regel den Filialleiter seiner Hausbank als lokalen Ansprechpartner, der dort in erster Linie für das Kreditgeschäft verantwortlich zeichnet. Unabhängig davon, ob dort die Kompetenz über die Börseneinführung vorhanden ist, liegt es doch gar nicht im Interesse der Bank, diese Unternehmen dem Kapitalmarkt zuzuführen, da eine Kreditbeziehung dauerhafter und damit profitabler ist. Ein Zahlenvergleich soll das verdeutlichen: 1996 gab es in Deutschland elf Börseneinführungen; in den USA waren es 772, in Großbritannien etwas über 300. Meine Damen und Herren, durch den fehlenden Wettbewerb der Systeme, durch die Unfähigkeit, Rahmenbedingungen für mehr Wettbewerb im Bankensektor zu setzen, und durch die daraus resultierende Unterversorgung deutscher Unternehmen mit Risikokapital wird der Strukturkonservatismus festgeschrieben. Daraus wird man den Schluß ziehen müssen, daß das deutsche Bankensystem in der heutigen Ausprägung einer der strukturellen Nachteile ist, unter denen der Wirtschaftsstandort Deutschland mit allen Ihnen bekannten Folgen gegenwärtig leidet. Diese strukturellen Nachteile haben Sie zu verantworten, wenn Sie diesen im Kabinett verabschiedeten Gesetzentwurf hier einbringen und beschließen lassen. Danke schön. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Joachim Gres, CDU/CSU.

Joachim Gres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der von dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angesprochene Themenkreis überlappt sich teilweise mit dem Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, der vor einigen Tagen - ich sage auch: endlich - vom Bundeskabinett verabschiedet worden ist. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist weitgehend mit dem Referentenentwurf auf Basis des Ergebnisses der Koalitionsrunde identisch. Dieser Referentenentwurf war zusammen mit dem entsprechenden SPD-Gesetzentwurf schon Gegenstand einer ganztägigen Anhörung im Rechtsausschuß. Wir können daher jetzt zur abschließenden Beratung in die Fachausschüsse gehen, und ich hoffe, daß wir diesen Gesetzentwurf jetzt sehr rasch in diesem Hause verabschieden können. In diesen thematischen Zusammenhang gehört aber auch der Gesetzentwurf über Stückaktien, der Entwurf eines Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetzes und der Entwurf des Euro-Einführungsgesetzes. Zusammen mit dem Dritten Finanzmarktförderungsgesetz werden wir dann Anfang kommenden Jahres ein ganzes Bouquet von Neuregelungen, Vereinfachungen und Verbesserungen für den Finanzstandort Deutschland haben. Dies ist eine sehr begrüßenswerte Entwicklung. Daß die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hierbei nicht abseits stehen will, kann ich zwar verstehen, und ich begrüße es, daß sie sich in der Endphase der Diskussion um diese wichtigen Fragen noch mit einem Entschließungsantrag einzuklinken versucht. Allerdings läßt der Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen irgendeine neue oder originelle oder praktisch umsetzbare Idee vermissen. Alle Vorschläge, die Sie in Ihrem Entschließungsantrag machen, sind in den letzten Monaten und Jahren hin und her gewendet worden und wurden entweder im Gesetzentwurf der Bundesregierung ganz oder teilweise berücksichtigt oder aber sind von der überwiegenden Fachwelt verworfen und deshalb von den Koalitionsarbeitsgruppen bzw. dem Gesetzentwurf des BMJ auch nicht berücksichtigt worden. ({0}) Sollten Sie allerdings mit Ihrem Entschließungsantrag das Opfer von bestimmten Professoren geworden sein, die auch schon einmal der SPD hilfreich waren, von deren Vaterschaft die SPD heute nichts mehr wissen will, so wäre das bedauerlich. Aber die überwiegende Fachwelt hat das, was Sie hier vorgeschlagen haben, weitgehend zurückgewiesen. Es ist deswegen ein wenig mühsam, hier zum wiederholten Male auf die von Ihnen heute erneut beschworene Macht der Banken einzugehen. Natürlich haben Banken auch in Deutschland Macht, ebenso wie Versicherungsgesellschaften, Industrieunternehmen, Gewerkschaften, Medienkonzerne. Während aber SPD und Grüne gegenüber diesen Unternehmen oder Institutionen mit ihren jeweiligen Beteiligungen an Drittunternehmen, ihren personellen Querverbindungen und ihren unternehmerischen Zielen - man denke bei den Versicherungen zum Beispiel an die Allfinanzkonzepte oder bei den EVUs an ihr Eindringen in mittelständisch geprägte Märkte - einen speziellen gesetzlichen Eingriff in die Betätigungsmöglichkeiten dieser Unternehmen nicht für erforderlich halten oder nicht wagen, konzentriert sich die Kritik gerne auf die Banken, wobei der öffentlich-rechtliche Bankensektor trotz seiner Dominanz in bestimmten Teilen der Wirtschaft in einer seltsamen Art und Weise außen vor bleibt, obwohl doch die SPD oder die Grünen zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder Hessen als tragende Teile der dortigen Koalitionen ihren Einfluß geltend machen könnten, damit die Staatsbanken in diesen beiden Ländern all die Mißstände abstellen, die sie hier so lauthals beklagen. Aber offenbar stört es die Grünen und die SPD nicht, wenn die WestLB zum Beispiel 34 Prozent der Mauser KG, 34 Prozent der Preussag AG, 25 Prozent der Batteriefabrik Hoppecke, 20 Prozent von Triumph-Adler, 10 Prozent von Babcock, 10 Prozent von Krupp-Hoesch, 100 Prozent vom Reisebüro Thomas Cook, 30 Prozent von TUI, 100 Prozent der Westdeutschen Spielbanken, 100 Prozent des Nordwestlotto, 100 Prozent der Westdeutschen Lotterie, 13 Prozent von Kaufhof, 10 Prozent von Metro, 11 Prozent von VEW hält usw. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur einige Punkte aus dem Antrag der Grünen ansprechen, die beispielhaft die Schwierigkeiten und die Grenzen für gesetzliche Eingriffe beleuchten, die ausschließlich gegen den Bankenbereich gerichtet sind. Zum einen fordern die Grünen - und auch die SPD - eine Begrenzung des bestehenden Beteiligungsbesitzes der privaten Banken an bankfremden Unternehmen auf 5 Prozent. Bei allem Diskussionsbedarf um die wirkliche oder angebliche kumulative Macht von Banken - der Deutsche Juristentag hat dazu in eindrücklicher Weise Stellung bezogen - ist ein derartiger Zwangseingriff in Eigentumspositionen von juristischen Personen ein Problem, das im Hinblick auf Art. 14 Grundgesetz nicht ganz einfach zu lösen ist. Die Grünen wissen das und haben das in ihrem Entschließungsantrag selber angesprochen. Möglicherweise wäre dieses verfassungsrechtliche Problem leichter zu lösen, wenn es eine steuerliche Flankierung für die bei den Banken zwangsweise entstehenden hohen Gewinne bei Veräußerungen von Beteiligungen gefunden würde. Auch dieses Problem haben die Grünen in der Begründung ihres Antrages angesprochen. Allerdings bitte ich Sie, doch einen Moment darüber nachzudenken, ob es ordnungspolitisch und verfassungsrechtlich sinnvoll und zulässig wäre, Banken bei der Auflösung stiller Reserven steuerlich zu privilegieren, anderen Unternehmen oder mittelständischen Konzernen aber, die ebenfalls Beteiligungen halten und diese veräußern wollen, die steuerliche Privilegierung zu versagen. Hätten die Grünen und die SPD daran mitgewirkt, die von uns geplante große Steuerreform zu verwirklichen, hätten sie dieses Problem auf Grund der hohen Besteuerung von zwangsweise herbeigeführten Veräußerungsgewinnen drastisch entschärft. Auch das wissen Sie. ({1}) Aus Angst vor der eigenen Courage fordern die Grünen in ihrem Entschließungsantrag darüber hinaus auch Ausnahmen von der geforderten Begrenzung des Beteiligungsbesitzes der Banken, nämlich dann, wenn es um Sanierung von Unternehmen geht, um Existenzgründungen oder um Beteiligungen an Risikokapitalgesellschaften. Welche Bank wird sich zum Beispiel an sanierungsbedürftigen Unternehmen beteiligen, wenn die Bank und der Markt wissen, daß sich die Bank nach kurzer Zeit wieder von diesen Beteiligungen trennen muß, also zu einem Zeitpunkt, an dem diese Sanierung dank der finanziellen Hilfe der Bank geglückt ist und das neugegründete Unternehmen über die schwierige Startphase hinaus ist? Derartige Beteiligungen stehen preislich natürlich immer unter erheblichem Abgabedruck. Philanthropen sind Banken nun einmal nicht. Sie werden es auch per Entschließungsantrag der Grünen nicht werden. Die Folge also wäre, daß Banken sich zukünftig nicht mehr an Sanierungen in dem bisherigen Maß beteiligten. Dies wollen wir, die Koalition, im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen nicht. Schließlich verweisen die Grünen in ihrem Antrag bei der Frage des Beteiligungsbesitzes der Banken auch auf die europarechtliche Problematik und hoffen auf eine europarechtliche Harmonisierung. Es ist unter Fachleuten mittlerweile vorherrschende Meinung, daß ausländischen Banken, insbesondere Banken mit Sitz in der EU, der Erwerb von Beteiligungen an inländischen bankfremden Unternehmen mittels deutscher Gesetze nicht untersagt werden kann. Also würde das Gesetz, das Sie anregen, nach Ihren Vorstellungen nur dazu führen, daß an die Stelle von deutschen Banken ausländische Banken oder in- und ausländische Versicherungsunternehmen in die freigemachten Positionen bei deutschen Unternehmen rücken würden. Eine solche Konsequenz kann doch niemand hier in diesem Hause ernsthaft wollen, zumal eine Europarechtsharmonisierung im Sinne der Grünen nicht zu erwarten steht. Meine Damen und Herren, auch zu dem Thema Depotstimmrecht ist den Grünen mit ihrem Entschließungsantrag wirklich nichts Originelles eingefallen, insbesondere weil irgendein Vorschlag dafür fehlt, wie das Vakuum ausgefüllt werden soll, wenn die weisungsfreien Depotstimmrechtsvollmachten für Banken ersatzlos wegfallen und sich die Aktionäre im Rahmen ihrer rationalen Apathie weiterhin so verhalten wie bisher, nämlich sehr selten bzw. so gut wie nie Einzelvollmachten zu allen Einzeltagesordnungspunkten einer Hauptversammlung erteilen. Die Behauptung der Grünen, das Absinken der Hauptversammlungspräsenzen auf 15 Prozent sei ungefährlich, demokratisch oder ganz normal, ist nicht nur abenteuerlich, sondern gefährlich. Das Beispiel der VW AG zeigt im Gegenteil, daß dort wegen des gesetzlichen Verbotes von weisungslosen Depotstimmrechten der Banken die Hauptversammlungspräsenzen mittlerweile derart gering sind, daß das Land Niedersachsen mit seinem Anteil von 20 Prozent am Aktienkapital der VW AG regelmäßig die Hauptversammlungsmehrheit und oft genug sogar die satJoachim Gres zungsändernde Hauptversammlungsmehrheit hat, so daß der VW-Konzern vor einigen Wochen von dem zuständigen Oberlandesgericht dazu verurteilt worden ist, einen Abhängigkeitsbericht zu erstellen, weil der VW-Konzern vom Land Niedersachsen faktisch abhängig ist.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Gres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf Lambsdorff?

Joachim Gres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gres, darf ich Sie angesichts Ihrer mich völlig überzeugenden Kritik am VW-Gesetz und den besonderen Bestimmungen dort fragen, warum denn Ihre Landtagsfraktion in Niedersachsen so ernsthaft darauf bestanden hat, diesen Teil aus dem KonTraGesetz herauszuwerfen, und warum die Bundesregierung dem dann gefolgt ist?

Joachim Gres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Graf Lambsdorff, ich kann nur vermuten, daß sich die Landtagsfraktion über das, was ich hier gerade ausgeführt habe, nicht vollständig im klaren war. Vielleicht sollten wir mit ihnen noch einmal ein Gespräch führen. ({0}) - Ich will es gerne tun. Meine Damen und Herren, man muß eines wissen - das sollten sich auch die Grünen durch einfaches Rechnen selber zur Erfahrung machen -: Bei einer nur 15 prozentigen Hauptversammlungspräsenz genügen für eine Mehrheit auf der Hauptversammlung 7,5 Prozent des Aktienkapitals des Unternehmens. Für eine satzungsändernde Dreiviertelmehrheit genügen 11,25 Prozent des Aktienkapitals. Praktisch gewendet heißt das, daß zum Beispiel bei der Deutschen Babcock AG, die zu 10 Prozent im Besitz der WestLB und zu 90 Prozent im Streubesitz ist, die WestLB mit ihrem 10 prozentigen Aktienpaket bei einer nur 15 prozentigen Hauptversammlungspräsenz nicht nur die Mehrheit, sondern sogar knapp die satzungsändernde Mehrheit hätte. Das gleiche gilt für Firmen wie Schering AG, das gleiche gilt für Unternehmen wie Mannesmann. Ich will es hier nicht weiter ausführen. Daß dies alles nicht richtig und sinnvoll sein kann und daß wir - auch nicht indirekt - den Weg für sogenannte „corporate raiders" eröffnen sollten, die mit einer geringen Beteiligung an einem Unternehmen die Mehrheit in der Hauptversammlung an sich reißen können, sollte hier eigentlich wegen der damit verbundenen Auswirkungen unstreitig sein.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Achten Sie bitte auf die Zeit, Herr Kollege.

Joachim Gres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ich glaube, daß das Konzept, das die Koalitionsfraktionen vorlegen, in sich ausgewogen ist, daß es Vorschläge enthält, die weit über die Scheuklappenbetrachtungsweise der Grünen, die sich nur auf die Bankenmacht fokussieren, hinausgeht. Ich glaube, daß wir gut beraten sind, die Diskussion, die die Grünen heute führen wollen, in die breite Diskussion zur Reform des Aktienrechtes einmünden zu lassen. Diese Diskussion sollte in der Sache geführt werden. Schaufensteranträge der Grünen gegen die Banken helfen uns dabei nicht weiter. Vielen Dank. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Pick, SPD.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gres, ich erinnere mich, daß die Grünen mit ihrem Antrag immerhin ein halbes Jahr früher zu Stuhle gekommen sind als die Bundesregierung. Das Ganze ist ja noch nicht einmal eingebracht. Sie sind also in guter Gesellschaft, wenn Sie das meinen. ({0}) - Die Bundesratsdrucksache? Ja, die habe ich gesehen. Meine Damen und Herren, der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liefert erneut Anlaß, sich des Themas „Macht der Banken" anzunehmen. Es wird von niemandem - abgesehen von den Banken selbst - bestritten, daß es an vielem fehlt. Es mangelt an Transparenz hinsichtlich ihrer Beteiligungen am Grundkapital von Aktiengesellschaften. Es herrscht Dunkel im Hinblick auf die Lenkung und Gestaltung geschäftlicher Aktivitäten der von ihnen beeinflußten Gesellschaften. Es herrscht schließlich Mißtrauen, ob die Ausübung von Stimmrechten, die ihnen von Aktionären zur Verwaltung übertragen sind, wirklich in deren Interesse geschieht. Es geht also nicht nur um die Verbesserung der Unternehmenskontrolle, wie der Antrag sagt. Vielmehr geht es einerseits darum, Licht in die vielfältigen, verzweigten und wechselseitigen Verknüpfungen zwischen Banken und anderen Unternehmen zu bringen, also Transparenz zu schaffen, und andererseits damm, den Aufsichtsrat zu einem echten Kontrollorgan zu machen. Der Entwurf der SPD eines Transparenz- und Wettbewerbsgesetzes vom Januar 1995 hat viele der im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vorgesehenen Maßnahmen bereits formuliert. Dieser Gesetzentwurf wurde kürzlich durch ein Gesetz zur Regelung von Unternehmensübernahmen ergänzt. Damit, denke ich, hat die SPD ein komplettes Regelwerk entwikkelt, um den von dieser weltweit einmaligen Gemengelage ausgehenden Fehlentwicklungen zu Lasten des Finanz-, Wirtschafts- und Börsenstandortes Deutschland zu begegnen. Die Anhörung des Rechtsausschusses am 29. Januar 1997 hat in vielen Punkten Reformbedarf erkennen lassen. Nicht das Ob war umstritten, sondern das Wie. Also wurde nur die Frage nach dem Weg zu mehr Transparenz und Kontrolle des Geschäftsgebahrens auf der Seite der Banken unterschiedlich beantwortet. Ich habe heute einen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen, in dem ausgerechnet - darin liegt vielleicht Ironie - die Deutsche Gesellschaft für Wertpapiersparen ausgeführt hat, daß alles zu bekritteln sei, was im Moment auf diesem Gebiet geschehe. Nur, das Depotstimmrecht dürfe nicht abgeschafft werden. Wenn man weiß, daß diese Gesellschaft zum Interessenbereich der Deutschen Bank gehört, wundert das einen auch nicht. Die Punkte im Antrag der Grünen, „Beteiligungsbesitz", „Stimmrechte", „Unternehmenskontrolle" sowie „Kreditvergabe und Kapitalmarkt", sind mit Ausschluß des zuletzt genannten Beispiele für ein dringendes Regelungsbedürfnis. Die Kreditvergabe und die damit angesprochene besondere Förderung des Mittelstandes stellt leider nicht nur ein Defizit im Kreditgeschäft der Geschäftsbanken, sondern auch anderer öffentlicher Kreditinstitute wie Sparkassen und Volksbanken dar. Die in dem Antrag enthaltenen Vorstellungen zum Aufbau eines funktionsfähigen privaten Risikokapitalmarktes sind bedenkenswert. Allerdings sollte man bei der Finanzierung von Start-ups junger Unternehmen im Wege der Bereitstellung entsprechenden Kapitals endlich das Wort „Risiko" durch das Wort „Wagnis" ersetzen. Das Lieblingswort der Deutschen, nämlich „Risiko", sollte eher im Sinne von Chancen verstanden werden. Aber wahrscheinlich ist es inzwischen im Kreditbereich so verinnerlicht, daß es die Mentalitätslage vieler Vorstände zutreffend beschreibt. Das englische Wort „venture capital" spricht dagegen Bände, was Zuversicht und Optimismus betrifft. Wir stimmen darin überein, daß Beteiligungen von Banken an branchenfremden Unternehmen auf jeweils 5 Prozent beschränkt sein sollen. Wir stimmen mit Ihnen darin überein, daß wechselseitige Beteiligungen zum Ausschluß bzw. zum Ruhen des jeweiligen Stimmrechts führen sollen. Beim Depotstimmrecht gehen wir über Ihre Vorschläge insofern hinaus, als wir das Depotstimmrecht jetziger Prägung abschaffen und durch unabhängige Aktionärsvertreter ersetzen wollen. Hinsichtlich der Zahl der Aufsichtsratsmandate gehen wir wie im Antrag von einer Höchstzahl von fünf pro Person aus; in unserem Vorschlag zählt allerdings der Aufsichtsratsvorsitz doppelt. Mit Ihnen sind wir der Meinung, daß Aufsichtsratsmandate nicht gleichzeitig in konkurrierenden Unternehmen ausgeübt werden dürfen. Alles in allem stellen wir fest, daß hier überlegenswerte Ansätze zu mehr Transparenz und Wettbewerb auf diesem Sektor entwickelt worden sind. Ich bin gleichzeitig skeptisch in bezug auf den Regierungsentwurf, der in der Presseerklärung des Justizministeriums sinnvollerweise als „KonTraG" und „StückAG " vorgestellt worden ist - was wohl nichts anderes als „kontraproduktiv" und „Stückwerk" heißen soll. Vielen Dank. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Graf Lambsdorff, F.D.P.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Frau Wolf, Sie können allein daraus, daß ich hier stehe, ersehen, wie wenig ausgelaugt und wie quicklebendig wir sind. Ich sitze friedlich beim Abendbrot - ich war überhaupt nicht für diese Debatte vorgesehen - und höre, daß der Kollege Funke im Vermittlungsausschuß festgehalten wird. Schon werde ich gebeten, hierherzukommen, obwohl man weiß, daß ich in einer entscheidenden Position eine andere Meinung vertrete als der Kollege Funke. Bei uns geht es liberal und lebendig zu; von ausgelaugt kann gar keine Rede sein. ({0}) Ich möchte ganz kurz etwas zu dem Entwurf des KonTraG und zu dem, was wir hier gehört haben, sagen. Wir sind ja in sehr vielen Punkten in der Zielrichtung einig, zum Beispiel, was die Hauptversammlung, die Aufsichtsräte, die Mehrfachstimmrechte, die Höchststimmrechte und die Transparenz anlangt. Ich finde, daß im Regierungsentwurf, den wir demnächst hier behandeln werden - heute ist er ja noch gar nicht an der Reihe -, durchaus vernünftige und sinnvolle Sachen stehen. Wir stimmen mit Ihnen vermutlich nicht in bezug auf das Depotstimmrecht überein. Ich glaube, man könnte einige Vorkehrungen treffen, mit denen man auch da für mehr Transparenz sorgen kann. Man sollte es aber nicht abschaffen, es sei denn, man will die Präsenz auf den Hauptversammlungen ruinieren. Daß das Bankensystem - das System, Frau Wolf - ein struktureller Nachteil der deutschen Volkswirtschaft sei, das müssen Sie näher erläutern. Wenn man sich dem System zuwendet, geht es sofort um die Frage: „Universalbanken oder Trennbanken?" Ich glaube, daß die Universalbank weiterhin das richtige System ist. Es gibt einige Schwachpunkte, die geklärt werden sollten, etwa die Haftungsfragen, etwa die Wirtschaftsprüferfragen, etwa die Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsrat und Hauptversammlung und die Berichterstattung. Dafür sind, glaube ich, ganz vernünftige Regelungen vorgesehen. Nun zu dem Punkt, in dem wir unterschiedliche Meinungen vertreten, wobei, wie Sie wissen, meine Meinung auch nicht von dem KonTraG-Entwurf getragen und gedeckt wird. Ich nenne das Stichwort - bitte in Anführungsstrichen, ich sage das für die Stenographen, Herr Conradi hat das vorhin so schön vorgemacht und den Hinweis gegeben, ich will das gleich aufgreifen - „Macht der Banken". Herr Gres, wir haben darüber in der Arbeitsgruppe der Koalition diskutiert. Wir sind verschiedener Meinung. Ich teile Ihre Auffassung, wir können nicht gegen Art. 14 des Grundgesetzes losmarschieren. Wir können vom Finanzminister keine großen steuerlichen Entlastungen erwarten. Das ist ihm nicht zumutbar. Aber für die Zukunft eine Beschränkung des industriellen Beteiligungsbesitzes der Banken vorzusehen, das ist nach meiner Meinung notwendig, das ist nach meiner Meinung wünschenswert. Doch darauf konnte sich die Koalition nicht verständigen. Wenn Herr Funke heute noch als Regierungsvertreter sprechen will - mir wurde sogar freundlicherweise sein Redeentwurf hierhergeliefert, doch den konnte ich schlecht vorlesen, weil ich in diesem Punkte seine Meinung nicht vertreten konnte -, dann mag er das sagen. Für mich ist das ein Thema, mit dem ich mich seit 20 Jahren beschäftige. Ich war deswegen erfreut, daß der Entwurf dieses Gesetzes noch sechs Monate im Bundeskanzleramt geschmort hat, weil ich von dort hörte, auch der Bundeskanzler habe ein offenes Ohr für das Stichwort „Macht der Banken". Nun, der Bundeskanzler hat sich, wie die „Börsenzeitung" heute schreibt, anfänglich an dieser Gespensterjagd beteiligt und ist zu besserer Einsicht gekommen. Bei ihm hat es nur sechs Monate gedauert, bei mir ist in 20 Jahren die bessere Einsicht nicht zutage getreten. Ich werde mich weiter darum bemühen. ({1}) - Herr Gres, man muß sich ja nicht immer nach Schiller richten: Verstand sei stets bei wenigen nur gewesen. Die Mehrheit, das sind vielleicht nicht nur zahlenmäßig mehr, es sind vielleicht sogar die Klügeren. Ich werde weiter darüber nachdenken. Vielen Dank. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zur Zeit stattfindende Prozeß gegen den Immobilienspekulanten Schneider, der Versuch der feindlichen Übernahme Thyssen/Krupp, das maßlose Depotstimmrecht und anderes zeigen deutlich, welchen Einfluß die Banken - namentlich die Großbanken - in Deutschland haben und wie skrupellos sie ihn ausnutzen, wenn sie sich Vorteile davon versprechen. Welche ökonomische und finanzielle Macht dahintersteht, zeigt allein die Tatsache, daß die Bilanzsumme der Deutschen Bank 1996 knapp 900 Milliarden DM betrug. Das ist fast das Doppelte von dem, was jährlich als Volumen des Bundeshaushalts ausgewiesen wird. Allein die Barreserve der Deutschen Bank beträgt immense 23 Milliarden DM. So weist es der uns vorliegende Geschäftsbericht aus. Weitere 90 Milliarden DM sind Finanz- und Sachanlagen. Zum Vergleich: Die Steuereinnahmen aller deutschen Kommunen betragen in diesem Jahr voraussichtlich 89 Milliarden DM, das ist also vergleichbar. Während in der Deutschen Bank 5 Milliarden DM aus der Schneider-Pleite praktisch als Peanuts abgeschrieben werden sollen, sind die deutschen Großbanken äußerst zurückhaltend, wenn es um Kredite für kleine und mittelständische Unternehmen sowie Handwerksbetriebe geht. Während Schneider Milliardenkredite ohne ernsthafte Prüfung der Werthaltigkeit seiner Immobilien erhält, fordern die deutschen Großbanken von mittelständischen Unternehmen vielerorts Sicherheiten in drei- bis vierfacher Höhe des ausgereichten Kredits. Tausende Unternehmungen wurden wegen solcher Praktiken in den Ruin sowie Hunderttausende Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben. Eine unverantwortliche Situation. Den Großbanken wurden dann auch noch die Nachfolgeinstitute der Banken der DDR regelrecht in den Rachen geschmissen. Das stellte bereits der Bundesrechnungshof 1995 fest. Die PDS hat darauf basierend weiter recherchiert und die Erkenntnisse im Antrag 13/8656 vor wenigen Wochen deutlich gemacht. Dr. Winfried Wolf [PDS]: Hört! Hört! In unterschiedlichen, vertraglich vereinbarten Stufen der Geschäftsübernahmen kassierte dem zufolge beispielsweise die Deutsche Bank insgesamt 297 Millionen DM an Gebühren von der Deutschen Kreditbank AG, einem der Nachfolgeinstitute der Banken der DDR, und bezahlte später einen Kaufpreis in Höhe von lediglich 310 Millionen für die Anteile dieser Bank an einer gemeinsamen Tochter. Diese betrieb aber das eigentliche Bankgeschäft in Ostdeutschland. Auf diese Weise sicherte sich die Deutsche Bank den Zugriff auf Hunderttausende von Kundinnen und Kunden. Gleichzeitig konnte sie im Ergebnis dieses Geschäftes ein funktionierendes Netz mit 112 Filialen in Ostdeutschland faktisch von einem Tag zum anderen übernehmen. Ähnliche Schnäppchen gelangen übrigens auch der Dresdner Bank. Das Ergebnis ist hier so eindeutig, daß auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einer Ausarbeitung zu dem Schluß kommt, daß die monopolartige Struktur des deutschen Bankensektors durch diese Privatisierungspraxis im Osten verfestigt wurde. Kontrolle und Strukturveränderung, so der Wissenschaftliche Dienst unseres Hohen Hauses, tut not - wie wahr, wie wahr! Viele der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen getroffenen Feststellungen und der unterbreiteten Vorschläge finden unsere Unterstützung. Es gibt auch einige Differenzen; über die wird aber in den Ausschüssen zu reden sein. Vielen Dank. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Hans Martin Bury, SPD.

Hans Martin Bury (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000312, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen ist voll und ganz zu unterstützen, schon deshalb, weil er auf dem SPD-Entwurf eines Transparenz- und Wettbewerbsgesetzes basiert, den wir bereits am 30. Januar 1995 in den Bundestag eingebracht haben. ({0}) Frau Wolf, Ihre Forderungen decken sich weitgehend mit diesem TWG. In einigen wenigen Punkten gehen Sie darüber hinaus, so zum Beispiel bei der Forderung nach vollständiger Abschaffung des Depotstimmrechtes - einer Forderung, die angesichts der Erfahrung, daß die Banken trotz gegenteiliger Beteuerungen eben doch am Depotstimmrecht kleben, und angesichts der Erfahrung, daß die Koalition trotz eines Alternativvorschlages, den wir mit dem TWG entwickelt haben, diesen nicht aufgreift, durchaus überlegenswert ist, ebenso bei der Forderung, das Verbot der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in konkurrierenden Unternehmen nicht auf die einzelne Person zu beziehen, sondern auf das jeweilige Institut auszudehnen. Das entspricht einer Forderung des Kartellamts in der Anhörung des Rechtsausschusses. Während der Antrag der Grünen Gutes und Neues enthält, gilt für das KonTraG das, was unabhängige Sachverständige dem Entwurf in der Anhörung des Rechtsausschusses am 29. Januar 1997 bescheinigten: „Was neu ist, ist nicht gut, und was gut ist, ist nicht neu." Das KonTraG klingt nicht nur so, es ist auch nichts anderes als ein Placebo. Auch ein Placebo kann wirken, wenn die Betroffenen Vertrauen in seine Wirksamkeit haben. Die Autorität der Bundesregierung ist jedoch verspielt. Vertrauen in ihre Reformfähigkeit hat heute wirklich niemand mehr. ({1}) Zustimmen können dem Gesetz nur diejenigen, die von den zu behebenden Mißständen profitieren. Das KonTraG ist, wie die Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre heute richtig formulierte, ein Managerschutzgesetz, ja es ist auch ein Bankenschutzgesetz. Verglichen mit den vollmundigen Ankündigungen, mit denen die Koalition am 11. November 1994, fast auf den Tag genau vor drei Jahren, in ihrer Koalitionsvereinbarung Maßnahmen zur Beschränkung der Bankenmacht und zur Verbesserung der Unternehmenskontrolle angekündigt hat, ist das KonTraG ein Kniefall vor den Frankfurter Banken und ihren Alliierten in den Versicherungskonzernen. Selbst Graf Lambsdorff ist nach 20 Jahren müde geworden. Er war immer ein großer verbaler Vorkämpfer gegen die Bankenmacht. Seine Fraktion hat dann immer verhindert, daß es tatsächlich zu einer wirksamen Beschränkung kam. Was Sie vorlegen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, ist eine zahnlose Scheinreform. Beim Anteilsbesitz von Banken und Versicherungen soll überhaupt nichts verändert werden. Herr Gres, es ist schon paradox, wenn ausgerechnet Sie beklagen, daß Versicherungen nicht einbezogen würden. Wir haben das im Transparenz- und Wettbewerbsgesetz getan. Sie greifen das nicht auf, ja lehnen dieses ab. Bei Aufsichtsräten ändert sich - ginge es nach Ihnen - faktisch nichts. Kein einziger der Multi-Aufsichtsräte müßte ein einziges Mandat abgeben. Das Problem von Aufsichtsräten in konkurrierenden Unternehmen wird gar nicht erst angegangen. Auch beim Depotstimmrecht ändert sich praktisch nichts. Die neue Wahlpflicht der Banken bei Beteiligungen von mehr als 5 Prozent ist vollkommen ungeeignet, den Konflikt zwischen den Interessen einer kreditgebenden Bank und denen der zu vertretenden Aktionäre zu beseitigen. Hierzu hat sich auch Graf Lambsdorff eindeutig geäußert. Dem Mißbrauch des Depotstimmrechts bleibt Tür und Tor geöffnet. Es handelt sich um ein Schlüsselthema in der Frage der Bankenmacht. Denn aus Depotstimmen und eigenem Anteilsbesitz resultieren Hauptversammlungsmehrheiten der Großbanken von durchschnittlich 84 Prozent in den Hauptversammlungen der großen Publikumsgesellschaften. Das heißt: Gegen die Banken geht faktisch nichts, mit ihnen allerdings leider auch nicht viel. Auch bei den wechselseitigen Verflechtungen, dem Hauptinstrument der Manager zur Abschottung vor externer Kontrolle - hier hat auch der letztjährige Deutsche Juristentag erheblichen Handlungsbedarf angemahnt, Herr Gres -, tut die Regierung nichts. Im Zusammenhang mit dem Übernahmegesetz hatten wir gestern eine ganztägige Anhörung des Finanzausschusses zum Dritten Finanzmarktförderungsgesetz. Dabei haben Investmentbanker mit internationalem Horizont gesagt, daß sich die Bundesrepublik mit diesem freiwilligen Übernahmekodex weltweit der Lächerlichkeit preisgibt. Wir haben eine verbindliche gesetzliche Übernahmeregelung vorgeschlagen: im Interesse der Kleinaktionäre, des Minderheitenschutzes und der Stärkung des Finanzplatzes Deutschland. Bei der Transparenz will die Bundesregierung nur das gesetzlich vorschreiben, was die meisten Unternehmen in den letzten Jahren ohnehin schon freiwillig praktiziert haben. Die Haftungsregelungen werden zwar verändert, in der Praxis aber nicht verschärft. Nach dem Willen der Bundesregierung können Manager und Aufsichtsräte nach Fehlverhalten auch künftig in ihren Sesseln sitzen bleiben, während die Arbeitnehmer auf der Straße stehen. Dieses Prinzip kennen wir von dieser Bundesregierung: Sie sitzen noch immer hier, und die Bürger zahlen die Zeche. Es ist höchste Zeit, das zu ändern. Die Strukturkonservativen in Deutschland AG und BunHans Martin Bury desregierung sind das Innovationshindernis Nummer eins in Deutschland. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Funke.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst entschuldige ich mich dafür, daß ich etwas verspätet gekommen bin. Ich bin in der Tat im Vermittlungsausschuß aufgehalten worden; Herr Vesper kann es bezeugen. ({0}) - Das Gesetz, das wir durchbringen wollten, haben wir durchgekriegt. ({1}) - Nein, dazu hatten wir leider keine Gelegenheit. Die Frage der WestLB ist in der Tat klärungsbedürftig, kann hier aber nicht berücksichtigt werden, weil wir einen aktienrechtlichen Ansatz wählen. Wir bemühen uns um die Optimierung unserer Unternehmensverfassung. Das ist für uns im internationalen Wettbewerb erforderlich. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß dieses Thema auf der internationalen Tagesordnung steht. Deutsche Emittenten stehen im unmittelbaren weltweiten Wettbewerb mit Risikokapitalnachfragern. Die Bedeutung internationaler Anleger und ihrer Erwartungen nimmt zu. Dies verlangt von unseren Unternehmen eine intensivere Kommunikation des Managements mit den Marktteilnehmern über Unternehmenspolitik und Entwicklung sowie mehr Transparenz und Publizität in allen Bereichen. Wir bemühen uns mit unserem KonTraG - in der Tat kein besonders geschickter Name; das gebe ich zu -, uns an diese internationalen Standards anzulehnen. Komplexe, weltweit operierende Unternehmen benötigen eine Leitungs- und Überwachungsstruktur, die von den Anlegern als effizient und verläßlich verstanden wird. Dies gilt auch für die Rechnungslegung. Dazu komplementär werden wir § 292 a HGB noch novellieren, Herr Gres. Im übrigen berät der Rechtsausschuß schon darüber. An diesem Regierungsentwurf werden Sie bemerken, daß ein eindeutig kapitalmarktorientierter Ansatz gewählt worden ist. Das ist in unseren Augen zu begrüßen und hat in der Tat einige Diskussionen erforderlich gemacht. Deswegen sind wir in Ihren Augen vielleicht etwas spät dran. Aber wir werden es noch in dieser Legislaturperiode schaffen. Wichtig scheinen mir die Abschaffung der Höchststimmrechte und auch die Zusammenarbeit von Aufsichtsrat und Abschlußprüfer. Diese Vorschläge sind von Ihnen, Frau Wolf, in Ihren Antrag aufgenommen worden. Andere Vorschläge halte ich dagegen für nicht so sachgerecht. Da wird zum Beispiel gefordert, daß jemand, der vorher im Vorstand war, anschließend für fünf Jahre nicht mehr in den Aufsichtsrat wechseln darf. Das klingt auf den ersten Blick ganz hübsch und gut. Auf den zweiten Blick ist es in meinen Augen unmöglich. Schauen wir uns doch die Realität an. Die Börsengänge kommen ganz wesentlich aus den gewachsenen Familienunternehmen. Auch Sie wollen - das haben Sie vor einem Monat gesagt - mehr Familienunternehmen an die Börse führen. Aber wenn Sie dem Gründer dieser Aktiengesellschaft, der noch im Vorstand war, nicht den Rückzug in den Aufsichtsrat ermöglichen, ist das sicherlich kontraproduktiv. Ein anderer Punkt: Sie wollen das Recht des Aktionärs beschneiden, seiner Depotbank Stimmrechtsvollmacht zu erteilen. Der Aktionär soll für jede Hauptversammlung und jede Aktie Einzelweisungen vergeben. Auch das klingt zunächst einmal gut und wird von dem einen oder anderen hier im Raum befürwortet. Aber die Kleinaktionäre werden dann - vernünftigerweise - auf die Stimmrechtsausübung verzichten. Das sehen Sie zum Beispiel bei der Allianz, bei der Münchener Rück und bei VW. Bei VW haben wir eine Beteiligung von 37 bis 41 Prozent in der Hauptversammlung, selbst wenn Niedersachsen seinen 20prozentigen Anteil vertritt. Daran sehen Sie, daß der Kleinaktionär sein Stimmrecht nicht wahrnimmt. Das führt dazu, daß wir das, was auch Sie wollen, Frau Wolf, nämlich eine größere Aktionärsdemokratie, eher konterkarieren. Sie haben einen Vorschlag gemacht, um das ein wenig auszubremsen. Ich glaube nicht, daß dieser Vorschlag geeignet ist, weil er den 20 größten Aktionären zugute käme, und das kann auch nicht im Sinne unserer Politik sein. Zu den Bankenbeteiligungen ist bereits genügend gesagt worden. Ich schließe mich den Worten von Herrn Gres an. Ich glaube, daß unser Vorschlag eines Verbots der Kumulation von Eigen- und Vollmachtsstimmen insoweit punktgenauer und gezielter ist. Meine Damen und Herren, einen Vorschlag, den wir gleichzeitig mit einbringen, nämlich den betreffend die Stückaktie, möchte ich ganz kurz erwähnen, weil Sie, lieber Herr Pick, das als Stückwerk bezeichnet haben. Ich glaube nicht, daß Sie das Gesetz richtig gelesen haben; denn international wollen auch Sie - so habe ich Sie bisher immer verstanden - die Stückaktie und nicht an der Nominalaktie festhalten. Deswegen sollten Sie solche Wortspielereien gerade bei Ihrem wissenschaftlichen Anspruch nicht betreiben. Vielen Dank. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/7737 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie. damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10a bis 10h auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Wohnungsbaurechts ({0}) - Drucksache 13/8802 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und anderer wohnungsrechtlicher Gesetze ({2}) - Drucksache 13/7918 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({3}) Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Finanzausschuß c) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Regelungen - Wohngeldanpassungsgesetz ({4}) - Drucksache 13/8961 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({5}) Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Helmut Wilhelm ({6}), Marieluise Beck ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Für die Reform des sozialen Wohnungsbaus und eine neue Wohnungsgemeinwirtschaft - Drucksache 13/7710 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({8}) Finanzausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Angelika Mertens, Norbert Formanski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Grundzüge für ein Gesetzbuch des sozialen Wohnens - Drucksache 13/7841-Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({9}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Anhebung der Freibetragsregelungen nach dem Wohnungsbauförderungsgesetz 1994 - Drucksachen 13/3665, 13/6453 -Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Sikora Dagmar Wöhrl Norbert Formanski g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({11}) zu dem Antrag des Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS Ergänzung des Eigenheimzulagengesetzes - Drucksachen 13/4835, 13/6563 - Berichterstattung: Abgeordneter Reiner Krziskewitz h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 201 zu Petitionen ({13}) - Drucksache 13/7439 Es liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Klaus Töpfer.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für diese Legislaturperiode hatten wir uns ein großes wohnungspolitisches Programm vorgenommen. Ich glaube, man kann festhalten: Wir haben sehr viel davon geschafft. Ich werte es auch als einen großen Erfolg, von dem die Bürgerinnen und Bürger insgesamt profitieren, daß dies überwiegend im Einvernehmen mit der Opposition gelungen ist. ({0}) Beispiele dafür sind die neue, höchst erfolgreiche Eigenheimzulage, die zu einem Zuwachs der Genehmigungen beim Wohneigentum in Höhe von über 10 Prozent geführt hat, die Verbesserungen beim Bausparen - die zusätzlichen Abschlüsse betragen fast über 30 Prozent - und das kostengünstige Bauen. ({1}) Die durchschnittlichen Kosten pro Eigenheim sind um 7 Prozent gesunken. Weitere Beispiele sind das Mietenüberleitungsgesetz Ost, die Schaffung eines einheitlichen Wohngeldrechts für Ost und West mit den Wohngeldüberleitungsvorschriften und das neue Bau- und Raumordnungsgesetz. Das ist insgesamt ein breites Spektrum in vielen Bereichen, das wir nach intensiver Diskussion in Übereinstimmung mit der Opposition abgearbeitet haben. Wir haben Unterstützung für die erfolgreiche Förderpolitik zur Erneuerung des Wohnungsbestandes und der Städte in den neuen Ländern - auch verbunden mit der Kostensenkungsinitiative - gefunden. Ich kann festhalten: Die Wohnungs- und Städtebaupolitik ist ein sehr positives Kapitel im Buch der deutschen Einheit geworden. ({2}) Dies ist nicht nur der Politik zuzuschreiben. Ich danke nachhaltig denen, die in den Wohnungsgesellschaften, den Genossenschaften und die insgesamt daran mitgewirkt haben. Wir können deutlich festhalten: Die Situation auf dem Mietwohnungsmarkt hat sich verändert. Wir sind zu einem Mietermarkt gekommen. Wenn sich die Belastungen für die Mieter erhöhen, dann deshalb, weil die Mietnebenkosten steigen, was mehr als zu beklagen ist. Die Netto-Kaltmieten steigen jedoch nicht mehr. Gleiches gilt für die Neuvertragsmieten. Es gibt einen deutlichen Anstieg beim Wohneigentum. Es gibt also allen Grund dazu, auch das letzte Kapitel der notwendigen Reformen in dieser Legislaturperiode in Angriff zu nehmen und dieses Wohnungsbaureformgesetz einzubringen. Dieses haben wir im Vorfeld intensiv diskutiert. Darüber haben wir mit den maßgeblichen Verbänden gestritten. Wir haben uns wissenschaftlich beraten lassen. Wir haben über anderthalb Jahre mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Bundesländern hierüber gestritten. Wir haben davon gelernt und das, was wir vorlegen, in ganz besonderer Weise mit Blick auf die Veränderung beim Sozialwohnungsbestand entsprechend weiterentwickelt. Die Aussage der Diffamierungskampagne, nach so einem Gesetz ginge demnächst eine flächendeckende Mieterhöhung über ganz Deutschland, kann wirklich nur noch jemand treffen, der sich mit der Materie gar nicht beschäftigt hat. ({3}) Unsere Zielsetzung ist es, hier etwas vorzulegen, das am Ende gemeinsam verabschiedet wird. ({4}) Wenn man das Feldgeschrei, das bei solchen Dingen am Anfang immer ertönt, sortiert, merkt man, daß offenbar sehr viele Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Ich kenne kaum jemanden, der nicht der Meinung ist, daß diese Reform dringend gemacht werden muß. ({5}) - Ich sehe mich von vielen in unserem Lande, die wohnungspolitischen Sachverstand haben, bestätigt. Ich will Ihnen nur die Eckpunkte nennen, die wir mit diesem Gesetz in Angriff nehmen: Zusammenfassung und Vereinheitlichung des Wohnungsbaurechts, gezielte Förderung der Bedürftigen durch Neubestimmunmg der Zielgruppen statt breiter Schichten der Bevölkerung, Nutzung des vorhandenen Wohnungsbestandes als sozialen Wohnraum statt ausschließlicher Neubauförderung, Sicherung ausgewogener Bewohnerstrukturen in allen Wohngebieten - eine ganz besonders wichtige Veränderung und Erweiterung -, Stärkung der Stellung der Kommunen - denn zunehmende Teilmarktunterschiede verlangen eine örtlich und regional differenzierte Wohnungspolitik -, Fördergerechtigkeit durch einkommens- und vergleichsmietenorientierte Wohnkostenentlastung statt Kostenmiete, Stärkung der Wohneigentumsförderung, Stärkung von Selbsthilfe und genossenschaftlichem Wohnen, Ausschöpfung von Kostensenkungspotentialen, umweltgerechtes und barrierefreies Bauen sowie die Verzahnung von Wohnungs- und Städtebau. Das sind die Eckpunkte, die wir mit dem Gesetzentwurf aufgegriffen haben. Ich habe natürlich mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, daß sowohl die Wohnungswirtschaft als auch der Deutsche Mieterbund intensiv und dringend vor einem Scheitern der Reform gewarnt haben. Sie haben die Länder aufgefordert, konstruktiv an einer gesetzgeberischen Lösung mitzuwirken. Wenn ich hier den Kollegen Vesper sehe, weiß ich, daß er ohnehin nur in den Bundestag kommt, um mitzuteilen, daß er weiterhin konstruktiv mitwirken wird. ({6}): So ist es!) Insofern ist meine Hoffnung bereits durch seine Anwesenheit hier voll und ganz bestätigt worden. ({7}) Noch Anfang dieser Woche hat der uns allen bekannte Präsident des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen, Jürgen Steinert, den Bundesrat eindringlich vor einem Scheitern des Wohnungsgesetzbuches gewarnt. Der Direktor des Deutschen Mieterbundes hat in der „Leipziger Volkszeitung" vom 13. August 1997 gesagt: Auch nach Auffassung des Deutschen Mieterbundes ist der soziale Wohnungsbau reformbedürftig. Die Länder wären gut beraten, an einer konstruktiven Lösung mitzuwirken. Treffsicher und zeitgerecht zur heutigen Sitzung hat der Deutsche Mieterbund noch einmal in einer Presseerklärung gesagt: Das von Bundesbauminister Töpfer vorgelegte Reformvorhaben zeige durchaus akzeptable Wege auf und berücksichtige auch Bedenken und Forderungen des Deutschen Mieterbundes. Insbesondere sei der Plan, die Mieten im Sozialwohnungsbestand an die ortsüblichen Vergleichsmieten heranzuführen, aufgegeben worden. In der Neubauförderung gehe es darum, die soziale Treffsicherheit, die Effizienz und die Flexibilität der Instrumente zu verbessern. Wenn Sie es schon nicht mir glauben: Glauben Sie es Herrn Rips vom Mieterbund, daß das, was wir vorgelegt haben, eine vernünftige Startbasis für eine Reform darstellt! Ich plädiere mit großem Nachdruck dafür, daß wir das voranbringen. ({8}) Da der Kollege Vesper und andere aus diesem Hause, die wohnungspolitisch in besonderer Weise engagiert sind, aus Nordrhein-Westfalen kommen, mache ich mir die Freude, die Wertung von Staatsminister a.D. Huonker, der in Nordrhein-Westfalen den GdW in besonderer Weise beeinflußt, zu zitieren, der auf einer Tagung rheinland-pfälzischer Wohnungsunternehmen am 16. Oktober in Mainz unter anderem ausführte, daß Bund und Länder beim Wohnungsgesetzbuch praktisch kaum noch auseinander seien und „es so gut wie keine Streitpunkte mehr gebe, die man nicht in mehr als zwei Ausschußsitzungen des Parlaments zum Konsens führen könne". Der Mann hat recht. Wenn Sie es mir nicht glauben, glauben Sie es Herrn Huonker! Ich glaube, er ist nach wie vor Mitglied der SPD und ein wohnungspolitisch kenntnisreicher Mann. ({9}) Mir geht es darum, deutlich zu machen: Es gibt gar keine Diskussion darüber, daß wir eine Reform brauchen. Ich glaube, daß das, was wir vorgelegt haben, eine außerordentlich gute Grundlage für diese Reform darstellt und daß wir es den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland wirklich schuldig sind, zu einer vernünftigen Regelung noch in dieser Legislaturperiode zu kommen. Lassen Sie mich einige wenige Sätze zu den Vorwürfen gegen diesen Entwurf sagen: Wir verabschieden uns nicht aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus. 450 Millionen DM stehen im Gesetz; sie standen auch im alten Gesetz. Wer das als Ausstieg aus der Förderung bezeichnet, kannte das alte Gesetz nicht; hier ist nichts verschlechtert worden. Es steht ganz eindeutig im Entwurf, daß die Rückflüsse wieder dem sozialen Wohnungsbau zugeführt werden müssen. Der Bund erhält gegenwärtig jährlich zirka 1,5 Milliarden DM an Rückflüssen. Das ist deutlich mehr als die 450 Millionen DM, die im Gesetz stehen. Die Befürchtung der kommunalen Seite, wir wollten sie besonders belasten, ist absolut nicht gerechtfertigt. Wir wollen ganz im Gegenteil die kommunale Seite stärken, weil sie vor Ort wirklich besser darüber entscheiden kann, welche Lösungen verwirklicht werden sollten. Ich sage nicht - Dietmar Kansy hat uns immer dazu aufgefordert, das nicht zu tun -: Ihr schlagt den Bund, wir schlagen die Länder. Aber wenn ich mir die Ansätze für den sozialen Wohnungsbau ansehe, jetzt zuletzt in Hamburg, dann muß ich sagen: Alle müssen sich gegenwärtig ein gutes Stück nach der Decke des finanziell Möglichen strecken. Ich glaube, um so mehr ist es eine Verpflichtung, alles daranzusetzen, daß wir die noch vorhandenen Mittel zielgenau einsetzen. Dieses Wohnungsgesetzbuch wird einen guten Beitrag dazu leisten. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Achim Großmann, SPD.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So hat sich der Bauminister seine letzte Rede im Bundestag vielleicht nicht vorgestellt. Mit den Gedanken schon irgendwo anders quasi bei Nacht und Nebel einen verkorksten Gesetzentwurf vorzustellen ({0}) es gibt wahrlich schönere Momente im Leben eines Ministers. Wie dem auch sei - wir haben es schon in seiner Rede gehört -: Heute geht es nicht nur um das Wohnungsbaureformgesetz, sondern auch um ein Fazit der dreijährigen Arbeit des vierten Bauministers in der zu Ende gehenden Ära Kohl. ({1}) Ihre Vorgängerin hat Ihnen, Herr Töpfer, einen riesigen Reformstau hinterlassen. Sie hatten eine große Chance, ihn abzuarbeiten. Aber Sie haben das nicht geschafft. ({2}) Im frei finanzierten Mietwohnungsbau gibt es nach wie vor ungezügelte Subventionen für Luxusbauten. Das völlig falsche System hat Deutschland die höchsten Baukosten, Abschreibungsleerstände und Investitionsruinen beschert. Änderungsvorschläge der SPD haben Sie ignoriert. Beim Wohngeld verging drei Jahre lang kein Monat, keine Woche, wo nicht blumige Presseerklärungen und Versprechungen gemacht wurden. Übriggeblieben ist ein eklatanter Wortbruch. Wohngeldbezieher, das Parlament und die Bundesländer wurden getäuscht. Das Altschuldenhilfegesetz fanden Sie im Nachlaß Ihrer Vorgängerin. Statt es zügig zu novellieren, Mietern und Wohnungswirtschaft mit pragmatischen, flexiblen und mieterfreundlichen Lösungen zu helfen, haben Sie die Probleme vor sich hergeschoben, Investitionen behindert, unseriösen Investoren Tür und Tor geöffnet und die Wohnungswirtschaft mit ihren ganz speziellen und regionalen Problemen im Regen stehen lassen. ({3}) Die Städtebauförderung haben Sie um 40 Prozent gekürzt. Als Sie ins Amt kamen, gab es 1 Milliarde DM Städtebauförderungsmittel. 1998 werden es nur noch 600 Millionen DM sein und in Westdeutschland nur noch 80 Millionen DM. Zum 25jährigen Jubiläum des Städtebauförderungsgesetzes kann man im Westen nur noch kärgliche Reste dieses so wichtigen Instrumentes finden, das Arbeitsplätze schafft und sich größtenteils selbst refinanziert. Den sozialen Wohnungsbau wollen Sie abwickeln. Standen 1994 noch 3,4 Milliarden DM zur Verfügung, so sollen es 1998 nur noch 1,4 Milliarden DM sein. Gleichzeitig legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der die Möglichkeit zur völligen Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus vorsieht. Ihre wahren Absichten haben Sie im vorliegenden Gesetzentwurf verwässert. Sie haben so getan, als ob es gar nicht so sei, daß die Mieten flächendeckend erhöht werden sollten. Aber Sie sollten dazu stehen, daß in Ihrem ersten Entwurf genau dies stand. Die Bundesregierung wollte zunächst die Mieten von 2,5 Millionen Sozialwohnungen anheben. Damals hat es auch aus Bayern Kritik gegeben. Nun wissen wir, Herr Töpfer: Ihr Nachfolger soll aus Bayern kommen. In der Öffentlichkeit wird der Eindruck erweckt, der einzige Befähigungsnachweis für dieses Amt sei die Mitgliedschaft in der CSU, ({4}) und das Ausleseverfahren komme dem der Süddeutschen Klassenlotterie gleich. ({5}) Wie dem auch sei: Zur Bewertung der Vorschläge der Bundesregierung will ich den CSU-Innenminister Beckstein zitieren. Er hat Ihnen im Februar 1996 einen Brief geschrieben. Da heißt es wörtlich - das gehört zur Geschichte dieses Gesetzes, und das sollen die Menschen auch wissen -: Wie können wir eine Reform des Sozialwohnungsbestandes politisch vertreten, die damit beginnt, daß auf breiter Front die Sozialmieten bis zu mehreren Mark je Quadratmeter Wohnfläche im Monat steigen und das - zumindest optisch - einseitig zugunsten der Vermieter? Einkommensschwächeren Mietern soll zwar mit einer Zusatzförderung die gestiegene Miete wieder auf eine für sie tragbare Höhe gesenkt werden. Die Finanzierung dieser Subjektförderung ist aber völlig offen und birgt erhebliche finanzielle Risiken. Auch ist mit einem hohen zusätzlichen Verwaltungsaufwand zu rechnen. Originalton Beckstein. Dieses Thema ist noch nicht vom Tisch. Sie haben den GdW zitiert, und auch ich werde ihn aus seiner gestrigen Presseerklärung zitieren. Das konnte gestern jeder hören. In der Presseerklärung plädiert der GdW nach wie vor für die Anhebung der Sozialmieten im Bestand auf die Höhe der ortsüblichen Vergleichsmiete. Die Annahme, dies würde zu einer Stabilisierung der großen Quartiere des sozialen Wohnungsbaus führen, ist geradezu abenteuerlich. ({6}) In Berlin hebt der Bausenator gerade die Fehlbelegungsabgabe in einigen Bezirken auf, senkt also die Mieten für bestimmte Bewohner, damit sozial stabilere Mieter nicht ausziehen. In dem Ifo-Gutachten, das Sie selbst in Auftrag gegeben haben, Herr Bauminister, steht: Ein behutsames Vorgehen ist in benachteiligten Quartieren angeraten, um nicht durch Mietforderungen, die im Vergleich zu den dort herrschenden Wohnverhältnissen als unangemessen hoch angesehen werden, eine Auszugswelle der besser situierten Mieter und damit eine Destabilisierung der Bewohnerschaft zu provozieren. Also selbst das von Ihnen bestellte Gutachten weist darauf hin, daß Mietsteigerungen im Bestand, wie sie der GdW noch gestern gefordert hat und wie auch Sie sie zunächst vorgesehen haben, völlig kontraproduktiv sind. Ein zweiter Punkt. Sie setzen nach wie vor - daran ist nichts geändert worden - eindeutig auf die Präferenz der einkommensorientierten Förderung, ein gravierender Fehler. Zitat aus Becksteins Brief - die Kritik gilt heute wie vor einigen Monaten -: Zwar haben wir noch nicht einmal allererste sichere Erfahrungen zur Effizienz der Einkommensorientierten Förderung, da auch die ersten geförderten Wohnungen noch im Bau sind. Bisher wissen wir nur: Es ist nicht einfach, für die Pilotprojekte der Einkommensorientierten Förderung Investoren zu finden, und hier und da werden Zweifel an der Effizienz dieser Methode laut; auch ist die Einkommensorientierte Förderung verwaltungsaufwendiger als ältere Fördermethoden. Deutlicher kann man die Kritik nicht äußern. Da soll auf eine Methode gesetzt werden, die sich in der Praxis überhaupt noch nicht bewährt hat, und Sie halten an diesem falschen Weg fest. Was wir brauAchim Großmann chen, sind sicherlich mehrere Förderwege, so wie sie in dem Gesetz vorgesehen sind, das jetzt Gültigkeit hat. Ähnlich unstrukturiert sind viele andere Passagen in Ihrem Gesetzentwurf. Ein Vorrang für die Bestandsförderung engt den wohnungspolitischen Förderspielraum unnötig ein. Wir brauchen beides, Neubau- und Bestandsförderung entsprechend den regionalen Prioritäten. Sie schlagen vor, daß nur die Gemeinden an der Wohnungsbauförderung teilhaben, die sich selbst finanziell beteiligen. Das ist strukturpolitischer Unfug. Denn gerade Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit und einer hohen Zahl von Sozialhilfeempfängern, mit Schwierigkeiten bei Konversionsflächen und Industriebrachen sind finanziell so klamm, daß sie ihre Probleme gar nicht alleine lösen können und Hilfe auch ohne eigene Leistungsfähigkeit benötigen. Der verordnete Ausstieg aus dem Kostenmietprinzip ist kurzsichtig. Warum soll der Bund den Ländern einen Förderweg verbieten, der in einzelnen Ländern fast ausschließlich mit Landesmitteln finanziert wird? Und warum weigert sich der Bund, die vereinbarte Förderung über eine öffentlich rechtliche Qualifikation so aufzuwerten, daß sie mittelfristig in der Lage wäre, die Kostenmiete zu ersetzen? ({7}) Derzeit jedenfalls ist die vereinbarte Förderung, in die rund zwei Drittel der Summen der Wohnungsbauförderung schon jetzt fließen, nicht selten ein Wohnungsbau „de luxe" nur für einkommenskräftigere Mieter. Völlig unakzeptabel ist die geplante Kostenverschiebung zum Nachteil der Länder und die ungesicherten Aussagen zur finanziellen Sicherung des sozialen Wohnungsbaus. Die Wohnungsbaumittel - ich habe das eben dargelegt - fallen schneller als die Kurse an den Börsen in Südostasien, und der Rückzug des Bundes aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus wird in vielen Paragraphen des Gesetzes vorbereitet. Alles in allem ist der Gesetzentwurf unausgegoren und wohnungspolitisch nicht ausreichend durchdacht. ({8}) Er verleugnet wichtige Erfahrungen aus den letzten Jahren und verschiebt die finanzielle Verantwortung vom Bund weg auf Länder und Gemeinden. Mit ihrer Kritik stehen wir nicht allein da. Dann macht es Sinn, daß ich den zahlreichen Zitaten, die Sie eingeführt haben, ein paar andere entgegensetze. So wie Sie ein Mitglied der SPD, Herrn Huonker, zitiert haben, fange ich einmal mit Frau Roth an, der CDU-Oberbürgermeisterin aus Frankfurt. Sie sagt nämlich als Präsidentin des Deutschen Städtetages: Ohne tragfähige Finanzierungsregelungen werden die Städte zur gesamten Reform nein sagen müssen. Auch der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft - das haben Sie wohlweislich verschwiegen - sieht ganz viele Kritikpunkte. Ich erinnere nur an den unsäglichen Versuch, die Genossenschaften durch eine falsche Regelung zu strangulieren. Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft spricht schließlich vom „Abschied einer sozialen Wohnungspolitik". Der Deutsche Mieterbund bemängelt die fehlende finanzielle Ausstattung des Gesetzes, vom Wohngeldwortbruch ganz zu schweigen. Kein Wort übrigens von Ihnen heute zum Thema Wohngeld. ({9}) Sie sehen, Herr Töpfer, das Gesetz ist in der jetzigen Vorlage überhaupt nicht entscheidungsreif. Sie werden, Herr Töpfer, den Weg dieses Gesetzentwurfes wahrscheinlich nicht weiter verfolgen und auch nicht sein Scheitern für den Fall, daß die gravierenden Mängel nicht beseitigt werden. Trotz vieler wohnungspolitischer Differenzen haben wir in der Vergangenheit auch einiges gemeinsam gestaltet. Sie wissen ja, immer wenn Sie auf die SPD gehört haben, sind dabei gute Gesetze herausgekommen. ({10}) Heute bleibt mir nur, Ihnen gute Wünsche für Ihre neue Aufgabe mit auf den Weg zu geben. ({11}) Ich denke, Ihre persönliche Qualifikation steht dabei außer Frage. Aber sicher ist es nicht angenehm, von einem maroden Laden in den nächsten zu wechseln. In einer dpa-Meldung vom heutigen Tage heißt es: Woran sie genau arbeiten und welche konkreten Nutzen sie eigentlich erbringen, sind immer wieder heftig umstrittene Problemfragen der Organisation, die den Ruf hat, Steuergelder für wenig erfolgreiche Programme zu verplempern. Erst beim zweiten Lesen merkt man, daß nicht vom Bundeskabinett die Rede ist. Wir wünschen Ihnen viel Glück und versprechen Ihnen, die Wohnungsbauförderung unter einer SPD- Regierung so zu modernisieren, daß der soziale Wohnungsbau auch in Zukunft seinen festen Platz in Deutschland hat. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Minister Dr. Vesper, Bundesrat/NordrheinWestfalen. Minister Dr. Michael Vesper ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrter Noch-Amtskollege Töpfer, Sie haben in einem Punkt schon recht: Es geht mir damm, konstruktiv mitzuarbeiten. Mein ganzes Naturell strahlt sozusagen Konstruktivität aus. Ich bin Minister Dr. Michael Vesper ({1}) gerne bereit, mit Ihnen jedes Pils zu trinken, aber nur, wenn es kein Alster ist. ({2}) - Nein, das mag ich nicht. Ich bin für die klaren Lösungen, Herr Kollege. In diesem Gesetzentwurf sieht die Verpackung anders aus als der Inhalt. Es ist doch genau so: Jeder hier im Raum weiß - das ist fast ein bißchen gespenstisch, meine Damen und Herren -, daß diese Einbringung für die Bundesregierung und für die Koalition nichts anderes ist als eine Fingerübung. Sie haben sich entschieden, nicht den Weg der Kooperation mit den Ländern und Gemeinden zu gehen. Sie glauben nicht nur nicht mehr daran, diese Reform durchsetzen zu können; ich habe sogar den Eindruck, Sie wollen sie selbst gar nicht mehr. Es geht Ihnen einzig und allein nur noch darum, den Schwarzen Peter der Reformunfähigkeit von sich selber weg- und anderen zuzuschieben. Das lassen wir nicht zu. ({3}) Ich finde das Ganze aus sachlichen Gründen in zweierlei Hinsicht besonders ärgerlich: Erstens beschädigen Sie mit dieser ganzen Aktion den sozialen Wohnungsbau. Ich glaube, da können noch so viele Imagekampagnen beschlossen und finanziert werden, den öffentlichen Schaden, den Sie dem Ansehen des sozialen Wohnungsbaus zugefügt haben, werden wir so schnell nicht wieder beseitigen können. ({4}) Indem Sie jedes, aber auch jedes Vorurteil gegen die Praxis des sozialen Wohnungsbaus mit regierungsamtlicher Autorität versehen haben, indem Sie horrende und empirisch fragwürdige Schätzungen über Fehlbelegungsquoten salonfähig machen und die Fakten, zum Beispiel aus Nordrhein-Westfalen mit einen Anteil von immerhin der Hälfte des gesamten Bestandes an Sozialwohnungen, überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, greifen Sie den sozialen Wohnungsbau in einer Pauschalität an, die er nicht verdient hat. Sie ziehen ihm damit auch ein Stück Boden unter den Füßen weg. Das ist angesichts vieler Innovationen des sozialen Wohnungsbaus gerade in den letzten Jahren nicht gerechtfertigt. Das finde ich besonders ärgerlich an den ganzen Diskussionen, die Sie angezettelt haben. Der zweite Grund ist, daß der soziale Wohnungsbau in der Tat eine grundlegende Reform nötig hätte. Den Weg dorthin haben Sie aber mit Ihren halbherzigen und teilweise dilettantischen Bemühungen für diese Legislaturperiode leider verbaut. Ich sage ganz klar: Der soziale Wohnungsbau ist reformwürdig und auch reformfähig. Dazu liegt eine ganze Reihe konzeptioneller Überlegungen vor, zum Beispiel der Vorschlag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen oder auch die Stellungnahmen der A-Länder gemeinsam mit den beiden Fraktionen. Aber Sie haben in einem Anfall von Hybris wohl gedacht: Wir machen das mal eben ohne die A- Seite; die klopfen wir schon irgendwie weich. Da haben Sie sich erfreulicherweise getäuscht. Eine Zustimmung des Bundesrates zu diesem Gesetzentwurf wird es nicht geben. Er ist darum schon heute Makulatur. ({5}) Dabei ist es äußerst schade, Herr Kansy, daß damit eine gemeinsame Reform blockiert wurde. Es gibt nämlich eine Menge möglicher Gemeinsamkeiten, die jetzt bis zum Ende der Legislaturperiode offenbar verspielt sind. Zum Beispiel könnte doch ein gemeinsames Reformziel darin liegen, den sozialen Wohnungsbau gemeinsam zu erneuern und Innovationschancen zu nutzen, statt ihn beständig in Frage zu stellen. Die Reform des sozialen Wohnungsbaus ist eine Daueraufgabe. Es ist doch völlig unstreitig, daß wir die Förderung fortlaufend an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen müssen. Ich habe dabei überhaupt keine Angst vor einem Wettbewerb der Fördersysteme. Im Gegenteil, wir brauchen diesen Wettbewerb. Nur sollte sich diesem Wettbewerb eben auch die vereinbarte Förderung weiterhin stellen. Wer aber die in der Breite noch nicht erprobte einkommensorientierte Förderung zur Richtschnur machen und die Länder mit engen Reglementierungen gängeln will, der gibt solche Innovationschancen von vornherein auf. Von daher ist Ihr Entwurf letztlich - es tut mir leid, das sagen zu müssen - im eigentlichen Sinne reformfeindlich. Wir können uns zum Beispiel auch schnell darauf einigen, Herr Kollege Töpfer, Maßnahmen zur Bestandserhaltung in der Wohnungspolitik stärker zu gewichten. Wir wollen einen sparsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, einen effizienten Einsatz öffentlicher Mittel und gemischte Belegungsstrukturen erreichen. Aber dazu steht mir in diesem Entwurf viel zuviel Lyrik und viel zuwenig Handfestes. Am meisten fehlt das Geld, das finanzielle Engagement des Bundes. Es ist doch absurd: Sie wollen auf der einen Seite immer mehr regeln und die Länder immer mehr gängeln, aber auf der anderen Seite tragen Sie immer weniger zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus bei. In Nordrhein-Westfalen sind es gerade noch einmal 11 Prozent. Wenn man dann noch zusätzliche Vorgaben für Bestandserhaltungsmaßnahmen einführen will, die die Umsetzung vorhandener Programme mit dem bisherigen Instrumentarium erschweren, bleibt als Fazit nur: Ziel verfehlt. Unabdingbare Voraussetzung für eine Reform des sozialen Wohnungsbaus bleibt eine Anpassung des Wohngelds an die Miet- und Einkommensentwicklung. Wenn ich das betone, dann geht es mir nicht darum, mangelnden Reformwillen hinter einem schwer einlösbaren Junktim zu verbergen. Dieser enge Zusammenhang ergibt sich aus der Sache selbst. Es ist unglaubwürdig, wenn die BundesregieMinister Dr. Michael Vesper ({6}) rung über Jahre die Umstellung von der Objekt- zur Subjektförderung zur ordnungspolitischen Grundlage ihrer Wohnungspolitik macht und dann die bestehende Subjektförderung in dieser Form austrocknen läßt. In diesem Punkt, Herr Töpfer, konnten Sie nach Lust und Laune Ihrer alten Gewohnheit frönen, nämlich Dinge anzukündigen, die hinterher nicht eingehalten wurden. Ich habe mir nicht - wie offensichtlich Herr Großmann - die Mühe gemacht, zu zählen, wie oft Sie verbindlich angekündigt haben, daß die Wohngeldnovelle jetzt aber wirklich komme. Ich weiß nur: Sie haben diese Ankündigungen nicht ein einziges Mal eingehalten und einen Vorschlag vorgelegt. Es ist daher nicht nachvollziehbar, daß dieser Zusammenhang in der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates bestritten wird. Mit einer Wohngeldnovelle meine ich keine Wohngeldstrukturnovelle, bei der minimale Verbesserungen des Tabellenwohngeldes von Kommunen und Sozialhilfeträgem finanziert werden sollen. Die Verwerfungen beim Wohngeld beruhen eben nicht auf einer Übersubventionierung der Sozialhilfeträger, sondern sie gehen auf die jahrelang unterlassene Wohngeldanpassung zurück. Ein gemeinsames Reformziel mit uns könnte es auch sein, die Zielgenauigkeit wohnungspolitischer Subventionen zu verbessern. Ich habe Verständnis dafür, wenn es Ihnen, Herr Töpfer, mißfällt, daß in Bayern die Fehlbelegungsabgabe erst bei einer Überschreitung der Einkommensgrenzen von 55 Prozent einsetzt. ({7}) Nur, dann lösen Sie die Probleme doch dort, wo sie entstehen! ({8}) Ich gehe mit Ihnen, wenn Sie zu einer bundeseinheitlichen Toleranzschwelle für die Fehlbelegungsabgabe kommen wollen. Ich sage Ihnen: Wir haben in Nordrhein-Westfalen mit einem Anteil von der Hälfte aller Sozialwohnungen den höchsten Sozialwohnungsbestand. Wir haben mit der Schwelle von 10 Prozent gute Erfahrungen gemacht. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesem Vorschlag zustimmen könnten. Ihr Gesetzentwurf trägt jedoch nichts zu einer höheren Subventionsgerechtigkeit bei; denn ohne eine Festlegung der Einkommensgrenzen bei der Wohnungsbauförderung gehen alle Vorschläge zum Förderausgleich ins Leere. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Dr. Vesper, Sie können als Mitglied des Bundesrates natürlich reden, solange Sie wollen. Aber es gibt im Hause gewisse Vereinbarungen. Würden Sie vielleicht zwischendurch einmal auf die Uhr sehen? Minister Dr. Michael Vesper ({0}): Einverstanden. Das tue ich gerne. Ich komme bald zum Schluß. Ich möchte gerne noch auf den Gesetzentwurf hinweisen, den der Bundesrat eingebracht hat und den wir heute in diesem Zusammenhang beraten. Es muß auch ein Reformziel sein, bei der Wohnungsbauförderung dem gesellschaftlichen Wandel und neuen Formen des Zusammenlebens Rechnung zu tragen. Die Vorschläge des Bundesrates hierzu liegen auf dem Tisch. Auch die Bundestagsfraktion der Grünen hat ein umfassendes Konzept zur Gleichbehandlung von Lebensgemeinschaften vorgelegt. Auf Antrag von Nordrhein-Westfalen schlägt der Bundesrat vor, den Sozialwohnungsbestand für auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften zu öffnen, natürlich nur dann, wenn die übrigen Voraussetzungen eingehalten werden. Wir müssen die Realitäten gerade in den Großstädten zur Kenntnis nehmen. Ich frage mich, warum Sie diese Vorschläge nicht übernehmen; denn wenigstens hier könnten Sie doch mit uns gehen. Auch die klarere Zielgruppenorientierung - Herr Kollege Töpfer, das wissen Sie - wird von uns geteilt. Allein, ich finde in dem Gesetzentwurf dazu keine konkreten Weichenstellungen. Wenn ich mir ansehe, was Sie in bezug auf die Bestandsmieten vorgehabt haben, dann kann ich nur sagen: Das ist nicht tragbar. ({1}) - Ja, das haben Sie mittlerweile verändert. Aber es wird inzwischen wieder eine Optionslösung verlangt. ({2}) - Manchmal muß es sein, Herr Abgeordneter Schily. Ich weiß, daß Sie ein Vertreter des Floretts und nicht des Degens sind. Aber manchmal muß man richtig zulangen können. Das ist klar. ({3}) Ich möchte abschließend sagen: Der Bund zieht sich mehr und mehr aus der finanziellen Verantwortung zurück. Zugleich will er aber immer mehr für die Länder regeln. Die notwendige Wohngeldanpassung wurde immer wieder hinausgeschoben. Die soziale Wohnraumförderung ist eben kein Auslaufmodell. Der soziale Wohnungsbau ist reformfähig, aber Ihr Gesetzentwurf verfehlt genau dieses Ziel, die notwendigen Reformen jetzt durchzusetzen. Herr Kollege Töpfer, gestatten Sie mir abschließend noch ein persönliches Wort. Ich habe die Zusammenarbeit mit Ihnen immer geschätzt. Sie werden jetzt wohl der achte lebende Ex-Bauminister werden, und Sie zählen mit der kurzen Dauer Ihrer Minister Dr. Michael Vesper ({4}) Tätigkeit zu den Bauministern mit der längsten Amtszeit. Ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Gute für Ihre neue Funktion. Meine besten Wünsche begleiten Sie nach Nairobi. Ich bitte Sie nur um einen Gefallen: Nehmen Sie doch bitte in Ihrem Reisegepäck diesen Gesetzentwurf mit! ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Hauch von Nostalgie scheint die Debatte heute zu prägen. Da tritt zunächst einmal der amtierende Bauminister ans Mikrophon und serviert uns mehr oder weniger einen kleinen Nachruf, wenn ich das richtig verstanden habe, einen Abschiedsgesang. Ich war ganz erstaunt; ich dachte, wir führten heute ein Fachgespräch über die Wohnbaurechtsreform. Statt dessen hören wir etwas von den Erfolgen der Wohneigentumsförderung, die unbestreitbar sind ({0}) und über die ich mich genauso freue wie Sie. Ehrlich gesagt, möchte ich jetzt keinen weiteren Nachruf versuchen. Ich glaube, ein Vermächtnis gibt es heute noch nicht zu verteilen und auch nicht zu kommentieren. Noch ist er Minister, und ich muß sagen: Ich kann auch sehr gut damit leben, daß Sie Bauminister sind. Wir haben in der Tat viele Dinge gemeinsam richtig gemacht. Wenn ich es richtig sehe, dann ist dieser Gesetzentwurf, über den wir hier sprechen, auch einer, den wir sehr wohl positiv kommentieren können. Es ist ja schon eine wundersame Geschichte: Da tritt hier Herr Vesper auf und weint einem Gesetzentwurf, den er gar nicht schätzt, Krokodilstränen nach. Im Grunde will er genau wie die SPD von Reform sprechen, aber nichts reformieren. ({1}) Er will all die Dinge, die den sozialen Wohnungsbau wirklich ändern würden, im Grunde nicht haben. Dann sollte man das aber auch deutlich sagen. ({2}) Er kommt hier auch in einer optischen Mogelpakkung, die dem Protokoll nicht zu entnehmen ist. Er trägt ein blaues Hemd und dazu eine gelbe Krawatte und erweckt damit den optischen Anschein von liberaler Sachlichkeit. Dabei ist ihm diese jedenfalls heute gar nicht eigen. Aber kommen wir zur Sache. Ich will über zwei SPD-Politiker sprechen, die ich heute eigentlich gern hier sehen würde. Der eine ist der Präsident des Gesamtverbands der Wohnungswirtschaft, Herr Steinert. Er war früher sozialdemokratischer Wirtschaftssenator von Hamburg. Er hat in Reit im Winkl bei der bayerischen Tagung des Gesamtverbands der Wohnungswirtschaft mit aller Deutlichkeit und Härte als Verbandschef eines wichtigen Wirtschaftsverbands in Deutschland gesagt, dieses Land brauche sofort eine Steuerreform. Diese Steuerreform sei zwar beschlossen worden, aber sie sei verhindert worden, und die Verhinderer säßen im Bundesrat. So waren seine Worte in Reit im Winkl, ({3}) wohlgemerkt die Worte eines verantwortungsvollen SPD-Politikers. ({4}) Wir haben eine weitere SPD-Politikerin, die eigentlich in einer ganz vergleichbaren Position ist, nämlich die Präsidentin des Deutschen Mieterbundes. Ich dachte, Frau Fuchs wäre heute hier. ({5}) Sie läßt erklären, daß der soziale Wohnungsbau von dieser Bundesregierung und dieser Koalition an die Wand gefahren werde. Die Mittel würden alle wild zurückgefahren, und damit würde er praktisch nicht mehr existenzfähig sein. ({6}) Dies wird wohlgemerkt ohne einen Hinweis darauf vorgebracht, daß in sozialdemokratisch regierten Ländern wie Niedersachsen, dem Saarland, Hessen und Sachsen-Anhalt überhaupt nur noch Mittel für den sozialen Wohnungsbau als korrespondierende Mittel bereitgestellt werden, damit die Bundeszuschüsse überhaupt noch entgegengenommen werden können. So ist die Realität, und ich wünschte mir, daß die Sozialdemokraten die Ehrlichkeit hätten, zu sagen: Das Geld geht allen aus, dem Bund wie den Ländern. Die Länder - gerade die sozialdemokratisch regierten, die ich genannt habe - fahren ihre Investitionen im sozialen Wohnungsbau noch viel stärker zurück, als es der Bund tut, ({7}) obwohl der soziale Wohnungsbau im wesentlichen Länderaufgabe und eben nicht Bundesaufgabe ist. Der Verpflichtungsrahmen für den sozialen Wohnungsbau ist von 1996 auf 1997 um 2,2 Milliarden DM zurückgefahren worden. Allein 2 Milliarden DM davon, also das Zehnfache der Mittel, um die der Bundestag, nämlich diese Koalition, die Summe zurückgeschraubt hat, stammen von den Ländern. Das sollte man wenigstens erwähnen, wenn man in diesem Zusammenhang die Bundesregierung kritisiert. Hildebrecht Braun ({8}) Meine Damen und Herren, das Gesetz zur Reform des Wohnungsbaurechts enthält viele Ansätze, die aus dem Konzept der F.D.P. zum sozialen Wohnen herrühren. Der Gesetzentwurf ist insgesamt gut. Würde er voraussichtlich nicht wieder an der Blokkade des Bundesrates scheitern, würden wir einen wichtigen Schritt zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Effizienz und damit zu neuer Attraktivität im sozialen Wohnungsbau machen. Allerdings teile auch ich die Kritik des GdW. Der Entwurf geht nicht weit genug. Denn die Regelungen zum Neubau im System des sozialen Wohnungsbaus mögen hilfreich sein; sie erfassen aber nicht die übergroße Mehrheit der betroffenen Wohnungen. Die finden wir nämlich im Bestand. Gerade dort sind die Ungerechtigkeiten durch das schlimme System des ersten Förderwegs übergroß. Das bundesweite Problem von Fehlbelegern in Höhe von 42 Prozent wird nicht mutig angegangen, sondern unmutig übergangen. Die Zersplitterung der Regelungen zur Fehlbelegungsverhinderung oder -erschwerung bleibt erhalten. Während Nordrhein-Westfalen - ein Lob in diesem Zusammenhang Ihren Vorgängern, aber auch Ihnen, Herr Vesper - Fehlbeleger schon bei zehnprozentiger Überschreitung der gesetzlichen Einkommensgrenze konsequent zur Kasse bittet, schützt Bayern in skandalöser Weise die Fehlbeleger. ({9}) Wer dort mit drei Kindern ein Jahreseinkommen von 130 000 DM hat und damit zu den Großverdienern gehört, zahlt keinen Pfennig Fehlbelegungsabgabe. Im Saarland gibt es, so glaube ich, überhaupt keine Fehlbelegungsabgabe. Aber darüber wollen wir nicht weiter sprechen. Das sind die „großen Leistungen" der Kanzlerkandidaten. Die wollen wir lieber höflich verschweigen. Natürlich brauchen wir ein Gesetz, das auch im Bestand die antiquierte Orientierung der Miethöhe an der sogenannten Kostenmiete mit all ihren Zufälligkeiten und abstrusen Auswirkungen verhindert. Wenn sich der Bundesgesetzgeber schon wegen des Widerstands der Länder daran gehindert sieht, einheitlich für alle Bundesbürger, deren Einkommen über den vorgesehenen Grenzen liegen, eine Regelung zu treffen, nach der die Miete in Schritten auf die ortsübliche Vergleichsmiete angehoben werden kann, so wäre doch zumindest eine Optionsklausel richtig, die es den Ländern überläßt, ob sie diesen richtigen Weg beschreiten wollen oder nicht. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum der Bund Länder nicht ermächtigen soll, von diesem Instrument Gebrauch zu machen. Ob sie das dann tun oder nicht, mögen sie selbst politisch verantworten Wir werden deswegen dafür kämpfen, daß die Optionsklausel wieder in dieses Gesetz hineinkommt. ({10}) Ich möchte am Schluß noch eines betonen: Am richtigsten wäre eine Reform, die all die Gesetze, die wir jetzt in diesem Zusammenhang haben, ganz schlicht nicht mehr nötig macht. Zweites Wohnungsbaugesetz, Wohnungsbindungsgesetz, Gesetz über den Abbau der Fehlsubventionierung, Zweite Berechnungsverordnung, Neubaumietenverordnung - all das hat man - ich möchte sagen: typisch deutsch - zur Regelung des sozialen Bauens eingeführt und hat damit ein groteskes Gerüst von Regelungen gefunden, mit denen niemand mehr umgehen kann und die dazu führen, daß in diesem Zusammenhang eine skandalöse Ungerechtigkeit entstanden ist, daß wir Wohngettos bekommen haben usw. ({11}) Wir alle kennen diese Kritik; sie wird ja bundesweit erhoben. Es kommt nicht von ungefähr, daß uns hierzu ein Gutachten der Arge Bau, das EmpiricaGutachten und im Rahmen des Gutachtens zur deutschen Wohnungspolitik von 1994 ein großes Kapitel hinsichtlich des Wohnungsbaus vorliegt, das kein gutes Haar an diesem System läßt. Hier ist eine grundlegende Reform erforderlich. Sie wäre so einfach. Mögen doch der Bund und die Länder den Kommunen das Geld geben, das sie jetzt ausgeben. Geben Sie es den Kommunen! Denn sie sind vor Ort und können am besten über den Mitteleinsatz entscheiden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, die Redezeit läuft aus. Hildebrecht Braun ({0}) ({1}): Mögen sie dies wie in Fellbach ausgeben, um den Leuten, die wirklich dringend eine billige Wohnung brauchen, dies auch zu ermöglichen. Das wäre der richtige und flexible Ansatz. Für den werden wir auch weiterhin kämpfen. Ein Zwischenschritt wäre dieses Gesetz. Es würde die Dinge deutlich verbessern. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick.

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stehe vor der unangenehmen Aufgabe, in nur fünf Minuten meine Auffassung und die der PDS-Bundestagsgruppe zu acht zum Teil außerordentlich umfangreichen Gesetzentwürfen, Anträgen und Beschlußempfehlungen liefern zu dürfen. Deswegen werde ich mich auf einige wenige grundsätzliche Aussagen beschränken müssen. Zum Anfang wenige Worte zu dem, was Minister Töpfer gesagt hat: Wie Sie versuchen, andere vor Ihren Karren zu spannen, ({0}) und wie Ihnen dies teilweise auch gelingt, das ist schon äußerst geschickt. Mit Aussagen über den Direktor des Deutschen Mieterbundes, Herrn Rips, beweisen Sie jedenfalls, daß Sie ein wahrer WeltmeiKlaus-Jürgen Warnick ster im Verbreiten von Halbwahrheiten sind. Sie pikken nur das Positive heraus und lassen das Negative weg. Ich habe die Presseerklärung hier. Nichts von dem, was an Kritischem in ihr steht, haben Sie vorgetragen: „Die Politik der Bundesregierung ... spart den sozialen Wohnungsbau zu Tode." Es stimmt zwar, daß zitiert wurde, das Reformvorhaben sei „eine geeignete Diskussionsgrundlage". Aber es heißt auch: Scharf rügte der Direktor des Deutschen Mieterbundes die finanzielle Ausblutung des sozialen Wohnungsbaus durch die Bundesregierung. Man könne nicht ernsthaft inhaltliche Reformen betreiben, wenn gleichzeitig der Geldhahn zugedreht wird ... Das Wohngeld muß endlich, wie ständig versprochen, erhöht werden. Von all dem kein Wort! Daß es bei Wohnungsförderung und sozialem Wohnungsbau Reformbedarf gibt, ist einer der wenigen Punkte, die hier von niemandem bestritten werden; denn der Gegensatz zwischen ständig steigendem Wohnflächenverbrauch sowie Wohnflächen mit hohem Standard einerseits und steigender Wohnungsnot und Obdachlosigkeit andererseits ist offensichtlich. Beim Wohnungsmarkt ist es genauso wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft: Die Umverteilung von unten nach oben ist im vollen Gange. Bestes Beispiel sind die Steuergeschenke für vermögende Westdeutsche; ich verweise auf den „Spiegel"-Artikel dieser Woche. Überrascht hat mich der Artikel allerdings nicht. Meine Kolleginnen und Kollegen sowie ich haben seit Jahren darauf hingewiesen und Veränderungen gefordert. Der vorliegende Gesetzentwurf ändert diese skandalöse Politik nicht. Daß der Regierungsentwurf wenig taugt und widersprüchlich ist, möchte ich Ihnen an wenigen Punkten deutlich machen. Erste Falschaussage: Die Bundesregierung behauptet in ihrem Entwurf des Wohnungsbaurechtes: Das Gesetzbuch schafft dauerhafte und zukunftsweisende Grundlagen für eine soziale Wohnraumförderung und deren Finanzierung. Ich frage: Wie zukunftsweisend kann ein Wohnungsbaurecht sein, das die Gretchenfrage der Umstellung von indirekten auf direkte steuerliche Förderungsmöglichkeiten im Wohnungsbau nicht angeht, das nicht alle Instrumente der Förderung wirklich mit einbezieht, das die Frage der Wohnungsgemeinnützigkeit nicht anspricht, das zu vielen wichtigen Fragen wie der Förderung von Genossenschaften und des barrierefreien Bauens nur unverbindliche Allgemeinplätze hineinschreibt und das nicht verläßliche und außerordentlich langfristige Bedingungen für das Wohngeld festschreibt? Da sind wir schon bei der zweiten Falschaussage, daß der „vom Bundesrat angenommene Zusammenhang mit einer Leistungsverbesserung beim Wohngeld nicht besteht". Was für ein Witz! Das vorgeschlagene Modell eines neuen Wohnungsbaurechtsist ohne ausreichende Wohngeldregelungen überhaupt nicht machbar. Über das Wohngeld komme ich zum dritten Widerspruch. Die Bundesregierung beweist mit ihren Haushaltsansätzen für 1998, daß sie ihre eigenen ideologischen Vorgaben überhaupt nicht ernst nimmt. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, daß die PDS den Grundsatz „Objektförderung reduzieren und Subjektförderung erhöhen" erfunden hätte. Dies ist seit Jahren der wohnungspolitische Leitsatz der Koalition, sozusagen ihr Glaubensbekenntnis. Kollege Vesper hat darauf schon hingewiesen. Dieser Leitsatz soll bedeuten, daß zukünftig nicht mehr der Wohnungsbau gefördert werden soll, sondern statt dessen all die Mieterinnen und Mieter, die sich die dann zu teuren Wohnungen des Marktes nicht mehr leisten können. Sie können eine finanzielle Unterstützung des Staates - hier in Form von Wohngeld bzw. einkommensabhängigen Zusatzförderungen - bekommen. Gleichzeitig die Subjektförderung, also Wohngeld, und die Objektförderung, also Mittel für den sozialen Wohnungsbau, zu kürzen zeigt, daß vom wohnungspolitischen Gesamtkonzept nur noch ein Scherbenhaufen übriggeblieben ist. Wie widersprüchlich die politischen Vorstellungen der Koalition weiterhin sind, zeigt die zum Teil berechtigte Kritik am Gießkannenprinzip, ist sie doch mit der Gießkanne überhaupt nicht zimperlich, wenn es um die Unterstützung von Bonn nach Berlin ziehender Bundesbediensteter geht. Oder soll ich eine soziale Gerechtigkeit darin sehen, daß der Ministerialdirektor aus der hohen Leitungsebene in weiten Teilen genau dieselbe fünfstellige Umzugsförderung wie die Mitarbeiterin des Plenardienstes erhält, obwohl ersterer auch ohne Zusatzförderung keinen dramatischen sozialen Abstieg in Berlin befürchten müßte? Das Wort „Gießkanne" sollten Sie von der Koalition aus den verschiedensten Gründen besser meiden wie der Teufel das Weihwasser. All diesen Ungereimtheiten steht der seit Mai 1996 dem Bundestag vorliegende ganzheitliche Entwurf der PDS für eine umfassende Reform der Wohnungsförderung und die Erarbeitung eines Wohngesetzbuches gegenüber, der alle wohnungspolitischen Instrumente einbezieht. Neben einem neuen Miethöhe- und Mietspiegelgesetz, einem neuen Wohngeldgesetz und der Sicherung kommunaler Belegungsrechte spielen darin vor allem die Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit und der Umbau des Steuerrechts eine entscheidende Rolle. Unser heute vorliegender Entwurf eines Wohngeldanpassungsgesetzes unternimmt den wiederholten Versuch, mit moderaten, dem Bundesratsantrag von 1995 entlehnten

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- ich bin sofort am Schluß - Anhebungsbeträgen für Westdeutschland das Wohngeld zum 1. Januar 1998 endlich den gestiegenen Mieten anzupassen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Josef Hollerith das Wort.

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregierung ist eine beispielgebende Erfolgsstory. ({0}) - Hören Sie zu! - So stellte der Bund allein seit 1990 nahezu 23 Milliarden DM Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau bereit. Mit deren Komplementärmitteln kamen somit 133 Milliarden DM zum Einsatz. Allein in diesem Zeitraum sind 870 000 Wohnungen mit direkten öffentlichen Hilfen geschaffen worden. Insgesamt stellte der Markt seit Anfang 1991 im Westen über 2,6 Millionen Wohnungen, überwiegend frei finanziert, bereit. In den neuen Ländern wurden etwa 375 000 Wohnungen gebaut und etwa 3,5 Millionen Wohnungen modernisiert. Das ist eine beispielgebende Erfolgsstory. Der Vermietermarkt hat sich zu einem Mietermarkt gewandelt. Die Mietpreise sind auf breiter Front gesunken, in manchen Regionen bis zu 30 Prozent. ({1}) Es gibt nicht wenige Gegenden in Deutschland, wo frei finanzierte Wohnungen preiswerter sind als im ersten Förderweg neu gebaute Wohnungen. ({2}) Das ist ein beispielgebender Erfolg dieser unserer Politik. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der soziale Wohnungsbau steht vor neuen Herausforderungen, vor Herausforderungen für neue Märkte - ich nenne als Beispiele die zielgenaue Förderung etwa für Behinderte, die gezielte Förderung für kinderreiche Familien oder für alleinerziehende Männer und Frauen - und der Herausforderung durch das Problem der Gettobildung in den Beständen. Wir kennen das Problem des Wohnumfeldes gerade in den neuen Bundesländern. Der soziale Wohnungsbau steht vor einer weiteren Herausforderung: Er ist in seinen Instrumenten effizienter zu organisieren. ({3}) Wir hatten gerade das Beispiel von Minister Vesper in NRW: Durch eine vereinbarte Förderung können wir gleiche Wohnqualität zu 20 Prozent geringeren Kosten herstellen. Dies bedeutet, um beim Beispiel NRW zu bleiben, das zugegebenermaßen viel für den sozialen Wohnungsbau tut, daß mit dem gleichen Geld statt der vorhandenen 25 000 Wohnungen im sozialen Wohnungsneubau 30 000 Wohnungen hergestellt werden könnten, wenn wir das System des sozialen Wohnungsbaus effizienter gestalteten. ({4}) Schließlich verlangt die Tatsache, daß wir feststellen müssen, daß nach zwei bis vier Jahren etwa 30 bis 40 Prozent der neu gebauten Sozialwohnungen fehlbelegt sind, also von Mietern belegt sind, deren Einkommen über den Berechtigungsgrenzen liegt, eine Reform dieses Systems. Ich weiß wohl, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, daß wir für eine Reform den Bundesrat brauchen, wo wir eine rot-grüne Mehrheit vorfinden. Auch weiß ich - jedenfalls schien es so nach dem, was uns Herr Vesper vorgetragen hat -, daß der Kandidat aus dem Saarland offensichtlich mit seiner Politik der verbrannten Erde in der SPD und in rotgrünen Kreisen mehrheitsfähig ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich meine nicht, daß Sie mit einer solchen Politik Erfolg haben werden. Sie werden sich damit in der Öffentlichkeit als reformunfähig und als Reformverweigerungspartei darstellen. Das Ergebnis wird nicht sein, daß Sie Wählerstimmen bekommen, sondern das Ergebnis wird sein, daß Ihnen die Wähler den Zuspruch versagen werden. Meine große Sorge ist, daß diese Reformverweigerung von einer großen Zahl der Menschen in unserem Lande dem politischen System in Deutschland insgesamt angelastet wird und daß dieses politische System insgesamt wegen Ihrer Reformverweigerungspolitik durch Wahlenthaltung Schaden nimmt. Herr Kollege Großmann, ich habe Sie und Kollegen von Ihnen an sich bei aller Unterschiedlichkeit von Standpunkten in der Sache und in Fachfragen gerade auch in den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses zum Baugesetzbuch als in der Sache kompetent und durchaus auch fähig kennengelernt, im Detail der Sache wegen Kompromisse zu finden. Wir laden Sie ein, diesen Weg einer konstruktiven sachpolitischen Auseinandersetzung auch beim Wohnungsgesetzbuch mit uns zu gehen: um der Sache und der Menschen in unserem Lande willen. ({5}) Ich möchte Ihnen zehn Kernpunkte dieses Reformvorhabens vorstellen: Erstens. Das Wohnungsgesetzbuch bedeutet Rechtsvereinfachung, das heißt Zusammenfassung und Vereinheitlichung des Wohnungsbaurechtes. In Zahlen ausgedrückt: Für die künftig neue Förderung reichen auf Bundesebene zirka 80 statt bisher 280 Paragraphen. Zweitens. Das Wohnungsgesetzbuch konkretisiert bedürftige Haushalte als Zielgruppe der Förderung. Die Länder legen die Einkommensgrenzen fest. Ich halte dies für richtig, weil wir unterschiedliche Verhältnisse haben. In Rostock sind die Verhältnisse anders als in Garmisch-Partenkirchen. Deswegen ist es richtig, wenn die Länder in die Lage versetzt werden, bedürfnisgerecht unterschiedliche Einkommensgrenzen festzulegen. Drittens. Das Wohnungsgesetzbuch fordert und fördert eine flexible Bestandspolitik, die gerade in den neuen Bundesländern dringend benötigt wird. Viertens. Das Wohnungsgesetzbuch gewährleistet ausgewogene Bewohnerstrukturen in allen Wohngebieten bis dahin, daß es Freistellungen vom Förderausgleich ermöglicht, wenn dies aus Gründen der Erhaltung ausgewogener Bewohnerstrukturen notwendig ist, zum Beispiel in Großsiedlungen, wenn es darum geht, wegzugswillige Mieter mit günstigen Mieten im Quartier zu halten. Fünftens. Das Wohnungsgesetzbuch gewährleistet einkommens- und vergleichsmietenorientierte Förderung. Die Kostenmiete wird abgeschafft. Wir wissen, daß der erste Förderweg mit seiner Kostenmiete der teuerste Wohnungsbau ist. Wir wissen, daß das Neuinstrument der vereinbarten Miete im Ergebnis gleiche Wirkungen zu effizienteren Bedingungen als das alte System haben wird. Sechstens. Das Wohnungsgesetzbuch bedeutet auch Förderung für selbstgenutztes Wohneigentum, etwa auch in der Situation, wenn die Entlastungswirkung des Eigenheimzulagengesetzes nicht ausreicht, am Anfang oder am Ende mit diesen Instrumenten flankierend zu fördern. Siebtens. Das Wohnungsgesetzbuch gibt der Selbsthilfe und dem genossenschaftlichen Wohnen einen besonderen Rang, worüber ich mich sehr freue. Es ist in allen Debatten fraktionsübergreifend ein gemeinsames Anliegen der Wohnungspolitik, die Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken. Dieses leistet das Wohnungsgesetzbuch. Achtens. Das Wohnungsgesetzbuch stärkt die Stellung der Kommunen mit der Möglichkeit der Sanierung der Bestände. Neuntens. Das Wohnungsgesetzbuch schafft die Kostenmiete auch im Sozialwohnungsbestand ab. Zehntens. Das Wohnungsgesetzbuch paßt die föderativen Finanzbeziehungen an die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten an - Zuständigkeit der Länder - und sichert dauerhaft die finanzielle Beteiligung des Bundes. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich lade Sie - auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition - um der Sache willen zu einer dialogorientierten, konstruktiven Mitarbeit bei diesem wichtigen Reformvorhaben ein. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Spanier.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Braun, mit aller Entschiedenheit muß ich Ihre Angriffe auf den Bundesbauminister zurückweisen. Sie haben vorhin gesagt, seine Rede sei kein Beitrag zu einem Fachgespräch gewesen. Nachdem ich nun Ihre Ausführungen und die - so will ich es ausdrücken - gestanzte Festansprache des Herrn Hollerith gehört habe, muß ich den Bundesbauminister wirklich ganz energisch in Schutz nehmen. Er hat hier geradezu tiefschürfende Ausführungen gemacht. ({0}) Herr Töpfer, wir haben viel Verständnis für Ihr Bemühen, aus dieser Bundesregierung auszusteigen. ({1}) Es ist natürlich ein politisches Signal: zuerst Herr Waigel, dann Herr Seehofer und nun Herr Töpfer. ({2}) Der Bundeskanzler pflegt zu dieser Erosion zu bemerken: Die Karawane zieht weiter. Um im Bild zu bleiben - das betone ich hier -: Der Karawanenführer merkt also offensichtlich nicht, daß sich die ersten Kamele bereits absetzen, und er merkt vor allen Dingen nicht, daß die Karawane die Orientierung verloren hat und sich nur noch im Kreise dreht. ({3}) Der Stellungnahme des Bundesrates zu Ihrem Gesetzentwurf kann ich nur zustimmen - die Stellungnahme hat den Nagel auf den Kopf getroffen: Mit dem Gesetzentwurf wird auch die soziale Wohnungspolitik wirtschaftsliberalen Prinzipien und kurzatmigen Spardiktaten unterworfen ... Die Folge davon ist - das möchte ich hier mit allem Ernst sagen - eine Verstärkung der sozialen Schieflage in unserem Land. Es gibt nicht nur eine soziale Schieflage in bezug auf das Einkommen und das Vermögen, sondern auch in bezug auf die Wohnraumversorgung. Mein Fraktionskollege Zöpel hat für mich vor kurzem in einer Rede sehr klar ausgedrückt, was das heißt. Er sagte: Es gibt in Deutschland keine generelle Wohnungsnot, aber es gibt Not mitten im Luxus. 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung haben kein Problem mit ihrer Wohnung, zumindest keines, das sie wirklich trifft. Aber 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung leben so, wie keiner von den restlichen 80 Prozent, wie keiner von uns wohnen möchte. Das ist ein Skandal. Noch schlimmer ist: Dieser Skandal weitet sich aus. ({4}) In diesem Zusammenhang kommt mir die Diskussion um die Zielgruppe staatlicher Wohnungsförderung doch manchmal - vorsichtig gesagt - recht merkwürdig vor. Die Diskussion kreist darum, ob die Förderung breiten Schichten der Bevölkerung zugute kommen oder ob sie nur die Bedürftigen, diejenigen, die sich nicht selbst mit ausreichendem Wohnraum versorgen können, unterstützen soll. Objektive Tatsache ist: Der Staat unterstützt die breiten Schichten der Bevölkerung. Die oberen 70 bis 80 Prozent erhalten 55 bis 100 Milliarden DM jährlich in Form von Zulagen und vor allem in Form von Steuerverzicht. Und die unteren 20 Prozent? - Hier führen wir endlose Diskussionen um 500 Millionen oder 1 Milliarde DM mehr für den sozialen Wohnungsbau; hier führen wir endlose Diskussionen über die Verbesserung des Wohngeldes. ({5}) Wir teilen die Kritik der Mehrheit des Bundesrates an dieser Einengung der Zielgruppe. Das verstärkt letztlich nur die Bildung von Armutsgettos. Dazu gehört auch die berechtigte Kritik an der Überführung der Sozialmieten in das Vergleichsmietensystem. Dazu ist hier von Achim Großmann das Notwendige gesagt worden. In diesem Zusammenhang lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung zu dem Ziel der sozial gemischten Wohnstrukturen machen. Dazu hat ja die SPD in ihrem Antrag auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Bei Ihnen habe ich aber zunehmend den Verdacht, daß es Ihnen letztlich nur darum geht, Armut räumlich besser zu verteilen, weil Sie - und das könnte ich Ihnen hier sicherlich ausführlich belegen - durch Ihre Politik insgesamt nichts tun, um den Ursachen dieser Bildung von Armutsgettos - nicht nur in den großen Städten, sondern mittlerweile in jeder deutschen Stadt - nun endlich zu Leibe zu rücken. ({6}) Weniger sozialer Ausgleich und größere soziale Schieflage - das entsteht auch durch den Rückgang des preiswerten Wohnungsbestandes. Sie setzen dem Ganzen sozusagen noch eins drauf durch den Ausverkauf bundeseigener Wohnungen - konzeptionslos, lediglich blinder Aktionismus eines hilflosen Finanzministers. Ihr wirtschaftsliberaler Ansatz wird auch bei der Förderung von Genossenschaftsmitgliedern deutlich. Es ist wirklich fast nicht zu fassen, daß Sie wegen ideologischer Scheuklappen bis heute nicht verstanden haben, was genossenschaftliches Eigentum bedeutet. ({7}) Sie wollen die Ausweitung der eigentumsorientierten Förderung analog zum Eigenheimzulagengesetz. Die Folge: Zerschlagung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bestehender Genossenschaften durch den Ausverkauf der besten Wohnungsbestände, Aushöhlung des genossenschaftlichen Gedankens. Im Interesse der Mieterinnen und Mieter und mit dem Ziel eines größeren sozialen Ausgleichs möchte ich auch auf unseren Antrag - der in dieser Debatte nicht untergehen soll - zur Anhebung der Freibeträge bei den Einkommensgrenzen für den Zugang zu Sozialwohnungen hinweisen. Die Änderungen 1994 haben ein sicherlich unbeabsichtigtes Ergebnis gehabt, nämlich die Schlechterstellung von Behinderten, die nicht häuslich pflegebedürftig sind, das heißt nach Auskunft des Reichsbundes: von 75 Prozent der Behinderten. Die Verbesserung ist hier dringend erforderlich, auch eine Anhebung, eine Verbesserung der Freibeträge für die Kinder von Alleinerziehenden. Bisher wurden sie nur für Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren gewährt, wir beantragen die Heraufsetzung der Altersgrenze auf 14 Jahre. Zentraler Kritikpunkt am Gesetzentwurf ist aber das Fehlen der Wohngeldnovelle. In § 4 wird zwar wörtlich festgestellt: „Das Wohngeldgesetz gilt als Teil des Gesetzes", aber ein neues Wohngeldgesetz, x-mal angekündigt - Fehlanzeige. Achim Großmann hat gesagt, was dazu zu sagen ist: eklatanter Wortbruch. ({8}) Wir werden wieder unter zeitlichen Druck geraten, weil das Wohngeld Ost Ende des Jahres 1998 ausläuft. Sie werden sich dann nicht mehr darum kümmern müssen, Herr Minister, aber wir werden wieder in die gleiche Situation geraten wie in der Vergangenheit. Ich will an dieser Stelle einige Anmerkungen zu dem machen, was Herr Töpfer die Strukturreform des Wohngeldes zu nennen beliebt. Ihre Begründung ist, daß ein Ungleichgewicht zwischen pauschaliertem Wohngeld und Tabellenwohngeld besteht, das beseitigt werden muß. In der Tat, wir haben beim pauschalierten Wohngeld einen deutlichen Anstieg, aber das liegt doch nicht an einer Bevorzugung der Sozialhilfebezieher, sondern an der Entwicklung des Sozialhilfebezugs insgesamt. Die Kürzungen treffen auch nicht - so ist die Sozialhilfe nun einmal geregelt - die Sozialhilfebezieher, sondern sie führen einzig und allein zur Mehrbelastung der Kommunen. Was mich hier wirklich stört, ist der versteckte Mißbrauchsvorwurf gegenüber den Kommunen, der immer wieder deutlich wird. Ich kann nur alle Kolleginnen und Kollegen bitten, sich in den eigenen Kommunen einmal zu erkundigen, wie das dort gehandhabt wird. Ich glaube, daß sich damit dieser Mißbrauchsverdacht von selbst erledigt. Die Kommunen haben ein eigenes finanzielles Interesse, auf Obergrenzen bei den Mieten zu achten. Aber wenn wir nun schon wissen, daß wir differenzierte Wohnungsteilmärkte haben, dann werden wir auch sehen, daß es für einzelne Kommunen sehr, sehr schwierig ist, dies einzuhalten. Eines möchte ich Ihnen auch noch zu bedenken geben: Sie übersehen die Dauer des Sozialhilfebezuges. Nach Angaben der Bundesregierung beziehen 50 Prozent der Sozialhilfeempfänger diese Hilfe weniger als zwölf Monate. Wollen Sie die nun ständig ein- und ausziehen lassen? Hier, meine ich, sollten Sie von der Sache her diese Regelung, dieses VorhaWolfgang Spanier ben überprüfen. Das gilt auch für die Grünen. Ich habe mir sagen lassen, daß sie hier in dieser Sache ähnliche Vorstellungen entwickelt haben. Also: Unsere Vorschläge zu einem Gesetzbuch des sozialen Wohnens liegen vor. Es ist von Minister Vesper und von anderen deutlich gemacht worden, daß Ihr Gesetzentwurf keine Chancen hatte. Vielmehr verstärkt sich der Verdacht, daß es mit diesem Gesetzentwurf gar nicht so ernst gemeint gewesen ist. Wir werden nach der Wahl, mit einer neuen Mehrheit, hier ein vernünftiges, sozial gerechtes Gesetzbuch des Wohnens verabschieden. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Hannelore Rönsch.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute abend wollten wir eigentlich das Wohnungsbaureformgesetz beraten. Die Opposition konnte es sich natürlich wieder nicht verkneifen, dem Wohnungsbauminister doch noch einige Unfreundlichkeiten mit auf den Weg zu geben. ({0}) Ich muß sagen, Herr Kollege Großmann, das hat mich etwas enttäuscht; denn ab und an gab es tatsächlich auch im Wohnungsbau mit der Opposition Gemeinsamkeiten. Daß Sie heute nur das angesprochen haben, was Ihnen so in die Reihe paßt - dann auch noch unvollständig -, nehme ich Ihnen übel. ({1}) Sie haben zum Beispiel das Altschuldenhilfe-Gesetz angesprochen. Mit diesem Altschuldenhilfe-Gesetz ist eine mieternahe Privatisierung in den neuen Bundesländern möglich gewesen. Jetzt haben mehr Mieter Wohneigentum. Das Vergleichsmietensystem ermöglichte vergleichbare Mieten in Gesamtdeutschland. Warum haben Sie das kosten- und flächensparende Bauen nicht erwähnt? - Ich hätte erwartet, Sie sprechen über diese Initiative des Ministers, die in Deutschland sehr erfolgreich umgesetzt wird. ({2}) Haben Sie darüber geredet, daß im Zusammenhang mit CO2 durch die Förderung über die Kreditanstalt für Wiederaufbau in den neuen Bundesländern 70 Milliarden DM investiert worden sind - ich denke, eine beachtliche Leistung -, ({3}) was bei einer Abschiedsrede Erwähnung hätte finden müssen? Ganz verräterisch ist für mich, daß Sie das Eigenheimzulagengesetz mit keinem Wort erwähnt haben. ({4}) Es paßt wohl nicht in Ihre Denkweise, daß in der Bundesrepublik Deutschland mehr und mehr Mieter Eigentum erwerben und die Eigentumsquote in den alten Bundesländern und in den neuen Bundesländern ganz erfreulich steigt. ({5}) Ich will Ihnen die Zahlen noch einmal nennen: Die Zahl der Baugenehmigungen für den Eigenheimbau ist 1996 um 10,5 Prozent und 1997 - allerdings erst bis zum Monat August - um 9,3 Prozent gestiegen. Ich denke schon, daß das einer Erwähnung wert gewesen wäre, und ich hätte mich gefreut, wenn die Opposition hier nicht nur Unfreundlichkeiten gesagt hätte. Sie haben bei den Haushaltsberatungen noch Gelegenheit, das eine oder andere Positive zu sagen. Was heute abend von den beiden SPD-Kollegen abgeliefert wurde ({6}) das paßte in das alte Bild „Verunsicherung von Mietern". Es wurden hier Szenarien entwickelt, die mit der Wirklichkeit auf dem Wohnungsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland aber auch nicht ansatzweise etwas zu tun haben. ({7}) Ich denke, daß wir in der Wohnungspolitik auf einem ausgesprochen guten Weg sind. Ich will zwei Beispiele nennen: die Entwicklung der Mietpreise und den Wohnungsneubau, dessen Fortschritt ich eben schon mit Zahlen belegt habe. Bei der Wohnungsbaudebatte im November letzten Jahres sind wieder Worte gefallen wie: Die Mieter müssen in dieser Bundesrepublik Deutschland große Angst haben, daß ihnen von dieser bösen Regierung das Dach über dem Kopf weggenommen wird und daß die Vermieter sie auf die Straße setzen. Sie haben bei der Haushaltsberatung die Chance, den Mietern diese Angst zu nehmen. ({8}) - Die Mieter haben davor keine Angst. Sie haben Angst vor einer Opposition, die nichts anderes tut, als die Leute zu verunsichern und ihnen in ihrem Wohnbedürfnis Sorgen zu bereiten. ({9}) Sie haben horrende Mieterhöhungen vorausgesagt. Wir erleben jetzt, daß der Mietzins bröckelt, und die Mieterverbände, selbst der Deutsche Mieterbund, erwarten auf kurze Sicht keine nennenswerten Mieterhöhungen. - Ich vermisse an dieser Stelle übrigens Hannelore Rönsch ({10}) wieder Frau Fuchs, die bei Mietdebatten nie dabei ist. ({11}) - Aber bei einer Wohnungsbaudebatte, Herr Großmann, könnte sie vielleicht einmal - auch wenn die immer so spät stattfinden - im Bundestag anwesend sein. ({12}) - Vielleicht hätte sie Ihnen mal zuhören können oder hätte zu dem Stellung nehmen können, was der Deutsche Mieterbund heute zu dem Wohnraumgesetz gesagt hat, das der Minister vorgelegt hat. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Angst der Mieter ein Stück abbauen könnten. Ich glaube, wir sind in der Bundesrepublik Deutschland auf einem guten Weg. Gegenüber 1995 hat es einen Mietzinsrückgang um fast 6 Prozent gegeben. ({13}) Bei den Neuvertragsmieten lag der Rückgang sogar bei 7 Prozent. Das sind alles Tatsachen, die Sie zur Kenntnis nehmen könnten, wenn Sie es wollten. ({14}) Aber es paßt Ihnen besser ins Bild, Angst zu erzeugen. Das tun Sie in diesem Politikfeld wie auch in anderen. Die Mieten in den neuen Ländern sind 1994 noch um 10,8 Prozent angestiegen. In diesem Jahr, 1997, wird ein Anstieg von unter 3 Prozent vorhergesagt. Das Mietenüberleitungsgesetz hat damit keineswegs zu dem von der Opposition gefürchteten drastischen Anstieg der Mieten in den neuen Bundesländern geführt. Vielmehr ist eine Beruhigung am Wohnungsmarkt eingetreten. Auch nach Einschätzung des Deutschen Mieterbundes werden zum 1. Januar 1998 keine nennenswerten Mietzinserhöhungen mehr erwartet. Ich denke, daß wir hier gemeinsam feststellen könnten, daß wir in Deutschland einen Mietermarkt haben. ({15}) Warum wehren Sie sich dagegen? Wir haben einen ausgeglichenen Markt. All die Schreckensszenarien, die Sie hier immer vorgetragen haben, sind Gott sei Dank nicht eingetreten. Ich würde mich freuen, wenn Sie das ein Stück anerkennen würden. Viele Mieter können ihre Miete heute in Verhandlungen mit dem Vermieter aushandeln, weil diese Regierung ein großes Wohnungsangebot geschaffen hat. Ich will die einzelnen Zahlen nicht mehr nennen; das hat mein Kollege Hollerith schon getan.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Rönsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Iwersen?

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Rönsch, wie erklären Sie sich eigentlich die hohe Zahl von Obdachlosen in Deutschland? Können Sie auch dazu mal Stellung nehmen?

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerade zu diesem Problem haben wir hier schon einige Debatten gehabt. ({0}) Ursachen von Obdachlosigkeit sind sehr vielfältig. Sie liegen sehr oft im privaten Bereich. Sie kann durch Arbeitslosigkeit, durch Scheidung, durch Alkoholismus, durch Krankheit bedingt sein. Obdachlosigkeit ist sehr oft auch selbst gewählt. Sie können Obdachlosigkeit aber nicht damit begründen, daß es keine Wohnungen auf dem Wohnungsmarkt, daß es nicht genügend Wohnungen im sozialen Wohnungsbau gibt. ({1}) Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal mit der Obdachlosenbehörde in Ihrer Kommune auseinanderzusetzen, ({2}) damit Sie sehen, welche Ursachen Obdachlosigkeit hat. Ursache ist nur selten das fehlende Dach über dem Kopf oder der fehlende Wohnraum. ({3}) Die Ursachen für Obdachlosigkeit gehen viel tiefer und sind vielfältiger. Es sprengt den Rahmen der Debatte am heutigen Abend, darauf weiter einzugehen. Ich glaube aber, Obdachlosigkeit ist es wert, daß man sich ernsthaft damit beschäftigt und sie nicht zur Polemik mißbraucht. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, obwohl bei uns in der Bundesrepublik eine Vielzahl an Wohnungen im sozialen Wohnungsbau zur Verfügung steht, brauchen wir eine Reform im sozialen Wohnungsbau. Das, was der Minister hier vorgelegt hat, regt zur Diskussion an; das gestehe ich ein. Aber ich glaube, man kann darauf sehr wohl aufbauen. Wie ich in der heutigen Ausgabe der „Welt" gelesen habe - Frau Eichstädt-Bohlig hat hier für die Grünen gesprochen -, sehen auch Sie diesen Reformbedarf und sind wohl der Meinung, daß man über die vorgelegte Konzeption des Ministers diskutieren sollte. Ich lade Sie ausdrücklich dazu ein. Das, was die SPD-Fraktion hier heute geboten hat, ist wieder Hannelore Rönsch ({5}) wie in anderen Politikfeldern - Verweigerung pur. So kann man keine Zukunft gestalten. ({6}) Ich bitte ganz einfach darum, daß Sie mitwirken. An der einen oder anderen Stelle sind wir mit Sicherheit gesprächsbereit. Wir haben seit 1990 1 Million Sozialwohnungen gebaut. Ich gestehe durchaus ein, daß wir die Finanzierung zurücknehmen mußten. Aber das hat der Bund doch nicht allein getan. Betrachten Sie doch einmal die Bundesländer. Ich greife mein Bundesland Hessen heraus. Herr Starzacher, der Finanzminister, hat zugegeben, daß es eine relativ entspannte Lage auf dem Wohnungsmarkt gebe und er die Landesmittel für diesen Bereich durchaus zurückfahren könne. ({7}) - Ja, das sagt ein Sozialdemokrat in Hessen, weil er die gegenwärtige Wohnungsmarktsituation sieht, aber auch, weil er seine eigene Kassenlage sieht. Ich wünschte mir schon, daß auch ein Stück Vernunft und nicht nur Polemik bei der Opposition im Bundestag einkehrt. Ich lade Sie herzlich zur Mitwirkung an diesem Reformgesetz ein. Dieses Gesetz ist notwendig, und es ist für Mieter und Vermieter in unserem Lande zwingend erforderlich, daß wir die anstehenden Reformen gemeinsam durchführen. Das, was Sie heute unserem Wohnungsbauminister mit auf seinen Weg gegeben haben, war zuwenig, Herr Großmann. Es ist auch - das sage ich Ihnen - Ihrer nicht würdig. Nutzen Sie die Haushaltsdebatte, um das eine oder andere Positive aus der gemeinsamen Arbeit zu benennen. Wir werden es tun. Wir wünschen unserem Minister alles Gute. Die Haushaltsdebatte wird uns die Gelegenheit geben, seine Arbeit noch einmal umfänglich zu würdigen. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/8802, 13/7918, 13/8961, 13/7710 und 13/7841 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Das Wohnungsbauänderungsgesetz 1997 auf Drucksache 13/7918 soll zusätzlich dem Finanzausschuß überwiesen werden. Das Wohngeldanpassungsgesetz auf Drucksache 13/8961 soll dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Anhebung der Freibetragsregelungen nach dem Wohnungsbauförderungsgesetz 1994. Das ist die Drucksache 13/6453. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3665 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist. Ich gebe das Wort zur Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung für die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses und des Petitionsausschusses dem Abgeordneten Warnick.

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, fasse ich wegen des unmittelbaren Zusammenhangs und aus Zeitgründen die Motive für mein Abstimmungsverhalten hinsichtlich der zwei Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes in einer Begründung zusammen. Das dauert dann nur zwei Minuten, und beinahe hätte ich gesagt: Es tut auch gar nicht weh. Ich stimme für die Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes, weil das Gesetz in seiner jetzigen Form zutiefst ungerecht ist, indem es auf der einen Seite Gruppen von Vermögenden begünstigt, die nach ihrer sozialen Lage nie und nimmer eine finanzielle Unterstützung des Staates benötigen, und auf der anderen Seite mehrere Gruppen von Wenig-Vermögenden ausschließt, die die Hilfe des Staates viel dringender benötigen. Ich stimme für die Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes, weil durch das bestehende Gesetz staatliche Gelder sinnlos verschenkt werden, aber gleichzeitig staatliche Hilfe unter Hinweis auf fehlende Finanzmittel abgelehnt wird. Ich stimme für die Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes, weil diese Veränderungen zwei vom derzeitigen Gesetz benachteiligte Betroffenengruppen gleichstellen würden. Ich stimme für die Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes, weil die Bundesregierung nicht immer und überall die Priorität eigentumsbildender Maßnahmen vor sich hertragen kann, um gleichzeitig ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger, die Wohnungen zwischen dem 28. Juni 1995 und dem 26. Oktober 1995 aus kommunalen Beständen bzw. von Bahn, Post, TLG usw. erworben haben, nicht genauso zu stellen wie Käufer, die im gleichen Zeitraum eine zwangsverkaufte Wohnung nach AHG erworben haben. Ich stimme für die Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes, weil ich dafür eintrete, daß wenigstens der Teil der Millionen vom verheerenden Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" betroffenen Ostdeutschen, die unter das SachenrechtsbereiKlaus-Jürgen Warnick nigungsgesetz fallen, nicht auch noch zusätzlich dadurch bestraft wird, daß er beim erzwungenen Hinzukauf des Grundstücks meist keine Eigenheimzulage erhält. Ich stimme für die Ergänzungen des Eigenheimzulagengesetzes, weil ich dafür eintrete, daß diese Ungerechtigkeiten endlich beseitigt werden. In der Abstimmungshaltung wird auch deutlich, welchen Erwerbern der ausgeprägte Eigentumsfetischismus wirklich dienen soll und ob es tatsächlich erwünscht ist, daß auch Ostdeutsche, die wegen unverschuldeter Sonderbedingungen bei der Förderung benachteiligt sind, zukünftig gleichberechtigt behandelt werden. Ich werde deshalb den Ergänzungen zustimmen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Damit kommen wir zu den Abstimmungen. Wir kommen zunächst zur Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Ergänzung des Eigenheimzulagengesetzes, Drucksache 13/6563. Der Finanzausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4835 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung im übrigen angenommen worden ist. ({0}) - Ich habe die Handzeichen nicht gesehen, aber wenn Sie mir das sagen, berichtige ich das dahin gehend, daß die Fraktion der SPD zugestimmt hat. ({1}) - Meine verehrten Kollegen, das kann alles vorkommen. Das bedecken wir mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, Sammelübersicht 201 auf Drucksache 13/7439. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/8954 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Gruppe der PDS zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Änderungsantrag der Gruppe der PDS mit den Stimmen des gesamten Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist. Jetzt stimmen wir über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ab. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Höfken, Gerald Häfner, Gila Altmann ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 13/8249 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({4}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hermann Bachmaier, Marianne Klappert, Brigitte Adler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksache 13/8597 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({5}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Günter Maleuda, weiteren Abgeordneten und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksache 13/8678 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({6}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich stelle fest, daß alle dazu angemeldeten Reden zu Protokoll gegeben worden sind.*) Ich sehe und höre keine weitere Wortmeldung. Ich nehme an, daß Einverständnis mit der Abgabe der Reden zu Protokoll besteht. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/8249, 13/8597 und 13/8678 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. *) Anlage 5 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" Teilbericht zu dem Thema „Errichtung einer selbständigen Bundesstiftung des öffentlichen Rechts zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" - Drucksache 13/8700 -Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({7}) Rechtsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde befassen wir uns im Deutschen Bundestag mit einer zentralen Frage der Deutschen: Wie gehen wir nach den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts, wie gehen wir nach zwei Diktaturen in Deutschland in diesem Jahrhundert mit dieser Vergangenheit um? Wollen wir die Vergangenheit ruhen lassen, „Gras darüber wachsen lassen", oder stellen wir uns der historischen Wahrheit mit allen Folgefragen zu Schuld, Verantwortung usw.? Ich bekenne mich eindeutig zu der Auffassung, die unser Bundespräsident, Roman Herzog, im März 1996 vor der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" vertreten hat: ... die historische Wahrheit muß uns über allem anderen stehen. Ohne diese Wahrheit gibt es kein realistisches Bild dessen, wozu Menschen fähig sind, keine Bestrafung der wirklich Schuldigen, die stets auch ein Teil Bewährung der Menschenrechtsidee ist, es gibt kein Wissen darum, was es in alle Zukunft zu verhindern gilt. Der Bundespräsident weiter: Wenn die Wahrheit nicht ausgesprochen wird, entsteht Argwohn, und das ist das Schlimmste, was einem Volk, einer Gesellschaft passieren kann, denn Argwohn vergiftet alles, das gesamte öffentliche und das gesamte private Leben. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies bedeutet, daß die Aufklärung über eine Diktatur, im konkreten Fall die Aufarbeitung der SED-Diktatur, nicht allein historischer Selbstzweck ist, sondern vor allem demokratische Daseinsfürsorge. Durch die kritische Beschäftigung mit der SED-Diktatur stabilisieren wir unsere freiheitlich-demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Fundamente. Die Diktaturaufarbeitung in diesem antitotalitären Sinne ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur von staatlichen Einrichtungen getragen werden darf. Es ist deshalb nachdrücklich zu begrüßen, daß es in diesem Bereich zahlreiche private Aufarbeitungsinitiativen, Opferverbände und Einzelpersönlichkeiten gibt, die sich offensiv und kritisch mit der SED-Diktatur auseinandersetzen. Diese gesellschaftliche Verankerung des Aufarbeitungsprozesses muß erhalten bleiben. Was kann einer Demokratie denn auch Besseres widerfahren? Diese gesellschaftliche Verankerung des Aufarbeitungsprozesses ist jedoch aus vielfältigen Gründen längerfristig nicht gesichert. Zum einen fehlt es den Akteuren häufig an Mitteln und Unterstützung; zum anderen gibt es leider ein nicht zu unterschätzendes Kartell der Beschweiger und Beschöniger. Auch ziehen bereits Legenden über den SED-Staat immer weitere Kreise. Da werden die DDR und ihre „sozialen Errungenschaften" gerühmt. Da wird die DDR als „Friedensstaat" bezeichnet, als „Land der Gleichen". All dies läßt sich trefflich widerlegen. Doch von vielen werden diese Legenden geglaubt, nicht nur von überzeugten Anhängern und von Funktionsträgern des ehemaligen Regimes. Der Schriftsteller Lutz Rathenow fragt zu Recht in diesem Zusammenhang: Erzeugt das Verschwinden eines Staates Entzugserscheinungen? Selbst bei denen, die seine Gegner waren? Rathenows Erklärung für dieses Phänomen lautet: Es gibt zwei Reaktionsmuster auf die Auflösung des Staates: trotziges Beharren auf dem guten alten System oder dem schlechten alten Staat, der doch auch sein Gutes hatte. Kann sich, so müssen wir uns fragen, das wiedervereinigte Deutschland, kann sich unsere Demokratie damit abfinden, daß ein Großteil der Bürger unseres Landes solchen Verzerrungen anhängt? Ich glaube, daß sich dies längerfristig zum Krebsschaden für die Demokratie auswachsen kann. Es geht hier schließlich nicht um den ganz normalen Streit unter Demokraten, sondern es geht hier um die Fortsetzung der Systemauseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur nach dem Ende der realsozialistischen Herrschaftssysteme. Es geht um die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Die Demokraten müssen diese geistige Auseinandersetzung suchen. Sie dürfen nicht zulassen, daß die Verdränger historischer Wahrheiten die Oberhand gewinnen. Dabei muß zweifelsohne behutsam vorgegangen werden. Eingefleischte Anhänger des SED-Staates sind in den meisten Fällen sicher nicht zu überzeugen. Doch dem voranschreitenden Erinnerungsverlust vieler Bürger und dem häufig unzureichenden historischen Urteilsvermögen kann und muß begegnet werden. Der Diktaturcharakter der fortgeschrittenen Zwangsherrschaft namens DDR ist vielen Menschen in unserem Land heute schwer verständlich. Die häufig lautlose Verfolgung in der Spätphase des SED-Staates wurde von vielen nicht wahrgenommen. Der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden, Professor Henke, formulierte bei einer Anhörung der Enquete-Kommission am vergangenen Montag in Berlin: Der leise Terror ist schwerer faßbar; er wirkte diffuser in die unterworfene Gesellschaft hinein; er ist didaktisch nicht einfach und überhaupt nur als ein hochintegrierter Verfolgungs- und Disziplinierungsmechanismus darstellbar. Wer diese Tatsachen vor Augen hat, dem ist erklärbar, warum der Diktaturcharakter des SED-Staates vielen nicht sofort einsichtig ist. Diese Tatsachen belegen aber auch, warum unter die Aufarbeitung der SED-Dikatur kein Schlußstrich gezogen werden darf. Bereits der Einsetzungsbeschluß gab unserer Enquete-Kommission daher auf, zu prüfen, ob für die Weiterführung des Prozesses der Aufarbeitung der SED-Diktatur auch zusätzliche institutionelle Mittel, zum Beispiel im Rahmen einer Stiftung, zu schaffen sind. Die Enquete-Kommission hat diesen Prüfauftrag erledigt und empfiehlt in dem heute dem Deutschen Bundestag vorgelegten Zwischenbericht die Errichtung einer selbständigen Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Sitz dieser Stiftung soll Berlin sein. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt diese Empfehlung und setzt sich für eine baldige Errichtung der Stiftung ein, was jetzt eine zügige Beratung in den zuständigen Ausschüssen und eine baldige Verabschiedung eines Gesetzes zur Errichtung dieser Stiftung erfordert.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Koschyk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kronberg?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Heinz Jürgen Kronberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001224, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Koschyk, Sie nannten eben den zukünftigen Sitz der Stiftung. Eine Frage: Ist in den Diskussionen der Kommission von Kollegen je der Ort Weimar ins Auge gefaßt worden?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben in der Enquete-Kommission von Anfang an für Berlin als Sitz dieser Stiftung plädiert und drücken das auch in dem heute dem Bundestag vorliegenden Zwischenbericht aus. Mit dieser Empfehlung hat die Enquete-Kommission bewiesen, wie ernst sie ihren Auftrag nimmt. Die Kommission hat den Auftrag, Beiträge zur politisch-historischen Analyse und zu einer politisch-moralischen Bewertung der SED-Diktatur zu leisten. Sie soll zur Festigung des demokratischen Selbstbewußtseins, des freiheitlichen Rechtsempfindens und des antitotalitären Konsenses in Deutschland beitragen. Allen Tendenzen zur Verharmlosung und Rechtfertigung von Diktaturen, speziell der SED-Diktatur, soll entgegengetreten werden. Als ein ebenso geeignetes wie notwendiges Instrument, damit die Aufarbeitung der SED-Diktatur auch in Zukunft unter diesen Maximen betrieben wird, erscheint der Enquete-Kommission die vorgeschlagene Stiftung. Mit ihr - das will ich deutlich sagen - soll beileibe kein „Zentralinstitut" entstehen, wie einige Kritiker in Unkenntnis unseres Zwischenberichtes in der Öffentlichkeit vermuten. ({0}) Geplant ist, daß die Stiftung ihre Arbeit bereits im Jahr 1998 aufnimmt. In einer Anlaufphase wird die Stiftung erste vordringliche Aufgaben zu erledigen haben. Dazu gehören vor allem die Förderung von Projekten von Aufarbeitungsinitiativen und Opfergruppen sowie eine Bestandssicherung der vom physischen Zerfall bedrohten Archive dieser Gruppen. Es ist nämlich für die weitere Forschung über die SED-Diktatur wichtig, daß nicht nur die Dokumente des Systems und der Täter überliefert werden. Die Arbeit der Opfergruppen und Aufarbeitungsinitiativen in unserem Land hat eine gesamtstaatliche Bedeutung. Deshalb darf sich der Bund hier seiner Verpflichtung nicht entziehen. ({1}) Deshalb muß die zu errichtende Stiftung durch Mittel aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Wir sind den Kollegen im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages dankbar, daß sie im Einzelplan 06 des Bundeshaushaltes 1998 die Voraussetzungen für die Etatisierung dieser Stiftung im nächsten Jahr bereits geschaffen haben. ({2}) Es muß jedoch - darauf legen wir großen Wert - in dem Gesetz zur Errichtung der Stiftung die Voraussetzung dafür geschaffen werden, daß noch zu vereinnahmende, nicht restitutionsbelastete Teile des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR der Stiftung zugeführt werden können. Die Chancen stehen nicht ungünstig, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß zum Beispiel die rund 500 Millionen DM der Firma Novum, die an die Kommunistische Partei Österreichs verschoben worden sind, für den Bund zurückgeholt werden können. Dieser Betrag ist noch nicht durch die Unabhängige Kommission Parteivermögen und durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben verplant. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur mit ihren vielfältigen Aspekten auf der Basis eines antitotalitären Konsenses ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die innere Einigung unseres Landes gelingt. Deshalb plädieren wir dafür, daß der Deutsche Bundestag diesen Zwischenbericht der Enquete-Kommission heute annimmt, ihn an zuständige Ausschüsse unseres Hauses verweist und daß wir alsbald in diesem Haus ein Gesetz zur Errichtung dieser Stiftung verabschieden. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Markus Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was lange währt, wird manchmal gut. In diesem Falle bin ich davon überzeugt, daß es gut geworden ist. Ich bin sehr froh, daß wir diesen Zwischenbericht der Enquete-Kommission zur Gestaltung und zum Aufbau dieser von uns vorgeschlagenen Stiftung hier gemeinsam und im Konsens verabschieden können und wirklich wollen. Schon am Ende der ersten Legislaturperiode war dieser Vorschlag aufgeschrieben und gemacht. Wir als Sozialdemokraten hatten einige Vorstellungen dazu eingebracht. Auch andere Überlegungen der Gesellschaft sind in diese Fragen eingeschlossen. Wir wissen, daß es eine ganze Reihe von Menschen gibt, die längerfristig an diesem Projekt gearbeitet haben und es dringend wünschen. Das Gesetz wird von vielen Menschen dringend gewollt und gebraucht aus den Gründen, die Herr Koschyk schon nannte und auf die ich gleich noch einmal zurückkomme. Aufarbeitungsfragen sind keine Fragen von Mehrheiten einer Gesellschaft. ({0}) Wir haben diese Erfahrung in Deutschland nach 1945 gemacht und gemerkt, daß es eigentlich erst die nächste Generation war, die es geschafft hat, daß diese Fragen wirklich die gesamte Gesellschaft durchdringen und dann auch identitätsbildend geworden sind. ({1}) Obwohl es Minderheiten sind, haben sie eine wichtige Aufgabe für die ganze Gesellschaft und sind wichtig für das Selbstverständnis unserer inzwischen wieder geeinten Nation und für die politische und demokratische Kultur im geeinten Deutschland. Ich glaube, daß das für diese Minderheiten in der Gesellschaft wichtig ist. Das sind die genannten Aufarbeitungsinitiativen. Es gibt übrigens weit mehr als 60 im Osten Deutschlands. Nur wenige sind öffentlich bekannt, aber sie leisten eine wichtige Arbeit. Darüber hinaus gibt es in manchen anderen - auch älteren - Verbänden des Westens, in Akademien und Bildungseinrichtungen Leute, die mit Recht - das ist wichtig - diese Fragen immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Wir haben uns in Deutschland mit zwei Diktaturen auseinanderzusetzen. Wir müssen dies differenziert tun, ohne Gleichsetzungen, indem wir einfach die eine mit der anderen auf die gleiche Stufe stellen, aber doch so, daß wir Kontinuitäten nicht verleugnen und gemeinsame Erfahrungen der Betroffenen in diesen beiden Diktaturen zur Sprache bringen. Wir haben in Deutschland immer noch zwei Gesellschaften. Wir sind eine Nation. Auch in Zeiten des Geteiltseins waren wir dies. Es galt, dieses Bewußtsein in den Menschen wachzuhalten. Wir leben aber heute trotz der staatlichen Einheit immer noch in zwei Gesellschaften. Wir sind das Volk in Europa, das sich selbst am wenigsten kennt, weil bis heute viel zu wenige Begegnungen zwischen beiden Gesellschaften - auch nach der deutschen Einheit - stattfinden. Dies macht deutlich: Aufarbeitung ist nicht nur eine Sache der ostdeutschen Länder oder der ehemaligen DDR-Bürger, sondern sie ist eine gesamtdeutsche Aufgabe, denn im Osten hatte jeder nur seine eigenen Erfahrungen gemacht. Es gehörte zum System dieser Diktatur, daß sie keine Öffentlichkeit hatte und es keinen Diskurs gab, der es in einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht, auch Perspektiven anderer wahrzunehmen und dadurch möglichst die Gesamtheit - natürlich differenziert und mit unterschiedlicher Perspektive - in den Blick zu nehmen. Die DDR wurde von denen, die sie erlebt haben, aus sehr unterschiedlicher Perspektive wahrgenommen. Oft ist der Streit, der heute auch unter ehemaligen DDR-Bürgern über die Bewertung dieser Erfahrungen ausgetragen wird, ein Ergebnis solcher verschiedener Perspektiven, weißer Flecken, Fehlwahrnehmungen und der Ausschnitte, die man selber erlebt hat. Auch ich selber, der ich mich für jemanden halte, der sich schon früher bemüht hat, möglichst nicht nur in die eine eigene Ecke zu sehen, habe durch die Arbeit dieser Enquete-Kommission und die Beschäftigung mit diesen Fragen manch Neues über die DDR gelernt. Diese Einsicht brauchen wir im Osten, obwohl es viele heute vielleicht nicht so sehen. Wir brauchen sie auch im Westen, weil auch hier die Perspektive natürlich auf die DDR eingeengt und oft nur flüchtig war, so daß man heute verwundert auf die Ostdeutschen blickt und vieles nicht versteht. Ich glaube, daß es ganz wichtig ist, zwischen dem Blick auf dieses System, das - ich sage es deutlich - ein Unrechtssystem, eine Diktatur war, und dem eigenen gelebten Leben in dieser Diktatur zu unterscheiden. Es gibt Leute, die daran interessiert sind, diese beiden Blickwinkel zu vermischen. Wenn gesagt wird, die DDR sei ein Unrechtsregime gewesen, sagen sie: Ich habe in der DDR doch nicht lauter Unrecht getan. Aber das ist auch nicht gemeint. Wichtig ist, daß ich lerne, das eigene gelebte Leben in den Horizont dieser Erfahrungen zu stellen. In unserer Vätergeneration war man auch nicht davon überzeugt, daß der Krieg gut war, und hat trotzdem wichtige Erfahrungen in diesen Randsituationen des Krieges von Kameradschaft und Freundschaft gemacht, die das Leben lange geprägt haben. Diese Unterscheidung ist wichtig. Daß ein sinnvolles Leben in der Diktatur möglich war, ist unbestreitbar. Gleichzeitig muß aber die Bewertung dieses Systems klar und deutlich sein. ({2}) Die Stiftung, die wir gemeinsam errichten wollen, soll nun - das ist gesagt worden - kein Zentralinstitut etwa für politische Bildung oder die wissenschaftliche Forschung sein, das anderen Forschern die Mittel wegnimmt. Es soll nicht alles in eigener Regie machen, keine eigene Akademie und kein Forschungsinstitut sein, sondern die verschiedenen Träger in der Gesellschaft, Verbände, einzelne Menschen und Bevölkerungsgruppen in der konkreten Region oder solche, die bundesweit tätig sind, dazu anregen und dabei unterstützen, sich dezentral und pluralistisch mit diesem Thema zu befassen und so einen Beitrag zum Zusammenwachsen von uns Deutschen und damit einen Beitrag für die Zukunft zu leisten. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist dringlich, weil sehr viele Gruppen - es sind, wie ich schon sagte, mehr als 60 - vor dem finanziellen Aus stehen. Deshalb ist es sehr wichtig, daß wir sie nicht sozusagen zusammenbrechen lassen, um dann in zwei Jahren zu sagen: Jetzt könnt ihr eure Gruppe wiederaufbauen. Wir müssen vielmehr Kontinuität schaffen und helfen, die wichtigsten Projekte mit voranzutreiben. Wir haben damals zu DDR-Zeiten mit Hilfe von Spiritusabzugsmaschinen Durchschläge geschrieben, die heute kaum noch lesbar sind. Es ist ganz wichtig, daß dieses Material der Täter in bezug auf Demokratie, Widerstand und Opposition erhalten bleibt, nicht nur das Material von denen, die sie beobachtet haben. Wir brauchen für die Zukunft das Belegen der demokratischen Tradition durch eigene Zeugnisse. ({3}) Natürlich wird es nötig sein, zu helfen, daß die politische Bildung weitergeht. Wir merken schon jetzt an manchen Orten, daß das Interesse daran nachläßt. Ich bin aber sicher, daß sowohl für Wissenschaft und Forschung als auch für die politische Bildung das Interesse in den nächsten Jahren wieder steigen wird, vielleicht nicht morgen, aber ganz sicher übermorgen und noch sicherer in der nächsten Generation. Nach einer Diktatur haben wir es immer mit Opfern zu tun. Ich sage deutlich: Wir sind mit den Opfern nicht immer gut umgegangen, weder nach der Zeit des Nationalsozialismus noch nach der stalinistischen Zeit der DDR-Diktatur. Ich sage hier noch einmal, daß ich nicht mit dem zufrieden bin, was der Deutsche Bundestag in bezug auf die Opfer in den Unrechtsbereinigungsgesetzen geregelt hat. ({4}) Opfer brauchen Begleitung. Diese soll durch die Stiftung stärker gewährleistet sein. Ich freue mich, daß wir dies im Konsens machen konnten. Es ist wichtig, daß das nicht die Sache einer Partei ist und daß sich nicht irgendeiner das Verdienst als besonderer Förderer der Aufarbeitung sozusagen ans Jackett heftet. Es ist vielmehr ganz wichtig, daß dies gemeinsam möglich war. Ich möchte noch einmal meiner Hoffnung Ausdruck geben, daß dieser faire Geist, dies miteinander zu erarbeiten, auch dann anhält, wenn es jetzt - hoffentlich sehr schnell - um den Gesetzentwurf und darum geht, die Strukturen zu schaffen. Ich hoffe ferner, daß wir in der Zukunft die gleiche gute Erfahrung machen wie im Gespräch mit den Haushältern aller Fraktionen, die den Weg frei gemacht haben, daß möglichst bald im nächsten Jahr die Arbeit beginnen kann. Ich hoffe, daß das, was wir jetzt der interessierten Öffentlichkeit sagen, keine Luftblase ist. Gewiß, die öffentlichen Kassen werden mit vielen wichtigen Ausgaben belastet. Aber ich glaube, daß die Fragen der Aufarbeitung zentrale Zukunftsfragen sind. Ein wichtiger Anfang ist gemacht. Ich hoffe, daß wir auch die weiteren Schritte gemeinsam so gehen, daß es ein Dienst an der Gesellschaft und ein Dienst an der Zukunft und an der politischen, demokratischen Kultur unseres Landes ist. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Gerald Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufarbeitung ist immer verbunden mit vielen Fragen an uns wie an die Menschen in Ost und West: Wie war es möglich, daß nach der Diktatur des Dritten Reiches erneut eine Diktatur auf deutschem Boden entstehen konnte? Wie war es möglich, daß so viele Menschen zu willfährigen Bütteln und Helfershelfern dieses Systems wurden? Wie hätten wir - diese Frage stelle ich, der aus dem Westen stammt und der sich diese Frage immer wieder gestellt hat - gehandelt? Viele sagen heute, die Aufarbeitung liege doch schon hinter uns. Ich sage: Sie hat erst angefangen; sie liegt vor uns. Aufarbeitung ist nicht irgend etwas. Rückwärtsgewandtes, das man mit einem Schlußstrich beenden kann. Aufarbeitung ist vielmehr wichtig, weil sie Lehren für die Zukunft sichert. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß Menschen in der Zukunft unter Erkenntnis der Ursachen und der Folgen von Diktatur, Terror und Totalitarismus mehr und eher bereit sind, für Demokratie, für Selbstbestimmung und für Freiheit zu kämpfen, und daß sie in der Lage sind zu Wachsamkeit, Engagement und Zivilcourage. Aufarbeitung ist keine Sache von Tagen, auch nicht von wenigen Jahren, sondern Aufarbeitung geht sogar weit über Generationengrenzen hinaus. Unsere Erfahrung mit der Aufarbeitung nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern ist bisher immer wieder die gewesen, daß Menschen, die unmittelbar von dem Übergang in ein neues System betroffen sind, erst einmal damit beschäftigt sind, diesen Übergang zu bewältigen, und daß all die Fragen erst später - oft erst von der nächsten Generation - gestellt werden. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, der Stasiakten, dessen, was an Materialien gesichert ist, beschäftigt sich in sehr großem Maße mit dem Unterdrückungsapparat, mit dem Herrschaftssystem und in viel geringerem Maße mit dem, was auch da war, mit dem Widerstand, mit der Opposition und mit den Ansätzen politischer Organisation von unten, von Widerstand. Das hängt eben auch damit zusammen, daß wir - auch das ist ein Verdienst der Bürgerbewegung gewesen - die Materialien der Staatssicherheit gesichert haben, daß sie von einer großen Bundesbehörde verwaltet werden. Aber was ist mit den Materialien des Widerstands, mit den Materialien der Opposition? - Sie sind bisher so gut wie nicht erfaßt. Sie lagern noch privat bei einzelnen Menschen, irgendwo im Schrank. Dies ist zum Beispiel ein erster Punkt, für den die Stiftung einen ganz wesentlichen Beitrag wird leisten müssen und können. Die Stiftung wird die Mittel zur Verfügung stellen müssen, um dieses Material zu sichern und damit auch den anderen Teil der Geschichte mehr als bisher aufzuhellen, die Geschichte des Widerstands und der Opposition in der DDR. ({0}) Ein zweiter wichtiger Punkt, an dem die Stiftung sehr rasch tätig werden muß, ist die Beratung und Hilfe für die vielen Opfer des Totalitarismus. Der dritte, mir persönlich am wichtigsten erscheinende Punkt ist die Unterstützung der Aufarbeitungsinitiativen, die sich erfreulicherweise überall im Land gebildet haben. Markus Meckel und auch Hartmut Koschyk haben es bereits angesprochen: In diesen Initiativen wirken viele der Menschen, die über lange Zeit die persönliche und moralische Substanz hatten, diesen Prozeß zu tragen. Sie waren und sind eine wichtige Avantgarde für die ganze Gesellschaft. Die bisherigen Fördermittel laufen in den meisten Fällen in Bälde aus. Wenn es nicht gelingt, diese Stiftung bald ins Werk zu setzen, dann werden viele Initiativen bald nicht mehr weiterarbeiten können. Deshalb: Wir wollen diese Stiftung, weil wir der Meinung sind - zum Glück ist das Konsens zwischen allen Fraktionen hier im Haus -, daß Aufarbeitung nicht primär ein Prozeß, in Parlamenten und Gerichten sein kann. Nein! Wir wollen Aufarbeitung vielmehr als einen gesellschaftlichen Prozeß verstanden wissen, als einen politischen Prozeß, der „unten", in der Gesellschaft selbst, durchgeführt wird. Schon aus diesem Grunde wollen wir mit dieser Stiftung gerade nicht einen neuen Apparat, ein neues Institut, einen neuen Wasserkopf schaffen, sondern wir wollen eine äußerst schlanke Stiftung schaffen, die Mittel dafür zur Verfügung stellt, daß diese wertvolle Arbeit durch freie Initiativen geleistet werden kann. Ich finde es immer am schönsten, wenn man Gesetze macht - und dies hier ist ein solches -, die im wesentlichen Entwicklungen ermöglichen und Freiräume schaffen. Das ist weit besser als Gesetze, die nur Dinge verbieten oder beenden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Häfner, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bedanke mich für den Hinweis, Herr Präsident. Diese Stiftung ermöglicht, daß die für das ganze Deutschland so wichtige Arbeit der Aufarbeitung auch in Zukunft von denjenigen Menschen geleistet werden kann, die dafür zuvörderst befähigt sind. Ohne diese Stiftung wird der Prozeß ins Stocken kommen - mit all den schwerwiegenden Folgen, die das für unser ganzes Land hat. Deswegen freue ich mich, daß wir diese Stiftung interfraktionell befürworten. Das letzte, was wir jetzt noch alle gemeinsam schaffen müssen, ist, die Mittel dafür zu bekommen, denn ohne die Mittel wäre alles nichts, und die mühevolle Arbeit von drei Jahren wäre umsonst gewesen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Professor Dr. Rainer Ortleb.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001657, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man dem Parlament anträgt, eine Stiftung zu beschließen, dann muß man sicherlich begründen, daß man sie braucht. Meine drei Vorredner haben das bereits überzeugend und ausreichend getan. Es ist das Schicksal des Redners Nummer 4 nach unserem Reglement, daß er substantiell eigentlich nichts Wesentliches zur Begründung hinzufügen kann. Erlauben Sie mir deshalb, daß ich mich ein wenig nachdenklich über diesen Prozeß äußern will, den wir mit dieser Stiftung am Leben erhalten wollen. Zwei Diktaturen in Deutschland in nicht einmal 60 Jahren - das hat Hartmut Koschyk schon erwähnt - müssen zu denken geben, ob wir die Mittel heutiger präziser Geschichtsbetrachtung schon jetzt immer richtig ausnutzen. Wenn wir Geschichte weit zurückgewandt betrachten, wissen wir, daß wir Tonscherben, Knochen und irgendwelche Aufzeichnungen, die wir kaum entziffern können, als Grundlage haben und daß das, was wir daraus schließen können, eigentlich Spekulation ist. Hier im Falle eines gewichtigen Geschichtsabschnitts in Deutschland haben wir die Chance, uns weit über die Not der Spekulation hinaus in tiefer Sachlichkeit mit den Prozessen zu befassen. Das ist eine völlig andere Situation, als es sie jemals in Jahren zuvor gegeben hat. Diese Chance zu verpassen wäre ein Fehler. Die Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode und diejenige, die jetzt arbeitet, haben versucht, etwas anzustoßen, was wissenschaftlicher Selbstlauf in der Regel nicht leisten kann. Es ist hier eine politische Führung erfolgt. Wir müssen eine Einrichtung schaffen, die das fortsetzt. Der Weg dazu ist eine solche Institution. ({0}) Ich will darauf verweisen, daß wir Geschichte nicht nur in Fundstücken sehen dürfen, sondern auch als Summe individueller Schicksale und ihrer subjektiven Betrachtung. Interessant ist, daß eine der Berichterstattergruppen in unserer Kommission, nämlich die, die sich mit dem Leben in der DDR befaßt, bisher am schlechtesten vorangekommen ist, wenn ich das so offen und deutlich sagen darf. Denn hier wird die Macht des Subjektiven immer wieder von dem Versuch überlagert, das Objektive einzufangen. Wie schwierig der Umgang mit Geschichte ist, die mit Mitteln erforscht werden kann, die es vorher nicht gab, mag ein einfaches Beispiel zeigen: Als Mitte der 20er Jahre der Rundfunk funktionsfähig wurde, war es in der ersten deutschen Diktatur dieses Jahrhunderts der bekannte Demagoge Goebbels, der es verstanden hat, den Rundfunk zu benutzen, um seine ideologische Meinung zu verbreiten. Der Scherz, den Rundfunkempfänger „Goebbels' Schnauze" zu nennen, trifft zutiefst die Problematik dieser Frage. Warum war die zweite Diktatur so anders in dieser Frage? Weil es wenigstens zwei unterschiedliche Rundfunkempfangsmöglichkeiten gab, was die zweite Diktatur ein wenig in Funktionsschwierigkeiten brachte und letztendlich darin mündete, daß ein friedlicher Prozeß zu einem Abstreifen dieser Diktatur bis zur deutschen Einheit führen konnte. All das zu untersuchen und zu analysieren macht es wert, eine solche Einrichtung zu schaffen. Gefeilte Politologie ist das eine. Aber ich habe manches Werk aus den letzten zwei, drei, vier Jahren gelesen, bei dessen Lektüre ich mich fragen mußte: Hat hier jemand versucht, Fakten süffisant wissenschaftlich so zu deuten, wie sie seinem wissenschaftlichen Ziel entsprachen oder entsprechen sollten, oder hat er wirklich beschrieben, was stattgefunden hat? ({1}) Die Chance des Instituts, das wir schaffen wollen, ist es gerade, daß dort sozusagen neben gepflegter fauler Computernutzung noch der Mensch als das eigentliche Subjekt des Prozesses Eingriffsmöglichkeiten hat, solange wir über Zeitzeugen verfügen. All dies zusammen rechtfertigt, daß wir uns dafür einsetzen müssen, ein solches Institut zu schaffen. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Ludwig Elm das Wort.

Dr. Ludwig Elm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002646, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Gruppe der PDS ist der Meinungsbildungsprozeß zum vorliegenden Zwischenbericht der Enquete-Kommission und zur vorgeschlagenen Stiftung noch nicht abgeschlossen. Es zeichnet sich allerdings eine Mehrheit ab, die die Errichtung der vorgeschlagenen Stiftung bejaht. Die noch vorhandenen Vorbehalte weiterer Kollegen gründen sich kaum auf die Ablehnung des Stiftungsprojektes an sich, als vielmehr auf zwiespältige Erfahrungen in der Diskussion über die Geschichte der DDR seit 1990. Wir, wenn ich das für die schon vorhandene deutliche Mehrheit sagen darf, bejahen damit den Anspruch derjenigen, die in der DDR politisch bevormundet, verfolgt und unterdrückt wurden, darauf, rigoros die repressiven Seiten und Momente des Herrschaftssystems der DDR aufzudecken, die überlieferten Quellen und Dokumente der Opposition zu bewahren und förderliche Bedingungen für die Erschließung und Darstellung ihrer systemkritischen, auf Menschen und politische Freiheitsrechte gerichteten Bestrebungen, Aktionsformen und der dabei erfahrenen Willkür, Demütigung und Repression zu schaffen. ({0}) Mehrheitlich aus Traditionen der SED kommend, erinnern wir uns, daß bis zum Herbst 1989 die öffentliche, kritische und wahrheitsgemäße Erörterung der Opposition, des Widerstands, der Unterdrückung und der angestrebten Alternativen nicht möglich war. Es ist recht und billig, dies nunmehr und künftig nachzuholen und leisten zu wollen und dafür gesellschaftliche wie staatliche Unterstützung zu beanspruchen. ({1}) Unsere Zustimmung bezieht sich nicht auf alle Feststellungen, Wertungen und Vorgaben in den analytischen und konzeptionellen Passagen des Zwischenberichts. Wir lehnen beispielsweise die Vorwegnahme der Ergebnisse und Urteile künftiger Forschungen zur Geschichte und Gesellschaft der DDR ab. Wir können diese Vorlage auch nicht isoliert von den Erfahrungen mit Vorurteilen, Einseitigkeiten und unzulässigen Pauschalisierungen in den Geschichtsdiskussionen der letzten Jahre in diesem Land betrachten. Niemand übersieht zum Beispiel, daß Erschütterungen und Umbrüche in dieser Dimension stets auch von Ressentiments, Nostalgien und Legendenbildungen begleitet sind. Andererseits erleben wir auch, daß diese Schlagworte nicht selten klischeehaft gegen den individuellen Anspruch von Millionen auf den ganz persönlichen Umgang mit ihrer Lebensgeschichte oder gegen die differenzierte Betrachtung und Bewertung von Geschichte überhaupt gewandt werden. Ich war beeindruckt, daß ich aus den Ausführungen des Genossen Meckel ({2}) - pardon -, des Kollegen Markus Meckel - heraushören konnte, daß er ebenfalls das Verständnis für die Probleme, denen sich viele der Betroffenen gegenübersehen, problematisiert hat. Es ist auch anzumerken, daß nicht jede Gegnerschaft zur DDR seit ihrer Gründung uneingeschränkt der „europäischen Freiheitsgeschichte" zugerechnet werden kann. Allzu verhalten ist weiterhin im öffentlichen Geschichtsdiskurs der kritische Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Ludwig Elm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002646, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Diese und weitere in der politischen und der Geschichtsdiskussion anstehenden Streitfragen sind Herausforderungen für die Zukunft und als solche auch Erwartungen an die Wirksamkeit der zukünfitgen Stiftung. Sie schränken aber die einleitend genannte zustimmende Position insgesamt nicht ein. Danke schön. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/8700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Gruppe der PDS, Keine Verlängerung der Verjährungsfristen, auf Drucksache 13/9041 zu erweitern. Der Antrag soll jetzt gleich zusammen mit den Zusatzpunkten 7 und 8 beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann rufe ich die Zusatzpunkte 7 und 8 sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 10 auf: ZP7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsvorschriften ({0}) - Drucksache 13/8962 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Wirtschaftskriminalität in Deutschland insgesamt wirkungsvoll bekämpfen - Drucksache 13/8970 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Keine Verlängerung der Verjährungsfristen - Drucksache 13/9041- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es sind alle Reden der Fraktionen sowie für den Bundesrat die Rede der Ministerin des Landes Thüringen, Frau Lieberknecht, zu Protokoll gegeben worden, so daß noch der Kollege Heuer für die Gruppe der PDS zu Wort kommt.*) Bitte sehr, Herr Kollege Heuer, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß die anderen Kollegen nicht sprechen, könnte vielleicht so gedeutet werden, daß darüber noch einmal nachgedacht wird. Wir sind gegen die nochmalige Verlängerung der Verjährungsfrist. Die Verjährung ist doch nicht irgendeine zur freien Disposition der Politik stehende Spielregel. Sie ist ein Rechtsinstitut, an dem man sich nicht nach Belieben und politischer Opportunität vergreifen darf. Die Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen. Die Störung des Rechtsfriedens durch eine Straftat ist nach Ablauf bestimmter Fristen nicht mehr gegeben. Der Täter ist in einer anderen persönlichen Verfassung. Die Beweislage wird um so schwieriger, je länger die Tat zurückliegt. Deshalb gibt es die Verjährung. Das ist in Rechtswissenschaft und Rechtspflege unbestritten. ({0}) - Meine Damen und Herren, Sie könnten mir vielleicht zuhören. ({1}) Die Redner Ihrer Fraktionen haben auf ihre Redezeit verzichtet. Hören Sie dann aber wenigstens zu! Ansonsten hätten Sie ja reden können. Das Argument, es seien noch nicht alle Straftaten aufgedeckt und man müsse deshalb die Frist verlängern, stellt das Rechtsgut der Verjährung überhaupt in Frage. Die Verjährung ist doch gerade für die Fälle geschaffen worden, wo Straftaten unaufgeklärt geblieben sind. Die Konsequenz des Arguments besteht darin, die Verjährung überhaupt abzuschaffen oder sie immer dann zu verlängern, wenn die Aufklärung, aus welchen Gründen auch immer, nicht richtig funktioniert hat. Daß die Opfer die Verjährung nicht wollen, mag man verstehen. Rechtsstaatlich haltbar ist das jedoch nicht. Ich schließe mich Herrn Eylmann an, der in einem „Spiegel"-Interview zu diesem Aspekt der Sache gesagt hat: Man darf die Strafverfolgung nie in die Hand der Opfer legen. Sie sind notwendigerweise befangen. ({2}) *) Anlage 6 Ich befinde mich mit meinem ablehnenden Standpunkt in guter Gesellschaft mit dem Justizminister und den Rechtsexperten der CDU/CSU-Fraktion. Herr Schmidt-Jortzig, Herr Eylmann und Herr Geis haben sich öffentlich sehr kategorisch gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist ausgesprochen. Andere Kollegen im Rechtsausschuß haben sich mir gegenüber ähnlich geäußert. Meine Herren Kollegen, lassen Sie sich um Gottes und des Rechtsstaates willen von Ihren Fraktionsoberen nicht zu Hampelmännern machen! Behalten Sie Ihren Standpunkt von gestern in dieser Frage auch heute und morgen! Nach meiner Meinung ist der Gesetzentwurf verfassungswidrig. Die abermalige Verlängerung der Verjährungsfrist widerspricht dem aus Art. 20 des Grundgesetzes folgenden Rechtsstaatsprinzip. Eine Körperverletzung, eine Freiheitsberaubung, die im Oktober 1949 begangen wurde und heute der sogenannten Regierungskriminalität zugerechnet wird, verjährt im Oktober des Jahres 2000, also nach 51 Jahren. Das ist doch eine eklatante Verletzung des Übermaßverbotes und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit; es reicht bis in den Bereich der Willkür hinein. Die Verlängerung betrifft aber nicht nur die sogenannte Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Wenn das Gesetz durchgeht, verjährt jegliche Körperverletzung, jegliche Freiheitsberaubung der Jahre 1992 oder 1993 im Westen nach fünf Jahren, im Osten dagegen nach sieben Jahren. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie wollen zweierlei Recht für Ost und West fortschreiben. Der vielbeschworenen inneren Einheit leisten Sie damit keinen guten Dienst.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Heuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Häfner?

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, bitte.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Frage ist ganz kurz: Warum wurde eigentlich die Körperverletzung von 1967, von der Sie eben sagten, daß sie bis zum Jahr 2000 verfolgt werden könne, nicht schon 1968 zur Anklage gebracht? ({0})

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist der Grund, weswegen Sie das Ruhen der Verjährung beschlossen haben. Inzwischen aber sind es weitere sieben Jahre. ({0}) Die Verlängerung der Verjährungsfrist verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", es sei denn, Sie fügen noch einen Satz hinzu: Für ehemalige Bürger der DDR können durch Gesetz und Rechtsprechung Ausnahmen festgelegt werden. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/8962 und 13/8970 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/9041 soll an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es andere Vorschläge? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Damit rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Rita Grießhaber, Marieluise Beck ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse nichtehelicher Lebensgemeinschaften ({2}) - Drucksache 13/7228 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({3}) Finanzausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieben Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor geworden. Dennoch werden die Menschen in einer solchen Gemeinschaft von der Rechtsordnung häufig noch als Fremde behandelt, gleichgültig, wie lange sie schon zusammengelebt haben. Dabei leben in der Bundesrepublik über 3,3 Millionen Frauen und Männer in nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit gemeinsamer Haushaltsführung; Tendenz steigend. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl an Paaren, die sich als Lebensgemeinschaft betrachten, aber nicht zusammen wohnen. Diese Paare werden vom Statistischen Bundesamt gar nicht erst erfaßt, ebensowenig lesbische und schwule Lebensgemeinschaften. Seit vielen Jahren wird über die rechtliche Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften debattiert. Der Deutsche Juristentag hatte bereits 1988 Volker Beck ({0}) Handlungsbedarf angemahnt. Und was tut die Bundesregierung? ({1}) An Stelle einer längst überfälligen staatlichen Anerkennung verteilt sie lieber Broschüren, worin sie die Menschen vor den rechtlichen Risiken und den Schrecknissen des nichtehelichen Daseins warnt. Diese Bundesregierung lebt familienpolitisch offensichtlich noch im Biedermeier. ({2}) Immerhin: Mit der nun beschlossenen Reform des Kindschaftsrechts wird die nichteheliche Familie erstmals im Sorgerecht anerkannt. Allerdings mit dem absurden Effekt: Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Kind und den beiden nichtehelichen Elternteilen sind damit zwar geregelt, aber die beiden Eltern stehen in keinerlei Angehörigenverhältnis zueinander. Das ist einfach widersinnig. Die Rechts- und Familienpolitik muß endlich den veränderten Lebensverhältnissen Rechnung tragen. Die konkrete Ausgestaltung eines Rechts der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ist freilich ein prekäres Thema. Auch viele Reformbefürworter in Rechtswissenschaft und Publizistik haben bislang wohlweislich vermieden, sich konkret auf eine bestimmte Definition oder ein bestimmtes Tableau von Rechten und Pflichten festzulegen. Das sind sehr schwierige Abwägungsfragen. Damit die Sache aber endlich vorangeht, wagen Bündnis 90/Die Grünen heute den Sprung ins kalte Wasser. Unser Gesetzentwurf versteht sich als offenes Diskussionsangebot an alle, die ernsthaft an einer Reform Interesse haben. Zu unserem Entwurf im einzelnen: Wir wollen im Familienrecht ein neues Rechtsinstitut der nichtehelichen Lebensgemeinschaft einführen. Lebenspartner erhalten damit umfassend die Rechtsstellung von Familienangehörigen. Das hat insbesondere Auswirkungen im Mietrecht, im Recht des sozialen Wohnungsbaus, beim Zeugnisverweigerungsrecht, bei den Regelungen zur Studienplatzvergabe, beim Auskunftsrecht, bei Unfällen, im Arbeitsförderungsgesetz, im Erbrecht und bei der Erbschaftsteuer sowie im Kindschaftsrecht. Unsere Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft orientiert sich an der Rechtsprechung und knüpft an tatsächliche Gegebenheiten an: angelegt sein auf Dauer, innere Bindung, gegenseitiges Einstehen füreinander. Es ist keine obligatorische amtliche Registrierung vorgesehen, da dies dem Wesen der nichtehelichen Lebensgemeinschaft als frei eingegangenem Zusammenleben widerspräche. Wir wollen lediglich fakultativ eine notarielle Beurkundung anbieten. Wir wollen also keine Zwangsverrechtlichung. Der Gesetzentwurf sieht im Grundsatz von einer Regelung der Innenverhältnisse in der Partnerschaft ab. Wenn ein Partner nicht heiraten will, dann meist deshalb, weil die Leute kein vorgestanztes Normgefüge von Rechten und Pflichten für ihre Beziehung wollen. Diesen Willen muß der Gesetzgeber respektieren. Er soll auf Zwangsbeglückungen klipp und klar verzichten. So soll beispielsweise im Regelfall kein Unterhaltsanspruch bestehen. Es bleibt den Partnerinnen und Partnern selbst überlassen, Unterhaltsansprüche vertraglich zu vereinbaren. Freilich müssen wir aber auch hier den Schutz des Schwächeren im Auge haben. In engen Grenzen wollen wir Ausnahmen vom Grundsatz des Nichteingreifens ermöglichen, zum Beispiel, wenn es grob unbillig wäre, Unterhalt zu versagen, oder aber für den Fall, daß es innerhalb der Beziehung zu Gewalttätigkeiten kommt. Hier wollen wir das bislang nur für Ehegatten geltende Wohnungszuweisungsverfahren auch auf nichteheliche Partnerschaften ausdehnen. Das Rechtsinstitut der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zielt vor allem auf heterosexuelle Paare. Es soll aber auch Schwulen und Lesben offenstehen. Anders als heterosexuelle Paare haben homosexuelle Paare bislang nicht die Wahl zwischen ehelicher und nichtehelicher Lebensgemeinschaft. Wir wollen, daß homosexuelle Paare die gleiche Wahlfreiheit erhalten wie heterosexuelle. Das Eheverbot für Schwule und Lesben muß weg. Dazu haben wir im Bundestag bereits eine Initiative zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eingebracht. Unser heutiger Gesetzentwurf ersetzt keineswegs die Forderung nach dem Eheschließungsrecht; er ergänzt diese Forderung vielmehr für die homosexuellen Paare, die auch nach Durchsetzung der Ehefreiheit lieber nichtehelich bleiben möchten. Er ist ein Beitrag zu mehr Wahlfreiheit und Liberalität. Nichteheliche heterosexuelle Lebensgemeinschaften haben sich dauerhaft oder für eine bestimmte Lebensphase gegen die Ehe entschieden. Sie gehen damit weniger rechtliche Verpflichtungen ein als Eheleute. Daher sind bestimmte Rechtsfolgen der Ehe auch nicht auf sie anwendbar. Wir streben also keine platte Gleichschaltung mit Ehepaaren an; wir wollen aber, daß für nichteheliche Lebensgemeinschaften das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten ausgewogen und stimmig wird. Es muß endlich Schluß damit sein, daß der Staat diese Solidargemeinschaften nur dann zur Kenntnis nimmt, wenn er sie finanziell schröpfen kann. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Beck, Ihr Gesetzentwurf, den wir hier in erster Lesung beraten, hat aus unserer Sicht zwei Mängel, einen handwerklichen und einen inhaltlichen. Der handwerkliche Mangel besteht darin, daß der Gesetzentwurf, der maßgeblich an den zentralen Begriff der nichtehelichen Lebensgemeinschaft anknüpft, diesen Begriff nicht ausreichend präzise und nicht ausreichend nachprüfbar definiert. Nach dem Entwurf ist eine nichteheliche Lebensgemeinschaft im Sinne des Gesetzes eine Lebensgemeinschaft, die „sich durch innere Bindungen auszeichnet", die „ein gegenseitiges Einstehen" begründet, und „über die Beziehungen in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft" hinausgeht. Man fragt sich: In welcher Hinsicht soll sie darüber hinausgehen? Man fragt sich: Wann begründet eine Gemeinschaft das gegenseitige Einstehen füreinander, wenn einer der maßgeblichen Punkte Ihres Gesetzes doch darin besteht, das Auslösen einer Unterhaltspflicht gerade zu unterbinden? Was heißt, eine Gemeinschaft ist durch innere Bindungen ausgezeichnet? Innere Bindungen gibt es viele. Jeder weiß: Sie kommen und gehen, und sie können sich auch inhaltlich verändern, ohne daß das nach außen dokumentiert würde. Wie kann man wichtige Rechtsfolgen, zum Beispiel im Erbrecht und im Familienrecht, an Kriterien festmachen, deren Vorliegen kaum feststellbar - das heißt: kaum nachprüfbar - ist? Einem derartigen Gesetzentwurf fehlt aus diesem Grund die Handhabbarkeit. Das Hauptdefizit jedoch ist ein inhaltliches. ({0}) - Ich weiß ja, Frau Kollegin, daß Sie da anderer Ansicht sind. Sie kommen immer in eigener Sache hierher. Dann würde ich mich ein bißchen mehr zurückhalten; das will ich Ihnen ganz offen sagen. ({1}) - Es ist für mich nicht unbedingt ausgemacht, daß man in eigener Sache hierherkommt. Das will ich für meine Person zurückweisen. Ich würde in einer eigenen Angelegenheit hier kaum sprechen; das will ich Ihnen auch sagen. Das Hauptdefizit des Gesetzentwurfs sehe ich darin, daß seine Botschaft verkürzt lautet: Man möchte die mit einer Eheschließung verbundenen Rechte genießen, von den Pflichten aber, bitte sehr, verschont bleiben. Man will die verfassungsmäßigen Privilegien der - ungeliebten - Ehe beseitigen, indem man anderen Instituten die gleichen Privilegien gewährt. Man will eine sogenannte Lebensgemeinschaft eingehen, aber sich jederzeit daraus lösen können. Im Todesfall will man erben wie ein Ehegatte, im Notfall aber nicht Unterhalt leisten wie ein Ehegatte. Man will den Kuchen essen und behalten. Es ist die alte Melodie der Opposition: Deutscher werden, aber gleichzeitig Ausländer bleiben; Tips veröffentlichen, wie man das soziale Netz total nutzen kann, aber die hohen Lohnnebenkosten beklagen; Steuerabsetzungsmöglichkeiten dezimieren, aber die Steuerquote insgesamt nicht senken; einen Rentenbeitrag von 21 Prozent bejammern, aber die Rentensteigerungen der Zukunft nicht senken wollen. Von allem nur die Schokoladenseite. ({2}) - Das gehört zusammen; es gehört zum Thema. Das ist ja gerade das Problem. Für mich ist das genau die gleiche Position. Sie haben in der Bundesrepublik die freie Wahl: Sie können eine Ehe eingehen oder ein freies Zusammenleben wählen. Niemand zwingt Sie. Aber was Sie nicht können, ist, sich aus allem nur die Rosinen rauspicken. Ich lese in Ihrer Begründung, die nichteheliche Lebensgemeinschaft sei ein frei eingegangenes Zusammenleben. Das ist nicht der Punkt. Auch die Ehe ist in Deutschland in der Regel ein frei eingegangenes Zusammenleben. Entscheidend dürfte aber in Ihren Augen nicht das freie Eingehen, sondern das freie - sprich: folgenlose - Herauskommen sein. Meine Damen und Herren, hier liegt ein problematischer Gesetzentwurf vor, der en passant das Problem der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft Huckepack nimmt und dieser nebenbei die Weihen einer quasi ehelichen Einrichtung zuordnet. Ich will die Verhandlungen im Rechtsausschuß nicht vorwegnehmen, auch nicht abwürgen, aber mir schwant, daß wir in der Sache ziemlich weit auseinander sind. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Margot von Renesse.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Beck, das Gute vorweg - wir wollen uns ja nicht immer nur ärgern -: Es ist ein richtiges Problem, das Sie angesprochen haben. ({0}) - Es ist nicht nur ein schönes, es ist ein unwahrscheinlich breites. Die Rechtsprechung zu den nichtehelichen Lebensgemeinschaften und ihren Rechtsfolgen ist inzwischen stapelweise angewachsen. Ich habe das einmal gesammelt: ich habe es mir vom Wissenschaftlichen Dienst einmal geben lassen. Das füllt inzwischen Bände. Die Scheidung nach Gesellschaftsrecht ist in den Gerichten jedenfalls nicht unüblich. Gleichzeitig ist das Problem auch ein verfassungsrechtliches; denn wenn wir jede Menge Richterrecht haben, dann stellt sich langsam die Frage, ob der Gesetzgeber bei einer Gewaltenteilung nicht auch einmal ranmüßte. Ich denke, er muß es. In dem Punkt sind wir uns einig. Nur, jetzt kommt das Negative. Ich werde meine zehn Minuten nicht ausfüllen. Die brauche ich gar nicht, denn Sie wissen, was ich an Ihrem Entwurf zu bemängeln habe. Das wissen alle Grünen. Ich habe zu einem anderen Entwurf einmal gesagt: heiße Luft. In diesem Falle bleibe ich bei dem luftigen Vergleich. Ich sage einmal: Es ist ein Luftballon ohne Pelle. Auf diesem Luftballon, der auch noch blau oder grün angestrichen ist, steht: Grüne wählen. Es ist ein Wunschzettel an den Weihnachtsmann. Fällt uns noch was ein, was wir gerne hätten? Das Problem ist: Sie machen die ganze Geschichte im Familienrecht fest. Du liebe Güte, Herr Beck! Das Familienrecht ist das strikteste Verantwortungsrecht, was wir überhaupt kennen, und es fragt nicht nach Liebe. Das Wort Liebe finden Sie im Familienrecht überhaupt nicht. Sie sind Biedermeier. Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Sie sind Operette. Die Liebe ist wunderbar und romantisch, aber kein Anknüpfungspunkt für Rechtsfolgen, weder für Erbrecht noch für Erbsteuerrecht. Die Menschen stellen sich das so vor: Da kommt irgendwann nach dem Tode des Freundes die Freundin oder der Freund - was immer es ist - und sagt: Ich will erben, er hat mich doch geliebt. Dann kommt womöglich Nummer zwei und sagt: Mich auch. Nun sagen Sie, das geht ja nur bei einem. Aber es gibt so viele, die gleich mehrere lieben. Mich erinnert Ihr Anknüpfungstatbestand Liebe an einen Kollegen mit einer richtigen Ruhrgebietsschnauze, der sagte: Schläft man mal mit einem Mädchen, gleich denken die Leute, man hätte was mit ihr. ({1}) Sie haben eine Reihe von richtigen Problemen in Ihrer Sache genannt, aber die Anknüpfungstatbestände sind sogar bei Ihnen andere als familienrechtliche. Sie sind nämlich zum Beispiel die gemeinsame Wohnung. Da wollen Sie das aber an ein Paar binden, zum Beispiel beim Hausrat. Das geht ja auch gar nicht anders. Die Hausratsverordnung können Sie schlechterdings nicht anwenden, wenn einer in München und der andere in Berlin wohnt. Oder wollen Sie da etwa auch ein Angehörigenerbrecht? Das geht schon nach dem Mietrecht nicht, weil das die gemeinsame Wohnung voraussetzt. Aber es gibt Leute, die leben zu dritt oder zu viert in einer Wohnung. ({2}) Und da soll das alles nicht gelten? Wenn Sie die Geltung aber auf Paare begrenzen und Liebe zur Voraussetzung machen, dann nehmen Sie davon eine ganze Menge Leute, die das dringend brauchen, aus. Außerdem sagen Sie selbst: Diejenigen, die noch verheiratet sind, aber in nichtehelicher Lebensgemeinschaft leben, wollen Sie mit Ihrem Entwurf nicht schützen. Ich rede schon viel zu lange. ({3}) - Ich will das ja gar nicht. Ich hoffe, daß wir den Entwurf im Rechtsausschuß schnell begraben und an seine Stelle etwas Besseres setzen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorgelegte Entwurf enthält Teile, die sich mit Vorstellungen der Liberalen decken. Er enthält aber auch Teile, denen wir gar nicht zustimmen können. ({0}) - So fröhlich kann dieser Entwurf gar nicht stimmen. Die Materie, um die es hier geht, ist in der Tat von erheblicher Bedeutung. Ich darf deshalb darum bitten, daß Sie auch zu solch später Stunde noch ein bißchen Aufmerksamkeit zustande bringen. Der Entwurf unterscheidet in den meisten Teilen nicht zwischen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und homosexuellen Lebensgemeinschaften. Diese Unterscheidung erscheint aber notwendig. Für eine Lebensgemeinschaft von Mann und Frau bietet das BGB das Traditionsinstitut der Ehe an. Die Ehe ist nach unserem Grundgesetz in besonderer Weise geschützt. Die F.D.P. steht zum Institut der Ehe, obwohl sie natürlich weiß, daß die außerordentlich hohe Zahl von Scheidungen einerseits, andererseits die nur noch eingeschränkte Zustimmung der jungen Menschen zu diesem Institut Zweifel an dem Konzept der Ehe in traditioneller Form nahelegen. Wenn Mann und Frau sich gegen die Ehe entscheiden, dann ist dies eine bewußte Entscheidung, die zu respektieren ist. Sie darf aber auch nicht, Herr Beck, umgedeutet werden in eine Entscheidung, die quasi eine Entscheidung zugunsten einer Gemeinschaft sein soll, die zwar nicht Ehe heißt, sich aber im wesentlichen doch an dem Modell der herkömmlichen Ehe orientiert. Ich neige dazu, den Menschen, die heiraten könnten, sich aber gegen die Ehe entscheiden, jegliche Freiheit der Lebensgestaltung zu belassen. Dringenden Regelungsbedarf kann ich zumindest dann nicht erkennen, wenn die Verbindung von zwei Menschen kinderlos geblieben ist bzw. wenn keiner der beiden Partner ein Kind in die Lebensgemeinschaft einbringt. Wir versprechen eine sorgfältige Prüfung der Vorschläge zur gemeinschaftlichen elterlichen Sorge, wenn eine Frau mit einem Mann und dessen Kind zusammenzieht. Jeder hier im Haus weiß, daß die F.D.P. die gemeinschaftliche elterliche Sorge von faktischen Eltern für wünschenswert hält. Zumindest gilt es, gesetzliche Hindernisse für eine solche Regelung aus dem BGB zu streichen. Hildebrecht Braun ({1}) Ich kann nicht erkennen, warum wir für nicht verheiratete heterosexuelle Paare ein gesetzliches Erbrecht, eine steuerliche Privilegierung in der Einkommensteuer oder in der Erbschaftsteuer schaffen sollten. Wer diese Vorteile haben will, soll heiraten. Er soll damit aber auch die Verpflichtungen für den Partner bzw. die Partnerin übernehmen, die mit dem gesetzlichen Vertragsmuster Ehe verbunden sind. Diese Verpflichtungen sind ohnehin nicht mehr so groß, wie viele glauben. Für den Zeitraum nach Auflösung einer Ehe können Verpflichtungen schon jetzt notariell in sehr weitgehendem Maße abgedungen werden. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich diese Gestaltungsmöglichkeiten ohnehin für sehr, vielleicht sogar zu weitgehend halte. Ganz anders stellen sich für die F.D.P. die Fragen im Zusammenhang mit der homosexuellen Lebensgemeinschaft. Hier ist durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich geworden, daß Art. 6 des Grundgesetzes wohl einer Eheschließung von homosexuellen Partnern entgegensteht. Wenn somit das Rechtsinstitut Ehe Heterosexuellen vorbehalten bleibt, so muß eine Regelung für homosexuelle Partner gefunden werden, die eine Bindung zueinander in gleicher Weise wünschen, wie dies bei Ehepartnern kennzeichnend ist. Eine echte Einstehensgemeinschaft von Homosexuellen verdient einen gleichartigen staatlichen Schutz, wie ihn Eheleute haben, da der Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Sonderbehandlung gegenüber anderen Zusammenschlüssen von Menschen derselbe ist wie bei Eheleuten: Sie wollen füreinander dasein, also füreinander einstehen, und ihr Leben gemeinsam gestalten. Sie wollen sich öffentlich bekennen, zueinander zu gehören, weil sie sich lieben. Liebe ist - Frau von Renesse, ich kann Ihnen da nur zustimmen - ein sehr schwieriger Begriff, wie wir alle wissen. Wenn er aber seine Erfüllung bei Eheleuten findet oder finden kann, dann können homosexuelle Paare, die sich füreinander entschieden haben, dies in gleicher Weise geltend machen. Ich bin davon überzeugt, daß die Entwicklung im Denken der Menschen in Deutschland ebenso wie zumindest im europäischen Ausland dahin gehen wird, daß homosexuelle Verbindungen von Menschen, die dauerhaft zueinander gehören wollen, in gleicher Weise anerkannt werden wie die Verbindung von Eheleuten. Die F.D.P. wird diese Entwicklung nicht nur mitgehen, sondern sie auch maßgeblich mitgestalten. Die F.D.P. weiß aber auch, daß die beiden großen Parteien in Deutschland gegenwärtig noch nicht so weit sind, eine Gesetzgebung im skizzierten Sinne mitzutragen. Wir werden uns daher noch ein bißchen in Geduld üben müssen. Ich bin allerdings davon überzeugt, daß weitere Schritte in diese Richtung in der nächsten Legislaturperiode unternommen werden können. Noch in dieser Legislaturperiode werden wir dafür sorgen, daß hinterbliebene Lebenspartner von verstorbenen homosexuellen Mietern die Wohnung übernehmen können. Das ist ein wichtiger Schritt zur Beendigung der Diskriminierung von homosexuellen Paaren, den wir aus unserem Verständnis von Menschenwürde und von hieraus resultierenden Rechten durchgesetzt haben. Ich wünschte, für solche Schritte könnten Mehrheiten im Parlament auch ohne die Vorreiterrolle der Rechtsprechung gefunden werden. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf der Bündnisgrünen, mit dem quasi eine „Ehe light" installiert werden soll, entstammt der Mottenkiste konservativer Familienvorstellungen, schreibt die Diskriminierung Nichtverheirateter fort und leistet genau das nicht, worauf es ankommt, nämlich den Abbau der Privilegien der Ehe. Das ist die Voraussetzung, wenn für die zunehmende Etablierung - wie hier richtig festgestellt wurde - neuer Formen des Zusammenlebens eine gerechte gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll. Die Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft als „auf Dauer angelegt" finde ich rührend naiv. Mit jeder Beziehung - vom One-night-Stand abgesehen - ist die Hoffnung verknüpft, sie möge von Dauer sein. Es gibt heutzutage jedoch keine Ewigkeitsgarantien mehr. „Auf Dauer angelegt" wird so zum moralisierenden, ideologischen Begriff, der nicht justitiabel ist und in einem Gesetz aus meiner Sicht nichts zu suchen hat. Begrüßenswert ist, daß eine gegenseitige Unterhaltsverpflichtung nicht eingeführt werden soll. Ich finde es jedoch schon peinlich, daß die Grünen zwar die Abschaffung der Anrechnung des Einkommens des Partners bzw. der Partnerin bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe wollen, aber dann nicht den Mut haben, dafür einen offensiven Vorschlag anzubieten. Es gibt spätestens seit dem Aufkommen der Frauen- und der Lesbenbewegung in der Bundesrepublik eine fundierte Kritik an der Institution Ehe. Die Abschaffung des Ehegattensplittings ist überfällig, und auch die steuerliche Absetzbarkeit von Unterhaltszahlungen ist absolut nicht mehr zeitgemäß. Dazu ist von den Grünen heutzutage kein Wort mehr zu hören. Zum Sorgerecht, Herr Beck: Die Absicht, den Personenkreis zu erweitern, der ein Kind gemeinsam adoptieren kann, ist zu begrüßen. Das ist eine Uraltforderung. Das Problem dabei ist jedoch, daß nach Ihren Vorstellungen die Adoption der einzige Weg für nicht leibliche Eltern bleibt, Sorgerechte zu erlangen. Die Diskussion ist da angesichts der Vielfalt der Lebensformen und der - wie schon oft gesagt - vielfach begrenzten Halbwertszeit von Beziehungen viel weiter und fordert neben der Adoptionsmöglichkeit eine rechtlich abgesicherte Mit- bzw. Ko-Elternschaft, wie die PDS es in ihrem Antrag zur Kindschaftsrechtsreform vorgesehen hatte. Nicht hinnehmbar ist auch, daß das Aufenthaltsrecht ausländischer nichtehelicher Partner bzw. Partnerinnen nicht geregelt ist. Mit dieser „Ehe light" für nichteheliche Lebensgemeinschaften haben die Bündnisgrünen es fertiggebracht, ein abgestuftes System der Verrechtlichung des Zusammenlebens vorzuschlagen: Ganz oben steht - unangetastet - die Ehe. Dann kommt eine abgespeckte Variante für nichteheliche Paare. Und völlig außen vor bleiben diejenigen, die ihr Leben jenseits der Zweisamkeit gestalten wollen. Die Diskriminierung also bleibt. Der emanzipatorische Ansatz der Grünen, mit dem sie einst für soviel Furore gesorgt haben, ist einer verdrucksten Orientierung an den Mustern gewichen, die ja gerade zur Diskriminierung von Lebensformen führen. Ein überaus trauriger Vorgang! Die PDS wird noch in diesem Jahr einen Antrag zur tatsächlichen Gleichstellung aller Lebensweisen in den Bundestag einbringen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Rainer Funke.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, nichteheliche Lebensgemeinschaften sind - wie in der Begründung Ihres Entwurfs, Herr Beck, richtig ausgeführt - zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor geworden. Die Bundesregierung hat wiederholt klargestellt, daß es zur Freiheit des einzelnen gehört, in Übereinstimmung mit einem anderen eine rechtlich nicht reglementierte Form gemeinsamer Lebensgestaltung einzugehen. Das Recht kann vor dieser Entwicklung sicherlich nicht die Augen verschließen. Ich teile deshalb den Wunsch, nichtehelichen Lebensgemeinschaften dort, wo es notwendig ist, rechtlichen Schutz zu gewähren. Dabei darf es allerdings nicht zu einer Situation kommen, in der den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sozusagen Meistbegünstigung zuteil wird. Wir können deshalb den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht, wie es der Entwurf vorsieht, auf der einen Seite Vergünstigungen gewähren - etwa im Miet- und Erbrecht, bei der Zuweisung von Sozialwohnungen, im Versicherungsrecht, bei der Zuteilung von Studienplätzen und im Steuerrecht - und damit Dritten, dem Staat oder Privaten, umfassende Rechtspflichten gegenüber den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft aufbürden und auf der anderen Seite keine Regeln für das Verhältnis der Partner untereinander vorsehen. Der Entwurf läßt für das Verhältnis der Partner untereinander sogar ausdrücklich eine Lücke, sieht man von einem bescheidenen Trennungsunterhalt bei gröbster Unbilligkeit ab. Ausgangspunkt muß demgegenüber sein, die Gründe sorgsam zu gewichten, die die Rechtsordnung veranlassen, Ehe und Familie in bestimmten Bereichen gegenüber anderen Lebensformen anders zu behandeln. Meiner Meinung nach bedarf es deshalb zunächst der zielgenauen und systemgerechten Einpassung einzelner - ich betone: einzelner - Regelungsbereiche, um den Belangen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften stärker als bisher Rechnung zu tragen. Als Etappenziel auf diesem Weg müssen wir primär Regelungen in Bereichen finden, in denen ein Regelungsbedarf und derzeit keine Möglichkeit besteht, ungerechte Schlechterstellungen aufzufangen. Mit der jüngst verabschiedeten Kindschaftsrechtsreform, bei der sich Frau von Renesse ganz besonders hervorgetan hat, haben wir dem Phänomen außerehelicher Lebensformen auf einem besonders sensiblen Gebiet bereits Rechnung getragen. So wird die gemeinsame Sorge für Kinder nunmehr auch dann möglich sein, wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet sind. Aber auch darüber hinaus kann Regelungsbedarf bestehen. Ein wichtiger Bereich betrifft das Recht des nichtehelichen Lebenspartners, beim Tod des Partners in dessen Mietverhältnis einzutreten, wenn die Partner einen gemeinsamen Haushalt geführt haben. Auch bei anderen mietrechtlichen Normen kann die Interessenlage eine Gleichbehandlung der Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften rechtfertigen. Sie wissen, daß wir in unseren Entwürfen für eine Mietrechtsreform entsprechende Vorschriften vorgesehen haben. Wir sind uns also insoweit einig. Es kann, Herr Beck, Regelungsbedarf in Einzelbereichen bestehen. Dieser Bedarf wird aber nicht durch den hier vorliegenden Gesetzentwurf erfüllt. Entscheidend ist es, in jedem Einzelfall Regelungsbedürftigkeit und Regelungsfähigkeit zu untersuchen. Ich glaube, daß wir uns bei diesem Vorhaben auf einem guten Weg befinden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/7228 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Belarus muß zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren - Drucksache 13/8659 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Es sind alle Reden zu Protokoll gegeben worden.*) Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann schließe ich die Aussprache. *) Anlage 7 Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur Wiederherstellung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Belarus auf Drucksache 13/8659. Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 14. November 1997, 9.00 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.