Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen,
meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten des kroatischen Parlaments „Sabor", Herrn Pavletic, seine Vizepräsidenten und seine Delegationsmitglieder ganz herzlich begrüßen. Seien Sie uns im Deutschen Bundestag herzlich willkommen.
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Herr Präsident, Sie haben in diesen Tagen Gelegenheit gehabt und nehmen sie auch heute noch wahr, intensive Gespräche mit Parlamentariern und Vertetern der Regierung zu führen. Wir haben uns gerade über die Schwierigkeiten der Umsetzung von Dayton, über die Unterstützung für Ihr Volk, aber auch über die Erwartungen, die wir an Sie haben, ausgetauscht. Ich hoffe, daß dieser Besuch für uns vieles an Klärung, Annäherung und Verständnis gebracht hat. Sie können sicher sein: Auch die deutschen Parlamentarier werden den Kontakt weiterhin intensiv pflegen.
Wir wünschen Ihnen bei der Umsetzung des Friedensprozesses alles Gute.
Ich teile mit: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Helmut Wilhelm ({1}), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nutzung des Altschuldenhilfegesetzes für eine Initiative zur Gründung von Wohnungsgenossenschaften - Drucksache 13/8703 2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes - Drucksache 13/8705 -
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges ({3}) - Drucksache 13/8246 3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4})
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vierten Protokoll vom 15. April 1997 zum Allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen - Drucksachen 13/8215, 13/8727 4. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes ({5}) 1997 ({6}) - Drucksachen 13/4839, 13/8701, 13/8734 -
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Angelika Beer, Christian Sterzing, Antje Hermenau und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beseitigung von Ausbildungshindernissen und Benachteiligungen im Rahmen der Wehrpflicht - Drucksache 13/8706 -
6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Mehr Ausbildungsplätze durch flexible Strukturen - moderne Berufe - keine Zwangsabgaben - Drucksache 13/ 8732-
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden. Darüber hinaus soll die jeweils zweite und dritte Beratung des Postgesetzes, Tagesordnungspunkt 7, und des Gesetzes über den deutschen Auslandsrundfunk, Tagesordnungspunkt 8, vorgezogen und nach der Berufsausbildungsdebatte aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 i auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Geldwäschebekämpfung
- Drucksache 13/6620 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({7}) Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 8. November 1990 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten
- Drucksache 13/7954 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({8}) Innenausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Grundgestezes ({9}) ({10})
- Drucksache 13/8650 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({11}) Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität
- Drucksache 13/8651 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({12}) Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
e) Beratung des Antrags des Abgeordneten Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Vertraulichkeit des Telekommunikationsverkehrs und des Vertrauensverhältnisses zu Berufsgeheimnisträgern ({13})
- Drucksache 13/5196 -Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({14})
Innenausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikation
f) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.
Telefonüberwachungen
- Drucksache 13/8652 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({15}) Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
g) Beratung des Antrags des Abgeordneten Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen zur verbesserten Bekämpfung der Geldwäsche sowie zur Einziehung kriminell erlangter Profite
- Drucksache 13/8590 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({16}) Innenausschuß
Finanzausschuß
h) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({17}), Günter Graf ({18}), Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/1925, 13/4942-
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({19}) zu dem Antrag des Abgeordneten Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Effektivität und demokratische Transparenz bei der Gewinnung und Analyse außenpolitischer Erkenntnisse durch Auflösung des Bundesnachrichtendienstes
- Drucksachen 13/4374, 13/6862 Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann
Hans-Peter Kemper
Manfred Such Dr. Max Stadler Dr. Ludwig Elm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Dr. Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Nach reiflichen Überlegungen haben sich Koalition und SPD in ernsten und sachlichen Verhandlungen auf das vor Ihnen liegende Gesetzespaket geeinigt. Dies ist keinem der Beteiligten leichtgefallen. Das kann man in allem Ernst nur unterstreichen. Ich meine das positiv. Keiner hat es sich damit leichtgemacht.
In der konstruktiven Verhandlungsatmosphäre, für die ich allen Beteiligten noch einmal herzlich danken möchte, haben wir, wie ich meine, ein ausgewogenes Konzept erarbeitet. Es sichert die Rechte der von Kriminalität Bedrohten bzw. potentiellen Opfer, ohne die Rechte der verdächtigen, der angeschuldigten und potentiellen Täter unangemessen einzuschränken. Dies ist für mich der zentrale Punkt. Denn für den Rechtsstaat sind und bleiben die Grundrechte Unterpfand der Bürgerfreiheit.
Im Mittelpunkt steht allerdings eindeutig das Recht der sich ängstigenden Bürger auf Sicherheit.
({0})
Denn es sind heute kriminelle Organisationen, es sind planmäßig operierende Tätergruppen, die Leben, Freiheit und Eigentum der Menschen weit stärker bedrohen als der Staat. Das muß man in aller Nüchternheit so sehen.
({1})
Die Bürger erwarten deshalb, daß ihre Freiheit nicht nur vor dem Staat, sondern auch durch ihn geschützt wird. Das sind die Bürgerrechte, für die es vor allem zu streiten lohnt.
({2})
Freiheit und Sicherheit sind nach Überwindung des Obrigkeitsstaates im demokratischen Rechtsstaat keine Gegensätze mehr, sie bedingen einander.
({3})
Meine Damen und Herren, für die akustische Wohnraumüberwachung zu Beweiszwecken bedeutet dies folgendes: In der Strafverfolgung brauchen wir die Möglichkeit - und dies bestätigen die Experten auch -, selbst das in Wohnungen gesprochene Wort abzuhören, um organisierte Kriminalität effektiv bekämpfen zu können. Wir bieten damit sicherlich nicht ein Allheilmittel. Das zu behaupten wäre völlig falsch.
({4})
Aber wir geben Polizei, Staatsanwaltsschaft und Richtern eine wichtige weitere Möglichkeit an die Hand, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Gleichzeitig wird durch das Gesetz sichergestellt, daß der Staat dieses Mittel nur in engen rechtsstaatlichen Grenzen und gezielt gegen Schwerstkriminalität einsetzt.
Im Grundgesetz selber werden präzise Voraussetzungen dafür verankert. Die Strafverfolgung bleibt auf die akustische Überwachung beschränkt, einen Spähangriff gibt es nicht.
({5})
- Wie schnell Sie mit der Verfassung dann gegebenenfalls hantieren wollen, das ist allerdings ein interessanter Ausblick.
({6})
Die akustische Überwachung ist nur bei dem konkreten Verdacht besonders schwerer Staftaten und auch hier lediglich als Ultima ratio zulässig. Sie wird durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper angeordnet, nur im Eilfall durch einen einzelnen Richter.
({7})
- Ich bin erstaunt, wie schnell ein so unbedachter Zwischenruf die Gemüter in Wallung bringt, denn wir sind gerade dabei, die Dinge festzuzurren. Da kann man eigentlich nicht so irritiert sein, wenn dann ein unqualifizierter Zwischenruf kommt.
Das, was wir jetzt im Grundgesetz festschreiben, ist im Vergleich ein einmaliger Standard; denn Hausdurchsuchungen zum Beispiel kann ein Richter allein anordnen, im Eilfall kann so etwas sogar ohne Richter möglich sein.
Von verschiedenen Seiten wird und ist in der Diskussion ja hinlänglich die Problematik der Zeugnisverweigerungsrechte angesprochen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu eines vorweg klarstellen: Die Zeugnisverweigerungsrechte bleiben so, wie sie bisher bestehen, auch weiterhin unberührt. Aber es stellt sich die Frage, ob man sie nicht grundsätzlich stärken und auch gegen Umgehungsmöglichkeiten sichern muß, das heißt konkret in so einem Fall wie dem hiesigen, ob man nicht Verwertungsverbote für abgehörte Gespräche mit zeugnisverweigerungsberechtigten Personen schaffen sollte.
Wir haben diese Frage in den Verhandlungen lange und sorgfältig erörtert und dann in den Entwurf gleichwohl keine solchen Verwertungsverbote aufgenommen. Einerseits dürfen nämlich Gespräche mit dem Strafverteidiger ohnehin nicht überwacht werden, andererseits würde die akustische Wohnraumüberwachung bei Verwertungsverboten für alle Gespräche mit Zeugnisverweigerungsberechtigten leicht zum stumpfen Schwert.
Das Abhören von Beichtgesprächen oder ärztlichen Eröffnungen ist aber entgegen allen anderslautenden Behauptungen wegen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips ohnehin auch jetzt regelmäßig unzulässig.
Wir haben deshalb diese Einzelentscheidungen wie bisher der Rechtsprechung überlassen und verfahren damit ähnlich, wie man es jetzt offenbar auch für das Telekommunikationsgesetz beabsichtigt. Weil dieses Problem so diffizil und grundsätzlich ist, haben wir es in diesem Zusammenhang einfach nicht lösen können und wollen.
Das soll uns aber keineswegs hindern, grundsätzlich weiter über den Interessenkonflikt zwischen Zeugnisverweigerungsrechten und Verwertungsverboten einerseits und effektiver Strafverfolgung andererseits nachzudenken und dazu gegebenenfalls eine neue umfassende Regelung zu erlassen. In diesem Zusammenhang hätte es das Projekt einfach überfordert.
Meine Damen und Herren, der bessere Zugriff auf Verbrechensgewinne, auf verdächtiges Vermögen ist die zweite Säule des vorgelegten Gesetzespakets. Es ist wichtig, das herauszustellen, damit es nicht eine einseitige Betrachtung wird, die wir hier in der ersten Lesung des Gesetzespakets anstellen. Bei der Geldwäsche werden künftig auch Schutzgelderpressung, Rotlicht- und Computerkriminalität sowie bandenmäßiger Schmuggel als Vortaten in § 261 StGB erfaßt. Die Beschlagnahme bei erwarteter Einziehung oder Verfall ist in Zukunft bei einfachem Verdacht zulässig.
Über das Finanzverwaltungsgesetz, meine Damen und Herren, wird der Zugriff auf mitgeführte Zahlungsmittel verbessert, wenn sie denn verdächtig sind oder das Mitführen derselben verdächtig ist. Ab 30 000 DM müssen den Bediensteten vom Zoll bzw. vom Bundesgrenzschutz auf Anforderungen diese Gelder angezeigt werden. Ein Verstoß ist mit empfindlichen Geldbußen bedroht.
Ebenso wichtig - damit will ich in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit auch schon zum letzten Einzelpunkt kommen - wie die neuen gesetzlichen Instrumente ist mir in diesem Zusammenhang, daß wir eine Beweislastumkehr ausdrücklich nicht eingeführt haben.
({8})
Eine solche Beweislastumkehr hätte nach meiner
Sicht jedenfalls an den Kern des rechtsstaatlichen
Strafrechts gerührt, nämlich die Unschuldsvermutung.
({9})
Die gilt bekanntlich auch für das Vermögen einer Person.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns bei diesem zentralen Thema über die Parlamentsgrenzen, über die Parteigrenzen, über die Fraktionsgrenzen hinaus weiter zusammenstehen. Lassen Sie uns ein Signal setzen, ein Signal, daß wir gemeinsam - auch wenn es in der politischen Diskussion schwierig ist - der organisierten Kriminalität den Kampf ansagen.
Danke sehr.
({10})
Es spricht als nächster der Abgeordnete Dr. Rupert Scholz.
({0})
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Unionsfraktion begrüßt die jetzt endlich - ich betone: endlich - gefundene Einigung über effektivere Maßnahmen zur Abschöpfung von Verbrechensgewinnen sowie zur Bekämpfung der Geldwäsche. Vor allem aber begrüßen wir, daß es jetzt endlich zu einer rechtlichen Legitimierung des Abhörens von Verbrechenswohnungen zur Beweismittelgewinnung kommen kann.
({0})
- Ach, Herr Fischer, da ist er wieder, der kleine Krakeeler. Herr Fischer, ich wußte, daß Sie hier ein bißchen herumtönen werden. Deshalb hören Sie jetzt einmal zu: „Wir Linken führen noch die Debatte der 70er und 80er Jahre gegen die staatliche Repression. Das Problem von morgen wird eher der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die öffentliche Sicherheit sein." So Joschka Fischer, Grünen-Fraktionssprecher.
({1})
Das, was Sie jetzt veranstalten, ist der Rückfall, nachdem dies ein erster Schritt zur Resozialisierung gewesen zu sein scheint.
({2})
Dies alles, meine Damen und Herren, sind längst überfällige Schritte im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Die technische Überwachung von Gangsterwohnungen zum Zwecke der Strafverfolgung ist von uns seit Jahren immer wieder mit Nachdruck gefordert worden. Wir haben diesen wichtigen
Mosaikstein bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität immer wieder auf die politische Tagesordnung gebracht und dort gehalten, auch und gerade gegen den Widerstand derer und vieler, die sich uns jetzt endlich angeschlossen haben.
({3})
Auch eine effektivere Bekämpfung der Geldwäsche ist von uns immer gefordert worden. Wir begrüßen und unterstützen deshalb nachdrücklich das jetzt vorgelegte Gesetzesbündel mit Änderungen und Zusammenführungen im Strafrecht, in der Strafprozeßordnung, im Geldwäschegesetz und im Finanzverwaltungsgesetz.
Die organisierte Kriminalität läßt sich nur dann wirksam bekämpfen, läßt sich nur dann treffen, wenn ihr die kriminellen Gewinne, die kriminellen Gelder entzogen werden. Deshalb ist jetzt die gefundene Verknüpfung dieser Rechtsbereiche eine, wie ich denke, sogar international vorbildliche Regelung, von der wir uns viel erhoffen können.
({4})
Natürlich fragen wir uns hier - ich denke, der Bürger draußen fragt sich das gleiche -, warum das alles so lange dauern mußte. Wie lange wurde und wird noch heute das Abhören von Gangsterwohnungen als „großer Lauschangriff" diffamiert? Wie viele unserer politischen Initiativen mußten scheitern, bis es jetzt endlich zum Kompromiß gekommen ist? Wo sind sie gescheitert? Noch heute schlummern unsere Vorlagen in den Ausschüssen des Bundesrates, dorthin verbannt von der Mehrheit der SPD-regierten Länder.
({5})
- Ja, ja, ja. Aber selbstverständlich.
({6})
Trotzdem, meine Damen und Herren: Wir freuen uns über den Kompromiß. Wir freuen uns, daß sich die SPD nach so vielen Jahren endlich unserer Forderung nach technischer Überwachung von Gangsterwohnungen angeschlossen hat.
({7})
Doch wir müssen uns jetzt schon wieder fragen - da ist die SPD unmittelbar angesprochen -, ob die Umsetzung dieses Kompromisses nicht vom Einknikken der SPD begleitet wird.
({8})
So haben sich bekanntlich die Jusos im bayerischen SPD-Landesvorstand mit dem Antrag durchgesetzt, der die SPD-Bundestagsfraktion auffordert, der gesetzlichen Umsetzung dieses Kompromisses nicht zuzustimmen.
({9})
Unverhohlen wird denen, die für die Wohnraumüberwachung stimmen wollen, mit dem Entzug sicherer Listenplätze für den nächsten Bundestag gedroht.
Meine Damen und Herren, wir werden sehr genau darauf achten, wie sich die bayerischen Abgeordneten der SPD in dieser Frage verhalten.
({10})
Wir wären nicht erstaunt, wenn sich die SPD jetzt, wie schon in der Vergangenheit, zunächst nach außen rhetorisch der Sicherheitssorgen, der Ängste der Menschen anzunehmen scheint, anschließend aber, wenn es um die reale Umsetzung und Bekämpfung von Kriminalität geht, einknickt und wegtaucht.
({11})
- Ihre Sprüche passen genau zu diesem Thema: Rhetorik und populistische Stimmungsmache.
({12})
Bleiben Sie konsequent! Sie kündigen immer strikte Sicherheitspolitik an, und wenn ein Wahldebakel passiert, wie jetzt in Hamburg, wird sofort wieder abgetaucht.
({13})
Und Herr Schröder - ihn wollen wir in diese Debatte gleich mit hineinnehmen - ist ein sicherheitspolitisches Chamäleon allererster Sorte.
({14})
Niedersachsen ist das Land mit dem schlechtesten Polizeigesetz.
({15})
Eine niedersächsische Zeitung mußte neulich nach einer Anhörung in Niedersachsen titeln: „Niedersachsens Gesetze behindern den Kampf gegen die Mafia" .
({16})
Es ist noch immer so, daß in Niedersachsen alle Mittel moderner Verbrechensbekämpfung verboten sind, angefangen vom verdeckten Ermittler, über das Abhören, die Rasterfahndung, die verdachtsabhängige Kontrolle auf Autobahnen usw.
Meine Damen und Herren, ich erwähne dies alles sehr bewußt, weil wir heute über Maßnahmen entscheiden müssen, was wir, wie ich hoffe, gemeinsam zu einem guten Ende bringen werden.
({17})
- Wir werden sehen, wie Sie abstimmen. Wir werden sehen, was im Bundesrat geschieht. Wir werden sehen, wie die rot-grünen Regierungen abstimmen.
({18})
Das ist die Stunde der Wahrheit.
({19})
Herr Scholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Natürlich.
Verehrter Herr Kollege Professor Scholz, wenn das alles so schrecklich ist und dies an den Polizeigesetzen liegt, wie kommt es dann eigentlich, daß nach der Kriminalitätsstatistik für das Jahr 1996 die Zahlen für vollendeten Mord und Totschlag, für Vergewaltigungen, für Raubüberfälle auf Geldinstitute und für schwere und gefährliche Körperverletzungen in München höher sind als in Hamburg?
({0})
Herr Hirsch, ich hätte Ihnen eigentlich eine intelligentere Frage zugetraut.
({0})
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu der Grundgesetzänderung, über die wir hier zu beraten haben.
({1})
Ein großer Fortschritt ist natürlich, daß wir jetzt die Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Beweismittelgewinnung durchführen können. Das gewählte Verfahren genügt voll den rechtsstaatlichen Maßstäben und Kautelen. Für irgendwelche Nachbesserungen, wie sie schon jetzt wieder gefordert werden, besteht überhaupt kein Grund. Das gilt auch für das Zeugnisverweigerungsrecht.
Meine Damen und Herren, das Zeugnisverweigerungsrecht gehört zu einem ganz anderen Rechtsbereich. Kein Mensch kommt auf die Idee, von einem Grundrechtsverstoß zu sprechen, wenn etwa ein Polizist einen Kriminellen dabei abhört, wie er auf der Straße, in der U-Bahn oder im Bus mit seinem Anwalt spricht, und zu sagen, daß dies unzulässig ist, weil das Zeugnisverweigerungsrecht dadurch verletzt werden könnte. Das Zeugnisverweigerungsrecht ist auf der Verwertungsebene und nicht auf der Maßnahmenebene anzusiedeln. Es ist schon absurd, wie hier die Argumente in unzulässiger Weise, wie ich meine, vermischt werden.
Unter Rechtsstaatsgesichtspunkten ist das Verfahren, das wir vereinbart haben, sehr detailliert und
sehr kompliziert. Aber die Vorschrift soll ja - hier sind wir schon sehr nahe an die Grenze gegangen - auch noch praktisch wirken. Wir können und dürfen deshalb das Verfahren nicht noch weiter verkomplizieren. Wer dies als angebliches Rechtsstaatsgebot fordert, will letztlich die Vorschrift als solche ins Leere laufen lassen. Wie gesagt, das Verfahren ist kompliziert; es ist detailliert. Aber wir sind auf der anderen Seite auch froh, daß es gelungen ist, noch weitere Auswüchse an Verkomplizierungen verfahrensrechtlicher Art, etwa noch gar eine Verkoppelung mit parlamentarischen Genehmigungserfordernissen, zu verhindern.
So wichtig die akustische Überwachung ist, auf der Tagesordnung bleibt - das will ich deutlich sagen - auch die Thematik der optischen Wohnraumüberwachung. Wir werden die Erfahrungen abwarten, und wir werden vor allem sehen, zu welchen Ergebnissen die Länder mit ihren Polizeigesetzen kommen werden, da es ihnen jà unbenommen ist, gegebenenfalls verstärkt auch zu solchen Maßnahmen zu greifen.
Eines möchte ich nicht verhehlen: Verfassungssystematisch und verfassungsästhetisch vermag der neue Art. 13 des Grundgesetzes kaum zu überzeugen. Das sollten wir ehrlich einräumen.
({2})
Eine Verfassung soll und muß sich auf das Grundsätzliche beschränken. Detailregelungen gehören nicht in den Verfassungstext, sondern in einfachgesetzliche Ausführungsbestimmungen. Eine Verfassung darf nicht zur Durchführungsverordnung ihrer selbst werden. Hier haben wir in der Vergangenheit beim Art. 16a und beim Art. 23 gesündigt, und es ist bedauerlich, daß das beim Art. 13 nun wieder geschieht. Aber leider war mit der SPD eine entsprechend schlanke Fassung des Art. 13 nicht durchzusetzen.
({3})
Der Art. 13 wird viele Bestimmungen enthalten, die wesensmäßig auf die Ebene des einfachen Gesetzes, auf die Ebene der Strafprozeßordnung gehört hätten. Die kleine Münze des täglichen Politik- und Kompromißgeschäfts - so notwendig und legitim dieses ist - wird letztlich auf die Ebene der Verfassung gehievt. Das tut der Verfassung nicht gut.
({4})
Dennoch haben wir dies in Kauf genommen - wir mußten dies in Kauf nehmen -, um überhaupt zu einer grundgesetzlichen Verankerung und damit auch Legitimierung des Abhörens von Gangsterwohnungen zu kommen. Dies ist im Ergebnis die richtige Entscheidung. Abhörmaßnahmen in diesem Bereich sind rechtsstaatlich notwendig; für eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung brauchen wir diesen Katalog von Maßnahmen und brauchen wir solche Ermächtigungen. Ich denke, daß wir im Ergebnis mit diesem Kompromiß gemeinsam erfolgreich sein werden.
Professor Scholz, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Conradi?
Bitte.
Herr Conradi.
Herr Abgeordneter Dr. Scholz, nachdem Sie zum zweiten Mal den Begriff „Gangsterwohnungen" verwendet haben, wäre ich Ihnen für eine Klarstellung dankbar. Trifft es zu, daß keineswegs nur die Wohnungen, Büros oder Hotelzimmer von Verdächtigen überwacht werden können, sondern daß auch die Wohnungen völlig unverdächtiger Leute, in denen sich möglicherweise ein Verdächtiger aufhält, überwacht werden können, daß zum Beispiel Ihre Wohnung, wenn Ihre Kinder dort ein Fest feiern und dort möglicherweise jemand dabei ist, der des Drogenhandels verdächtigt ist, abgehört werden kann? Würden Sie also bitte den polemischen Begriff „Gangsterwohnungen" auf das rechtlich tatsächlich Zutreffende reduzieren?
({0})
Herr Conradi, war das eine Intervention oder eine Frage?
({0})
- Eine Frage, gut. - Dann will ich Ihnen offen sagen, daß, wenn in meiner Wohnung so etwas passieren würde, was Sie eben geschildert haben, ich sogar glücklich wäre, wenn dann abgehört würde, damit das festgestellt werden kann.
({1})
Ein Zweites will ich Ihnen auch noch sagen. Herr Conradi, ich weiß ja, was hinter Ihrer Frage steht. Dahinter steht nichts anderes als der Versuch, das, was rechtstaatlich notwendig ist, im Grunde zu delegitimieren, indem man plötzlich argumentiert - bei der Debatte um das Zeugnisverweigerungsrecht ist es das gleiche, nur spiegelbildlich - und einen Tatbestand herbeizitiert, der auf den ersten Anschein hin zu einem anderen Ergebnis führen müßte.
Ich bleibe bei dem Begriff: Die Zielsetzung ist die Überwachung von Gangsterwohnungen; dieser Begriff meint Räume, in denen sich Verdächtige befinden, in denen mit ihnen gesprochen wird oder in denen sie tätig sind. Das ist das Entscheidende. Wenn sich bei solchen Abhörmaßnahmen herausstellt, daß nichts war, daß da wirklich nur Unbeteiligte gewesen sind, dann - das wissen Sie ganz genau - gewährleistet die gesetzliche Vorsorge, die wir getroffen haben, eindeutig, daß nichts verwertet wird.
({2})
Insofern bleibt es bei der Zielrichtung: Es geht darum, Kriminelle überwachen, abhören zu können und dem in der Umsetzung - sprich: in der RepresDr. Rupert Scholz
sinn, in der Prävention - zu genügen. Um nichts anderes geht es, und dem sollten Sie im übrigen auch zustimmen.
({3})
Frau Präsidentin, ich habe zu meinem Vergnügen den Eindruck, daß Ihre Uhr stehengeblieben ist. Ich nehme an, daß meine Redezeit längst um ist.
Wenn Sie Zwischenfragen zulassen, Herr Professor Scholz, dann halten wir die Uhr an, damit dies auf Ihre Redezeit nicht angerechnet wird.
Zu meiner Freude ist sie schon vorher stehengeblieben, Frau Präsidentin.
({0})
Ich nutze das aber nicht im Übermaß aus. Vielen Dank.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Professor Scholz, Sie haben die Verfassungssystematik beklagt. Ich glaube, daß das etwas am Problem vorbeigeht. Es geht heute darum, daß die Verfassung in einem erheblichen Umfang in einem Bereich geändert wird, der wirklich der persönlichste eines Menschen ist. Ich denke, heute ist wirklich ein schwarzer Tag für die liberale Rechtspolitik.
Ich hoffe, Sie verstehen, daß es mir hier darum geht, noch einmal auf die Bedeutung dieser Sache zu sprechen zu kommen. Wie in den ersten Debattenbeiträgen mit diesem Thema umgegangen worden ist, ist ein Zeichen dafür, daß wir
({0})
uns in einer Entwicklung befinden, die wirklich gefährlich ist:
({1})
Sie ist insofern gefährlich, als hier versucht wird, mit Formeln, Klauseln und allgemeinen Schlagworten darüber hinwegzutäuschen, daß in wesentlichen Fragen der Rechtspolitik - welche Bedeutung haben die Grundrechte, welche Bedeutung hat es, dem Staat dort mehr Befugnisse zu geben, wo er sie auch wirklich braucht? - eine richtige Abwägung vorzunehmen und die entsprechende Entscheidung zu treffen ist.
Als Liberale kann ich nur sagen: In einer so schwierigen Frage, in der es um den Stellenwert von Grundrechten geht, kann es eigentlich nur eine Entscheidung geben: für die Freiheit. Es kann nicht darum gehen, mit formelhaften Erklärungen einen falschen Weg einzuleiten.
({2})
Herr Professor Scholz.
Frau LeutheusserSchnarrenberger, da Sie Ihre Intervention an meine Rede geknüpft haben, will ich Ihnen antworten.
({0})
Allerdings hat sie sich nach meinem Eindruck mehr auf die Debatte bezogen, die Sie in Ihrer eigenen Partei führen. Wenn ich mich recht erinnere, gab es dazu eine Abstimmung. Ich kann, offen gestanden, schwer nachvollziehen - um das einmal vorweg zu sagen -, daß diejenigen Ihrer Parteifreunde, die diesen Kompromiß mit erarbeitet haben und mit vertreten, keine Liberalen sein sollen. Das vermag ich persönlich jedenfalls nicht zu erkennen.
Nun zu der Frage des Grundrechtes. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, unsere Grundrechte sind für den Bürger, für die Freiheit, für die Rechtssicherheit der Bürger da. Zu den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip gehört aber auch und ganz entscheidend, daß der Staat Schutz vor Kriminalität, vor Bedrohung, vor Verbrechen dem Bürger zu gewähren hat.
({1})
Schutz für den Bürger hat den gleichen Verfassungsrang wie die Freiheit.
({2})
Das ist das Wesen des Rechtsstaatsprinzips in seiner in der Tat grundsätzlich liberalen Verfassung.
Schutz vor Verbrechen
({3})
rechtfertigt nicht, daß Drogendealer - ich sage deutlich: das sind Mörder ({4})
unter Berufung auf eine sogenannte Privatsphäre in Wohnungen, Hotelzimmern oder ähnlichem ungeschoren das tun dürfen, was bis zum Mord, vor allem an jungen Menschen, führen kann. Hier hat der Staat eine Verantwortung. Da darf man nicht zitieren, daß plötzlich Freiheit den Vorrang habe. Freiheit findet ihre Grenzen immer am Mißbrauch. Wer Freiheit zu Kriminalität gebraucht, mißbraucht sie. Er kann sich
dann nicht auf die Verfassung berufen. Das ist das Entscheidende.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Scholz, ich fürchte, Sie haben mit Ihrem heutigen Beitrag unserem gemeinsamen Vorhaben keinen Gefallen getan.
({0})
Ich glaube, wir sollten auf das übliche Ballyhoo verzichten. Das ist in der Nähe eines Wahltermins natürlich verständlich; ich halte es aber für überflüssig.
({1})
Wir sollten auch darauf verzichten, im Stil eines Wanderpredigers irgendeinen Bekehrungseifer an den Tag zu legen und uns gegenseitig vorzuhalten, wer zuerst oder zuletzt auf welchen Gedanken gekommen ist. Ich finde, diese Diskussion sollte in dem Stil geführt werden, in dem der Herr Justizminister hier in einem nüchternen Beitrag das, was wir ausgehandelt hatten, dargestellt hat.
({2})
Wir sollten uns darum bemühen, einen Konsens, den wir nach schwierigen Debatten gefunden haben, nicht zu zerreden, sondern hier in der Debatte zu festigen.
Die Koalition gibt uns wahrlich selten Gelegenheit zu freundlichen Worten. Heute sehe ich aber durchaus Anlaß dazu. Wir haben uns in einem sehr konstruktiven, in einem offenen und fairen Meinungsaustausch aufeinander zu bewegt und sind zu einem, wie ich finde, durchaus vernünftigen Ergebnis gelangt. Das sollte hier auch ausgesprochen werden.
Meine Damen und Herren, die organisierte Kriminalität ist kein Kinderspiel. Wir führen keine akademische Debatte. Es handelt sich vielmehr um eine böse Realität, die nicht nur das Leben, die körperliche Unversehrtheit, das Eigentum von Individuen, von Personen in Gefahr bringt, sondern auch die Gefahr heraufbeschwört, daß die Fundamente der Demokratie erodieren. Insofern ist das nicht eine Gefahr unter vielen, sondern eine elementare Gefahr für unsere Gesellschaft.
Wer die Auseinandersetzungen in anderen europäischen Staaten kennt, in denen die organisierte Kriminalität ein sehr viel größeres Ausmaß angenommen hat als bei uns, und wer die Ratschläge kennt, die uns aus diesen Staaten erteilt werden, der muß
diese Debatte sehr, sehr ernst nehmen. Das sollten wir uns heute vornehmen.
Meine Damen und Herren, gerade auf dem Hintergrund der Tatsache, daß organisierte Kriminalität darauf aus ist, Macht über Geld zu erlangen, ist für uns das Hauptthema der Gespräche gewesen: Wie können wir die staatlichen Möglichkeiten verbessern, auf kriminell erworbenes Vermögen zuzugreifen?
({3})
Wir haben darauf großen Wert gelegt. Ich glaube, wir dürfen uns bestätigen, daß wir da zu sehr guten Ergebnissen gelangt sind,
({4})
daß da eine Reihe von Maßnahmen erarbeitet worden sind, die ihre Wirkung zeigen werden. Ich will an dieser Stelle darauf verzichten, die Einzelheiten darzustellen. Das wird mein Kollege Jürgen Meyer noch tun.
Herr Justizminister, eine Bemerkung Ihrer einführenden Worte hat mich aber gestört. Sie haben gesagt, die Umkehr der Beweislast hätten Sie verhindert. Das feiern Sie als einen Erfolg. Sie sprechen davon, auch ein Vermögen habe eine Unschuldsvermutung.
({5})
Diese rechtliche Begrifflichkeit kannte ich bisher noch nicht. Nach meiner Vorstellung gilt die Unschuldsvermutung für einzelne Personen, für einen Menschen, nicht aber für Vermögen.
({6})
Niemand in diesem Hause will die Unschuldsvermutung beseitigen. Das können wir auch gar nicht, noch nicht einmal mit verfassungsändernder Mehrheit; denn die Unschuldsvermutung gehört zu den Grundbestandteilen eines Rechtsstaates. Die Frage ist aber, ob Art. 14 des Grundgesetzes dem nicht entgegensteht.
Wir haben in den Verhandlungen den Wunsch geäußert, daß wir in Art. 14 der Verfassung klarstellen, daß bei großen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Nachweis legalen Erwerbs von Vermögen gesetzlich bestimmt werden kann.
Nach meiner Überzeugung geht das auch mit der geltenden Fassung des Art. 14. Deshalb haben wir auch von einer Klarstellung gesprochen. Es würde den Bemühungen um eine polizeirechtliche Regelung in den Ländern dienen, wenn Sie, Herr Bundesjustizminister, hier ans Pult treten und bestätigen würden, daß Art. 14 einer polizeirechtlichen Regelung, die auch eine Umkehr der Beweislast vorsieht, nicht entgegensteht. Dies wäre ein konstruktiver Beitrag. Dann kämen wir noch ein Stück näher zusammen.
Ich kann sehr gut verstehen, daß der zweite Teil dieser Vereinbarung, nämlich die Frage, in welchem Umfang zusätzliche - ich betone: zusätzliche - EinOtto Schily
griffe in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zulässig sind, in der öffentlichen Diskussion einen großen Raum einnimmt. Es wäre eher ein tadelnswerter Zustand, wenn das nicht der Fall wäre.
Ich sage auch: Wenn in meiner Partei um diese Frage gerungen wird, sehe ich das nicht als einen kritikwürdigen Tatbestand. Ich sehe es vielmehr als eher lobenswert an, daß eine Partei,
({7})
die sich auf den Boden der Verfassung stellt, natürlich große Schwierigkeiten hat, wenn es darum geht, ein solches Grundrecht einzuschränken. Ich glaube, das muß man gut verstehen.
Deshalb werde ich auch niemanden, der öffentlich Kritik äußert, kritische Einwände macht, zurückweisen. Wenn ein Mann vom Range und der Persönlichkeit eines Hans-Jochen Vogel, der die akustische Überwachung als solche nicht für unzulässig hält, sagt, daß wir uns an einer Stelle die Frage stellen müssen, ob wir mit dem Zeugnisverweigerungsrecht richtig umgehen, wäre ich sehr schlecht beraten, wenn ich einen solchen Hinweis einfach als Petitesse abtun würde. Im Gegenteil, einen solchen Einwand muß man außerordentlich ernst nehmen.
Allerdings stimme ich Herrn Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig zu, daß nach der Systematik der Verfassung die Zeugnisverweigerungsrechte nicht in den jeweiligen Grundrechtsformulierungen enthalten sind. Das gilt sowohl für Art, 10 als auch für Art. 13 der Verfassung.
Ich glaube, wir sollten noch einmal sehr stark unterstreichen, daß wir die akustische Überwachung nicht einführen. Sie ist bereits eingeführt. Sie ist nach der geltenden Fassung des Art. 13 Abs. 3 der Verfassung zu präventiven Zwecken zulässig.
({8})
Wir erweitern sie nur auf die repressive Seite, wobei auch die Rechtsprechung sie zum Teil schon auf die repressive Seite erweitert hat. Es ist richtig, als Grundgesetzgeber hier etwas zu tun und es in diesem Punkt nicht der Rechtsprechung zu überlassen, zumal es uns gelungen ist - das ist sicherlich auch ein Verdienst der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands -, auch im präventiven Bereich die rechtsstaatliche Sicherung erheblich zu verbessern.
({9})
An dieser Stelle, Herr Kollege Scholz, muß ich nun etwas sagen: Sie haben gesagt, Art. 13 sei ein wenig zu groß und umfangreich geraten. Ich darf Sie daran erinnern, daß auch Vorschläge von Ihrer Seite in den Verhandlungen dazu sehr stark beigetragen haben. Ich kann mich an den Verlauf der Verhandlungen sehr gut erinnern. Nicht alles, was zur Aufblähung des Art. 13 geführt hat, ist von unserer Seite gekommen. Sie haben an bestimmten Stellen auch Wünsche geäußert. Hier denke ich an den Absatz bezüglich der Eigensicherung. Dies war ein vernünftiger Vorschlag. Wir haben es auch gemeinsam erarbeitet.
Es gibt noch einen offenen Punkt, zu dem wir - das wissen Sie auch - einen Prüfungsvorbehalt geäußert
haben. Aber dies ist ein gemeinsames Werk, und zu dem sollten wir stehen, auch soweit einige Probleme damit verbunden sind.
({10})
Herr Scholz, ich glaube, daß Sie mit Ihrer Wortwahl völlig danebenliegen, und ich weise das zurück. Frau Leutheusser-Schnarrenberger und mein Fraktionskollege Conradi haben völlig recht, wenn sie sagen, Ihre Wortwahl „akustische Überwachung von Gangsterwohnungen" ist verfehlt. Es ist völlig richtig, wenn das gesagt wird.
({11})
Wir sollten ohnehin aufpassen. Wir machen alle solche Fehler. Ich habe damit selber meine Erfahrungen zum Beispiel in Strafprozessen, daß man einen Anwalt, der in einem Prozeß mit schweren Anklagevorwürfen verteidigt, in einer gewissen Weise tituliert. Wenn ein Verteidiger in einem Mordprozeß auftritt, ist er kein Mordverteidiger, sondern ein Verteidiger, der einen Beschuldigten gegen einen schweren Vorwurf verteidigt.
({12})
Ein Verteidiger, der in einem Steuerverfahren verteidigt, ist kein Steuerhinterzieherverteidiger, sondern ein Verteidiger, der einen ordentlichen Beruf ausübt. Und wenn in einem Ermittlungsverfahren eine Wohnung überwacht wird, dann ist es nicht von vornherein eine Gangsterwohnung, sondern dann ist es eine Wohnung - so haben wir es in der Verfassung definiert -, in der „der Beschuldigte sich vermutlich aufhält". Er ist noch kein Gangster, sondern nur Beschuldigter; erst am Ende eines fairen Prozesses werden wir sehen, ob der Vorwurf berechtigt ist oder nicht. So geht das in einem Rechtsstaat zu und nicht anders.
({13})
Meine Damen und Herren, ich finde allerdings eine Bemerkung des Kollegen Scholz richtig, und zwar in der Erwiderung auf Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Wenn es um die Einschränkung eines Grundrechtes von hohem Rang geht wie in Art. 13 und wir die Einschränkung zulassen, dann geht es uns auch darum, eine Güterabwägung unter verschiedenen Grundrechten zu vollziehen.
({14})
Wir haben es uns zu sehr angewöhnt - das ist ein bißchen die Denkweise des ausgehenden 19. Jahrhunderts -, die Grundrechte nur als Abwehrrechte gegen Übermaß des Staates zu verstehen. Sicherlich war das ein hoher Wert in einem Rechtsstaat und in einer Demokratie
({15})
und ist das Merkmal, das einen Rechtsstaat von
einem totalitären Staat unterscheidet. Wenn wir die
Grundrechte nicht hätten, könnten wir uns nicht
rühmen, ein Rechtsstaat zu sein. Ein totalitärer Staat nimmt sich die Befugnis, in jedes private Lebensverhältnis einzugreifen. Also hat gerade Art. 13 einen hohen Rang. Aber wenn es darum geht, das Leben eines Menschen bei einer Geiselnahme zu retten, dann ist schon nach der geltenden Verfassung das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung minderen Ranges.
({16})
Deshalb erlaubt sich der Staat dann, zugunsten des Lebens einer Geisel einzugreifen.
Das tun wir jetzt auch im Bereich der Repression. Das lassen wir zu; sonst kommen wir zu den absurdesten Ergebnissen. Leider muß sich die Polizei manchmal fragen, wohin wir gekommen sind, wenn man zum Beispiel bei einer präventiven akustischen Überwachung feststellt, daß diejenigen, die gehindert werden sollen, einen Mord zu begehen, bei dieser Gelegenheit erklären, sie hätten schon einen begangen, und dann eine solche Erkenntnis nicht verwertet werden kann. Das ist absurd. Eine solche Absurdität beseitigen wir mit diesem Vorhaben.
({17})
Meine Damen und Herren, ich finde, wir sollten uns vornehmen, in den Ausschußberatungen sehr sorgfältig alle noch vorhandenen Einwände zu bedenken und uns nicht aufs Podest zu stellen und zu sagen, wir hätten überall der Weisheit letzten Schluß gefunden. Wenn es vernünftige Anregungen gibt, sollten wir sie sorgfältig prüfen und uns nicht scheuen, notfalls noch das eine oder andere Wort zu verändern.
Lassen Sie mich schließen. Das, was wir vereinbart haben, messen Sie bitte an zwei Fragen: Verbessert es die Möglichkeiten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, ja oder nein? Und: Sind die rechtsstaatlichen Sicherungen, die wir vereinbart haben, ausreichend, ja oder nein? Ich beantworte beide Fragen mit Ja. Deshalb bitte ich Sie, dieses Gesetzesvorhaben positiv zu begleiten.
Vielen Dank.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir liegen mehrere Wünsche auf Kurzinterventionen vor. Ich schlage vor, daß wir zunächst den ersten Durchgang beenden und dann die Meldungen gemeinsam abwickeln, weil sich die Debatte sonst völlig zerfasert.
Als nächste hat die Abgeordnete Kerstin Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, selten ist den Bürgerinnen und Bürgern so viel Sand in die Augen gestreut worden wie in dieser
Debatte um den großen Lauschangriff. Herr Scholz, es wird wieder der Eindruck erweckt, der große Lauschangriff sei ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität und zur Abwehr von Verbrechen. In der Tat, Herr Schily, das ist eine der wichtigen Fragen. Davon kann aber - so meinen wir - bei Betrachtung der Tatsachen überhaupt keine Rede sein.
Gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Schily?
Ich habe zwar bisher kaum etwas ausgeführt.
Frau Kollegin, ich verstehe, daß Sie nicht gern am Beginn Ihrer Ausführungen eine Zwischenfrage zulassen. Ich fürchte aber, Sie kommen nachher nicht mehr auf diesen Punkt zurück.
Doch!
Sie stellen eine wichtige Frage. Sie fragen, ob die akustische Überwachung in der Praxis überhaupt Erfolgsaussichten hat. Diese Frage ist durchaus berechtigt.
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, Frau Kollegin: Luigi Violante, ein Mann mit Erfahrung in der Verbrechensbekämpfung - er ist heute Präsident des italienischen Parlaments und war früher Vorsitzender des Antimafiaausschusses -, hat uns in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung" ausdrücklich empfohlen, die akustische Überwachung einzuführen, weil damit im Kampf gegen die Mafia Erfolge erzielt worden sind. Würden Sie, wenn Sie diese Meinung hören, nicht vielleicht bedenken wollen, daß bestimmte Erfolgsaussichten vorhanden sind?
({0})
Herr Schily, ich kenne diese Äußerungen und die Zahlen aus Italien, ich kenne aber auch die Zahlen aus den USA. Ich wollte in der Tat auf diese Sache zurückkommen. Ich muß Ihnen sagen. Diese Zahlen überzeugen mich nicht. Ich nenne Ihnen die Zahlen, die wir aus den USA haben.
({0}) - Sie müssen stehen bleiben.
({1})
Dort wurden bei 900 Überwachungsmaßnahmen - das muß man sich vor Augen führen - 498 000 Personen und 5,6 Millionen Kommunikationsvorgänge belauscht, also mehr als 500 Personen und 6000 Gespräche pro angeordnete Maßnahme. Ganze 1,3 ProKerstin Müller ({2})
zent der Betroffenen wurden danach als Kriminelle überführt, alle übrigen, 98,7 Prozent, wurden unbegründet überwacht. Noch eine Zahl: In zehn Jahren wurden als Folge solcher Lauschangriffe in den USA nur 26 Täter verurteilt.
Ich muß Ihnen sagen, Herr Schily: Diese Zahlen überzeugen mich nicht.
({3})
Frau Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Klaeden?
Nein, ich will jetzt fortsetzen. Man kann den Dialog später führen.
Ich bin der Meinung, daß von der Wirksamkeit des Lauschangriffs bei Betrachtung der Tatsachen keine Rede sein kann.
Sie heben das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, das die Mütter und Väter aus gutem Grunde - darauf hat Herr Schily hingewiesen -, nämlich aus den Erfahrungen mit dem totalitären Überwachungsstaat des Nationalsozialismus, ins Grundgesetz geschrieben haben, nach 48 Jahren praktisch auf. Daran möchte ich erinnern.
Das ist eine wirklich ernste Sache. Herr Scholz, ich finde es wirklich unglaublich - ich gebe Frau Leutheusser-Schnarrenberger ausdrücklich recht -, mit welcher Leichtfertigkeit und in welchem Stil Sie dieses Grundrecht abwickeln.
({0})
Es geht keineswegs nur um Gangsterwohnungen. Im Gegenteil: Sie erlauben den Eingriff in die Privatsphäre einer Vielzahl von Menschen, von Verdächtigen, aber auch von Unverdächtigen in einem noch nie dagewesenen Umfang. Zur wirksamen Bekämpfung der Kriminalität leisten Sie damit überhaupt keinen Beitrag. Deshalb lehnt meine Fraktion den großen Lauschangriff ab.
({1})
Ich möchte eines klarstellen: Viele Menschen meinen, es ginge um das Verhindern von Verbrechen, um mehr Sicherheit vor Verbrechen. Gerade darum geht es aber nicht: Es geht bei dieser Verfassungsänderung nicht um die Abwehr von Gefahren durch die Polizei. Die Polizei darf heute schon zur Verhinderung von Verbrechen alles Notwendige tun, insbesondere darf sie Wohnungen abhören, um Verbrechen zu verhindern und konkrete Gefahren abzuwehren.
Beim großen Lauschangriff geht es um etwas anderes. Es geht ausschließlich um die Ermittlung bei Verbrechen, die bereits vollständig abgeschlossen sind.
({2})
Das ist natürlich wichtig. Auch wir wollen, daß Menschen, die Verbrechen begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu allerdings - ich sagte es bereits - trägt der große Lauschangriff nur sehr wenig bei, dafür verletzt er die Bürgerrechte zahlreicher unschuldiger Bürgerinnen und Bürger.
Der langjährige Abhörexperte der SPD, Professor Claus Arndt, hat gesagt, vermutlich werden eben vor allem unschuldige Menschen Opfer der Überwachung sein. Ich habe eben die Zahlen aus den USA genannt. Die Zahlen aus Italien sind ähnlich. Ich finde, daß das deutlich macht, daß man den Grundrechtseingriff, den Eingriff in die Bürgerrechte an diesem Punkt nicht hinnehmen darf.
({3})
Die Zahlen zeigen eben auch: Es stimmt nicht, daß sich der Lauschangriff nur gegen Schwerverbrecher richtet. Eltern, Arbeitgeber, Freunde, Kollegen: Jeden kann es treffen. Der Lauschangriff wird wirklich in die Privatsphäre vieler unbeteiligter Bürger eingreifen, und zwar ohne daß sie sich wirklich dagegen wehren können. Die Pflicht zur Unterrichtung nicht Beschuldigter und der Rechtsanspruch auf Vernichtung des gesammelten Materials sind nach unserer Ansicht in Ihrem Entwurf völlig unzureichend geregelt.
Damit aber nicht genug. Auf einen der schwerwiegendsten Eingriffe in rechtsstaatliche Grundsätze hat jüngst noch einmal der langjährige Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Jochen Vogel, aufmerksam gemacht. Auch im Beichtstuhl, in der Anwaltskanzlei, im ärztlichen Sprechzimmer und in der Redaktion können künftig Wanzen installiert werden, wenn dort, so Ihr Gesetzentwurf, „der Beschuldigte sich vermutlich aufhält". Herr Vogel hat dazu in der „Süddeutschen Zeitung" ausgeführt:
Gerade deshalb muß klar geregelt werden, daß die Ergebnisse solcher Lauschangriffe im Strafprozeß nicht verwertet werden dürfen und unverzüglich zu löschen sind.
Er fährt fort:
Das ist nun wirklich der Kernbereich des Persönlichkeitsrechts, der unter gar keinen Umständen angetastet werden darf.
Ich denke, er hat völlig recht.
({4})
Ihr Gesetzentwurf trägt dem überhaupt nicht Rechnung. Das Zeugnisverweigerungsrecht, das Pfarrer,
Kerstin Müller ({5})
Ärzte, Anwälte und Journalisten im Verfahren bisher haben, wird durch die Grundgesetzänderung faktisch unterlaufen. Sie machen damit den bisher gesetzlich gewährten Vertrauensschutz zur Falle, und zwar nicht nur für die Beschuldigten, sondern auch für die geschützten Vertrauenspersonen.
Nun argumentieren Sie, die Mißbrauchsgefahr sei durch den Richtervorbehalt gebannt. Jeder Lauschangriff müsse schließlich durch ein Kollegium von drei Richtern genehmigt werden. Das heben Sie allerdings sofort wieder auf; denn bei sogenannter Gefahr im Verzuge genügt nämlich auch ein Einzelrichter.
Die Praxis aus dem Haftrecht zeigt, daß gerade heikle Fälle gerne nachts und am Wochenende fachfremden Einzelrichtern vorgelegt werden. In jedem Fall, ob Einzelrichter oder Kollegialgericht, sind die Kontrollmöglichkeiten extrem gering. Die Richter sind vollständig auf den Sachvortrag der Ermittlungsbehörden angewiesen. Die Möglichkeit zur eigenen Überprüfung haben sie in der Praxis eben nicht. Man könnte sagen: Das Gericht kommt in die Rolle einer Theaterkasse, die Eintrittskarten zu einem Stück verteilt, ohne die Vorstellung zu kennen.
Ich komme noch einmal zu den USA. Sie bleiben hier weit hinter den Vorschriften in den USA zurück. Dort bleibt nämlich das Gericht während des ganzen Verfahrens persönlich verantwortlich: von der ersten Anordnung bis zum Abschlußbericht. Das ist bei Ihnen überhaupt nicht geregelt.
Also viel Aufwand, enormer Grundrechtseingriff und minimaler Erfolg. Wir meinen, solch hektischer Aktionismus bringt uns nicht weiter. Wirksame Kriminalitätsbekämpfung sieht anders aus, Jugendkriminalität bekämpft man am besten, indem man den Jugendlichen Ausbildungs- und Arbeitsplätze gibt.
({6})
Die Drogenmafia und ihre Riesenprofite bekämpft man am besten, indem man die Drogenabhängigen endlich als Kranke und nicht mehr als Kriminelle behandelt.
({7})
Frau Müller, Herr von Klaeden bittet noch einmal um eine Zwischenfrage.
Ja.
Ich bedanke mich, Frau Kollegin, daß Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben eben noch einmal, wie zu Beginn Ihrer Rede, die Vereinigten Staaten angesprochen. Ich weiß nicht, ob die Zahlen, die Sie genannt haben, richtig sind. Aber ich will Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß unter diesen nach Ihren Angaben 26 Verurteilten auch der Mafia-Boß von New York gewesen ist, der für den „Paten" von Mario Puzzo
immerhin die Vorlage geliefert hat, und nach übereinstimmenden Erkenntnissen der Anklage und des Gerichts nur überführt werden konnte, weil die akustische Wohnungsüberwachung dort möglich gewesen ist.
Ich sagte es schon: Die akustische Wohnraumüberwachung ist auch heute schon im präventiven Bereich möglich.
({0})
- Moment. Auch damit erzielt man heute schon große Erfolge. Es mag zwar stimmen, daß der Sachverhalt so ist, wie Sie ihn darstellen. Aber trotzdem - Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat es hier noch einmal gesagt -: Es geht hier um eine Güterabwägung: Grundrechtseingriffe, Eingriff in Bürgerrechte von vielen Menschen, Zeugnisverweigerungsrecht, das unterlaufen wird, das muß man natürlich mit dem Interesse abwägen, Schwerverbrecher zu fassen.
Ich finde, die Zahlen aus den USA und aus Italien zeigen, daß diese Güterabwägung im Falle des großen Lauschangriffs aus unserer Sicht jedenfalls falsch getroffen wurde. Wir sind angesichts der vorliegenden Zahlen der Meinung: Der große Lauschangriff ist nicht das richtige Mittel. Es gibt viele Maßnahmen, organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Wenn man sich überlegt, daß hierfür ein schwerwiegender Eingriff in Grundrechte notwendig ist, kommen wir zu dem Schluß: Es lohnt sich nicht.
({1})
Ich war gerade bei den Maßnahmen der Drogenpolitik. Die Drogenpolitik ist quasi ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Drogendealer. Sie garantieren mit Ihrer repressiven Drogenpolitik der Drogenmafia die Profite. Auch gegen die Beschaffungskriminalität, gegen diese vielen Taschendiebstähle und Einbrüche, ist eine humane Drogenpolitik das beste Mittel. Das sieht man in Frankfurt und in der Schweiz. Aber Sie wollen aus diesen Erfahrungen nicht lernen. Sie verschließen hier einfach die Augen.
({2})
Wer den organisierten Frauenhandel bekämpfen will, muß endlich die Prostitution als Beruf anerkennen und die Opfer schützen, weil sie die wichtigsten Zeuginnen gegen die Menschenhändler sind, statt sie, wie man es heute macht, als illegal eingewanderte Ausländerinnen abzuschieben. Das wären wirksame Maßnahmen.
({3})
Auch in der Polizeipraxis gäbe es vieles zu verbessern. Die Polizei soll Verbrechen bekämpfen, statt Schwarzfahrer zu jagen und Blechschäden zu protoKerstin Müller ({4})
kollieren. Der große Lauschangriff wird die Polizei aber von dieser Arbeit der Verbrechensbekämpfung in noch größerem Stil abziehen. Polizeipräsidenten sagen uns, daß zukünftig bis zu 10 Prozent ihres Personals durch die Lauschaktionen gebunden werden, das dann in anderen Bereichen fehlt wie zum Beispiel auf der Straße. Was für ein Unfug!
Meine Damen und Herren, seit 1949 ist dieses Land ohne den großen Lauschangriff ausgekommen.
({5})
Weder die Verfolgung der Naziverbrechen noch das KPD-Verbot, weder der Terrorismus der 70er Jahre noch die Spionage im kalten Krieg führten zur Aufgabe dieses Grundrechts.
({6})
Jetzt wollen Sie auf einmal diese Verfassungsänderung im Schweinsgalopp durchsetzen. Ich frage mich: Warum haben Sie es eigentlich so eilig? Sie stehen da wohl unter einem ziemlich seltsamen Termindruck: Sie wollen wohl möglichst noch vor der Regierungsbildung in Hamburg fertig sein oder wenigstens vor dem SPD-Parteitag im Dezember, auf jeden Fall aber vor der Landtagswahl in Niedersachsen. Offensichtlich fühlen Sie sich bedroht, in diesem Fall allerdings nicht von der organisierten Kriminalität, sondern von den Wählerinnen und Wählern und von Ihren eigenen Parteimitgliedern.
({7})
Denn Sie, meine Damen und Herren von der SPD und der F.D.P., brechen mit diesem Entwurf in krasser Weise die Zusagen, die Sie Ihren Parteimitgliedern gegeben haben. Der Mitgliederentscheid der F.D.P. legt als Mindestbedingungen fest: Voraussetzung dringender Tatverdacht - nicht umgesetzt; Beschränkung auf schwerste Straftaten - nicht umgesetzt; Anordnung ausschließlich durch drei Richter - nicht umgesetzt; striktes Verwertungsverbot - nicht umgesetzt. Meine Damen und Herren von der F.D.P., mit diesen Versprechungen, diesen Mindestbedingungen, haben Sie Ihren Mitgliedern die Zustimmung zur Verfassungsänderung abgerungen. All das ist nicht erfüllt. Sie sind wieder einmal umgefallen.
({8})
Sie machen Ihren eigenen Mitgliederentscheid lächerlich, wenn Sie dem zustimmen.
({9})
Auch bei der SPD - ich kann es Ihnen nicht ersparen - sieht es nicht besser aus. Sie haben auf Ihrem
Parteitag versprochen: Zweidrittelmehrheit für alle Begleitgesetze - Fehlanzeige; Lauschangriff nur als Ultima ratio - Fehlanzeige
({10})
- Sie können ja gleich etwas dazu sagen -; vorherige Zustimmung einer Parlamentskommission - Fehlanzeige, sie gibt es nicht; Einschränkungen beim präventiven Lauschangriff - Fehlanzeige, gibt es nicht; striktes Verwertungsverbot - gibt es nicht.
({11})
Nachdem Herr Glogowski das alles fallengelassen hatte, verhöhnte er auch noch Ihren Beschluß nach dem Motto: Was bei Verhandlungen herauskomme, sei ja immer etwas anderes, als Parteitage sich vorstellten. Die Schutzvorschriften, um die Ihr Parteitag heftig gerungen hat, sind plötzlich alle nur noch Schall und Rauch. Aus Ihren Mindestbedingungen zum Schutz des Grundrechts wurde schlichter Ramsch auf einem Basar.
({12})
Frau Müller, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich möchte das gerne noch zu Ende führen, weil diese Grundgesetzänderung so wichtig ist. Ich bin gleich fertig.
Ich frage mich: Was treibt Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P. und SPD, zu dieser Selbstaufgabe? Ich glaube, der F.D.P. sind die Bürgerrechte egal, wenn sie nur Schulden machen und Steuergeschenke verteilen darf.
({0})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben noch am 16. Juni 1997 im Parteirat beschlossen, es sei „unabdingbar, alle Bedingungen des Wiesbadener Parteitags vom 18. November 1993 einzuhalten" . Jetzt hört man kein Wort mehr davon. Jetzt müssen Sie wohl den Preis für das Sommertheater des künftigen Kanzlerkandidaten zahlen. Im Wettlauf mit der Union um mehr Law and order scheint mir die kriminalpolitische Vernunft heftig Schaden zu nehmen.
Wir Bündnisgrüne werden den großen Lauschangriff mit allem Nachdruck bekämpfen. Die Grundrechte dürfen nicht zur Spielwiese für symbolische Politik werden. Es wird sich zeigen, ob Herr Kanther im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit für seinen großen Lauschangriff an einem - wie er sagte - großen Tag der CDU/CSU-Fraktion findet.
Danach stehen die Länder in der Verantwortung. Ich hoffe, spätestens im Bundesrat wird diese GrundKerstin Müller ({1})
rechtsverschlankung der großen Koalition durch eine kleine Koalition der Vernunft verhindert.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Kleinert.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Frau Kollegin Müller, wenn man alle Argumente, die irgendwie dagegensprechen, so aneinanderreiht, daß sie sich selbst widersprechen, kann das nicht gutgehen.
Ich möchte ein herausragendes Beispiel dieser Art von Logik erwähnen: Sie haben gesagt, im Bereich der Prävention habe sich das Abhören bewährt; das sei eine ganz tolle Sache.
({0})
Aber im Bereich der Repression habe das alles keinen Sinn.
Ein großes Verdienst der Sozialdemokratischen Partei in diesen Verhandlungen ist gewesen - da kann ich Herrn Schily nur nachdrücklich recht geben -, daß sie im Gegensatz zu dem, was Sie, Frau Müller, gesagt haben, erklärt hat: Moment mal, wenn man sich über die Problematik des Eingriffs in das Prinzip der Unverletzlichkeit der Wohnung unterhält, dann muß man die Prävention mit einbeziehen und neben die Repression stellen.
Wir haben diese Gespräche in der Koalition schon geführt, bevor wir uns mit Ihnen unterhalten haben. Wir sind in diesem Punkt ganz brav - das können alle bestätigen -:
({1})
Was wir vereinbart haben, haben wir eingehalten. Zum Schluß haben wir zwar mehr geschwiegen, aber es ist dennoch gutgegangen.
Ich will mich mit dem Angriff von Frau Müller, der auf der Grundlinie „Bei der Prävention ist es prima, bei der Repression geht es nicht" basiert, nicht weiter befassen. Ich möchte vielmehr auf die Frage zu sprechen kommen, warum das alles so lange dauern mußte.
Eben habe ich das Wort Schweinsgalopp - jetzt komme ich doch wieder auf die Rede von Frau Müller zurück - gehört. Andere haben gefragt: Warum mußte das alles so lange dauern? Das mußte aus gutem Grund so lange dauern, weil es sich um eine der weitreichendsten Verfassungsänderungen handelt, mit denen wir je zu tun hatten. Diesem Problem haben wir uns gestellt. Wir haben innerparteilich gerungen und daran gearbeitet.
Was Sie über unseren Mitgliederentscheid gesagt haben, war von wenig Tatsachenkenntnis geprägt. Wir haben fast alles, was dort enthalten ist, durchgesetzt. Jene, die den Sinn von Worten erfassen können
und nicht nur am Wortlaut kleben, werden dies jedenfalls erkennen. Es war eine sehr schwierige Operation, uns aufeinander zuzubewegen. Dazu haben wir natürlich Zeit gebraucht.
Ein besonders schöner Satz des Grundgesetzes lautet: „Die Wohnung ist unverletzlich." Würde dieser Satz alleinstehen, wären eine Reihe von Vorwürfen noch viel schwerwiegender, als sie ohnehin schon sind. Dieser Satz steht aber nicht allein. Wer die folgenden Absätze 2 und 3 liest, fragt sich, warum man einen solch schönen ersten Satz aus vier Worten gebildet hat, wenn man anschließend zu Zwecken der Wohnungsbewirtschaftung und der Seuchenbekämpfung verschiedene Bestimmungen hinterher-schiebt, mit denen dieser klare und eindeutige Grundsatz wieder aufgeweicht wird. So steht es schon sehr lange im Grundgesetz.
Darauf rekurrieren wir aber nicht, sondern wir haben eine Güterabwägung vorzunehmen zwischen diesem ganz besonders wichtigen Recht, irgendwo für sich zu sein und sich von niemandem belauschen oder gar beobachten zu lassen - das ist nun Gott sei Dank vermieden worden -, und der Bekämpfung schwerster Kriminalität. Herr von Klaeden hat doch recht: Es kommt nicht darauf an, ob es 26 Leute gewesen sind, die verurteilt worden sind, sondern es kommt darauf an, welche 26 das gewesen sind,
({2})
welche Rolle sie für die kriminelle Szene in den Vereinigten Staaten gespielt haben und ob man sie anders hätte dingfest machen können. Dann sind 26 sehr viel.
Wir möchten nicht, daß hier ständig 10 Prozent der Polizeibeamten für Lauschangriffe eingesetzt werden. Man ist wirklich in Versuchung, trotz der so ernsten Sache heiter zu werden. Wir werden vielleicht ein oder zwei solcher Fälle im Jahre haben, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten. Aber dann wird es sich auch um die ganz wichtigen Dinge handeln, die man anders nicht in den Griff bekommen kann. Da haben wir uns in der Abwägung allerdings entschlossen, zu sagen: Wir können es den Bürgern und wir können es den Beamten, die mit der Verbrechensbekämpfung in unserem Staat betraut sind, nicht zumuten, auf eine wichtige Möglichkeit der Verbrechensbekämpfung dauerhaft zu verzichten,
({3})
wenn die Aussicht besteht, daß dabei etwas sehr Wichtiges herauskommt. Daß das die Ausnahme bleiben muß, ist überhaupt keine Frage.
Schwarz oder weiß, böse oder gut, das sind nicht die Regeln, mit denen man so etwas behandeln kann. Der Gesamtrahmen, in dem diese Entscheidung steht, ist mindestens so wichtig wie die Entscheidung an und für sich. Das ist nicht mit schwarz oder weiß zu handhaben.
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Häfner?
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Kleinert, Sie hatten zu Beginn Unterscheidungsvermögen eingefordert, aber anschließend nicht - was mich verwundert hat - zwischen Prävention und Repression unterschieden. Zuletzt haben Sie auch noch die Seuchenbekämpfung und den Strafanspruch des Staates gleichgesetzt, was mich gerade vor dem Hintergrund der doch sehr anrührenden und ernstzunehmenden Äußerung Ihrer Fraktionskollegin Leutheusser-Schnarrenberger verwundert, die darauf hingewiesen hat, daß wir, wenn wir in ein solches Grundrecht eingreifen, einen sehr dringlichen Grund brauchen.
Ich frage Sie vor diesem Hintergrund zum einen, ob Sie in der Tat die Seuchenbekämpfung und den Strafanspruch des Staates gleichstellen wollen, und ich frage Sie zum anderen, ob Sie weiterhin hier behaupten wollen, daß das, was in Ihrem Mitgliederentscheid beschlossen wurde, beispielsweise dringender Tatverdacht, schwerste Straftaten, drei Richter, striktes Verwertungsverbot, in Ihrem Gesetzentwurf tatsächlich noch enthalten ist, oder ob Ihnen auch hier das Unterscheidungsvermögen abhanden gekommen ist.
Das ist ganz wesentlich enthalten. Wir haben jetzt im Grundgesetz das Kollegialgericht, das hier zu entscheiden hat, verankert, und wir haben eine Ausnahme für die Fälle gebildet, in denen das praktisch nicht anders zu regeln ist, weil wir uns auch der Wirklichkeit des Lebens zu stellen haben. Daraus abzuleiten, wir hätten uns nicht buchstabengetreu an unseren Mitgliederentscheid gehalten, und uns das vorzuwerfen, ist verhältnismäßig unredlich, wenn man bedenkt, wie wenig Sie Ihre Mitglieder an solchen Entscheidungen beteiligen.
Was Sie zur Seuchenbekämpfung gesagt haben, müssen Sie irgendeiner anderen Rede entnommen haben.
({0})
Ich habe hier den Wortlaut des geltenden Textes zitiert und beklagt, daß der klare Text des Abs. 1 in den folgenden Absätzen wirklich ein wenig schlecht behandelt worden ist, schon von den vorhin zitierten Müttern und Vätern. Ich habe das keineswegs mit der Kriminalitätsbekämpfung verglichen. Das müßten Sie mir dann an Hand des Protokolls nachweisen. Darum will ich jetzt wirklich nicht weiter darauf eingehen.
Bei allem Dank für das, was wir gemacht haben und wie wir es gemacht haben, muß ich sagen: Machart und Ergebnis der Verhandlungen über diese wichtige Änderung unseres Grundgesetzes und die damit verbundenen Ergebnisse hängen eng zusammen. Wenn viele Leute schon im Frühjahr gewußt hätten, was in unserer Arbeitsgruppe, Herr Schily, zur Geldwäsche im wesentlichen vereinbart worden war, dann wäre das bis zum Sommer so zerschrieben worden, daß wir heute nicht zur Verabschiedung eines Gesetzes kommen könnten. Da wir
aber alle zusammen klug genug waren, unsere Gespräche miteinander und nicht über die Tagespresse zu führen, haben wir heute das schöne Ergebnis, daß wir zu einer Abstimmung kommen können. Das wäre uns sonst nicht gelungen. Ich sage das an die Adresse von Kollegen aus anderen Arbeitsbereichen, damit sie vielleicht in Zukunft auf dieses Rezept zurückgreifen können. Das darf man ja einmal erwähnen.
Aber bei all dieser Anerkennung besonders der Verdienste, die sich Herr Schily und Herr Schmidt-Jortzig als Verhandlungsführer erworben haben, die Herr Meyer sich im Gesamtbereich der Geldwäsche erworben hat: Wir hätten es wirklich nicht übers Herz gebracht, Art. 14 bei der Gelegenheit auch noch zu ändern und die Eigentumsrechte so zu relativieren, wie es zur Durchsetzung gewisser Vorstellungen wohl notwendig gewesen wäre. Darum sind wir sehr dankbar, daß jetzt ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der Geldwäsche gefunden worden ist, ohne daß eine solche Änderung einer wirklichen Grundsäule unserer Verfassung notwendig geworden ist.
In diesem Zusammenhang habe ich nur eins anzumerken: Es wundert mich gerade bei Ihnen, Herr Schily, als angesehenem Strafverteidiger, daß Sie so locker mit dem Wort Beweislastumkehr umgehen mögen. Ich bin wirklich der Meinung, es breitet sich geradezu bösartig epidemisch aus, daß immer dann -
Herr Abgeordneter Kleinert, kommen Sie wohl zum Schluß? Sie haben schon reichlich überzogen.
Ich bitte vielmals um Vergebung, Frau Präsidentin, aber ich hatte die Frage von Herrn Häfner noch irgendwie im Kopf.
({0})
Die Zeit ist überzogen. Es kommen auch noch die Kurzinterventionen.
Es mußte so lange dauern - wenn ich zum Schluß kommen darf -, weil wir uns sehr viel Mühe mit einem so wichtigen Grundrecht gemacht haben, wie es die Unverletzlichkeit der Wohnung ist. Aber es muß abgewogen werden und es muß in den richtigen Zusammenhang von rechtsstaatlichen Garantien gestellt werden. Es muß konditioniert werden. Dann können wir die Grundgesetzänderung nicht nur verantworten, sondern wir müssen es auch, weil die Sicherheit unserer Bürger ein Teil der Freiheit unserer Bürger ist.
({0})
Herr Schily, die Kurzinterventionen kommen nach der ersten Runde.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Es spricht noch der Kollege Uwe-Jens Heuer, danach kommen die Kurzinterventionen.
Ich verstehe das nicht. Sie haben eine Kurzintervention der Kollegin LeutheusserSchnarrenberger in der allerersten Runde zugelassen.
Ich habe eben die geschäftsordnungsmäßige Bemerkung gemacht, daß wir mehrere Kurzinterventionswünsche haben. Ich habe festgelegt, daß wir die Kurzinterventionen nach der ersten Runde zusammenfassen.
Bitte, Herr Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vorliegenden Gesetzentwürfen zur Änderung des Grundgesetzes und zur Verbesserung der Bekämpfung der sogenannten organisierten Kriminalität wird zweierlei behauptet. Erstens habe das organisierte Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland erheblich zugenommen. Zweitens sei es angesichts dessen nicht mehr vertretbar, die vor jeglichem staatlichen Eingriff geschützte Unverletzlichkeit der Wohnung weiterhin unbegrenzt zu gewährleisten. Die zunehmende Bedrohung durch organisierte Kriminalität mache es über das bisherige Instrumentarium hinaus erforderlich, die Möglichkeiten des Abhörens in Wohnungen zu verbessern, wie es heißt, sowie andere Maßnahmen zu treffen.
Beide Behauptungen gehören in den Bereich des populistischen Scheins. Sie beruhen weder auf einer Analyse des Kriminalitätsgeschehens, noch sind sie als Lösungen des Problems tauglich. Als eine angemessene Überschrift über beide Gesetzentwürfe wäre meines Erachtens die Überschrift des Artikels von Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung" vom 30. August dieses Jahres zu empfehlen,
({0})
nämlich „Rechtspolitik auf Irrwegen". Hans Schueler schrieb in der „Zeit" vom 5. September 1997 einen Artikel mit dem Titel „Arme Verfassung ... Und die Freiheit stirbt zentimeterweise". Die „Berliner Zeitung" vom 30. August 1997 titelte: „Ein Grundrecht stirbt". Dort hieß es dann - das ist eine Antwort an den Herrn Justizminister -:
Wer daraus jedoch folgert, die Bekämpfung von Schwerkriminellen rangiere vor dem Schutz der Freiheitsrechte, versündigt sich an der Substanz des Grundgesetzes.
Herr Scholz, sind das alles populistische Ausführungen? Noch eine Bemerkung an Ihre Adresse. Sie sprachen vorhin von der „sogenannten" Privatsphäre. Wann sprechen Sie auch von „sogenannten" Grundrechten?
Bundesinnenminister Kanter hat im Bonner „General-Anzeiger" vom 4. September 1997 auf die Frage, was man dem Wähler auf die Aussage, die Sicherheitslage habe sich in den letzten Jahren unter der Regierung Kohl verschlechtert, erwidere, geantwortet: „Daß das nicht stimmt. " Er fügte hinzu:
Ich würde dem Wähler nie sagen: Du täuschst dich in deiner Wahrnehmung. Ich würde ihm sagen: Deine Sorge um die Innere Sicherheit ist auch meine. Die Sorgen der Menschen sind ein Politikum.
Das heißt also: Er argumentiert nicht mit der Realität, sondern mit Ängsten, die zum Teil mit Hilfe der Koalition hervorgerufen worden sind.
Organisierte Kriminalität ist seit Jahren und wurde auch in der heutigen Debatte zur zentralen Rechtfertigungsschablone, um sehr weitreichende Ziele durchzusezten. Ich folge hinsichtlich der Beurteilung der organisierten Kriminalität der Position der Humanistischen Union in ihrer Stellungnahme vom 29. Januar 1994. Sie schrieb, es sei ein „schillernder, kein definierbarer Begriff ", der „alles und nichts" umfasse und wohl gerade deshalb als tauglich angesehen werde, die herrschende Kriminalpolitik des Law and order im besonderen Maße zu rechtfertigen.
Heute ist hier immer wieder von Güterabwägung die Rede. Der Grundrechtsabbau wird uns offeriert als „Verbesserung" polizeistaatlichen Handelns. Mir gibt die Zielstrebigkeit zu denken, mit der in dieser Frage vorgegangen wird. Einen ersten Vorstoß in dieser Richtung, und zwar mit grundsätzlich der gleichen Begründung wie in den vorliegenden Gesetzentwürfen, gab es bereits im Frühjahr 1993 seitens der CSU in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Schon damals wurde gesagt, daß dieses Vorgehen „unumgänglich" sei. Damals aber blieb dieser Vorstoß völlig isoliert. Die Zeit erschien unter dem Aspekt der massenpsychologischen Einstimmung für einen qualitativ neuen Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung wohl einfach noch nicht reif. Mittlerweile wurde die neue „Dimension der Bedrohung" erfolgreich herbeigeredet.
Ich bedaure es sehr, daß die SPD-Fraktion trotz der Warnung aus Hamburg nach vierstündiger Debatte am 30. September 1997 auf die Linie der Regierungskoalition unter Verletzung ihres Parteitagsbeschlusses umgeschwenkt ist. Heribert Prantl zitierte am 2. Oktober in der „Süddeutschen Zeitung" - nach meiner Meinung zu Recht - den Satz von Henning Scherf: „Die SPD kann beim Wettbewerb um law and order nur verlieren. " Ich halte es für beschämend und auch schlimm, in welcher Weise Herr Scholz am heutigen Tage mit seinem Partner umgegangen ist.
Mich beunruhigen die Zusammenhänge zwischen dem Projekt „großer Lauschangriff" und dem Gesamtkonzept der sogenannten inneren Sicherheit. Ich verfolge diese Entwicklung schon seit Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit seit Ende 1990. Der Abbau des Grundrechtsschutzes, um dafür angeblich mehr Sicherheit zu gewinnen, zielt unverkennbar darauf ab, die knapper werdenden staatlichen Ressourcen auf Repression zu konzentrieren. Dabei wird der Bevölkerung entgegen den Realitäten einDr. Uwe-Jens Heuer
geredet, mit diesem Konzept lasse sich Kriminalität zurückdrängen.
Die Verschärfung von Strafrecht und Grundrechtsabbau sind jedoch in keiner Weise taugliche Mittel, um das hochkomplexe gesellschaftliche Problem der Kriminalität zu bewältigen. Sie erweisen sich dagegen im Kontext mit der Schürung von Angst vor Kriminalität als ein sehr gefährliches und wirksames Mittel, um die Gesellschaft in autoritärer Richtung umzugestalten. Der Abbau des Rechtsstaates und der Abbau des Sozialstaates sind dabei nur zwei Seiten einer Medaille. Es gehört in meinen Augen schon eine gewisse Perfidie dazu, durch eine neoliberale Offensive soziale Desintegration und Perspektivlosigkeit vieler Menschen, insbesondere Jugendlicher, hervorzurufen und dann aus diesem Ergebnis das Erfordernis einer Umwandlung des Sozialstaates in den Repressionsstaat abzuleiten.
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Eine wirksamere Bekämpfung der Delikte, die sehr diffus mit dem Begriff der organisierten Kriminalität umschrieben werden, müßte in eine völlig andere Richtung gehen. Dazu ist hier von seiten des Bündnisses 90/Die Grünen schon sehr viel Richtiges gesagt worden, dem ich voll zustimme. Aber da nichts anderes geschieht, werden wir als Folge der vorgelegten Gesetze zwar eine Demontage unserer grundrechtsorientierten Verfassungsordnung bekommen, aber keine wirksame Zurückdrängung der Kriminalität erreichen. Die Bundesregierung hat ja auch keinerlei konkrete Angaben gemacht, welche Wirkung die bisher verabschiedeten Gesetze zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität zur Folge hatten.
Meine Damen und Herren, der Justizminister hat mir gesagt, ich hätte den unqualifizierten Zwischenruf „Spähangriff" gemacht. Der Spähangriff wird heute nicht beschlossen, damit man später sagen kann: Der Lauschangriff funktioniert nicht, also muß man jetzt den Spähangriff einführen. Das liegt doch auf der Hand. Ich nehme an, die meisten im Hause wissen das auch.
Damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Der grundrechtliche Rechtsstaat - dafür sind die uns vorliegenden Gesetzentwürfe geradezu ein Schulbeispiel - ist nicht mehr Maßstab der Rechtssetzung, sondern er wird ausgehöhlt. Das Verständnis des Rechtsstaates von 1949, nämlich früher - in Weimar - Grundrechte im Rahmen der Gesetze, heute Gesetze im Rahmen der Grundrechte, wird umgedreht. Im Rahmen des Systems der sogenannten inneren Sicherheit wird, wie Wolf-Dieter Narr formulierte, „staatssichernd in Bürgerrechte eingegriffen"
Meine Damen und Herren, wir haben die Entwicklung bei anderen Dingen gesehen. Wir haben erlebt, daß es Anfang der 80er Jahre 800 Telefonüberwachungen gab, und jetzt sind es 6 500. Das heißt, das wird sich ganz, ganz schnell entwickeln. Wir machen heute und in der nächsten Debatte einen gefährlichen Schritt.
Ich möchte das Fazit ziehen: Hier wird ein Grundrecht, um mit Herrn Scholz zu sprechen, ausgewogen
beschädigt. Je mehr sich der schlanke Staat seiner sozialen Verantwortung entzieht, desto mehr läßt er im Innern und im Ausland seine Muskeln spielen, einschließlich seiner Ohrmuskeln.
Danke schön.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Burkhard Hirsch. Er bezieht sich auf die Rede von Herrn Schily.
Herr Kollege Schily, wir streiten nicht über Kriminalitätsbekämpfung, sondern wir streiten über die Mittel, die dafür zulässig und einem Rechtsstaat angemessen sind. In einem Rechtsstaat gilt eben, daß nicht jedes Mittel recht ist. Ich sage Ihnen: Ein Staat, der sich außer zur Rettung eines Menschen aus konkreter Gefahr, aus Lebensgefahr, das Recht nimmt, bei einem einfachen Verdacht selbst das vertraute Gespräch von Ehepartnern in ihrer eigenen Wohnung heimlich zu belauschen, verändert seine Rechtsqualität und ist nicht mehr der Rechtsstaat, für den ich 50 Jahre lang eingetreten bin.
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Die Verfassungsänderung, die Sie uns ansinnen, läßt den Lauschangriff - und das Wort ist keine Erfindung der Gegner, sondern der Nachrichtendienste - bei einfachem Verdacht zu. Sie schützt nicht im mindesten irgendwelche Zeugnisverweigerungsrechte. Sie garantiert nicht einmal die Benachrichtigung der Betroffenen. Die Verfassungsänderung, die Sie uns vorschlagen, garantiert nicht einmal dem Verteidiger den Einblick in die Akten über das Erlauschte. Sie garantiert in keiner Weise den Inhalt der Benachrichtigung des Deutschen Bundestages, sondern überläßt all diese Fragen dem einfachen Gesetzgeber, der einfachen Änderung durch eine einfache Mehrheit, und sie macht diese elementaren Fragen nicht mehr verfassungsfest.
Darum müßten Sie sich die Frage stellen und sie beantworten, warum Sie nicht mindestens vorgesehen haben, daß das Änderungsgesetz zu Art. 13 - das Sie ja gleichzeitig mit vorlegen - einer Zweidrittelmehrheit zur Annahme oder zur Änderung bedarf. Dann könnten Sie in der Tat weit mehr Mindestgarantien einführen, die erforderlich sind, wenn dieses brutale Mittel der Isolierung des Menschen in unsere Rechtsordnung eingeführt werden sollte.
Ich sage Ihnen: Wer Sicherheit mit Freiheit erkaufen will, wird beides verlieren.
({1})
Herr Abgeordneter Schily.
Herr Kollege Hirsch, für Sie gilt das gleiche wie für den Kollegen Vogel. Wenn Sie hier kritische Einwände erheben, dann sollten wir diese nicht einfach abtun. Es ist Ihnen ja auch anzumerken, daß Sie die Sache sehr ernst nehmen. Ich will deshalb in ernster Form darauf eingehen.
Es geht nicht darum, die Kriminalitätsbekämpfung quasi zu monopolisieren und den anderen zu unterstellen, sie seien nicht der Auffassung, daß die Kriminalität bekämpft werden muß. Sie haben vollkommen recht: Es geht um die Wahl der Mittel. Nur, ich glaube, Sie sehen an einer Tatsache vorbei: Wir sprechen nicht darüber, ob die akustische Überwachung in Zukunft zulässig sein soll oder nicht. Sie ist bereits zulässig, und zwar zu präventiven Zwecken.
Gerade im Bereich der organisierten Kriminalität ist die Abgrenzung zwischen repressiv und präventiv außergewöhnlich schwierig, wie Sie alle als ausgebildete Juristen nachzuvollziehen wissen, weil es sich in aller Regel um Dauerdelikte handelt, und dann stellt sich die Problematik. Die Rechtsprechung ist damit konfrontiert worden und ist zum Teil zu unzureichenden Ergebnissen gekommen. Man muß deshalb überlegen, ob wir uns diese Frage, mit der die Justiz konfrontiert ist, als Gesetzgeber nicht stellen müssen. Damit haben wir uns beschäftigt.
Wir sind zu einem, wie ich finde, vernünftigen Ergebnis gekommen und haben die rechtsstaatlichen Sicherungen im präventiven Bereich gegenüber dem gegenwärtigen Rechtszustand sogar noch verbessert. Das sollten Sie bitte nicht übersehen.
({0})
Sie haben die Frage angesprochen: Sollen wir daran eine Zweidrittelmehrheit knüpfen? Manchem von dem, was Sie hier ansprechen - ich habe eine öffentliche Erklärung von Ihnen gesehen, da haben Sie gesagt, der gerichtliche Rechtsschutz von Betroffenen sei nicht ausdrücklich vorgesehen -, muß ich entgegenhalten: Das steht in der Verfassung, nämlich in Art. 19. Es steht natürlich auch in den einfachrechtlichen Bestimmungen.
Ich brauche doch wohl nicht in Art. 13 hineinzuschreiben: Art. 19 gilt nach wie vor. Dann würde ich mir den Vorwurf von Herrn Scholz noch weiter zuziehen, daß ich Art. 13 dermaßen aufgeschwemmt habe, daß er gar nicht mehr lesbar ist.
({1})
Natürlich gelten auch andere Rechtsgarantien fort, so auch das Rechtsstaatsprinzip, das nach Art. 20 unverrückbar ist. Deshalb gilt auch als Ausformung dieses Rechtsstaatsprinzips fort, daß beispielsweise das Verteidigergespräch nicht überwacht werden darf.
Ich möchte auf etwas hinweisen, was der Herr Justizminister schon angesprochen hat: Natürlich werden die Zeugnisverweigerungsrechte nicht angetastet. Schauen Sie sich Art. 10 an. Dort geht es auch um ein Grundrecht, Herr Hirsch. Finden Sie in Art. 10 irgendein Wort über das Zeugnisverweigerungsrecht? Oder finden Sie in den Ausführungsgesetzen zu Art. 10 irgendwo die Zweidrittelmehrheit? Sie müssen schon konsequent bleiben.
Hieran war ich im übrigen nicht beteiligt; Sie sind ein bißchen länger im Parlament. Sie müssen sich selber die Frage stellen, was denn mit Ihren eigenen Forderungen damals passiert ist. Haben Sie bei Ausführungsgesetzen zu anderen Artikeln die Zweidrittelmehrheit gefordert?
Wir haben das zwar auch als SPD beschlossen. Aber ich nehme mir die Freiheit, zu sagen, bei dem Beschluß habe ich eine andere Meinung als meine Partei. Es ist schwierig, einfache Gesetze an eine Zweidrittelmehrheit zu binden. Deshalb haben wir, um wichtige Bestandteile an eine qualifizierte Mehrheit zu binden, eine ganze Menge in die Verfassung hineingeschrieben.
Ich bitte Sie wirklich, noch einmal sehr sorgfältig die einfachen Gesetze zu prüfen. Sie werden bei sorgfältiger Lektüre dessen, was wir vereinbart haben, feststellen: Viele Ihrer Einwände haben keine Grundlage.
Kommen Sie zum Schluß, Herr Schily.
Ihre Einwände haben auch insofern keine Berechtigung, als vieles an anderer Stelle der Verfassung garantiert ist. Aber ich denke, der Kollege Meyer wird noch einmal auf diese Gesichtspunkte eingehen. Ich bitte angesichts der knappen Zeit für eine Kurzintervention um Nachsicht dafür, daß ich dies nicht im Detail ansprechen kann.
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Herr Abgeordneter Dr. Schmidt-Jortzig, Sie haben das Wort zur Kurzintervention.
Herr Kollege Schily, in Ihrer Rede, für deren Ausgewogenheit und Sachlichkeit ich mich ausdrücklich bedanke, haben Sie eine Bemerkung gemacht, zu der ich doch noch Stellung nehmen will, nämlich zu dem Stichwort „Unschuldsvermutung".
Natürlich geht es nicht darum, daß sich eine Unschuldsvermutung auf das Vermögen als solches erstreckt. Niemand will so etwas sagen. Weder ausdrücklich aus dem Text des Grundgesetzes, noch aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ergibt sich, daß ein Haus als solches geschützt ist. Es ist als Wohnung eines Menschen geschützt. Es steht nirgendwo, daß ein Wort als solches geschützt ist, sondern es ist geschützt als Meinungsäußerung eines Menschen. Auch das Vermögen ist nicht als solches geschützt, sondern als wirtschaftliche Basis der Freiheit eines Menschen.
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Insofern erstreckt sich die Unschuldsvermutung für den Menschen - und die ist Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit - natürlich auch auf sein Hab und Gut. Sie können niemandem etwas auf Verdacht
endgültig wegnehmen, ohne ihn in seinem persönlichen Freiheitsanspruch zu treffen. Bitte kappen Sie nicht einseitig die Unschuldsvermutung, wenn es um etwas Wirtschaftliches geht, denn der Mensch wird in seinem ganzen Freiheitsbedarf von der Unschuldsvermutung geschützt. Das wollte ich richtigstellen.
Vielen Dank.
Herr Schily, Sie haben noch das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Präsidentin, um die Kurzinterventionen nicht inflationieren zu lassen, möchte ich nur auf zwei Punkte eingehen.
Zunächst einmal zum Einwand von Herrn Schmidt-Jortzig: Mir geht es nicht darum, zu leugnen, daß die Unschuldsvermutung für. die Person gilt; da sind wir völlig einer Meinung. Das gilt auch in der Frage, wenn man einen Menschen verdächtigt, er könnte auf strafbare Weise zu einem Vermögen gelangt sein. Das ist sicher von der Unschuldsvermutung gedeckt.
Aber die Frage ist eine andere , Herr Bundesjustizminister, nämlich ob im Polizeirecht die Möglichkeit besteht, eine Nachweispflicht anzusiedeln. Das haben wir an anderer Stelle auch. Ich habe den Vergleich, der nicht als Analogie mißverstanden werden kann, gewählt, daß bei einer Razzia jedem Bürger, der völlig unverdächtig ist, gegen den keinerlei Ermittlungsverfahren läuft, abverlangt werden kann, sich hinsichtlich seiner Person auszuweisen. Das ist, wie wir alle wissen, polizeirechtlich zulässig. Selbstverständlich haben auch zivilrechtliche Bestimmungen, zum Beispiel daß zugunsten des Besitzers die Eigentumsvermutung gilt, nichts mit der Unschuldsvermutung zu tun.
Ich bin der Meinung, daß wir im Polizeirecht, also nach öffentlich-rechtlichen Bestimmungen, durchaus verlangen können, daß jemand den legalen Erwerb eines Eigentumstitels nachweist. Im Zivilrecht fordern wir das ja auch; da haben wir bestimmte Beweisregeln. Es stellt sich also die Frage - dies werden wir sorgfältig prüfen; das werden wir in den Landtagen und in den Landesregierungen auch tun -, ob hier eine Umkehr der Beweislast möglich ist oder eine Beweisführungspflicht eingeführt werden kann. Ich glaube, daß es sich durchaus lohnt, auf diese Frage einzugehen.
Nun, Frau Präsidentin, will ich noch etwas zu dem Kollegen Kleinert sagen - ich weiß, daß das nicht ganz im Sinne unserer Regeln ist -, weil er mich in meiner Eigenschaft als Strafverteidiger angesprochen hat.
Ab jetzt läuft die Zeit neu.
Als Strafverteidiger weiß ich sehr wohl, daß die Unschuldsvermutung gilt. Ich habe aber gerade durch meine Bemerkung zu Herrn Schmidt-Jortzig dargestellt, um was es mir geht. Es
geht mir nicht um die Unschuldsvermutung, sondern um die Frage: Wie können wir das Polizeirecht so ausgestalten, um solche Nachweispflichten zu begründen?
Somit können wir in der Debatte fortfahren. Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der heutige Tag ist außerordentlich wichtig für die innere Sicherheit in unserem Land. Mit den Gesetzen zum Abhören von Gangsterwohnungen - genau darum handelt es sich ({0})
und mit den Bestimmungen zur verschärften Bekämpfung der Geldwäsche werden zwei Meilensteine in der Bekämpfung des schweren Verbrechens in unserem Lande gesetzt. Das reiht sich in die Politik von Regierung und Koalition ein, vor allem das organisierte Verbrechen als eine neue Geißel unserer Zeit mit allen zulässigen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen.
({1})
Das Verbrechensbekämpfungsgesetz mit der Kronzeugenregelung, das Korruptionsbekämpfungsgesetz für den Bereich der Wirtschaftsverbrechen, Änderungen beim Ausländerrecht mit der Verschärfung der Bestimmungen gegen das Schlepperunwesen und den Menschenhandel und mit der verbesserten Möglichkeit zur Abschiebung schwerkrimineller Ausländer,
({2})
Änderungen beim BKA-Gesetz und beim Bundesgrenzschutzgesetz mit dem Ziel eines optimalen Einsatzes der Bundespolizei - das sind die vielen Schritte, die wir gegangen sind, um in diesem Land gesetzgeberisch mit der Schwerstkriminalität besser fertig zu werden.
({3})
Das ist ein wesentliches Ergebnis unserer Arbeit, zu dem die Bürger ja sagen. Die Bürger haben heute nicht mehr - wie im 19. Jahrhundert - die Sorge, ein übermächtiger Staat könnte ihnen mit unzulässigen Mitteln zu Leibe rücken. Die Bürger haben vielmehr die Sorge, ein nicht mehr hinreichend starker Staat könne sie nicht mehr genügend vor Gangstern schützen. Das ist die Sorge der Bürger!
({4})
Diese Sorge der Bürger ist ein Phänomen, das man ernst nehmen muß und nicht etwa mit einem statistischen Vergleich der Verhältnisse in Italien, den USA und bei uns beantworten darf. Denn auch auf Grund dieses Gefühls der Sorge können sich Menschen von diesem Staat abwenden, nicht nur allein deswegen, weil es jeden Tag bei ihnen vor der Haustür „brennt". Diese Sorge nehmen wir ernst. Wir wenBundesminister Manfred Kanther
den uns mit diesem Gesetz auch an unsere Mitbürger und zeigen ihnen, daß dies ein wehrhafter und nicht ein schlaffer Rechtsstaat ist.
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- Ein starker Rechtsstaat, ja. Ihn wollen wir; richtig.
({6})
Zu den notwendige Maßnahmen im Inland gehören natürlich viele - das wird uns morgen ja noch näher beschäftigen; deshalb blende ich das hier weitgehend aus -, die angesichts der Internationalisierung des organisierten Verbrechens weit über unsere Grenzen hinausreichen müssen: Europol, das Schengener System, die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten - das alles gehört mosaikartig mit zur Verbrechensbekämpfung in unserem Land.
({7})
Dabei geht es mir um einen ganz wichtigen Punkt - deshalb nenne ich auch diese vielen Schritte, die wir in den letzten Jahren gegangen sind -: Es gibt in der Verbrechensbekämpfung keinen Königsweg. Frau Müller, wenn Sie von 26 Fällen im Jahr sprechen - es mögen bei uns 13 oder 17 sein -, dann stellt sich doch die Frage:
({8})
Warum wollen wir denn nicht mit diesem Mittel diese 26 übelsten Fische aus dem Bassin herausangeln? - Darum geht es doch.
({9})
Es geht nicht darum, das Abhören von Gangsterwohnungen als Königsweg zur Verbrechensbekämpfung auszugeben und zu sagen: Jetzt ist alles paletti. Das ist es nicht. Für die Praxis der Verbrechensbekämpfung in unserem Land werden die verschärften Vorschriften zur Geldwäschebekämpfung wesentlich bedeutsamer sein als die Fragen des Abhörens.
({10})
Aber wir müssen doch den Bürgern sagen, daß wir das tun, was wir rechtsstaatlich können, indem wir Bausteine zusammensetzen und wirksame Maßnahmen nicht etwa unterlassen, weil uns die Erinnerung an eine historische Epoche plagt und hindert, eine Epoche, die es real und auch in den Sorgen der Menschen nicht mehr gibt. Wir haben uns mit neuen Formen des Verbrechens und damit auch der Verbrechensbekämpfung zu beschäftigen.
Deshalb widerspreche ich in einem Punkt Vorrednern, die gesagt haben, daß es - mehr oder weniger - nichts ausmache, wie lange man sich mit so etwas beschäftige. Wir gelangen heute weitgehend zu den Maßnahmen, die die Unionsparteien seit sieben, acht Jahren fordern.
({11})
Wenn man organisiertes Verbrechen bekämpfen will, spielt es durchaus eine Rolle, ob man die Maßnahmen 1992 oder 1997 zustande bringt.
({12})
Denn in der Zwischenzeit findet weiter organisiertes Verbrechen statt, was man vielleicht hätte ausschließen können.
Ich fordere nachhaltig dazu auf, die innovativen Schritte, für die man Zeit braucht, an den sich ständig ändernden Gefährdungslagen auszurichten und nicht an liebgewordenen eigenen Denkkategorien.
({13})
Unsere Welt wandelt sich sehr schnell: Wir beobachten eine Internationalisierung von Warenströmen, von Menschenbewegungen, von Geldströmen. Das alles ist auch Wurzel und Kennzeichen von organisiertem und internationalem Verbrechen. Darauf müssen wir uns einstellen. Deshalb sind episch lange Fristen zu vermeiden. Wir können nicht - um ein anderes, aber gleichwichtiges Beispiel zu zitieren - fünf Jahre über Asylrecht streiten und uns anschließend unter dem Gesichtspunkt der Kriminalitätsbekämpfung darüber auslassen, daß sich auch daraus schlimme Folgen für die Situation der Kriminalität in unserem Lande ergeben haben. Die Fristen sind zu lang.
Vielleicht haben wir auch erst zu lernen, daß die Fristen kürzer werden müssen. Ich sagte schon: Wir können nicht ohne weiteres sieben Jahre über etwas streiten, was sich verfassungsrechtlich oder ethisch heute nicht anders darstellt als 1992 oder 1993.
({14})
Wir müssen erkennen, daß wir einfach zu lange gebraucht haben. Sicher kann dieser Denkvorgang als weitgehend abgeschlossen gelten.
({15})
Aber es muß doch einen nachhaltigen Eindruck auf uns machen, wenn wir auf das nächste Problem dieser Art stoßen, bei dem wir wieder anheben könnten, irgendeinen ideologischen Winkel zu beziehen, statt das zu tun, was notwendig ist, um in der Verbrechensbekämpfung bestmögliche Erfolge zu erzielen. Wenngleich wir dies nie in Gänze erreichen - das wissen wir alle miteinander -, hilft es zumindest bei Eindämmung und Zurückdrängung von Verbrechen.
Dabei geht es keineswegs allein um Gesetzgebung. Ich lebe nicht in der Vorstellung, daß die Verbrechensbekämpfung mit der Abfassung von immer neuen Gesetzen im wesentlichen erledigt sei. Davon kann keine Rede sein. Die Anwendung der Gesetze gilt es immer wieder anzumahnen. Das ist eine ganz mühsame Arbeit auf der Ebene unterhalb des Gesetzgebers. Nur - da wir uns im Bereich der Eingriffsverwaltung, bei Polizei und Justiz, befinden -: Es geht eben nichts ohne die gesetzlichen Grundlagen. Das ist das Entscheidende. Aber damit ist nicht alles getan. Nun müssen die administrativen, die justitielBundesminister Manfred Kanther
len Maßnahmen zur Umsetzung der Gesetze zum Schutz der Gesellschaft vor Verbrechern folgen.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist: Sie müssen weitgehend in der Verantwortung und Kompetenz der Bundesländer folgen. Polizei und Justiz sind Länderangelegenheiten. Wir schaffen die Rechtsbasis; die Anwendung erfolgt durch die Länder. Diese Anwendung muß in manchen Bereichen wesentlich gestärkt werden.
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Auch in diesem Bereich haben die Bundesregierung und die Koalition die ihr obliegenden Schularbeiten gemacht. Wir haben mit BKA- und BGS-Gesetz moderne Verfahrensvorschriften für die Bundespolizei geschaffen. Wir haben die Bundespolizei bei BKA und BGS über Jahre hinweg personell und materiell wesentlich verstärkt.
In den letzten fünf Jahren haben sich die Ausgaben für die Bundespolizei um 40 Prozent erhöht, weil der Bund weiß, daß ihm mit den Problemen der Grenzsicherung ein - verglichen mit der Situation vor zehn Jahren - neues Problem ins Haus steht, weil organisierte Kriminalität in doppelter Hinsicht international bedingt ist: Sie schwappt zum einen über die Grenzen und stellt sich zum anderen bevorzugt als Ausländerkriminalität im Inland dar. Es ist eine schlimme Situation, daß 62 Prozent der Tatverdächtigen in der organisierten Kriminalität, die bei uns tätig sind, aus 90 Ländern der Welt kommen.
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Hier brauchen wir neue Antworten, weil die alten nicht mehr hinreichend sind. Was soll in einer ethnisch geschlossenen Gang aus einem fernen Land der deutsche verdeckte Ermittler, ein klassisches Mittel der Aufklärung, ausrichten können? Also brauchen wir neue technische Mittel, zum Beispiel die, die wir gerade miteinander vereinbart haben.
Wir brauchen neue Mittel, etwa im Bereich der Geldwäsche, wo etwas ganz Außerordentliches geschieht: Die ganze Branche der Finanzdienstleistungen wirkt mit bei der Kriminalitätsbekämpfung. Das ist ein außerordentlich weitreichender Vorgang. Wir haben die Mittel wesentlich verschärft und zeigen damit - nicht nur als Koalition, sondern auch darüber hinaus -, daß wir, wenn Mittel nicht hinreichend greifen, miteinander in der Lage sind, sie zu verschärfen.
Ich glaube, wenn wir das Geldwäschegesetz so verabschieden, wie wir es konzipiert haben, dann werden wir das beste Geldwäschegesetz haben, das ich kenne.
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Es ist - wofür ich mich sehr bedanken möchte, auch für die Art des Gesprächs, eines streitigen, aber fachlich fundierten Gesprächs - partei- und fraktionsübergreifend erarbeitet worden. Wir haben zum Beispiel - darüber möchte ich jetzt nicht sprechen, weil
das Herrn Meyer zusteht - Aspekte des Steuerrechts, des Finanzwesens, des Zolls, etwa an den Außengrenzen, dazugenommen, um das Handwerkszeug bei der Verbrechensbekämpfung auf eine neue Gefährdungslage einzustellen. Wir werden die Gefährdungslage auch weiterhin immer wieder kritisch darauf überprüfen müssen, ob unsere Maßnahmen und Möglichkeiten noch zu ihr passen, um sie der Gefährdungslage möglichst vorausdenkend anzupassen.
Danke sehr.
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Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In ihrer Großen Anfrage zur organisierten Kriminalität vom Mai 1993 hat die SPD-Bundestagsfraktion festgestellt:
Die besondere Gefährlichkeit verbrecherischer Organisationen, ihre gefestigten, oft internationalen Organisationsstrukturen sowie ihr heimliches Streben nach Einfluß auf Politik und Wirtschaft, u. a. mit den Mitteln der Korruption, machen es erforderlich, die Entwicklung der Organisierten Kriminalität aufmerksam zu beobachten und sie mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen.
Dem trägt der heute zu beratende Kompromiß, den SPD und Koalitionsparteien nach schwierigen Verhandlungen gefunden haben, Rechnung.
Wer sich mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität befaßt, kommt unvermeidbar zu zwei Einsichten, die bereits den Wiesbadener Parteitag der SPD im Jahr 1993 bei seinen Entscheidungen bestimmt haben.
Die erste Einsicht ist, daß das wichtigste Mittel beim Kampf gegen diese Kriminalitätsform die Gewinnabschöpfung ist und nicht, Herr Minister Kanther, das von Ihnen unzutreffend so bezeichnete Abhören von Gangsterwohnungen. Verbrechen dürfen sich nicht lohnen!
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Dieses bereits in der Antike vertretene ethische Postulat gewinnt in unserem Zusammenhang herausragende Bedeutung, weil das maßgebliche Motiv der organisierten Kriminalität ein verbrecherisches Gewinnstreben ist.
Die zweite Einsicht ist, daß die technische Überwachung von Wohnungen, also der sogenannte große Lauschangriff, längst Rechtswirklichkeit ist und es nunmehr entscheidend darauf ankommt, dieses als letztes Mittel offenbar unverzichtbare Instrument rechtsstaatlich zu kontrollieren und dadurch seine Anwendung einzuschränken.
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Dr. Jürgen Meyer ({2})
Bis vor einigen Jahren konnte man noch davon ausgehen, daß die durch den geltenden Abs. 3 von Art. 13 Grundgesetz vorgesehene Unterscheidung zwischen präventiven - der Verhinderung von Verbrechen dienenden - und repressiven - ihrer Aufklärung dienenden - Überwachungsmaßnahmen auch die Rechtswirklichkeit bestimme. Dies ist inzwischen, verehrte Frau Kollegin Müller, durch drei Entwicklungen weitgehend überholt. Sie haben also über den Rechtszustand von vorgestern gesprochen.
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Die erste Entwicklung besteht darin, daß man inzwischen weiß, daß kriminelle Organisationen der hier interessierenden Art Verbrechen nicht nur ständig planen, sondern auch begangen haben. Jeder sogenannte Lauschangriff dient deshalb sowohl der Verhinderung künftiger als auch der Aufklärung begangener Straftaten.
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Es ist in der Praxis völlig ausgeschlossen und schlicht wirklichkeitsfremd, eine Überwachungsmaßnahme ausschließlich mit drohenden, also noch nicht begangenen Verbrechen zu begründen.
Dem trägt - zweitens - eine seit zwei Jahren zu beobachtende Entwicklung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Rechnung, der in mehreren Entscheidungen akzeptiert hat, daß Erkenntnisse aus rechtmäßigen präventiven Überwachungsmaßnahmen auch im Strafverfahren, also repressiv, genutzt werden. Es gibt insoweit kein Beweisverwertungsverbot mehr.
Für die dritte Entwicklung zeichnet der Deutsche Bundestag selbst verantwortlich, der im vergangenen Jahr bei der Novellierung des Bundeskriminalamtgesetzes festgelegt hat, daß Erkenntnisse aus dem Einsatz von Personenschutzsendern, also Abhörgeräten, die verdeckte Ermittler bei sich führen, wenn sie fremde Wohnungen betreten, als Beweismittel im Strafverfahren genutzt werden dürfen, wenn dieser Einsatz richterlich genehmigt worden ist.
Die alte Unterscheidung zwischen präventiven und repressiven sogenannten Lauschangriffen ist also rechtlich und tatsächlich überholt. Wer den vorliegenden Gesetzentwurf als „Einführung des großen Lauschangriffes" kritisiert, erweist sich deshalb als schlecht informiert oder als jemand, der einer interessierten Öffentlichkeit Sand in die Augen streut.
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Um so wichtiger war es für uns, bei den Verhandlungen über den nun vorliegenden Kompromiß sicherzustellen, daß die gegenwärtige Praxis rechtsstaatlich kontrolliert und damit einem möglichen Mißbrauch der Überwachungsinstrumente vorgebeugt wird. Dem dient die Trias von rechtsstaatlichen Garantien, die wir neu in Art. 13 Grundgesetz verankert haben: der Richtervorbehalt, die öffentliche Berichterstattung und die parlamentarische Kontrolle.
Von erheblich größerer Bedeutung sind aber die vereinbarten neuen Instrumente zur Gewinnabschöpfung. Wie notwendig diese sind, mag schon eine Zahl aus der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 1995 belegen. In jenem Jahr hat es bei insgesamt 683 000 Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht lediglich 682 Verfallsanordnungen gegeben. Die Relation von etwa 1 : 1000 bedarf keiner Kommentierung. Verfallsanordnungen hat es, obwohl die Eigentums- und Vermögenskriminalität mehr als 65 Prozent der Gesamtkriminalität ausmacht, nur in 0,09 Prozent aller Urteile gegeben. Das ist die Situation.
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte bereits in der vorletzten Legislaturperiode, im Jahre 1989, als Sie, Herr Minister Kanther, noch nicht im Amt waren, den Gesetzentwurf für einen neuen Straftatbestand der Geldwäsche vorgelegt, wonach Geldwäsche nach jeder Straftat möglich sein sollte. Dem ist die Koalition damals nicht gefolgt, was - neben anderen Mängeln - ursächlich dafür war, daß der neue § 261 StGB nur wenig Wirkung entfaltet hat.
Die Koalition war damals der Meinung, man dürfe Geldwäsche nur bei einem ganz kleinen Katalog von Straftaten als neue Straftat verfolgen. In dem nunmehr vorliegenden Kompromiß konnte wenigstens vereinbart werden, den Straftatenkatalog wesentlich zu erweitern. Nach wie vor ist es aber schwer einzusehen, daß geldwerte Gewinne aus Straftaten in dem einen Fall straflos gewaschen werden können und in anderen Fällen nicht.
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Unser damaliger Vorschlag beruhte übrigens auf einer rechtsvergleichenden Untersuchung des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, den ich in einem Buch über „Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten" 1989 veröffentlicht habe. Ich erwähne das deshalb, weil auch der wesentlich weiterreichende Vorschlag aus unserem Kompromiß, den ich nunmehr erläutern will, auf dieselbe Untersuchung zurückgeht. Ich meine das Steuermodell, das wir im Hinblick auf die hervorragenden Erfahrungen in den Niederlanden nunmehr auch für die Gewinnabschöpfung in Deutschland vereinbart haben.
In den Niederlanden werden mit diesem Modell in jedem Jahr etwa doppelt so viele Gewinne abgeschöpft wie mit dem ganzen strafrechtlichen Instrumentarium. Das liegt daran, daß im Strafverfahren der Staat die Beweislast in doppelter Hinsicht trägt, nämlich dafür, daß der Beschuldigte schwere Verbrechen begangen hat, und dafür, daß sein Vermögen aus diesen Verbrechen stammt.
Die in der Antwort auf unsere Große Anfrage nachzulesenden Erfolgsmeldungen der Strafrechtspraxis sind, vorsichtig formuliert, dürftig. Überwiegend wird mitgeteilt, es lasse sich nicht feststellen, in welchem Umfang beschlagnahmte Gelder endgültig eingezogen worden sind. Typisch mag der Hinweis des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg sein, der „von drei Fällen berichtet, in denen durch die Ermittlungsbehörden Geldbeträge in einem GesamtDr. Jürgen Meyer ({7})
umfang von 139 TDM beschlagnahmt worden sind, wobei bislang in einem Fall davon 11 TDM gerichtlich eingezogen wurden". Es handelte sich dabei um eine Strafsache wegen Menschenhandels und Zuhälterei. Eine Erfolgsquote des geltenden Strafrechts von weniger als 10 Prozent entspricht übrigens auch internationalen Erfahrungen.
Wegen dieser Problemlage wird vielfach - der Kollege Schily hat dazu eben einiges ausgeführt - eine Umkehr der Beweislast gefordert. Wer auf zweifelhafte Weise - und möglicherweise kriminell - erworbenes Vermögen besitze, müsse darlegen und beweisen, woher sein Vermögen stammt. Es bedarf auch nach den vorangegangenen Interventionsbeiträgen keiner Begründung mehr, daß eine derartige Umkehr der Beweislast im geltenden deutschen Strafverfahrensrecht ausgeschlossen ist. Nach unserem Rechtsstaatsverständnis hat der Beschuldigte das Recht, zu schweigen. Wenn ihm strafbares Verhalten nicht nachgewiesen werden kann, gilt er auf Grund der Unschuldvermutung als honoriger Bürger.
Genau an dieser Stelle setzt nun das niederländische Modell an. Wer als honoriger Bürger gilt, muß sich auch als solcher behandeln lassen. Das bedeutet, daß er von seinem Einkommen Steuern zu zahlen hat. Die auf unseren Vorschlag vereinbarte Neuregelung in § 10 Geldwäschegesetz schreibt nunmehr vor, daß die Polizeibehörden des Bundes und der Länder unverzüglich nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Geldwäsche auch die Finanzbehörden zu informieren haben. Diese leiten ein Besteuerungsverfahren ein, in dem nicht die Verfahrensmaximen der Strafprozeßordnung, sondern die Grundsätze der Abgabenordnung gelten.
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Das bedeutet, daß der steuerpflichtige Bürger kein Recht hat, zu schweigen, sondern daß er - ganz im Gegenteil - eine Mitwirkungspflicht hat.
({9})
Wir alle müssen regelmäßig unsere Steuererklärungen abgeben. Wird dieser Pflicht nicht entsprochen oder sind die abgegebenen Erklärungen nicht überzeugend, kann die Finanzbehörde nach geltendem Steuerrecht das Einkommen schätzen. Dieses wird in aller Regel wesentlich höher sein als der im Zeitpunkt der Beschlagnahme angetroffene Vermögensrest.
Wir sind fest davon überzeugt, daß sich durch das neue Verfahren die Effektivität der Gewinnabschöpfung wesentlich steigern läßt.
({10})
Nach meiner Überzeugung können wir es uns nicht leisten, ständig über neue oder höhere Steuern nachzudenken, solange wir nicht alles getan haben, um die nach geltendem Recht geschuldeten Steuern mit großer Konsequenz hereinzuholen.
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Es kann nicht sein, daß der Besitzer eines Vermögens aus zweifelhaften Einkommensquellen besser behandelt wird als die anderen, ehrlichen Steuerzahler.
({12})
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, daß wir vereinbart haben, auch Verbesserungen des geltenden strafrechtlichen Verfallsrechts noch im Laufe der nunmehr beginnenden Gesetzesberatungen einzuführen.
Auch von der nunmehr vorgesehenen Neuregelung im Finanzverwaltungsgesetz, wonach die Verbringung von Bargeld oder gleichgestellten Zahlungsmitteln der zollamtlichen Überprüfung unterstellt wird, versprechen wir uns einiges.
Organisierte Kriminalität muß an der Wurzel gepackt werden. Deshalb müssen wir alles tun, damit sich Verbrechen nicht lohnen. Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität ist ein Kampf für den Rechtsstaat.
({13})
Der erreichte Konsens bringt uns dabei ein gutes Stück voran. Er ist trotz der Mißtöne, die soeben aus der CDU/CSU-Fraktion zu hören waren, ein Schulterschluß gegen die organisierte Kriminalität. Er beweist, daß die SPD zu Vereinbarungen mit der Regierungskoalition bereit ist, wenn dafür vernünftige, fachlich überzeugende und rechtsstaatlich einwandfreie Konzepte vorgelegt werden.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist richtig, Herr Meyer, daß die parteiübergreifende Kommission, die sich mit dieser Frage beschäftigt hat, zu einem guten Ergebnis gekommen ist. Für uns stellt sich die Frage, ob dieses gute Ergebnis nicht schon vor drei oder vier Jahren hätte gefunden werden können. Es hat schon ein wenig lange gedauert, bis wir Sie endlich soweit hatten, uns in unserer Forderung zu folgen,
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endlich die akustische Überwachung von Wohnungen in der Verbrechensbekämpfung zuzulassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich stand der Schutz der Wohnung für uns in den Gesprächen im Vordergrund. Für uns ist das ein Freiheitsrecht. Es ist nicht ohne Grund in Art. 13 des Grundgesetzes so festgelegt. Natürlich wissen wir, daß der Staat ab der Wohnungstür nichts mehr verloren hat und daß der Intimbereich in einer Massengesellschaft geschützt werden muß, in der es durch raffinierte Technik möglich ist, den Menschen rund um
die Uhr zu beobachten. Natürlich wissen wir, daß die Intimsphäre dafür notwendig ist, daß sich der Mensch in Freiheit entwickeln kann.
Es ist aber ebenso richtig, daß der Kampf gegen die Kriminalität, verehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ein Kampf für die Freiheit des Menschen, für die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger und nichts anderes ist.
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Wir sind immer schon übereinstimmend hiervon ausgegangen; sonst hätten wir die Strafgesetzgebung in verschiedenen Punkten, die Ausländergesetzgebung und einige Nebengesetze zum Strafgesetzbuch in den letzten Jahren nicht verschärft. Uns ist es immer darum gegangen, Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Sicherheit ist nun einmal die Voraussetzung für die Freiheit.
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Deshalb liegt dieser jetzt von der Kommission gefundene Beschluß völlig in der Logik unseres Grundgesetzes; denn sonst wäre gar nicht einzusehen, daß wir im präventiven Bereich jetzt schon akustische und sogar optische Mittel einsetzen können, um Verbrechen zu verhindern. Nach unserer Verfassung ist jetzt schon ein Recht zu einem schwerwiegenden Eingriff in die Wohnung in der Strafverfolgung gegeben, nämlich das Recht zur Hausdurchsuchung. Dies ist ein schwerer Eingriff in die Intimsphäre. Ich nenne das nur als Beispiel.
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- Wenn das möglich ist, lieber Herr Hirsch, dann liegt es in der Logik, das auch für die optische Überwachung zu ermöglichen.
Herr Meyer hat richtig gesagt, daß der Hauptangriff auf den Gewinn der international organisierten Verbrecher gerichtet sein muß. Wenn wir an den Gewinn herankommen, wenn wir an das illegale Geld herankommen, bevor es in den Wirtschaftskreislauf eingeschleust wird, bevor aus illegalem Geld legales Geld wird, dann haben wir einen entscheidenden Schlag gegen die organisierte Kriminalität geführt.
Die organisierte Kriminalität ist eine Kriminalität, die nicht so augenscheinlich, nicht so spektakulär auftritt wie die Gewaltkriminalität. Sie tritt im Verborgenen auf. Das sind jene Damen und Herren, die in den Hinterzimmern oder an den Schreibtischen sitzen und von sicherer Warte aus versuchen, ihre Geschäfte zumachen und ihre Vermögen zu vermehren. Es ist richtig: Es ist bislang nicht gelungen, den Vermögenszuwachs dieser Verbrecher zu vermindern. Das ist auch sehr schlecht möglich - das muß man immer wieder bedenken -, weil es sich um international organisierte Verbrecherbanden handelt, die ihr Geld auch international anlegen können. Aber zweifellos ist Deutschland nach wie vor ein wichtiger Finanzplatz und ein sehr interessanter Ort, um illegales Geld durch Geldwäsche zu legalisieren und damit das eigene Vermögen und auch die eigene Einflußsphäre zu steigern.
Wir haben ein Durchsickern dieser internationalen Kriminalität in Deutschland festgestellt. Es ist nicht nur so wie in Italien, daß sich die Mafia und die Camorra inzwischen zum Staat im Staat entwickelt haben oder zur Gesellschaft in der Gesellschaft, wie es der Bürgermeister von Palermo gesagt hat. Vielmehr ist inzwischen auch bei uns der Ansatz vorhanden, daß wir eine Geschäftswelt in der Geschäftswelt, eine Welt des Unrechts in unserem rechtsstaatlichen Gefüge haben. Dagegen müssen wir mit aller Entschiedenheit angehen. Deshalb ist der Kampf gegen die Gewinne so entscheidend.
Deswegen begrüßen wir die Verbesserung des Geldwäschegesetzes. Wir haben in der Zwischenzeit dreimal einen Anlauf genommen. Einmal war das schon 1993. Vorausgegangen war das Gesetz zur organisierten Kriminalität 1992, in dem wir die Geldwäsche selbst zum Straftatbestand gemacht haben. 1993 kam das Geldwäschegesetz. Dann haben wir im Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 draufgelegt und die Vortaten erweitert. Jetzt haben wir durch den Regierungsentwurf, der im übrigen schon lange vorbereitet war, Herr Meyer - das dürfen Sie nicht vergessen -, nun auch diesen Geldwäschetatbestand durch weitere Elemente angereichert. Wir hoffen, daß es uns dadurch gelingt, besser als in der Vergangenheit an den Gewinn der Verbrecher heranzukommen.
Sicherlich ist es dabei von allererster Bedeutung, daß es rechtzeitig bei Einleitung des Ermittlungsverfahrens möglich ist, den Zugriff zu dem Geldvermögen zu gestatten. Im Augenblick haben wir es so: Es wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, der Verbrecher erfährt davon und bringt sein Geld in Sicherheit. Wenn es aber gleichzeitig möglich ist, das Geldvermögen in dem Augenblick zu sichern, in dem klar ist, daß der Anfangsverdacht genügt, um gegen den Täter ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, dann haben wir, glaube ich, einen entscheidenden Schritt nach vorne getan. Im Moment ist dies noch nicht möglich.
Von der SPD kam der Vorschlag, das Ganze als bemakeltes Geld anzusehen und es, weil es eine Gefahr für unsere Gesellschaft und für unsere Wirtschaftsordnung darstellt, festzusetzen. Wir haben diesen Vorschlag diskutiert. Wir sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, daß dies nach unserer Verfassungslage so nicht möglich ist.
Deswegen wollen wir den § 111 b der Strafprozeßordnung verändern, wonach es jetzt schon möglich ist, Geld schon zu Beginn des Ermittlungsverfahrens sicherzustellen, aber nur dann, wenn ein dringender Tatverdacht besteht. Wir wollen die Schwelle für die Sicherstellung des illegalen Gewinns auf den bloßen Tatverdacht absenken. Damit haben wir die Möglichkeit, leichter an die verbrecherischen Gewinne heranzukommen.
Ein zweites Element, Herr Meyer, ist, daß wir es gleichzeitig mit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens ermöglichen, den Steuerbehörden entsprechende Mitteilungen zu machen, damit auch diese in ihrem eigenen Verfahren über steuerrechtliche Möglichkeiten an das Geld herankommen. Auch das ist
im Moment nicht möglich. Jetzt müssen wir noch abwarten, bis das Verfahren gegen den Betroffenen abgeschlossen ist und das Urteil auf dem Tisch liegt. Erst dann kann Mitteilung gemacht werden. Durch diese Möglichkeit, das Ganze vorzuziehen, kommen wir schneller an den unredlichen und illegalen Gewinn heran.
Das dritte in diesem Zusammenhang ist, daß wir auch beim Wegschaffen von Geldvermögen über die Grenzen hinweg nun eine bessere Möglichkeit haben, es den Zollbehörden zu gestatten, an Bargelder heranzukommen, die jedenfalls nach entsprechenden Informationen in hohem Maße über die Grenzen transferiert werden. Das geschieht dann, wenn der Verdacht besteht, daß die Polizei hinter dem Verdächtigen her ist. Dann packen die Verbrecher ihr Geld in einen großen Koffer, verstauen ihn im Kofferraum und können es so über die Grenze verschieben. Jetzt wollen wir für die Zollbehörde die Chance schaffen, an dieses Geld heranzukommen. Nach dem Entwurf sollen wir die Möglichkeit haben, das Geld festzuhalten. Und wenn ein entsprechender Richter die Genehmigung gibt, kann es bis zu einem Monat festgehalten werden.
Wir glauben, daß damit eine Handhabe geschaffen wird, der organisierten Kriminalität entsprechend entgegenzutreten. Wir halten sie für eine Gefahr für unsere Gesellschaft, weil sie sich in die Strukturen unseres Rechtsstaates einnistet. Verbrecher treten als Biedermänner und Geschäftsleute auf, die mit einer Firma im Hintergrund versuchen, ihr illegales Geschäft zu verwirklichen. Sie nisten sich in die Gesellschaft und in die wirtschaftlichen Strukturen ein. Wir wissen, daß sie sich inzwischen auch in den Bereich des Sportes, ja fast in allen Bereichen unseres Zusammenlebens einnisten. Deswegen erkennen wir diese organisierte Kriminalität als eine Gefahr, die wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen.
Ich hoffe, daß wir mit diesem Entwurf einen entsprechenden Anfang für eine gute und wirklich erfolgreiche Bekämpfung der organisierten Kriminalität gefunden haben.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Bachmaier, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche als Vertreter der Mitglieder der SPD-Fraktion, die den vorgelegten Gesetzentwürfen zum Teil ablehnend, zumindest aber sehr skeptisch gegenüberstehen.
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Es hat etwas mit den rechtsstaatlichen Traditionen der SPD zu tun, daß sie es sich mit der vorgesehenen Verfassungsänderung nicht leichtmacht, zumal in ein hochsensibles Grundrecht eingegriffen und der
durch dieses Grundrecht gewährleistete Schutz der Privatsphäre geschwächt werden soll.
Auch diejenigen, die dieser Verfassungsänderung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, nehmen für sich in Anspruch, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um Kriminalität in unserem Lande wirksam zu bekämpfen.
({1})
Wir müssen entscheiden, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen der Schutz der Privatsphäre zugunsten von Strafverfolgungsmaßnahmen zurücktreten soll. Dabei gibt es viele gute Gründe, eine Änderung des Art. 13 des Grundgesetzes grundsätzlich abzulehnen, weil der Schaden, den der Schutz der Privatsphäre dadurch erleiden kann, weit schwerer wiegt als die dadurch möglicherweise zu erzielenden Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung.
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Die bisherige Regelung, wonach bei drohenden oder noch abzuwendenden Gefahren wie einer Geiselnahme akustische oder sogar optische Überwachungsmaßnahmen durchgeführt werden können, reicht auch nach Ansicht vieler Experten aus, dem organisierten Verbrechen wirkungsvoll zu begegnen. Wir alle wissen, daß durch den großen Lauschangriff eine Vielzahl völlig unbeteiligter Personen in Mitleidenschaft gezogen wird und daß Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte von Angehörigen, Ärzten, Journalisten, Pfarrern und Rechtsanwälten in hohem Maße zusätzlich gefährdet werden.
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Die leicht vorhersehbare Folge wird sein, daß sich professionelle Verbrecher weitgehend abschirmen, während viele völlig Unbeteiligte Opfer der neuen Ermittlungsinstrumente werden.
Nach langen internen Beratungen hat sich meine Partei dazu durchgerungen, einer Verfassungsänderung dann zuzustimmen, wenn durch ein Bündel verfassungsrechtlich festgeschriebener Bedingungen sichergestellt wird, daß das tief in die Privatsphäre eingreifende Instrument des großen Lauschangriffs nur in absoluten Ausnahmefällen bei der Verfolgung schwerer Verbrechen eingesetzt wird. Von den restriktiven Rahmenbedingungen ist in den vorliegenden Entwürfen allerdings zuwenig zu finden, wie die folgenden Beispiele belegen.
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Mit über 50 Straftatbeständen ist der Katalog der Straftaten, bei deren Aufklärung der Lauschangriff zum Einsatz kommen kann, nicht nur außerordentlich umfangreich; im Kompromißpapier wurde darüber hinaus eine extrem einseitige Auswahl der in Frage kommenden Straftaten getroffen. Schwere Delikte aus dem Bereich der Wirtschafts-, Korruptions-,
Steuerhinterziehungs- und Umweltkriminalität sucht man im vorliegenden Straftatenkatalog vergeblich. Während die der Unterwelt zugeschriebenen Delikte bis hin zur gewerbsmäßigen Hehlerei umfassend aufgelistet sind, tauchen die typischen Delikte der sogenannten Oberweltkriminalität in diesem Katalog nicht ein einziges Mal auf. Wohnungen und Büros der feinen Leute sollen wohl auch in Zukunft wanzenfrei bleiben.
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Wir Sozialdemokraten wollten bislang Abhörmaßnahmen in Wohnungen nur unter denkbar strengsten Voraussetzungen und nach Genehmigung verschiedener voneinander unabhängiger Institutionen zulassen.
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Statt des bisherigen materiellen Grundrechtsschutzes der Privatsphäre sollte es einen kaum weniger wirksamen Grundrechtsschutz durch Verfahren geben. Lauschangriffe sollten nur als denkbar letztes Mittel eingesetzt werden. Übriggeblieben ist die Überprüfung durch ein Kollegialgericht; aber auch hiervon sind Ausnahmen vorgesehen.
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Man hat sich leider wieder an die unselige Telefonabhörpraxis angeschlossen, über deren exorbitante Ausuferung in diesem Haus schon häufig Klage geführt wurde.
Obwohl der große Lauschangriff die Gefahren und Risiken für zeugnisverweigerungsberechtigte Personen erheblich vergrößert, wurde in den vorliegenden verfassungsändernden Texten nichts unternommen, um die ohnehin schon gefährdeten Rechte dieser Personen - Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten und andere - endlich auch verfassungsrechtlich wirksam zu schützen.
({8})
Wir Sozialdemokraten hatten bei den mit der Koalition geführten Gesprächen das erklärte Ziel, den in den Landespolizeigesetzen häufig erheblich zu weit gefaßten sogenannten präventiven Lauschangriff verfassungsrechtlich auf die Fälle der gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben einzugrenzen. Auch dieses Verhandlungsziel konnte nicht erreicht werden.
Nach der bislang vereinbarten Neufassung des Art. 13 des Grundgesetzes wird man wohl kaum ein Polizeigesetz substantiell ändern müssen. Darüber hinaus ist sogar vorgesehen, im Grundgesetz die Rolle des Verfassungsschutzes in gefährlicher Nähe zur Polizei festzuschreiben. Dabei haben wir uns alle nach den Erfahrungen mit unserer unseligen Vergangenheit gelobt, nie mehr geheimdienstliche und polizeiliche Aktivitäten miteinander in Verbindung zu bringen.
({9})
Das Gebot der Trennung von Polizei und Geheimdiensten war konstitutiv für unseren Staat.
Wenn sich die großen Fraktionen anschicken, die Verfassung zu ändern, besteht immer auch die Gefahr, daß bei den Beratungen in den Gremien des Bundestages Geschwindigkeit vor Gründlichkeit geht. Ich bin deshalb froh, daß meine Fraktion Wert auf eine gründliche Beratung ohne Zeitdruck legt.
({10})
Herr Kanther, ich kann Ihnen folgenden Hinweis nicht ersparen: Auch Sie sollten endlich mit der unseligen Sprache der verbalen Vorverurteilung Schluß machen.
({11})
Es ist rechtsstaatlich schwer erträglich, ja unerträglich, wenn Sie ständig von Verbrecher- und Gangsterwohnungen reden, auch wenn die entsprechenden Beweise noch von keinem Gericht eingeholt und bewertet worden sind. Man kann auch verbal zentrale rechtsstaatliche Errungenschaften wie die Unschuldsvermutung aushöhlen und zur Disposition stellen.
({12})
Dabei sieht sogar der vorliegende Entwurf vor, daß nicht nur Wohnungen von Verdächtigen, sondern auch Wohnungen von völlig Unverdächtigen abgehört werden sollen, selbst wenn deren Bewohner nichts, aber auch gar nichts mit den verfolgten Straftaten zu tun haben.
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- Lesen Sie selbst Ihre ausgehandelten Texte!
Meine Damen und Herren, gehen wir also mit der Sorgfalt in die weiteren Beratungen, die wir unserer Verfassung schuldig sind. Das haben wir uns in unserer Fraktion miteinander vorgenommen, auch wenn wir inhaltlich unterschiedlicher Meinung sind.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erwin Marschewski, CDU/ CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute morgen haben Herr Schily die eine SPD und Herr Bachmaier die andere SPD repräsentiert.
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Meine Sorge ist: Wenn das alles Wirklichkeit wird, was Sie fordern, dann ist dieser freiheitliche, demokratische Rechtsstaat in Gefahr.
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Im Gegenteil zu Ihnen setzen wir heute mit diesen beiden Gesetzentwürfen den Kampf gegen die organisierte Kriminalität fort, weil die organisierte Kriminalität eines der drängendsten Probleme in Europa und damit auch in Deutschland geworden ist.
Dies ist auch, Herr Kollege Hirsch, in Hamburg und München der Fall. Sie haben heute dem Kollegen Herrn Professor Scholz Zahlen vorgehalten, die belegen sollten, daß die Anzahl von Raubdelikten, Vergewaltigungen und Totschlagsdelikten in Hamburg geringer sei als in München. Ich habe mich zwischenzeitlich erkundigt. Im letzten Jahr gab es in Hamburg 5983 Raubdelikte und in München 1089. Auch für München ist diese Zahl noch zu hoch. Warum sagen Sie dies, Herr Kollege Dr. Hirsch? Ich halte dies für unredlich.
Wir wollen Gesetze ändern, weil die organisierte Kriminalität die Bürger und diesen Staat beschädigen will und dies auch tut. Sie will rechtsfreie Räume schaffen, in denen sie das Sagen hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Ich will das jetzt nicht zulassen. Wir sind so oft zusammen - Tag und Nacht -, Herr Kollege Hirsch. Ich würde sagen: Es reicht jetzt.
({0})
Mit dieser Vorlage stehen wir in der Kontinuität unserer Politik der inneren Sicherheit. Der Staat - ich sage das mit allem Ernst - darf hier keinen Fingerbreit Boden aufgeben, sonst gibt sich dieses Land selbst auf.
({1})
Deswegen haben wir das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beschlossen, mit Vermögensstrafe, Rasterfahndung, verdecktem Ermittler. Herr Kollege Professor Meyer, Sie haben auf die Vergangenheit verwiesen. Auch ich muß das tun. Die SPD hat damals nein gesagt, obwohl das Gesetz rechtsstaatlich einwandfrei war. Dann haben wir 1994 das Verbrechensbekämpfungsgesetz beschlossen, gegen Gewalt, gegen Extremismus, mit der Kronzeugenregelung, mit der automatischen Beobachtung des Fernmeldeverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst.
Die Grünen lehnen den Bundesnachrichtendienst ab; sie wollen ihn abschaffen. Auch Sie haben damals nein gesagt.
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- Ach, Sie klatschen, Frau Kollegin. Sie wollen den Bundesnachrichtendienst abschaffen. Wir wollen den wehrhaften Staat. Wir wollen eine Überwachung, wenn es darum geht, Gangsterbosse und Drogenhändler zu überwachen. So soll unsere Republik sein, Frau Kollegin.
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Ich freue mich - wir sind ja oft zusammen, gerade die Kollegen aus dem Innenbereich, und wir haben seit vielen Jahren darüber diskutiert -, daß wir jetzt den Lauschangriff, das Abhören in Gangsterwohnungen, beschließen.
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- Seien Sie einmal ruhig, und hören Sie sich das an. - Ich habe bereits vor zehn Jahren an dieser Stelle gesagt: Auch mir ist jeder Quadratmeter der Wohnung heilig; das ist doch keine Frage. Es ist auch keine Frage, daß wir nicht den anständigen Bürger in diesem Staat bewachen wollen. Wir wollen an die Gangster ran, die morden, die entführen, die unsere Kinder in die Drogensucht treiben. Das ist das Ziel unserer Maßnahmen.
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Deswegen sind verschärfte Geldwäscheregelungen in Ordnung und vonnöten. Deswegen wollen wir den Tatbestand - Herr Professor Meyer, es ist völlig klar, daß wir das tun - auf Menschenhandel, Erpressung und Handel mit radioaktiven Waffen erweitern. Deswegen wollen wir die Telefonüberwachung - selbstverständlich richterlich angeordnet - einführen. Deswegen wollen wir Beweiserleichterungen.
Sie haben das bekannte Problem der Beweislastumkehr angesprochen. Ich hatte gestern ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft. Er hat mich gebeten, zu sagen, daß die Polizei noch immer dafür ist, die Beweislast umzukehren. Ich sage Ihnen - Sie wissen dies -: Auch die Union hat dies auf dem Parteitag 1993 in Berlin so beschlossen. Ich weiß aber, daß es Rechtsprobleme gibt. Wenn die Unschuldsvermutung zum Rechtsstaatsprinzip gehört - Art. 20 des Grundgesetzes -, dann unterliegt diese Unschuldsvermutung natürlich der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 und ist wahrscheinlich nicht veränderbar. Ich kenne die Probleme. Ich will nur sagen, daß wir uns mit diesem Punkt noch auseinandersetzen müssen.
Meine Damen und Herren, Kriminalitätsbekämpfung ist eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe, nicht nur vor Wahlen. Das haben Sie heute meinem Kollegen Scholz vorgeworfen, nur, weil Rupert Scholz auf den Herrn Ministerpräsidenten in Niedersachsen geantwortet hat, der mit diesen Aussagen
populistisch den Wahlkampf eröffnet hat, zunächst in der eigenen Partei und dann nach außen.
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Herr Schröder sagt: Wer das Gastrecht mißbraucht, für den gilt nur eines: Er muß raus, aber schnell.
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Wie gesagt, das habe nicht ich gesagt, das hat nicht der Bundesinnenminister, das hat Gerhard Schröder gesagt. Aber nicht Worte, sondern Taten zählen.
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Herr Schröder hat zum Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität nein gesagt, er hat zum Asylrecht nein gesagt, er hat zum verdeckten Ermittler nein gesagt, er hat zur Rasterfahndung nein gesagt, und er hat zum präventiven Lauschangriff nein gesagt.
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Er hat von 200 000 straffälligen Ausländern ganze vier abgewiesen. Die Botschaft hör' ich schon, Herr Ministerpräsident Gerhard Schröder, allein mir fehlt der Glaube, meine Damen und Herren von der SPDFraktion.
({10})
Mit den heutigen Maßnahmen vervollständigen wir die strafrechtlichen und strafprozessualen Instrumente zur Verbrechensbekämpfung. Ich glaube, daß sich unser gesetzliches Rüstzeug auf dem modernsten Stand befindet. Wir waren in der Vergangenheit erfolgreich. Die Aufklärungsquote betrug im letzten Jahr 49 Prozent. Das ist die höchste Aufklärungsquote seit über 30 Jahren. Wir sind damit in der Verbrechensbekämpfung Spitze in Europa.
({11})
Wir sind ein sicheres Land, auch dank unserer Politik, und dies wollen wir bleiben. Wir brauchen Prävention. Wir brauchen auch Repression. Wir brauchen auch höchste Strafen. Was wir vor allen Dingen brauchen, ist eine konsequente Gesetzesanwendung durch Staatsanwaltschaften und Gerichte. Daran mangelt es.
({12})
Es hat doch keinen Zweck, einen vietnamesischen Zigarettenhändler zu ein paar Wochen Freiheitsstrafe zu verurteilen oder einen russischen Zuhälter für ein paar Monate in das schöne deutsche Gefängnis zu schicken. Eine konsequente Anwendung der Gesetze ist vonnöten.
({13})
Herr Ministerpräsident Schröder, wir brauchen insbesondere in Niedersachsen mehr Polizeibeamte, die nicht parkende Bürger bestrafen, sondern die Gangster jagen und Verbrechen verhindern.
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Unser Rechtsstaat stellt sich als Daueraufgabe die Verbrechensbekämpfung, insbesondere die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, weil wir den Rechtsstaat bewahren wollen, der meines Erachtens die größte Erfindung der Neuzeit ist.
Herzlichen Dank.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Wunsch zu zwei Kurzinterventionen. Ich erteile das Wort zur ersten Kurzintervention dem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Kollege Marschewski, ich habe mich nur deswegen gemeldet, weil Sie mir Unredlichkeit vorgeworfen haben. Sie dürfen natürlich die Kriminalitätszahlen nicht absolut nehmen, sondern müssen sie auf die Einwohnerzahlen beziehen.
({0})
Da beißt nun einmal keine Maus den Faden ab. Wenn Sie sich die Statistik von 1996 ansehen, dann sehen Sie, daß bei vollendetem Mord und Totschlag die Zahlen in Hamburg und München identisch sind. Bei den Zahlen für Vergewaltigung, bei Raubüberfällen auf Geld- und Postinstitute, bei schwerer und gefährlicher Körperverletzung sind die Zahlen in München höher als in Hamburg, obwohl der Hafen in Hamburg größer ist als der in München.
({1})
Warum sage ich das? Was folgt daraus? Daraus folgt, daß die Vorstellung, die immer wieder verbreitet wird, man brauche nur bestimmte polizeiliche Eingriffsrechte oder strafrechtliche Bestimmungen zu verändern, dann würde die Kriminalität schwinden, offenkundig falsch ist, wie die Zahlen eindeutig zeigen. Vielmehr kommt es darauf an, an die Ursachen der Kriminalität heranzugehen. Es kommt darauf an, festzustellen, wie denn das ganze Riesenpaket von Änderungen der Straf- und Verfahrensrechte, die wir in den letzten beiden Legislaturperioden beschlossen haben, in der Wirklichkeit angewendet worden ist. Dazu hat der Bundesinnenminister leider - trotz unserer immer wiederholten Frage - im wesentlichen mit Nichtwissen geantwortet.
Das geht nicht. Das muß man hier klar und deutlich sagen, damit die Öffentlichkeit nicht auf eine falsche Spur geführt wird.
({2})
Nun kommt die zweite Kurzintervention des Abgeordneten Detlev von Larcher.
Herr Kollege Marschewski, das mit der einen SPD und der anderen SPD
könnte Ihnen so passen. Ich sage Ihnen: Es gibt nur die SPD.
({0})
Ich bin stolz auf meine Partei, die in dieser gewichtigen Frage einer Minderheitenmeinung Raum läßt und sie nicht glattbügelt, die der Minderheit sogar so viel Raum läßt, daß sie hier sprechen kann. Die CDU/ CSU könnte sich daran ein Beispiel nehmen.
({1})
Zur Antwort bitte Herr Kollege Marschewski.
Sehr verehrter Herr Kollege Dr. Hirsch, ich habe die Zahlen hier vorliegen: Mord und Totschlag 110:70, Vergewaltigung 273 : 201, Raubstraftaten 5 983 :1089. Mir ist völlig unbekannt, daß München - wenn ich die letzte Zahl nehme - fünfmal so groß wie Hamburg sein soll.
Ich sage noch einmal: Was wäre das eigentlich für ein Land gewesen, wenn wir das Ziel Ihrer Politik hätten akzeptieren müssen. Sie haben beim Asylrecht nein gesagt - wir hätten 500 000 oder mehr Asylbewerber in jedem Jahr in Deutschland. Sie haben zur Verbrechensbekämpfung nein gesagt. Sie wollen keinen Lauschangriff. Sie sind kritisch zum Geldwäschegesetz.
Herr Kollege Dr. Hirsch, das ist nicht das, was unsere Bürger wollen. Das ist nicht die freiheitlichdemokratische Grundordnung, die ich als gewählter Abgeordneter hier verteidige.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6620, 13/7954, 13/8650, 13/8651, 13/5196, 13/8652 und 13/8590 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Mehr Effektivität und demokratische Transparenz bei der Gewinnung und Analyse außenpolitischer Erkenntnisse durch Auflösung des Bundesnachrichtendienstes ", Drucksache 13/6862. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4374 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 i sowie Zusatzpunkt 1 auf:
4. a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zum wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1997
- Drucksache 13/8450 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
c) Beratung des Antrags des Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS
Beendigung der Zwangsprivatisierung von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen in den ostdeutschen Bundesländern durch Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
- Drucksache 13/8571Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen, und Städtebau ({1})
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner Schulz ({2}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Chancen für Ostdeutschland - Drucksache 13/8645 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({3}) Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Wolfgang Bierstedt, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Vermögen der DDR entsprechend den Festlegungen des Einigungsvertrages verwenden
- Drucksache 13/8656 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({4}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
Vizepräsidentin Michaela Geiger
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Bestandsaufnahme des Vermögens der DDR
- Drucksachen 13/1834, 13/6175 Berichterstattung:
Abgeordnete Arnulf Kriedner Dr. Wolfgang Weng ({6}) Karl Diller
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Anpassungsgeld und Knappschaftsausgleichsleistung für Bergleute in den neuen Bundesländern
- Drucksachen 13/5592, 13/6962 -
Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Grund
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({8}) zu dem Antrag des Abgeordneten Werner Schulz ({9}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufbau Ost braucht langen Atem
- Drucksachen 13/7789, 13/8581 -
Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Kaspereit
i) Beratung der Großen Anfrage der Gruppe der PDS
Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne in den neuen Ländern
Drucksachen 13/6565, 13/8236 ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Helmut Wilhelm ({10}), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nutzung des Altschuldenhilfegesetzes für eine Initiative zur Gründung von Wohnungsgenossenschaften
- Drucksache 13/8703 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({11})
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sieben Jahre nach der deutschen Einheit sind die Deutschen in Ost und West einander näher, als manche es wahrhaben möchten. Es gibt Berichte, die sich in der Darstellung des tatsächlichen oder mutmaßlich Unvollkommenen, des Ungerechten oder des noch immer Trennenden übertreffen. Diese Berichte sind meistens nicht falsch. Aber sie spiegeln immer nur einen Teil der deutschen Wirklichkeit wider, und sie treffen einen immer geringer werdenden Teil der deutschen Wirklichkeit.
Näher als andere waren sich die Deutschen in Ost und West immer; sonst hätte es die Wiedervereinigung nicht gegeben. Nähergekommen sind sich die Deutschen, weil sie eine zunehmend gemeinsame Erfahrungswelt haben, miteinander arbeiten, miteinander reisen, miteinander sprechen, miteinander Sorgen und Freude haben. Auch den grauen und sonnigen Alltag haben sie gemeinsam. Nun kann man sich hinstellen und sagen, das alles sei viel zu wenig. Ja, richtig! Aber, es wird immer mehr! Im übrigen sind die Friesen und die Niederbayern auch nicht jeden Tag dabei, den Grad ihrer Übereinstimmung zu messen.
Das Gemeinsame der Deutschen zeigt sich auch in der Übereinstimmung der politischen Prioritäten, in den Wünschen, in den Wertvorstellungen der Menschen und in den Zuneigungen sowie Abneigungen. Statistisch ist dies ablesbar. Man kann es im übrigen in fast jedem Gespräch feststellen.
Meine Damen und Herren, auch ich behaupte: Die Solidarität der Deutschen ist viel größer als angenommen. Es ist doch auf der einen Seite ganz natürlich, daß jemand, der materielle Solidarität übt - beispielsweise mit seinen Steuern -, fragt, ob sein Geld auch richtig angelegt ist. Genauso natürlich ist es auf der anderen Seite, daß jemand, der zum Ausgleich von Nachteilen, die er subjektiv nicht verschuldet hat, etwas erhält, nicht jeden Tag aufs neue danke sagen und Wohlverhalten zeigen möchte. Daraus schließen zu wollen, den Deutschen sei die Einheit zu teuer, das liegt neben der Sache.
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Für die ganz große Mehrheit der Deutschen ist die Einheit Anlaß zur Freude.
Wenn wir sieben Jahre nach der Einheit Bilanz ziehen, dann können wir Licht feststellen und auch Schatten. Aber insgesamt, so meine ich, sehen wir ein positives Ergebnis. Dabei stelle ich ganz vornan die Tatsache, daß nunmehr alle Deutschen in einem Rechtsstaat leben. Das heißt, niemand kann mehr den Anspruch erheben, die Wahrheit und die Macht ganz prinzipiell auf seiner Seite zu haben. Und niemand kann das Recht beugen. Es ist schwer, sich den Kontrollmechanismen des demokratischen Staates oder auch des Marktes zu entziehen. Ein Staat, der unter dem Anspruch von Parteilichkeit in Willkür
ausartete, ein Staat, der in subtiler Weise mit Belohnung und Strafe zu Lüge und Anpassertum verführen wollte, dieser Staat hat sich selbst überlebt. Allein das ist Anlaß zur Freude.
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Wenn ich das sage, dann behaupte ich nicht, wir lebten in einer vollkommenen Gesellschaft. Wir sind weit davon entfernt. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich selbst kontrolliert, korrigiert und damit die Chance bietet, vom Guten zum Besseren zu kommen. Wer da sagt, wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen, der verkennt, daß beides zwar nicht identisch, das eine aber ohne das andere nicht zu haben ist.
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Meine Damen und Herren, für viele Menschen im Lande werden die positiven Seiten der Einheit noch immer durch unleugbare Probleme überlagert. Da steht Redefreiheit auf der einen Seite gegen den Verlust vertrauter Bindungen im Beruf und im privaten Leben auf der anderen Seite. Da stehen Reisefreiheit und überbordende Ladenregale gegen die Bedrohung oder gar den Verlust des Arbeitsplatzes. Da steht Meinungsvielfalt gegen körperliche Bedrohung und wachsende Kriminalität. Wer mag schon jeden Morgen Ideale hochhalten, wenn ihn Alltagssorgen drücken? Ich habe dafür viel Verständnis. Aber können die vielen bestehenden Probleme wirklich überschatten, daß das vereinigte Deutschland in einer freiheitlichen Gesellschaft, in einem zusammenwachsenden Europa eine gute Chance für eine friedliche Zukunft hat? Nein, meine Damen und Herren, das können sie nicht.
({3})
Die Gesamtbilanz der Einheit für die Menschen und das Land, auch für unsere Nachbarn in Europa, kann sich sehen lassen. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist die Bilanz beachtlich. Man muß sich immer wieder die Ausgangssituation vor Augen halten. Wer erinnert sich noch an das Leistungsniveau der DDR-Wirtschaft? Die Produktivität lag allenfalls bei 30 Prozent des Westniveaus. Viele Maschinen und Anlagen waren hoffnungslos veraltet. Manche hatten den Zweiten Weltkrieg und die Demontage eher schlecht als recht überstanden. Die Produkte waren nicht attraktiv. Auf dem Weltmarkt hatten sie häufig nur wegen der staatlich manipulierten Devisenkurse überhaupt eine Absatzchance, und selbst dann reichte es im Vergleich zu westlichen Produkten nur zur zweiten und dritten Wahl.
An den Forschern, an den Ingenieuren, an den Arbeitnehmern in der DDR hat das nicht gelegen.
({4})
Ursache war das System, das Effizienz und Fortschritt fesselte. Die Industrie war in unbeweglichen Kombinaten organisiert. Importe und Exporte waren einseitig auf den RGW ausgerichtet. Der Mittelstand war kaum noch vorhanden, spätestens seit 1972, als die letzten Unternehmen verstaatlicht wurden. Vom
Handwerk gab es nur noch Reste, und diese wurden systematisch kujoniert.
Positiv schlug zu Buche: Jeder hatte Arbeit und damit auch Sicherheit. Aber diese Sicherheit war trügerisch; denn viele Arbeitsplätze hatten zu Wettbewerbsbedingungen keine tragfähige Basis. Wie viele Arbeitsplätze - unerwartet viele Arbeitsplätze - das waren, haben wir nach der Wende leidvoll erfahren müssen.
({5})
Wo stehen wir heute, meine Damen und Herren? Die Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft hat sich im Vergleich zur westdeutschen, vom Ausgangspunkt gerechnet, mehr als verdoppelt. Mancherorts ist der Osten sogar führend. Praktisch aus dem Nichts ist ein leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger Mittelstand aufgebaut worden. 510 000 Unternehmen haben mehr als 3,4 Millionen Arbeitsplätze geschaffen.
Wer erinnert sich noch an das Abenteuer, in die DDR zu telefonieren: 0037 und kein Anschluß. Wer erinnert sich an das Geratter auf den Schienen, wenn man in der DDR mit der Eisenbahn fuhr? Auch die Straßen waren in einem zum Teil desolaten Zustand. Ich erinnere mich noch sehr genau: Die Straße von Berlin in das Oderbruch, die über Strausberg führt, war bis zur Einfahrt des Hauptquartiers der NVA in Ordnung. Danach begann die Schlaglochpiste. An vielen Stellen war das ähnlich.
Das war der Zustand 1990. Die gesamte Infrastruktur war verschlissen. Man muß sich das vergegenwärtigen, meine Damen und Herren, um die gewaltigen Veränderungen ermessen zu können.
({6})
Bei der Infrastruktur können wir die Verbesserungen mit den Händen greifen: über 5 Millionen Telefonanschlüsse, 11 000 km Fernstraßen, 5 000 km Schienenstrecke und 340 km Autobahn können mit Stolz genannt werden. Vieles wurde beim Umweltschutz erreicht. Der Raubbau an Böden, Flüssen und Wäldern - Existenzgrundlage der Menschen - hat ein Ende.
Der Umbau der ehemaligen DDR-Wirtschaft - da kann man sagen, was man will - ist gut vorangekommen. Natürlich gibt es noch enorme Unterschiede beim Niveau. Aber - das ist das Entscheidende - Ost und West sind keine unterschiedlichen Welten, keine unterschiedlichen Systeme mehr. Die Vereinigung ist im Prinzip abgeschlossen.
Jetzt gilt es, Schritt für Schritt auf dem Erreichten aufzubauen. Es wird ein langer Weg sein, und es wird Rückschläge geben. Rückschläge, wie wir sie zumindest statistisch auch in diesem Jahr erleben. Das Wachstum in Ostdeutschland ist in diesem Jahr mit 2 Prozent - es ist Wachstum, aber nur 2 Prozent - geringer als im Westen. Dahinter steht der Wechsel der Auftriebskräfte. Der Bausektor, der durch den Nachholbedarf der ersten Jahre kräftig expandiert
war, schrumpft wieder. Das ist bedauerlich, aber auf irgendeine Weise auch ein Stück Normalisierung.
Wichtiger ist in diesem Zusammenhang: Das verarbeitende Gewerbe ist auf Wachstumskurs. Die Zuwachsraten im verarbeitenden Gewerbe sind mittlerweile zweistellig. Ganz besonders freue ich mich dabei über die Erfolge auf den internationalen Märkten. Die Exportnachfrage liegt derzeit um gut ein Drittel höher als vor einem Jahr. Die Unternehmen aus Ostdeutschland haben sich auf dem Weltmarkt zurückgemeldet, und zwar als wettbewerbsfähige Partner.
Der Strukturwandel in Richtung Industrie und Dienstleistung kommt unübersehbar voran. Beispiele dafür gibt es genug. Im Triebwerksbau, im Automobilbau, in der Informationstechnik, aber auch bei den Werften ist Neues entstanden oder Bestehendes von Grund auf verändert worden. Bei BMW/Rolls-Royce in Dahlewitz bei Berlin wird das weltweit modernste Strahltriebwerk hergestellt. Opel in Eisenach gehört zu den produktivsten Werken weltweit. Siemens und AMD machen Dresden zu einem Zentrum der Mikroelektronik. In Rostock werden Schiffe gebaut, die mit ihrer ausgefeilten Technik die Konkurrenz in Fernost nicht zu scheuen brauchen.
Es gibt beileibe nicht nur „Leuchttürme", die wie die eben genannten Mut machen. Auch innovative Mittelständler drängen mit Macht auf die internationale Bühne: Ein kleines Unternehmen aus Mecklenburg-Vorpommern liefert ein Elektronenmikroskop an die japanische Weltraumagentur NASDA. Aus Stendal werden bautechnische Expertensysteme nach Fernost verkauft. In Chemnitz werden Geräte produziert, die die Oberflächentechnik revolutionieren. Das ist auch für die Luft- und Raumfahrt und den Automobilbau in den neuen Ländern interessant.
Lassen Sie mich zum Automobilbau folgendes sagen: Wir haben das Beihilfenproblem bei VW Sachsen gemeinsam mit Kommissar van Miert im Grundsatz gelöst. Ich bin zuversichtlich, daß wir die letzten offenen Punkte noch in diesem Monat klären werden. Das gibt mir Gelegenheit, unseren europäischen Partnern und der europäischen Kommission, Kommissar van Miert und anderen, für die Unterstützung zu danken, die wir immer wieder von Brüssel erfahren haben.
({7})
Meine Damen und Herren, Beispiele für den Erfolg ostdeutscher Firmen auf den Märkten, wie ich sie gerade geschildert habe, machen Mut. Aber ich weiß sehr wohl: Das reicht nicht. All die Impulse haben die schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt noch nicht verbessern können. 1,38 Millionen Arbeitslose in den neuen Bundesländern sind nicht hinnehmbar, weder politisch noch finanziell. Dahinter stehen menschliche Schicksale; das muß bei einer ehrlichen Bilanz deutlich gesagt werden. Hier gibt es nichts zu beschönigen.
An der Herausforderung, Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir alle gemessen. Nur, anders als zu DDR-Zeiten lassen sich Arbeitsplätze nicht von
Staats wegen verordnen. Wir können ihre Erhaltung und ihr Entstehen finanziell und durch die richtigen Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Aktivitäten fördern. Frühzeitig und im Konsens - dafür bin ich der Opposition dankbar - haben wir über die wirtschaftliche Förderung im mittelfristigen Rahmen entschieden. Für die nächsten sieben Jahre weiß jeder Investor in den neuen Ländern, woran er in puncto Förderung ist.
Der Bundeshaushalt 1998, der den Bundestagsausschüssen zur Beratung vorliegt, entspricht dieser mittelfristigen Linie: Die Bundesleistungen für Investitionsförderung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung, Wohnungsbau und Existenzgründungen liegen mit insgesamt 95 Milliarden DM etwa auf dem bisherigen Niveau. Bei der Gemeinschaftsaufgabe Ost zeichnet sich eine Lösung ab, mit der sichergestellt wird, daß weiterhin jedes sinnvolle Projekt in den neuen Bundesländern gefördert werden kann. Bund und neue Länder haben hier eine verantwortungsvolle Position bezogen. Ich danke in diesem Zusammenhang meinen Kollegen, den Wirtschaftsministern aus den neuen Ländern, für ihre konstruktive und besonnene Haltung.
({8})
In der Transfer-Diskussion, die sich um diese Summe immer wieder entzündet, läuft aus meiner Sicht leider manches falsch und wird vieles unzulässig vereinfacht. Sind denn Aufwendungen für den Ausbau von Schiene und Straße wirklich Transfers von West nach Ost, wenn anschließend die Lkws westdeutscher und europäischer Firmen darüber rollen und damit Zeit und Geld sparen?
({9})
Ist die Unterstützung von Forschung und Entwicklung, von Aus- und Fortbildung ein Transfer von West nach Ost, wenn der Absolvent aus Leipzig später in einer Düsseldorfer Firma arbeitet?
({10})
Hier handelt es sich meines Erachtens um Investitionen in die gemeinsame Zukunft.
({11})
Sie liegt in Hamburg und Bayern genauso wie in Vorpommern oder Thüringen.
Arbeitsplätze schaffen, das heißt auch Fortsetzung der Reformpolitik, wie wir sie für ganz Deutschland brauchen; das heißt Entlastung bei Steuern und Abgaben, Neuorganisation der Arbeitswelt und Ausbau von Forschung und Entwicklung. Die Debatte darüber ist oft geführt worden. Wir sind ein wichtiges Stück weitergekommen.
Nur das will ich aus gutem Grund erwähnen: die Senkung des Solidarzuschlages.
({12})
Das entlastet Bürger und Unternehmen in Ost und West um gut 7 Milliarden DM. Weniger Solidaritätszuschlag bedeutet keinesfalls weniger Solidarität mit den neuen Ländern. Wer das behauptet, sagt wissentlich die Unwahrheit.
({13})
Die Bundesregierung tut das Ihre für den Aufbau in Ostdeutschland. Aber auch Wirtschaft und Gewerkschaften stehen in der Verantwortung. Die Initiative von Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften vom Mai dieses Jahres zeigt, daß die Verantwortung angenommen worden ist. Die Tarifparteien wollen mehr Spielräume für flexible und betriebsindividuelle Lösungen schaffen. Industrie und Handel in Westdeutschland wollen die ostdeutschen Anbieter aktiv in die gesamtdeutsche Arbeitsteilung einbeziehen. Dazu gibt es konkrete Zahlen und konkrete Verpflichtungen. Die Industrie wird ihre Einkäufe aus den neuen Ländern um 50 Prozent erhöhen; der Handel wird sie sogar verdoppeln.
Mit der Einkaufsmesse für ostdeutsche Konsumgüter in Düsseldorf Anfang September ist ein wichtiger - Gott sei Dank wurde er auch in der Öffentlichkeit nicht übersehen - Schritt getan worden. Über 900 ostdeutsche Aussteller haben mit 4 600 Vertretern des Handels Kontakte geknüpft. Das macht mich zuversichtlich: Der Wille, die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, ist da. Anfang Dezember werden wir eine erste Bilanz vorlegen.
Meine Damen und Herren, seit sieben Jahren leben alle Deutschen in einem Rechtsstaat. Das ist eine der großen Errungenschaften der Einheit. Aber bei der rechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit gibt es nach wie vor Irritationen; sie gibt es im Strafrecht, sie gibt es auch im Zivilrecht, etwa beim Eigentum. Investitionen brauchen aber eine sichere eigentumsrechtliche Grundlage. Ohne klare Zuordnung wird der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern nicht vorankommen.
Die Vorfahrtsregel für Investitionen, die wir gefunden haben, soll hier Abhilfe schaffen und hat das schon in großem Umfang getan. Der Prinzipienstreit über Rückgabe oder Entschädigung ist erfreulicherweise in den Hintergrund getreten. Der Interessenausgleich erfolgt durch Entschädigung zum Verkehrswert, wenn der Eigentümer nicht selbst investiert. Dieser Ausgleich trägt dazu bei, daß Rechtsfrieden in weiten Bereichen entstanden ist.
Gerechter Ausgleich ist aber nicht einfach zu bekommen. Das macht die Vorschriften zum Eigentum so kompliziert; das stellt hohe Anforderungen an die Verwaltung beim Vollzug dieser Vorschriften. Die neuen Länder dürfen bei den Anstrengungen, für schnelle Klarheit zu sorgen, nicht nachlassen. Ein langer Streit über die Vergangenheit gefährdet das
Zusammenwachsen von Ost und West. Auch hier gilt es, die Einheit herzustellen und die gemeinsame Zukunft im Interesse aller zu gewinnen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen und sagen, daß wir noch lange nicht am Ziel sind. Was die Menschen in Ost und in West in den sieben Jahren der Einheit erreicht haben, ist Anlaß zur Freude. Niemandes Leistung soll geschmälert werden. Aber hervorheben möchte ich doch: Nichts wäre gelaufen, nichts hätte sich bewegt ohne den Anstoß aus Ostdeutschland.
({14})
Die gleichen Menschen, die im November 1989 die Mauer eingedrückt haben - von Osten nach Westen, wohlgemerkt - haben sich seither mit Flexibilität und Initiative auf das Neue eingestellt, und sie haben das Neue gestaltet. All dies ist ohne Beispiel in unserem Land, und es verdient Anerkennung und Respekt.
({15})
Was die Menschen in Ost und in West in den sieben Jahren der Einheit erreicht haben, ist aber auch ein Lehrstück für alle, auch für uns im Westen. Der Umbruch in Ostdeutschland kann Modell sein für das ganze Land. Wer die Vorreiter für Reformen in Deutschland sucht, der sollte sich zuerst zwischen Rügen und Fichtelberg umschauen, so zum Beispiel, wenn es um Innovationen in der Tarifpolitik geht oder um unkonventionelle Lösungen bei der Privatisierung der Infrastruktur. Ich bin nicht sicher, ob dies im Westen ohne weiteres möglich gewesen wäre und ob die Lasten und Unsicherheiten so getragen worden wären, wie das im Osten der Fall war.
({16})
Jetzt geht es darum, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Wir sind in Deutschland dreifach gefordert:
Erstens. Wir müssen fertig werden mit einer total veränderten Weltwirtschaft, mit nicht oder kaum noch vorhandenen Handels- und Investitionsbarrieren und dem Verlust der klassischen Monopolsituation der Industrieländer, auch unseres Landes.
Zweitens. Wir wollen und müssen Lokomotive der Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Dies erfordert Disziplin und Beschränkungen.
Drittens haben wir mit den Herausforderungen der Einheit fertig zu werden, finanziell und politisch.
Meine Damen und Herren, noch nie nach dem Krieg hat es einen solchen dreifachen Kraftakt gegeben. Noch nie standen wir vor solchen Herausforderungen. Vieles in der alten Bundesrepublik ist nicht mehr, wie es einmal war. Wie sollte es auch? Dafür haben sich für eine Neuordnung Europas Gelegenheiten und Chancen eröffnet, von denen die Menschen bisher nur träumen konnten. Wir tun uns manchmal schwer, aber alles in allem kommt die Vereinigung gut voran, allemal besser als in der Zeit der Konfrontation.
Nun werden wir wieder in unsere Debatten eintreten, unsere Auseinandersetzungen und manchmal auch unsere Polemik weiterführen. Vielleicht gehört das zur Demokratie. Aber es lohnt sich, einmal innezuhalten, nachzudenken und die Dinge im Gesamtzusammenhang zu sehen. Dabei sollte auch Freude aufkommen und, wie ich meine, ein Stück Dankbarkeit.
Schönen Dank.
({17})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir halten Bilanz nach der Vollendung des siebten Jahres der deutschen Einheit. Ich hätte es besser gefunden, wenn der Bundeskanzler selbst hierzu eine Regierungserklärung vorgetragen hätte.
({0})
Dies wäre der Bedeutung des Themas, der Bedeutung dieser zentralen Aufgabe angemessener gewesen.
Die Bilanz nach dem siebten Jahr der deutschen Einheit ist eine Mischung aus Erfolgen und Enttäuschungen. Ja, es gibt Erfolge. Wer wird sie ernsthaft bestreiten? Die ostdeutschen Städte und Straßen sehen besser aus. Die Infrastruktur ist erheblich verbessert worden. Es gibt bemerkenswerte Inseln des Wachstums und der Modernisierung: im Fahrzeugbau, in der Chemie, in der Optik, in der Informationstechnologie. Auch die ostdeutsche Landwirtschaft hat - gegen alle Anfechtungen der Alteigentümer oder westdeutscher Interessenten - eine erfolgversprechende Perspektive. Die Entwicklung des Mittelstandes ist durchaus eine Erfolgsgeschichte, auch wenn sie hochgradig gefährdet ist; das muß man sofort hinzufügen.
Für die meisten Rentner, nicht für alle, ist die Rente höher. Es gibt viel ostdeutsche Leistungsbereitschaft und Änderungsfähigkeit, viel Geduld und Durchhaltewillen, viel Unternehmungsgeist. Es gibt viel gesamtdeutsche Solidarität. Wer erinnert sich nicht an die Tage der Flutkatastrophe an der Oder.
({1})
Es gibt wahrlich viel Unternehmungsgeist; aber ich füge halblaut hinzu: Es gibt vielleicht noch zu wenige Unternehmer und zu viele Kapitalisten.
({2})
Es gibt also Erfolge, aber auch schmerzliche Enttäuschungen und Mißerfolge. Wir haben die neuesten Arbeitslosenzahlen erhalten. Danach ist die Arbeitslosenrate in Ostdeutschland doppelt so hoch wie die im Westen. Das wirtschaftliche Wachstum
Ost bleibt zurück. Die Kluft zwischen Ost und West vergrößert sich wieder. Von einem dynamischen Prozeß der Angleichung kann gegenwärtig keine Rede mehr sein. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist aber ein Grundgesetzauftrag. Wir sind bestenfalls auf halbem Wege zu seiner Verwirklichung.
Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost ist nicht dann erledigt, wenn es der Bundesregierung paßt oder wenn Finanzminister Waigel klamm ist, sondern erst dann, wenn die Nachteile der Ostdeutschen bei den Lebensverhältnissen ausgeglichen sind.
({3})
Es gibt sehr konkrete Maßstäbe, um festzustellen, wann die Arbeit getan ist: das Volkseinkommen pro Kopf, die Produktivität, den Wert der Investitionen pro Kopf, den Industriebesatz, den Zustand der öffentlichen Infrastruktur, die Erwerbsquote auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Das Grundgesetz hat für die Aufgabe der Angleichung der Lebensverhältnisse ausdrücklich den Bund in die Pflicht genommen; denn es handelt sich um ein gesamtstaatliches Anliegen. Der Bund kann sich nicht hinter den Ländern, auch nicht hinter den sozialdemokratisch geführten, verstecken.
({4})
Wenn ich die genannten Maßstäbe ernst nehme, sehe ich beim Blick auf die deutschen Verhältnisse ein dramatisch ernüchterndes Bild, das mancher schönfärberischen Rede widerspricht. Die neuen Bundesländer verfügen im Vergleich zu Gesamtdeutschland über ein Drittel der Fläche, ein Fünftel der Bevölkerung, ein Sechstel der Selbständigen, aber über nur knapp ein Zehntel des Sozialprodukts, nur knapp ein Zehntel der deutschen Exporte nach Mittel- und Osteuropa -1990 waren es noch über die Hälfte -, nur ein Zehntel des Bestandes an den Beteiligungen der Beteiligungsgesellschaft, nur ein Vierzehntel des in Ostdeutschland vorhandenen Produktivvermögens, nur ein Zwanzigstel der Industrieproduktion. Ich wiederhole: ein Fünftel der Bevölkerung, nur ein Zwanzigstel der Industrieproduktion, nur ein Fünfundzwanzigstel der Forschungs- und Entwicklungsausgaben, nur ein Fünfzigstel des Exports - dafür aber über ein Drittel der Pleiten und ein Drittel der Arbeitslosen.
({5})
Ich rufe diese Daten in Erinnerung, damit klar wird, vor welchen großen Aufgaben wir noch stehen. Dies gehört zu einer ehrlichen, aufrichtigen Bilanz am siebten Jahrestag der deutschen Einheit.
({6})
Da wir heute eine Debatte vor allem über wirtschaftliche Fragen des Aufbaus führen, möchte ich noch einige wirtschaftliche Problempunkte hinzufügen. Die Wirtschaftsleistung je Einwohner Ost beträgt erst die Hälfte des westdeutschen Werts. Die Produktivität ist halb so hoch. Das Lohnstückkostenniveau ist noch zirka 30 Prozent höher als im Westen. Die Ertragslage der ostdeutschen Unternehmen ist
unbefriedigend. Sie sind zudem bedrohlich unterkapitalisiert. Noch immer haben ostdeutsche Unternehmen große Nachteile beim Zugang zu überregionalen und internationalen Märkten. Die Lücke zwischen dem, was produziert wird, und dem, was verbraucht wird, ist riesig. Viele privatisierte Ex-Treuhandunternehmen sind in ihrer Existenz hochgradig gefährdet. Nicht zuletzt: Die Gefahr ist groß, daß das Wachstum, der konjunkturelle Aufschwung, in Ostdeutschland nicht zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit führen wird.
Angesichts dieser Probleme und Aufgaben ist nichts wichtiger als Stabilität und Verläßlichkeit der finanziellen Förderung des Aufbaus Ost.
({7})
Wir brauchen die Beibehaltung des Förderniveaus von 1996. Die ständigen Debatten, das Hin und Her beim Solidaritätszuschlag und bei den GA-Mitteln waren und sind Gift. Sie verunsichern, sie erzeugen Zweifel an der notwendigen - auch finanziellen - Solidarität, ebenso jene unsäglichen Vorhaltungen über die Transferleistungen. Ich bin Herrn Rexrodt sehr dankbar, daß er hierzu eine andere Position eingenommen hat.
({8})
Die nun vorgeschlagene Finanzierung der SoliKürzung auf Pump durch Schuldenverschiebung nährt die Zweifel ganz heftig, denn die Sache wird dadurch nicht billiger, sondern teurer, weil das Geld dann später fehlen wird.
({9})
Nach allen Erfahrungen der letzten Jahre - das waren schlechte Erfahrungen - haben Sie immer wieder gerade beim Aufbau Ost mit den schlimmen Folgen gekürzt, die ich mit den Daten belegt habe.
Deswegen fordern wir also erstens eine stetige und verläßliche Förderung des Aufbaus Ost. Es darf keinerlei weitere Kürzungen geben.
({10})
In Ostdeutschland wird - ich erinnere an die Zahl - nur ein Fünfundzwanzigstel der Forschungs- und Entwicklungsausgaben getätigt. Das ist ein besonders alarmierendes Faktum. In Ostdeutschland kommen nur 1,18 Industrieforscher auf 1000 Einwohner. Der EU-Durchschnitt beträgt 4,7 Industrieforscher pro 1000 Einwohner. Ostdeutschland befindet sich damit auf dem Niveau Griechenlands und Portugals. In Westdeutschland beschäftigen sich - pro Einwohner gerechnet - fast dreimal soviel Menschen in den Unternehmen mit Forschung und Entwicklung, die allermeisten davon in Großunternehmen. In Ostdeutschland dagegen arbeiten 85 Prozent der Forscherinnen und Forscher in kleinen und mittelständischen Betrieben. Das erklärt die Abhängigkeit Ostdeutschlands von Fördermitteln des Bundes und von Aufträgen aus dem Westen. Der Forschungs- und Entwicklungsaufwand beträgt in Ostdeutschland
0,05 Prozent der Investitionssumme, im Westen ist er zwölfmal so hoch.
Vor diesem Hintergrund muß zweitens die künftige Förderung Ost ihren eigentlichen Schwerpunkt darin haben, daß Ostdeutschland als Innovationsstandort ausgebaut wird.
({11})
Wir brauchen eine Erweiterung der Innovations-potentiale in Ostdeutschland. Wir müssen die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten ausbauen. Wir müssen vor allem die industrienahe Forschung fördern und erweitern. Die Umstrukturierung der Universitäten und die Ansiedlung von Max-PlanckInstituten usw. sind trotz aller Detailprobleme einigermaßen gut gelaufen.
Wir schlagen deshalb vor, die Fördersätze für Forschungsprojekte Ost für einen längeren Zeitraum deutlich über den Fördersätzen West zu belassen. Wir schlagen vor, Lohnkostenzuschüsse für Forschungs- und Entwicklungspersonal bis zu einer Höhe von 20 Prozent der Lohnsumme ebenfalls über einen längeren Zeitraum zu gewähren. Wir schlagen vor, externe Forschungseinrichtungen, zum Beispiel Forschungs-GmbHs, mehr und verläßlich zu fördern, weil kleine und mittelständische Unternehmen in Ostdeutschland auf absehbare Zeit finanziell immer hinterherhinken werden. Die Förderung muß mehr als bisher zur Serienreife führen, also marktnähere Förderung sein. Wir brauchen schließlich auch Steuerbegünstigungen für Risikobeteiligungen an innovativen Unternehmen.
Drittens. Notwendig sind - konzentrierter als bisher - wirksame Hilfen für ostdeutsche Unternehmen, um ihnen den Zugang zu westdeutschen und internationalen Märkten zu erschließen. Dies ist nach wie vor eine Hauptschwäche.
Viertens. Es hilft nichts: Die Treuhandnachfolger bleiben in der Pflicht, privatisierte Treuhandunternehmen auch in den nächsten Jahren aktiv zu begleiten und zu unterstützen, wo sich diese in einem kritischen Entwicklungsstadium befinden; das sind wahrlich nicht wenige.
Fünftens. Wir brauchen eine entschlossene Förderung der Vermögensbildung in Ostdeutschland, insbesondere der Beteiligung am Produktivvermögen. Nur so ist der Einkommensspaltung in Deutschland, der Spaltung in Eigentümer ({12}) und Eigentumslose ({13}), zu begegnen. Vermögensbildung ist übrigens auch eine notwendige, allerdings nicht hinreichende Bedingung dafür, daß die Lohn- und Einkommensentwicklung in Ostdeutschland in sowohl wirtschaftlich sinnvoller als auch sozial erträglicher Bahn verläuft.
Sechstens. Wir brauchen auch weiterhin eine mutige Fortsetzung aktiver Arbeitsmarktpolitik im Osten. Arbeitslosigkeit ist das größte Hindernis für das deutsche Zusammenwachsen.
({14})
Deswegen sind Ihre Kürzungen bei den ABM grundfalsch. Denn weniger ABM heißt: noch weniger Arbeitsplätze. Die Kräfte des Marktes stärken eben nur diejenigen, die sich schon erfolgreich auf dem Markt tummeln. Das sind in Ostdeutschland bisher zu wenige. Diejenigen, die neu auf den Markt wollen, brauchen noch unsere kräftige politische wie finanzielle Unterstützung.
({15})
Neulich hat Frau Noelle-Neumann beklagt - andere klagen auch darüber -, daß eine Mehrheit der Ostdeutschen die Freiheit so gering schätzte und Gleichheit, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit wichtiger fände. Das ist wohl so. Aber darf das ein Anlaß für Kritik an den Ostdeutschen sein? Ich glaube, nicht. Unser in Ostdeutschland geradezu dramatisches Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit ist nicht nur verständlich, sondern steht auch nicht im Gegensatz zur Freiheit und ihrer Wertschätzung.
({16})
Wer das behauptet, versteht von den Ostdeutschen überhaupt nichts.
Daß 60 Prozent der Ostdeutschen meinen, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit seien das Wichtigere, dieser Befund belegt etwas ganz und gar nicht Neues. Das Ja zur Demokratie und der rechte Gebrauch der Freiheit sind von ökonomischen und sozialen Voraussetzungen und Bedingungen abhängig, die durch Freiheit nicht schon gegeben sind, sondern für die freiheitliche soziale Politik immer wieder zu sorgen hat. Die Gefühlslage der meisten Ostdeutschen erinnert wieder neu an diese sehr elementare Tatsache. Wir haben also durch vernünftige Politik, durch überzeugende Förderungs- und Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland dafür zu sorgen, daß die Wertschätzung der Freiheit auch in Ostdeutschland zunehmen kann. Darum geht es.
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Paul Krüger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der siebte Jahrestag der deutschen Einheit war Anlaß, bezüglich der Entwicklung in den neuen Bundesländern vielfältig Bilanz zu ziehen. Es liegt auf der Hand, daß diese Bilanzen je nach Sichtweise der Betrachter unterschiedlich ausgefallen sind. Auch die heutige Debatte gibt Zeugnis für unterschiedliche Wertungen der Entwicklungen.
Bei allen Gegensätzen scheinen wir uns wenigstens mittlerweile alle darüber einig zu sein - das freut mich -, daß die Wiedervereinigung notwendig war. Nach allen in den letzten Tagen durchgeführten
Umfragen ist dies auch die Meinung der breiten Mehrheit der Öffentlichkeit in den neuen Bundesländern. So freuen sich nach einer Infratest-Umfrage 86 Prozent der Deutschen im Westen und 93 Prozent im Osten über die Wiedervereinigung.
Ebenfalls durchaus positiv wird durch die überwiegende Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern die persönliche Lebenssituation eingeschätzt. Im Osten sind mittlerweile 74 Prozent mit ihrem neuen Leben zufrieden. Neben deutlich gestiegenen Einkommen - das fällt in unseren Debatten immer wieder zu flach - ist besonders hervorzuheben, daß es gelungen ist, konsequent und in erstaunlich kurzer Zeit die Sozialsysteme der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer zu überführen,
({0})
dies übrigens auch gegen den damaligen Widerstand Oskar Lafontaines. Ich habe entsprechende Zitate.
Die Wiedervereinigung und unsere Politik seither waren ohne ernsthafte Alternative. Sie waren richtig und im Rahmen des Möglichen erfolgreich. Das wird auch von der Mehrheit der Menschen so gesehen. Die besonders Ungeduldigen sollten sich vor Augen führen, daß die Wiedervereinigung erst halb so lange währt wie früher die durchschnittliche Wartezeit auf einen Trabbi.
({1})
Die gelegentlich pauschalisierend geäußerte Vermutung, die Menschen in den neuen Bundesländern seien unzufrieden, trifft so nicht zu. Richtig ist vielmehr, daß ein Teil der Menschen in den neuen Bundesländern durchaus verunsichert ist. Die Ursachen für die Verunsicherung liegen vor allem in der notwendig kurzfristigen vollständigen Umstellung der Lebenssituation in Ostdeutschland, gleichermaßen im rechtlichen Bereich, im sozialen Bereich und insbesondere im beruflichen Bereich.
Das Ausmaß dieser Umstellung beweist die Tatsache, daß nur jeder vierte in Ostdeutschland in den letzten Jahren seinen angestammten Arbeitsplatz behalten hat. Viele Menschen hatten sich auf eine Arbeit in völlig neuen Bereichen, in völlig neuen Unternehmen umzustellen. Viele dieser Unternehmen befinden sich darüber hinaus in finanziell schwierigen Situationen. Zu viele Menschen finden keine Arbeit, obwohl sie arbeiten wollen. Die Arbeitslosigkeit ist derzeit das größte Problem in den neuen Bundesländern.
Weitere Faktoren der Verunsicherung sind - insbesondere im Verhältnis zu den alten Bundesländern - in der völlig unterschiedlichen Vermögenssituation, aber auch in der, wie ich meine, nicht hinnehmbaren Kriminalitätsentwicklung zu sehen.
Angesichts dieser beträchtlichen Verunsicherung ist es nicht verwunderlich, daß sich manch einer nach der „schäbigen Normalität der DDR" zurücksehnt, wie Richard Schröder es einmal formulierte. Es gibt drei wesentliche Gründe für diese vermeintliche Nostalgie.
Der erste ist die Vermischung von politisch - objektiver und persönlich - subjektiver Vergangenheit, also die Vermischung des alles und alle beherrschenden DDR-Systems mit der persönlichen Biographie, mit dem Leben und der Heimat der Menschen. Aber nicht die Menschen, nicht ihre Biographie, nicht ihr Leben oder ihre Heimat waren das Problem, sondern das DDR-System mit seinen zum Teil schlimmen Auswirkungen auf die Menschen, auf die Wirtschaft und auf die Umwelt.
Der zweite Grund ist das Vergessen des Negativen, das Vergessen dessen, was realer Sozialismus in der DDR auch bedeutete: verfallene Häuser, löchrige Straßen, ein unzureichendes Abwassernetz, eine zum Teil zerstörte und vergiftete Umwelt und nicht zuletzt die Überwachung, Bevormundung, Gängelung,
({2})
Zersetzung bis hin zu Repressalien, die sich unter dem Begriff „Stasi" zusammenfassen lassen.
Deshalb bleibt es eine Notwendigkeit, immer wieder daran zu erinnern, was Sozialismus bedeutet, besonders dann, wenn es um die Gestaltung unserer Zukunft geht.
({3})
Der dritte Grund ist die Erkenntnis der Menschen im Osten, daß das neue System nicht ideal ist - oder zumindest nicht so ideal, wie man es sich vorgestellt hat. Es sind zwar nur wenige, die sich das alte System zurückwünschen, aber auch diese sollten sich vor Augen führen, in welch katastrophaler wirtschaftlicher Situation sich die DDR zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung befand.
Auch sieben Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es noch besondere Defizite im Osten unseres Vaterlandes. Zu nennen ist neben der viel zu hohen Arbeitslosigkeit vor allem die nach dem Wegbrechen der mittel- und osteuropäischen Märkte viel zu schmale industrielle Basis. Wir sollten uns daran erinnern: 1939 waren auf dem Gebiet der heutigen fünf neuen Länder 35 Prozent der deutschen Industrieproduktion konzentriert; 1990, nach dem Wegbrechen der gesamten Ostexporte, waren es noch ganze 5 Prozent. Hier sehen wir, an welchem Defizit wir zu arbeiten haben.
Aber bei allen noch zu lösenden Problemen besteht kein Anlaß zum Pessimismus. Gemessen am Stand von vor sieben Jahren haben wir insbesondere in den neuen Bundesländern viel erreicht. Wenn ich „wir" sage, dann meine ich damit nicht nur die Politik oder diejenigen, die dort materiell investiert haben, sondern auch und vor allem diejenigen Menschen, die den schwierigen Reformprozeß mit Mut, Engagement, mit Wagnis- und Innovationsbereitschaft und mit Einsatzwillen für eine bessere Zukunft begleitet haben und in ihn investiert haben.
Als Ergebnis haben wir am Standort Deutschland, insbesondere am Standort Ostdeutschland heute besondere Vorzüge aufzuweisen: Wir haben einen sehr
hohen Ausbildungsstand der Menschen, insbesondere im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Die Motivation der Arbeitnehmer ist nach Aussage aller Investoren überdurchschnittlich hoch. Die Infrastruktur wird laufend ausgebaut. Wir haben oft gehört - auch hier im Hause -, welche Fortschritte wir im Bereich der Verkehrsinfrastruktur gemacht haben. Das Geld, das dort angelegt wurde, war gut angelegt. Die Kommunikationsinfrastruktur ist heute besser als in den alten Bundesländern.
Maßnahmen zur Deregulierung und Verwaltungsvereinfachung haben teilweise bereits Vorbildfunktion für ganz Deutschland. Wir haben ein wirksames Instrumentarium zur Ansiedlung und Festigung von Unternehmen entwickelt. Dazu gehören unter anderem die steuerliche Wirtschaftsförderung, Investitionszuschüsse über die Gemeinschaftsaufgabe mit einem beträchtlichen jährlichen Volumen der Förderung. Dazu gehören die Eigenkapitalhilfe Ost, der Beteiligungsfonds Ost und diverse Förderprogramme, die ich jetzt nicht in vollem Umfang anführen kann.
Herr Thierse, Sie haben die Defizite im Innovationsbereich angesprochen. Die sehe ich genauso wie Sie. Ich möchte Sie an dieser Stelle aber daran erinnern, daß wir 50 Prozent der ostdeutschen Industrieforschung über Programme von Bund und Ländern fördern, in Westdeutschland 4 Prozent. Ich sage das, damit wir einmal die Relationen sehen. Trotzdem sind die Erfolge nicht ausreichend, auch das müssen wir immer wieder sagen.
Ich wundere mich aber auch, Herr Thierse, daß die Innovationszulage, die wir seit beträchtlicher Zeit fordern und die im Zusammenhang mit dem Investitionszulagengesetz eingeführt werden sollte, insbesondere durch die Finanzministerinnen in den neuen Bundesländern, die allesamt von der SPD kommen, abgelehnt worden ist. Ich freue mich, daß Sie uns in Zukunft auf dem richtigen Wege unterstützen.
Im Ergebnis haben wir in den letzten Jahren über 500 000 Existenzgründungen in den neuen Bundesländern. Das Wachstum bei der verarbeitenden Industrie und bei den Dienstleistungen liegt derzeit jeweils bei mehr als 6 Prozent. Bis Ende 1996 wurden 375 000 Wohnungen in den neuen Ländern neu gebaut und mehr als die Hälfte des Bestandes saniert.
Mit dem neuen Investitionszulagengesetz, das Zulagen bis zu 20 Prozent beinhaltet, haben wir eine attraktive, zielgenaue Förderung geschaffen, die besonders den in Ostdeutschland Wirkenden, die unmittelbar vor Ort wirtschaftlich aktiv werden, zugute kommt.
Auch wenn bei uns die Situation in der Folge von 40 Jahren Sozialismus immer noch schwierig ist, besteht kein Grund, den Standort Deutschland permanent schlechtzureden - und schon gar nicht den Standort Ostdeutschland.
({4})
Es bestehen vielmehr gute Gründe für Hoffnungen darauf, die begonnenen Entwicklungen erfolgreich fortzusetzen.
Hierzu wird die durch den Bundeskanzler initiierte gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland weitere vielfältige Beiträge leisten, insbesondere auch zur Lösung der momentan besonders schwierigen Ausbildungsplatzsituation. Aber wir werden gerade zu diesem Komplex heute noch eine besondere Debatte haben. Ich glaube, wir sind - das kann ich jetzt schon sagen - auf einem guten Wege, auch dieses Jahr die Situation wieder zu meistern - bei allen Schwierigkeiten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aufarbeitung der SED-Erblasten in den neuen Ländern ist aber nicht die einzige Aufgabe und nicht die einzige Herausforderung in Deutschland, die wir zu bewältigen haben. Der gesamte Standort Deutschland steht vor Umbrüchen, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Ich nenne hier die Globalisierung der Wirtschaft, welche die internationale Wettbewerbsfähigkeit immer wichtiger werden läßt. Ich nenne den demographischen Wandel, der uns dazu zwingt, über eine bloße Fortschreibung überkommener Lösungsansätze hinaus unsere sozialen Sicherungssysteme zur Bewältigung der sich ständig ändernden Aufgaben zukunftsfähig zu machen.
Die Lösung dieser übergreifenden Probleme hat für den wirtschaftlich schwächeren Osten naturgemäß besondere Bedeutung. Wenn wir mit den zur Problemlösung notwendigen Reformen heute noch nicht so weit sind, wie es eigentlich zu wünschen wäre, so liegt dies nur zum Teil daran, daß die vereinigungsbedingte Sonderkonjunktur den Blick für die Größenordnung und für die Dringlichkeit der notwendigen Reformen - übrigens bei allen gesellschaftlichen Partnern - verstellt hatte.
Ein entscheidendes Hemmnis für rasche Fortschritte in den letzten Jahren war aber auch die Behinderungs- und Verhinderungstaktik der SPD im SPD-dominierten Bundesrat.
({5})
- Ja, meine Damen und Herren, Sie mögen das nicht gerne hören. Aber es gibt für diese Blockade genug Beispiele. Ich will hier nur zwei nennen. Zur großen Steuerreform hat die Koalition zigmal ihre Kompromißbereitschaft angezeigt.
({6})
Die SPD dagegen war nie zu echten Verhandlungen bereit. Daß diese Blockade auch bei den Bürgern als Wahlkampftaktik durchschaut wird, zeigen aktuelle Umfrageergebnisse. Die große Steuerreform ist damit übrigens nicht, wie manche meinen, gescheitert. Sie ist vielmehr bis zum Wechsel der Mehrheiten im Bundesrat vertagt.
({7})
Aber auch bei der Einführung der neuen Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes hat die Opposition im letzten Jahr heftig blockiert. Das Ergebnis war, daß die Maßnahmen erst mit drei Monaten Verzögerung in Kraft treten konnten. Seitdem konnten allein durch Lohnkostenzuschüsse in den neuen Bundesländern 33 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ohne SPD-Blockade hätten das, wie ich meine, bereits einige tausend Arbeitsplätze mehr sein können.
({8})
Wir halten die ABM für notwendig, aber nicht für das alleinseligmachende Mittel. Vielmehr sind wir der Meinung, daß wir über neue Instrumente der Arbeitsmarktpolitik nachdenken müssen. Hier haben wir gerade in den neuen Bundesländern ein Feld, wo wir sie erproben können. Das tun wir bereits erfolgreich.
({9})
Auch der neueste Akt in diesem traurigen Schauspiel der SPD wird von Herrn Lafontaine inszeniert. Er fordert massive Lohnerhöhungen.
({10})
- Ja, das ist wirklich unglaublich, Herr Fischer. Er weiß doch, daß in den neuen Ländern bereits heute drei Viertel der Unternehmen untertariflich arbeiten müssen, und zwar deshalb, weil sie sonst einfach nicht wettbewerbsfähig wären. Wir wissen, welche unheilvolle Tarifentwicklung wir in den neuen Bundesländern hinter uns haben und welche Auswirkungen diese auf die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere bei den Arbeitsplätzen, gehabt hat.
({11})
Das Signal gerade von der SPD ist verheerend. Jeder potentielle Investor, der in Deutschland und gerade in Ostdeutschland neu investieren will, muß sich verunsichert fühlen. Der Eindruck - das muß ich so offen sagen - drängt sich auf, daß Lafontaine vor dem Hintergrund der nächsten Wahlen nichts mehr als den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland fürchtet und daß er nichts unversucht läßt, diesen wirtschaftlichen Aufschwung zu verhindern.
({12})
Gleichwohl hat die Koalition das auf der Grundlage von Gesprächen mit Wirtschaft und Gewerkschaften entstandene 50-Punkte-Programm vollständig umgesetzt, soweit dies gegen den Widerstand der SPD durchsetzbar war.
({13})
Wesentliche Punkte dabei waren: Wir haben die Substanzsteuer auf Gewerbekapital und Vermögen, das heißt alle Substanzsteuern in Deutschland, völlig abgeschafft und - das ist wichtig ({14})
in den neuen Ländern erst überhaupt nicht eingeführt.
({15})
Wir haben beschäftigungsfreundliche Neuregelungen im Arbeitsrecht durchgesetzt. Ebenso haben wir Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Eindämmung des Anstiegs der Lohnnebenkosten in Angriff genommen. Ich glaube, all diese Neuregelungen wirken sich in Ostdeutschland besonders stark aus; genauso wirken sie natürlich auch in Westdeutschland. Sie sind jedoch für die neuen Länder von noch größerer Bedeutung, weil hier die Defizite und damit auch die Notwendigkeit zum Handeln besonders groß sind.
Damit sind wir beim Kern der Betrachtungen zum Jahrestag der Deutschen Einheit angelangt: Wenn gefragt wird, wie lange es noch dauert, bis wir wirtschaftlich die innere Einheit erreicht haben werden, so gibt es zwei nur scheinbar widersprüchliche Antworten.
({16})
Zum einen wird es noch viele Jahre bis zu einer Annäherung der wirtschaftlichen Leistungskraft zwischen Ost und West dauern. Zum anderen ist es natürlich so, daß die Wiedervereinigung längst vollzogen ist, da beide Teile in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung unmittelbar voneinander abhängen.
({17})
Deshalb ist die Fortsetzung der Sonderförderung für Ostdeutschland auf hohem Niveau unverzichtbar; genauso dringlich sind aber Reformen zur Lösung der Probleme bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen auf gesamtdeutscher Ebene.
({18})
Nur wenn wir beide Voraussetzungen erfüllen, werden wir Arbeitsplätze sichern können.
({19})
Demagogisch verhält sich, wer auf der einen Seite für den Osten Unrealistisches fordert und sich auf der anderen Seite der Lösung der Probleme auf gesamtdeutscher Ebene verweigert.
({20})
Wer so handelt, vergrößert die Probleme in den neuen Bundesländern überproportional. Nur wenn wir unnötige Blockaden vermeiden und die Aufgaben in Gesamtdeutschland zielstrebig abarbeiten, haben wir alle Chancen für einen Erfolg beim Aufbau Ost.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schulz, Bündnis 90/ Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ost und die Schaffung neuer Arbeitsplätze haben für ihn höchste Priorität, hat der Bundeskanzler auf dem Festakt in Stuttgart gesagt. Deswegen ist er hier und arbeitet so emsig, indem er Unterstreichungen in seinem Redetext vornimmt. Deswegen wird er hier auch nicht nur seinen Kabinettsprimus vorgeschickt haben, der heute eine durchaus ausgewogene Rede gehalten hat,
({0})
aber im Grundtenor doch bestätigt hat, daß er auf die Vorgänge in der Wirtschaft wenig Einfluß nimmt.
Herr Bundeskanzler, da Sie nicht nur denkmalgeschützte Veranstaltungen besuchen werden, sondern die Debatte für ein modernes Deutschland vorantreiben wollen - so hoffe ich zumindest -, geben Sie mir wenigstens die Möglichkeit, mich ganz kurz mit Ihrer Festrede auseinanderzusetzen. Sie haben gleich zu Beginn gesagt:
Ich denke an Michail Gorbatschow, ohne den wir diesen Tag der Deutschen Einheit nicht feiern könnten.
({1})
- Jetzt wird es ganz lustig, Herr Feilcke. - Sie haben nämlich diesen Tag ohne Michail Gorbatschow gefeiert, obwohl Sie diesem Mann, den Sie in Verkennung seiner Reformabsichten und seiner Reformkonsequenz noch wenige Jahre vor der Deutschen Einheit in die Nähe von Goebbels gerückt haben, einiges zu verdanken haben. Dieser Mann ist am 3. Oktober in Leipzig von den Bürgern dieser Stadt empfangen worden, die offensichtlich ihr historisches Gedächtnis und die echte Dankbarkeit nicht verloren haben.
({2})
Er hat sich bitter beklagt, daß er - wie schon zum Abzug der Roten Armee - nicht eingeladen worden ist.
Ich sage Ihnen: Das ist kein Zufall. Ich habe am 3. Oktober mit Lothar de Maizière gesprochen. Auch
Werner Schulz ({3})
Lothar de Maizière ist noch nicht einmal zu einem öffentlichen Festakt eingeladen worden.
({4})
- Da müssen Sie sich mit Ihrem Vereiniger auseinandersetzen. Ich glaube, es handelt sich nicht nur um Taktlosigkeit, sondern es ist auch der Instinkt über bloße Nützlichkeitserwägungen hinaus verlorengegangen.
Die deutsche Einheit ist eben kein kostbares Geschenk der Geschichte. - Die Geschichte hat sie uns nicht geschenkt. Das haben vielleicht manche gedacht, die nach dem Staatsempfang von Erich Honecker noch die Zweitstaatlichkeit im Kopf hatten. - Sie ist vielmehr Resultat der Selbstbefreiung einer aktiven Generation. Ich sage das immer wieder, auch wenn sich diese Meinung nicht aus Ihren Redetexten tilgen läßt.
({5})
Es handelt sich um eine Generation, die sehr spät den Spruch von Jaspers bestätigt hat, daß es nicht auf die Wiedervereinigung, sondern auf die Freiheit ankommt, daß die Wiedervereinigung mit der Freiheit kommt. Diese freie Selbstbestimmung wäre eigentlich eine neue Verfassung wert gewesen.
Ich muß mich bitter daran erinnern, daß uns damals gesagt worden ist: Dieses Grundgesetz wird nicht geändert, kein Komma, kein Punkt. Wenn man heute die Diskussion erlebt hat, wie der Art. 13 deformiert werden soll, wie der Art. 16 geändert worden ist, wie Kommentare wie Wortgebirge in dieses Grundgesetz aufgenommen werden, dann muß man feststellen, daß es uns gutgetan hätte, man hätte die Demokratie, die Sie im Westen durch den Druck der Alliierten bekommen haben und die wir uns im Osten erkämpft haben, gefestigt; denn sie hat noch einige Bewährungsproben zu bestehen.
({6})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich den demokratischen Aufbruch einverleibt, ohne ihn zu verstehen und ohne ihn fortzusetzen. Es ist ein gesellschaftlicher Aufbruch, den wir heute brauchen. Das ist vielleicht dieser Ruck durch die Gesellschaft, von dem Roman Herzog redet. Heute fehlt dieser Reformelan; heute wird der Wandel mehr als Bedrohung empfunden, denn als eine Chance angesehen. Das haben Sie in diesem Land erreicht. Wir laufen Gefahr, daß durch diese Regierungspolitik der großen Worte und fehlenden Taten dieser wichtige Reformbegriff verschlissen wird.
({7})
Dabei, Herr Bundeskanzler, ist Ihnen die Problemlage sehr wohl bewußt gewesen. Das will ich Ihnen durchaus zugestehen. Man hat Ihnen immer wieder vorgeworfen, Sie hätten nicht gleich eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede gehalten. Aber Sie hatten
die späte Einsicht. Im November 1992 haben Sie gesagt - damals noch im Wasserwerk -:
Das Gebot der Stunde - und hier ist die Stunde der Wahrheit, meine Damen und Herren - ist, daß wir bei einer nüchternen Bestandsaufnahme ganz einfach sagen: Wir stehen vor der Notwendigkeit eines tiefgreifenden Umdenkens. Wenn wir nicht umdenken und dementsprechend handeln, werden wir unser Ziel nicht erreichen.
Zu dieser Wahrheit gehört zuerst - das kann man nicht oft genug sagen, auch im Blick auf die Landsleute in den neuen Ländern -: Auch ohne die deutsche Wiedervereinigung wäre die Bundesrepublik Deutschland heute dringend gezwungen, von vielen Bequemlichkeiten und Gewohnheiten Abschied zu nehmen, Verkrustungen und Erstarrungen aufzubrechen.
({8})
Ferner steht in dem Protokoll vom November 1992: „Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Werner Schulz ({9}) ({10})"
Ich sage Ihnen das, weil ich Ihnen damals zugestimmt habe. Ich sage Ihnen fünf Jahre danach aber auch: Sie sind nicht auf dem richtigen Weg; Sie sind nicht am Ziel. Sie sind im Grunde genommen auf dem falschen Weg.
({11})
Fragen wir uns doch einmal: Was ist denn mit der großen Steuer- und Rentenreform?
({12}) - Ich bitte Sie, fünf Jahre hatten Sie Zeit.
Heute sagt der Bund der Steuerzahler: Im vereinten Deutschland haben noch nie so viele Bürger so lange auf so wenig gewartet. Es gibt in dieser Angelegenheit überhaupt keine Erwartungen mehr an diese Regierungskoalition.
({13})
Schauen wir uns doch einmal den Bürokratieabbau an, den Sie in dieser großen Rede angesprochen haben. Heute erfahren wir, daß die Kommission, die 1995 eingerichtet worden ist, jetzt einen diskutablen Bericht vorgelegt hat. Demnächst werden wir hören, daß es eine Kommission zur Überprüfung der Kommissionsergebnisse gibt. Das ist Ihr Reformtempo.
Oder denken wir daran, daß Sie bereits vor fünf Jahren die Einführung des Solidaritätsbeitrags begründet haben. Er kam aber nicht gleich, sondern - das ist Ihre Art - erst 1995 nach der Wahl . Den Solizuschlag, den Sie jetzt wieder senken, haben Sie mit 400 Milliarden DM Erblasten begründet. Das sind übrigens nicht nur die Erblasten einer verfehlten SED-Politik. In diese Summe haben Sie Ihre eigenen Fehler gleich mit hineingemogelt. Wenn man sich
Werner Schulz ({14})
einmal die Treuhandschulden von 205 Milliarden DM ansieht, dann muß man feststellen, daß die Versäumnisse von damals und von heute enthalten sind.
({15})
Sie haben keine Betriebe verkauft, sondern Sie haben Investoren gekauft, wenn man sich das einmal genauer anschaut.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dehnel? - Bitte schön, Herr Dehnel.
Herr Kollege Schulz, ich verstehe, daß Sie hier über Ihre Gefühlslage sprechen. Aber wann kommen Sie endlich zum Thema dieser Debatte, nämlich dem Aufbau Ost?
Also, wenn Sie das nicht mitbekommen, Herr Dehnel, dann werden Sie wohl Ihrem Namen etwas gerecht.
({0})
Es tut mir leid, wenn Sie nicht heraushören, daß es mit dem Aufbau Ost zu tun hat, daß die Senkung des Solidaritätsbeitrages ein wirklich falsches Signal ist, politisch falsch und wirtschaftlich unvernünftig. Das einzige, was Ihnen gelungen ist, ist der Überraschungseffekt. Aber Sie haben keine Handlungsfreiheit demonstriert. Es gab einen Überraschungseffekt, weil viele nicht damit gerechnet haben, daß Sie diese Belastung in die Zukunft verschieben, daß Sie von dem Gebrauch machen, was wir jetzt bei den Bahnschulden erleben, wo der Bundesrechnungshof Ihnen deutlich macht: Es wird eigentlich teuer und teurer, wenn man die Probleme so löst.
Der Stand der deutschen Einheit - der Bericht belegt das eigentlich sehr deutlich - ist mehr oder weniger ein Stillstand, der im Westen eingetreten ist. Im Osten hat sich viel getan und wurde viel getan. Die innere Einheit ist eigentlich längst erreicht, wenn man das an institutionellen, an formalen Begriffen festmacht. Was vielleicht fehlt, ist die innere Zufriedenheit, weil die Erwartungen an die deutsche Einheit zu hoch gesteckt waren, auch was den Zeitablauf anbelangt. Das hängt natürlich sehr damit zusammen, daß man die gesellschaftlichen Kräfte demobilisiert hat, indem man den Glauben an ein zweites Wirtschaftswunder genährt hat, anstatt die Kraft für einen zweiten Lastenausgleich zu wecken.
({1})
Es ist eigentlich nicht so, daß unser Land durch eine Mauer in den Köpfen getrennt ist, sondern die Fakten zeigen die Trennung unseres Landes. Wenn man sich die neuesten Arbeitsmarktzahlen und die getrennte Statistik der Arbeitslosigkeit anschaut, dann kann man diese Erfolgsmeldungen, die Sie,
Herr Rexrodt, hier vorgestellt haben, im Grunde genommen nicht bestätigen.
Ich sage Ihnen das mit den Worten eines Experten, der in der „FAZ" vom 2. Oktober geschrieben hat - es ist kein Geringerer als Hans D. Barbier -, daß beim Befund zu den neuen Ländern festzustellen ist, daß die offene und versteckte Arbeitslosigkeit in immer neuen Schüben wachse.
Der vom Bau getriebene, öffentlich finanzierte Boom sinkt in sich zusammen. Es fehlt an Industriebetrieben und Exporterfolgen. Die Perspektive bleibt düster, der Standort offenbar unattraktiv, denn selbst die hochsubventionierte Kapitalzufuhr ist - außerhalb des Baubereichs - nur ein dünnes Rinnsal. ... Eine ganze Region erlebt das Schicksal der Stigmatisierung von Langzeitarbeitslosen.
Das ist die Situation. Es ist keine leistungsfähige Wirtschaftsstruktur entstanden. Der Osten ist ein Land von Filialbetrieben, von Zweigstellen geworden. Das Wichtigste, was Unternehmer, Mittelständler, erreicht haben, ist, wie sie sagen, daß sie überhaupt noch da sind, daß sie sich dort überhaupt noch gehalten haben. Das ist eine Frage von Wirtschaftsförderung. Wir sollten eher über die Zweckbindung des Solidarbeitrages für Forschung und Entwicklung reden, anstatt ihn zu senken. Das ist das falsche Signal.
({2})
Wenn wir hier über Blockaden reden, dann sollten wir über Themen- und Zukunftsblockaden reden. Das ist entscheidend, Herr Krüger. Ich stimme Ihnen zu: Wir haben drei Prozesse, die momentan gleichzeitig ablaufen und die wir gleichzeitig bewältigen müssen: Das sind der Problem- und der Reformstau der deutschen Einheit und die europäische Integration. Hier wünscht man sich, daß Sie nicht nur die Ängste instrumentalisieren, in der Hoffnung, daß der Kanzler die Turbulenzen um den Euro auffangen kann, sondern daß wir über die Vorteile und Risiken der europäischen Integration reden, daß wir die globalen Herausforderungen annehmen. Ich bin da auch gar nicht bang, wenn ich sehe, wozu wir fähig sind, was wir im Oderbruch geleistet haben. Ich meine da weniger die Bundeswehr, die einen wackeren Beitrag zur Landesverteidigung geleistet hat. Ich meine, daß der ostdeutsche Spruch „Privat geht vor Katastrophe" in eine gesamtdeutsche Erfahrung übergegangen ist: Privat hilft gegen Katastrophe.
Das könnten wir schaffen: dieses Deutschland gemeinsam mit Ideen, mit Phantasie und mit Schöpferkraft weiter aufzubauen.
({3})
Ich erteilte das Wort jetzt dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn uns jemand im Jahre 1980 darauf hingewiesen hätte, daß wir uns darauf einstellen mögen, daß wir noch in diesem Jahrhundert die deutsche Einheit erleben, hätten wir vieles besser vorbereiten, manches besser überleiten und manches besser ordnen können.
Daß die Gunst der Stunde genutzt worden ist, um für 17 Millionen Menschen zum erstenmal seit 1933 die Freiheitsrechte zu realisieren, ist ein großer Erfolg.
({0})
Niemand hatte uns das vorhergesagt. Wir freuen uns darüber.
Niemand bestreitet, daß Chancen und Risiken nebeneinanderliegen, daß es Erfolge und Mißerfolge gibt. Aber die bemerkenswerte und sehr gute Regierungserklärung des Bundeswirtschaftsministers hat uns alle dazu ermuntert, nicht nur in jeder Suppe ein Haar zu finden, sondern auch die Chancen des menschlichen Zusammenwachsens in Deutschland zu sehen. Das ist unsere Hauptaufgabe.
({1})
Ich muß daran erinnern, daß wir gemeinsam mit Ländern, die von SPD und Grünen regiert werden, das neue Förderprogramm Ost beschlossen haben. Es ist wichtig, manchmal daran zu erinnern, damit die Menschen nicht den Eindruck gewinnen, daß wir uns hier über Nebensächlichkeiten streiten. Wir werden ebenfalls gemeinsam die von der SED-Diktatur ruinierten Länder wieder aufbauen. Das ist eine große nicht nur ökonomische, sondern auch menschliche Herausforderung für uns Deutsche.
({2})
Das ist Hauptaufgabe der Gegenwart. Angesichts der weltpolitischen Herausforderungen bei dieser Aufgabe nicht zurückzufallen ist enorm wichtig. Wie wir diese Aufgabe lösen - nicht nur ökonomisch, sondern auch im menschlichen Zusammenwachsen -, wird unsere weiteren Lebensbedingungen tief beeinflussen.
Richard Schröder, der Sozialdemokrat, beschreibt das ganz einfach:
Was uns als Deutsche verbindet, ist unser gemeinsames Haus. Unsere Vorfahren haben darauf gebaut, sie haben auch manches verbaut. Es gab Risse in den Mauern, und auf den Fluren liegt Schutt, über den wir stolpern. Wir wohnen drin. Wir müssen es in Ordnung bringen und in Ordnung halten, aber das geht nur, wenn wir es als unser Haus akzeptieren und nicht wahrheitswidrig behaupten, wir würden unter freiem Himmel kampieren, ohne Geschichte, ohne Geschichten.
Das ist eine sehr tiefgehende und wahre Bemerkung. Sie ist in ihrem einfachen Stil ein Beispiel dafür, wie wir die Aufgabe angehen könnten und wie wir denen entgegentreten, die auf der jeweiligen Seite nostalgische, verklärte, falsche Rückblicke halten.
Die alte Bundesrepublik Deutschland West hatte geordnete Verhältnisse. Wir hatten nahezu jedes Jahr positive Wachstumsraten. Vieles an Politik hat sich erschöpft in der Zuteilung. Tarifvertragsabschlüsse sind gemacht worden nach dem Motto: Wer bietet mehr? Vom Staat wurde erwartet, daß er sich um alles kümmert. Was dabei verlorengegangen ist, ist ein Stück persönliche Verantwortung, ein Stück persönlicher Antrieb und die Kraft einer Gesellschaft.
({3})
Auf der anderen Seite hat ein System vorgegeben, die Menschen von allen Problemen zu erlösen. Es hat Freiheit und Gleichheit Wirklichkeit werden lassen wollen und ist in Diktatur geendet. Es hat Menschen bespitzelt und hat Arbeitslosigkeit hinter den Fabriktoren herbeigeführt. Dieses System hat Menschen nicht nur die Chance zur persönlichen Verantwortung geraubt, es hat sie ihnen systematisch aberzogen.
Deswegen wird uns auch kein Förderprogramm Ost, im übrigen auch kein Infrastrukturprogramm für das ganze Land weiterführen, wenn nicht die Gesellschaft insgesamt wieder mehr Kraft für sich selbst entwickelt und wenn wir ihr dies nicht durch politische Rahmenbedingungen ermöglichen.
({4})
Die Jugendarbeitslosigkeit und die Beschäftigungssituation - Herr Thierse, Sie haben völlig recht - ist die größte Herausforderung, nicht nur weil sie ein Problem der sozialen Sicherheit ist, sondern weil nur über soziale Sicherheit die Menschen an Freiheit teilhaben können.
Deshalb ist aber für die Freie Demokratische Partei die Beschäftigung nicht nur sozial zu begleiten. Vielmehr muß sie wieder ermöglicht werden. Die soziale Begleitung von Arbeitslosigkeit reicht nicht aus. Wir müssen sogar ein Stück Bereitschaft haben, soziale Systeme zu ändern, um das größte soziale Gut, die Beschäftigung, wieder zu ermöglichen und Menschen somit die Teilhabe an Freiheit zu sichern.
({5})
Deshalb stehen sich hier seitens der Koalition und der Opposition nicht Wertentscheidungen gegenüber, die man moralisch unterschiedlich bewerten könnte.
Die Teilhabe von Menschen an Freiheit ist nur gesichert, wenn Menschen nicht in Armut, Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit leben. Sie kann nur gesichert werden, wenn wir alle uns dem größten sozialen Gut - das ist der Arbeitsplatz - zuwenden, nicht unsere Kräfte verschleißen und uns in politische Grabenkämpfe über Nebenkriegsschauplätze, also über die Höhe der staatlichen Transfers, verstricken.
({6})
Die Menschen in den neuen Ländern brauchen - das wissen wir - eine neue Perspektive.
Die alte Bundesrepublik Deutschland hat ihre Demokratie nur stabilisieren können, weil sie für viele von uns im früheren Westen mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden war. Ich wage keine rückblickende Betrachtung, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn das Wirtschaftswunder, das mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden ist, in große Brüche geraten wäre, und welche Ergebnisse dann zustande gekommen wären, wenn in Westdeutschland Umfragen gestartet worden wären, was Menschen von der Demokratie halten und wie sie ihre Zukunftsaussichten bewerten. Wir haben Glück gehabt, daß der Aufbau der Demokratie ab 1945 mit wirtschaftlichem Wachstum und mit Lebenschancen von Menschen verbunden war. Deshalb sollten wir uns nicht täuschen, daß eine solche Entwicklung auch für die neuen Bundesländer die zentrale Herausforderung ist.
Nur, wir müssen den Menschen sagen, daß soziale Sicherheit nicht allein durch das Organisieren von Marktwirtschaft und sozialen Sicherungssystemen entsteht. Für Ludwig Erhard, den wir so oft gefeiert haben, war Marktwirtschaft nur effektiv, wenn sie in sich soziale Beschäftigungswirkung entfaltet hat. Sie war niemals ein System der Marktwirtschaft plus vieler addierter sozialer Sicherungssysteme.
Es muß hinzugefügt werden - Unterzeichner der Erfurter Erklärung werden dies überhaupt nicht begreifen und akzeptieren -, daß Privateigentum nicht nur eine ökonomisch wichtige Größe, sondern ein Stück der privaten Lebensführung von Menschen ist
({7})
und daß Chancen auf Eigentum, die in früheren Gesellschaften immer nur wenige hatten, gerade durch liberale Politik von einem Vorrecht weniger in ein Recht aller transportiert worden sind.
({8})
Eigentum hat also nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine Lebensstabilisierungsfunktion. Die Diffamierung, die völlig falsche Sicht des Themas Eigentum schafft uns nicht nur ökonomische,
({9})
sondern auch Mentalitätsprobleme.
Ich weise in diesem Diskussionsbeitrag darauf hin: Die Politik muß den Menschen in den neuen Ländern einen volkswirtschaftlich klugen Weg zur sozialen Sicherheit anbieten. Das Anzünden staatlicher Beschäftigungsstrohfeuer wird für die Menschen dort auf Dauer keine Zukunftsperspektive sein können.
({10})
Deshalb müssen die Programme, die wir auflegen, in
der Volkswirtschaft zu Produktivität anregen und zur
Selbständigkeit hinführen. Das ist im übrigen auch
im Interesse der Souveränität von Menschen in den neuen Ländern.
({11})
Hilfsprogramme sollten die Menschen zu souveränen eigenen Entscheidungen befähigen. Sie sollten sie nicht durch dauerhafte Zahlungen aus staatlichen Töpfen in der Unmündigkeit halten oder zu Unmündigkeit hinführen.
({12})
Wir wollen daran erinnern, daß es neben Hilfsprogrammen, Investitionsentscheidungen, Verkehrsinfrastrukturprogrammen und der Versorgung mit Telefonleitungen für das Zusammenwachsen in Deutschland entscheidend ist, daß Menschen Parlamentarismus, Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und eine föderative Grundverfassung nicht als Floskeln empfinden.
({13})
Das ist kein Beiwerk. Das gehört zur Kultur einer freiheitlichen Tradition.
({14})
Das ist wichtig, auch wenn in unserem Land in den politischen Lagern oft gekämpft wird.
Wir benötigen neben allen Förderprogrammen das Bestreben, die Qualität einer Gesellschaft herauszubilden - mit Hilfe, aber auch mit einer notwendigen Perspektive. Das bedeutet Verantwortung und Leistungsbereitschaft sowie Toleranz und Weltoffenheit. Das bedeutet im deutschen Zusammenwachsen Zukunftsorientierung und Flexibilität. Das bedeutet den Willen zum aufgeklärten Urteil und zur Selbständigkeit. Das bedeutet den Willen, sich Informationen zu holen und zu unabhängigen Urteilen fähig zu sein. Das bedeutet die Erkenntnis, daß Freiheit eine sehr unbequeme Veranstaltung ist.
({15})
Das müssen wir alle lernen.
Hans-Dietrich Genscher hat nach der Vereinigung einen Satz geprägt, der nach wie vor gilt: „Nichts ist mehr so, wie es früher war" . Bei der Lösung wirtschaftlicher und persönlicher Existenzprobleme zu helfen, das ist nicht nur eine wirtschaftliche Aufgabe, sondern auch ein politischer Stabilitätsbeitrag für die Bundesrepublik Deutschland.
Wir werden in dieser Demokratie nur verhindern können, daß Menschen sich radikalen Angeboten zuwenden, wenn wir ihnen ein Stück soziale Sicherheit in Beschäftigung und Chancen in unserer Gesellschaft bieten. Das ist die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenwachsen in Deutschland.
Dann muß man bedenken, daß wir an einer Kante zu Gesellschaften leben, die noch nach europäischer
Orientierung suchen und manchmal nationale Strömungen freisetzen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Luft?
Nein; ich will in einer Minute zum Schluß kommen. Es kann auch mal gut sein, wenn wir in den Debatten einen Stil pflegen, der eine gewisse Ruhe und Souveränität nach außen ausstrahlt.
({0})
Ich finde nicht, daß in dieser Debatte heute morgen der politische Schlagabtausch im Vordergrund stehen müßte. Ich glaube, wir tun 17 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern gut, wenn sie von politischen Vertretern, gleich aus welcher Richtung, auch mal ein Stück Wiedererkennungswert ihrer Probleme über das Fernsehen oder über den Rundfunk erleben dürfen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich will daran erinnern, daß wir über all unseren internen Problemen das deutsche Zusammenwachsen in Frieden und in Freiheit nicht organisieren können, wenn wir nicht darüber hinaus den Blick auch für die übrig haben, die in unserer Nachbarschaft nach europäischer Orientierung suchen, die in die Europäische Union wollen, die ihr Sicherheitsbestreben abgedeckt haben wollen und deren Gesellschaften sich in einer noch viel problematischeren Lage befinden, als manche das hier wahrnehmen. Deshalb wird unser Zusammenwachsen in Deutschland nur möglich sein, wenn wir in der europäischen Orientierung bleiben, wenn wir offen sind für andere, wenn wir Menschen in ihren Wünschen nach Lebensperspektiven achten und schätzen, und wenn wir den Deutschen in unserem Land sagen: Das Zusammenwachsen ist noch nicht abgeschlossen.
({2})
Wir haben noch Probleme.
Aber wir haben die allergrößten Chancen, die Generationen in Deutschland in diesem Jahrhundert jemals hatten, und die wollen wir nutzen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gregor Gysi, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie behaupten von sich selbst, der Vater der Einheit zu sein, und lassen das auch durch andere immer wieder schreiben. Man kann das unterschiedlich sehen.
Aber wenn Sie es so sehen, frage ich mich wirklich, warum Sie dann eigentlich Jahr für Jahr davor kneifen, Rechenschaft über die Ergebnisse Ihrer Vereinigungspolitik zu legen. Das gehört doch dazu, wenn man sich als Vater der Vereinigung bezeichnet.
({0})
Statt dessen schicken Sie hier Ihren Bundeswirtschaftsminister Rexrodt in den Ring. Zu dem kann man auch stehen, wie man will. Aber Fakt ist nun einmal: 1990 war er noch nicht in der Funktion und hat 1990 überhaupt keine Versprechen abgegeben, über die er hier Rechenschaft legen müßte, ganz im Unterschied zu Ihnen. Das finde ich schon einen Mangel in dieser Debatte.
({1})
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben Freiheitsrechte und soziale Sicherheit gegenübergestellt. Andere Redner haben darauf hingewiesen, bei Umfragen komme heraus, daß immer mehr Ostdeutsche soziale Sicherheit höher bewerten als politische Rechte und Freiheiten.
Ich will ganz deutlich sagen, daß das für mich ein falscher Ansatz ist, und zwar egal, von welcher Seite. Ich habe aus dem Untergang der DDR und auch aus der Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland gelernt, daß es nur noch eine Einheit von politischen Rechten und Freiheiten und sozialer Sicherheit geben darf und daß man danach streben muß.
({2})
Schon wenn man die Frage zuläßt, was einem mehr wert ist, wird deutlich, in welcher Lage man sich befindet. Natürlich, für eine Sozialhilfeempfängerin, die kaum weiß, wie sie ihre Kinder und sich selbst versorgen soll, ist im Augenblick der Begriff Freiheit viel weniger wert als der Begriff soziale Sicherheit; denn wenn sie die endlich hätte, wüßte sie, wie sie alle ihre Ausgaben tätigen kann etc. Das verstehe ich ja. Und dennoch, glaube ich, ist es eben der falsche Ansatz. Wir brauchen diese Einheit.
In der DDR wurde immer erklärt, soziale Sicherheit erfordere nun einmal Einschränkung in der Freiheit. Sie erklären heute im Grunde genommen, Freiheit erfordere nunmal Einschränkungen in der sozialen Sicherheit. Ich will beides nicht wahrhaben.
({3})
Ich will endlich eine Einheit erreichen und nicht eine Abwägung zwischen diesen Dingen.
Sie haben, Herr Bundeswirtschaftsminister, wie üblich gesagt: Die ganze Wirtschaft der DDR war marode; alles war marode, was man 1990 vorgefunden hat; kein Arbeitsplatz war wettbewerbsfähig. Sie merken nicht einmal, daß darin auch eine ganz bestimmte Arroganz steckt und daß Sie damit natürlich die Leistungen von Millionen Menschen diffamieren.
Denen nutzt es gar nichts, Herr Rexrodt, wenn Sie den Satz hinterherschicken, daß sie dafür nichts können, weil das System daran schuld war. Sie sagen ja
dennoch, daß sie 40 Jahre lange nichts aufgebaut und nichts geleistet haben.
({4})
Das ist genauso falsch und undifferenziert, als wenn man den umgekehrten Weg geht.
({5})
Es gab eine Kultur, es gab eine Wissenschaft, es gab Kindergärten und Ferienlager.
({6})
Zum Beispiel haben die Leute dafür demonstriert, und zwar zu Recht, daß die ideologische Indoktrination in den Ferienlagern aufhört. Aber sie wollten nicht, daß sie ganz verschwinden. Aber sie sind ganz verschwunden. Sie existieren nicht mehr für Kinder. Auch das ist eine Wahrheit. Also muß man sich mit beiden Dingen auseinandersetzen.
Sie haben in mir keinen Partner, die Defizite der DDR zu leugnen. Die ist an ihrem Mangel an Demokratie, an ihrem Mangel an ökonomischer Effizienz, an ihrem Mangel an Emanzipation und an großen ökologischen Sünden gescheitert. Das ist wahr. Das bedeutet aber auf der anderen Seite nicht, daß dort nichts aufgebaut und nichts geleistet wurde. Man hätte sich das Ganze einmal eine Sekunde lang ansehen können, bevor man es einfach wegwirft.
({7})
Das gilt für Bereiche der Kultur, das gilt für Alltagsrecht, natürlich nicht für das politische Strafrecht. Es ist ein ganz wichtiger Schritt, daß das beseitigt wurde.
Aber es gab durchaus Fortschritte im Alltagsrecht, im Familienrecht, im Arbeitsrecht und auch im Zivilrecht, über die man hätte nachdenken können. Nichts hat Sie wirklich interessiert. Sie haben es einfach über Bord geworfen, weil Sie davon ausgegangen sind: Sie haben das klasse System, und nichts muß man übernehmen, nichts muß man sich ansehen. Diese Arroganz hat wirklich schlimme Folgen gezeitigt.
({8})
Dadurch entsteht so ein Demütigungseindruck. Das wird nicht repariert durch solche Reden, wie Sie sie heute gehalten haben, Herr Rexrodt.
Das geht bis in die Medien hinein. Schauen Sie sich doch einmal an, was da passiert: Das ZDF macht zum siebten Jahrestag der deutschen Einheit eine politische Sendung. Das ist ja okay. Wer nimmt daran teil? Daran nimmt teil Herr Solms von der F.D.P.,
({9}) da nimmt teil Herr Schäuble von der CDU/CSU,
({10})
Herr Scharping von der SPD, Herr Fischer vom
Bündnis 90/Die Grünen. Niemand merkt, daß vier
Westdeutsche da sitzen und erklären, wie die deutsche Einheit vollzogen ist.
({11})
Kein Ostdeutscher wird eingeladen, um nur ein Wort dort mitzureden. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben.
({12})
- Sie hätten auch andere nehmen können. Sie sind nicht nur auf mich angewiesen, das ist eh ein falsches Bild.
Aber ich sage Ihnen dazu noch folgendes: Man muß sich selbst befragen, und dann merkt man, wie weit wir von bestimmten Dingen noch entfernt sind. Wir alle - mich eingeschlossen - empfinden es durchaus als normal, daß ein Westdeutscher Ministerpräsident in den neuen Bundesländern wird. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, wie absurd die Vorstellung noch ist, daß ein Ostdeutscher - jetzt könnte ich noch einen draufsetzen und sagen: eine Ostdeutsche - Ministerpräsident oder Ministerpräsidentin in den alten Bundesländern wird. Das ist noch ein völlig unvorstellbarer Vorgang. Daran erkennen Sie die ganze Entfernung, mit der wir es hier zu tun haben.
({13})
Nun ist ja die Frage, wer spaltet. Ich sage Ihnen ein Beispiel, Herr Rexrodt. Sie haben Unternehmen genannt, die in den neuen Bundesländern hochproduktiv sind. Das sind einige positive Beispiele.
({14})
Interessant ist, daß die Leute, die dort arbeiten, trotzdem viel weniger Lohn bekommen als man für vergleichbare Arbeit in den alten Bundesländern bekommt. Warum? Weil Sie die Produktivität des Ostens und damit der ehemaligen DDR als Ganzes rechnen, es immer noch wie Ausland behandeln und sagen: Solange die Produktivität in dem gesamten Gebiet noch so relativ niedrig ist, müssen die Löhne dort auch insgesamt niedrig sein. Sie machen es gar nicht abhängig von Produktivität; denn sonst würden Sie sagen: In dem Bereich müßte es anders sein als in einem anderen.
({15})
Sie betrachten die neuen Bundesländer immer noch als exterritorial. Wer hat denn den Begriff Transfer aufgebracht? Wenn Bayern Geld vom Bund bekommt, heißt das Bundeszuschuß. Wenn der Osten etwas bekommt, heißt es Transfer. In Ihnen spukt das Ausland herum, nicht in mir. Das ist die Wahrheit.
({16})
Ich finde es gut, daß Sie das heute korrigiert haben. Aber Sie hätten auch einmal Herrn Bohl kritisieren müssen, der da hinten sitzt und sich unterhält. Er ist nämlich der Erfinder der einen Billion. Sie wissen, daß das eine Quatschzahl ist. Jetzt ist ein Buch herausgekommen von drei Autoren, die das Ganze einmal durchgerechnet haben. Heraus kommen in Wirklichkeit 300 Milliarden DM statt einer Billion für die Jahre 1991 bis 1996, wenn man die Einnahmen aus
dem Osten abzieht und das, worauf jeder gesetzlichen Anspruch hat, und wenn man zum Beispiel die Kosten für die Stationierung der Bundeswehr oder die Gehälter für Menschen aus den alten Bundesländern, die im öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer tätig sind, abzieht.
Was ist das für eine Spaltung im Kopf, wenn Sie das Gehalt eines Bundeswehroffiziers, der aus Baden-Württemberg kommt und heute in Thüringen stationiert ist, ernsthaft als Transfer von West nach Ost berechnen.
({17})
Ich kenne zwei Pförtner aus dem Osten, die heute im öffentlichen Dienst im Westen arbeiten dürfen. Kein Mensch käme auf die Idee, deren Gehälter als Transfers von Ost nach West zu berechnen.
({18})
Wir haben doch nur einen öffentlichen Dienst. Was spielt es bei der Berechnung der Transferleistungen für eine Rolle, woher jemand kommt?
Wenn man aber einen Betrag von 300 Milliarden DM annimmt, muß man auch berücksichtigen, daß 400 bis 430 Milliarden DM volkseigenes Vermögen inzwischen in westdeutscher Hand ist, daß etwa 100 Milliarden DM durch den unterschiedlichen Warenaustausch jährlich in die alten Bundesländer fließen und vieles andere mehr.
Ich will gar keine Aufrechnung zwischen Ost und West. Aber wenn Sie dies machen, dann bitte mit richtigen Zahlen. Dann kommt ein völlig anderes Ergebnis heraus als das, das Sie verkünden. Wenn Sie immer ein falsches Ergebnis verkünden - das macht auch der Bundesfinanzminister gerne -,
({19})
dann, so sage ich Ihnen, spalten Sie. Sie demütigen nämlich die Ostdeutschen und geben den Westdeutschen damit indirekt zu verstehen, daß die Ostdeutschen zu teuer sind. Im Grunde wollen Sie entsolidarisieren, damit sie aufeinander neidisch sind, anstatt nach oben zu gucken, wo der wirkliche Reichtum sitzt. Da muß man etwas verändern, wenn man Armut bekämpfen will.
({20})
Herr Kollege Gysi, ich will Sie nicht demütigen. Ich muß Sie aber auf die Zeit aufmerksam machen.
({0})
Okay, Herr Präsident! - Herr Gerhardt, es würde mich sehr reizen, etwas zu der Eigentumsfrage zu sagen. Die Erfurter Erklärung richtet sich nämlich nicht gegen Eigentum, sondern gegen die höchst ungerechte Verteilung von Eigentum - und diese organisieren Sie täglich.
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Dem Obdachlosen zu sagen, er solle stolz auf seinen Mantel sein, und dem Milliardär, er solle stolz auf seine Milliarde sein, und beide sollen sich frei fühlen, ist ein wenig billig. So bekommt man keine gerechte Gesellschaft.
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Damit es nicht unhöflich wirkt, wenn ich jetzt gehe, möchte ich mich dafür entschuldigen. Ich würde mir gern alle Reden anhören, habe aber der DGB-Jugend versprochen, Rede und Antwort zu stehen. Und bei der Jugend darf man nicht zu spät kommen.
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Das Wort hat der Kollege Gerhard Schulz, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen Tag eine Bilanz vom Aufbau Ost zu ziehen heißt, von extremen Entwicklungen zu berichten. Hinter uns liegen Jahre einer rasanten Aufholjagd der ostdeutschen Wirtschaft mit hohen Wachstumsraten, eine weltweit einmalige Dynamik in Form von Hunderttausenden Unternehmensgründungen und der Umbau einer Wirtschaftsstruktur, die sich von ihren überdimensionierten Großbetrieben trennen mußte und sich nun mehr und mehr auf einen Mittelstand stützt.
Auf der anderen Seite muß man jedoch nüchtern feststellen, daß dieser wirtschaftliche Wandel noch immer nicht zur Entlastung des Arbeitsmarktes geführt hat. Die Arbeitslosigkeit im Osten - das wurde bereits gesagt - ist doppelt so hoch wie die im Westen. Von angeglichenen Verhältnissen kann also keineswegs die Rede sein.
Man muß sich aber doch vor Augen halten: Die mit der Wiedervereinigung verbundene Marktöffnung hatte eine schlagartige Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Produkte zur Folge. Der Grund dafür liegt nicht nur darin, daß die ostdeutsche Bevölkerung auf die endlich ihnen zur Verfügung stehenden Westprodukte zugriff, die sie aus der Werbung kannte, sondern auch - das ist weitaus gravierender - im unerwarteten Wegbrechen der osteuropäischen Absatzmärkte, dem Zerfall der Sowjetunion und der Erosion der wirtschaftlichen Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. Das waren immerhin die Hauptabnehmer der DDR-Produkte; denn auf dem freien Westmarkt waren diese Produkte nur durch massive Dumpingpreise absehbar, und diese Dumpingpolitik war dann nicht mehr möglich. - Das war die Ausgangslage, die immer wieder in Erinnerung gerufen werden muß.
Das reale Inlandsprodukt der neuen Länder schrumpfte allein von 1990 bis 1991 um 40 Prozent, die industrielle Produktion sogar um 60 Prozent. Das
Gerhard Schulz ({0})
wissen wir alle; aber es muß immer wieder deutlich gemacht werden.
Dieser Entwicklung haben wir mit einer stetigen Förderung von Investitionen, Innovationen, Existenzgründungen und Existenzfestigungen, der Förderung von Mietwohnungsbau, der Modernisierung von Plattenbauten, der Förderung von Eigenheimneubau und der Modernisierung von Eigenheimen sowie der Förderung des Aufbaus der Infrastruktur entgegengewirkt. Die beeindruckenden Zahlen lassen sich im Bericht der Bundesregierung nachlesen. Minister Rexrodt hat einige genannt; sie müssen aber endlich auch zur Kenntnis genommen werden.
Diese Förderung geschah und geschieht vor allem durch Gewährung von Investitionszulagen und Sonderabschreibungen, durch die Vergabe zinsgünstiger Kredite und durch gezielte Investitionszuschüsse. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wurden seit 1991 rund 60 Milliarden DM Investitionszuschüsse vergeben, und damit wurden Investitionen in Betrieben und Infrastruktur in Höhe von 175 Milliarden DM realisiert. Das ist fast das Dreifache der eingesetzten Mittel.
Es wurden im Zeitraum der Kreditvergabe 580 000 Arbeitsplätze geschaffen und 475 000 bestehende Arbeitsplätze gesichert. Im gleichen Zeitraum vergab die Kreditanstalt für Wiederaufbau an 63 000 Unternehmen 115 Milliarden DM als Förderkredite. Damit wurden laut Angaben der MW 2,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und gesichert. Die Sanierung von 3,2 Millionen Wohnungen, darunter 900 000 in Plattenbauten - das sind 42 Prozent des Gesamtbestandes -, wurde dadurch gefördert. Aber auch 78 000 neue Wohnungen sind durch diese Förderung entstanden. Das Resultat ist: Es gibt keinen Wohnungsmangel in den neuen Ländern mehr. Rund 4000 Infrastrukturprojekte, überwiegend in der Abwasserreinigung und im Wasserbau, wurden finanziell unterstützt.
Die Deutsche Ausgleichsbank gewährte ebenfalls seit 1990 in rund 345 000 Fällen Existenzgründungsdarlehen; das waren immerhin 45 Milliarden DM. Diese wurden ausschließlich an Existenzgründer, also an kleine und kleinste Betriebe, ausgereicht. Im Zeitraum der Kreditvergabe wurden damit nach Angaben der DtA insgesamt 590 000 Arbeitsplätze geschaffen.
Schließlich wurden von 1990 bis 1996 mit der steuerlichen Investitionsförderung durch Investitionszulagen und Sonderabschreibungen Investitionen von rund 430 Milliarden DM angestoßen; das ist das Siebzehnfache des eingesetzten Geldes. Das heißt, für jede Million, die der Staat in die Hand genommen hat, hat die private Wirtschaft 17 Millionen DM dazugelegt.
({1}) Das nenne ich effektive Wirtschaftsförderung.
Selbst die hartnäckigsten Kritiker der Bundesregierung können an diesen Fakten nicht vorbei. Wir haben mit einer erfolgreichen Investitionsförderung
einen strukturellen Wandel in den neuen Bundesländern eingeleitet, der Früchte trägt und nachweislich wettbewerbsfähige Unternehmen mit sicheren Arbeitsplätzen geschaffen hat. Das wissen selbstverständlich auch die Kritiker aus der Opposition, aber sie haben überhaupt kein Interesse daran, durch sachliche Information zu einem notwendigen Optimismus beizutragen, einem Optimismus, den wir brauchen, um die noch vor uns liegenden Aufgaben wirklich bewältigen zu können. Die heutige Debatte bildet eine wohltuende Ausnahme. Ich bin dafür dankbar; wir sollten bei der Diskussion dieses Themenbereichs diesen Stil beibehalten.
Es muß endlich zur Kenntnis genommen werden, daß der erneute Einbruch auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ursächlich mit dem Rückgang der Baukonjunktur zusammenhängt. Alle haben beklagt: Wir fördern zuviel in diesem Bereich; es wird zuviel investiert, was nutzlos ist. Dann dürfen wir uns nicht wundern, daß, wenn die Förderung zurückgeschraubt wird, die Baukonjunktur Probleme bekommt.
Die Zuwachsraten im Dienstleistungsbereich, im Maschinenbau oder bei neuen Technologien bewegen sich in einem Bereich von 6 bis 8 Prozent. In manchen Teilen des verarbeitenden Gewerbes sind die Wachstumsraten sogar zweistellig; Minister Rexrodt hat das vorhin ausgeführt. Hier erfolgt ein Strukturwandel. Aber es ist jedem klar, daß die Zahl der in diesen Bereichen entstehenden Arbeitsplätze nicht ausreicht, um den Wegfall bestehender Arbeitsplätze in alten Strukturen auszugleichen.
Meine Damen und Herren, auch wenn gelacht wird: Es gibt sie, die Pflanzen, aus denen sich blühende Landschaften entwickeln werden. Sie müssen gehegt und gepflegt werden; der um sie herum noch brachliegende Boden muß bearbeitet werden. Wir haben erst einen Teil des Weges hinter uns; jetzt gilt es, den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern durch neue Impulse zu verstetigen und ein Wachstum zu schaffen, das über dem der westdeutschen Länder liegt. In bezug darauf haben wir in den letzten Jahren einen Einbruch erlitten. Einen wichtigen Schritt dazu haben wir mit der Fortsetzung der steuerlichen Investitionsförderung ab 1999 getan; wir alle in diesem Haus gemeinsam haben diese Förderung beschlossen. Einen weiteren Schritt werden wir mit dem Haushalt 1998 tun, in dem wir die notwendigen Mittel für die GA-Förderung aufbringen werden. Oder glauben Sie im Ernst daran, daß sich der Bundeskanzler erst öffentlich dazu bekennt und dann nichts geschieht? Ich glaube das nicht.
({2})
Bei vielen weiteren Schritten ist die Opposition gefordert. Statt zu blockieren, hätte sie mithelfen müssen, die Steuerreform über die Bühne zu bringen. Die Reform der Sozialversicherungssysteme steht an. Der notwendige durchgreifende Strukturwandel in allen Bereichen kann nicht durch neue Verteilungskämpfe ersetzt werden usw. usf. Hier kann für Deutschland und damit für Ostdeutschland mehr getan werden als durch so manche Fördermilliarde.
Gerhard Schulz ({3})
Meine Damen und Herren, im August und September erschien im „Handelsblatt" eine 15teilige Artikelserie mit dem Titel: „Ein starkes Stück Osten". Es wäre ein starkes Stück gewesen, wenn dieser Artikel im Zentralorgan der PDS, im „Neuen Deutschland", erschienen wäre. Leider ist das nicht erfolgt.
({4}) Die haben ja andere Themen.
Am Ende dieser Serie schreibt Hermann-Josef Knipper in seinem Kommentar im „Handelsblatt" unter anderem:
Die große Mehrheit der Ostdeutschen hat den tiefgreifenden Transformationsprozeß für einen hoffnungsvollen Neuanfang genutzt. Mehr als 500 000 neue Privatunternehmen behaupten sich am Markt. Mehr als drei Viertel aller Beschäftigten haben einen zukunftsträchtigen Arbeitsplatz gefunden. An Flexibilität und Mut sind Existenzgründer und Tarifpartner im Osten den Konkurrenten und Kollegen im Westen deutlich voraus.
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Diesem Zitat bleibt nur noch zweierlei hinzuzufügen: Erstens. Danke an Herrn Knipper für diese deutlichen Worte. Zweitens. Wir werden unsere nachweislich erfolgreiche Politik für die neuen Länder fortsetzen, und das auch über das Jahr 1998 hinaus.
Recht schönen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Kaspereit, SPD.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! So sinnvoll es ist, daß die Bundesregierung dem Antrag der SPD gefolgt ist, jährlich einen Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorzulegen, so wenig sensibel erscheint es mir, daß sich der Bundeskanzler als Kanzler der Einheit dieser seiner Pflicht entzieht.
({0})
Vielleicht meint er ja auch, daß die Darstellung der wirtschaftlichen Aspekte der deutschen Einheit geeignet ist, Regierungserfolge darzutun. Hier irrt er.
Zwar ist richtig: Die Gesamtsituation in Ostdeutschland ist eine bessere als zu Zeiten der DDR, und die objektive Lage ist, so denke ich, oft besser als deren subjektive Wahrnehmung. Das Recht der Regierung ist es natürlich, ihre Politik zu loben und zu verteidigen. Recht und Pflicht der Opposition ist es jedoch, den Finger in die Wunde zu legen und die Defizite bei den Bemühungen um die deutsche Einheit aufzuzeigen, wenn wir sie denn überhaupt überwinden wollen.
({1})
Es ist einfach irreführend und schürt Ressentiments, auf die hohen Transferleistungen des Bundes
an die neuen Länder hinzuweisen und so zu tun, als sei damit bereits alles getan; Herr Rexrodt hat es angedeutet. Vor allem den Menschen in den alten Ländern muß gesagt werden, daß eine ganze Reihe der sogenannten Transferleistungen Ost völlig normale Bundesausgaben sind. Nur weil sie in die neuen Bundesländer fließen, können diese nicht plötzlich als Teil des Aufbaukonzeptes der Bundesregierung deklariert werden.
Wenn man sich die Mühe macht, die Pro-KopfAusgaben des Bundes in den alten und neuen Ländern zu vergleichen, so stellt man fest, daß lediglich die Hälfte der 95 Milliarden DM, nämlich 48 Milliarden DM, echte Mehrausgaben für den Aufbau Ost sind. Natürlich ist das eine stolze Summe. Sie muß aber eingesetzt werden, weil der Aufbau Ost auf lange Sicht sonst noch viel teurer würde.
({2})
Aber diese Leistungen sind rückläufig, wie schon seit 1995 aus den Haushaltsplänen der Bundesregierung ablesbar ist. Von einer Fortsetzung der Förderung auf hohem Niveau kann meines Erachtens keine Rede sein. Niemand mehr zweifelt daran: Die Erwartungen der Jahre 1989/90 sind nicht erfüllt worden. Bereits 1995 begann das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland zu stocken und lag 1996 mit 2 Prozent nur noch knapp über dem ohnehin niedrigen Westniveau von 1,3 Prozent. In den nächsten Jahren wird es voraussichtlich auf diesem Stand verharren und damit unterhalb des Westniveaus bleiben. Das heißt, die neuen Länder nähern sich nicht mehr dem Stand Westdeutschlands an, sondern fallen weiter zurück. Das können Sie wohl kaum das Ergebnis einer erfolgreichen Aufbaupolitik nennen.
({3})
Für die derzeitige Situation ist es nur scheinbar ausschlaggebend, daß sich die Bauindustrie in einer trostlosen Situation befindet. Tatsächlich ist es doch so, daß die Wachstumsraten der Bauindustrie in den ersten Jahren die Fehler der Wirtschaftspolitik überdeckt haben. Nun bricht dieser Wachstumsmotor zusammen, und zum Vorschein kommt die Misere. Jetzt ist es vor allem der Dienstleistungssektor, der die ostdeutsche Wirtschaft vor dem totalen Kollaps nach der Einheit bewahrt; denn die industrielle Basis reicht bei weitem noch nicht aus.
Am Exportboom, der die Wachstumsrate in Deutschland entscheidend verbessert, hat der Osten nur einen verschwindend geringen Anteil. Die Bundesregierung hat es versäumt, eine vernünftige, investitionsorientierte Industriepolitik zu betreiben.
({4})
Genauso hat sie es versäumt, eine leistungsfähige Forschungs- und Entwicklungslandschaft aufzubauen. Das aber wäre für eine echte, langfristige Gesundung der ostdeutschen Wirtschaft und für eine
Entspannung auf dem Arbeitsmarkt dringend erforderlich gewesen.
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Es ist müßig, in diesem Zusammenhang auf die verfehlte Politik der Treuhand hinzuweisen, die manchen Unternehmenszusammenbruch zugunsten von zweifelhaften Spekulationen ermöglichte. Entscheidender ist die heutige Rolle der Nachfolgeorganisation BvS. Diese nämlich zieht sich immer mehr aus dem Bereich der Unternehmenssanierungen zurück. Sehr skeptisch betrachte ich auch die konzertierten Aktionen bei Zweitprivatisierungen, die den Ländern die Hälfte der Kosten aufbürden und ihnen damit die Folgen der fehlerhaften Treuhandaktion auferlegen.
Die Arbeitslosigkeit ist sicherlich der wichtigste Indikator für den Erfolg oder Mißerfolg einer Wirtschaftspolitik. Hier ist das Versagen der Bundesregierung auf ganzer Linie erkennbar. Die statistische Arbeitslosenquote liegt bei über 18 Prozent - Tendenz steigend -, in einigen Regionen sogar deutlich über 20 Prozent. Daß die tatsächliche Erwerbslosenquote aber noch weit höher liegt, dürfte allen bekannt sein.
In dieser Situation kommt die Bundesregierung mit Gesetzen, deren wohlklingende Überschriften wie „für mehr Wachstum und Beschäftigung" oder „ Arbeitsförderungs-Reformgesetz " reiner Etikettenschwindel sind. Die Auswirkungen dieser Gesetze sind an den steigenden Arbeitslosenzahlen zu erkennen.
Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum - das sind nur zwei Zahlen, die die verfehlte Politik der Bundesregierung verdeutlichen. Es gibt eine ganze Reihe mehr. Ich möchte das wiederholen: Die Wirtschaftsleistung je Einwohner liegt bei nur gut 50 Prozent des entsprechenden Westniveaus, die Produktivität je Erwerbstätiger ist nur halb so hoch, die Industrieproduktion beträgt gerade ein Drittel, die Lohnstückkosten sind um 30 Prozent höher, die Produktionslücke liegt bei rund 200 Milliarden DM und wird vornehmlich durch die alten Bundesländer gedeckt.
Ein weiterer deutlicher Hinweis ist, daß es den meisten Unternehmen in den neuen Ländern noch immer nicht so geht, daß sie ohne Hilfe über die Runden kommen. Ertragslage und Eigenkapitaldecke sind alles andere als befriedigend. Die Infrastruktur ist leider noch immer unzureichend.
Für viele dieser Aspekte ist diese Bundesregierung zumindest mitverantwortlich. Sie hat die Situation nach der Vereinigung zu optimistisch beurteilt. Damit aber wurden bei der Bevölkerung nicht nur völlig überzogene Erwartungen an den Aufbau Ost geweckt, sondern es wurde auch der Aufbau selber, denke ich, in weiten Teilen falsch angepackt. Das beste Beispiel dafür ist die überhastete und konzeptionslose Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt und die zum Teil mangelhafte Arbeit der Nachfolgeorganisation BvS. Es ist schon deprimierend, darüber nachzudenken, wie viele Arbeitsplätze hätten geschaffen werden können, wenn die Bundesregierung hier anders gehandelt hätte. Für eine Umorientierung in der Politik ist es jedoch nie zu spät.
Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, haben sich von den Wählern in den neuen Ländern in die Pflicht nehmen lassen, die deutsche Einheit zu gestalten. Nehmen Sie sich endlich selber beim Wort, wenn es um Innovationen, marktfähige Produkte und Absatzförderung geht, und streichen Sie nicht Herrn Waigel zuliebe gerade bei diesen Haushaltsstellen.
({6})
Verbessern Sie endlich mit uns die Grundlagen, die es ermöglichen, die Eigenkapitaldecke der konkurrenzfähigen ostdeutschen Unternehmen zu verbessern. Schaffen Sie endlich die Grundlagen für eine verläßliche Förderpolitik in den neuen Ländern. Ich denke da vor allem an das Hickhack bei der Gemeinschaftsaufgabe, was Investoren nur abschrekken kann.
Lassen Sie sich um der Menschen in ganz Deutschland willen nicht von der marktradikalistischen F.D.P. zu Maßnahmen zwingen wie zur Senkung des Soli, die ein weiteres Mal nur eine Luftbuchung ist. Die Verringerung des Soli bedeutet keine Entlastung der Bürger, sondern ist ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft.
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Die deutsche Einheit bleibt ein Glücksfall für unser Land.
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Es ist aber keineswegs so, daß sie uns von der Bundesregierung geschenkt wurde.
({9})
Dies wäre eine Mißachtung des Mutes der Menschen, die im Herbst 1989 ohne Helmut Kohl auf die Straße gegangen sind. Daher müssen wir auch nicht jede noch so mangelhafte Form der Förderung als Gnade empfinden; sondern es muß selbstverständlich sein, daß wir in Ost und West gemeinsam nach Wegen suchen, die der gigantischen Aufgabe Aufbau Ost besser gerecht werden als die alte Zonenrandförderung.
Wer in diesem Lande regiert, meine Damen und Herren, hat die Pflicht, die Verwirklichung der inneren Einheit voranzutreiben. Dafür muß man auch bereit sein, neue Wege zu gehen. Wer dies nicht tut, hat politisch versagt.
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Das Wort hat der Kollege Uwe Lühr, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe vorhin spontan meine Fraktion gebeten, mir drei Minuten Redezeit
zu geben, weil ich am Anfang der Debatte das Gefühl hatte, hier wird heute der Versuch gemacht, das Thema „Aufbau Ost - Bilanz nach sieben Jahren" und das Thema „innere Einheit" in einer Art und Weise und in einem Stil zu behandeln, der diesem Parlament würdig ist. Ich sage ausdrücklich: Die Rede des Kollegen Thierse, der ich inhaltlich nicht in jedem Punkt zustimmen kann - das können Sie auch nicht erwarten -, war für mich ein echter Beleg dafür.
In dieser heutigen Debatte kommt wieder zum Ausdruck, daß wir permanent über Kosten, über finanzielle Transfers und ähnliche Dinge reden. Wir reden viel zu wenig über den Wert der deutschen Einheit an sich und die Chancen, die sich daraus ergeben.
({0})
Es ist natürlich, daß in einer solchen Bilanz, wie sie heute gezogen wird, Licht und Schatten nicht verdeckt werden können. Die sehr ausgewogene Rede des Bundeswirtschaftsministers hat aus meiner Sicht nur einen kleinen Makel gehabt, den ich hier zum Ausdruck bringen möchte. Er sagte: Die deutsche Einheit ist de facto abgeschlossen. Für mich ist sie nicht abgeschlossen. Für mich ist ein erster Etappenschritt der Wiedervereinigung zu Ende. Die Vereinigung muß noch sehr lange von allen, vor allen Dingen von allen gesellschaftlichen Kräften getragen werden.
Ich halte es für falsch, daß wir immer wieder den Eindruck erwecken - die Opposition genauso wie die Koalition -, daß wir als Politiker die einzigen in diesem Lande sind, die diesen Prozeß zu gestalten haben und dafür sowie für alle Belange, die in diesem Prozeß eine Rolle spielen, verantwortlich sind. Alle gesellschaftlichen Kräfte haben ihre Aufgaben in dem Prozeß der Wiedervereinigung. Man muß auch die Frage stellen, ob sie sie immer verantwortungsbewußt wahrgenommen haben.
Ich denke daran, daß gerade im Osten Deutschlands nach der Vereinigung Bedingungen geherrscht haben, die eine bessere Voraussetzung für Investitionen in Ostdeutschland gewesen wären. In der Folgezeit haben die Tarifparteien - Arbeitnehmer und Arbeitgeber - durch aus meiner Sicht zu schnelle und zu hohe Lohnabschlüsse im Osten - auch wenn das hart klingt - einen dieser Investitionsvorteile verspielt.
Mir liegt am Herzen, hier heute zu sagen: Bei allen Problemen, die wir im Prozeß der Vereinigung haben, möchte ich den Bürgern im Osten Deutschlands absoluten Respekt zollen, die die Herausforderung der Vereinigung mittlerweile zum überwiegenden Teil als Chance begreifen. Sie können sie noch nicht alle als Chance nutzen. Dafür zu sorgen ist unsere Aufgabe als Politiker.
Die Veränderungen für jeden einzelnen im Osten, die in seinem ganzen Wertegefüge, in seinem Lebensgefüge und seinen Lebensumständen stattgefunden haben, sind großer Beachtung würdig. Ich zweifle daran - ich ziehe einmal diesen Vergleich, auch wenn er sicherlich nicht zulässig ist -, daß dann, wenn die Geschichte anders herum verlaufen
wäre, die Veränderungsbereitschaft der Menschen hier im Westen das bei den erstarrten Strukturen und den erstarrten Verhaltensweisen, wie wir sie hier teilweise vorgefunden haben, das hätte bewältigen können.
Wir brauchen Beweglichkeit und Flexibilität. Das bieten die Menschen im Osten Deutschlands an. Es ist unsere Aufgabe, vor allen Dingen den Jugendlichen - bei denen im übrigen das Gefühl einer einheitlichen Nation am weitesten fortgeschritten ist - alle Chancen einzuräumen. Dazu gehört, daß die Politik notwendige Rahmenbedingungen setzt. Das versucht diese Koalition. Das haben wir zum Beispiel auch mit der großen Steuerreform versucht, die aus den bekannten Gründen nicht zustande gekommen ist. Das ist bedauerlich.
Ich sage noch einmal - weil Frau Kaspereit das vorhin angesprochen hat -: Die Senkung des Solidaritätszuschlages ist sicherlich eine geringe, aber auch eine wesentliche Maßnahme, weil hier eine Zusatzsteuer, die die Bürger in Ost und West belastet, zumindest in gewissen Grenzen zurückgenommen werden konnte. Mir wäre lieber gewesen, wir hätten eine große Steuerreform erreicht und damit Investoren angereizt, nach Ostdeutschland zu gehen und Arbeitsplätze zu schaffen. Denn jeder geschaffene Arbeitsplatz ist allemal die sozialste Politik in diesem Lande.
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Das Wort hat der Kollege Ulrich Petzold, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor wenigen Tagen haben wir den siebenten Jahrestag der Einheit Deutschlands gefeiert. Als Anlaß zahlloser Reden und Erklärungen ist dieser Tag auch bei jenen beliebt, die ansonsten mit der deutschen Einheit nicht viel im Sinn haben und deren Lieblingsthema. die angebliche Mauer in den Köpfen unserer Mitmenschen ist.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Frage nach der inneren Einheit unserer Nation stellt sich in zwei Dimensionen: erstens die subjektive emotionale Einstellung und Einschätzung der derzeitigen Situation und zweitens die objektive sozialökonomische Frage nach dem Entwicklungsstand in den 40 Jahre lang getrennten Teilen unseres Vaterlandes. Da sich die Antwort auf die Frage der subjektiven Befindlichkeit ganz stark an der objektiven Realität orientiert und zumindest dort, wo die Kenntnis der objektiven Realität auf eigener Erfahrung beruht, auch objektive Züge trägt, möchte ich die Beantwortung der sozialökonomischen Frage vorausschicken.
Um einen Entwicklungsstand zu beschreiben, ist es wichtig, eine Basis zu definieren. Als Basis für eine sachgerechte Beschreibung der Entwicklung in den neuen Bundesländern kann man nur das Endstadium der DDR unter den Regierungschefs Krenz und Modrow heranziehen. Deutlich beschrieben wird die damalige Situation in der Analyse der Staatlichen PlanUlrich Petzold
kommission der DDR von ihrem Leiter, dem Herrn Schürer. Heute wissen wir, daß dieser Bericht noch geschönt war, wie zum Beispiel bei der Quote der Arbeitsproduktivität der DDR-Betriebe im Vergleich zur Bundesrepublik. Trotzdem bleibt dieser Bericht vom 27. Oktober 1989 dramatisch genug. Allen, die sich heute an dem angeblichen Volksvermögen der DDR berauschen wollen, kann ich nur dringlich empfehlen, diesen Bericht zur Hand zu nehmen und auch einmal zwischen den Zeilen zu lesen, was ja zum Handwerk der DDR-Bürger gehörte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unter der Käseglocke einer international wertlosen Binnenwährung hatte sich in der DDR eine Wirtschaftssituation herausgebildet, die bei der Berührung mit der realen Weltwirtschaft kollabieren mußte. Mit einer ungeheuren finanziellen Anstrengung, aber auch mit hohem persönlichen Engagement vieler Menschen in ganz Deutschland wurde der anstehende Wirtschaftskollaps in einen stetigen, wenn auch dramatischen Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern verwandelt.
Um überhaupt diesen Umbau leisten zu können, war eine Instandsetzung, ja, ein Neuaufbau fast der gesamten Infrastruktur notwendig. Bis einschließlich 1997 wurden zirka 2,5 Milliarden DM für die Wiederherstellung der seit 1951 vernachlässigten Bundeswasserstraßen, 66 Milliarden DM für die Eisenbahn und 25 Milliarden DM für die Bundesstraßen ausgegeben. Für Telefon-, Elektroenergie-, Gasleitungen, Kraftwerksbau und ungezählte Abwasserkläranlagen wurden durch Fördermittel Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe angereizt. Heute kann festgestellt werden, daß die neuen Bundesländer in vielen Bereichen die neueste und modernste Infrastruktur haben.
({0})
Das Braunkohlekraftwerk mit dem weltweit höchsten Wirkungsgrad läuft zur Zeit in Schwarze Pumpe im Probebetrieb und geht demnächst ans Netz. Die Behauptung, die wesentliche Verbesserung der Umweltsituation in den neuen Bundesländern sei nur auf Betriebsstillegungen zurückzuführen, setzt sich nicht mit der Realität vor Ort auseinander. Ein überalteter Kraftwerkspark mit Wirkungsgraden von knapp über 20 Prozent wird durch neueste Technologie mit Wirkungsgraden von bis zu 43 Prozent ersetzt. Die Staubeinträge durch Kraftwerke sind bereits auf ein Hundertstel des Standes von 1990 gesenkt worden. Die davon betroffene bzw. nicht mehr betroffene Bevölkerung versteht gerade auch dies unter einem ökologischen Strukturwandel.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Umbau einer Volkswirtschaft, die auf Grund ihrer zentralistischen Steuerung oftmals wenig effektiv arbeitete, machte scharfe Einschnitte unumgänglich - scharfe Einschnitte, die bei vielen Betroffenen Unverständnis und Empörung auslösten. Die Treuhandanstalt, die das epochale Werk der Umgestaltung einer gesamten Volkswirtschaft übertragen bekam, mußte vor allem bei jenen als Sündenbock herhalten, die den desolaten Zustand der DDR-Wirtschaft mit zu verantworten hatten. Seit 1994 das Privatisierungsgeschäft weitgehend abgeschlossen werden konnte und die Begleitung der Privatisierung durch die BvS übernommen wurde, hat sich vieles entdramatisiert.
Selbstverständlich mußten im Rahmen der Privatisierung und des Learning by doing der Mitarbeiter der Treuhandanstalt und der BvS außerordentlich ärgerliche Fehlleistungen konstatiert werden. Kriminelle Energien wuchern gerade auch in schwierigen Umbruchzeiten. An vielen Stellen hat die BvS jedoch in den letzten Jahren verlorengegangenes Vertrauen wieder zurückgewonnen.
Bezeichnend dafür ist insbesondere die fraktionsübergreifende Entschließung des Wirtschaftsausschusses vom 24. September dieses Jahres zur Weiterführung der BvS über das Jahr 1998 hinaus. Der Bund wird sich über die BvS auch in Zukunft am Erhalt sanierungsfähiger ehemaliger Treuhandunternehmen beteiligen. Unter Einbeziehung der Länder und deren strukturpolitischer Verantwortung wird die BvS auch weiterhin an konzertierten Aktionen bei der Betreuung von Problemunternehmen mitwirken.
Dabei ist entscheidend, daß die Bundesländer diese strukturpolitische Verantwortung übernehmen und Prämissen setzen. Daß Prämissen in den neuen Bundesländern gerade auch in der Entwicklung der Wirtschaftsstruktur sehr differenziert gesetzt werden, ist aus den unterschiedlichen Investitionsquoten dieser Länder zu ersehen.
Während Sachsen im Jahre 1997 eine Investitionsquote in Höhe von 31,8 Prozent ausweist, liegen die Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt nach statistischen Angaben bei 25,9 Prozent bzw. 25,4 Prozent. Daß die Nettokreditaufnahme und damit die Kreditfinanzierungsquote in Sachsen-Anhalt im Ansatz doppelt so hoch ist wie in Sachsen, weist keine wirtschaftsfreundliche Politik aus. Dieses wird auch mit dem geringsten Wirtschaftswachstum aller Länder der Bundesrepublik - es beträgt nur 0,1 Prozent und daraus folgend mit der höchsten Arbeitslosenquote in Höhe von 20,5 Prozent quittiert. Eine politische Bewertung möchte ich mir an dieser Stelle ersparen.
Gerade die unvertretbar hohe Arbeitslosigkeit in allen Bundesländern und das noch größere Arbeitsplatzdefizit zwingen uns zum Handeln. Arbeitsplatzschaffende Investitionen wurden insbesondere im produzierenden Bereich gefördert. Zentrale Elemente waren dabei die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", ERPKredite und das Eigenkapitalhilfeprogramm, Sonderabschreibungen und Investitionszulagen sowie die öffentlichen Bürgschaftsprogramme, über die der Löwenanteil der Fördergelder abfloß.
Die neuen Elemente, die durch das Arbeitsförderungs-Reformgesetz im April dieses Jahres in das Arbeitsförderungsrecht eingefügt wurden, bilden unserer Auffassung nach eine gute Brücke zwischen der Förderung der Arbeitsaufnahme für den einzelnen Arbeitslosen und der Unterstützung von Existenzgründern.
Die gesamten Fördermaßnahmen werden uns jedoch nicht dem Ziel des Abbaus der Arbeitslosigkeit näherbringen, wenn nicht auch andere Rahmenbedingungen stimmen. Hohe Lohnstückkosten auf Grund hoher Personalkosten, bei der Aussicht auf eine absehbare Angleichung der Arbeitslöhne an das westdeutsche Niveau, veranlassen Investoren in den neuen Bundesländern zur höchsten Rationalisierung. So wurden in den neuen Bundesländern Wirtschaftsstrukturen mit dem denkbar höchsten Rationalisierungsgrad geschaffen. Das ist eine Entwicklung, wie sie den Altbundesländern in vielen Bereichen noch bevorsteht. Schon die Andeutung einer deutlichen Personalkostenerhöhung wird den Rationalisierungsdruck in den Produktionsbereichen wesentlich erhöhen, so daß neue Arbeitsplätze dort kaum entstehen werden.
Der Stärkung des Dienstleistungssektors muß daher in Zukunft erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Schwierig ist in diesem Zusammenhang, welche emotionalen Hemmschwellen gerade mit Dienstleistungen in Deutschland verbunden sind. Sich auf Dienstleistungen einzustellen, sie emotions-frei und vorbehaltlos anzunehmen und als vollwertige Arbeit anzusehen, fällt in Ost und West schwer. Zum Glück ist dieses aber nicht das einzige Zeichen der inneren emotionalen Einheit in Deutschland.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn Herr Rexrodt wegmußte, so ist mir spätestens seit dem Zeitpunkt, als er den Transferbegriff in den Mund genommen hat, klar, welche Funktion der Umstand hat, daß er heute hier reden durfte: Es geht offensichtlich um den vergeblichen und schwierigen Versuch der künstlichen Wiederbeatmung der F.D.P. in Ostdeutschland. Ich kann ihn dabei nur ermutigen. Ich bitte aber auch darum, daß, wenn Herr Waigel das nächste Mal anders tönt, so etwas nicht nur hier debattiert wird, sondern bei Transferfragen auch innerhalb des Kabinetts entschieden wird. Daran werden wir das messen.
({0})
Auch eine zweite Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen. Sie bezieht sich auf die Arbeitsmarktsituation. Dazu hat Herr Rexrodt gesagt, die Arbeitsmarktprobleme seien in Ostdeutschland nicht mehr hinnehmbar. Ich darf daran erinnern: Im Sommer gab es unter großem Getöse eine sogenannte gemeinsame Initiative Ostdeutschland von Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern. Dabei hat sich die Bundesregierung verpflichtet, das Beschäftigungsniveau 1997 mindestens auf dem Stand von 1996 zu halten.
Ich will jetzt die Zahlen noch einmal in Erinnerung rufen. Von Monat zu Monat gab es einen Aufwuchs an Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Ich fange einmal beim April an: gegenüber dem Vorjahr 118000 mehr Arbeitslose, einen Monat später plus 160 000, danach 180 000 mehr, dann 218 000, anschließend 258 000 und jetzt im September 275 000 mehr Arbeitslose in Ostdeutschland als vor einem Jahr.
Vergessen Sie bitte den Trend nicht. Dieser Aufwuchs nimmt immer mehr zu. Wir haben an dieser Stelle einen proportionalen Aufwuchs. Zu diesem Thema kam von Herrn Rexrodt kein Wort. Das war eine Riesenenttäuschung.
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Neben den großen ökonomischen und sozialen Problemen der deutschen Einheit darf heute eine zweite, mindestens genauso bedeutsame Frage nicht unter den Tisch fallen. Es geht um die tiefe psychologische Krise zwischen Ost und West in unserem Land. Eine Umfrage von Infratest im Auftrag von ARD und „Berliner Zeitung" förderte dazu Bedrohliches zutage.
Jeder zweite Deutsche geht davon aus, daß sich der Prozeß des Zusammenwachsens zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen eher in eine negative Richtung entwickelt, daß eher wachsende als abnehmende Verständigungsprobleme zwischen Ost- und Westdeutschen anzutreffen sind.
({2})
Wenn Günter Grass gestern in der „Süddeutschen Zeitung" die Ost- und Westdeutschen mit verschiedenen Blickrichtungen als voneinander abgewandt beschrieb, dann charakterisiert dies treffend dieses bedrückende Problem.
Die wachsende Entfremdung hat viele Ursachen. Eine besteht in der Art und Weise, wie im vereinten Deutschland mit den Lebensleistungen der Ostdeutschen umgegangen wird. Die Ostdeutschen haben durch die zum Teil kaltschnäuzige Art und Weise, wie in Bonn der Einigungsprozeß gestaltet worden ist, das Gefühl, daß ihr Leben bis 1989, ihre Verdienste, der Wert ihrer Lebenserfahrungen nichts mehr gelten, unbedeutend seien und übersehen werden könnten. Hier hat gerade die Bundesregierung große Fehler gemacht.
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Nachdem die Ostdeutschen so bereits ein erstes Mal in Teilen ihrer Lebensgeschichte beraubt worden sind, droht nun ein zweites Mal der Verlust eigener ostdeutscher Verdienste; diesmal im Zusammenhang mit der jüngeren Geschichte seit 1989, vor allem mit der Zeit der revolutionären Umwälzung. Ein Beispiel hierfür ist die Rolle, die dem Bundeskanzler in regierungsamtlichen Darstellungen bei der deutschen Einheit zugeschrieben wird.
Niemand will die vorhandenen Verdienste des Bundeskanzlers um die deutsche Einheit bestreiten. Aber seit geraumer Zeit wechseln die normalen Überhöhungen in eine neue, schier unerträgliche Dimension. Diese regierungsamtliche Darstellung verläuft nach folgendem Muster: Je weiter das Ereignis
der friedlichen Revolution zurückliegt, desto stärker werden die Verdienste Helmut Kohls herausgestrichen. Die friedliche Revolution wird dabei quasi von der Bundesregierung okkupiert.
Die Stichworte Bürgerbewegung, Neues Forum oder SDP, die neugegründete Sozialdemokratische Partei der DDR, kommen in regierungsamtlichen Publikationen überhaupt nicht mehr vor. Der Begriff „politischer Pluralismus in der DDR" ab 1989 wird nur mit den früheren Blockparteien verbunden. Die neuen demokratischen Parteien und Bewegungen firmieren statt dessen unter dem nebulösen Begriff „verschiedene gesellschaftliche Kräfte".
Die Gespräche Kohls beim Staatsbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten und des Außenministers am 25. August 1989 werden zu Ereignissen, die
in Wirklichkeit ... das Ende der DDR einleiteten und beschleunigten.
Das Zehn-Punkte-Programm Kohls von Ende November 1989, das bekanntlich nur - ich sage das wirklich ohne polemischen Vorwurf, weil ich weiß, was wir im Osten und im Westen damals dachten - an eine Staatenkonföderation mit mehrjähriger Dauer dachte, wird zu einer Rede, mit der Helmut Kohl
das Gesetz des Handelns übernommen und programmatisch den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands bereitet hat.
Die Botschaft in diesen Darstellungen ist klar: Hier ist Helmut Kohl nicht mehr nur der Kanzler der alten Bundesrepublik mit Entschlossenheit im außenpolitischen Bereich. Kohl wird vielmehr in die Mitte der aufbegehrenden Ostdeutschen gestellt und hat die friedliche Revolution entscheidend vorangetrieben, wenn nicht sogar selbst gemacht. Wenn das so weitergeht, dann behauptet das Bundespresseamt im nächsten September kurz vor der Bundestagswahl noch, Helmut Kohl hätte die Leipziger Montagsdemonstrationen organisiert und sei in der ersten Reihe mitmarschiert.
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Noch ein anderer Nebeneffekt muß an dieser Stelle erwähnt werden: Wenn die Bundesregierung die friedliche Revolution heute als von außen „eingeleitet und beschleunigt" darstellt, bedient sie damit gleichzeitig primitivste Klischees einer SED-Nostalgie, die von einer angeblichen Fremdbestimmung der Ereignisse des Jahres 1989 spricht. Die Bundesregierung stützt damit indirekt jene Unbelehrbaren, die noch immer nicht wahrhaben wollen, daß die SED-Herrschaft im Herbst 1989 nicht verraten, sondern vom eigenen Volk hinweggefegt worden ist.
({5})
Meine Damen und Herren, wer aus parteitaktischem Egoismus oder aus schwer zu zügelndem Geltungsdrang Geschichte umdeutet, der nimmt den
Menschen das, was er sich selbst zuschreibt. Die Ostdeutschen haben sich jedoch, anders als die Westdeutschen nach 1945, Demokratie und Freiheit selbst erkämpft. Helmut Kohl hat die deutsche Einheit nicht geplant. Er saß nicht im Bundeskanzleramt am Schreibtisch, geheimnisvolle Hebel bewegend, Strippen ziehend, so daß das SED-Regime infolgedessen entnervt zusammengebrochen wäre. Denn während die Bundesregierung fernab im schönen Bonn im Trockenen saß, haben Ostdeutsche ihre Knochen hingehalten für die innerstaatliche Demokratisierung der DDR, in Leipzig, Dresden, Plauen oder anderswo.
({6})
Dies war ursächlich für Freiheit und Demokratie in Ostdeutschland und für die spätere staatliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten selbst. Wer dieses historische Verdienst der Ostdeutschen in seinem Kern umdeutet und auf sich selbst umzulenken versucht, der mißachtet damit auch zentrale Leistungen der Ostdeutschen und verstärkt die innere Spaltung in unserem Land.
({7})
Meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf an, die psychologische Krise zwischen Ost und West durch falsche politische Signale nicht noch zusätzlich zu verschärfen. Wir brauchen deshalb einen neuen Realismus der Politik sowohl hinsichtlich der Fehler der letzten sieben Jahre als auch im Hinblick auf die Probleme und Perspektiven, die auf dem Weg zur inneren Einheit der Deutschen noch vor uns liegen. Die Menschen haben hierauf einen Anspruch. Denn nur so entstehen in Ostdeutschland die notwendige Geduld und Aufbruchstimmung und im Westen die unverzichtbare Solidarität. Diesen Realismus hat die Bundesregierung hier heute völlig vermissen lassen.
({8})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/8450, 13/8571, 13/ 8645, 13/8656 und 13/8703 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Bestandsaufnahme des Vermögens der DDR, Drucksache 13/6175. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1834 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen.
Zu dem Tagesordnungspunkt 4 g möchte der Kollege Gerhard Jüttemann eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. - Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lehne die vorliegende Beschlußempfehlung ab, weil damit eine grobe Ungleichbehandlung von ostdeutschen und westdeutschen Bergleuten festgeschrieben wird. Dies soll geschehen, obwohl ostdeutsche Bergleute genau wie westdeutsche Bergleute von dem Umstrukturierungsprozeß betroffen sind, der als Begründung für die sozialen Regelungen im Westen diente.
Ich lehne die Beschlußempfehlung vor allem deshalb ab, weil sie katastrophale soziale Auswirkungen für die Betroffenen im Osten zur Folge hat. Nach der westdeutschen Regelung von 1988, die 1994 neu aufgelegt wurde, haben Steinkohlebergleute die Möglichkeit, ab dem 50. Lebensjahr Anpassungsgeld und anschließend ab 55 Jahren Knappschaftsausgleichsleistung zu erhalten. Gleiches müßte analog für ostdeutsche Bergleute Anwendung finden.
Bis zum 31. Dezember 1996 waren durch das Renten-Überleitungsgesetz die ostdeutschen Bergleute den Anpassungsgeldbeziehern gleichgestellt. Der spätere Zugang zur Knappschaftsausgleichsleistung war gesichert. Nach dem Auslaufen des RentenÜberleitungsgesetzes gibt es keine Folgeregelung.
Ich sehe mich genötigt, die Beschlußempfehlung abzulehnen, weil ich nicht zustimmen kann, daß Hunderte arbeitslos gewordene ostdeutsche Bergleute, die mehr als 25 Jahre unter Tage hart gearbeitet haben, jetzt im besten Fall Anspruch auf lediglich 40 Prozent der späteren Bergmannsaltersrente haben sollen. Dies ist gleichbedeutend mit dem Abstieg auf ein Sozialhilfeniveau zwischen 800 und 1000 DM. Hier ist endlich eine gerechte und sozialverträgliche Regelung notwendig.
Ich danke.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zum Anpassungsgeld und zur Knappschaftsausgleichsleistung für Bergleute in den neuen Bundesländern. Das ist die Drucksache 13/6962. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5592 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Aufbau Ost. Das ist die Drucksache 13/8581. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7789 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 g sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
15. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Unterhaltsrechts minderjähriger Kinder
({0}) - Drucksache 13/7338Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({2})
- Drucksache 13/8653 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über befristete Arbeitsverträge mit Ärzten in der Weiterbildung
- Drucksache 13/8668 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({4})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten
- Drucksache 13/8586 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({5})
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts ({6})
- Drucksache 13/8587 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({7})
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Apothekengesetzes
- Drucksache 13/8301Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({8}) Rechtsausschuß
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Reuter, Fritz Rudolf Körper, Uta Titze-Stecher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wiedergutmachung für die Opfer von NSWillkürmaßnahmen
- Drucksache 13/8576 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({9})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
ZP2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({10})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
- Drucksache 13/8705 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({11}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges ({12})
- Drucksache 13/8246 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({13}) Innenausschuß
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bei den anschließenden Tagesordnungspunkten 16a bis 16p sowie dem Zusatzpunkt 3 handelt es sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 16 a auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({14}) zu dem Antrag des Abgeordneten Wolfgang Schmitt ({15}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Hermes-Bürgschaften für den DreiSchluchten-Staudamm in China
- Drucksachen 13/5399, 13/6364 - Berichterstattung:
Abgeordneter Siegmar Mosdorf
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5399 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkte 16b bis 16j:
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 882 01
- Finanzhilfen des Bundes zur Förderung von Investitionen in Pflegeeinrichtungen an die neuen Länder -
- Drucksachen 13/7838, 13/7958 Nr. 2, 13/8602 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Ina Albowitz
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 04 Titel 526 45
- Planungskosten für Baumaßnahmen außerhalb des Parlamentsviertels -
- Drucksachen 13/8175, 13/8507 Nr. 1.7, 13/8603 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen
Jürgen Koppelin Dr. Rolf Niese
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({18}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 Titel 616 31
- Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit -
- Drucksachen 13/8204, 13/8507 Nr. 1.8, 13/8604 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dr. Hermann Kues
Ina Albowitz
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({19}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 01
- Erstattung von Fahrgeldausfällen bei der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter -
- Drucksachen 13/8247, 13/8507 Nr. 1.9, 13/8605 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Joachim Fuchtel Antje Hermenau
Ina Albowitz
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1997
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04
- Von der EU nicht übernommene Marktordnungsausgaben - bis zur Höhe von 50142 000 DM
- Drucksachen 13/8263, 13/8507 Nr. 1.10, 13/8606 -
Berichterstattung:
Abgeordnete
Carl-Detlev Freiherr v. Hammerstein Jürgen Koppelin
Ilse Janz
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1997
Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 02 apl. Titel 652 02
- Nothilfe des Bundes für Hochwassergeschädigte an Oder und Neiße - Drucksachen 13/8380, 13/8507 Nr. 1.18, 13/8607 Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth ({22}) Dr. Wolfgang Weng ({23}) Karl Diller
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1997
Außerplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 apl. Titel 893 08
- Sachkostenzuschüsse zu Maßnahmen nach § 249h AFG und Strukturanpassungsmaßnahmen nach §§ 272 ff. SGB III zur Beseitigung von Hochwasserschäden in der Oderregion -
- Drucksachen 13/8407, 13/8507 Nr. 1.19, 13/8608 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dr. Hermann Kues
Ina Albowitz
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({25}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1997
Außerplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 25 02 apl. Titel 882 22
- Zuweisungen an das Land Brandenburg für die Instandsetzung und den Wiederaufbau durch Hochwasser beschädigter oder zerstörter Wohngebäude - Drucksachen 13/8449, 13/8507 Nr. 1.21, 13/8609 Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth ({26})
Jürgen Koppelin Dr. Rolf Niese
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({27}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1997
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 01
- Arbeitslosenhilfe - Drucksachen 13/8296, 13/8594 Nr. 1.3, 13/8610 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dr. Hermann Kues
Ina Albowitz
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 k:
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ({28})
zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 3/97
- Drucksache 13/8601 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Eylmann
Der Ausschuß empfiehlt unter Ziffer 1 seiner Beschlußempfehlung, in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren mit dem Aktenzeichen 2 BvE 3/97 eine Stellungnahme abzugeben. Wer stimmt für Ziffer 1 der Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - EntVizepräsident Hans-Ulrich Klose
haltungen? - Ziffer 1 der Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Unter Ziffer 2 seiner Beschlußempfehlung gibt der Ausschuß eine Empfehlung zur Bestellung des Prozeßvertreters. Wer stimmt für Ziffer 2 der Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ziffer 2 der Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Sammelübersichten. Tagesordnungspunkt 161:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 240 zu Petitionen
({30})
- Drucksache 13/8568 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/8721? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen. der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, Sammelübersicht 240? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 240 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 16m:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 242 zu Petitionen - Drucksache 13/8661 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 242 ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 n:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 243 zu Petitionen
- Drucksache 13/8662 Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 243 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 0:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 244 zu Petitionen
- Drucksache 13/8663 Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 244 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 16p:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 245 zu Petitionen - Drucksache 13/8664 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 245 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vierten Protokoll vom 15. April 1997 zum Allgemeinen Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen
- Drucksache 13/8215 - ({35})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({36})
- Drucksache 13/8727 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/8727, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes ({37}) 1997
({38})
- Drucksache 13/4839 ({39})
a) Dritte Beschlußempfehlung und dritter Bericht des Finanzausschusses ({40})
- Drucksache 13/8701 - Berichterstattung:
Abgeordnete Reiner Krziskewitz Jörg-Otto Spiller
b) Dritter Bericht des Haushaltsausschusses ({41}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/8734 - Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Oswald Metzger Adolf Roth ({42}) Jürgen Koppelin
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Reiner Krziskewitz von der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen formulierte ein führender Vertreter der Opposition an dieser Stelle: Den Solidaritätszuschlag können Sie von der Koalition ganz alleine absenken. Dazu brauchen Sie den Bundesrat nicht. Handeln Sie doch endlich. - Nun gut, wir haben gehandelt.
({0})
Um es ganz klar zu formulieren: Die Absenkung des Solidaritätszuschlages ist kein Minimalersatz für eine Steuerreform. Aber sie dokumentiert den Willen der Koalition, Bürger und Wirtschaft zu entlasten, wo immer es geht, um letztlich die Attraktivität des Standortes Deutschland zu verbessern.
({1})
Für uns war die Absenkung dieses Solidaritätszuschlages an ganz konkrete Bedingungen geknüpft. Es darf keine steuerliche Gegenfinanzierung geben. Es darf keine Sonderlasten für einzelne Gruppen der Bevölkerung geben. Die Kreditaufnahme darf über das für 1998 Geplante nicht hinausgehen. Es darf keine Einschränkungen in der weiteren Unterstützung und ganz besonders in der Investitionsförderung in den neuen Bundesländern geben.
({2})
Wir haben uns die Sache wahrlich nicht leichtgemacht, sondern in zähem Bemühen eine Lösung gesucht, die diesen Kriterien Rechnung trägt. Wir haben solch eine Lösung nun vorliegen.
({3})
Im nachhinein möchte ich feststellen - da weiß ich mich ganz besonders mit meinen Fraktionskollegen aus den neuen Bundesländern in Übereinstimmung -, daß es absolut richtig war, das „Gesetz zur weiteren Förderung von Investitionen ab dem Jahr 1999" aus dem Gesamtkomplex der Steuerreformvorhaben herauszunehmen und ein eigenes Gesetz zu formulieren. Bekanntermaßen ist dieses Gesetz in guter und sachlicher Form gemeinsam von SPD und Koalition in einer Arbeitsgruppe erarbeitet worden, hat Bundestag und Bundesrat passiert und steht, wenn ich mich nicht sehr irre, mit Datum vom 23. August 1997 im Gesetzblatt.
Dieses Gesetz sichert in klarer, überschaubarer Weise langfristig die Investitionsförderung in den neuen Bundesländern, einschließlich der Modernisierung und Sanierung im Wohnungsbereich. Mit der Hereinnahme von Dienstleistungen in diese Förderfähigkeit ist, so meine ich jedenfalls, ein echter Neuansatz gelungen. Was ganz besonders wichtig ist: Bei
Einhaltung der Kriterien besteht ein Anspruch auf entsprechende Förderung.
In der speziellen Ausgestaltung kommt dieses Gesetz der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern nicht nur entgegen, sondern ist geradezu darauf zugeschnitten - weg von einer rein steuerlich wirkenden Förderung hin zu einer Orientierung auf Investitionszuschüsse, die der besonders schwierigen Eigenkapitalsituation in den neuen Bundesländern Rechnung tragen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf folgendes hinweisen: Mitunter wird der Eindruck erzeugt, daß die Mittel aus dem Solidaritätszuschlag auf irgendein Sperrkonto gelangen und je nach Kassenlage und Geldeingang an die neuen Bundesländer ausgezahlt und verteilt werden. Das ist eine irrige Annahme.
({4})
- Ich habe das nicht Ihnen unterstellt. Aber wenn man die Medien ganz genau verfolgt, dann kann man sich dieses Eindrucks mitunter nicht erwehren.
In Wirklichkeit liegen die Dinge anders; denn bei Steuern gibt es eine allgemeine Deckungsfähigkeit. Der Solidaritätszuschlag trägt dazu bei, den Finanzbedarf des Bundes zu decken. Daß dieser Finanzbedarf im Zusammenhang mit den Problemen bei der Gestaltung der deutschen Einheit einen besonderen Stellenwert hat, wird wohl jeder nachvollziehen können. Von einer Zurücknahme der Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern oder gar von einem Abbruch kann also gar keine Rede sein. Im Gegenteil: Wir haben für einen Zeithorizont von sieben Jahren Berechenbarkeit und Planungssicherheit geschaffen. Ich wollte, wir wären auch in anderen Bereichen so weit.
Im Grunde genommen waren die durchaus verständlichen Bedenken aus den neuen Bundesländern, eine Absenkung des Solidaritätszuschlages würde negative Auswirkungen auf die Investitionsförderung in den neuen Bundesländern haben, schon mit der Annahme des oben zitierten Gesetzes entkräftet. Daß die Opposition daran einen konstruktiven Anteil hatte, sei dankbar vermerkt.
Meine Fraktionskollegen aus den neuen Bundesländern sehen ihr Grundanliegen in der vorgeschlagenen Lösung im Zusammenhang mit dem bereits verabschiedeten Gesetz zur Investitionsförderung verwirklicht.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Krziskewitz, ich möchte Ihnen zunächst einmal das Mitgefühl der SPD-Fraktion ausdrücken.
({0})
Man hat förmlich gemerkt, wie Sie bei Ihrer Rede gelitten haben. Aber Sie haben es geschafft, zu leiden, ohne zu klagen. Deswegen passen Sie auch in diese Koalition.
({1})
Am 3. Oktober haben wir den Tag der Deutschen Einheit begangen. Ebenso wie die jüngsten Arbeitslosenzahlen ist er Anlaß, an zweierlei zu erinnern: Die Deutschen in den neuen wie in den alten Bundesländern setzen auf eigene Leistung. Es geht ihnen um Arbeit, nicht um Transferzahlungen. Damit die dafür erforderlichen wirtschaftlichen Verhältnisse tatsächlich geschaffen werden, bedarf es weiterhin der solidarischen Hilfe für Ostdeutschland.
({2})
Die Koalition setzte ein anderes Signal. Am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit kündigte sie an, den Solidaritätszuschlag zu senken - ein falsches Signal zur falschen Zeit.
({3})
Welches Motiv hinter diesem Entschluß steht, hat der Vorsitzende der F.D.P., Herr Gerhardt, gestern im ZDF erklärt: Es sei um die Glaubwürdigkeit der F.D.P. gegangen.
({4})
Meinen Glückwunsch, Herr Kollege Gerhardt, Ihnen ist eine Überraschung gelungen! Wenn Ihnen Art und Umstände der jetzt beabsichtigten Solisenkung als Maßstab für Glaubwürdigkeit genügen, steht die F.D.P. zum erstenmal in ihrer Geschichte als die Partei der äußersten Bescheidenheit da.
({5})
Hatte die F.D.P., nachdem sie in den vergangenen 15 Jahren eine ganze Serie von Steuererhöhungen mitbeschlossen hatte,
({6})
nicht vor kurzem noch den Anspruch erhoben, eine
Steuersenkungspartei zu sein? Jetzt genügt ihr schon
die bescheidene Rückführung einer Steuererhöhung.
({7})
Hatte die F.D.P. nicht kürzlich noch verkündet, sie wolle gegen den ständigen Anstieg der öffentlichen Verschuldung angehen, gar eine Grundgesetzänderung herbeiführen, die dem Bund das Schuldenmachen verbieten soll? Einer der Lautesten, die sich gegen jegliche Neuverschuldung ausgesprochen haben, war dabei immer Graf Lambsdorff.
({8})
- Daß Sie besonders laut sind, das will ich Ihnen gerne zugestehen.
({9})
Am Dienstag saß Graf Lambsdorff schweigend im Finanzausschuß, als bei den Beratungen deutlich wurde, daß die Absicht der Koalition, zum Ausgleich der aus der Solisenkung zu erwartenden Mindereinnahmen - das sind rund 7 Milliarden DM - die Schuldentilgung beim Erblastentilgungsfonds zu strecken, in der Sache nichts anderes ist als eine Ausweitung der Neuverschuldung.
({10})
Gezahlt werden müssen die zusätzlichen Schulden künftig im übrigen von allen Bürgerinnen und Bürgern, auch von denen, die von dem Absenken des Solidaritätszuschlages jetzt gar nichts oder sehr wenig haben werden. Das sind sehr viele Bürgerinnen und Bürger. Dank der seinerzeit von der SPD durchgesetzten Freigrenzen setzt bei Familien mit Kindern die Erhebung des Solidaritätszuschlags erst bei mittlerem Einkommen ein. Selbst bei einem Bruttojahreseinkommen von 100 000 DM liegt bei einem Ehepaar mit zwei Kindern die monatliche Entlastung, auf die sie sich jetzt freuen können, bei lediglich 25 DM. Eine spürbare Entlastung können nur die Bezieher wirklich hoher Einkommen erwarten.
({11})
Wir wissen, daß Sie sich dieser Klientel besonders verpflichtet fühlen. Aber wie Sie es fertigbringen, die künftigen Generationen mit einem weiteren Anstieg
der Verschuldung zu belasten, jedoch gleichzeitig so zu tun, als hätten Sie zur Entlastung der Bürger beigetragen, das ist absolut unverständlich.
Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland werden im übrigen, selbst wenn Sie den Solidaritätszuschlag jetzt senken, im nächsten Jahr unterm Strich weniger an Einkünften haben, weil die angekündigten Anhebungen der Sozialabgaben die Senkung des Solidaritätszuschlages deutlich übersteigen werden.
({12})
Ich darf daran erinnern: Wenn Sie die Kraft und die Vernunft gehabt hätten, dem Vorschlag des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion zu folgen und der Empfehlung des Vermittlungsausschusses hinsichtlich der Senkung von Lohnnebenkosten bzw. Sozialabgaben zuzustimmen, dann hätten wir die Chance gehabt, daß die große Mehrheit der Deutschen im nächsten Jahr tatsächlich eine Entlastung bei den Abgaben hätte erreichen können.
({13})
Ich erinnere auch an Ihre vollmundige Erklärung - das ist jetzt nicht nur Sache der F.D.P., sondern betrifft die ganze Koalition -, daß Sie uns noch vor kurzem versprochen haben, Sie wollten eine NettoentlaJörg-Otto Spiller
stung der Bürgerinnen und Bürger um 30 Milliarden DM jährlich.
({14})
Jetzt hatten Sie noch nicht einmal die Traute und die Fähigkeit, 7 Milliarden DM durch Absenkung von Ausgaben auszugleichen.
({15})
Ihnen fällt immer wieder nur ein: Schulden machen, Schulden machen, Schulden machen.
({16})
Die Bundesregierung war im Finanzausschuß nicht in der Lage, zu erklären, was die Streckung der Schuldentilgung beim Erblastentilgungsfonds eigentlich ist. Der Bundesfinanzminister hat im Plenum in der vorigen Woche erklärt, die Tilgung sei wegen der niedrigeren Zinsen höher ausgefallen als geplant und habe 1996 um die 10 Milliarden DM betragen. Nach den Zahlen der Deutschen Bundesbank ist - trotz einer Schuldentilgung von rund 10 Milliarden DM 1996 - der Schuldenstand beim Erblastentilgungsfonds im vorigen Jahr gestiegen, weil immer neue Verbindlichkeiten hinzugekommen sind. Sie haben widersprüchliche Zahlen vorgelegt. Herr Dr. Waigel, es ist leider nicht möglich gewesen, auf Grund Ihrer Finanzberichte herauszubekommen, wie hoch der tatsächliche Schuldenstand ist. Daran, daß man mit Ihren Zahlen nicht arbeiten kann, sind wir gewöhnt,
({17})
aber wie Sie es fertigbringen, bei einer Schuldenlast im Erblastentilgungsfonds von rund 330 Milliarden DM zu sagen,
({18})
wir haben Zeit, wir können das strecken, wir tilgen nur 5 Milliarden DM, das verwundert uns schon. Wie lange wollen Sie sich eigentlich Zeit nehmen? - Herr Michelbach, haben Sie Kinder? Haben Sie Enkel? Wie lange soll das deutsche Volk unter der Schuldenlast, die diese Regierung hinterläßt, noch leiden?
({19})
Es ist im übrigen nicht so, daß das Schulden der Regierung sind. Wenn diese Regierung im nächsten Jahr ihren wohlverdienten Abschied nehmen wird, dann wird sie den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes rund 1500 Milliarden DM Schulden hinterlassen.
({20})
- Herr Michelbach, es wundert mich, daß Sie sich jetzt zum Kommunismus bekennen. Sie können bei dieser verantwortungslosen Politik nicht erwarten, daß Sie die Zustimmung der SPD zu diesem Buchhaltertrick bekommen. Lesen Sie doch mal die internationale Presse! Die „Neue Zürcher Zeitung", die nun wirklich nicht im Verdacht steht, ein SPD-nahes Blatt zu sein, bescheinigt Ihnen Bilanzkosmetik. Wenn das die ganze Antwort auf die Situation unseres Landes ist, dann werden Sie im nächsten Jahr Ihren wohlverdienten Abschied bekommen.
({21})
Das Wort hat der Kollege Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein neues Argument in die Debatte einführen. Letzte Woche hat Theo Waigel die Tilgungsaussetzung beim Erblastentilgungsfonds zur Finanzierung der Solisenkung damit begründet, daß in der Vergangenheit die Tilgungsraten für den Erblastentilgungsfonds deutlich höher gewesen seien als in der Zielplanung. Heute hat die Deutsche Bundesbank den dritten Leitzins, den Zins für Wertpapierpensionsgeschäfte, von 3,0 auf 3,3 Prozent erhöht. Damit ist klar, daß wir eine Trendwende am Kapitalmarkt haben und jetzt genau das eintritt, was letzte Woche bereits von der Opposition behauptet wurde. Sie haben jetzt die Situation, daß sich die stark kurzfristige Finanzierung des Erblastentilgungsfonds nachteilig auf die Tilgung auswirken kann.
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Die durchschnittliche Restlaufzeit der Schuldscheindarlehen im Erblastentilgungsfonds liegt nach Auskunft der Bundesschuldenverwaltung bei einem Jahr und acht Monaten. Was das heißt, ist klar. Jede Zinserhöhung innerhalb von 20 Monaten schlägt sofort auf den zu bedienenden Zinsaufwand durch. Damit haben Sie einen Teil der durch die Tilgungsaussetzung freigesetzten Mittel bereits vervespert. Das ist eine Tatsache!
Außerdem konnten Sie schon im Bundesbankbericht vom März dieses Jahres nachlesen, daß durch die stark kurzfristige Finanzierung beim ELF und beim Fonds Deutsche Einheit die Gefahr besteht, daß Zinserhöhungen sofort auf die Refinanzierung für diese großen Sondervermögen des Bundes durchschlagen. Das ist ein Pferdefuß Ihrer Planung, das wird Ihnen noch sehr zu schaffen machen.
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Daß die F.D.P. - koalitionär gesprochen - hier für ihre Wählerklientel eine Senkung durchgesetzt hat und die Union - jedenfalls die CDU - diese Senkung nur zähneknirschend mitgetragen hat, sehen Sie schon daran, daß wir heute dieses Restantengesetz hier verabschieden, ohne zu wissen, wie das Gesetz zum Erblastentilgungsfonds technisch überhaupt verändert wird. So wissen wir noch nicht, ob Sie die Tilgungsaussetzung nur für 1998 vorhaben oder - was der Bundesfinanzminister gestern im Haushaltsausschuß offenließ - ob Sie nicht bereits in diesem
Gesetzgebungsverfahren die Tilgungsaussetzung auch für 1999 anstreben. Das ist eine äußerst unsolide und unseriöse Geldschöpfung, die auch von der Union mitgetragen wird, von den gleichen Abgeordneten, die im Mai die „Aktion Goldschatz"
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des Bundesfinanzministers hart kritisiert haben. Sie tragen jetzt das gleiche Verfahren mit.
Im nächsten Jahr entsteht durch die Neubewertung der Devisenreserven und der Goldreserve ein Bundesbankmehrgewinn. Dieser kann nun durch die reduzierte Zuführung in den Erblastentilgungsfonds indirekt für die Entlastung des Bundeshaushalts genutzt werden.
Damit macht man genau das, was Peffekoven und andere Sachverständige seinerzeit kritisiert haben: Man schmeißt die Notenbankpresse an, um Erblasten zu tilgen. Das ist die Bankrotterklärung einer konservativ-liberalen Politik, die sich immer rühmt, wirtschaftspolitische Kompetenz zu besitzen.
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- Kollege Weng, von Sprechblasen sollten die reden, die immer versprechen, daß in schwieriger Finanzsituation Wohltaten verteilt werden können, und die gleichzeitig im Haushaltsausschuß der Opposition immer vorwerfen, daß sie keine Ausgabensenkungsanträge vorlegt. Wo ist da, bitte schön, die Glaubwürdigkeit?
Von der Opposition gibt es eine Reihe von Vorschlägen. Letztes Jahr haben Sie, die Koalition, beispielsweise die Pensionskürzungen für Beamte und die Weihnachtsgeldkürzung für Beamte des öffentlichen Dienstes in den oberen Gehaltsgruppen abgelehnt. Heute liegt ein solcher Vorschlag bei Ihnen in der Schublade für ein weiteres Konsolidierungsprogramm. Von Ihnen brauchen wir Grüne uns jedenfalls nicht vorhalten zu lassen, daß wir keine Einsparvorschläge in die Haushaltsdebatten des Plenums einbringen. Da ist unsere Glaubwürdigkeit an Hand der Protokolle des Deutschen Bundestages durchaus nachzuweisen. Vor zwei Wochen haben Sie die Opposition mit großem Gedöns für die Blockade der Steuerpolitik verantwortlich gemacht.
({4})
Wenn Sie den Grundsatz, Senkung der Nominaltarife bei Gegenfinanzierung durch Schließen aller Schlupflöcher, aufkommensneutral vertreten hätten, hätte zumindest die grüne Fraktion im Vermittlungsausschuß einem solchen Ergebnis zugestimmt.
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Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Sie haben ja gesehen, daß sich unsere Fraktion bewegt hat, als der Fraktionsvorsitzende der Union zur Senkung der Lohnzusatzkosten eine Mehrwertsteuererhöhung vorgeschlagen hat. Wir hätten schon allein deshalb mitgemacht, um deutlich zu machen, daß wir in Deutschland in einer gesellschaftspolitischen Situation sind, in der es nicht angeht, daß sich Parteien eineinhalb Jahre vor einer Wahl nur machtpolitisch positionieren und nicht mehr das Gemeinwohl im Auge haben.
({6})
- Kollege Thiele, der entscheidende Schwachpunkt Ihrer Argumentation liegt doch in folgendem: Vor zwei Wochen wollten Sie noch 30 Milliarden DM Nettoentlastung. Jetzt, bei der Senkung des Soli mußte die F.D.P. schlucken, daß formal, auf dem Papier, ein Ausgleich geschaffen wird, dessen Fragwürdigkeit ich bereits in meinen Eingangsbemerkungen unterstrichen habe. Hier wird auf Umwegen, über die Bundesbank, eine Geldschöpfung betrieben und dadurch vordergründig eine weitere Schuldaufnahme des Staates verhindert.
({7})
- Kollege Michelbach, der Ansatz, Senkung der Nominaltarife bei Gegenfinanzierung durch Schließen von Steuerschlupflöchern, ist ein richtiger Ansatz. Daran deutele ich nicht herum. Aber eine Nettoentlastung von 30 Milliarden DM zu versprechen, obwohl die Koalition bei der Senkung des Solidaritätszuschlages Schwierigkeiten hat, eine komplette Gegenfinanzierung auf den Tisch zu legen, zeigt doch ganz deutlich, daß die Finanzpolitiker unter Ihnen froh sind, daß diese Steuerreform nicht zu finanzieren ist;
({8})
denn für den Fall, daß diese Regierung weiter im Amt bleibt, würde diese „Entlastung" wie ein Bumerang auf Sie zurückfallen. Diese Politik klassifiziere ich mit dem Spruch: Nach uns die Sintflut! - Das ist den Problemen unserer Gesellschaft nicht angemessen.
({9})
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne mit zwei Zitaten beginnen. Das erste ist über Oskar Lafontaine, das zweite ist von Oskar Lafontaine.
({0})
Das erste Zitat über Oskar Lafontaine ist aus der „Woche" von heute. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß dies die Zeitschrift ist, für die in großen Anzeigen Herr Schröder und Herr Fischer werben.
Sie wird sicherlich nicht verdächtigt, eine größere Nähe zur freidemokratischen Politik zu haben.
({1})
Dort heißt es:
Ach ja, da sind sie wieder, die Ladenhüter aus der Mottenkiste der real existierenden Sozialdemokraten. Schön muffig, ungeheuer populistisch - und bar jeder ökonomischen Logik.
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Das zweite Zitat ist von Oskar Lafontaine; auch das finde ich bemerkenswert. Es ist aus der „Saarbrücker Zeitung" vom 1. August 1997. Dort hat er wörtlich gesagt:
Die Senkung des Solidaritätszuschlages ist die Nagelprobe auf die Glaubwürdigkeit der Koalition.
Diese Nagelprobe hat diese Koalition so zügig bestanden, daß Sie davon überrascht sind. Das ärgert Sie. Dies ist der eigentliche Grund, warum Sie sich hier so aufregen.
({3})
Nachdem Sie blockiert haben, was Sie nur blockieren konnten, zeigen wir als Koalition, daß wir handlungsfähig sind, daß wir uns einigen können, daß wir auch bei schwierigen Fragen zu einem guten Ergebnis kommen können.
({4})
Die Senkung des Solidaritätszuschlages ist der dritte Steuersenkungsschritt. Nach Abschaffung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer gibt es hier eine weitere steuerliche Entlastung, weil wir die Auffassung von vielen Politikern anderer Länder teilen, daß Steuersenkungspolitik das beste Beschäftigungsprogramm und die sozialste Politik die Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Lande ist.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, sicher.
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Kollege Westerwelle, nachdem Sie uns gerade wieder an Hand der drei Beispiele eröffnet haben, wie toll Sie in den letzten Jahren die Steuern gesenkt haben, würde ich von Ihnen ganz gern einmal erfahren - das könnten Sie der Vollständigkeit halber vielleicht mal mit auflisten -, welche Steuern in den letzten Jahren mit der F.D.P. erhöht wurden. Das sind nämlich etliche mehr.
({0})
Würden Sie bitte stehenbleiben, weniger wegen der Höflichkeit, mehr wegen der Redezeit; denn dann läuft die Uhr nicht weiter.
({0})
Frau Kollegin, in einem Punkt stimme ich mit Ihnen völlig überein: Ich glaube, daß wir - davon werden Sie sich nicht freizeichnen können; keine Partei hier in diesem Hause kann sich davon freizeichnen - in den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung zugelassen haben, die auch von der Gesellschaft begünstigt wurde, nämlich immer mehr Aufgaben beim Staat anzusiedeln, was zwangsläufig zu neuen Staatsausgaben geführt hat.
({1})
Die Frage lautet nicht, ob die Parteien - da befindet sich keine Partei im Stadium der Unschuld - am Aufblähen des öffentlichen Sektors in den vergangenen Jahren Schuld tragen.
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Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, jetzt einen Politikwechsel einzuleiten, der den fetten Staat auf Diät setzt, da es sonst keinen schlanken Staat gibt, der mehr Dynamik in der Wirtschaft erreicht, indem diese von Bürokratie, von Steuern und auch von Lohnzusatzkosten stärker befreit wird, als das bisher der Fall war.
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Ich möchte Ihnen auf Ihre Frage noch etwas anderes antworten. In einem Punkt, so glaube ich, sollten wir die Dinge in einen geschichtlichen Zusammenhang stellen.
({4})
- Ich antworte Ihnen noch.
({5})
Frau Kollegin, wenn Sie sich in die Gefahr einer Zwischenfrage begeben, müssen Sie damit rechnen, daß ich dies ausnutze.
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Wir haben heute eine Diskussion über die deutsche Einheit geführt.
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Ich möchte eines dazu sagen: Für mich ist nach wie vor jede Mark, die in die deutsche Einheit investiert wird, eine gut investierte Mark.
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In meinen Augen ist es dann aber auch unbedingt notwendig, darauf aufmerksam zu machen, daß ein sehr großer Teil der Staatsverschuldung, die wir heute haben, durch die Sonderaufgabe der deutschen Einheit verursacht wurde, die ich will, zu der ich mich bekenne, für die wir Freidemokraten, Christ- und Christsozialdemokraten immer eingetreten sind. Nur Sie wollten damals die Zwei-StaatenTheorie, die Teilung Deutschlands verfestigen.
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Im übrigen ist die Argumentation der Opposition bemerkenswert. Erst heißt es, es sei zu teuer, die Steuern zu senken; jetzt sagen Sie, die Steuersenkung sei im Grunde genommen zu gering.
Herr Kollege gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Augenblick! Ich möchte erst den Gedanken zu Ende führen. - Wir als Freie Demokraten sagen: Wir wären sehr viel stärker daran interessiert gewesen, daß es zu einer wirklichen großen Steuerreform kommt. Wir wären für eine Reform der Tarife mit entsprechenden Steuersenkungsschritten gewesen. Aber wenn Sie im Bundesrat eine große Steuerreform verhindern, dann können Sie doch nicht allen Ernstes beklagen wollen, daß wir das an Steuersenkungspolitik durchsetzen, was wir ohne Sie auch durchsetzen können.
({0})
Wir handeln jetzt gegen Ihre Blockade, und das ärgert Sie.
Bitte.
Herr Kollege Westerwelle, gebe ich die Logik der F.D.P. richtig wieder, wenn ich folgendes anführe? Sie meinen, Steuersenkungen für Unternehmen führen zu Investitionsbereitschaft, zu mehr Investitionen, mehr Investitionen führen zu mehr Beschäftigung. Das ist doch, kurz gefaßt, Ihre Logik. Wenn dem nun aber so ist: Wie können Sie erklären - ich komme jetzt auf die Debatte über die deutsche Einheit und die Lage in Ostdeutschland zurück, die wir heute früh geführt haben -, daß dort trotz üppigster Steuerentlastungen für investierende Unternehmen - Sonderabschreibungen, Investitionszuschüsse usw. - eine Beschäftigungswirkung nicht erkennbar ist? Glauben Sie, daß diese 2 Prozent SoliAbsenkung nun die Initialzündung sein können? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Frau Kollegin, ich glaube, wir sollten uns einmal ansehen, was andere Länder in Europa und auch außerhalb Europas gemacht haben. Der sozialdemokratische Premier der Niederlande sagt dazu: Die Steuersenkungspolitik ist unsere Formel für mehr Beschäftigung. - Schauen Sie sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt an. Wir haben in Großbritannien mit Tony Blair einen sozialdemokratischen Premier, der die Politik der Steuersenkungen, vor allem auch der Unternehmenssteuersenkungen, fortsetzt. Die Engländer haben in diesem Bereich schon eine Menge getan. Wir haben erlebt, daß es auf Grund einer marktwirtschaftlichen Erneuerung, verbunden mit einer Steuersenkungspolitik, in Neuseeland eine Halbierung der Arbeitslosigkeit gab. Es gab eine Halbierung der Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten. Wir sehen das in Österreich, in den Niederlanden und in all unseren Nachbarländern, wo die Menschen und die Politiker aufgewacht sind. Sie wissen: Der internationale Wettbewerb findet auf alle Fälle statt. Wir sagen: Es ist besser, wenn er mit uns Deutschen stattfindet als ohne uns - das ist meines Erachtens besser für die Beschäftigung und die Arbeitsplätze bei uns.
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Es wäre besser gewesen, wenn es zu einer großen Steuerreform gekommen wäre. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben sie verhindert. Jetzt reduzieren wir den Solidaritätszuschlag, damit es nach der Abschaffung der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer ein drittes Steuersenkungssignal gibt. Denn wir sind der Meinung: Steuersenkungspolitik ermöglicht Investitionen und schafft neue Arbeitsplätze. Das ist der Kern unserer Politik, um den es hier geht.
Dabei sollte man die Zahlen nicht nur buchhalterisch diskutieren. Vielmehr müssen wir endlich begreifen: Es geht auch darum, ein entsprechendes psychologisches Signal für Investoren zu setzen. Investitionen sind ein Vertrauensvorschuß in den Standort Deutschland; wir müssen mehr Vertrauen im In- und Ausland in unseren Standort gewinnen - auch durch Steuersenkungspolitik -, wenn die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden soll.
({1})
Ich will ausdrücklich sagen, daß die Koalition geschlossen der Auffassung ist - das hat sie nicht nur gesagt, sondern das hat sie in diesem Hause auch so beschlossen -, daß der Abbau des Solidaritätszuschlages nichts mit einem Abbau von Solidarität mit den neuen Ländern zu tun hat.
({2})
Wir sagen ganz klar: Der Aufbau Ost ist eine entscheidende, ja sogar die entscheidende Aufgabe für die deutsche Innenpolitik, gerade wenn es um das Zusammenwachsen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen geht. Aber es muß hinzuDr. Guido Westerwelle
gefügt werden, daß auch die Mehrheit der Ostdeutschen eine Reduzierung des Solidaritätszuschlages wünscht, weil sie weiß, daß der Solidaritätszuschlag zwar das Wort „Solidarität" im Namen führt, aber in Wahrheit eine ganz normale Sondersteuer ist, die in den allgemeinen Haushalt fließt. Wir wissen, daß gerade der Solidaritätszuschlag auch die Menschen in den neuen Ländern drückt und ihnen Dynamik nimmt und daß sie so auf Grund der hohen Steuer- und Abgabenlast daran gehindert werden, zu investieren, sich wirklich einzubringen und Arbeitsplätze zu schaffen. Denn ein Drittel des Aufkommens des Solidaritätszuschlages wird von Betrieben erwirtschaftet; das wird immer wieder vergessen.
({3})
Wir haben uns die Rede des Bundesfinanzministers, als er hier zu Fragen des Erblastentilungsfonds gesprochen hat, sehr genau angehört. Aber wenn das Ziel, den Erblastentilgungsfonds - sprich: die Schulden aus der deutschen Teilung - innerhalb einer Generation abzubauen, von der gesamten Politik weiter formuliert wird, dann sollten wir das in meinen Augen nicht in Frage stellen.
({4})
Vielmehr sollten wir uns gemeinsam auf dieses Ziel verständigen. Bei der Gegenfinanzierung geht es um nichts anderes, als daß die Sondertilgung auf Grund der Entwicklung niedrigerer Zinsen jetzt an den Steuerzahler in Form von Steuersenkungspolitik zurückgegeben wird.
({5})
Sie nennen das „Steuergeschenke". Ich finde, schon das Wort ist entlarvend.
({6})
Wir haben keine Steuergelder zu verschenken. Den Menschen, die die Steuergelder erwirtschaftet haben, wollen wir etwas mehr Anerkennung für ihre Leistung lassen.
({7})
Sie sagen, das sei im übrigen eine Politik, die den Armen und denen, die wenig Steuern zahlen, nicht helfen würde. Das ist schon einmal falsch. Im übrigen ist es schon abenteuerlich, zu sagen, Steuersenkungspolitik sei deswegen unsozial, weil diejenigen, die bisher keine Steuern gezahlt haben, davon nicht profitieren. Das ist ein intellektueller Kunstgriff, den man erst einmal hinbekommen muß.
({8})
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß eine Familie mit zwei Kindern künftig erst ab 64 000 DM zu versteuerndes Einkommen überhaupt Solidaritätszuschlag zahlen wird. Dieser Wert lag bisher bei 60 000 DM. Insgesamt wird fast eine Million Menschen in den unteren Einkommensklassen überhaupt keinen Solidaritätszuschlag zahlen. Das ist für Sie wenig Geld. Aber viele Menschen in diesem Lande
müssen mit der kleinen Mark rechnen. Deshalb sollten auch Sie sich das einmal genauer ansehen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nachdrücklich der Auffassung: Die wichtigste Politik für junge Menschen in diesem Lande ist jetzt jene, die durch Steuersenkungen, durch die Entlastungen bei den Lohnzusatzkosten, durch den Abbau der bürokratischen Regelungsdichte dafür sorgt, daß wieder investiert wird und Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen. Die jungen Menschen heute haben vor allen Dingen ein Interesse: daß sie einen gescheiten Ausbildungsplatz und einen gescheiten Arbeitsplatz bekommen.
({10})
Deswegen ist diese Politik der Steuersenkung zuallererst im Interesse der jungen Generation, die Arbeit sucht.
({11})
Ich will ausdrücklich sagen: Das ist nicht der Sieg einer Partei über eine andere. Das ist der Sieg der ökonomischen Vernunft.
({12})
Das ist nicht ein Entgegenkommen einer Partei gegenüber einer anderen, sondern ein Zugehen auf die Steuerzahler. Alle in diesem Lande sitzen in einem Boot. Aber einige müssen auch rudern. Die Leistungskräftigen, die Steuern erwirtschaften, müssen entlastet werden, wenn sie neu investieren sollen, wenn wir neue Dynamik in der Wirtschaft erreichen wollen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Gregor Gysi, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich höre Ihnen ja ganz gerne zu, Herr Westerwelle. Das Problem ist nur, daß es für die Leute draußen wirklich eine Zumutung ist.
({0})
Das hängt mit der Art von Logik zusammen, die Sie hier offenbaren.
Zunächst einmal muß ich Sie korrigieren: Alleinstehende zahlen heute etwa ab 26 000 DM Jahreseinkommen Solidaritätszuschlag. Die Zahl, die Sie genannt haben, gilt für Verheiratete, also praktisch für beide. Das ist schon ein beachtlicher Unterschied.
Wenn man den Solidaritätszuschlag schon reformieren will, dann wäre der vernünftigste Vorschlag gewesen: Der Solidaritätszuschlag wird erst ab einem Jahreseinkommen von 60 000 DM erhoben; dafür erhöhen wir ihn um einen halben oder einen ganzen Prozentpunkt. Das können sich nämlich die, die so viel verdienen, auch leisten. Das wäre ein Beitrag zu
mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft und eine sinnvolle Reform.
({1}) - Lassen Sie es einfach bleiben!
Ich sage Ihnen zum Solidaritätszuschlag noch eines: Sie befinden sich doch in mehreren Fallen, die Sie alle selbst verursacht haben.
Wer hat denn den falschen Namen erfunden? Den haben doch Sie erfunden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Der Kanzler ist in den Wahlkampf 1990 gegangen, hat „blühende Landschaften" im Osten versprochen und den Westdeutschen gesagt, es werde sie nichts kosten. Dann hat er im ersten Anlauf versucht, die Kosten in die Versicherungssysteme zu drücken, damit es keiner merkt bzw. die Folgen erst später wirksam werden. So kommen so krasse Fehlentscheidungen zustande - nur wegen eines falschen Versprechens im Wahlkampf. Man muß sich mal überlegen, was das für Auswirkungen hat.
Als es dann gar nicht mehr ging, haben Sie sich im zweiten Anlauf zu einer Zusatzsteuer auf die Einkommensteuer entschieden, die Sie, um das moralisch besonders hochwertig erscheinen zu lassen, Solidaritätszuschlag genannt haben, obwohl sie natürlich, wie Sie heute - heute! - richtig sagen, einfach nur eine Zusatzsteuer war. Sie mag mit den Kosten der Einheit zusammengehangen haben; es gab aber keine Zweckbindung. Es war kein Zuschlag, den man speziell für den Aufbau in den neuen Bundesländern gezahlt hat. Sie haben ihn aus moralischen Gründen aber so genannt. Jetzt kommen Sie aus dieser Falle natürlich nicht mehr heraus: Wenn Sie den Solidaritätszuschlag kürzen, glaubt jeder, Sie wollen die Leistungen für die neuen Bundesländer kürzen. Das ist nicht nur eine Frage des Glaubens, sondern das ist eine Tatsache.
Ich erinnere Sie daran: Die Aufgaben in den neuen Bundesländern sind noch nicht gelöst, doch werden 250 Millionen DM für verschiedene Programme in den neuen Bundesländern -150 Millionen DM für die Gemeinschaftsaufgabe, 50 Millionen DM für Forschung und Entwicklung, 50 Millionen DM für die Wismuth - mit der Begründung von Haushaltsengpässen nicht bereitgestellt. Im gleichen Atemzug wollen Sie den Solidaritätszuschlag um 2 Prozentpunkte senken und sagen, es werde dennoch nicht weniger in den Osten fließen. Das ist einfach unwahr.
({2})
Hinzu kommt, daß Sie bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern gekürzt haben. All das wird mit Geldmangel begründet. Doch Sie organisieren weiteren Geldmangel. Es geht doch auch darum, daß ein Staat die Aufgabe zum sozialen, kulturellen und ökologischen Ausgleich hat. Aber Sie sorgen dafür, daß der Staat immer weniger in der Lage ist, dieser Aufgabe nachzukommen.
({3})
Am Ende einer solchen Politik wird leider nicht nur Politikverdrossenheit stehen - sie ist nicht weiter dramatisch; damit kann man leben -, sondern auch Demokratieverdrossenheit. Das ist die eigentliche Gefahr, die von dieser Art von Politik ausgeht.
({4})
Ich will noch auf etwas anderes hinweisen: den Erblastentilgungsfonds. Sie können es doch nicht leugnen: Wenn Sie ihn strecken, heißt das, es werden länger Zinsen gezahlt, heißt das, das Ganze wird sehr viel teurer. Der Zinssatz kann sich auch noch ändern; den können Sie gar nicht allein bestimmen. Schon bürden wir die Kosten wieder der nächsten Generation auf.
({5})
Aber wenn der Zinssatz nun so günstig ist, warum sind Sie dann nicht längst auf die Idee gekommen, den Erblastentilgungsfonds für andere Zwecke zu strecken, für die wir Geld dringend benötigt hätten? Dann hätten wir heute vielleicht keine Ausbildungsdemo gehabt, weil wir die 150 000 fehlenden Ausbildungsplätze hätten finanzieren können.
({6})
Nur wegen des Versprechens der F.D.P. an ihre Klientel, den Solizuschlag zu senken, muß hier von CDU und CSU ein solcher Spagat geleistet werden. Herr Bundesminister Waigel, Sie können es doch gar nicht bestreiten: Sie waren im Grunde genommen doch gegen die Senkung des Solizuschlags. Das ist ja auch vernünftig.
({7})
Sie haben sich auf die Senkung aus reiner Koalitionsdisziplin eingelassen. Ich finde es verheerend, daß wegen einer Fünf-Prozent-Klientelpartei der gesamte Bundestag eine solche Fehlentscheidung treffen wird, mit der wir es hier heute zu tun haben. Es ist wirklich unerträglich.
({8}) Das geht gegen das Gemeinwohl.
Ich sage Ihnen noch ein Beispiel. 22,5 Milliarden DM Einnahmen hatten wir aus dem Verkauf von Volkseigentum durch die Treuhandanstalt. Nach Art. 21 des Einigungsvertrages hätte die Hälfte davon in die neuen Bundesländer fließen müssen. Dort ist das Geld aber nie angekommen; es ist nie überwiesen worden. Es ist einfach in den Haushalt eingestellt worden. Das ist eine glatte Vertragsverletzung.
Jetzt sagt das Bundesfinanzministerium: Die Treuhandanstalt hat viel mehr Verluste gemacht als erwartet; insofern mußten wir diesen Betrag nicht überweisen. Das heißt, Sie machen eine Art Aufrechnung. Die Aufrechnung ist im Einigungsvertrag aber nicht vorgesehen und schon deshalb unzulässig. Aber wenn man sie schon macht, dann hätten Sie diesen Betrag in den Erblastentilgungsfonds einstellen müssen und nicht für allgemeine Zwecke ausgeben dürfen. Dann hätte diese Frage hier gar nicht bestanden.
({9})
Die Parlamentarische Staatssekretärin in Ihrem Ministerium, Frau Karwatzki, hat im Bundesrat am
26. September 1997 - da können Sie nicht sagen, das sei ewig her - folgendes erklärt:
Zwar ist es für eine Prognose noch zu früh. Es besteht aber ein gewisses Risiko weiterer Steuermindereinnahmen. Deshalb müssen wir die Steuerschätzung Mitte November abwarten, um den Nachtrag 1997 und den Haushalt 1998 bei den Einnahmen auf eine sichere Schätzgrundlage stellen zu können.
So das wörtliche Zitat Ihrer Parlamentarischen Staatssekretärin.
Dann senken Sie vor dieser Steuerschätzung, obwohl Sie schon ahnen, daß die Einnahmen aus der Einkommensteuer noch nie so gering ausfallen werden wie im zweiten Halbjahr 1997, den Solidaritätszuschlag - ohne jede solide Grundlage. Das ist einfach abenteuerlich. Wenn eine anders geführte Regierung eine solche Politik machen würde, würden Sie ihr das mit Recht als völlig populistisch und indiskutabel vorhalten; und selbst machen Sie nichts anderes. Es ist verheerend, daß wir hier nur noch Wahlkampf erleben und keine vernünftige und solide Politik mehr.
({10})
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Spiller, Sie haben in die Debatte eingebracht, daß sich der Erblastentilgungsfonds erhöht hat. Das ist wahr, weil wir nämlich Dinge zusätzlich übernommen haben, die wir nicht hätten übernehmen müssen. Hier zu fordern, die kommunalen Altschulden zu übernehmen - was Sie und auch viele aus unseren Reihen gefordert haben -, und uns dann den Vorwurf der Erhöhung zu machen, ist schon eine bodenlose Doppelzüngigkeit, die ich Ihnen nicht durchgehen lasse.
({0})
Und dann die Krokodilstränen: Das hätte man nicht tun dürfen.
Gestern gab es eine interessante Veranstaltung im Haushaltsausschuß. Es ist überhaupt interessant: Vor einer Woche waren Sie ziemlich sprachlos. Jetzt haben Sie sich langsam wieder zum Lärmen durchgerungen. Das ist Ihr Recht, beeindruckt uns aber nicht.
({1})
Im Haushaltsausschuß hat der Kollege Diller eingeräumt: Wenn Sie schon dieses Instrument benutzen, hätten Sie es für einen anderen Zweck benutzen müssen.
Das ist interessant: Zunächst ist es ein Taschenspielertrick, wie Sie jetzt noch einmal gesagt haben. Aber wenn das Geld für einen anderen Zweck eingesetzt worden wäre, wäre es legitim gewesen. Das zeigt die Verlogenheit Ihrer Argumentation.
({2})
Herr Kollege Metzger, es lohnt sich, sich stärker mit Ihnen auseinanderzusetzen als mit den Sprechern der SPD. Ich mache den Grünen ungern ein Kompliment, aber ich nehme Sie hier ausdrücklich aus. Ob es Ihnen guttut, weiß ich nicht. Aber es ist nun einmal so.
In einem aber haben Sie unrecht: Erstens ist der Zinsschritt der Deutschen Bundesbank heute keine Trendwende der Zinspolitik. Das hat die Bundesbank expressis verbis selbst erklärt.
({3})
- Natürlich, lesen Sie die Presseerklärung durch.
Zweitens sind wir davon überzeugt, daß es keine Auswirkungen auf die Kapitalmarktzinsen haben wird, denn die übrigen Leitzinsen sind unverändert geblieben. Auch das ist ein bewußtes Signal.
Drittens ist - was die Verbindlichkeiten des Erblastentilgungsfonds anbelangt - nur ein geringer Prozentsatz unterjährig, so daß der Zinsschritt überhaupt oder fast keine Auswirkungen auf Zinslast und Tilgungsverteilung hat.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das zur Kenntnis nähmen. Wir werden Sie gern noch mit weiteren Daten versorgen, damit nicht mit dem falschen Argument, mit dem Sie schon vor einer Woche gearbeitet haben und das Sie heute fälschlicherweise wiederholt haben, ein falscher Eindruck in der Offentlichkeit entsteht.
({4})
Auch müssen Sie Ihren obligaten Tribut an Ihren Vorsitzer von wegen Goldschatz ableisten.
({5})
Es bleibt dabei: Die Bundesbank wird ihre Bewertung im Hinblick auf die Entwicklung hin auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion so gestalten, daß durch eine Neubewertung der Devisenreserven im Jahre 1998 ein zusätzlicher Zufluß zum Erblastentilgungsfonds stattfindet. Alle übrigen Bundesbankgewinne bleiben von unserer Entscheidung unberührt, so daß über das hinaus, was der Bundeshaushalt liefert, in den nächsten Jahren ein ganz beträchtlicher Anteil auch aus der Bundesbank zu erwarten ist. Wir haben nie die Neubewertung, die ohnehin anfällt, für den Haushalt, sondern immer zur Tilgung und zur Bedienung des Erblastentilgungsfonds vorgesehen. Dies noch einmal im Grunde nur für das Protokoll.
({6})
Vor einer Woche habe ich das Konzept der Koalitionsfraktionen zur Senkung des Solidaritätszuschlages - was übrigens in der Presse eine bemerkenswert positive Aufnahme gefunden hat - vorgestellt.
({7})
- Nein, nein, wir sind damit sehr zufrieden. Es hat eine sehr positive Aufnahme gefunden.
({8})
Das wird auch künftig der Fall sein.
Es ärgert Sie nur, daß uns das zu dem Zeitpunkt eingefallen ist,
({9})
daß wir es zu dem Zeitpunkt verwandt haben. Das hat Sie unvorbereitet getroffen.
({10})
Insofern kann ich Ihre Aufregung verstehen.
({11}) Uns trifft das nicht.
Heute, bereits eine Woche nach der Ankündigung, beraten wir in zweiter und dritter Lesung endgültig darüber. Das zeigt Handlungsfähigkeit, Entschlußfähigkeit
({12})
und die Möglichkeit des Parlaments, schnell wichtige Dinge zu regeln. Dafür bin ich dankbar.
({13})
Nun ist das die zweitbeste Lösung. Die beste Lösung wäre die große Steuerreform gewesen.
({14})
An der halten wir fest, und darüber wird ein Großteil der Auseinandersetzung in diesem und im nächsten Jahr erfolgen. Sie werden den Bürgern, Sie werden den Investoren, Sie werden den Märkten erklären müssen, warum Sie sie haben scheitern lassen. Es fällt Ihnen angesichts Ihrer früheren Ankündigungen zunehmend schwerer, das den Menschen zu erklären.
({15})
Die Entscheidung über die Senkung des Solidaritätszuschlages ist ein klares Signal für die Märkte und die Investoren im In- und Ausland. In Deutschland wird die wachstums- und investitionsfreundliche Steuerpolitik konsequent fortgesetzt. Wir haben überall gehandelt, wo es möglich war. Wir haben Kompromisse erstritten, wo sie denkbar waren. Sie haben sich jahrelang gegen die Abschaffung der Vermögensteuer gewandt. Sie ist Gott sei Dank weg.
({16})
Sie haben sich jahrelang gegen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gesträubt. Am Schluß konnten Sie der ökonomischen Vernunft nicht mehr widerstehen.
({17})
- Sie müssen sich einmal anhören, was Sie zu dem Thema in den letzten fünf, sechs Jahren gesagt haben.
({18})
Jetzt haben Sie zugestimmt. Das heißt: Ihre Versprechungen und Ihre Ankündigungen in Sachen Steuerpolitik haben eine immer kürzere Halbwertszeit.
({19})
Sie werden auch bei der großen Steuerreform einbrechen, weil Sie sich dieser Steuerreform gar nicht verschließen können.
({20})
Es ist aber ein starkes Stück, wenn manche Unterhändler von Ihnen einem unter vier Augen sagen, wenn sie an die Macht kämen, dann würden sie nach 1998 sehr schnell im Grunde das umsetzen, was Sie vorgeschlagen haben.
({21})
Das ist die Wirklichkeit und die Realität, die Sie nicht eingestehen wollen.
({22})
Meine Damen und Herren, die gleichzeitige Entscheidung, der Senkung des Solidaritätszuschlages keine steuerliche Gegenfinanzierung gegenüberzustellen, ist volkswirtschaftlich das Gebot der Stunde. Die Senkung bringt den Steuerzahlern eine Nettoentlastung in Höhe von rund 7 Milliarden DM im Jahr 1998. Unsere Entscheidung bedeutet auch - darauf hat der Kollege Westerwelle hingewiesen -: Im kommenden Jahr werden nicht nur alle weniger zahlen, es werden auch viele überhaupt keinen Zuschlag zur Einkommensteuer zahlen müssen.
({23})
- Hören Sie doch einmal einen Moment zu! - Denn der Beginn der Belastung mit dem Solidaritätszuschlag steigt bei einem Ehepaar mit zwei Kindern von rund 60 000 DM in 1997 auf über 64 000 DM im Jahr 1998 an. Die Zahl der Steuerpflichtigen, die ab Januar keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen, steigt um 0,9 auf 12,2 Millionen an. Ich glaube, daß das ganz beachtlich ist und daß wir damit sehr bewußt eine soziale Komponente eingeführt haben. Eine alleinerziehende Mutter zahlt ab 1998 bis zu einem Einkommen von knapp 38 000 DM überhaupt keinen Zuschlag. Eine Alleinerziehende mit einem Einkommen von 55 000 DM zahlt dann statt 513 DM nur noch 373 DM Solidaritätszuschlag - immerhin eine Entlastung um 140 DM.
Der Abbau des Solidaritätszuschlages ist der richtige Weg, Investitionen zu stärken und zusätzlich den Konsum anzukurbeln. Damit geben wir wichtige Impulse für die Zunahme der Beschäftigung. Dieses Konzept hat Hand und Fuß.
Nur haben wir uns zu fragen: Worin besteht das Konzept des SPD-Vorsitzenden? Wer zunächst die Vermittlung in der Steuerpolitik scheitern läßt und dann die Gewerkschaften dazu auffordert, den Pfad volkswirtschaftlich angemessener Lohnabschlüsse zu verlassen, der legt die Lunte an den Standort Deutschland. Das hat es wirklich noch nie gegeben.
({24})
Daß verantwortliche Gewerkschaftsführer darauf verweisen, wie wichtig beschäftigungsorientierte Tarifabschlüsse sind und ihnen der Vorsitzende der SPD in den Rücken fällt und dazu auffordert, mehr zu verlangen als volkswirtschaftlich und im Interesse der Arbeitsplätze im Moment möglich ist, ist eine bodenlose Demagogie, die hier Platz greift und die wir nicht ungestraft durchgehen lassen werden.
({25})
Zum lohnpolitischen Vorstoß Oskar Lafontaines in Verbindung mit seinem sogenannten Kaufkraftkonzept schreibt die „Stuttgarter Zeitung" vom 7. Oktober 1997 - ich zitiere -:
Die Kaufkrafttheorie in der Vulgärform des Saar-Ökonomen ist nach den Erfahrungen der siebziger Jahre, vorsichtig gesagt, stark relativiert worden. Höhere Löhne schaffen Kaufkraft, kein Zweifel - aber sie schaffen keine Arbeitsplätze. Sie lasten als zusätzliche Kosten auf den Unternehmen, die folglich reagieren werden. Entweder sie schaffen es, die höheren Kosten in den Preisen weiterzugeben: Das Ergebnis ist Inflation. Oder sie läuten eine neue Rationalisierungsrunde ein: Das Ergebnis ist weniger Beschäftigung.
Hans Apel, der von Ihnen sicher geschätzte frühere Finanzminister, schreibt im aktuellen „Focus":
Und da kommt Oskar Lafontaine daher und fordert für unser Land höhere Lohnabschlüsse. Man kann es sich einfach machen und frei nach Herbert Wehner sagen, das sei mehr als Quatsch ... Westdeutschland verdient ein Drittel seines Sozialprodukts im Export. Wenn der durch eine expansive Lohnpolitik wegbricht, muß das verheerende Konsequenzen für den Arbeitsmarkt haben.
Soweit die Urteile Dritter über die ökonomische Kompetenz der SPD. Denken sie einmal über sich, Ihre Politik und Ihren Vorsitzenden nach, bevor Sie uns Vorwürfe in der Debatte machen!
({26})
Unser Konzept zum Ausgleich der Mindereinnahmen aus der Senkung des Solidaritätszuschlags enthält folgende drei Elemente: 700 Millionen DM waren im Haushaltsentwurf 1998 bereits eingeplant; der Verkauf von Forderungen des Bundes aus Liegenschaftsveräußerungen erbringt zusätzlich zirka 1,3 Milliarden DM; die Verringerung der Tilgung des Erblastentilgungsfonds beträgt 5 Milliarden DM.
Nun zu der Erblastentilgungsfondstilgung: Der Bundeshaushalt leistet Zins- und Tilgungszahlungen
an den Erblastentilgungsfonds in Höhe von 7,5 Prozent der vom ELF übernommenen Bruttoverpflichtungen. Das bedeutet im Jahre 1998 eine Annuität in Höhe von 26,4 Milliarden DM.
Wir haben seit einiger Zeit eine günstige Zinsentwicklung. Diese Entwicklung - das muß hier einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden - ist maßgeblich auf die klare stabilitätsorientierte Finanzpolitik des Bundes zurückzuführen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Früchte dieser Stabilitätspolitik zu ernten.
Diese günstige Zinsentwicklung hat dazu geführt, daß sich die Tilgung beim Erblastentilgungsfonds deutlich besser entwickelt hat als ursprünglich angenommen. Heute können wir für die Jahre 1995 bis 1998 eine Tilgung von etwa 40 Milliarden DM unterstellen. Ursprünglich waren wir für diesen Zeitraum von etwa der Hälfte ausgegangen.
Selbst wenn wir jetzt vorübergehend die Zuwendungen des Bundes zurückführen, wird der Tilgungsplan deutlich übererfüllt. Von einer Verlängerung der Tilgung zu Lasten künftiger Generationen kann daher überhaupt keine Rede sein.
Die Herabsetzung der Bundeszuführung an den Erblastentilgungsfonds ist nicht von der Zustimmung des Bundesrates abhängig. Eine ausdrückliche Zustimmungspflicht sieht das Grundgesetz nicht vor. Ungeschriebene Zustimmungserfordernisse gibt es nicht. Die Veränderung der Zuführung des Bundes an den Erblastentilgungsfonds berührt keine Länderinteressen und ist deshalb auch nicht zustimmungsbedürftig. Nicht jede Änderung eines Gesetzes, dem der Bundesrat zugestimmt hat, ist selbst zustimmungsbedürftig. Das Haushaltsgesetz bleibt wie in der Vergangenheit ein Gesetz, dem der Bundesrat zustimmen sollte, es aber nicht muß.
Auch der Verkauf von gestundeten Kaufpreisforderungen, die aus Grundstücksverkäufen an Gebietskörperschaften und Gesellschaften mit Beteiligung der öffentlichen Hand stammen, ist ein betriebswirtschaftlich einwandfreies und volkswirtschaftlich angemessenes Finanzierungsinstrument.
Wenn wir wie in den letzten Jahren noch nie zuvor als einzige Ebene unsere Grundstücke zum Teil zu 50 Prozent verbilligt abgeben, um damit den Kommunen und den Ländern entgegenzukommen, und dann das, was uns zusteht und nur gestundet wird, entsprechend kapitalisieren, dann ist das der normalste Weg, gegen den es überhaupt keine Kritik einzuwenden gibt.
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Mit der Durchführung der Transaktion wurde eine Investmentbank beauftragt. Sie wird ein Konzept für ein Bietverfahren erstellen und auf dieser Grundlage mit Investoren in Verhandlungen eintreten.
Wir gehen unseren Weg konsequent weiter. Mit dem Abbau des Solidaritätszuschlags und den Ausgleichsmaßnahmen schlagen wir eine finanzpolitische Brücke in die Zukunft. Unser Konzept bringt wichtige Impulse für die Konjunktur und den Arbeitsmarkt. Es ist ein weiterer Schritt hin zu einem investitions- und leistungsfreundlichen Steuersystem.
Ein so gestärkter Standort ist das größte Kapital Deutschlands im 21. Jahrhundert.
Ich danke Ihnen.
({28})
Das Wort hat der Kollege Karl Diller, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestern war Theo Waigel, der Bundesminister der Finanzen, im Haushaltsausschuß, um auf viele Fragen der Opposition zu antworten. Wir mußten feststellen: Auf gestellte Fragen hat er weitgehend nicht geantwortet und dafür um so ausführlicher Fragen beantwortet, die gar nicht gestellt waren.
({0})
Das gleiche Spiel wiederholt sich heute. Seine Rede ist ein einziges Werfen von Nebelkerzen und ein Ablenkungsmanöver.
Es bleibt bei folgenden Tatsachen:
Erstens. Ihre Operation Soli-Absenkung ist eine Operation von Steuersenkung auf Pump, die durch Buchhaltertricks nur notdürftig kaschiert ist.
({1})
Zweitens. Ihre Operation Soli-Absenkung ist ökonomisch unsinnig, weil sie keine neuen Arbeitsplätze schafft, und sozial ungerecht, weil sie Spitzenverdiener zusätzlich entlastet, aber den Normalverdienern nahezu nichts bringt. Schließlich ist sie drittens politisch und wirtschaftlich unsolidarisch mit den Menschen in den neuen Ländern.
({2})
Zu dem ersten Gedanken. Da sagte der Bundesfinanzminister vor einer Woche an dieser Stelle - ich zitiere ihn -:
Mit den Entscheidungen zum Solidaritätszuschlag entfernen wir uns keinen Millimeter vom Kurs der strikten Haushaltskonsolidierung.
Es ist unglaublich, was der Minister über seine Politik sagt. Das Gegenteil ist wahr; denn was Sie zur Gegenfinanzierung der Steuerausfälle für 1998 vorsehen, die Schuldentilgung beim Erblastentilgungsfonds in Höhe von inzwischen 5,1 Milliarden DM - wir haben Ihnen gestern vorgerechnet, daß 5 Milliarden DM gar nicht reichen ({3})
auszusetzen, erhöht im Ergebnis die Neuverschuldung des Bundes um ebendiese 5,1 Milliarden DM.
Im Kern handelt es sich also um eine Steuersenkung auf Pump; denn finanzwirtschaftlich ist es völlig belanglos, ob diese Neuverschuldung offen im Bundeshaushalt durch Erhöhung der Nettokreditaufnahme ausgewiesen wird oder ob sie durch einen Buchungstrick im Schattenhaushalt des Erblastentilgungsfonds versteckt ist. In jedem Fall ist der Schuldenberg des Bundes nach dieser Operation Ende des nächsten Jahres um 5,1 Milliarden DM höher als ohne diese Operation. Wir und die nachfolgende Generation werden wegen dieses Schrittes bis zu 250 Millionen DM jährlich mehr an Zinsen aufbringen müssen.
({4})
Wenn die Regierung Kohl - wie ein Entwicklungsland, das seine Schulden nicht mehr bezahlen kann - weitere 1,3 Milliarden DM an Forderungen aus Grundstücksverkäufen, die Sie, Herr Waigel, bereits zur Finanzierung Ihrer mittelfristigen Finanzplanung eingeplant haben, jetzt vorzieht und an Banken abtritt, wobei das alles einen Verlust für die öffentliche Hand bedeutet, nur um die Überlebenshilfe für die F.D.P. in den nächsten Wahlen zu organisieren, dann belastet die Regierung Kohl die Zukunftschancen unseres Landes, unserer Bürger und unserer Kinder in unerträglicher Weise.
({5})
Ihre Behauptung, Herr Waigel, diese Politik entspreche auch dem Generationenvertrag, müssen die Menschen in diesem Lande als eine üble Verhöhnung empfinden. Der Erblastentilgungsfonds nennt sich Sondervermögen, ist aber in Wirklichkeit ein einziger Schuldentopf von zur Zeit über 330 000 Millionen DM. Ausschließlich Schulden! Wir alle müßten doch froh sein, wenn wir von diesen Schulden dank der zur Zeit niedrigen Zinsen etwas schneller herunterkommen, als wir ursprünglich gedacht haben.
({6})
Diese Koalition hat bis vor kurzem den Bürgerinnen und Bürgern vorzutäuschen versucht, eine Steuerentlastung von 30 Milliarden DM im Zusammenhang mit der beabsichtigten Steuerreform, wobei allein beim Bundeshaushalt im Jahre 1999 22 Milliarden DM als Einnahmeausfall hängengeblieben wären, finanzieren zu können. Jetzt ist sie nicht einmal in der Lage, Steuersenkungen in einer Höhe von 7,5 Milliarden DM sauber zu finanzieren.
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Ihre Notoperationen zur Finanzierung betreffen übrigens ausschließlich das Jahr 1998. Für die Zeit danach lesen wir im Bericht des Finanzausschusses:
Für das Jahr 1999 und für den Finanzplan bis zum Jahre 2002 soll über die Finanzierung bei der Haushaltsgesetzgebung im nächsten Jahr entschieden werden.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist unglaublich. Die Koalition beschließt eine Soli-Absenkung, ohne zu wissen oder jetzt sagen zu wollen,
({9})
wie sie die ab 1999 aufgerissenen Haushaltslöcher von dann nicht nur 7,5 Milliarden DM, sondern auch von weiteren 2,5 Milliarden DM aus der Überfinanzierung des nicht in Kraft getretenen Steuerreformgesetzes, also von insgesamt 10 Milliarden DM, stopfen könnte. Was wollen Sie eigentlich, Herr Bundesfinanzminister, Ihrem Nachfolger in der nächsten Bundesregierung noch alles an Erblasten vor die Tür kippen?
({10})
Daß Sie es mit der Soli-Absenkung übrigens so eilig haben, ist einfach zu erklären: In wenigen Wochen - von heute gerechnet in vier Wochen - kommt die nächste Steuerschätzung mit weiteren bitteren Steuereinnahmeausfällen. Für Sie ist klar: Wenn diese Steuereinnahmeausfälle erst einmal auf dem Tisch liegen, wird niemand in dieser Koalition angesichts dieser Situation den politischen Mut finden, noch eine Soli-Absenkung zu finanzieren und dafür die Hand zu heben. Deshalb eilen Sie jetzt so.
({11})
Wir haben Sie, Herr Finanzminister, gestern im Haushaltsausschuß aufgefordert, Ihren vorliegenden Finanzplan bis zum Jahre 2001 mit der Absenkung des Solidaritätszuschlages in Einklang zu bringen. Sie haben sich gestern mit der beachtlichen Erklärung geweigert,
({12})
daß bisher noch keine Bundesregierung je zuvor ihre Finanzplanung geändert habe. In der Tat, Herr Minister, das hatte vor Ihnen auch noch nie eine Bundesregierung nötig.
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Ihre Situation, Herr Waigel, ist aber eine völlig andere. Weil nämlich Ihre bisher geplante Neuverschuldung in der Finanzplanung bis zum Jahre 2001 immer mit einem Betrag angegeben ist, der haarscharf unter der von der Verfassung vorgegebenen Grenze liegt, würden Sie, wenn Sie jetzt die Soli-Absenkung in die Finanzplanung hineinschrieben, erklären müssen, wie Sie es rechtfertigen können, uns zum Zeitpunkt der Beschlußfassung schon eine verfassungswidrige Finanzplanung vorzulegen. Sie müßten die Kürzungen benennen; vor der nächsten Wahl wollen Sie die Kürzungen aber nicht benennen. Deshalb operieren Sie erneut mit Täuschungen und Tricks.
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({15})
Zu dem zweiten Gedanken. Für die ökonomische Begründung der Soli-Senkung entdecken Sie plötzlich die angebliche Stärkung der Binnennachfrage. Bei Ihnen beginnt die Massenkaufkraft wohl bei Einkommen oberhalb von 100 000 DM.
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Das ist der Punkt, den man einmal verinnerlichen muß: Wenn insbesondere die Herren von der F.D.P. von Massenkaufkraft sprechen, dann meinen sie die Einkommen oberhalb von vielleicht 200 000 DM. Das ist wirklich die „Masse" der Steuerzahler, die etwas von dieser Soli-Absenkung hat.
({17})
Wir wollen mit unserer Steuerstrukturreform - wir werden sie weiter verfolgen - die Einkommen von Familien mit zwei Kindern um bis zu 2500 DM netto im Jahr entlasten und damit ihre Kaufkraft und ihr Nachfragepotential stärken. Wir wollen gleichzeitig durch eine Senkung der Lohnnebenkosten die Wirtschaft in ihrer Wettbewerbsfähigkeit stärken.
Unsere Politik ist eine Politik für mehr Arbeitsplätze und für eine Stärkung der Wirtschaft.
({18})
Ihre Politik dagegen ist eine Politik, die darauf gerichtet ist, den Angehörigen der obersten Einkommensschicht möglichst viele hundert Millionen, ja Milliarden D-Mark zuzuschanzen.
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Bei normal verdienenden Familien aber versickert die Entlastung, sofern sie überhaupt eine bekommen. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam: Eine Entlastung durch die Absenkung des Solidaritätszuschlages erfährt ein Arbeitnehmer mit zwei Kindern erst oberhalb eines Bruttoeinkommens von mehr als 64 000 DM im Jahr.
({20})
Erst ab diesem Einkommen hat er eine Entlastung, die ihm noch durch die steigenden Abgaben, die Sie vorgesehen haben, sozusagen weggefressen wird.
Zu dem dritten Gedanken. Die Soli-Senkung ist eine unsolidarische Politik gegenüber den Menschen in den neuen Ländern. Sie haben über Wochen hinweg mit den Wirtschaftsministern der neuen Bundesländer um die Streichung von Hunderten von Millionen DM für die Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern gefeilscht. Sie fahren in der mittelfristigen Finanzplanung die Förderung für die neuen Bundesländer zurück, obwohl der Aufbau Ost eigentlich eine kräftige Stütze braucht.
Ich bleibe dabei: Wer einerseits beim Aufbau Ost um 200 Millionen DM feilscht, weil er sie angeblich
nicht hat, andererseits aber bereit ist, der Klientel der F.D.P. Milliarden D-Mark zuzuschanzen,
({21})
damit sie eine Chance hat, die nächsten Wahlen überstehen zu können, der betreibt eine reine Machterhaltungspolitik. Er versündigt sich an den Menschen in diesem Lande. Deshalb werden wir dieser Politik widersprechen.
({22})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Helling.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die von der Koalition beschlossene Senkung des Solidaritätszuschlags von 7,5 auf 5,5 Prozent und damit die Anhebung der steuerlichen Grundfreibeträge werden zum 1. Januar 1998 die meisten Steuerzahler monatlich in einer Größenordnung - das ist eben schon gesagt worden - von zirka 20 bis 30 DM entlasten. Die Zahl der Steuerzahler, die zukünftig keine Steuern mehr bezahlen müssen, wird um 900000, also um fast 1 Million, auf 3,5 Millionen erhöht.
Die Soli-Senkung um 2 Prozentpunkte ist zwar volkswirtschaftlich gesehen kein Befreiungsschlag, aber sie ist ein Wegweiser in die richtige Richtung. Natürlich kann diese Maßnahme eine umfassende Steuerreform nicht ersetzen. Auch uns ist das klar. Wenn aber die eigentlich erforderliche Steuerstrukturreform wegen der Blockade der SPD nicht realisiert werden kann, dann muß diese Koalition die Chance nutzen, das zu gestalten, was sie mit ihrer Mehrheit gestalten kann.
({0})
Deshalb machen wir diesen Schritt zur Senkung der hohen Steuerbelastung um 7 Milliarden DM.
Einigen Kollegen von der SPD scheint die Senkung zu gering ausgefallen zu sein. Noch am Dienstag hat Herr Kollege Rixe - er ist im Saal - gesagt, die Senkung sei für den einzelnen eine Pizzagröße. Ich weiß nicht, ob man die Senkung so bezeichnen sollte. Sie hätten mit uns, wenn Sie gewollt hätten, mehr haben können. Sie hätten mehr haben können, wenn Sie der Senkung der Steuertarife zugestimmt hätten.
({1})
Daß dies notwendig war und ist, wird selbst von Ihnen kaum noch angezweifelt.
Der Beschluß zur Soli-Senkung ist mehr als ein Symbol unserer Handlungsfähigkeit. Wieder einmal wird klar, daß es in Deutschland eben keinen Stillstand gibt. Aus Ihren empörten Reaktionen am letzten Donnerstag war erkennbar abzulesen, daß Sie mit der Einigung nicht gerechnet haben. Sie sehen, auch in schwierigen Lagen sind wir zum Handeln bereit.
Am letzten Dienstag im Finanzausschuß mußten wir verwundert zur Kenntnis nehmen, daß der Herr Kollege Kröning - ich habe ihn eben noch gesehen - eigentlich der Soli-Senkung zustimmen wollte, wenn zwei Bedingungen erfüllt wären: Erstens dürfe es zu keiner Steuererhöhung kommen - ich darf daran erinnern, daß das, was Sie wollten, nämlich Aufkommensneutralität im ersten Jahr nach der Steuerreform, zu massiven Steuererhöhungen geführt hätte -, und zweitens dürfe es keine Schuldenstandserhöhung geben. Beides wird eben nicht erfolgen, Herr Kollege Spiller. Ich komme gleich im einzelnen dazu.
Sie müssen nun wieder einmal mit Ablehnungsargumenten hantieren, Sie müssen sie konstruieren, neue Hürden definieren, Barrikaden erfinden und Blockaden bauen, um überhaupt ablehnen zu können. Ich weiß, es fällt Ihnen manchmal schwer, die Lafontainesche Ablehnungsstrategie nachzuvollziehen.
({2}) Das ist aus vielen Gesprächen bekannt.
({3})
Sie blockieren, aber wir machen den Weg frei für mehr Wachstum und Beschäftigung. Sie werden es erleben.
({4})
Meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt sind eigentlich Sie an der Reihe. Beweisen Sie doch nun einmal Ihre Handlungsfähigkeit. Aller vorgeführten Einigkeit zum Trotz wird das der SPD zunehmend schwerer fallen.
Schauen wir uns doch einmal die Diskussion der letzten Tage an. Ihr neuer Finanzkoordinator, der hessische Ministerpräsident Hans Eichel, fordert das Schließen von Steuerschlupflöchern. Er kann an der Diskussion der letzten Monate nicht teilgenommen haben.
({5})
Unser vorgelegtes Steuerreformkonzept hat genau dies vorgesehen, nur mit dem Unterschied, daß wir gleichzeitig die Steuertarife senken wollten. Der Vorschlag des Ministerpräsidenten Eichel würde aber genau das Gegenteil bewirken.
({6})
Wenn man nur Steuerschlupflöcher stopft, kommt es zu einem massiven Aufwuchs und zu einer immensen Steuererhöhung, die die Republik in dieser Größenordnung noch nicht gekannt hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scheel?
Aber gerne, Frau Präsidentin.
Ich möchte Sie, nachdem Sie jetzt Herrn Eichel zitiert haben,. nur einmal fragen: Wir haben ja auch einen Freistaat Bayern, aus dem ich komme. Da gibt es einen Finanzminister von der CSU namens Huber. Dieser Herr Huber tönt seit Tagen über die Presse, daß die Steuerschlupflöcher geschlossen werden müßten und daß es ihm nicht darum gehe, die Steuersätze zu senken. Können Sie auch das einmal zur Kenntnis nehmen? Das ist Ihr Koalitionspartner.
({0})
Frau Scheel, ich stelle fest, die Zwischenfragen fallen Ihnen heute ein bißchen schwer. Aber ich beantworte das recht gerne. Was Herr Huber in Bayern macht, ist sicherlich etwas, was auch einige von uns gelockt hätte, um in die verfahrene Situation mit der Blockade in Sachen Steuerreform Bewegung zu bringen. Das ist etwas, was wirklich jeder Anstrengung bedarf. Ich bin allerdings der Meinung, daß so etwas ohne große Tarifsenkung, wie sie unsere Konzeption vorsieht, nicht zu machen ist.
({0})
Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Gerne.
Ich muß nachfragen, ob ich Sie in dem, was Sie jetzt geantwortet haben, richtig verstanden habe. Sie sind nicht in der Lage, die Steuerschlupflöcher, die, wie Herr Waigel immer betont, zum großen Teil legal sind, also auch von Ihnen geschaffen wurden, zu schließen, wenn man nicht die Tarife insgesamt senkt. Im Vergleich mit einem Bauernhof hieße das: Sie hüten eine Schar Hühner, haben Löcher im Zaun, die Sie selber reingeschnitten haben, wundern sich, daß die Löcher etwas groß sind, und sagen jetzt, Sie könnten die Löcher nicht schließen, bevor Sie nicht den Zaun abgesenkt haben.
({0})
Frau Dr. Höll, ich will gerne darauf antworten. Es ist sicherlich unstreitig, daß ich, der ich nun neun Monate Mitglied des Finanzausschusses bin und das Glück hatte, just zum Beginn der Beratungen über die Steuerreform einzusteigen, mich massiv an der Diskussion über die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage beteiligt habe, auch mit eigenen Vorschlägen. Das wiederum hätte - ich erinnere daran, daß wir über Rückstellungen bei
Kernkraftwerken sehr intensiv diskutiert haben - die Möglichkeit und den Freiraum geschaffen,
({0})
das zu tun, was wir ursprünglich vorhatten.
({1})
- Abwarten! - Das hätte uns nämlich in die Lage versetzt, die Tarife in der Tat abzusenken. Das wiederum hätte genau das Ergebnis gehabt, das auch viele von Ihnen wollen, auf das Sie warten und auf das die Volkswirtschaft ganz dringend wartet. Ich bin davon überzeugt, es kommt auch. Ich komme gleich darauf zurück.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie behaupten immer, daß Sie sich in der Sache bewegen. Bewegung ist allerdings nicht das Drehen im Kreis; das hilft bekanntlich keinem.
Wir können uns sehr schnell auf das Schließen von Steuerschlupflöchern einigen - jetzt sind wir beim Thema, Sie hätten nur einen Augenblick warten müssen -, wenn es gleichzeitig insgesamt zu Tarifsenkungen kommt. Ich bin allerdings davon überzeugt, daß Ihre Blockade unseres Steuerkonzeptes im Bundesrat keine permanente Blockade ist, sondern eine temporäre. Sie wird sich nämlich aus der Not der Länderfinanzminister von innen her insgesamt auflösen.
Ihre Länderfinanzminister wissen, daß die große Steuerreform für stabile öffentliche Finanzen unverzichtbar ist. Die Motivation Herrn Eichels stammt ja aus diesem Wissen. Die Blockade werden wir in wenigen Wochen überwunden haben. Somit ist es auch richtig, daß der erste Schritt zu gehen ist und die Senkung des Solidaritätszuschlages durch die Rückführung der jährlichen Tilgungsleistungen des Erblastentilgungsfonds teilweise zu finanzieren ist.
Lassen Sie mich noch einige Ausführungen zum Erblastentilgungsfonds machen. Wir haben uns ursprünglich das Ziel gesetzt, die Tilgung nach 30 Jahren abzuschließen. Mit Modellrechnungen für Zinsen und Tilgung ist die durchschnittliche Zinsbelastung der letzten 30 Jahre sowohl bei mittelfristigen als auch bei langfristigen Zinsen ermittelt worden. Wir sind dabei auf 6,5 Prozent bei den mittelfristigen bzw. 7,5 Prozent bei den langfristigen Zinsen gekommen. Vor dem Hintergrund dieser Modellrechnung ist bei Einrichtung des Erblastentilgungsfonds eine durchschnittliche Tilgung von jährlich 4 bis 5 Milliarden DM vorgesehen gewesen. Diese Tilgung können wir auch erreichen.
Lassen Sie mich bei der Gelegenheit noch etwas Grundsätzliches zum Erblastentilgungsfonds sagen. Zumindest Sie sollten wissen - ich war damals nicht
dabei; ich habe es aber nachgelesen, deswegen weiß ich es auch -: Es gibt etliche Punkte, die wir nicht einzeln aufzählen müssen. Das sind die Verbindlichkeiten der DDR-Banken mit 84 Milliarden DM, das sind die Neu- und Altschulden der Treuhand mit 205 Milliarden DM.
Es ist aber ein entscheidender Punkt dazugekommen, und zwar mit Wirkung vom 1. Januar dieses Jahres: In Übereinstimmung - das sollten wir vielleicht noch einmal deutlich sagen - mit den Ländern sind die ursprünglich nicht vorgesehenen kommunalen Altkredite, so zum Beispiel die Kredite für den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen in der damaligen DDR, mit 8,3 Milliarden DM hinzugekommen. Dies hat man vertraglich verhandelt. Ich muß dazusagen: Hierfür müssen Tilgungen und Zinsen bezahlt werden, je zur Hälfte vom Bund und von den neuen Ländern, wobei der Bund noch den Anteil des Landes Berlin übernimmt; das ist ja auch ein Solidarzuschlag. Etwas Ähnliches machen wir auch im Saarland.
Die Länder haben - das muß ich anerkennen - sehr gut verhandelt; denn für das Jahr 1997 zahlen sie keine Zinsen. Sie zahlen auch keine Tilgung. Es gibt also eine Tilgungs- und Zinsaussetzung für das ganze Jahr 1997, die auch durch Herrn Stolpe und Herrn Höppner erreicht wurde, die ja allzugern und wider besseres Wissen schnell Interviews geben, um das Schreckgespenst an die Wand zu malen, daß durch die Senkung des Solidaritätszuschlages Unsicherheiten für die weitere Entwicklung in den neuen Ländern entstehen könnten.
Die Hochrechnung der Tilgungsanteile des Jahres 1997 in einer Größenordnung von 12 Milliarden DM ergibt sich dadurch, daß die Tilgung durch Sondertatbestände etwas höher sein wird als ursprünglich geplant. Für das Jahr 1998 wird nach der Hochrechnung ein Tilgungsanteil von 9 Milliarden DM erreicht, so daß es legitim ist, so meine ich, mit 5 Milliarden DM zur Deckung der Senkung des Solidaritätszuschlages rechnen zu können.
Der Zuschlag sinkt, doch es sinken nicht die Solidarität und die Bereitschaft zum Aufbau Ost.
({3})
Einige im Westen scheinen allerdings geflissentlich zu vergessen, daß auch unsere Bürger in den neuen Ländern mit Solidaritätsbeiträgen belastet sind. Auf Grund der Stabilitätserfolge und der dadurch erreichten dauerhaft niedrigen Zinsen - übrigens auch ein Erfolg dieser Bundesregierung ({4})
hat sich der Tilgungsanteil an dieser Annuität gegenüber der vorgesehenen Tilgungshöhe zuletzt deutlich erhöht. Ich kann das gar nicht oft genug sagen. Deshalb ist es sinnvoll und vertretbar, 1998 die Tilgungsleistungen um 5 Milliarden DM zu reduzieren.
({5})
Meine Damen und Herren der Opposition, machen Sie sich doch einfach die Forderung des Kollegen
Scharping zu eigen, der im Januar 1997 gefordert hat, der Soli müsse so schnell wie möglich weg.
({6})
Wir werden die Chance nutzen. Von Lähmung und Beschlußunfähigkeit der Koalition keine Spur.
({7})
So werden wir morgen das Rentenreformgesetz 1999 in namentlicher Abstimmung verabschieden.
Meine Damen und Herren der Opposition, nutzen Sie die Chance, der Öffentlichkeit Ihre eigene Handlungsfähigkeit zu beweisen!
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Für die jetzt kommende Abstimmung hat der Abgeordnete Manfred Kolbe eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung abgegeben. Mit Ihrer Zustimmung gebe ich diese zu Protokoll.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1997; das sind die Drucksachen 13/4839 und 13/8701. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition in zweiter Beratung angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e sowie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
5. a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfes eines Gesetzes zur Sicherung und Förderung der betrieblichen Berufsausbildung
({0})
- Drucksache 13/8680 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({1}) Innenausschuß
Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Edelgard Bulmahn, Christel Hanewinckel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sofortprogramm Arbeit und Beruf für junge Frauen und Männer
- Drucksache 13/8640 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ma-ritta Böttcher, Dr. Christa Luft, Rosel Neuhäuser, Roll Kutzmutz und der Gruppe der PDS
Sofortprogramm berufliche Erstausbildung für alle Jugendlichen
- Drucksache 13/8599 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, Heidemarie Lüth und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenpflegegesetzes ({4})
- Drucksache 13/7093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({5})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Christa Luft, Rosel Neuhäuser, Rolf Kutzmutz und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({6})
- Drucksache 13/8573 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({7})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Angelika Beer, Christian Sterzing, Antje Hermenau und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beseitigung von Ausbildungshindernissen und Benachteiligungen im Rahmen der Wehrpflicht
- Drucksache 13/8706 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß ({8})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Mehr Ausbildungsplätze durch flexible Strukturen - moderne Berufe - keine Zwangsabgaben
- Drucksache 13/8732 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung ({9}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen, wobei die Fraktion der CDU/CSU zehn Minuten zusätzlich, die Fraktion der SPD 15 Minuten zusätzlich und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen insgesamt zehn Minuten erhalten soll. Eine völlig neue Verteilung der Redezeit. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Scharping das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ausbildung aller Jugendlichen zu sichern und jedem nach der Ausbildung die Chance auf einen Arbeitsplatz zu geben ist das ernsteste Thema in der Zukunft, die unmittelbar vor uns liegt.
({0})
Die Situation junger Menschen in Deutschland ist höchst unterschiedlich. Wer aber die entsprechenden Studien - zum Beispiel die von Shell finanzierte - genau liest, der weiß, daß trotz dieser höchst unterschiedlichen Situation mittlerweile fast alle jungen Menschen die Arbeitslosigkeit als ihr persönlich bedrohlichstes Problem ansehen. Das ist eine ganz gravierende Veränderung früheren Jahren gegenüber, die leider ihren Grund hat.
Die Situation vieler Jugendlicher ist außerordentlich bedrückend: Etwa eine Million von ihnen lebt von Sozialhilfe. Weit über eine halbe Million Jugendlicher ist ohne Arbeit. Es gibt viele Kinder, die auf der Straße leben. Allein im Osten Deutschlands sind etwa 50 000 Kinder in Obdachlosenheimen untergebracht.
Das sind Zahlen, hinter denen einzelne Schicksale stehen, und Erfahrungen, die für die Zukunft prägend sein werden. Deshalb sage ich erneut: Wir müssen alles tun, damit jeder Jugendliche in Deutschland ausgebildet wird und die Jugendlichen Arbeit finden können.
({1})
Ausbildung und Arbeit sind ein außerordentlich hohes Gut. Sie sind eine Grundlage für die persönliche Zukunft und für die Bildung von Persönlichkeit. Ob man Arbeit und Ausbildung hat oder nicht und unter welchen Bedingungen man sie hat, das entscheidet sehr über den weiteren Lebensweg und die
Maßstäbe, denen der einzelne Mensch folgt. Die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit und das Erlernen von Tugenden, die mit der eigenen Leistung, dem Aufgehobense in in einer Gemeinschaft und mit Rücksichtnahme sowie Toleranz zu tun haben, das alles hängt von Ausbildung ab. Freiheit und Selbstbewußtsein kann man nicht einüben und davon verantwortlichen Gebrauch machen, wenn die Gemeinschaft den Jüngeren verweigert, was Grundlage jeder verantwortlichen Ausübung von Freiheit und Selbstbewußtsein ist.
({2})
Es geht aber nicht nur um persönliche Entwicklung. Es geht auch darum, welchen Grundlagen wir eigentlich trauen und auf welchen Grundlagen die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes aufbaut. Ein Land ohne Rohstoffe, ein Land, das manchen Bekundungen der Regierung zum Trotz in diesem Jahr nach der Einheit Deutschlands einen neuen Rekordexport mit vermutlich weit über 100 Milliarden DM aufstellen wird, ist wie kein anderes Land darauf angewiesen, möglichst viele und gut ausgebildete junge Menschen zu haben, die mit ihrer Ausbildung eine Grundlage dafür bekommen, sich im Arbeitsleben regelmäßig weiterzubilden und Verantwortung für Produkte, Qualität, Leistung und dergleichen übernehmen zu können.
({3})
Wir sprechen hier also nicht nur von den persönlichen Chancen, sondern auch davon, was für die Bewahrung des sozialen Friedens, für die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und übrigens auch für einen fairen Wettbewerb in Deutschland selber erforderlich ist.
Ich finde es erstaunlich, daß manche, die sich in diesem Haus hier und da ihrer wirtschaftlichen Kompetenz oder ihrer besonderen Nähe zum Handwerk und Mittelstand rühmen, offenkundig überhaupt nicht verstehen, welche enorme Verzerrung im Wettbewerb stattfindet, wenn sich immer mehr große Unternehmen aus der Ausbildung zurückziehen und wenn die Kosten und die Verantwortlichkeit, die damit verbunden sind, immer stärker vom Handwerk und Mittelstand übernommen werden müssen. Wer auf politischer Ebene mittelstands- und handwerksfreundlich agieren will, der muß diese Situation auch im Interesse der wirtschaftlichen Kraft unseres Landes korrigieren.
({4})
Handwerk und Mittelstand tragen etwa 80 Prozent der Ausbildung und stellen 50 Prozent unserer Arbeitsplätze zur Verfügung. Wenn in Deutschland in den letzten fünf, sechs Jahren 2,7 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verlorengingen, dann hat das Folgen auch für die Ausbildung. Ich will Ihnen das an Hand weniger Zahlen erläutern: Am Ende des Ausbildungsjahres 1991/1992 gab es einen Überhang an Ausbildungsstellen in Höhe von fast 270000. Zwei Jahre später war dieser Überhang auf rund 30000 geschwunden. Seit 1994/1995 haben wir ein wachsendes Defizit von zunächst knapp
59 000, im letzten Jahr von knapp 130 000 und in diesem Jahr von knapp 200 000.
({5})
Eine Politik, die wie die Ihre auf Appelle setzt und sich in Appellen erschöpft, eine Politik, die wie die Ihre nur auf Selbstverpflichtungen beispielsweise der Industrie in Deutschland setzt - auch ich weiß, es gibt einige, die ihren Verpflichtungen gerecht werden; aber viele andere werden das nicht mehr -, kann nichts mehr bewirken.
Weil es um die persönliche Zukunft junger Menschen geht, weil es um ihre Tugenden und um ihre Fähigkeit der Mitarbeit in einer Gemeinschaft geht, weil es darum geht, ökonomische Wettbewerbsfähigkeit und deren Grundlage für die Zukunft zu sichern, und weil es darum geht, einen Kernbestand, einen Eckpfeiler der demokratischen Stabilität in Deutschland zu erhalten und zu festigen, ist es jetzt endlich erforderlich, mit einer Politik des bloßen Appells zu brechen und klare Regeln zu setzen.
({6})
Zu diesen Regeln gehört, daß Betriebe, die ausbilden, wenn sie ihrer Verpflichtung für die Allgemeinheit, für ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit und für die Zukunft der Jugendlichen gerecht werden, eine Hilfe erhalten.
Zu diesen klaren Regeln gehört, daß diese Hilfe von jenen Betrieben mitfinanziert wird, die sich der Ausbildungsverpflichtung entziehen.
Zu diesen Regeln gehört, daß eine solche grundlegende Weichenstellung strikt subsidiär ist. Alles, was die Tarifpartner tun, alles, was die Selbstverwaltung der Wirtschaft in den Kammern oder an anderer Stelle regelt, hat Vorrang vor gesetzgeberischen Regelungen. Das schlagen wir Ihnen auch ausdrücklich vor.
({7})
Zu diesen klaren Regeln gehört, daß man jungen Menschen, jenen über 500000, die jetzt keine Arbeit haben, ein faires Angebot macht, ein Angebot, das ihnen die Chance bietet, sich weiterzubilden, ein Angebot, das ihnen die Möglichkeit gibt, jetzt vorhandene soziale Hilfe mit Hilfe zur Beschäftigung zu koppeln, und vieles andere mehr.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben sich ja angewöhnt, sehr oft mit einem internationalen oder meinethalben auch europäischen Vergleich zu argumentieren. Dann tun Sie das bitte auch hier.
In Großbritannien hat ein Mann, der ja den Liberalen nicht völlig fremd sein kann, nämlich Ralf Dahrendorf, einen sehr lesenswerten Bericht über die soziale Spaltung und über die Ausgrenzung, die damit verbunden ist, veröffentlicht. Es kann doch nicht so weitergehen, daß die Zahl der versicherungspflichtigen Arbeitsplätze in normalen Arbeitsverhältnissen immer stärker sinkt und Sie uns dann hier im völligen Widerspruch zur internationalen Debatte, im völligen
Widerspruch zum internationalen Denken auch liberaler Politiker weismachen wollen, für die sechs Millionen Menschen, die außerhalb der Sozialversicherung in Billigjobs zu 610 DM im Westen oder 520 Mark im Osten beschäftigt werden, sei das ein Stück Freiheit. Das ist das exakte Gegenteil, das ist die Ausnutzung einer Notlage!
({8})
Es kann doch auch nicht sein, daß Sie uns weismachen wollen, man könne und dürfe nichts tun, und man müsse die Verhältnisse hinnehmen, die es gibt, Verhältnisse der Scheinselbständigkeit oder illegaler Arbeit.
Ein Teil der Mängel in unserem wirtschaftlichen Leben, ein Teil der Ursachen für die erschreckend hohe Arbeitslosigkeit auch unter Jugendlichen hängt damit zusammen, daß diese Koalition unfähig geworden ist, wirksam etwas gegen die Mißstände auf dem Arbeitsmarkt zu unternehmen und damit allen eine faire Chance zu geben.
({9})
Wenn ich mit internationalen Vergleichen etwas anmahne, dann will ich Sie noch einmal auf die Entwicklung in Großbritannien aufmerksam machen, wo Ralf Dahrendorf lebt. Dort gibt es mittlerweile einen Premierminister, der ein großangelegtes Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit verwirklicht. Dasselbe ist in Frankreich der Fall, zugegeben vor dem Hintergrund einer wesentlich höheren Jugendarbeitslosigkeit. Und in Dänemark gibt es nicht einen einzigen jungen Menschen unter 25 Jahren, der arbeitslos wäre.
({10})
Das ist die Frucht einer Politik, die Ordnung schafft und das Recht auf den Arbeitsmärkten durchsetzt.
({11})
Das ist die Frucht einer Politik, die niemandem einen Vorteil zukommen läßt, der sich gemeinschaftsschädlich verhält.
({12})
Und es ist eindeutig so, daß Unternehmer und Unternehmen, die nicht ausbilden, die Menschen ohne Sozialversicherung beschäftigen und andere Mißstände auf dem Arbeitsmarkt bis hin zu illegaler Beschäftigung oder Scheinselbständigkeit dulden oder nutzen, gemeinschaftsschädlich sind, im eigentlichen Sinne des Wortes asozial.
({13})
Deshalb appelliere ich an Sie, vielleicht auch einmal diesem Gedanken zu folgen, daß man niemandem einen Vorteil einräumt und niemanden einen Vorteil erwerben läßt, wenn er sich gemeinschaftsschädlich verhält. Das gilt generell. Auf Rechte und Chancen und Möglichkeiten in Deuschland aufmerksam zu machen, an ihre Wahrnehmung zu appellieren, das ist in Ordnung. Es ist ja unbestritten, viele in
Deutschland haben außerordentlich große Chancen, stellen sich den Herausforderungen und machen klugen Gebrauch von ihren Rechten. Genauso klar ist aber auch, daß eine viel zu große Zahl junger Menschen das überhaupt nicht kann. Deshalb appellieren wir auch an die Verantwortlichkeiten, an die Wahrnehmung von Pflichten in den Unternehmen, übrigens auch gegenüber den Jugendlichen.
Vor diesem Hintergrund wäre es gut, ein Gesetz zu verabschieden, wie wir es vorlegen: einfach, unbürokratisch, in kluger Selbstbeschränkung des Gesetzgebers,
({14})
subsidiär, ein Gesetz zu verabschieden, das den Betrieben hilft, die ihre Ausbildungsverpflichtung erfüllen oder mehr tun, im Handwerk, im Mittelstand, in der Industrie, und das jene Betriebe wenigstens finanziell an der Ausbildung beteiligt, die sich bisher jeder Ausbildung verweigern.
({15})
Es wäre klug, ein Programm zu verabschieden, wie es Ihnen die SPD-Bundestagsfraktion vorlegt, zu ersten wirksamen Schritten zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, ein Programm, das sich an internationalen und guten deutschen Erfahrungen gleichermaßen orientiert. Es wäre auch gut, wenn alle Beteiligten sich dazu verstehen könnten, nicht über die Jugendlichen herzuziehen, nicht ihnen die Schuld und die Verantwortung zuzuweisen für eine manchmal außerordentlich schwierige Lebenslage. Vielmehr sollten sie Mut machen und, anstatt Vorurteile zu verbreiten, wirksam handeln, damit junge Menschen in Deutschland eine Chance bekommen.
({16})
Das sage ich nicht nur den politischen Entscheidungsträgern in diesem Parlament, sondern allen älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland: Was wir heute an unserer Jugend versäumen, das wird zum Schaden an unserer gemeinsamen Zukunft. Deshalb richtet sich der praktische Vorschlag der SPD und unser Appell an alle, die in diesem Land Verantwortung tragen: Gebt der Jugend, jedem einzelnen jungen Mann und jeder einzelnen jungen Frau, eine faire Chance, denn das ist unsere gemeinsame Zukunft!
({17})
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Grund der neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit und der Zwischenmeldungen der Verbände wissen wir, daß Ende September 93 Prozent der LehrstellenbeBundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
werber in Deutschland einen Ausbildungsplatz gefunden haben. 7 Prozent der jungen Frauen und Männer suchen noch eine Lehrstelle.
({0})
Das sind 47 522 junge Menschen. Ich sage, es sind 47 522 zuviel.
({1})
Es ist wahr, wir haben im Sommer ein schlechteres Ergebnis befürchtet. Dennoch sehe ich überhaupt keinen Anlaß, zum jetzigen Zeitpunkt Entwarnung zu geben. Wir wissen, daß wir eine besonders schwierige Lage etwa in Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen, in Brandenburg und in Sachsen haben. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Aber, meine Damen und Herren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch keinen Grund zu kapitulieren. Wir haben in Deutschland noch das Potential, um den Ausgleich in diesem Jahr wie in den vergangenen Jahren herzustellen.
({2})
Ich bin froh, Herr Kollege Scharping, und will das ausdrücklich feststellen, daß wir in bezug auf dieses Ziel eine gemeinsame Auffassung haben. Ich will Ihnen auch ausdrücklich zustimmen: Wenn in diesem Jahr die Situation schwierig ist, da wir auf der einen Seite in den letzten Jahren einen Abbau von Ausbildungsplätzen in der Industrie festgestellt haben und auf der anderen Seite mehr Nachfrage da ist, ist das überhaupt kein Grund, daß wir den Jugendlichen die Schuld dafür geben. Das darf nicht geschehen! Vielmehr ist es unsere Aufgabe, gemeinsam - Wirtschaft und Politik - dafür zu sorgen, auch in Zukunft jedem Jugendlichen, der kann und will, eine Ausbildungsstelle anzubieten.
({3})
Worüber wir hier streiten, ist die Art und Weise, wie wir das machen.
({4})
Ich habe mit großem Interesse gehört, daß Sie, Herr Kollege Scharping, das Beispiel Dänemark angeführt haben. Muß ich Sie denn so verstehen, daß Sie in Deutschland genau wie in Dänemark einführen wollen, daß dem jungen Menschen, der keine Lehrstelle annimmt, die Sozialhilfe gestrichen wird? Muß ich Sie so verstehen, daß wir in Zukunft von Staats wegen Lehrstellen zuweisen? Wenn Sie das gemeint haben, muß ich sagen: Das wollen wir nicht.
({5})
Nun haben Sie, Herr Kollege Scharping, in den letzten Wochen und Monaten, nämlich seit Juli 1996, immer wieder angekündigt, die SPD werde einen
Gesetzentwurf zur Ausbildungsplatzabgabe vorlegen. Dieser liegt jetzt vor.
({6})
Im Juli 1996 gab es die erste Ankündigung. Im September 1997 wurde der Gesetzentwurf eingebracht. Das eigentlich Schlimme ist, daß mit diesem Gesetzentwurf keinem der mehr als 47 000 jungen Leute geholfen wird.
({7})
Jeder hier in diesem Saal weiß, daß der Gesetzentwurf frühestens im Lehrjahr 1999 wirksam werden könnte. Das heißt: Für das laufende und für das kommende Ausbildungsjahr wird den jungen Menschen vorgegaukelt, man würde ihnen helfen, aber nichts passiert. Herr Scharping, ich halte das für zynisch. Sie spielen mit den Hoffnungen junger Menschen.
({8})
Dieser Gesetzentwurf ist aber nicht nur eine Täuschung.
({9})
Wenn er in Kraft träte, dann würden ausbildende Betriebe bestraft und Lehrstellen vernichtet.
({10})
Schauen wir uns einmal an, was in diesem Gesetzentwurf steht.
({11})
Unternehmen, die es sich leisten können, können sich nach diesem Gesetzentwurf von der Verantwortung für die Ausbildung freikaufen, andere sollen Prämien bekommen.
({12})
Das heißt konkret: Wer noch nie ausgebildet hat, aber nach Inkrafttreten des Gesetzes damit beginnt, der bekommt eine Prämie.
({13})
Das ist die Aufforderung, sofort mit der Ausbildung aufzuhören und darauf zu warten, daß man für die Ausbildung Prämien bekommt.
({14})
Wer bisher nur wenig ausbildet und dann ein bißchen mehr, ist in der gleichen Situation. Wer jedoch
schon immer viele junge Leute ausgebildet hat und
weiterhin viele junge Leute ausbildet, der, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht leer aus.
({15})
Ich frage Sie: Ist das solidarisch? Ist das gerecht? Ich meine, nein. Auch da spielen Sie mit den Hoffnungen der jungen Menschen.
({16})
Herr Minister Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharping?
Natürlich.
Herr Kollege Rüttgers, könnten Sie mir sagen, auf welche Vorschrift im Gesetzentwurf Sie diese Behauptung stützen?
({0})
Das kann ich sagen: Es ist das Gesamtsystem dieses Gesetzentwurfes. Dazu werde ich gleich noch etwas sagen.
({0})
Es ist doch völlig klar, daß sich, wenn Sie die Frage, ob jemand eine Prämie bekommt oder nicht, an bestimmte, durch Arbeitsverwaltung und durch öffentliche Hände festgelegte Parameter knüpfen, die Menschen so verhalten, wie wir es teilweise leider schon in den neuen Bundesländern bei den Maßnahmen gesehen haben, daß sie nämlich ihre freiwillige Ausbildungsbereitschaft zurückfahren, um zu warten, ob es für zusätzlich zur Verfügung gestellte Lehrstellen Prämien gibt.
({1})
Weil dies im Gesetz so angelegt ist, bleibe ich bei dieser These.
({2})
Herr Kollege Scharping möchte nachfragen. Gestatten Sie das?
Bitte.
Herr Kollege Rüttgers, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß in § 9, § 10 und § 11 dieses Gesetzentwurfes das, was Sie hier schildern, ausdrücklich ausgeschlossen worden ist?
({0})
Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis, und zwar weil - ({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten aus dieser Debatte, vor allen Dingen aus dem Gespräch zwischen Ihrem Fraktionsvorsitzenden und mir, keine lustige Veranstaltung machen.
({1})
Ich persönlich habe diesen Gesetzentwurf - wahrscheinlich im Gegensatz zu vielen von Ihnen - Wort für Wort gelesen.
({2})
Nicht nur traditionell gut ausbildende Betriebe werden durch den SPD-Entwurf abgestraft.
({3})
Es trifft auch solche Betriebe, die keine Modeberufe anbieten können. Wir wissen - das sind die Zahlen aus dem August -, daß 60 Prozent der Bewerber um die noch offenen Lehrstellen sich bei ihren Bewerbungen auf nur sieben Berufe konzentrieren; dagegen gibt es in 200 Berufen mehr offene Lehrstellen als Bewerber. Ich frage: Was passiert nun nach den Vorschriften des SPD-Gesetzentwurfes mit einem Bäckermeister, wenn er keinen Lehrling findet, der früh aufstehen will?
({4})
Laut SPD-Entwurf kann er von der Abgabe befreit werden.
({5})
- Herr Kollege Rixe, ob die Arbeitsverwaltung das dann tatsächlich tut, steht in den Sternen.
({6})
Das ist der Arbeitsverwaltung anheimgestellt.
({7})
- Sie muß es nicht; in dem Gesetzentwurf steht: „kann".
({8})
Der Bäckermeister, der keinen Lehrling findet, finanziert also die Lehrstellen bei den Banken, weil dort die jungen Leute Lehrstellen am meisten nachfragen. Der Trend zu Modeberufen wird verstärkt;
der Weg in die Arbeitslosigkeit nach der Lehre wäre vorprogrammiert.
({9})
Ich sage: Dies ist nicht solidarisch, und es ist auch nicht gerecht.
({10})
Das Verfahren ist ein bürokratisches Monstrum.
({11})
Die Unternehmen sollen verpflichtet werden, spätestens bis zum 31. März jedes Jahres der Bundesanstalt für Arbeit umfangreiche Auskünfte zu erteilen,
({12})
und zwar sollen sie ihre Bruttoentgeltsumme melden;
({13})
sie sollen den Gewinn oder Verlust vor Steuern melden;
({14})
sie sollen die Aufwendungen für die eigene betriebliche Berufsausbildung unter Abzug der dieser zuzurechnenden Erträge ermitteln und melden.
({15})
Sie sollen ihre Aufwendungen zur tarifvertraglichen, gesetzlichen oder berufsständischen Förderung von Ausbildungsplätzen unter Abzug hieraus empfangener Leistungen aufstellen, und sie sollen die im Rahmen des Leistungsausgleichs des Ausbildungsabgabegesetzes empfangenen Fördermittel angeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solche Zahlen hat kein mittelständischer Betrieb; solche Zahlen hat kein Handwerker.
({16})
Dann sprechen Sie hier davon, dieses Gesetz sei mittelstandsfreundlich. Nein, es wird zu einer neuen Belastung für die Mittelständler, die damit eine neue große Bürokratie aufgebürdet bekommen.
({17})
Würde das SPD-Modell Wirklichkeit, dann würden rund 1 Million Betriebe und ein 1000köpfiges Beamtenheer das ganze Jahr von einem monströsen Verwaltungsverfahren in Trab gehalten.
({18})
- Ihnen, Herr Kollege Schmidt, der Sie anscheinend den Gesetzentwurf nicht gelesen haben, will ich einmal sagen, wie das Verfahren in Ihrem Gesetzentwurf angelegt wird. Wie sähe das aus? Januar: Aufstellung der Planungsdaten und Vorhersage der
Lehrstellenlücke durch die Bundesregierung. - Jeder weiß, daß das im Januar gar nicht geht.
({19})
Februar: Stellungnahme durch den Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung, März: Meldung der Berechnungsdaten durch die Betriebe, April: Feststellung des Handlungsbedarfs im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung,
({20})
Mai: Erstellung eines Vorfinanzierungsplanes durch Bund und Länder,
({21})
Juni: Berechnung der Branchen-, der Betriebsgrößen- und der Regionalquoten für die Ausbildungsplanung des laufenden Jahres durch die Ämter der Arbeitsverwaltung, anschließend im Juni: Planfeststellung durch die Verwaltungsausschüsse der Arbeitsämter, Juli: Festlegung des Abgabensatzes und des Lastenausgleichs durch Rechtsverordnungen der Bundesregierung, anschließend: Einholung der Zustimmung des Bundestages, anschließend: Einholung der Zustimmung des Bundesrates, August: Entscheidung über die Freistellungen sowie Anrechnungen ausbildungsbezogener Eigenleistungen der Betriebe durch die Arbeitsverwaltung,
({22})
Oktober:
({23})
Beginn der Erhebung der durch die Rechtsverordnungen für ein Jahr festgelegten Abgabe durch die Träger der betrieblichen Unfallversicherung, November: Beginn und Bearbeitung der Widerspruchsverfahren, Dezember: Beginn von Gerichtsverfahren zu Anfechtungsklagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das nicht monströs ist, wenn das nicht Bürokratie ist, dann weiß ich nicht, was einem sonst. noch einfallen kann.
({24})
Für diesen bürokratischen Exzeß werden mindestens fünf neue Mitarbeiter für jeden der 177 Arbeitsamtsbezirke in Deutschland benötigt, also insgesamt ein Heer von rund 1000 zusätzlichen Verwaltungsbeamten. Allein in der Arbeitsverwaltung entstehen jährliche Kosten in Höhe von knapp 100 Millionen DM. Hinzu kommen die Kosten für den zusätzlichen Aufwand bei den Trägern der Unfallversicherung, die den Einzug der Abgabe zusätzlich zu ihren derzeitigen Aufgaben vornehmen sollen. Außerdem fällt für die Betreuung des Umlagenfonds weiterer Personalbedarf bei der Bundesanstalt für Arbeit an.
Eine Ausbildungsabgabe, wie die SPD sie vorschlägt, schadet nicht nur den Lehrstellenbewerbern, sie schadet nicht nur dem Mittelstand, sondern sie
beschädigt vor allen Dingen unser traditionell gutes System der dualen beruflichen Ausbildung.
({25})
Wenn das Wirklichkeit würde, dann würden in Zukunft nicht mehr die Betriebe entscheiden, in welchen Berufen und in welchen Regionen wieviel ausgebildet wird, sondern die Arbeitsverwaltung würde dies übernehmen. Dies kann nicht funktionieren, weil die Arbeitsverwaltung dazu überhaupt nicht in der Lage ist.
({26})
Der Höhepunkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, so finde ich, folgendes: Sie wissen genau, daß Sie für dieses Gesetz weder hier im Deutschen Bundestag noch im Bundesrat eine Mehrheit haben.
({27})
Die Ministerpräsidenten von Niedersachsen, von Rheinland-Pfalz und von Sachsen-Anhalt haben klar erklärt, daß sie dem nicht zustimmen werden.
Heute findet sich ein Artikel in der „Hannoverschen Allgemeinen" in dem Herr Schröder mitteilt, eine Ausbildungsplatzabgabe werde in Niedersachsen nicht eingeführt, solange er in diesem Land etwas zu sagen habe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist zwar nur noch bis zum März der Fall, dann hört das auf, aber ich frage mich trotzdem: Wann gibt es eigentlich an irgendeinem Punkt noch eine Übereinstimmung zwischen der SPD-Fraktion und dem möglichen Kanzlerkandidaten? Wer redet eigentlich für die SPD?
({28})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs?
Nein. - Ich kann ja verstehen, Kollege Scharping, daß Sie diesen Gesetzentwurf hier vorlegen müssen, nachdem Sie jahrelang eine Ausbildungsplatzabgabe angekündigt haben. Aber es bleibt dabei: Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist untauglich und schadet.
({0})
Ich will Ihnen abschließend etwas zu dem weiteren Vorgehen der Bundesregierung sagen. Dabei möchte ich es nicht stehenlassen, Herr Kollege Scharping - das sage ich vor dem Hintergrund der Tatsache, daß wir uns der Zielvorstellung einig sind -, daß nur „appelliert" worden sei.
({1})
Vorwegschicken will ich: Ich weiß gar nicht, was man gegen Appelle haben kann.
({2})
Diese Appelle haben dazu beigetragen, daß sich die numerische Lücke seit Januar um fast 30 000 Lehrstellen verringert hat. Das sind 30 000mal Zukunftschancen für junge Leute. Wenn ich das mit Appellen erreichen kann, werde ich auch weiter appellieren. Denn das ist ein gutes Werk für junge Leute.
({3})
Aber wir haben nicht nur appelliert. Wir haben ganz konkret das größte Reformpaket im Bereich der dualen Ausbildung seit Bestehen des Berufsbildungsgesetzes in Gang gesetzt. Wir haben über die Frage der besseren Organisation des Berufsschulunterrichtes diskutiert und wären weiter, wenn die SPD-regierten Länder nicht beim zweiten Berufsschultag gemauert hätten. Darüber hinaus haben wir eine Novelle zum Jugendarbeitsschutzgesetz verabschiedet, mit der mehr Flexibilität beim Besuch des Berufsschulunterrichtes möglich wird.
Wir haben die Ausbilder-Eignungsverordnung geändert. Allein diese Vorschrift hat 4 500 neue Lehrstellen geschaffen. Ferner haben wir eine Steigerung des Lehrstellenangebotes beim Bund um 6 Prozent durchgesetzt. Wir haben beschlossen, daß die öffentliche Auftragsvergabe beim Bund auch ein Stück weit davon abhängig gemacht wird, ob ein Betrieb ausbildet oder nicht.
({4})
Wir haben zusammen mit den neuen Ländern ein Aktionsprogramm aufgelegt, das 15 000 Lehrstellen für die neuen Bundesländer gebracht hat. Wir haben 150 Lehrstellenentwickler in den neuen Bundesländern veranlaßt, die übrigens - das ist eine riesige Leistung - 32 000 betriebliche Lehrstellen in den neuen Bundesländern in den letzten anderthalb Jahren akquiriert haben.
({5})
Wir haben allein in den letzten zwei Jahren 17 völlig neue Berufe zugelassen. Allein im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie hat das fast 5 000 neue Lehrstellen gebracht.
({6})
Wer vor diesem Hintergrund behauptet, es sei nur appelliert worden, der will dies alles entweder nicht zur Kenntnis nehmen, oder es geht ihm nicht um die jungen Leute.
Jetzt - damit knüpfe ich an das an, was ich zu Beginn gesagt habe - suchen noch 47 000 junge Leute eine Lehrstelle. Das sind 47 000 junge Leute zuviel. Es ist gut; daß wir mit den Ländern vereinbart haben, daß man auch nach Beginn des Ausbildungsjahres in das normale Berufsschuljahr hineinkommen kann. Wir müssen in den nächsten Tagen dafür sorgen, zusammen mit den Arbeitsämtern, daß die Bemühungen noch einmal verstärkt werden. Ich habe eine entsprechende Vereinbarung mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit getroffen. Immerhin gibt es
noch ein Potential von 26 000 freien Ausbildungsplätzen.
Wir haben mit den Wirtschaftsverbänden und der Bundesanstalt für Arbeit am 25. September eine „Last-Minute-Aktion" vereinbart. Wir wissen, daß viele junge Leute - ich sage: leider - zwei Lehrverträge unterschreiben und dann eine Stelle nicht antreten. Deswegen müssen wir jetzt sicherstellen, daß Lehrstellen, die dadurch frei werden, von den Betrieben nachbesetzt werden und dies nicht unter Hinweis auf ein kompliziertes Verfahren in das nächste Jahr vertagt wird. Wir glauben, daß da noch ein Potential von mehreren tausend Lehrstellen besteht.
({7})
Im Sonderprogramm Lehrstellen Ost stecken noch unausgeschöpfte Reserven, die wir zur Zeit ermitteln und einsetzen. Für die Landesprogramme in den neuen Bundesländern gilt das ebenso.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Ziel bleibt es, daß auch in Zukunft, wie in den vergangenen Jahren, jeder junge Mann und jede junge Frau, der oder die dies kann und will, in Deutschland eine Lehrstelle angeboten bekommt. Ich stimme Ihnen zu und bin froh, daß wir da einer Meinung sind. Das sind Lebenschancen für junge Menschen. Weil es da um Lebenschancen für junge Menschen geht, werden wir in der Frage nicht nachlassen. Wir werden so lange arbeiten, bis dieses Ziel erreicht ist.
Vielen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Scharping.
Herr Kollege Rüttgers, ich möchte auf folgendes kurz aufmerksam machen. Erstens. Sie fragen, warum man diesen Gesetzentwurf jetzt einbringt. Das hängt mit einer einfachen Erfahrung zusammen: Wir haben hier im Deutschen Bundestag zweimal einen Antrag mit gleichem Inhalt eingebracht. Sie haben beide abgelehnt. Sie sollten uns also nicht vorwerfen, daß wir gerade jetzt mit einem Gesetzentwurf kommen, sondern sich fragen, warum Sie gute Anträge im Deutschen Bundestag zweimal abgelehnt haben.
({0})
Zweitens. Ich weise die Unterstellung zurück, die Sie damit verbunden haben. Wenn Sie ein Gesetz zur solidarischen Finanzierung der beruflichen Ausbildung in Deutschland so schnell beraten, wie Sie die Senkung des Solidaritätszuschlags beraten haben, tritt es 1998 in Kraft.
({1})
Drittens. Ich empfehle Ihnen, bevor Sie über den Gesetzentwurf reden, ihn mit Ihren Beamten noch
einmal sorgfältig durchzulesen; denn das, was Sie hier im Zusammenhang mit dem Zurückfahren der Zahl an Ausbildungsplätzen usw. gesagt haben, ist dem Gesetzentwurf nicht entnehmbar, hat mit den Vorschriften überhaupt nichts zu tun. Ich wundere mich, daß Sie mit einem Ministerium, das über 1000 Beamte hat, noch nicht einmal in der Lage sind, einen Gesetzentwurf sachlich richtig zu kritisieren, wenn Sie etwas zu kritisieren haben.
({2})
Das will ich an einem Punkt deutlich machen. Sie sprechen von einem „bürokratischen Monstrum", obwohl all die Angaben, von denen Sie gesprochen haben, in den Betrieben bekannt sind und auf ein Blatt Papier passen. Mehr braucht man dafür nicht. Nehmen Sie es mir nicht übel: Ich denke, die Arbeitsverwaltung wäre sinnvoll beschäftigt, wenn sie auf diese Weise 100 000 oder 150 000 Ausbildungsstellen mobilisieren könnte. Das ist allemal besser, als 4,3 Millionen Arbeitslose verwalten zu müssen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje Hermenau.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Rüttgers, Sie surfen zuviel im Internet.
({0})
Sie denken, die Welt sei ohne Menschen, auch ohne junge Menschen. Sie reden an den jungen Leuten vorbei. Sie haben hier als jemand gesprochen, der in der Mitte seines Lebens steht und schon mal freudig in Richtung Rente schaut. Aber Sie haben sich gar nicht überlegt, wie denen zumute ist, die damit umgehen müssen, in dieser Gesellschaft noch nicht mal eine Chance bekommen zu haben.
({1})
Sie haben hier mit „exakten Zahlen" gearbeitet. Exakte Zahlen? Sie wissen, das ist wie bei der Arbeitslosenstatistik: Es wird eine offizielle Arbeitslosenstatistik vorgestellt; es gibt aber auch eine inoffizielle, die eine fast doppelt so hohe Arbeitslosenquote ausweist. Dasselbe gilt für die Statistik über die Ausbildungsplätze. Sie sprechen hier aber von „exakten Zahlen" und verheimlichen im Prinzip eine wirklich große Zahl von jungen Leuten, die inzwischen aufgegeben haben, weiter nachzufragen. Das hat damit zu tun, daß Sie seit zehn Jahren immer nur mit irgendwelchen Sofortprogrammen durch die Gegend ziehen.
Wenn Sie sagen, die Leute, die sich über einen praktikablen Ansatz für eine Umlagefinanzierung Gedanken machen, würden mit den Hoffnungen der jungen Leute spielen,
({2})
dann frage ich mich, was es ist, wenn Sie seit zehn Jahren von Sofortprogramm zu Sofortprogramm dakkeln. Mal ist Herr Blüm zuständig, mal Herr Rexrodt, mal Herr Rüttgers. Aber keiner weiß, was hier abläuft. Das kann doch wohl nicht wahr sein!
({3})
Herr Kollege Scharping hat gesagt, es müsse klare Spielregeln geben. Es schadet auch nichts, wenn die Spielregeln erst in zwei Jahren in Kraft treten. Dann kann sich nämlich jeder darauf einstellen. Auch ist wichtig, daß wir versuchen, der Wirtschaft zu signalisieren, daß wir da gern partnerschaftlich zusammenarbeiten wollen.
({4}) Darauf haben wir zehn Jahre lang gewartet.
Die Wirtschaft ist noch immer in der Bringschuld. Sie selbst werden nicht müde, das zu betonen. Sie selbst haben schon einen Kniefall gemacht, indem Sie sagten, Sie würden manche Betriebe von der öffentlichen Auftragsvergabe ausschließen - eine klassisch linke, einem sozialdemokratischen und sonst- wie verruchten Forderungskatalog entspringende Formulierung. Das haben Sie in dieser Republik öffentlich verkündet.
Wenn Sie zu solchen Notlösungen greifen müssen, Herr Rüttgers, dann haben Sie als Regierung und als Koalition Ihre Chance verpaßt, sich dieses Themas wirklich anzunehmen. Sie hatten die Chance. Die Gesetzentwürfe zur Umlagefinanzierung sind erst in den letzten zwei Jahren aufgetaucht. Sie hatten zehn Jahre lang Gelegenheit, das duale System in Deutschland zu stabilisieren und zu retten. Sie haben es aber nicht getan.
({5})
- Sie sind gescheitert. Sie bauen jetzt hier irgendeinen Verwaltungspopanz auf, vor dem Sie sich fürchten.
Wir können einmal einige Details aus Ihrer Regierungspraxis als Lernbeispiele nehmen, wie Sie es zum Beispiel geschafft haben, aus den zwei Ministerien ein Rüttgers-Ministerium zu machen, wobei Sie trotzdem noch sehr viel Personal haben, oder wie es Herr Minister Rexrodt geschafft hat, unter Auflösung eines ganzen Ministeriums eine Abteilung in sein Haus zu bekommen, die fast genauso groß ist. Es gibt eine Menge Beispiele dafür, wo Sie uns vorgemacht haben, wie man den Staat erfolgreich verschlankt.
Ich möchte gern auf weitere Ihrer Argumentationen eingehen, weil es mich eigentlich amüsiert, wie Sie sich hier winden müssen, weil Sie nicht wissen, was Sie machen sollen. Sie haben nicht ein wirkliches Konzept vorgeschlagen. Sie haben kleine Detailregelungen angedeutet. Sie haben heute die Möglichkeit, eine solche kleine Detailregelung anzunehmen. Ich spreche von unserem Änderungsantrag auf der Drucksache 13/8706. Hierin geht es um die
Beseitigung von Ausbildungshemmnissen. Dieser konkrete Fall betrifft ungefähr 5000 Lehrstellen von jungen Leuten in dieser Bundesrepublik Deutschland, die zur Wehrpflicht eingezogen werden, obwohl sie einen Lehrvertrag haben. Ich finde, das ist nicht nötig. Das haben Sie verpennt.
({6})
Sie argumentieren, wir dürften die kleinen und mittleren Unternehmen nicht belasten. Das machen wir gar nicht, das steht gar nicht zur Debatte. Es gibt Ausnahmetatbestände. Diese werden geschont, gehegt und gepflegt. Die sind uns treu und lieb und wert und teuer, sie bilden nämlich sehr gut aus. Aber wir wollen, daß das Geld, das die Großkonzerne sparen, weil sie nicht ausbilden, denen zugute kommt, die so klein dahinwurschteln müssen und trotzdem ausbilden, weil ihnen daran liegt, die Gesellschaft zusammenzuhalten.
({7})
Wagen Sie sich ja nicht noch einmal mit dieser ausgelutschten Nummer vom zweiten Berufsschultag an die Öffentlichkeit. Da lacht die ganze Republik.
({8})
Der zweite Berufsschultag ist eine Expertise aus Ihrer virtuellen Welt, aus Ihrem Surfing im Computer. Den gibt es kaum noch. Es gibt ganz viele verschiedene Regelungen, wie man damit im ersten und im zweiten Lehrjahr umgeht. Machen Sie ja keine Nebelkerzenaktionen mehr. Sprechen Sie zur Sache, und machen Sie konkrete Vorschläge. Ich freue mich auf die Rede des Kollegen Möllemann.
Danke.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Möllemann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Ich werde mich bemühen, der soeben mitgeteilten Vorfreude eine noch gesteigerte Freude folgen zu lassen. Ich gebe zu, daß ich das bisher selten von Kolleginnen und Kollegen der Grünen gesagt bekommen habe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Situation auf dem Lehrstellenmarkt - das ist ein Themenkomplex, der zusammengehört - ist gleichermaßen beunruhigend.
Ich glaube, wir tun gut daran, noch einmal einen Moment angesichts von 6 Millionen Arbeitslosen - wenn wir einmal die echten Zahlen nehmen - über die etlichen hunderttausend jungen Menschen nachzudenken, die zwar gerade noch eine Lehrstelle gefunden haben, wobei diese aber häufig in Bereichen
jenseits ihrer Wünsche liegt. Wer von uns würde schon begeistert sein, wenn er Abgeordneter werden will und gesagt bekäme: Du kannst vielleicht
({0})
in einem ganz anderen Bereich, etwa bei der SPD, als Mitarbeiter tätig werden? So ungefähr klingt das, wenn wir sagen, die Lehrstellenbilanz sei ausgeglichen, wenn aber in Wahrheit mancher junge Mensch einen völlig anderen Beruf ergreifen mußte, um einen Platz zu bekommen.
({1})
Ich möchte gerade aus meiner Erfahrung als ehemaliger Bildungsminister sagen: Mich beunruhigt die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Ich bitte, daß wir noch einmal einen Moment darüber nachdenken, ob wir in der Situation, in der wir jetzt sind, allen Ernstes ein Jahr lang Wahlkampf führen wollen.
({2})
- Herr Kollege, ich richte meine Frage doch nicht allein an eine Adresse. Ich stelle die Frage an uns, ob wir wirklich ein Jahr lang Wahlkampf führen und dabei in Kauf nehmen wollen, daß dadurch weder irgendeine Lehrstelle geschaffen noch die Arbeitslosigkeit bekämpft wird. Wir könnten aber sehr wohl erleben, daß sowohl von Ihrer Seite als auch von unserer Seite massenhaft Wähler in die Richtung dieser linken Seite und einer vielleicht neu aufstehenden Rechtsaußenseite abwandern werden.
Deswegen erneuere ich von hieraus meine Bitte an den Herrn Bundespräsidenten, seiner großartigen Rede in Berlin mit einem eindrucksvollen analytischen Teil einen therapeutischen Teil, einen Aktionsteil dergestalt folgen zu lassen, daß er die Entscheider aus den Parteien, aus den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden zu einem Strategieforum „Zukunft der Arbeit und Ausbildung in Deutschland" an den Tisch bittet. Denn ganz offenbar ist ein solches Bündnis von anderen im Moment nicht mehr zustande zu bringen. Ich kann mich nicht damit anfreunden, daß, weil die Parteien das, was sie eigentlich tun müßten, nicht mehr zustande bringen, 6 Millionen Menschen dafür den Preis zu zahlen haben.
({3})
Deswegen, finde ich, sollten wir - ich habe das vorhin auch auf einer anderen Veranstaltung erlebt - vielleicht doch noch die Kraft haben, auf überflüssige und plumpe Polemik zu verzichten
({4})
und diesen vom Verfahren her etwas unkonventionellen Anlauf zu machen. Ich habe jedenfalls die Bitte an den Herrn Bundespräsidenten, das in Erwägung zu ziehen.
({5})
Herr Kollege Scharping, Sie haben hier in Ihrer Rede als Kernpunkt Ihrer Strategie eine Ausbildungsplatzabgabe vorgeschlagen.
({6})
Es wird Sie nicht kränken, denke ich, wenn ich hier neben den Argumenten, die bereits von Herrn Rüttgers vorgetragen worden sind, die die Schwächen dieses Konzepts aufzeigen, auch einmal ganz leidenschaftslos auf Zitate von Menschen hinweise, die Sie doch sehr schätzen.
Gestern, einen Tag vor dieser Debatte, hat im Niedersächsischen Landtag der Ministerpräsident, der möglicherweise Ihr Kanzlerkandidat werden soll, erklärt:
Solange ich in diesem Lande etwas zu sagen habe, wird eine Ausbildungsplatzabgabe nicht eingeführt.
Wolfgang Clement, der Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen werden soll, wie ich höre, erklärt:
Eine Ausbildungsplatzabgabe wäre der falsche Weg.
Wörtliches Zitat:
Ich halte nichts von einer Ausbildungsplatzabgabe, weil sie keinen einzigen zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen wird.
({7})
Peer Steinbrück, Wirtschaftsminister in der rotgrünen Koalition in Schleswig-Holstein, erklärt:
Eine Ausbildungsplatzabgabe ist Gift für den Standort Deutschland. Wer immer noch glaubt, die Steuer- und Abgabenschraube weiterdrehen zu können, beschädigt seine wirtschaftspolitische Kompetenz.
Sie können uns doch nicht vorhalten, daß wir unvernünftig argumentierten, wenn die für Wirtschaft Zuständigen in Ihrer eigenen Partei, die Sie zum Kanzler machen wollen, zum Ministerpräsidenten machen wollen, die Minister für Wirtschaft sind, das sagen. „Gift für den Standort Deutschland" sagt Ihr Minister. Und dann erwarten Sie von uns, daß wir einem solchen Vorschlag hier zustimmen. Das ist doch nicht sonderlich überzeugend.
({8})
Das zweite, was ich hier sagen will. Ich finde, es ist ein bißchen problematisch, daß wir hier mit erhobenem Zeigefinger an die Adresse der Wirtschaft argumentieren, aber doch eigentlich mit eigenen Entscheidungen dazu beitragen, daß immer mehr Betriebe sich überlegen, ob Sie noch ausbilden sollten, jenseits der Frage des wirtschaftsinternen Ausgleichs.
Ich meine damit - Frau Kollegin Hermenau, das ist kein Unsinn -: Warum müssen 18- bis 20jährige, die auf Grund der Arbeitszeitverkürzung ohnehin schon nur noch sehr wenig Zeit in den Betrieben verbrinJürgen W. Möllemann
gen, einen zu großen Anteil von ihrer Ausbildung mit Religions- und Sportunterricht verbringen?
({9})
Wer mit 18 bis 20 Jahren noch nicht sein religiöses Verhältnis zu Gott geklärt hat, der wird es gewiß nicht durch die Religionsunterrichtung in der Berufsschule tun. Wer als 18- bis 20jähriger Sport treiben will, der kann das im Sportverein tun. Das ist verlorene Zeit,
({10})
die die Betriebe dringend brauchen, um qualifiziert auszubilden.
({11})
- Nein, nein. Ich bin sehr wohl der Auffassung, Herr Kollege, daß staatsbürgerliche Unterweisung auch in diesem Alter notwendig bleibt.
({12})
- Das ist mir doch egal.
({13})
Die Union ist ebensowenig im Zustand einer hohen Geschlossenheit wie offenbar Sie. Zweitens ist der eine oder andere Kollege von der Union nicht schon deswegen im Besitz höherer Weisheit, weil die Partei das C im Namen hat.
({14})
- Ja, auch das ist ein Sachverhalt, mit dem man leben muß.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um ein wenig Ruhe, der Redner ist nur sehr schwer zu verstehen.
Also: Der Staat gibt Ausbildungsinhalte vor, die die jungen Leute zu stark von den Betrieben fernhalten. Deswegen sagen viele Inhaber kleiner Betriebe: Wenn ich diesen jungen Mann, diese junge Frau nicht mehr als 21 Stunden pro Woche im Betrieb habe, kann ich die Inhalte, die ich vermitteln muß, nicht vermitteln. Das ist ein Punkt, auf den wir immer wieder hingewiesen werden. Auch Sie werden auf diesen wichtigen Aspekt angesprochen.
Der zweite Punkt: mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir wollen, daß die Betriebe mehr ausbilden, muß auch der Staat mehr ausbilden, und zwar über
den Bedarf hinaus. Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden. Im Moment spart auch der Staat massiv an Ausbildungsplätzen.
Der dritte Punkt: Wenn wir wollen, daß die Wirtschaft mehr in die Bildung investiert, muß das auch der Staat tun. Aber was passiert im Augenblick? Sowohl bei den Ländern als auch beim Bund - das ist eine selbstkritische Bemerkung - nimmt der Anteil der Bildungsausgaben gemessen an den Gesamtausgaben ab. Das ist ein schwerer Fehler, den wir machen.
({0})
- Ja, natürlich, auch wir. Aber die Bildungsminister der SPD tun das ganz genauso. Wir müssen das ändern. Man wird sonst schwerwiegende Konsequenzen zu spüren bekommen.
Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hermenau?
Ich würde gern meinen Gedanken zu Ende führen.
Ein weiterer Punkt sind die unausgeschöpften Potentiale in einigen Bereichen, die durch staatliche Vorgaben nicht ausgeschöpft werden. Ich habe mir das angeschaut: Wir haben in Deutschland mittlerweile rund 270 000 ausländische Betriebe mit ausländischen Betriebsinhabern.
({0})
Viele von ihnen sagen uns, daß es ihnen die relativ schematischen Vorgaben, die es bei uns gibt, schwermachen, in Deutschland auszubilden. In einer Situation, in der wir möglicherweise noch eine Zuspitzung erfahren werden, wäre es doch die Mühe wert, daß wir gemeinsam darüber nachdenken, welche der Regulierungen ausgesetzt, reduziert oder verändert werden könnten, damit auch dieses große Potential genutzt werden kann.
Ein letzter Punkt:
Sie wollten jetzt eine Zwischenfrage zulassen - oder doch nicht?
Stimmt.
Herr Kollege Möllemann, Sie haben darauf reflektiert, daß der öffentliche Dienst, die Verwaltung, im Prinzip der Aufgabe, nämlich auszubilden, nicht in dem Umfang nachkommt, wie man es eigentlich wünschen müßte. Nun ist Ihnen sicherlich aufgefallen, daß in den vorliegenden Gesetzentwürfen darauf reflektiert wird, nicht nur die nichtöffentlichen, sondern auch die öffentlichen Arbeitgeber einzubeziehen.
Deswegen möchte ich Sie fragen, was Sie inzwischen - Sie regieren in der Koalition schon ziemlich lange - gemacht haben, um dafür zu sorgen, daß im öffentlichen Dienst mehr ausgebildet wird, und ob diese Regelung, die öffentlichen Arbeitgeber über die Umlagefinanzierung auf der Basis ihres Haushaltsvolumens mit einzubeziehen, auf Ihre Zustimmung treffen kann. Das können Sie ja gern betriebswirtschaftlich bewerten.
Ich habe gerade mit einer gewissen Faszination unseren Generalsekretär beobachtet und festgestellt, daß man die Zeit von Fragen und Antworten nicht angerechnet bekommt.
({0})
Deswegen bin ich Ihnen dankbar, daß Sie mir die Gelegenheit geben, meine Position zu diesem wichtigen Thema ausführlich zu beschreiben.
({1})
Ich habe von den öffentlichen Arbeitgebern gesprochen und nicht vom öffentlichen Dienst allein im Sinne von Verwaltung. Hierzu hat es mehrfach unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers Gespräche der Regierungschefs von Bund und Ländern gegeben, in denen sich diese darauf verständigt haben - ich möchte, daß diese Anstrengungen erneuert und verstärkt werden -, auch im Bereich der öffentlichen Arbeitgeber über deren unmittelbaren Bedarf hinaus auszubilden.
Das ist deswegen ein schwieriges Problem, Frau Kollegin, weil folgendes eingetreten ist: Die öffentlichen Arbeitgeber haben das getan, und anschließend haben die dort Ausgebildeten erklärt, nun erhöben sie den Anspruch, dort beschäftigt zu werden. Wenn man will, daß über den definierten Bedarf hinaus ausgebildet wird, muß es Konsens darüber geben, daß anschließend alle die Forderung abwehren, daß Ausgebildete über den Bedarf hinaus in den öffentlichen Dienst eingestellt werden. Da sollte ein Konsens zwischen Bund, Ländern und Gemeinden möglich sein; denn die Masse der Beschäftigten ist nicht beim Bund.
Die letzte Bemerkung, zu der ich gerade angehoben hatte, will ich jetzt noch anschließen. Ich glaube, wir sollten mehr Menschen die Möglichkeit geben auszubilden, als wir das heute tun. Beispielsweise könnte man durch flexiblere Regelungen auch Industriemeistern und Technikern die Möglichkeit zur Ausbildung geben. Da gibt es einen Disput mit dem Handwerk. Ich halte es aber durchaus für vernünftig, daß man es für eine begrenzte Zeit tut.
Ich komme zurück zu einem Steckenpferd, das wir, Frau Bulmahn, schon in früherer Zeit erörtert haben. Wir haben eine Quote von 15 Prozent - sie wird eher noch steigen - junger Menschen, die mit dem permanent steigenden Anforderungsprofil, vor allem in der Theorie, in unseren Ausbildungsordnungen immer schwerer zurechtkommen.
Die Frage ist, ob wir, ohne daß wir uns gleich mit dem Totschlagargument der sogenannten Billigausbildung wechselseitig blockieren, nicht darüber nachdenken müssen, Ausbildungsgänge zu definieren, die solche leistungsschwächeren Menschen, die es eben trotz aller Förderung gibt und immer weiter geben wird, in den Stand versetzen, eine Ausbildung zu durchlaufen, die ihnen jedenfalls eine gewisse Mindestqualifikation vermittelt.
Ich glaube, das Thema ist viel interessanter als nur die Frage der Ausbildungsplatzabgabe. Sie müssen davon ausgehen - ich denke, das wissen Sie -: Die Ausbildungsplatzabgabe kommt mit dieser Mehrheit nicht und mit einer anderen Mehrheit - die, wie ich hoffe, nicht eintreten wird ({2})
auch nicht, weil wir Herrn Schröder und Herrn Clement in dem, was sie sagen, trauen wollen.
Ich glaube, es macht Sinn, sich auf die inhaltlichen Fragen zu konzentrieren, die ich hier angerissen habe.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Möllemann, wenn ich Sie richtig verstanden habe, müssen wir in den Berufsschulen den Sport- und den Religionsunterricht abschaffen, und schon sind alle Probleme der Lehrlingsausbildung gelöst.
({0})
Wenn dann ein Kollege von der CDU „Unsinn" ruft, dann bin ich das erste Mal in meinem Leben in der Situation, einem Kollegen der CDU recht geben zu müssen, weil die Probleme auf diese Art und Weise einfach nicht lösbar sind. Das scheint mir klar zu sein.
({1})
Ich möchte aber zunächst etwas zu dem sagen, was der Zukunftsminister ausgeführt hat. Herr Bundesminister, Sie haben alle Vorschläge aus der Opposition rundweg abgelehnt und gesagt, das sei der falsche Weg zur Lösung des Problems. Selbst wenn Sie dieser Überzeugung sind, dann frage ich Sie: Wo ist denn nun Ihr Weg zur Lösung des Problems?
({2})
Sie können meinetwegen alle drei Gesetzentwürfe ablehnen, wenn Sie hier einen vorlegen, der den Jugendlichen endlich eine Berufsausbildung nach Schulabschluß garantiert und nicht bei Appellen an
die Wirtschaft stehenbleibt, wie das in der Vergangenheit und in der Gegenwart der Fall war und ist.
({3})
Wir haben heute früh eine ostdeutsche Debatte gehabt. Nun haben Sie alle wieder festgestellt, wie marode die DDR-Wirtschaft war und welche irrsinnigen Lasten übernommen wurden. Aber wenn sie nun so marode war, dann erklären Sie doch einmal den Leuten in den neuen Bundesländern - weshalb muß ich das immer machen? -, weshalb eine so marode Wirtschaft in der Lage war, jedem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, und warum eine so reiche Wirtschaft dazu außerstande ist? Das ist doch eine interessante gesellschaftspolitische Frage. Diese müssen Sie dann einfach einmal in den neuen Bundesländern beantworten.
({4})
- Ich habe Sie nicht verstanden.
Sie sprechen von 50 000 Ausbildungsplätzen, die im Moment fehlen. Sie wissen aber, daß es in Wirklichkeit mindestens um 150 000 Ausbildungsplätze geht. Was ist denn mit denen, die Sie im letzten und vorletzten Jahr in die Warteschleife geschickt haben? Haben Sie sich einmal angeschaut, was diese machen?
Ich war jetzt in Sachsen und habe mir das einmal konkret angesehen. Da ist ein Junge von der Hauptschule, der keine Lehrstelle bekommen hat und jetzt in einer Weiterbildungsmaßnahme bzw. in einer Warteschleife ist. Was macht er seit Wochen? Er wickelt Puppen, damit er, falls er einmal Vater wird, das irgendwie beherrscht. Das zweite, was er macht: Er klebt Trockenblumen ein. Das macht er jetzt seit Wochen. Das ist alles, was dort stattfindet. Das müssen Sie sich einmal überlegen.
Das mag im ersten Moment ganz witzig klingen, aber im Grunde genommen hat er überhaupt keine Chance. Wenn er nämlich nächstes Jahr auf den Ausbildungsmarkt kommt, dann sagt sich jeder Unternehmer: Er hat schon letztes Jahr keinen Ausbildungsplatz gefunden, das wird schon seine Gründe gehabt haben. - Dann hat er noch schlechtere Chancen.
Hinzu kommt, daß der Zugang zum Studium immer schwerer wird. Immer mehr Abgänger von Gymnasien entscheiden sich deshalb zum Lehrberuf. Diese haben natürlich bessere Chancen als zum Beispiel Hauptschüler. Auch das drückt auf diesen Markt.
Das heißt, es ist mit Appellen an die Wirtschaft nicht getan. Es ist nicht damit getan, daß Sie den Sportunterricht an Berufsschulen abschaffen oder sonst irgendwelche kostendämpfenden Maßnahmen durchführen.
Wir müssen erst einmal akzeptieren, daß es eine Pflicht des Staates und damit auch eine Pflicht der Politik ist, dafür zu sorgen, daß jeder Jugendliche
und jede Jugendliche Anspruch auf Berufsausbildung hat.
({5})
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dieses endlich als ein Grundrecht in das Grundgesetz aufzunehmen. Denn dann müssen wir nur noch über das Wie diskutieren und nicht mehr über das Ob, wie es gegenwärtig der Fall ist.
Zweitens hat hier niemand von einer Ausbildungsplatzabgabe gesprochen, sondern wir haben von einer Umlagefinanzierung gesprochen. Das ist auch sehr viel sinnvoller. Worum geht es denn? Einige Unternehmen bilden aus; aber alle Unternehmen profitieren von den Ausgebildeten. Da darf man doch wohl noch die Frage stellen, wieso sich ein Unternehmen, das selbst nicht ausbildet, aber von der Ausbildung, bis hin zu Facharbeitern und Meistern, die andere finanziert haben, Nutzen hat, nicht wenigstens nachträglich an der Ausbildung der von ihm genutzten Arbeitskräfte finanziell beteiligen soll. Um diese Frage geht es hier eigentlich. Ich wüßte nicht einmal, welche Ihrer marktwirtschaftlichen Gesichtspunkte dagegen sprechen sollten.
({6})
Es hat sogar etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Sie müßten doch sagen, daß es höchst unredlich ist, daß die Unternehmen, die ausbilden, zusätzliche Kosten haben, aber andere, die die ausgebildeten Kräfte bekommen, dafür gar nichts zahlen. Dagegen kann man etwas unternehmen.
({7})
- Das weiß ich nicht so genau, Herr Möllemann. Ich habe den Eindruck, daß die F.D.P. Marktwirtschaft mit Klientelwirtschaft verwechselt. Dazwischen liegen aber zum Teil Welten; das hängt ganz von der Branche ab.
({8})
Es liegen hier drei Gesetzentwürfe zur Umlagefinanzierung vor, einer ist von uns, einer vom Bündnis 90/Die Grünen und einer von der SPD. Sie unterscheiden sich ein wenig. Wir würden zur Not jedem dieser Anträge zustimmen, Hauptsache, einer findet die Mehrheit im Hause. Das wäre unser wichtigstes Anliegen.
Allerdings gehen wir davon ab, eine solche Umlagefinanzierung auf Grund des Bruttolohns zu berechnen. Wir wollen sie nach der Wertschöpfung berechnen, um sie vom Betriebsergebnis und nicht von einer festen Größe abhängig zu machen.
({9})
Lassen Sie mich zum Schluß ein einfaches praktisches Beispiel nennen, um Ihnen zu zeigen, was alles abläuft: Ein Bäckermeister aus der Stadt Döbeln in Sachsen hat fünf Lehrlinge eingestellt. Das ist für eiDr. Gregor Gysi
nen Bäckermeister, der nur ein kleines Geschäft hat, wirklich eine ganze Menge. Das werden Sie doch respektieren und anerkennen. Sie will er auch alle ausbilden.
Jetzt wird Döbeln völlig umgebaut. Auf Grund von Restaurierungen und Straßenbau müssen die Fußgänger über Hilfsbrücken etc. an seinem Geschäft vorbeigeführt werden. Dadurch tritt ein Umsatzrückgang von 50 Prozent ein.
In seiner Not wendet er sich an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages und fragt an, ob er irgendeine Hilfe bekommen kann, damit er seine Lehrlinge weiter ausbilden kann und nicht entlassen muß. Er könne sie im Augenblick auf Grund des Umsatzverlustes nicht finanzieren.
Der Petitionsausschuß übermittelt ihm eine Stellungnahme aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18. Juni 1997, derzufolge man, wenn es sich um benachteiligte, lernbehinderte oder ausländische Jugendliche handelt, etwas machen könne, aber bei deutschen und nicht lernbehinderten könne man nichts machen. - Ich bin natürlich dafür, daß man auch etwas für jene unternimmt, aber weshalb man für die anderen nichts unternehmen kann, ist mir völlig unerklärlich. Ich kann Ihnen diese Stellungnahme aus dem Bundesministerium zeigen.
Außerdem teilt man ihm mit, er könne sich an das sächsische Staatsministerium wenden, dort könne man ihm helfen. Wissen Sie, was ihm das sächsische Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit am 25. Juni 1997 mitteilt? Es schreibt: Wir hoffen, daß die Baumaßnahmen bald abgeschlossen sind und es Ihnen wieder bessergeht. Falls das nicht der Fall ist und eine Weiterbeschäftigung der Lehrlinge nicht möglich sein sollte, empfiehlt es, bei der Handwerkskammer Leipzig eine Verkürzung der Lehrzeit zu beantragen. Das Berufsausbildungsverhältnis müßte dann im gegenseitigen Einvernehmen bis zur Beendigung der Straßenbaumaßnahmen für maximal sechs Monate als befristet ruhend vereinbart werden. Das heißt, sie schlagen ihm vor, einfach mit der Ausbildung aufzuhören. Das ist alles. Das ist die Hilfe, die der Staat in einer solchen Situation Ihrem berühmten Mittelstand anbietet. „Unerträglich!", sage ich Ihnen dazu.
({10})
Meine letzte Bitte: Gehen Sie zu den Jugendlichen! Sagen Sie ihnen, weshalb eine Gesellschaft mit 5 Billionen DM Geldvermögen -5000 Milliarden DM! -, die sich Eurofighter und alles andere leisten kann, angeblich nicht in der Lage sein soll, 150 000 Ausbildungsplätze zu finanzieren und damit eine Investition in die Zukunft zu tätigen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Günter Rixe.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Tausende
von Jugendlichen draußen auf der Straße die Reden von Herrn Möllemann - die Rede von Herrn Friedrich haben sie heute morgen schon selber hören können - und die Rede des Herrn Bildungsministers hören würden, dann würden sie überhaupt nicht mehr zur Wahl gehen. Wenn wir soviel Unsinn auf einmal reden, dann besteht die Gefahr, daß .sie die politischen Parteien überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Herr Möllemann, mich interessiert nicht, was Herr Schröder in Niedersachsen sagt.
({0})
Mich interessiert nicht, was Herr Steinbrück in Schleswig-Holstein zu diesem Punkt sagt. Mich interessiert, was die Jugendlichen sagen, die in diesem Lande keine Chance haben.
Am 20. September waren noch ungefähr 150 000 Jugendliche ohne Lehrstelle; innerhalb von 14 Tagen sank die Zahl auf ungefähr 50 000. In der Bibel gibt es die Stelle von der wunderbaren Brotvermehrung bei der Speisung der 5000. Übertragen auf unsere Situation ist dies die wunderbare Verringerung der Zahl lehrstellensuchender Jugendlicher um zirka 70 000 bis 80 000 innerhalb von 14 Tagen. Und dann sollen die Jugendlichen noch an uns glauben? Das glauben sie doch wohl selber nicht. Die Jugendlichen glauben nicht mehr an uns.
({1})
Hat nicht Herr Jagoda das umgesetzt, was die Verbandsvertreter Stihl und Hundt gefordert haben? Sie haben sich immer über die Statistik beschwert. Jetzt hat er sie um 70 000 bereinigt. Wo sind diese Jugendlichen geblieben? Hat er gestern im Ausschuß darauf eine Antwort gegeben? Natürlich nicht. Die Jugendlichen befinden sich ohne Ausbildungsvergütung in der Warteschleife, also in den Schulen und in den außerbetrieblichen Ausbildungsstellen. Sie wollten alle einen Ausbildungsplatz und haben keinen bekommen. Und wir reden darüber, was ein Ministerpräsident und ein Wirtschaftsminister sagen. Das interessiert die Jugendlichen auf der Straße nicht. Sie wollen einen Ausbildungsplatz haben.
({2})
Gott sei Dank gibt es neben Hundt und Göhner noch Wirtschaftsvertreter, die etwas Vernünftiges sagen. Jetzt zitiere ich den Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Paderborn. Er gehört nicht meiner, sondern einer ganz anderen Partei an. Er sagt: Wenn wir nicht langsam eine Umlage einführen, dann bin ich es leid, daß die Handwerksmeister ausbilden und die Industrie die Ausgebildeten abwirbt. Ich mache nicht mehr mit. - Er sagt ferner: Es muß etwas passieren. - Diese Stellungnahme finden Sie in der Wirtschaftszeitung des Handwerks.
({3})
Herr Rüttgers, Sie haben doch vor ein paar Tagen gesagt: Ich bin bereit, für mehr Lehrstellen jeden erfolgversprechenden Weg ohne Ideologie mitzugeGünter Rixe
hen. Was haben Sie aber eben gemacht? Für Ihren Bericht haben Sie die geballte Macht der Bürokratie Ihres Hauses genutzt. Sie haben darüber phantasiert, daß man unser Gesetz, das ganz einfach durchzusetzen ist, nur schwierig und dann über Monate umsetzen kann. Machen Sie doch selbst einen Gesetzentwurf! Soviel traue ich Ihnen aber nicht zu. Ihre Bürokratie zerlegt unseren Gesetzentwurf und ist der Meinung, daß sei ein Beschaffungsinstrument für tausend Beamte. - Quatsch!
Die Umsetzung geht ganz einfach. Unser Gesetzentwurf hat 13 Paragraphen. Frau Bulmahn wird Ihnen gleich einen Gesetzentwurf um die Ohren schlagen, bei dem Sie sich noch wundern werden. Den haben Sie und nicht wir gemacht.
({4})
Unser Gesetzentwurf sieht doch ganz einfache Regelungen vor: Alle Betriebe, die ausbilden, werden belohnt. Wir haben in der Bundesrepublik eine Ausbildungsquote, die laut BIBB 6 Prozent beträgt. Aber nur 25 Prozent aller Betriebe bilden aus. Wenn diese Betriebe nicht über Bedarf ausbildeten, würden wir diese Quote von 6 Prozent gar nicht erreichen. Wer erfüllt diese Quote nicht? Das sind nicht die Handwerksbetriebe. Nach unserem Gesetzentwurf werden 70 bis 80 Prozent aller Handwerksbetriebe - wir haben in dieser Republik 600 000 - überhaupt nicht belastet.
Ich sage von hier aus zu Herrn Schleyer, dem Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, dem ich angehöre und für den ich Beitrag zahle: Er soll sich nicht mit den Vertretern der anderen Arbeitgeberverbände, wie einer Presseerklärung, die heute morgen auf unserem Schreibtisch lag, zu entnehmen war, sozusagen in ein Bett legen. Er soll vielmehr sagen: Das ist alles Unsinn.
80 Prozent seiner Handwerksbetriebe sind gar nicht betroffen. Sie bekommen nach unserem Gesetzentwurf noch einen Bonus. Das ist der Punkt. Aber die Herren gehören zusammen; sie kritisieren und sitzen immer in einem Boot. Herr Schleyer sollte endlich begreifen, daß diese Handwerksbetriebe belohnt werden.
({5})
- Ja, vielleicht braucht er wirklich ein bißchen Nachhilfe.
Wann soll das Gesetz greifen? Wir wollen als Sozialdemokraten 112 Prozent, weil wir nicht nur Quantität, sondern Qualität in der Berufsausbildung haben wollen. Wenn diese Qualität von 112 Prozent erreicht wird, tritt das Gesetz überhaupt nicht in Kraft. Erreicht es diese aber in zwei Arbeitsamtsbezirken nicht, tritt das Gesetz in Kraft, aber dann für die ganze Republik, weil wir nicht wollen, daß die Jugendlichen aus Greifswald, aus Mecklenburg-Vorpommern, wo wir die größten Probleme auf dem Ausbildungsstellenmarkt haben, nach Stuttgart oder nach Karlsruhe übersiedeln, weil dort noch Ausbildungsplätze sind. Wir wollen einen solidarischen
Ausgleich zwischen Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.
({6})
Deswegen wollen wir das Gesetz, wir wollen nicht ein Verrücken von 17- bis 18jährigen Jugendlichen durch die ganze Republik.
Jetzt sage ich Ihnen noch eins. Das Land Sachsen-Anhalt gibt in diesem Jahr, um jedem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu geben oder ihm ein weiteres Schuljahr zu ermöglichen, 86 Millionen DM aus. Hinzu kommen die 22 Millionen DM, die es in diesem Jahr aus dem Sondertopf Ost bekommt. Was könnte dieses Land mit 2,65 Millionen Einwohnern alles zusätzlich machen, wenn wir dieses Gesetz hätten und nicht dieses arme Land die Ausbildung finanzieren müßte?
({7})
Was könnte es mit dem Geld alles machen? Bessere Berufsschulen, mehr Lehrer in den Berufsschulen. Dann hätten wir das Problem nicht. So muß man das sehen und darf nicht Bürokratie ansetzen und uns hier vorzählen, wie viele Hunderte von Beamten bei der Bundesanstalt für Arbeit und in den Arbeitsämtern benötigt werden, um dieses Gesetz umzusetzen. Das Gesetz hat nämlich nur 13 Paragraphen; das ist ganz einfach.
Ich bin Handwerksmeister. Auch ich müßte, wenn das Gesetz in Kraft tritt, auf einer DIN-A4-Seite Fragen beantworten. Ich müßte der Bundesanstalt für Arbeit mitteilen, wie viele Beschäftigte ich habe. Unter Punkt 2 müßte ich angeben, wie hoch die Bruttolohn- und -gehaltssumme ist. Auch das ist ganz einfach, denn ich mache doch Buchhaltung; sonst wäre ich ja verrückt. Wie viele Lehrlinge ich habe, weiß ich im Kopf; das brauche ich nur hinzuschreiben.
({8})
Auch wie hoch die Kosten für die Ausbildung sind, habe ich im Kopf; auch das brauche ich nur hinzuschreiben. Die Gewinn- und Verlustrechnung kenne ich ebenfalls. Habe ich Verlust gemacht, teile ich das mit, und habe ich Gewinn gemacht, teile ich auch das mit. Das steht nämlich in der Bilanz unten links: Gewinn oder Verlust. Das wissen doch alle. Dann haben wir alles. Vier Punkte passen auf so ein kleines Blättchen Papier.
({9})
Ich will bei diesem Gesetz den Arbeitgebern in der Tat glauben. Ich will nicht, daß Hunderte von Beamten durch die Republik reisen und prüfen: Hat der Handwerksmeister Rixe die Zahl seiner Mitarbeiter richtig angegeben, hat er die richtige Lohnsumme und seinen Gewinn angegeben? Man muß doch Vertrauen haben. Aber Rüttgers hat in einem bürokratischen Zwölfmonatswahn aufgelistet, was man daraus alles machen kann. Natürlich könnte man das alles machen, aber ich will das nicht. Man teilt das schlicht
und einfach mit, und dann wird das akzeptiert. Auch Stichproben sind kein Problem. Wegen des Personals braucht man nur einen Anruf bei der Berufsgenossenschaft zu machen; denn auch dort muß ich alles melden. Es reicht, Stichproben zu machen; es muß nicht alles kontrolliert werden. Es wird sowieso alles kontrolliert. Bei diesem Gesetz könnten wir uns das doch ein bißchen einfacher machen.
Ich akzeptiere nicht, was Sie gesagt haben, Herr Möllemann. Ich akzeptiere auch nicht, was Herr Rüttgers gesagt hat. Dieses Gesetz ist ganz einfach umsetzbar. Ich habe nur ein Problem - noch einen Satz -: Wenn ich das dicke Papier sehe, das die BDA am 1. Oktober zu unserem Gesetzentwurf herausgegeben hat, dann kann ich nur sagen: Ein schlimmeres Pamphlet habe ich in den letzten Monaten nicht gesehen. Es ist es ein Skandal! Die großen Arbeitgeber, Mercedes, VW, Ford, Krupp, müssen nach unserem Gesetzentwurf zahlen, weil sie alle ihre Quote von 6 Prozent nicht erfüllen. VW hat 160 000 Mitarbeiter und 6000 Auszubildende in Deutschland, das heißt, die Quote reicht nicht. Mercedes hat 160 000 Mitarbeiter und 6500 Lehrlinge. Auch diese Quote reicht nicht. Bei Mercedes beträgt die Quote 4 Prozent. Mercedes muß also zwei Prozent Umlage zahlen. Bei einem Gewinn im letzten Jahr - das kann man im Amtsblatt nachlesen von 1,85 Milliarden DM - das sind 1850 Millionen DM - muß man eine Umlage von 92 Millionen DM zahlen,
({10})
um das zu leisten, was die vielen Handwerksmeister seit Jahren leisten. So einfach ist das Gesetz. Lesen Sie im Wirtschaftsministerium das Gesetz doch einmal aus dieser Sicht. Dann hätten Sie nicht soviel dummes Zeug erzählt, wie Sie es hier getan haben.
({11})
Herr Kollege Rixe, Ihre Redezeit ist zwar abgelaufen; aber es gibt noch eine Zwischenfrage, die ich zulassen würde. Wollen auch Sie sie zulassen?
Ja.
Herr Kollege Rixe, ich habe eine Frage. Ich kenne nicht jede einzelne Zahl, ich kann sie aus dem Stand auch nicht kontrollieren; deswegen lasse ich sie so stehen, wie Sie sie genannt haben.
({0})
Darf ich fragen, ob die Repräsentanten des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Einzelgewerkschaften - so wie etwa der sich bei Volkswagen im Aufsichtsrat befindliche Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der Ihr Kanzlerkandidat werden soll - vielleicht deswegen nichts an diesem von Ihnen
beklagten Sachverhalt geändert haben, weil sie Ihre Argumentation nicht für stichhaltig halten?
Sie haben mir vorhin gesagt - ich möchte Sie fragen, ob Sie das wirklich ernst gemeint haben -, es sei den jungen Menschen gleich,
({1})
was der Ministerpräsident von Niedersachsen und der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen - ({2})
- Ich habe gefragt, ob er das wirklich ernst meint. Frau Präsidentin, ich glaube, die Frage darf man selbst bestimmen, oder nicht?
Ja, man darf dann nur nicht in inhaltliche Antworten auf die Rede ausweichen.
Ich frage also, ob Sie es wirklich ernst meinen, daß es den jungen Menschen, die sich um ihre Lehrstelle sorgen, egal sei, was Ihr möglicher Kanzlerkandidat und Ihr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen zu dieser Frage sagen. Das wäre ja eine erhellende Feststellung.
Herr Möllemann, Sie haben mich falsch verstanden.
({0})
- Ich habe gesagt: Mir ist es ganz egal, was der Ministerpräsident, die Wirtschaftsminister oder alle anderen Minister auf Ihrer Seite zu diesem Punkt reden; denn die Jugendlichen auf der Straße nehmen denen nicht mehr ab, wenn sie sagen, daß sie sich dafür einsetzen, daß die Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekommen.
Ich will das, meine Fraktion will das, Ihre Fraktion will das; alle wollen, daß jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz bekommt. Wenn wir das nicht schaffen, Herr Möllemann, dann nützt es nichts, daß wir hier die Ministerpräsidenten zitieren. Dann müssen wir diesen Ministerpräsidenten, egal aus welcher Partei sie kommen, sagen: Das ist eine Versündigung an den Jugendlichen; die nehmen uns das nicht mehr ab. - In der Shell-Studie steht dazu wirklich sehr viel.
Die letzten, die in dieser Republik noch Ansehen haben, sind wir, in diesem Hause und in den 16 Häusern der Landtage. Das ist das Problem. Wir alle müssen mit aller Macht dafür sorgen, daß das besser wird. Das wird nicht besser, wenn wir Statistiken verändern, 70 000 Jugendliche verschwinden lassen, sie ein Jahr in die Warteschleife stecken, ihnen keine Ausbildungsvergütung zahlen und sie weiter auf Vaters und Mutters Tasche liegen lassen. Die haben auch kein Geld mehr. Dank Ihrer Regierung wurde denen auch schon das letzte weggenommen, wie auch den Sozialhilfeempfängern.
Ich will den Jugendlichen helfen, nicht mir und nicht Ihnen. Die Jugendlichen sind der Maßstab aller Dinge.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Rainer Jork.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Rixe, lassen Sie mich am Anfang einfach sagen: Ich habe große Achtung vor Ihrem Engagement.
({0})
Ich weiß, daß Sie meinen, was Sie sagen. Ich wünschte mir das an jeder Stelle.
Es geht tatsächlich darum, daß wir gemeinsam gute Wege finden, daß wir uns zuhören und auch überlegen, ob es noch andere Wege gibt. In der Zielstellung sind wir uns einig.
({1})
Ich mußte das einfach sagen, weil wir uns darin grundsätzlich einig sind.
Was uns nun heute als ein Regelwerk für den Leistungsausgleich - so wird es ja bezeichnet - zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben vorliegt, kennen wir vom Vorgang her bereits, wenigstens ähnlich, unter den Bezeichnungen Ausbildungsplatzumlage, -abgabe, finanzieller Ausgleich, aber auch unter Strafsteuer, Zwangsabgabe.
Wir haben abzuwägen, was dieser Vorschlag für die Jugendlichen - um diese geht es uns -, die sich um eine Lehrstelle bemühen, in Zukunft bringen kann. Wir diskutieren ihn auch vor dem Hintergrund, daß die Situation auf dem Lehrstellenmarkt keinesfalls entspannt ist. Zur Zeit - das haben wir gehört - haben 93 Prozent der Bewerber in Deutschland eine Lehrstelle. Auch so herum kann man das einmal sagen.
Interessant ist, daß 94 Prozent aller Schulabgänger in den neuen Bundesländern eine betriebliche Berufsausbildung anstreben. Dazu muß man sagen - auch das kam in der Diskussion auf -, daß zu dieser Zahl das gehört, was wir als Bugwelle oder Warteschleife bezeichnen. Die Nachfrage spricht entgegen allen Unkenrufen für die ungebrochene Attraktivität des dualen Systems.
Der uns vorliegende Vorschlag der SPD ist an den Kriterien zu messen, die das duale System der Berufsausbildung nicht zuletzt aus Sicht des Auslandes so attraktiv machen. Das sind vor allem die Qualität der Ausbildung, die Praxisnähe und die Chance, im Anschluß an die Ausbildung möglichst einfach einen Arbeitsplatz zu bekommen.
Damit ist die Frage nach der Fähigkeit und dem Willen der Wirtschaft und der öffentlichen Arbeitgeber zu stellen, sich zu ihrer Ausbildungspflicht zu bekennen. Genauso ist - diese Seite wird oft vernachlässigt - nach der Leistungsbereitschaft, der Orientierung und der Mobilität von Bewerbern zu fragen.
Wo liegen also die Ursachen für die Defizite auf dem Lehrstellenmarkt? Immer wieder werden verschiedene Punkte genannt. Es werden die Kosten der Ausbildung genannt - was leider allzu häufig auf einem begrenzten Nutzenverständnis basiert -, die Organisation des Berufsschulunterrichtes hinsichtlich Ort und Zeit, die Ausbildungsreife der Bewerber, die Existenzsorgen vieler Betriebe - das gilt vor allem für die neuen Bundesländer - und schließlich die Relation zwischen den Berufswünschen der Jugendlichen, die sich auf wenige Berufe konzentrieren, und dem betrieblichen Angebot.
Der uns vorliegende Gesetzentwurf der SPD wird diese Defizite nicht beseitigen. Die Umlage - egal, wie sie genannt wird - hat Systemmängel, die das Erreichen des angestrebten Ziels von vornherein in Frage stellen. Ich möchte diese Mängel, soweit ich sie sehe, nennen und anschließend darauf eingehen, was zu tun ist.
Erstens. Das vorgeschlagene Verfahren unterstellt, daß die gemeinsame Verantwortung von Wirtschaft, öffentlichen Arbeitgebern und Tarifpartnern nicht mehr funktioniere. Ich empfinde das als Verhöhnung der Anstrengungen der Beteiligten. Sie setzen nämlich auf Konfrontation statt auf Kooperation. Wenn wir von öffentlichen Auftraggebern sprechen, dann möchte ich gerne hören, daß die Gewerkschaften Partner für Lehrstellen in diesem Bereich sind.
Zweitens. Der Vorschlag verengt durch seine Begrenzung auf Finanzierungsfragen die gemeinsame Verantwortung der Partner. Die schon genannten Grundziele der dualen Berufsausbildung bleiben dabei auf der Strecke.
Drittens. Der Vorschlag will die Bundesregierung darauf verpflichten, bereits zum 1. April statistische Angaben zu ermitteln. Alle, die damit zu tun haben, wissen, daß das einfach nicht möglich ist. Der Bundesminister Rüttgers hat bereits darauf hingewiesen.
({2})
Viele Stellen, vor allem in den freien Berufen, werden überhaupt nicht gemeldet. Das wissen Sie, Herr Tauss. Oft bewerben sich Jugendliche mehrfach. Damit tun sie übrigens genau das, was wir ihnen immer raten. Außerdem tauchen viele Bewerber in den Statistiken auf, die sich schließlich doch für ein Studium entscheiden. Das staatlich verordnete Überangebot kann und wird es nicht geben.
({3})
- Sie können gerne eine Frage stellen.
Viertens. Der Entwurf nennt zwar den hohen Anteil staatlich geförderter Lehrstellen in den neuen Bundesländern ({4})
- ich möchte meine neun Punkte gerne erst zu Ende bringen -, der bei etwa zwei Dritteln liegt, zieht aber genau den falschen Schluß. Mit der Umlage werden nämlich keine neuen betrieblichen Stellen geschaffen; vielmehr werden lediglich die weniger guten außerbetrieblichen vermehrt.
Fünftens. Die genannte Differenz, die durch Orientierung auf die Daten des jeweiligen Vorjahres entsteht, behindert die erforderliche Dynamik bei der Einrichtung und Einführung neuer Berufe.
Sechstens. Der für Innovationsschübe bei allen Partnern erforderliche Anpassungsdruck entfällt. Ich beziehe mich ausdrücklich auf das, was auf der Seite 4 des SPD-Gesetzentwurfes steht, wo zum Beispiel gesagt ist, daß die Ausbildungsplätze „nicht die gewünschte Qualität bieten". Unabhängig davon, daß dies durch eine Umlage nicht besser wird: Auch die Qualität der Bewerber spielt eine Rolle. Es entfällt, wie gesagt, der Anpassungsdruck. Die Bewerber werden nicht zu mehr Leistung angeregt. In Sachsen zum Beispiel - ich habe mir die Zahlen einmal geben lassen - haben 40 Prozent derer, die bisher noch keine Lehrstelle haben, einen Notendurchschnitt, der schlechter als 4 ist.
({5})
Dann darf man doch nach Leistung fragen. Das bedeutet doch etwas.
({6})
- Darüber sprechen wir noch.
Es handelt sich also nicht nur um eine Frage des Geldes, wie es uns die SPD vormacht, sondern sehr wohl auch um eine Frage der Qualität.
Herr Kollege, Sie hatten gesagt, Sie wollten den Punkt zu Ende bringen. Kollege Bertl wollte eine Zwischenfrage stellen.
Ich wollte eigentlich meine neun Punkte zu Ende bringen. Aber machen wir es eben so.
In Ordnung. Ich stoppe ja auch Ihre Redezeit.
Herr Kollege, ist Ihnen erstens bekannt, daß am 30. September dieses Jahres in der Statistik für den Berufsbildungsbericht - ich glaube, das ist wichtig - auf der einen Seite die Anzahl der abgeschlossenen Verträge und auf der anderen Seite die bei den Berufsberatungen noch gemeldeten Bewerber aufgeführt werden, daß aber diejenigen herausfallen, die in sogenannten Warteschleifen
sind? Insofern spielen Doppelbewerbungen und Sonstiges keine Rolle in der Beurteilung der realen Zahl.
Herr Kollege, ist Ihnen zweitens bekannt, daß im dualen System - dies ist sicherlich eine herausragende Leistung des dualen Systems - auf der Seite der Ausbilder auch die Lehrer eine Rolle spielen und daß das Abschlußzeugnis insofern kein entscheidender und signifikanter Hinweis für den beruflichen Erfolg eines jungen Menschen ist? Hier ist vielmehr auch an die Ausbildungsleistung der Betriebe und der Ausbilder zu denken.
Ich stimme Ihnen zu. Es ist der Tenor meiner Rede vom 15. Mai dieses Jahres gewesen, daß es hier immer um partnerschaftliche Fragen geht. Das Ganze betrifft nicht nur die Schüler, nicht nur die Lehrer, nicht nur die Wirtschaft und nicht nur die Gewerkschaft. Diese Feindzuweisung sollten wir endlich lassen und überlegen, was wir gemeinsam tun. Ich stimme Ihnen also in diesem zweiten Punkt ausdrücklich zu.
Zur Doppelbewerbung: Ich kenne den konkreten Fall im Kammerbezirk Dresden, wo ein Bewerber vier Lehrverträge im Schubkasten hat. Dort handelt es sich also nicht nur um Doppelbewerbungen, sondern um Mehrfachbewerbungen. Man muß irgendwie dazu kommen, daß man das tatsächliche Angebot mit der tatsächlichen Nachfrage abgleicht.
Möchten Sie eine zweite Zwischenfrage zulassen? - Bitte.
Herr Kollege, wenn in einem Kammerbezirk Mehrfachverträge abgeschlossen werden, ist das nicht ein Problem der Jugendlichen, sondern ein Problem des Kammerabgleichs. Denn das hätte die Kammer feststellen müssen. Solche Dinge kommen vor. Dies alles aber sind keine Fakten, die die Anzahl von Ausbildungsstellen und die Problematik der Nachfrager letztendlich beeinflussen. Wir sollten diesen Nebenkriegsschauplatz verlassen.
({0})
Ich muß feststellen, daß Sie mich nicht richtig verstanden haben. Ich habe gesagt, daß ein Bewerber vier Lehrverträge im Kasten hat. Ich habe nicht gesagt, daß sie abgeschlossen worden sind. Wenn sie abgeschlossen worden wären, hätten Sie recht. Ich habe aber etwas anderes gesagt.
Die Anzahl der Lehrstellen ist schon ganz wesentlich davon abhängig, wie ich tatsächlich jene erfasse, die die Lehrstelle später auch in Anspruch nehmen. Das ist eigentlich der Hintergrund.
Ich habe vorhin sechs Punkte angeführt. Ich möchte daran wieder anknüpfen. Ich habe noch Punkt 7.
({0})
- Herr Tauss, Sie können zählen. Ich beglückwünsche Sie.
Siebtens. Die Umlage bedeutet eine Loslösung des Lehrstellenangebotes vom betrieblichen Bedarf und lädt zum Freikauf ein.
Achtens. Die Umlage ist ein bürokratisches Monstrum. Da teile ich sehr wohl den Standpunkt, den Bundesminister Rüttgers vertreten hat.
({1})
Für mich ist das eine ABM im Bereich der Verwaltung, die zusätzliche Kosten mit sich bringt. Es ist kaum vorstellbar, wie in jedem Jahr eine Flut von Abgabe-, Ausnahme- und Widerspruchsbescheiden
({2})
- Herr Rixe, die gehören dazu - durch Arbeitsverwaltungen bewältigt werden soll, geschweige denn, wie dies alles - dies betrifft zum Beispiel auch die Verwaltungskosten - in überschaubarem Umfang ablaufen soll. Das steht wörtlich so in Ihrem Gesetz.
Ich sage noch, neuntens - ich möchte wenigstens mit diesem Punkt zu Ende kommen - und letztens ignoriert der Vorschlag, der ja so gelehrt auf Modelle in Dänemark und in Frankreich hinweist, die Erfahrungen, die dort gemacht werden. Herr Scharping hat angemahnt, internationale Vergleiche heranzuziehen. Ich möchte zur Aussage über Dänemark ergänzen: In Frankreich ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 27,3 Prozent etwa dreimal so hoch wie in Deutschland. Das ist für mich kein Modell. Wir müssen Zusammenhänge sehen.
({3})
So, wenn Sie jetzt möchten.
Ja, bitte.
Herr Jork, Sie haben gerade wieder - das hört man immer aus allen Ihren Richtungen und auch von den Arbeitgebern - gesagt, die würden sich freikaufen. Jetzt erklären Sie mir einmal, wenn Sie das Gesetz gelesen haben, von § 1 bis § 13, wie man sich aus diesem Gesetz überhaupt freikaufen kann. Wir haben es so gemacht, daß das in der Tat keiner kann. Nun verwechseln Sie es bitte nicht mit dem Schwerbehindertengesetz. Da kann man das.
Wenn Sie mir erklären, wie man das kann, dann würde ich mich wundern.
({0})
Ich würde mir dann schon gerne mal mit Ihnen zusammen das Gesetz hernehmen. Ich glaube, das schaffen wir nicht, das muß man konkret machen.
({0})
- Ja, ich bin zu dem Ergebnis gekommen, und ich werde dann zu dem gleichen Ergebnis kommen, es sei denn, Sie überzeugen mich an Hand der Dinge, die man sich dann konkret ansehen muß.
({1})
- Entschuldigen Sie, ich kann doch jetzt nicht das Gesetz hernehmen - ich habe es auch gar nicht hier - und Paragraph für Paragraph durchgehen. Ich sehe direkt die Parallele zu dem, wie man mit Behinderten umgeht.
({2})
Es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Nein, ich möchte mal zum Ende kommen. Es scheint ja hier mehr eine Strategie dahinterzustehen, so daß das Konzept nicht mehr zu erkennen ist.
Ich wollte noch sagen - weil das immer angemahnt wird -, was man eigentlich tun sollte. Ich meine, daß man das mehr zur Kenntnis nehmen sollte. Aus meiner Sicht geht es darum, die Modernisierung der Berufe fortzusetzen und zu beschleunigen. Wir haben gehört, daß in zukunftsfähigen Berufen, zum Beispiel im Bereich der Informationstechnik, tatsächlich neue Lehrverträge abgeschlossen sind. Es geht mir um die flexible Nutzung der Ausbildereignungsverordnung. Es gibt bei uns eine ganze Menge ausbildungswilliger Betriebe, die wegen bürokratischer Hemmnisse nicht in der Lage sind - obwohl sie fachlich dazu in der Lage wären -, Lehrlinge auszubilden.
Ich meine auch, wir sollten über ein geeignetes Rückmeldesystem nachdenken, wie es in Thüringen und Sachsen auf freiwilliger Basis praktiziert wird, um genauere Zahlen zu bekommen und die Blockade von Plätzen durch Mehrfachbewerber - ich sage es noch einmal - zu vermeiden. Übrigens denkt man in Sachsen darüber nach, die freien Lehrstellen im Internet anzubieten. Warum eigentlich nicht?
Das Wichtigste ist, und bleibt - das möchte ich abschließend betonen - eine effektive Wirtschaftsförderung.
({0})
Wirtschaftlich stabile Betriebe werden auch in Zukunft ein genügend großes Angebot an Lehrstellen bereitstellen. Dies gilt vor allem für Ostdeutschland, wo dem Hauptproblem, nämlich dem Fehlen von BeDr.-Ing. Rainer Jork
trieben, mit einer Umlage eben nicht abgeholfen wird.
Ich fasse zusammen:
({1})
Hier wird etwas als Alternative zur Verstaatlichung des Berufsausbildungssystems verkauft. Das ist schlicht falsch. Dieser Vorschlag ist die Verstaatlichung des Systems der dualen Berufsbildung.
({2})
Ich halte einen Lehrstellenverbund der Partner für erforderlich. Mit bundeszentralistisch-bürokratisch gesteuertem Klingelbeutel kann das komplexe Problem keinesfalls gelöst werden.
Danke.
({3})
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Dem Protokoll entnehme ich, daß während der Rede des Ministers der Herr Kollege Schreiner dem Minister unterstellt hat: „Sie lügen pausenlos!" Dafür muß ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilen.
({0})
- Ich weiß, Sie haben eine Sammlung angelegt; aber wir hatten vereinbart, uns nicht mit Verbalinjurien zu überziehen, schon gar nicht wegen Übertretung der zehn Gebote.
({1})
Als nächster erteile ich das Wort der Abgeordneten Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja nicht so, daß die Einbringung des Gesetzes zur Ausbildungsplatzabgabe sowohl von seiten der SPD als auch von seiten der Grünen absolut bejubelt wird,
({0})
daß wir total froh sind, endlich ein neues Regelungsgesetz vorlegen zu dürfen. Das verdreht die Debatte vollkommen.
Ausgangspunkt ist, daß hier eine Notsituation herrscht, der auf dem Wege des Konsenses und Appells - diesen Weg zu beschreiten ist ja versucht worden, vom Kanzler höchstpersönlich - offensichtlich nicht beizukommen ist. Der Hintergrund ist, daß
jetzt, nach dem ersten Versuch einer freiwilligen Regelung ein zweiter Versuch unternommen wird, der dann allerdings in Richtung Regelung auf ordnungspolitischer Seite geht.
({1})
Diesen Teil, Minister Rüttgers, haben Sie ausgelassen. Sie haben ausgelassen, daß am 15. März 1995 eine Runde beim Kanzler stattgefunden hat unter Beteiligung der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften und daß sich dort die Wirtschaftsverbände verpflichtet haben, innerhalb von zwei Jahren die Zahl der Ausbildungsplätze um 10 Prozent zu erhöhen.
Dann, Herr Minister Rüttgers, nehmen Sie bitte aus der „FAZ" eine wunderbare Karte, auf der man sehen kann, was sich seitdem entwickelt hat. Entwickelt hat sich, daß sich seit dieser Kanzlerrunde entgegen den Vereinbarungen, die dort getroffen worden sind, das Lehrstellenangebot kontinuierlich nach unten entwickelt hat.
({2})
Die Gewerkschaften hatten allerdings in diesem Konsensgespräch ihre Idee der Ausbildungsumlage in der Schublade verschwinden lassen. Sie kommt hier wieder auf die Tagesordnung, nachdem der Appell und die freiwillige Lösung, die vor zwei Jahren vereinbart worden sind, von seiten der Wirtschaftsverbände und der Wirtschaft nicht realisiert worden sind. Mit dieser Situation hat man es hier zu tun. Dem müssen Sie sich stellen. Darüber haben Sie einfach hinweggeschwiegen.
({3})
Es gibt also eine Lektion der vergangenen zwei Jahre, an der müssen Sie sich bitte die Zähne ausbeißen. Offensichtlich kommt das Haus an einer Politik mit Zuckerbrot und Peitsche nicht vorbei. Wir hatten diese Situation schon einmal. Es gab von 1976 bis 1980 bereits ein Ausbildungsplatzförderungsgesetz, übrigens unter einem Kanzler - das möchte ich zum Trost für die gequälten Genossen der Sozialdemokratie sagen -, der dieses Gesetz auch nicht geliebt hat.
({4})
Das Interessante bei diesem Gesetz war, daß es seit dem Tag, am dem es in Kraft getreten ist, nicht zur Anwendung gekommen ist. Es ist nicht zur Anwendung gekommen, weil die Drohung mit der Peitsche ausgereicht hat, daß Bewegung in die Wirtschaft gekommen ist. Das war das Interessante an dem Gesetz.
({5})
Das ist auch das Pfiffige und das Zentrale an der Idee von dem Gesetzesvorschlag der Grünen. Es ist nämlich ein Gesetz, das im Vorspann sagt: Wir wollen gar nicht, daß unser Gesetz zum Einsatz kommt. Wir setzen noch einmal eine Zweijahresfrist. Das ist genau
Marieluise Beck ({6})
die Frist, in der die Peitsche an der Wand hängt und das Zückerchen ausgelegt ist.
Wenn die Wirtschaft diesen Konsensvereinbarungen, diesen Versprechungen nachkommt, was wir zuallererst wollen - denn wir setzen auf Freiwilligkeit und auf Regelung als zweitbeste Lösung -, dann wird dieses Gesetz überhaupt nicht greifen müssen, dann wird das Ganze unter den Tarifpartnern in den Branchen ausgehandelt. Dann ist alles wunderbar, und alle sind zufrieden.
({7})
Nun geht es allerdings nicht nur um die Ausbildung von Jugendlichen, um die 50 000 und vermutlich mehr, die jetzt unversorgt sind.
({8})
Wir haben noch eine zweite Gruppe von jungen Menschen, über die wir diskutieren müssen. Das sind die 500 000 jungen Menschen unter 25, die ohne Arbeit sind. Um die müssen wir uns auch Gedanken machen. Da hilft allerdings ein Blick über den Tellerrand und nicht der Verweis, daß es in anderen europäischen Ländern schlechter ist. Es hilft der Verweis darauf, daß die neuen Regierungen in Frankreich und England dieses Problem tatsächlich zu einem Hauptprojekt ihrer neuen Regierungstätigkeit, des Regierungswechsels gemacht haben. Da tut sich etwas, weil diese Regierungen verstanden haben, daß man das Problem nicht einfach so als gesellschaftliche Normalität akzeptieren kann.
({9})
Die Kollegen von der SPD-Fraktion haben mit dem heute vorgelegten zweiten Antrag sehr wohl belegt, daß sie den Blick über den nationalen Tellerrand riskiert haben. Es gibt darin viele Ansätze, die wir für sehr gut halten.
Das Interessante ist, daß wir bei der ersten Schwelle Lösungsansätze für die zweite Schwelle brauchen; diese stehen sehr stark mit dem ersten Arbeitsmarkt in Verbindung. Es geht um Altersteilzeit, um die Regelungen der Rotation, also der Verbindung von Qualifikation und Freisetzung von Erwerbstätigen. Wir müssen kommunizierende Röhren herstellen, indem diejenigen, die im ersten Arbeitsmarkt sind, beispielsweise über Teilzeitregelungen für die anderen draußen, die Jugendlichen, Platz machen müssen.
({10})
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist längst überschritten. Bitte kommen Sie zum letzten Satz.
Ich komme zum Schluß.
Altersteilzeit und Jugendarbeitslosigkeit haben viel miteinander zu tun. Der Einstieg für junge Leute wird auch dadurch geschaffen, daß wir Möglichkeiten für Pausen und Ausstiege aus der Erwerbstätigkeit gesetzlich regeln, unterstützen und dafür Mittel der Bundesanstalt für Arbeit einsetzen. Wir müssen hier eine Verbindung herstellen.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Julius Louven, CDU/CSU- Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Handwerkskollege Rixe, als ich eben Ihre Rede hörte, ist mir klargeworden, warum Sie heute morgen bei dem Gespräch mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks gefehlt haben. Dort haben wir uns nämlich sehr ausführlich auch über die Problematik des Ausbildungsmarktes und über Ihren Gesetzentwurf unterhalten. Dabei ist deutlich geworden, daß die Dinge nicht so einfach sind, wie Sie sie hier darstellen.
({0})
Es ist unstreitig, daß wir im Ausbildungsbereich große Probleme haben. Sie wollen uns sicherlich auch nicht absprechen, Herr Rixe, daß wir den jungen Menschen helfen wollen. Ich glaube aber, man muß schon tiefer einsteigen und die Problematik etwas grundsätzlicher diskutieren.
({1})
- Fangen Sie schon wieder an?
Ich will zunächst einmal sagen: Während allenthalben darüber gesprochen wird, daß wir in unserer Bürokratie ersticken, und wir draußen die Wut über die Bürokratie erfahren, legen Sie hier einen Gesetzentwurf vor, der die Bürokratie in einem grandiosen Umfang ausweitet.
({2})
Ich vermute, daß kaum jemand von den Unterzeichnern dieses Antrags wirklich weiß, wie es insbesondere im mittelständischen Bereich um die Ausbildung bestellt ist und wo die Probleme für die mangelnde Ausbildungsbereitschaft liegen.
Das beginnt in Ihrem Antrag mit der Forderung, daß leistungsgeminderte Jugendliche staatlicher Hilfe bedürfen. Dies ist bereits im Arbeitsförderungsgesetz eindeutig geregelt.
({3})
I Hier gibt es einen Rechtsanspruch. - Kein Wort aber von Ihnen darüber, daß die Zahl der Leistungsgeminderten von Jahr zu Jahr anwächst, auch kein Wort darüber, daß es doch eigentlich Aufgabe der Länder ist, dafür zu sorgen, daß die Schulsysteme - außer bei den echt Behinderten - zu einem qualifizierten Abschluß führen.
({4})
Es ist doch in Wirklichkeit so, daß die Leistungsbereiten keine großen Probleme haben, einen Ausbildungsplatz zu finden.
({5})
Für die echt Behinderten gibt es staatliche Förderprogramme. Sorge bereiten uns die weniger Qualifizierten.
({6})
An dieser Stelle will ich als jemand, der in seinem Beruf selbst ausgebildet hat, in aller Deutlichkeit sagen, daß Sie keinem Handwerksmeister zumuten können, einen jungen Menschen einzustellen, der auch nicht annähernd den Hauptschulabschluß erreicht,
({7})
der nicht im geringsten Leistungsbereitschaft zeigt und bei dem auch das Elternhaus nichts getan hat, um zu einer verbesserten Situation zu kommen.
({8})
- Ich sage jetzt meine Meinung; diese müssen Sie ertragen. - Dieser Handwerksmeister hat selbst bei intensivsten Bemühungen kaum eine Chance, einen solchen jungen Menschen erfolgreich durch die Gesellenprüfung zu bringen, was wiederum auf ihn bzw. den Ausbildungsbetrieb zurückfällt.
Es kann aber auch nicht angehen, daß all diese jungen Menschen in Förderprogramme des Bundes kommen. Hier sind die Länder aufgefordert, ihre Hausaufgaben zu machen; der Bund kann nicht Reparaturbetrieb der Schule sein.
Was ich hier aus der Sicht eines Handwerksmeisters sage, trifft sicher auch für andere Bereiche zu. Ich glaube nicht, daß es Ihnen gelingt, mir nachzuweisen, daß Sie da, wo Sie Verantwortung tragen, in den Kommunen, bei den Sparkassen, in den Gewerkschaften, ein anderes Einstellungsverhalten an den Tag legen.
({9})
Wenn Sie hier mit Zahlen hantieren - Herr Scharping hat das getan -, die ein Versagen der Politik signalisieren sollen, dann kann ich nur sagen: In der Statistik müßten eigentlich auch Angaben darüber enthalten sein, wie hoch die Zahl der Ausbildungsunfähigen ist.
({10})
Wenn hier schon Zahlen genannt werden, dann möchte ich Ihnen, Herr Rixe, eine Zahl nennen, die wir heute morgen beim Handwerk gehört haben.
({11})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
({12})
- Darüber, was ausbildungsunfähig ist, entscheiden nicht Sie, sondern darüber entscheiden die Betriebe. Sie tragen auch die Verantwortung für die jungen Menschen.
Ich will Ihnen jetzt die Zahl nennen, die heute morgen vorgetragen wurde, Herr Rixe. Die Handwerkskammer Reutlingen hat eine Last-Minute-Aktion gestartet. Über 1000 junge Leute, die keinen Ausbildungsplatz haben, sind angeschrieben und gebeten worden, zu einem Termin im Rahmen einer Ausbildungsbörse zu kommen. 40 sind gekommen; 40 sind vermittelt worden. 960 haben es nicht für nötig gehalten, zu kommen.
Nun glauben Sie, mit einem Förderprogramm, das aus einer Ausbildungsabgabe finanziert wird, die Probleme lösen zu können. Dies ist nach meiner festen Überzeugung jedoch pure Illusion. Ihre Maßnahmen laufen mit Sicherheit ins Leere. Eine grundsätzliche Verpflichtung aller Arbeitgeber per Gesetz, auszubilden, verkennt die Situation. Die Festschreibung einer gesetzlichen Ausbildungspflicht dürfte wegen der verfassungsrechtlich garantierten wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit auch gar nicht möglich sein.
Der bürokratische Aufwand bei Ihrem Gesetzentwurf - das sagte ich schon - ist gewaltig. Sie müßten Behörden, voraussichtlich die Arbeitsämter, damit beschäftigen, alle Betriebe zu erfassen, die Einhaltung der Ausbildungsverpflichtung zu überprüfen oder zu prüfen, ob ein Ausnahmefall bzw. eine Befreiung in Betracht kommt.
({13})
Für das Inkasso wollen Sie dann noch die Unfallversicherung in Anspruch nehmen.
Nein, Herr Rixe, so einfach, wie Sie das hier darstellen, ist es wirklich nicht.
({14})
Ihr Gesetz wirkt auf die Betriebe demotivierend und bestraft Betriebe, die keinen Lehrling finden - so etwas gibt es auch -, und vor allem sollten Sie die Gefahr des Freikaufens nicht übersehen.
({15})
Ich wundere mich auch, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie trotz der eindeutigen Aussagen der Ministerpräsidenten Simonis, Beck und Schröder sowie des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers Clement, die ja eine Ausbildungsabgabe aus
guten Gründen ablehnen, diesen Gesetzentwurf vorlegen.
({16})
Erwähnenswert, Herr Rixe, ist auch - ich lasse keine Zwischenfragen zu -,
({17})
daß in Ihrem Leitantrag für den Parteitag im Dezember - der Leitantrag datiert vom 15. September - die Wörter „Ausbildungsabgabe" und „Umlage" nicht ein einziges Mal vorkommen.
({18})
Sollte es Ihnen gelingen - diese Gefahr sehe ich nicht -, daß dieser Gesetzentwurf im Bundestag verabschiedet wird, dann würde der Gesetzentwurf im Bundesrat mit einer riesigen Mehrheit abgelehnt werden; die Blamage wäre perfekt.
({19})
Von daher kann man wohl behaupten, daß Sie selbst im Falle eines Wahlsieges im nächsten Jahr - den sehe ich allerdings auch nicht - einen solchen Gesetzesentwurf nicht noch einmal vorlegen werden.
({20})
Nun verkenne ich nicht, daß wir im Ausbildungsbereich Probleme haben. Ich sagte dies. Sie sind vielschichtig, und wir sollten sie unvoreingenommen diskutieren. Dabei sollten wir aber auch darauf achten, daß die Hausaufgaben da gemacht werden, wo sie hingehören. Wenn - wie vorgestern im Ausschuß - argumentiert wird, es gebe doch jetzt schon eine Umlagefinanzierung im Ausbildungsbereich, beispielsweise im Baubereich oder bei der überbetrieblichen Ausbildung,
({21})
so ist dies ja wohl etwas völlig anderes, und freiwillige Regelungen sollten nicht beanstandet werden.
({22})
Meine Damen und Herren, ich will in bezug auf die freiwilligen Regelungen sagen:
({23})
Auf Grund der Spezialisierung, die auch im Handwerk Einzug gehalten hat, wird nicht mehr die ganze Breite an möglichen Ausbildungsinhalten angeboten; von daher ist überbetriebliche Ausbildung notwendig. Dies ist richtig, und dies sollten wir sogar fördern.
({24})
Immer wieder wird auch die Ausbildungsvergütung als hemmend angesprochen.
({25})
Ich habe einmal einem Obermeister, der sich bei mir darüber beklagte, klarmachen müssen, daß dies doch im Tarifvertrag geregelt ist und daß die Tarifverträge weder von Helmut Kohl noch von Minister Rüttgers, noch von mir unterschrieben sind. Man kann sich nur darüber wundern, daß dieses Detailwissen im Handwerk nicht vorhanden ist.
Meine Damen und Herren, ich muß zum Schluß kommen. Sie sollten auf Ihre Parteifreunde Schröder, Beck, Simonis und Clement hören. Diese Ihre Parteifreunde haben recht: Werfen Sie Ihren Antrag und Ihren Gesetzentwurf in den Papierkorb. Mehr hat er nicht verdient. Wer mittelstands- und handwerksfreundlich sein will, wie Herr Scharping es hier zum Ausdruck gebracht hat, der darf einen solchen Gesetzentwurf nicht vorlegen.
({26})
Ich erteile dem Abgeordneten Rixe das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Konditormeister Louven, Sie haben eben angesprochen, daß ich heute morgen nicht beim Frühstück beim Zentralverband des Deutschen Handwerks war. Ich saß noch im Zug, sonst wäre ich gerne dagewesen. Sie haben gesagt, heute morgen hätten Sie darüber diskutiert, daß eine Menge dessen, was im Gesetzentwurf steht, für das Handwerk nicht machbar sei.
Wenn Sie diesen Gesetzentwurf gelesen haben, muß ich Sie folgendes fragen: Akzeptieren Sie, daß gemäß § 9 unseres Entwurfes alle Handwerksbetriebe mit nicht mehr als fünf Beschäftigten oder einer Bemessungsgrundlage von weniger als 500 000 DM von der Ausbildungsplatzumlage ausgenommen werden und dies zirka 60 bis 70 Prozent der Handwerksmeister betrifft? Akzeptieren Sie, daß Herr Schleyer, unser Generalsekretär, dies zur Kenntnis nehmen sollte, statt so etwas mit Ihnen als Kollegen von der CDU zu behaupten? Akzeptieren Sie weiter, daß auch Existenzgründer in den ersten beiden Jahren ausgenommen werden? Und akzeptieren Sie, daß auch Firmen, die finanzielle Probleme haben - auf Grund von Forderungen ihrer Kunden, ihrer Lieferanten oder auch des Finanzamts -, auf Antrag ausgenommen werden können?
Ich als selbständiger Handwerksmeister für Gas- und Wasserinstallationen frage Sie als selbständigen Handwerksmeister, ob Sie dies alles nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Herr Kollege Louven, Sie haben das Recht, zu antworten. Bitte schön.
Herr Handwerkskollege Rixe, wir haben das Gespräch mit der Spitze des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks heute morgen nicht nur unter CDU-Kollegen geführt. Vielmehr waren auch Kollegen der SPD und der F.D.P. anwesend. Es war - dies nur zur Klarstellung - keine einseitige Veranstaltung.
Zu Ihren Fragen, ob ich dieses und jenes akzeptiere: Ich habe Ihnen meine Meinung zu Ihrem Gesetzentwurf gesagt. Ich habe am Sonntag Ihren Antrag gelesen und mich dabei wirklich gefragt, wie es nur möglich ist, daß so viele ehrenwerte Damen und Herren unterzeichnet haben. Sie können also davon ausgehen, daß ich Ihren Gesetzentwurf gelesen habe.
({0})
Ich habe Ihnen dazu meine Meinung gesagt und dem nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ottmar Schreiner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Art und Weise, wie die Koalitionsabgeordneten, zuletzt in Gestalt des f a-mosen Abgeordneten Louven, die hier vorliegenden Anträge und Gesetzentwürfe diskutieren, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.
({0})
Lieber Kollege Louven, es nutzt den 550000 jungen Männern und Frauen unter 25 Jahren, die weder einen Ausbildungs- noch einen Arbeitsplatz haben, überhaupt nichts, wenn hier im deutschen Parlament der Schwarze Peter vom Bund auf die Länder und von den Ländern auf den Bund geschoben wird. Sie wollen eine ernsthafte Debatte darüber, mit welchen Instrumenten und wann wir bereit sind, an der Lösung ihrer Probleme mitzuwirken. Das ist ihr Interesse. Ein übles Schwarzer-Peter-Spiel, wie so oft inszeniert, hilft da gar nichts.
({1})
Sie haben neben dem Gesetzentwurf der SPD- Bundestagsfraktion auch den Antrag „Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit" vor sich liegen. Zum erstenmal, soweit ich mich entsinnen kann, fordert die SPD-Bundestagsfraktion ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.
Wir haben mehrere Motive dafür. Erstens. Die Jugendarbeitslosigkeit - ich habe die Zahl eben genannt: Inzwischen sind 550 000 Jugendliche, also
deutlich über eine halbe Million, arbeitslos - hat eine Quote erreicht, etwa 13 Prozent, die über der Quote der allgemeinen Arbeitslosigkeit liegt. Das war in früheren Jahren und Jahrzehnten umgekehrt. Ihre zentralen politischen Fehler der vergangenen Jahre beginnen Sie hier einzuholen. Es ist völlig unsinnig, bei dramatisch hoher Arbeitslosigkeit die Lebensarbeitszeit der Menschen zu verlängern,
({2})
weil dies dazu führt, daß die Älteren immer länger arbeiten müssen und der Einstieg für die Jüngeren immer schwieriger wird.
({3})
Die Jugendlichen sind arbeitslos, und die Alten gehen bis ins hohe Alter arbeiten - das ist eine völlig unsinnige Politik. Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder gesagt.
({4})
Zweiter Punkt. In keinem anderen Land der Europäischen Union ist die allgemeine Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren so stark gestiegen wie in der Bundesrepublik Deutschland, und in allen anderen Ländern der Europäischen Union gibt es inzwischen Sondermaßnahmen zur Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit.
Ihre Redner verweisen uns immer wieder auf Herrn Blair. Die britische Regierung setzt 3,5 Milliarden Pfund zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein.
({5})
Die französische Regierung hat ein Sonderprogramm beschlossen mit dem Ziel, die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen in Frankreich um 350 000 zurückzuführen.
({6})
Nun kann man immer noch sagen: Die Arbeitslosenquote der französischen Jugendlichen ist höher als die Arbeitslosenquote der Jugendlichen in Deutschland. Meine Güte, die Logik dieses Arguments ist: Sie wollen warten, bis wir die französische Quote erreicht haben. Das ist die Logik Ihrer Argumentation.
({7})
Die holländische Regierung hat einen sogenannten Arbeitsplatzgarantieplan aufgestellt, der dafür sorgen soll, daß kein junger Mensch, weder Mann noch Frau, weder Mädchen noch Jungen, in Holland ohne Ausbildungsplatz bleibt.
Sie sind bezüglich der Zukunftsperspektiven der jungen Generation mit großem Abstand die rückständigste Regierung in der Europäischen Union!
({8})
Minister Rüttgers, Sie sollten um Gottes willen nie mehr von dem Titel „Zukunftsminister" Gebrauch machen. Sie sind der „Vergangenheitsminister" par excellence.
({9})
Sie tragen den Bart des Methusalem mit sich herum.
({10})
Gemessen an dem, was Sie hier heute mittag dargeboten haben, ist Methusalem geradezu eine dynamische Kraft gewesen.
({11})
Ich will auf ein drittes Argument aufmerksam machen, meine Damen und Herren. Wir hatten von seiten der SPD-Bundestagsfraktion vor einigen Monaten die Autoren der 12. Shell-Jugendstudie eingeladen. Diejenigen, die sich mit dieser Studie näher befassen wollten, hätten vorgestern abend in der niedersächsischen Landesvertretung Gelegenheit zur Diskussion darüber gehabt.
Meine Damen und Herren, die Ergebnisse der 12. Shell-Jugendstudie sind außerordentlich besorgniserregend. Eine der zentralen Aussagen lautet: Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht.
Eine weitere zentrale Aussage der Studie lautet: Der Generationenvertrag ist zerbrochen. Es gibt nicht nur den Generationenvertrag zwischen den Erwerbstätigen und den Rentnerinnen und Rentnern, sondern es gab unausgesprochen immer auch einen weiteren Generationenvertrag, nämlich den der Erwachsenen mit den Kindern und Jugendlichen. Der zentrale Gegenstand dieses Generationenvertrages war: Wir, die Erwachsenen, sorgen dafür, daß ihr, die Kinder und Jugendlichen, eine möglichst unbeschwerte Kindheit und Jugend verbringen könnt, um euch auf euer späteres Berufsleben vorzubereiten. Dieser Generationenvertrag ist zerbrochen. Das ist die eigentliche Quintessenz der 12. Shell-Jugendstudie.
({12})
Dieser Generationenvertrag ist zerbrochen, weil die Angst vor Arbeitslosigkeit zum prägenden Erlebnis der jetzt lebenden jungen Generation geworden ist. Das ist die Quintessenz der 12. Shell-Jugendstudie. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist zum prägenden Erlebnis der 14-, der 15-, der 18jährigen geworden. Meine Damen und Herren, die Politik kann diesen Zustand unter gar keinen Umständen tatenlos
akzeptieren. Die Politik, das Gemeinwesen sind zentral gefordert.
({13})
Das wichtigste Kapital unserer Gesellschaft ist nicht das Kapital. Das wichtigste Kapital jeder Gesellschaft ist ihre junge Generation.
({14})
Wer einen Teil der jungen Generation verrotten, verkümmern läßt, der versündigt sich gegenüber der gesamten Gesellschaft.
({15})
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, nicht verhehlen - ich sehe jetzt erfreulicherweise Herrn Möllemann -: Die 12. Shell-Jugendstudie kam ebenfalls zu der Erkenntnis, daß der größte Teil der jungen Generation keinerlei Vertrauen mehr in die Politik hat. Sie trauen den Politikern - damit sind alle Parteien gemeint, es braucht sich niemand etwas Schönes vorzumachen - und bedauerlicherweise auch den Politikerinnen nichts mehr zu.
Der Kollege Möllemann sagte vorhin in seiner Rede, seine Sorge sei der massenhafte Abmarsch junger Menschen in Richtung radikaler Rattenfänger. Das ist auch meine Sorge, lieber Kollege Möllemann. Die Gefahr ist nicht zu bestreiten. Die Gefahr ist um so größer, je weniger getan wird, je weniger die Politiker unternehmen.
Sie können gegen unsere Anträge und Gesetzentwürfe vorbringen, was Sie wollen. Sie haben aber nur dann das Recht, unsere Vorschläge zu kritisieren, wenn Sie eigene diskussionsfähige Vorschläge hier ins Parlament einbringen. Das haben Sie bis zur Stunde nicht getan.
({16})
Nun will ich Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen - ich hätte fast gesagt: Oppositionsfraktionen; manchmal ist der Wunsch der Vater des Gedankens, aber es dauert noch ein knappes Jahr, das jetzt rasch dahingeht, denn es sind nur noch 359 Tage, wie ich heute morgen festgestellt habe -, das an einem Beispiel demonstrieren: Ich habe vor wenigen Wochen an einer Podiumsdiskussion in Frankfurt am Main teilgenommen. Dort sagte der Sozialdezernent der Stadt: Hier in Frankfurt am Main ist ein Drittel der Jugendlichen überflüssig. Ein Drittel der Jugendlichen in Frankfurt am Main ist überflüssig! Das heißt im Klartext: Ein Drittel der Jugendlichen in Frankfurt am Main ist arbeitslos. Was meinen Sie denn, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wer von diesen überflüssigen
Jugendlichen jemals wieder an demokratischen Wahlen teilnehmen wird?
({17})
Was meinen Sie denn, wo diese zum Teil landen werden? - In der Drogenszene, in der Alkoholszene, in der Bordellszene, in der Kriminalitätsszene, bei der Schwerstkriminalität. Die gesellschaftlichen Folgekosten, die wir dann aufzubringen haben, sind unvergleichlich höher und dramatischer, als wenn wir uns rechtzeitig darum bemühen, die notwendigen Instrumente zur Integration dieser jungen Menschen bereitzustellen.
({18})
Ich nenne Ihnen noch einen anderen Zusammenhang von herausragender Bedeutung. Ich behaupte nicht, daß jeder arbeitslose junge Mensch zum Gewalttäter wird. Dies wäre ein primitiver unmittelbarer Zusammenhang, der keinen Sinn macht. Daß aber die dramatisch umfangreiche Ausgrenzung von Hunderttausenden von jungen Menschen, von Millionen von Arbeitslosen ein gesellschaftliches Klima schafft, das Gewaltbereitschaft und Kriminalität - auch Jugendkriminalität - begünstigt und fördert, kann in diesem Hohen Hause niemand bestreiten.
Dazu möchte ich Ihnen eine wenige Wochen alte Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zu Jugendstrafrecht und Präventionsstrategien auf Drucksache 13/8284 zitieren. Auf Seite 3 heißt es:
Für eine vorbeugende Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von Kinder- und Jugenddelinquenz müssen als „Belastungsfaktoren" neben Wertekonflikten, Orientierungsproblemen und Desorientierung gleichwohl soziale Problemlagen - Arbeitslosigkeit, soziale Randlagen, Armut und Ausgrenzung - in Betracht gezogen werden, auch wenn ein unmittelbarer Ursache-WirkungsZusammenhang zwischen den genannten Faktoren und der Kinder- und Jugenddelinquenz im einzelnen nicht nachweisbar ist ...
Für die Integration der nachwachsenden Generation in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland sind nach wie vor Ausbildung, Beruf und Arbeitsleben von grundlegender Bedeutung. Insofern kommt einer ausbildungs- und arbeitsplatzfördernden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der unterschiedlichen Akteure ... besonderes Gewicht zu, um einem Anwachsen von Risiko- und Randgruppen entgegenzuwirken.
Meine Damen und Herren, die Erkenntnisse auf Ihrer Seite sind ja da. Dies ist eine Antwort der Bundesregierung, aus der ich zitiert habe. Die Erkenntnisse sind da, aber sie bleiben leider folgenlos. Das ist das Problem: Sie tun nichts, Sie lassen die Dinge treiben.
({19})
Bevor mich die Frau Präsidentin in der gewohnten Freundlichkeit darauf hinweist, daß meine Redezeit zu Ende ist - ({20})
Eine Zwischenfrage können wir nicht mehr zulassen, weil die Redezeit sowieso abgelaufen ist.
Frau Präsidentin, darf ich abschließend den Herrn Kollegen Möllemann trösten, indem ich ihn darauf hinweise, daß die Koalitionsfraktionen sehr wohl noch eine Chance haben, in den nächsten Wochen die Kurve zu kriegen. Die Chance heißt Luxemburg. Dort findet ein Beschäftigungsgipfel der Europäischen Union statt.
Wer hindert eigentlich die Bundesregierung daran, nach den guten Erfahrungen mit dem Maastricht-Vertrag, in dem es darum ging, die Mitgliedsländer auf gemeinsame fiskalpolitische Ziele zu verpflichten, jetzt, da es nicht ums Geld, sondern um junge Menschen geht, dort dafür zu sorgen, daß es zu einer Selbstverpflichtung der Mitgliedsländer kommt, damit es in absehbarer Zeit keine arbeitslosen Jugendlichen mehr in Europa gibt?
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Möllemann.
Frau Präsidentin! Der Kollege Schreiner hat soeben die Behauptung aufgestellt, die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung hätten zwar eine - so hat er sich jedenfalls ausgedrückt - in Ansätzen richtige Lageanalyse vorgenommen, aber keinerlei Aktionen unternommen.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe die bisherige Debatte so verstanden, daß sich der Dissens im wesentlichen auf die Frage reduziert, ob wir uns Ihrer Forderung nach einer Ausbildungsplatzabgabe anschließen oder nicht. Die Behauptung, aus diesem Dissens, aus unserer Ablehnung dieser Abgabe, in der wir uns im Einklang mit Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück wissen - ({1})
- Herr Handwerksmeister, Sie haben sich vorhin
dreimal wiederholt. Sie müssen mich hier nicht mit
Stentorstimme anbrüllen. Das können Sie mit Ihren Lehrlingen machen, mit mir nicht!
({2})
Ich wollte Herrn Schreiner sagen: Ich habe vorhin in meinem Beitrag zwar diese Abgabe abgelehnt, im Einklang mit Ihrem möglichen Kanzlerkandidaten, dem Wirtschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen und Herrn Steinbrück,
({3})
aber ich habe in den sechs, sieben übrigen Punkten dargelegt, was geschehen sollte bzw. geschieht,
({4})
um die Ausbildungsbereitschaft und -fähigkeit in kleinen und mittleren Betrieben zu fördern.
Ich habe übrigens zweitens an Sie eine Frage gerichtet, auf die Sie bislang nicht eingegangen sind. Ich habe die Frage an Sie gerichtet, ob nicht angesichts des dramatischen Sachverhalts auf dem Arbeitsmarkt - 6 Millionen Arbeitslose -, einer gefährlichen Situation auf dem Beschäftigungssektor im Bereich Ausbildung ein Strategieforum des Herrn Bundespräsidenten als Einladung an die Entscheider in den Parteien, Gewerkschaften, Verbänden von uns gemeinsam angeregt werden sollte,
({5})
damit wir nicht ein Jahr lang in wechselseitigen Schuldzuweisungen und im Dauerwahlkampf verharren.
({6})
Das hielte ich für das Fatalste, was hier geschehen könnte.
({7})
Herr Abgeordneter Schreiner zu einer kurzen Antwort. Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Möllemann, ich habe jetzt zum wiederholten Male von Ihnen gehört, daß es auch Sozialdemokraten in einer gewissen politischen Verantwortung gibt, die den Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion nicht mit so großer Freude teilen wie die Mitglieder der Fraktion.
({0})
Dagegen ist zunächst einmal gar nichts zu sagen.
({1})
Aber wenn ich jetzt hier im deutschen Parlament die
Beispiele aufführen würde, wo Sie, Herr Kollege Möllemann, alleine in den letzten zwei Jahren anderer
Auffassung waren als die Mehrheit Ihrer Fraktion, müßte ich heute bis Mitternacht reden können.
({2})
Dann könnten Sie jetzt eine Pause machen. Ich käme nicht mehr vom Rednerpult weg. Ich bin auch trainingsmäßig entsprechend vorbereitet - nur um Sie darauf hinzuweisen.
Der zweite Punkt. Ich habe in Ihrer Rede zwei Vorschläge des Herrn Möllemann gehört, wie man dem Problem beikommen könne, nämlich die Herausnahme des Religionsunterrichtes aus der Berufsschule und das Streichen der Turnstunden. Das waren die beiden kardinalen Vorschläge, die Sie hier vorgetragen haben.
({3})
- Doch! Sie haben gesagt: Wenn ein 22jähriger sein Verhältnis zum lieben Gott nicht geklärt hat, dann ist ihm über den Religionsunterricht in der Berufsschule nicht mehr zu helfen. Wenn man ein wichtiges Thema der jungen Generation auf diese fundamentale Weise - Sie sind Fundi, Herr Möllemann - behandelt, dann sollte man allmählich überlegen, sich auf den Ruhestand vorzubereiten.
({4})
Das wäre, glaube ich, wirklich ein angemessener Vorschlag.
Die übrigen Dinge, Frau Präsidentin, erspare ich Ihnen und dem Hohen Haus. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Freude mit dem Kollegen Möllemann.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Ich erteile jetzt dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte ist bereits ein wenig fortgeschritten, und es ist jetzt vielleicht der Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Lage auf dem Lehrstellenmarkt in diesem Jahr schwieriger ist als in den Jahren zuvor. Die steigenden Bewerberzahlen auf der einen Seite und der fortschreitende wirtschaftliche Strukturwandel auf der anderen Seite sind ohne Zweifel eine große Herausforderung für unser Berufsbildungssystem.
Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, daß es uns noch nicht gelungen ist, die Lücke zwischen angebotenen und nachgefragten Lehrstellen zu schließen. Aber, Frau Kollegin Hermenau, wer nicht gerade bösen Willens ist, kann nicht die Augen davor verschließen, daß von den 625 000 Lehrstellennachfragern des Jahres 1997 577 500, mithin 93 Prozent, bereits einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Ich
halte es wirklich für verfehlt, in dieser Situation -93 Prozent der Bewerber haben einen Ausbildungsplatz - davon zu reden, daß das duale System versagt hat, und dem System Ineffizienz vorzuwerfen.
Es heißt immer so schön: Morgenstund' hat Gold im Mund. Ich war heute morgen bei dem bereits zitierten Gespräch mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks. Ich habe gelernt, Herr Rixe, daß das deutsche Handwerk den Bestand an Ausbildungsstellen in den letzten fünf Jahren, von 1991 bis 1996, um 100 000 erhöht hat. Wir sollten diese Leistung und die Ausbildungsbereitschaft anerkennen.
({0})
Ich will weitere Zahlen nennen: Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat bestätigt, daß es in Industrie, Handel und Dienstleistung bis Ende September 1997 einen Zuwachs an Lehrverträgen von rund 6,5 Prozent gegeben hat. Das heißt, insgesamt werden in diesem Jahr in diesem Bereich 280 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. - Herr Kollege Möllemann, ich muß sagen, daß ich im Gegensatz zu Ihnen die Information habe, daß auch der öffentliche Dienst seinen Beitrag mit 8 Prozent zusätzlicher Lehrverträge leistet. - Trotz allem fehlen Ausbildungsplätze. Ich stimme Bundesminister Rüttgers zu, wenn er sagt, 47 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz sind 47 000 zuviel. Deswegen müssen wir in den nächsten Wochen alle Anstrengungen unternehmen, damit die Vermittlung weiterhin erfolgreich ist.
In dieser Situation, Herr Kollege Rixe, sage ich Ihnen, daß die mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und der Bundesanstalt für Arbeit am 25. September 1997 initiierte konzertierte Lastminute-Aktion zur Wiederbesetzung von frei werdenden betrieblichen Lehrstellen mehr bringen wird als Ihr Gesetzentwurf, für den Sie offensichtlich weder im Bundestag noch, wenn ich den Kollegen Möllemann richtig interpretiere, im Bundesrat eine Mehrheit hätten. Hier geht es um Tausende von Ausbildungsplätzen, die jetzt auf den Ausbildungsmarkt kommen, weil sich Jugendliche mit einem Lehrvertrag dafür entscheiden. Das sind konkrete Beiträge, um Jugendlichen zu helfen. Was nicht hilft, ist Panikmache oder Schwarzmalerei. Ich glaube, die Frage der Ausbildung junger Menschen ist zu wichtig, als daß man sie zum Gegenstand politischer Agitation machen sollte.
({1})
Jetzt rede ich zunächst. Ich möchte den Herrn Staatssekretär fragen, ob er eine Zwischenfrage der Kollegin Hermenau zuläßt.
Selbstverständlich gern.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Kolb, Sie haben innerhalb der Regierung die Verantwortung für den Bereich der Berufsbildung zwischen zwei Ressorts, nämlich Bildung und Wirtschaft, geteilt. Können Sie mich darüber aufklären, ob auch die Verantwortung der jeweiligen Minister entsprechend dem Prozentsatz der Gelder, die im jeweiligen Haushalt zur Verfügung gestellt werden, nämlich 40 Prozent und 60 Prozent, aufgeteilt ist und wie Sie es schaffen, sich zu einigen und wirklich an einem Strang zu ziehen? Mir kommt es nämlich so vor, wenn ich beide Reden vergleiche, daß es keine kluge Verhaltensweise ist, ein schwieriges Problem in zwei verschiedene Paar Hände zu legen.
Frau Kollegin Hermenau, Ihr Versuch, Ministerien auseinanderzudividieren, ist völlig untauglich. Es gibt eine Gesamtverantwortung der Bundesregierung, und diese nehmen wir wahr. Sowohl der Bundesminister für Bildung, Forschung, Wissenschaft und Technologie als auch der Bundeswirtschaftsminister haben ureigene Aufgaben. Ich will in meinem Beitrag, wenn Sie so lange warten, gerne noch sagen, was wir konkret tun, um neue Ausbildungsstellen zu schaffen.
Wir haben einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Tauss.
Ja, bitte.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie sprachen soeben über das Zusammenwirken der Ministerien. Was ist nun die Position des Wirtschaftsministeriums zu der von Herrn Rüttgers und der Opposition zuvor bereits angeregten Empfehlung, mittels der VOB dafür Sorge zu tragen, daß Betriebe, die ausbilden, im Vergleich zu nichtausbildenden Betrieben bessergestellt werden? Erinnere ich mich richtig, daß Herr Bildungsminister Rüttgers beklagt hat, bei der Lösung dieser Frage über einen längeren Zeitraum nicht weitergekommen zu sein, weil Wirtschaftsminister Rexrodt dem entgegengestanden hat?
Herr Kollege Tauss, zunächst einmal: Es gibt eine solche Regelung. Das heißt, daß auch der Bundeswirtschaftsminister im Kabinett zugestimmt hat.
({0})
- Wenn Sie öfter in die Fragestunde des Deutschen
Bundestages kämen - das kann ich Ihnen nur empfehlen, weil man dabei etwas lernt -, hätten Sie vor
zwei Wochen erleben können, daß der Bundesbauminister Ihre Frage ausführlich erläutert hat. Es bedarf keiner Veränderung der Verdingungsordnung für Bauleistungen. Diese bleibt weiterhin unverändert gültig. Es gibt aber einen weiteren Aspekt, der beim Vorliegen gleichwertiger Angebote zum Tragen kommt. Das ist die Frage, ob ein Betrieb ausbildet oder nicht.
({1})
Wie gesagt, ich halte nichts von Panikmache.
({2})
- Ja. Ich glaube, Ihre Frage ist beantwortet. Es gibt Protokolle des Deutschen Bundestages, Herr Kollege Tauss. Lesen Sie doch bitte einmal nach, was damals in der Fragestunde gesagt worden ist.
({3})
- Ich habe gesagt, daß die VOB nicht geändert wird. Wenn ich etwas anderes gesagt habe, dann habe ich mich versprochen. Aber es ist doch deutlich geworden, was ich meine.
Ich will weiter voranschreiten und sagen, daß ich die von Ihnen im Konsens geforderte Ausbildungsabgabe nicht für eine Lösung hinsichtlich der Lage am Lehrstellenmarkt halte, weil sich die Probleme eben nicht mit Zwangsmitteln lösen lassen. Man kann Ausbildung im bewährten dualen System nicht verordnen. Man kann sie auch nicht erzwingen. Im Gegenteil: Ich befürchte, daß die enge, bewährte und dauerhafte Verbindung von Bildungs- und Beschäftigungssystemen verlorengehen würde, wenn Unternehmen nicht mehr auf Grund ihres Personalbedarfs, sondern unter dem Druck einer Ausbildungsabgabe Ausbildungsentscheidungen treffen müßten. Ich befürchte, eine Ausbildungsabgabe wäre das Ende des dualen Systems in Deutschland.
({4})
Es ist das falsche politische Signal, das Sie geben, die Ausbildungsverantwortung von der Wirtschaft auf den Staat zu übertragen. Zwangsmaßnahmen sind ungerecht. Sie wecken Widerstände und schaffen neue bürokratische Überwachungsstrukturen. Herr Rüttgers hat hierzu das Nötige gesagt.
Meine Damen und Herren, Ihr Rezept ist falsch. Was wir brauchen, ist weiterhin freiwilliges Engagement, unternehmerische Initiative und soziale Verantwortung, die - ich habe die Zahlen genannt - in der Wirtschaft auch wahrgenommen wird. Man kann doch nicht so tun, als ob dies nicht der Fall sei. Deswegen setzen wir nach wie vor auf das Verantwortungsbewußtsein der Wirtschaft.
({5})
Man muß allerdings die Rahmenbedingungen weiter verbessern. Hier ist einiges geschehen. Herr Rüttgers hat Beispiele genannt. Wir haben zum 1. März 1997 das Jugendarbeitsschutzgesetz novelliert.
({6})
- Es hat Relevanz - Sie gehen doch auch zur Innungsversammlung, Herr Kollege Rixe -, erwachsene Jugendliche auszubilden. Das sind immerhin 70 Prozent aller Auszubildenden, die an halben Berufsschultagen wieder in den Betrieb zurückkehren können.
Die Tatsache, daß wir die Ausbildereignungsverordnung 1996 flexibilisiert haben, hat Relevanz. Es sind 4000 bis 5000 neue Ausbildungsplätze dadurch geschaffen worden. Wir haben erneut ein Sonderprogramm „Aktionsprogramm Lehrstellen Ost" aufgelegt, das 15 000 neue Ausbildungsplätze bringt.
Auch haben wir - diesen Punkt halte ich für wichtig, Frau Hermenau, weil Sie nach spezifischen Beiträgen der einzelnen Ressorts gefragt haben - im Bundeswirtschaftsministerium als Verordnungsgeber in den vergangenen Jahren für 90 Prozent aller 370 anerkannten Ausbildungsberufe gemeinsam mit dem BMBF und den Sozialpartnern einen nachhaltigen Modernisierungsschub in der Entwicklung von neuen Berufen und bei der Überarbeitung bestehender Berufe ausgelöst. Allein in den Jahren 1996 und 1997 sind 49 Ausbildungsberufe aktualisiert und 17 Ausbildungsberufe völlig neu geschaffen worden.
({7})
Da können Sie, Herr Rixe, jetzt fragen, was das bringt.
({8})
Allein bei den vier neuen Berufen im Bereich der Information und Kommunikation bilden jetzt 1000 Betriebe aus, die bisher nicht ausgebildet haben. Es sind 5000 neue Ausbildungsstellen geschaffen worden, die bisher nicht zur Verfügung standen.
({9})
Das ist der Grund, warum wir mit der Novellierung und Modernisierung von Ausbildungsberufen fortfahren werden. Ich kann Ihnen jetzt schon ankündigen, daß wir zum August 1998 mindestens elf weitere moderne Ausbildungsberufe präsentieren werden.
({10})
Wenn wir uns auf eine Novellierung der Anlage A der Handwerksordnung verständigen können - da weiß ich um ihre Unterstützung, Herr Kollege Rixe -, werden wir auch in diesem Bereich eine ganze Reihe von neuen Ausbildungsberufen innerhalb breiter Handwerksbereiche schaffen können. Allein im Bereich des breiten Berufsfeldes Kfz-Technik darf man auf Grund der Änderung der Anlage A der Handwerksordnung, gemäß der der Kfz-Mechanikermeister zukünftig auch Kfz-Elektriker ausbilden darf, realistischerweise davon ausgehen, daß Tausende neuer Ausbildungsplätze entstehen werden.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider ist meine Redezeit abgelaufen. Ich könnte hier noch viele, konkrete und positive Beiträge nennen, die wir zur VerDr. Heinrich L. Kolb
besserung der Rahmenbedingungen für mehr Ausbildung geschaffen haben. Ich nenne stellvertretend das ERP-Ausbildungsplatzprogramm, das 1996 neu aufgelegt wurde und mit dem bereits 3500 neue Ausbildungsplätze gefördert wurden. Sein Mittelvolumen wurde 1997 verdoppelt. Wir gehen zu Recht davon aus, daß dadurch insgesamt 6400 Arbeitsplätze finanziert werden können. Wir führen die Programme Ausbildungsplatzwerber und Ausbildungsplatzberater fort. Wir führen in einer schwierigen Zeit - darüber haben wir heute morgen beim ZDH sehr intensiv diskutiert - die Förderung der überbetrieblichen Ausbildung im Handwerk auf einem sehr hohen Niveau fort.
({12})
Die konkreten Schritte, die der Bund tut, habe ich verdeutlicht. Auch die Länder sind gefordert. Wenn die Ausbildungsreife, wie ich neulich gehört habe, bei 15 Prozent der Schulabgänger von der Wirtschaft bezweifelt wird, ist das ein ernstzunehmendes Signal. Ich begrüße es, daß die Regierungschefs von Bund und Ländern im Juli beschlossen haben, eine flexible Organisation des Berufsschulunterrichts vornehmen zu wollen. Unterschätzen Sie die Auswirkungen nicht, wenn die Jugendlichen künftig durch eine bessere Organisation 20 bis 30 Tage im Jahr mehr in den Ausbildungsbetrieben sein können. Das hat ganz praktische und konkrete Relevanz für die Ausbildung in Deutschland.
Ich muß zum Ende kommen: Es besteht noch kein Grund zur Entwarnung am Lehrstellenmarkt. Aber ich bin sicher, daß wir bis zum Jahresende zumindest einen numerischen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage schaffen werden,
({13})
wenn alle Beteiligten - hier sind vor allen Dingen die Unternehmen gefordert - weiterhin an einem Strang ziehen.
Vielen Dank.
({14})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt spricht jetzt unsere Kollegin Edelgard Bulmahn, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt einen großen Unterschied zwischen SPD und Koalition, der darin besteht, daß wir nicht mit ansehen wollen, wie Jugendliche in diesem Land Jahr für Jahr zittern, ob sie einen Ausbildungsplatz erhalten.
({0})
Wir wollen auch nicht Jahr für Jahr mit ansehen, wie Jugendliche in Warteschleifen abgeschoben werden. In der Wirklichkeit ist nämlich die Zahl der Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben,
wesentlich höher als 47 000. - Aber auch diese Zahl ist schon eine Katastrophe. ({1})
Sie ist deswegen noch wesentlich größer, weil wir wieder Hunderttausende schon in schulische Warteschleifen abgeschoben haben. Das wollen wir nicht mitmachen, Herr Guttmacher. Wir wollen endlich ein wirksames Instrument haben, mit dem mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Wir wollen, daß alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz erhalten. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen uns.
({2})
Die Jugendlichen sind sich einig: Arbeitslosigkeit sowie Ausbildungs- und Lehrstellenkrise sind die Hauptprobleme in unserem Land. Das weisen auch die vom BMBF in Auftrag gegebenen Studien nach. Nur: Der Auftraggeber, Herr Minister Rüttgers, zieht daraus nicht die entsprechenden Konsequenzen.
All das, was von der SPD-Fraktion seit Jahren gefordert worden ist - Modernisierung der Berufsbilder und Veränderung des öffentlichen Auftragswesens -, hat nicht zu dem Ergebnis geführt, daß in einem ausreichenden Maße Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Das müssen auch Sie feststellen; Herr Jagoda hat es ebenfalls wieder festgestellt.
Die Verantwortung des Deutschen Bundestages liegt darin, dafür Sorge zu tragen, daß wirksame Instrumente ergriffen werden, damit diese Katastrophe auf dem Ausbildungsmarkt, die das Leben von vielen Jugendlichen beeinträchtigt und von ihnen als Bedrohung empfunden wird, für die Zukunft endlich verhindert wird.
({3})
Der Deutsche Bundestag - ich appelliere jetzt einmal an die Kolleginnen und Kollegen, ideologische Borniertheit in die Ecke zu stellen ({4})
wie auch die Bundesregierung und die Länder stehen gegenüber den Jugendlichen in der Verantwortung, alles zu tun, damit alle Ausbildungsplatzsuchenden einen Ausbildungsplatz finden.
Herr Minister Rüttgers, was Sie vorhin vorgetragen haben, war wirklich Polemik in übelster Weise.
({5})
Ich halte Ihnen einmal das Jahr der Bundesregierung vor. Das sieht bei Ihnen so aus: Im Januar erklärt die Bundesregierung: Wir schaffen es diesmal. Im Februar erklärt die Wirtschaft: Es wird ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot geben; die Opposition stellt nur reine Horrorszenarien auf. Im März wird festgestellt, daß ein zunehmendes Ungleichgewicht vorliegt. Der Bundeskanzler droht den UnterEdelgard Bulmahn
nehmern, die nicht ausbilden, als schärfste Strafe an, daß sie mit ihm nicht ins Ausland fliegen dürfen.
({6})
Im April erklärt „Methusalem", die Länder seien schuld, weil sie den Berufsschulunterricht nicht vernünftig organisieren. Im Mai wird das Defizit immer absehbarer. Es wird generell gesagt: Die Lage ist schwierig. - Bundeswirtschaftsminister und Bundesforschungsminister schreiben Briefe an die Arbeitgeber. Im Juni wird das Jugendarbeitsschutzgesetz geändert, und wir führen im Bundestag eine Debatte, in der über die Schwierigkeit der Lage diskutiert wird. Im Juli macht die Bundesregierung Urlaub. Im August wird festgestellt: 150 000 Jugendliche haben keinen Ausbildungsplatz gefunden. Die neue Geheimwaffe ist, daß die öffentlichen Aufträge an Unternehmen vergeben werden sollen, in denen ausgebildet wird. Im September stellt die Bundesregierung fest: Die Ausbildungskatastrophe ist da. Im Oktober sind die ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen in der Statistik sozusagen entsorgt worden. - Das halte ich für eine Unverschämtheit. - Trotzdem sagt man hier im Bundestag: Die Sorge ist groß. Im Oktober greift man in die Staatskasse und finanziert aus Steuermitteln das, was von seiten der Arbeitgeber nicht geleistet worden ist.
So sieht das aus, was Sie machen.
({7})
Weil damit Schluß sein muß, haben wir einen Gesetzentwurf zur Sicherung und Förderung der betrieblichen Ausbildung vorgelegt. Mit diesem Gesetzentwurf werden den Arbeitgebern massive Anreize gegeben, neue Ausbildungsplätze zu schaffen und ihre Ausbildungskapazitäten, die ja in vielen Betrieben noch nicht einmal ausgeschöpft werden, tatsächlich auszuschöpfen. Es werden ihnen Anreize gegeben, über den eigenen Bedarf hinaus auszubilden. Ich halte das für notwendig. Unser Gesetz ist so angelegt - deshalb ist das Prinzip der Freiwilligkeit durchaus gegeben, Herr Kolb -, daß die Umlage nur dann erhoben wird, wenn die Arbeitgeber ihrer Ausbildungsverpflichtung nicht nachkommen. Wenn die Arbeitgeber ihrer Ausbildungsverpflichtung freiwillig nachkommen, wird die Umlage nicht erhoben. Die Arbeitgeber haben es selber in der Hand, ob die Umlage erhoben wird oder nicht. Es findet also genau das Gegenteil von dem statt, was behauptet wird.
({8})
Wir geben die Verantwortung für die berufliche Ausbildung an die Arbeitgeber zurück, weil dort die Hauptverantwortung liegt.
({9})
Wir halten daran fest: Wenn zuwenig Ausbildungsplätze angeboten werden, so werden private wie öffentliche Arbeitgeber, die nicht oder zuwenig ausbilden, zu einem Solidarbeitrag herangezogen. Die Betriebe, die überdurchschnittlich ausbilden, erhalten hieraus einen Bonus. Damit wollen wir erreichen, daß endlich eine überdurchschnittliche Ausbildungsleistung anerkannt und belohnt wird.
Ihr Vorwurf, Herr Minister Rüttgers, und der Vorwurf der Koalitionsfraktionen, wir wollten Betriebe, die nicht ausbilden, bestrafen, trifft nicht zu. Wir wollen endlich einen gerechten Leistungsausgleich innerhalb der Wirtschaft zwischen den Betrieben, die ausbilden, und den Betrieben, die nicht ausbilden, herstellen. Unser Ziel ist es, die betriebliche Ausbildung wieder stärker in die Verantwortung der Arbeitgeber zurückzuführen und die schleichende Verstaatlichung, die wir gerade in der betrieblichen Ausbildung seit Jahren haben, wieder zu reduzieren. Das ist das Ziel des Gesetzes.
({10})
Wir haben das Gesetz strikt subsidiär angelegt: Kammerumlagen, tarifvertragliche Lösungen und regionale Ausbildungskonsense haben Vorrang. Das heißt, wenn die Arbeitgeber dies freiwillig machen, werden sie nicht zur Umlage herangezogen. Deshalb löst das Gesetz auch nicht die einzelbetriebliche Verantwortung ab, sondern es ergänzt sie.
({11})
Die Alternative wäre eine weitere Verstaatlichung der beruflichen Ausbildung, und genau das wollen wir nicht. Sie halten aber offensichtlich eine schleichende Veranstaltung für o.k.
({12})
Ich habe gesagt, daß nur die Arbeitgeber, die nicht oder zuwenig ausbilden, zu einer Umlage herangezogen werden. Damit klar ist, was das heißt: Ein Betrieb erfüllt nach unserem Gesetzentwurf seine Ausbildungsverpflichtung, wenn er bei 16 Beschäftigten einen Azubi hat. Das ist eine gerechte Anforderung.
({13})
Betriebe, die unterdurchschnittlich ausbilden - aber immerhin ausbilden -, werden nicht in vollem Umfang zur Umlage herangezogen, sondern können ihre Berufsausbildungsaufwendungen direkt abziehen.
Nun zu den Behauptungen, die hier von Herrn Minister Rüttgers wieder in den Raum gestellt worden sind. Herr Minister Rüttgers, ich muß Ihnen erst einmal sagen: Es ist schandbar, wenn ein Minister noch nicht einmal das Gesetz gelesen hat, zu dem er hier im Deutschen Bundestag redet.
({14})
Das ist ein Schlag ins Gesicht der Jugendlichen, die
erwarten, daß alle Vorschläge wirklich ernsthaft geEdelgard Bulmahn prüft werden und ihnen nicht mit Polemik begegnet wird.
({15})
Ihre Behauptung, mit unserem Gesetz könnten sich Betriebe freikaufen, ist falsch, weil ein Betrieb, der nicht ausbildet, nach unserem Vorschlag in Zukunft soviel zahlen muß, als wenn er ausbilden würde. Es lohnt sich für einen Betrieb in Zukunft nicht mehr, nicht auszubilden, während dies im Augenblick noch anders ist. Sie heucheln, wenn Sie nicht deutlich sagen, daß inzwischen zwei Drittel der Betriebe in der Bundesrepublik nicht ausbilden und sich auf Kosten der ausbildenden Betriebe bereichern. Im Volksmund nennt man so etwas Trittbrettfahrer.
({16})
Sie wollen offensichtlich, daß sich Trittbrettfahren auch in Zukunft in der Bundesrepublik noch lohnt. Das wollen wir nicht.
Es wird sich nach unseren Vorstellungen in Zukunft nicht mehr lohnen, nicht auszubilden. Es wird sich aber nach unseren Vorstellungen in Zukunft lohnen, auszubilden. Das ist genau die Weichenstellung, die wir erreichen wollen; das ist die richtige Weichenstellung. Betriebe, die überdurchschnittlich ausbilden, können nach unseren Vorschlägen mit einem Bonus von 6000 bis 8000 DM pro Jahr und Ausbildungsplatz rechnen. Das ist endlich die notwendige Anerkennung, die schon lange hätte erfolgen müssen.
Es ist auch schlicht unwahr, Herr Minister Rüttgers, wenn Sie behaupten, daß Betriebe, die ausbilden wollen, aber keinen Lehrling finden, abgestraft werden. Nach unserem Gesetz werden die Betriebe ausdrücklich nicht zur Umlage herangezogen, die zum Stichtag 30. September einen Ausbildungsplatz anbieten, aber keinen Auszubildenden gefunden haben.
Ebenfalls unwahr ist Ihre Behauptung, daß die seit Jahren über den Bedarf hinaus ausbildenden Betriebe bestraft werden. Das Gegenteil ist der Fall. Sie werden nach unserem Gesetzentwurf belohnt. Sie erhalten einen Bonus.
Unwahr ist auch Ihre Behauptung, nach unseren Vorschlägen würden Beamte darüber entscheiden, wie viele Jugendliche am Bau oder im Büro ausgebildet werden. Nach unserem Entwurf entscheiden Arbeitgeber und Gewerkschaften darüber, nicht der Staat.
({17})
Schlichter Unsinn ist schließlich die Behauptung, kein mittelständischer Betrieb kenne seine Gewinne, seine Verluste, seine Bruttolohnsumme oder seine Kosten für die Ausbildung. Darauf hat Günter Rixe zu Recht hingewiesen. Da kann ich nur sagen: Ich hoffe, daß Sie als Minister nicht derartig unwissend sind, wie Sie es den Arbeitgebern unterstellen. Für
so unwissend, kann ich nur sagen, halte ich Arbeitgeber nicht.
Frau Kollegin, jetzt sind Sie weit über die Zeit. Kommen Sie bitte zum Schluß; der letzte Satz.
Kleine Betriebe mit bis zu fünf Beschäftigten oder einer Bemessungsgrundlage von weniger als 500 000 DM werden nach unserem Gesetzentwurf von der Umlage befreit, ebenso Betriebe in den ersten beiden Jahren nach der Existenzgründung und Betriebe, die sich in Zahlungsschwierigkeiten befinden .
Ins Leere, lieber Herr Minister Rüttgers, stößt auch Ihr Bürokratievorwurf. Wir schaffen mit diesem Gesetz keine neue Verwaltung. Es werden keine zusätzlichen Daten erhoben. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Minister Rüttgers: Kehren Sie vor Ihrer eigenen Tür! Ich habe das BAföG-Gesetz dabei; ich kann jetzt aus Zeitgründen daraus nicht mehr zitieren. Wenn Sie sich dieses Gesetz einmal ansehen, dann werden Sie sehen, daß es ein Monstrum bezüglich bürokratischer Vorschriften ist. Von daher: Kehren Sie vor Ihrer eigenen Tür! Der Haufen ist groß genug.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind es den Jugendlichen schuldig, daß eine vorurteilsfreie, sachliche Prüfung aller Vorschläge stattfindet, die zu mehr Ausbildungsplätzen führt. Scheuklappen oder ideologische Bedenken sind abzulehnen. Sie werden nicht der Verantwortung des Bundestages gerecht.
Jetzt ist aber wirklich Schluß, Frau Kollegin.
Wir wollen die Jugendlichen nicht im Stich lassen. Ich hoffe, Sie wollen das auch nicht. Deshalb hoffe ich auf eine sachgerechtere zweite Debatte hier im Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/8680, 13/8640, 13/8599, 13/ 7093, 13/8573, 13/8706 und 13/8732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei der Antrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/8599 zur Mitberatung zusätzlich an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Soweit jemand zugehört hat, ist dies der Fall.
({0})
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Postgesetzes ({1})
- Drucksache 13/7774 - ({2})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Post und Telekommunikation ({3})
- Drucksache 13/8702 - Berichterstattung:
Abgeordnete Elmar Müller ({4}) Hans Martin Bury
Dr. Max Stadler
b) Beratung der Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Post und Telekommunikation ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Gerd Andres, Arne Börnsen ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Infrastruktur sichern, Wettbewerb fördern
- Grundsätze zur Neuordnung des Postsektors
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Manuel Kiper, Elisabeth Altmann ({7}), Simone Probst und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dienstleistungen für das 21. Jahrhundert: Vom Postamt zum Bürgerservicebüro
- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Wolfgang Bierstedt, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Festschreibung und Sicherung von sozialen Standards und Leistungsgarantien im Postgesetz
- Drucksachen 13/4582, 13/6556, 13/7094, 13/8702 Berichterstattung:
Abgeordnete Elmar Müller ({8}) Hans Martin Bury
Dr. Max Stadler
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der SPD und ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache über das Postgesetz namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Elmar Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Das Postdrama nimmt seinen Lauf. Die SPD verweigert sich einmal mehr, und es droht der Vermittlungsausschuß.
Hatte die SPD dem ersten Akt der Privatisierung der Post noch zugestimmt - zum größten Teil aus Einsieht, mit kühlem Kopf, vermute ich, wenn auch mit Bauchschmerzen -, so gelingt es dieser Partei heute im zweiten Anlauf nicht mehr, die „Postgeschichte" zu einem konsequenten Ende zu bringen -; nicht zu einem Ende der Post, sondern zu einem Ende des Postmonopols.
({0})
Wie so oft überwiegen die Zauderer und die Bedenkenträger, die immer wieder Innovationen, neue Ideen und Wettbewerb fordern, aber - man will es wirklich nicht begreifen - schon beim Wegfall eines staatlichen Monopols den Mut verlieren. Das ist das Drama der Verballiberalisierer und der Befürworter eines Wettbewerbs mit Monopol. Es sind diejenigen, die eine Aktiengesellschaft wollten und diese Aktiengesellschaft nun nicht im Wettbewerb, sondern mit unbefristeter Exklusivlizenz fortsetzen wollen. Post, Postgewerkschaft und SPD sind sich einig: Sie alle begrüßen den Wettbewerb und meinen das Monopol.
Die verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat kürzlich in einer Zeitung erklärt, gegen die Marktfreigabe sei nichts einzuwenden, solange die Bedingungen stimmten. Wenn man sie nach diesen Bedingungen fragt, spricht sie von garantierten Preisen, von rosinenpickenden Wettbewerbern und von Postfirmen, die die Preise nur für Großkunden senken. Sie spricht von einer dramatischen Konsequenz für Mitarbeiter, die möglicherweise, wie es in unzähligen anderen Wirtschaftsbereichen der Fall ist, ohne lebenslange Beschäftigungsgarantie leben müßten. - Ja, meine Damen und Herren, dies alles kann tatsächlich in einem Wettbewerb geschehen. Man kann es auch anders sagen: Das ist einfach Wettbewerb. Ich frage mich, was die Kollegin Däubler-Gmelin unter Marktfreigabe versteht.
Mein sehr verehrter Kollege Bury erklärte letzte Woche in einer anderen Bundestagsdebatte:
Wir brauchen mehr Unternehmer in Deutschland ...
Das ist eine durchaus löbliche Erkenntnis, aber uns ist natürlich allen klar, daß der Postmarkt in diesem Zusammenhang nicht gemeint sein kann.
Seite an Seite stehen Gewerkschaft, SPD und Post, wenn es darum geht, mit Horrorszenarien an die Offentlichkeit zu gehen und wildeste Berechnungen zu möglichen Umsatz.- und Arbeitsplatzverlusten vorzulegen. Die Beschäftigten des Unternehmens werden auf ganz schäbige Art und Weise instrumentalisiert und für politische Zwecke mißbraucht. Meine Damen und Herren, ich denke, wir sollten das anprangern.
({1})
Elmar Müller ({2})
Das jüngste Beispiel dieser Manipulationen kann ich Ihnen nennen. Heute morgen haben wir Postpolitiker von der Postgewerkschaft das „Info-Line" bekommen, das an alle Vertrauensleute der Post versandt wird. Die Aussagen dieser Postzeitung sind immer unterschiedlich ausgerichtet. Heute jedenfalls wurde ein interessanter Artikel wiedergegeben. Es handelte sich um einen Kommentar aus den „Bremer Nachrichten". In diesem Artikel werden die Bundesregierung und die Bundestagsfraktionen beschimpft. Beim Lesen dieses Artikels wurde ich aber etwas stutzig, denn der in der „Info-Line" abgedruckte Bericht endete abrupt. Daher habe ich heute mittag bei der Zeitung angerufen und gefragt, ob der Artikel im Original nicht noch länger sei. Das ist er in der Tat.
Der Artikel in den „Bremer Nachrichten" spricht von den Kolleginnen und Kollegen der Post, die wirklich nicht zu beneiden seien:
Von der Politik werden sie über den Tisch gezogen bzw. demnächst vielleicht vor die Tür gesetzt ... Und wenn sie protestieren, finden sie an ihrer Seite eine ganze Reihe von falschen Freunden. Das kann nicht gutgehen ...
Darauf folgen die erwähnten Beschimpfungen. An dieser Stelle endet der Abdruck des Artikels in der „Info-Line" aber abrupt.
Ich möchte nun das vortragen, was dort eben nicht abgedruckt ist: Unter diesen falschen Freunden seien die Sozialdemokraten.
Die Sozialdemokraten haben seit Jahren der Neuordnung des Postsektors das Wort geredet; sich jetzt mit halbherzigen Forderungen auf die andere Seite zu schlagen ist Opportunismus.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß das der Beweis für die Manipulation der Postgewerkschaft ist. Das ist schlicht schäbig!
({3})
In Ihrer Argumentation wird doch tatsächlich der Umsatzanteil, der zukünftig in den Wettbewerb gestellt werden soll, mit Verlusten gleichgesetzt. Auch das ist eine Art der Argumentation, der wir nicht folgen sollten.
Wir kennen das Beispiel der Freigabe der Infopost über 100 Gramm. Schon für diesen Bereich hatten Postgewerkschaft und Post Verluste von 1,7 Milliarden DM und den Verlust von 17 000 Arbeitsplätzen vorhergesagt. Natürlich ist nicht das, sondern das Gegenteil eingetreten. Die aktuellen Zahlen - wir haben sie auf der Pressekonferenz der Post erhalten - weisen nämlich speziell in diesem Segment Gewinne aus. Der Postvorstand hat zwar kürzlich argumentiert, das habe nur mit erheblichen Absatzsteigerungen im Bereich der nichtadressierten Postwurfsendungen zu tun. Die Untersuchung weist das so aber nicht aus. Vielmehr hat die Post die genannten Gewinne im Bereich der Infopost gemacht.
In diesem Zusammenhang möchte ich zu den 610-DM-Arbeitsplätzen und dem Schreckensbild von „Turnschuhbrigade" noch etwas sagen. Der Prozentsatz der sozialversicherungsfrei Beschäftigten - wie einer Anfrage im Deutschen Bundestag zu entnehmen ist - liegt bei den öffentlichen Arbeitgebern bei rund 5 Prozent, bei den Unternehmen des Transportgewerbes bei 3 Prozent und bei UPS, also bei dem Unternehmen, das immer angeprangert wird, gar bei 0,35 Prozent. Damit liegt der Anteil bei den öffentlichen Arbeitgebern um das Zehnfache höher als bei denen, die immer angeprangert werden.
Meine Redezeit würde nicht ausreichen, all die falschen Argumente zu widerlegen. Aber ich möchte gerne noch auf die Sonderbelastungen von 5 Milliarden DM eingehen, die von der Post als Beispiel in diesem Zusammenhang angeführt werden.
5 Milliarden DM jährlich stimmen aber nicht einmal mehr bis 1999, da die Deutsche Post ihr Brief-und Frachtverteilsystem um rund 8 Milliarden DM rationalisiert hat und hoffentlich, wie ich denke, in diesem Bereich mit Einsparungen rechnen kann. Es ist schlichtweg richtig, daß der Bund bereits ab dem Jahr 2000 die Pensionskasse der Post mit zusätzlich 2 Milliarden DM entlastet und dies anschließend auch noch degressiv, nämlich in den Umlagen der dort beschäftigten Beamten, ausgleicht. Meine Damen und Herren, wir gehen also mit gutem Grund davon aus, daß es der Post ab dem Jahr 2003 gelingen wird, in einem liberalisierten Markt ohne besondere wettbewerbsrelevante Belastungen zu bestehen.
Wenn die Gewerkschaft auf Plakaten und Publikationen gegen die Zerstörung der Post protestiert und Herr Bury von Posträubern spricht, dann ist dies alles nicht nur absurd, sondern auch dumm,
({4})
weil es natürlich überhaupt keinen Sinn macht, daß sich der Staat als hundertprozentiger Eigentümer der Post auch noch selber bestiehlt. Nein, dies alles dient offensichtlich ausschließlich dazu, die Mitarbeiter und die Bevölkerung zu verunsichern.
Sie sollten diesem Postgesetz eine Chance geben - eine Chance für die Post, für ihre Beschäftigten und den Wettbewerb, eine Chance für die dauerhafte Sicherung der postalischen Infrastruktur in Deutschland und damit für ein Gesetz zum Wohle aller Bürger in diesem Land.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Martin Bury, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD ist für Wettbewerb - für einen Wettbewerb um mehr Qualität, mehr Kundennähe, besseren Service, günstigere Preise, für einen Wettbewerb um neue Produkte und Dienstleistungen. Wir wenden uns gegen Konkurrenz, die auf SoHans Martin Bury
zialdumping basiert und die zu schlechteren Dienstleistungen
({0})
bei höheren Preisen für Privatkunden und kleine und mittlere Unternehmen führt.
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Deshalb wenden wir uns gegen den Regierungsentwurf des Postgesetzes.
Wenn ich sage, wir sind für mehr Service, mehr Kundennähe und eine breitere Produktpalette, dann erkenne ich an, daß Verbesserungen gegenüber der heutigen Situation notwendig sind. Aber die Koalition will das Gegenteil. Sie wollen die Standards senken. Sie wollen etwa beim Universaldienst eine Schmalspurpost, eine Definition, die weit hinter den Vorgaben der Europäischen Union zurückbleibt. Wir wollen im Rahmen des Universaldienstes einen Dienst, der seinen Namen verdient. Dazu gehört beispielsweise auch die Zustellung von Zeitungen und Zeitschriften,
({2})
nicht nur im Interesse der Kunden, sondern auch, um eine vielfältige, pluralistische Presselandschaft zu erhalten.
Der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes hat darauf hingewiesen, daß die Pläne der Regierung zu Lasten der Meinungsvielfalt gehen würden und daß eine Verteuerung der Zeitungszustellung in Randgebieten um bis zu 50 Pfennig pro Exemplar eintreten könnte.
Die SPD tritt für eine Verbesserung des Kundenschutzes ein. Die Regierungskoalition will die Kundenschutzverordnung streichen. Sie wollen das statt dessen in einer Grundversorgungsverordnung regeln. Aber die knüpft an die Marktstellung des Anbieters an. Meine Damen und Herren, Mindeststandards müssen unabhängig von der Marktstellung des Anbieters gewährleistet werden.
({3})
Die Anknüpfung an die marktbeherrschende Stellung ist Unfug. Das wäre so, als wenn man etwa in der Kreditwirtschaft bei der Preisangabenverordnung, die vorschreibt, daß Kreditinstitute bei der Finanzierung den effektiven Jahreszins angeben müssen, zwar die Großbanken verpflichten, aber ausgerechnet die Kredithaie außen vor lassen würde. Es ist ein abenteuerliches Wettbewerbsmodell, das die Koalition hier hat.
({4})
Wir treten für einen fairen Wettbewerb ein. Dieser basiert auf ordentlichen Arbeitsplätzen. Deswegen wollen wir eine Lizenzbestimmung, wonach alle Anbieter im Postsektor die üblichen wesentlichen Arbeitsbedingungen einhalten müssen.
Nun erklärt die Koalition, das sei ja schön und gut. Dafür sei aber eine allgemeine Regelung erforderlich. Das ist richtig. Doch genau die blockieren Sie seit Jahren. Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, den Mißbrauch bei geringfügiger Beschäftigung und bei Scheinselbständigkeit generell zu korrigieren, dann verhindern Sie mit uns wenigstens, daß im Postsektor Menschen zusätzlich in erheblichem Umfang in ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden.
({5})
Postspezifische Regelungen sind übrigens nicht nur möglich - bei der Entgeltregulierung fordern Sie gerade postspezifische Regulierungen und binden damit der Post AG im Wettbewerb einen Klotz ans Bein -, sondern in diesem Bereich auch gut begründet:
So hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung im Postausschuß erklärt, das Fehlen einer solchen Regelung im Gesetzentwurf dieser Bundesregierung berge die Gefahr der Störung des sozialen Friedens, der Gefährdung der Leistungserbringung im Postsektor und begünstige die Gefahr krimineller Handlungen, insbesondere von Verstößen gegen postspezifische Bestimmungen wie das Postgeheimnis. So das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung im Postausschuß.
Die Koalitionsabgeordneten haben in dieser Beratung die Forderung nach sozialen Mindeststandards mit dem Beispiel verglichen, wir würden ja auch nicht Rechtsanwälten die Zulassung versagen, wenn sie ihre Kanzlei mit Mahagoni täfeln.
Wie weit Herr Stadler, sind Sie eigentlich von der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen entfernt?
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Vor zwei Tagen verkündete die Bundesanstalt für Arbeit den Anstieg der Arbeitslosigkeit um eine halbe Million binnen eines Jahres. Gestern gingen 43 000 Menschen gegen Ihre Postpolitik auf die Straße, bevor Sie sie auf die Straße setzen. Wieviel Menschen müssen in Deutschland noch arbeitslos werden, bevor diese Wahnsinnspolitik gestoppt wird?
({7})
Der Wettbewerb à la CDU/CSU und F.D.P. geht zu Lasten der Kunden und der Arbeitnehmer. Das jüngste Beispiel ist die Telefonauskunft. Hier zwingt der Bundespostminister die Deutsche Telekom AG zu einer Preiserhöhung um sage und schreibe 220 Prozent,
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wobei es schon fragwürdig genug ist, für die Telefonauskunft überhaupt eine separate Gebühr zu erheben. Wenn Sie im Supermarkt fragen, wo der Käse liegt, verlangt die Verkäuferin von Ihnen auch nicht
zwei Mark, bevor sie Ihnen den Weg zum Kühlregal verrät.
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Dieser Freundschaftsdienst von Herrn Bötsch für seinen Amtsvorgänger Schwarz-Schilling ist ein Bärendienst an den Verbrauchern.
({10})
Eines ist Ihnen immerhin sicher, Herr Minister Bötsch, ein Platz im Telefonbuch der Geschichte, allerdings als größter Preistreiber in der „Gechichte" des Telefons. Das Ziel der Marktöffnung wird mit dieser Politik auf den Kopf gestellt.
Es ist bezeichnend, daß Ihre eigene Partei, die CSU, den Postgesetzentwurf ablehnt, ja, daß Markus Ferber, der postpolitische Sprecher der Konservativen im Europäischen Parlament, den Deutschen Bundestag aufgefordert hat, den Regierungsentwurf für das Postgesetz heute abzulehnen ({11})
wegen mangelnder Übereinstimmung mit dem Richtlinienentwurf der Europäischen Union und wegen der Benachteiligung nicht nur der Deutschen Post AG, sondern auch ihrer deutschen Wettbewerber gegenüber ausländischen Konkurrenten.
Die konsequente Forderung heißt wechselseitige Marktöffnung, gleiche Chancen für alle Beteiligten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wird den Gesetzentwurf der Bundesregierung ablehnen. Die Beschäftigten lehnen ihn ab. Die Kommunen und die Verbraucherverbände haben in der Anhörung des Postausschusses massive Kritik geübt. Auch in der Union gibt es zunehmend kritische Stimmen, aber sie können sich noch immer nicht aus der Gefangenschaft der F.D.P. lösen.
Ich darf Herrn Bötsch zitieren. Er sagte in der „Leipziger Volkszeitung" am 29. September dieses Jahres wörtlich:
Die Liberalen wollen uns daran hindern, eine Politik zum Wohle der Mehrheit zu machen.
Wohl wahr. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, Sie müssen selbst entscheiden, jeder für sich, ob Sie weiterhin eine Politik gegen die Menschen im Land machen wollen.
Wir haben eine namentliche Abstimmung zum Postgesetz beantragt. Wir lassen es Ihnen nicht mehr durchgehen, daß Sie vor Ort immer anders reden, als Sie hier abstimmen,
({12})
daß Sie angeblich in Ihrem Wahlkreis um den Erhalt jeder Postfiliale kämpfen, aber hier der Post die finanzielle Basis für die Erhaltung eines flächendekkenden Filialnetzes entziehen.
Auch wenn Sie unsere Änderungsanträge zum Universaldienst, zum Kundenschutz, zu sozialen Lizenzauflagen und zu einer flexiblen Entgeltregulierung heute hier ablehnen sollten und dem Postgesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen, wird dieser Postgesetzentwurf nicht Wirklichkeit werden. Der Bundesrat wird den Entwurf aufhalten und den Vermittlungsausschuß anrufen.
Die geltenden Gesetze laufen am 31. Dezember dieses Jahres aus. Aber ich sage Ihnen klipp und klar: Lieber kein Gesetz als dieses Postgesetz der Bundesregierung. Lieber kein Gesetz als ein fauler Kompromiß.
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Die Anhörung - freuen Sie sich nicht zu früh! - hat eindeutig gezeigt: Der Post passiert überhaupt nichts. Den Postkunden passiert auch nichts, denn die Kundenschutzverordnung gilt weiter. Aber die Marktöffnung, die Sie in erster Linie anstreben, käme nicht in Gang, weil ohne sektorspezifische Regulierung neue Anbieter nicht in der Lage wären, Fuß zu fassen. Die Koalition der Posträuber liefe ins Leere. Herr Bötsch würde als Outlaw seinen Ministersessel räumen.
Wie Sie es auch wenden, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Auflösung des Bundespostministeriums ist erst der Anfang vom Ende dieser Regierung.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Manuel Kiper, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Fairer Wettbewerb ja, Post zerstören nein. Unter diesem Motto der Postgewerkschaft haben die Macher des Postgesetzes die letzten Monate nicht gearbeitet. Den Machern des Postgesetzes vorzuwerfen, sie wollten die Post zerstören, ist übertrieben. Es geht nicht um Zerstörung der Post, es geht darum, die Postkutsche auf die Zukunftsbahn zu setzen.
Auch wir Grünen sagen deshalb ja zum Wettbewerb. Wir sagen aber auch ein zweites. Unsere Position ist, mit Grundversorgung und Wettbewerb die bürgerfreundliche Postversorgung sicherzustellen. Der Infrastrukturauftrag des Grundgesetzes ist Verpflichtung.
Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Kollege Bury, Sie selber haben maßgeblich dazu beigetragen, daß in diesem Grundgesetz nicht nur die Grundversorgung steht, sondern dort auch die Liberalisierung der Post- und Telekommunikationsmärkte festgeschrieben ist. Jetzt vor den Wahlen wollen Sie sich natürlich von der Postpolitik verabschieden, die Sie in den letzten fünf Jahren betrieben haben. Das ist feige! Kollege Bury, so kann es nicht gehen!
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Gradmesser, verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das von der Koalition vorgelegte Postgesetz ist zweierlei. Erstens: Bringt es den Wettbewerb in Gang? Zweitens: Sichert es die Grundversorgung? Nach unserer Auffassung wird dieses Postgesetz beide Ziele erreichen: Wettbewerb und Grundversorgung. Aber dieses Gesetz hat Schönheitsfehler. Schlimmer: Dieses Gesetz hat Schwachstellen. Noch schlimmer: Diese Schwachstellen des Postgesetzes sind bekannt, aber die Koalitionsfraktionen weigern sich, die Schwächen des Gesetzes auszubügeln.
Erstens. Die Tarifeinheit im Raum wird nicht gewahrt.
Zweitens. Die Grundversorgung wird auf wackelige Beine gestellt.
Drittens. Ein Sozialdumping - Kollege Bury hat zu Recht darauf hingewiesen - wird nicht vermieden.
Viertens. Der Kundenschutz ist zwar zugesagt, aber bislang nicht festgeschrieben.
Wir lehnen deshalb dieses Gesetz ab.
({1})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Barthel?
Ja.
Sehr geehrter Kollege Kiper, wenn Sie anprangern, daß das Sozialdumping durch das Postgesetz nicht verhindert wird, weshalb haben Sie dann den Anträgen der SPD im Postausschuß nicht zugestimmt?
Verehrter Kollege Barthel, unsere Fraktion wird sich bei den Änderungsanträgen der SPD-Fraktion enthalten.
({0})
Sie wissen, Herr Kollege Barthel, wir haben selber eine ganze Reihe von Änderungsanträgen zu diesem Gesetz eingebracht.
({1})
Sie haben unseren Anträgen natürlich nicht zugestimmt, sondern meinten, Ihre Anträge hier verabschieden zu müssen. Profilieren Sie sich doch nicht auf seiten der SPD-Fraktion dadurch, daß Sie meinen, radikal auftreten zu müssen, weil es um die Postgewerkschaft geht. Profilieren Sie sich doch lieber durch eine sachliche Politik, durch eine angemessene, konsequente Postpolitik, die auf Dienstleistungsqualitäten setzt. Das ist doch die Aufgabe, um die es hier geht.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich erstens zur Tarifeinheit im Raum sagen: Ein Brief von der Hallig Hooge nach Oberstdorf darf auch künftig nicht mehr kosten als einer von Dortmund nach Essen. Dieses Prinzip hat die Regierung aufgegeben. Tarifeinheit im Raum schließt Wettbewerb nicht aus. Tarifeinheit im Raum ließe auch Spielraum für wettbewerbliche Preisnachlässe für Einzelkunden. Dies ist auch vom Europäischen Parlament gefordert worden. Die Bundesregierung gibt hier die Tarifeinheit einfach auf, und das ist ein Fehler.
Zweitens: Die Grundversorgung wackelt. Die Bundesregierung begrenzt die Exklusivlizenz auf fünf Jahre. Die Bundesregierung hofft, daß die Grundversorgung ab dem Jahre 2002 zum Nulltarif zu haben ist. Prinzip Hoffnung - das ist die Handschrift Waigels. Die Haushaltslöcher werden immer größer, die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Statt solider Wirtschafts- und Finanzpolitik und statt neue Lösungen anzubieten, setzen Sie immer nur auf Hoffnung. Ihre komplizierte Umlagelösung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es im Jahre 2002, wenn die Grundversorgung zusammenbricht, zu spät ist, ein bißchen nachsteuern zu wollen.
Unsere Forderung ist eine Exklusivlizenz bis 100 Gramm ohne Befristung, allerdings mit regelmäßiger Überprüfung, ob sie notwendig ist. Die Forderung der SPD nach einer zusätzlichen Exklusivlizenz bei der Infopost halten wir für übertrieben.
({3})
Der Infrastrukturauftrag kann aus der „exklusiven" Standardpost finanziert werden.
Drittens. Zum Sozialdumping möchte ich anders als der Kollege Elmar Müller, anders als Sie es hier dargestellt haben, sagen: Es mögen nicht die 610DM-Verträge sein. Es ist aber Tatsache, daß Mitarbeiterinnen von Wettbewerbern vor den Arbeitsgerichten klagen, daß sie seit mehreren Jahren Tag für Tag den Vertrag neu schließen müssen. Sie stehen Tag für Tag erneut vor der Situation, daß man sie rausschmeißen könnte. Und das Gericht gibt den Unternehmen auch noch recht. Das ist doch Sozialdumping. Dem müssen wir doch etwas entgegensetzen.
({4})
Amerika ist überall; ich erinnere an den UPS-Streit.
Wettbewerb schafft Arbeitsplätze, sagt die F.D.P. Aber welche Arbeitsplätze? Wettbewerb schafft nach Ihrem Motto vor allen Dingen Arbeitsplätze ab, und zwar bei der Post. Das ist die bittere Wahrheit.
Viertens: Kundenschutz. Der Verordnungsentwurf ist zugesagt, aber von den Koalitionsfraktionen noch nicht vorgelegt worden. Kollege Bury hat darauf hingewiesen, daß die Festschreibung des Postzeitungsdienstes mehr als fraglich ist.
({5})
Remailing-Regelungen fehlen ebenfalls. Wir haben
hierzu einen umfangreichen Änderungsantrag einDr. Manuel Kiper
gebracht; er liegt vor. Wir bitten Sie natürlich, ihm zuzustimmen, wissen aber bereits aus den Ausschußberatungen, daß Sie diese Verbesserungsvorschläge ablehnen.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser gemeinsames Ziel ist: Die Mentalität der „Behördenpost" muß ad acta gelegt werden. Wir brauchen eine moderne Dienstleistungsorientierung. Wir haben die Idee der Dienstleistungsbüros in die Debatte eingebracht. Es geht nicht nur um Postfilialen, wovon die SPD immer spricht. Wir brauchen flächendeckend Dienstleistungsfilialen - Postdienstleistungen, Finanzdienstleistungen, Kommunikationsdienstleistungen, Bürgerservice der Kommunen, Verkehrsdienstleistungen -; nur so bleiben unsere Dörfer und Stadtteile lebensfähig, wenn eine Bündelung eintritt.
Unseren Antrag, Bürgerbüros einzurichten, wie es bereits in Bismarck oder auch in der Stadt Arnsberg beispielhaft geschehen ist, haben Sie von seiten der Koalition als auch von seiten der SPD zwar abgelehnt; Sie haben sich aber nicht einmal bereit gefunden, irgend etwas gegen unseren Antrag zu sagen. Das, was Sie hier an den Tag legen, ist doch keine wirkliche Dienstleistungsorientierung.
({7})
Ich komme zum Schluß. Öffentlich gemeldet haben sich in der Debatte um die Postreform bislang nur die Strukturkonservativen. Die Post AG wollte die alten Strukturen. Die Postgewerkschaft hängt an den alten Strukturen. Nun sind auch die Koalitionsfraktionen nicht in der Lage, eine moderne Dienstleistungsstruktur in diesem Land zu etablieren.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zu Ihrem letzten Satz.
Frau Präsidentin, ich komme zu meinem letzten Satz.
In diesem Lande wird der Name Bötsch nur mit dem Verschwinden der Postfilialen verbunden bleiben. Das Verschwinden von Ihnen, Herr Bötsch, hat die Koalition leider nicht zu einem Konzept einer modernen Dienstleistungsgesellschaft beflügelt.
Wir lehnen das Postgesetz ab und werden uns bei der Abstimmung über die Anträge der SPD-Fraktion enthalten.
({0})
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Dr. Max Stadler, F.D.P.Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Postgesetz wird die Liberalisierung der Märkte der alten Post abgeschlossen. Dieses Gesetz ist die konsequente Fortführung der in der letzten Legislaturperiode von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gemeinsam eingeleiteten Postreform. Anders als die Umwandlung der Post von einer Behörde zu einer Aktiengesellschaft und anders als die Entscheidung für die Privatisierung dieser Aktiengesellschaft besteht aber diesmal kein Einvernehmen mit der Opposition beim jetzigen entscheidenden Ref ormschritt,
({0})
nämlich bei der schrittweisen Beendigung der noch bestehenden Monopole der Post AG sowie der Überleitung in den Wettbewerb.
({1})
Daraus folgt, daß die Koalition die Pflicht hatte, dieses für den Standort Deutschland so wichtige Gesetz allein auf den langen Weg durch die parlamentarischen Instanzen zu bringen. Andernfalls würde die Postreform Stückwerk bleiben. Denn für die F.D.P. waren die bisherigen Reformschritte nur die Vorbereitung für die an sich maßgebliche Änderung, um die es geht, nämlich die vollständige Einführung des Wettbewerbs.
({2})
Die Umwandlung einer Behörde in eine Aktiengesellschaft mag für sich allein gesehen zwar nützlich sein, stellt aber noch nicht sehr viel mehr als eine Organisationsänderung dar. Die Überführung einer solchen Aktiengesellschaft aus öffentlicher Trägerschaft in private Inhaberschaft ist aus vielerlei Gründen zweckmäßig, wäre aber als Selbstzweck nicht ausreichend. Das eigentliche Reformziel wird vielmehr erst dann erreicht, wenn sich die in ihrer Organisation veränderte und privatisierte ehemalige Behörde in vollem Umfang dem Wettbewerb mit anderen Dienstleistern stellen muß. Denn Adressat der Reform sind die Verbraucher.
({3})
Alle Erfahrung lehrt, daß der Wettbewerb die entscheidende Antriebskraft ist, die dafür sorgt, daß es zu kostengünstigen, qualitativ guten und innovativen Angeboten an Dienstleistungen kommt.
({4})
Die deutsche Wirtschaft, die wegen zu hoher Portokosten einen Standortnachteil im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz und damit einen Nachteil bei der Sicherung von Arbeitsplätzen hat, der private Verbraucher, der ein exzellentes Angebot an postalischen Leistungen wünscht - sie sind die Zielgruppen, um deren Interessen es bei der Durchsetzung des neuen Postgesetzes geht.
({5})
Man muß diese Zielsetzung angesichts der Begleitmusik, die die Postgewerkschaft in den letzten Tagen intoniert hat, und angesichts des Verlaufs der öffentlichen Diskussion immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Wir haben Verständnis für jeden einzelnen Postbediensteten, der seine Sorge um die Erhaltung seines Arbeitsplatzes artikuliert.
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Wir haben Verständnis dafür, daß die Präsenz der Post auf dem flachen Land insbesondere von den Kommunen und den großen Flächenstaaten angemahnt wird. Aber wir sind doch erstaunt darüber, daß in der Auseinandersetzung um das neue Postgesetz manchmal der Eindruck erweckt wird, als stünden wir erst am Beginn und nicht bereits am Ende des Reformprozesses.
({7})
Die Grundentscheidung für die Leitlinie der Postreform hat doch der Gesetzgeber mit verfassungsändernder Mehrheit bereits in der letzten Legislaturperiode getroffen. Damals wurde das Grundgesetz in Art. 87 f geändert. Demnach sind Dienstleistungen im Bereich des Postwesens als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die Deutsche Post AG und durch andere private Anbieter zu erbringen, also im Wettbewerb. Eine Entscheidung des Gesetzgebers jetzt für ein unbefristetes Monopol der Deutschen Post AG wäre daher verfassungswidrig.
({8})
Es wäre auch schon ein Verstoß gegen das Grundgesetz, wenn private Anbieter dauerhaft in Teilbereichen davon ausgeschlossen würden, postalische Dienstleistungen zu erbringen.
({9})
Deswegen kann es keine Fortgeltung des Monopols für Briefsendungen, egal, um welche Gewichtsklasse es sich handelt, auf Dauer geben.
Damit wird auch deutlich, daß die Fronten in der öffentlichen Diskussion bisweilen völlig verquer laufen. Nach der klaren Vorgabe des Grundgesetzes haben sich nicht diejenigen besonders zu rechtfertigen, die das Postmonopol aufheben, sondern umgekehrt müssen diejenigen schon eine besondere Begründung finden, die das Monopol - und sei es auch nur in Teilbereichen - fortbestehen lassen wollen.
({10})
Daher muß man den politischen Kompromiß, der Deutschen Post AG noch bis zum Jahr 2002 eine Exklusivlizenz für Briefsendungen bis 100 Gramm zuzugestehen, schon als recht weitgehende Abweichung von der grundgesetzlichen Festlegung auf Wettbewerb bezeichnen. Eine Rechtfertigung für eine so lange Fortgeltung eines Teilmonopols fällt daher aus Sicht der F.D.P. nicht leicht. Es verwundert also kaum, daß in der öffentlichen Diskussion als Rechtfertigung auch wechselnde Argumente herangezogen werden. Hauptsächlich werden die Pensionsverpflichtungen der Post AG, die Verpflichtung zur Sicherung der Grundversorgung sowie allgemein die Notwendigkeit einer Übergangsfrist zur Vorbereitung auf den Wettbewerb angeführt.
Wie auch immer: Es ist klar, daß es sich bei dieser Exklusivlizenz nur um eine Übergangsregelung handeln kann, deren Endzeitpunkt auch aus Gründen der Planungssicherheit für die potentiellen Wettbewerber jetzt schon definitiv. festgelegt werden muß. Nach unserer Auffassung erhält die Deutsche Post AG mit der Fünf-Jahres-Regelung beim Teilmonopol für Briefsendungen bis 100 Gramm eine ausgezeichnete Chance, sich auf den dann unvermeidlichen Wettbewerb einzustellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Ja, bitte.
({0})
Nein, ich habe ein Interesse daran, daß der Kollege Stadler meine Frage beantwortet.
Herr Kollege, Sie haben eindringlich dargelegt, daß sich die Verlängerung des Monopols für einen bestimmten Bereich in einer verfassungsrechtlichen Grauzone abspielt. Wie würden Sie denn die Chancen abschätzen, wenn sich ein möglicher Mitbewerber, der jetzt wegen dieser Regelung vom Wettbewerb ausgeschlossen ist, an das Bundesverfassungsgericht wenden und dagegen klagen würde, weil dies nicht mit der Verfassung in Einklang stehe?
Herr Kollege Irmer, Sie zeigen mit Ihrer Frage auf, daß man die Diskussion auch einmal von einem anderen Standpunkt aus führen muß, nämlich nicht nur von den Interessen der Deutschen Post AG aus, sondern mit Blick auf die Berufsfreiheit und Gewerbefreiheit der potentiell in den Markt eintretenden Wettbewerber.
({0})
Aus dieser Sicht ist es bereits ein weitgehendes Zugeständnis, daß die Deutsche Post AG eine Fünf-Jahres-Übergangsfrist erhält, die nach meinem Dafürhalten gerade noch mit den Vorgaben der Verfassung vereinbar ist.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist darauf hinzuweisen, daß über die Entwicklung der Arbeitsplätze bei der Post AG erst die Praxis eine sichere Auskunft erteilen kann. Bei der begrenzten Freigabe der InfoPost hat die Post AG jedenfalls statt zuvor befürchtete
Verluste nach der Liberalisierung Gewinne erzielt, obwohl andere Wettbewerber am Markt ebenfalls erfolgreich sind. Wir erwarten, daß die Post AG, die als überragender Wettbewerber mit guter Logistik und flächendeckender Leistung startet, gute Chancen am Markt hat und daß daher viele Befürchtungen über die Entwicklung der Arbeitsplätze übertrieben sind.
Ich komme nun zu dem vielfach gebrauchten Argument des Sozialdumpings. Zunächst einmal hat die Anhörung im Postausschuß keinerlei Beweis dafür erbracht, daß der vielbeschworene Aufmarsch der Tumschuhbrigaden wirklich stattfinden wird.
({2})
Es könnte sich dabei vielmehr um ein Scheinargument im vergeblichen Kampf um die Konservierung alter Strukturen handeln.
Wichtig erscheint mir aber eines - hier hat die SPD einen interessanten Ansatz gewählt mit ihren Anträgen, die auch in zweiter Lesung wieder gestellt werden -: Die SPD meint, man könne soziale Standards zur Voraussetzung für die Vergabe von Lizenzen im Postbereich machen. Dies scheitert an Art. 12 des Grundgesetzes; denn dabei würde es sich um einen Eingriff in die grundgesetzlich gewährleistete Gewerbe- und Berufsfreiheit der anderen Anbieter handeln.
({3})
Es handelt sich bei dem, was Sie vorschlagen, eindeutig um Beschränkungen der Berufsfreiheit durch sogenannte Berufszugangsregelungen. Diese sind nur höchst ausnahmsweise zulässig. Herr Kollege Irmer müßte im Grunde genommen die gleiche Frage wie eben stellen. Sie könnten nach meiner Meinung, wenn wir das beschließen würden, nicht den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichtes und seiner Rechtsprechung zu Art. 12 des Grundgesetzes genügen. Fremde Regelungszwecke, soziale Aspekte, umweltpolitische Gesichtspunkte - Herr Bury hat mich ja zitiert und versucht, mich ad absurdum zu führen; aber der Kernpunkt bleibt -, also der Lizenzvergabe fremde Gesichtspunkte sind nicht im Bereich der Lizenzen zu regeln. Vielmehr handelt es sich hier um allgemein politische Probleme.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Auch wir erkennen die Pflicht zur flächendeckenden Grundversorgung des Art. 87 f an. Wir sind aber der Meinung, daß der Markt wie bei anderen Wirtschaftsgütern auch dafür sorgen wird, daß die flächendeckende Versorgung im Wettbewerb gewährleistet ist - und dies besser als durch gesetzliche Vorgaben.
({4})
Es ist heute unsere Pflicht, daß wir als Bundestag unsere eigene Entscheidung treffen - unabhängig von dem Votum, das der Bundesrat angekündigt hat, und unabhängig von einem etwaigen Vermittlungsverfahren. Da sagen wir als F.D.P.-Fraktion: Das Postgesetz verfolgt eine richtige Zielsetzung mit den richtigen Mitteln. Daher stimmen wir zu.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard Jüttemann, PDS.
({0})
Natürlich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, diesen Postgesetzentwurf vorgelegt haben, wurde er schon mit vielerlei Attributen bedacht. Die wenigsten davon sind allerdings schmeichelhaft für die Autoren. Da ist vom Postraub der 90er Jahre die Rede, von einem arbeitsmarktpolitischen Skandal erster Ordnung, von Volldampf in Richtung Schmalspurpost.
Meine Redezeit würde nicht ausreichen, um die Empörung zú schildern, die sich allein gestern bei der Großkundgebung der Deutschen Postgewerkschaft Luft machte. Da hätten Ihnen, Herr Minister, eigentlich die Ohren klingen müssen; denn dort, waren Tausende von denen versammelt, die von Ihrem Gesetz unmittelbar betroffen sind. Sie, Herr Minister, gehören ja der CSU an, die sich immer so gern als „große Volkspartei" bezeichnet. Wenn Sie sich nur eine Sekunde lang selbst beim Wort nehmen würden, müßten Sie Ihr Gesetz eigentlich sofort in den Papierkorb befördern;
({0})
denn die Postgewerkschafter hatten recht, als sie dieses Gesetz gestern als bisher größten Jobkiller im Postbereich bezeichneten.
Ohne jede sachliche Notwendigkeit wollen Sie,, Herr Minister, die Exklusivlizenz der Post auf Briefe bis 100 Gramm herunterdrücken, dies auf nur fünf Jahre festschreiben und die Infopost sogar ganz freigeben, obwohl Sie sehr gut wissen, daß jede Milliarde Umsatzverlust der Deutschen Post 10 000 tarifliche Arbeitsplätze kostet. Gibt Ihnen denn nicht zu denken, daß erst vor wenigen Tagen selbst der Europaabgeordnete Markus Ferber - mein Kollege Bury sagte es schon: Ihr Parteikollege! - gerade diesen Umstand heftig kritisiert hat?
({1})
Auch die Postbeschäftigten haben recht, wenn sie befürchten, daß Ihre Verheißungen von den Segnungen des Wettbewerbs im Postsektor eine einzige Mogelpackung sind. Es ist schon möglich, daß durch Ihre Postpolitik neue Jobs entstehen. Nur verschweigen Sie dabei stets zwei Dinge: Erstens ist die Zahl der vernichteten Arbeitsplätze weit größer als die der neuen. Zweitens werden diese neuen Jobs wohl zu einem nicht geringen Teil aus Scheinselbständigkeiten, 610- bzw. 520-DM-Jobs und sonstigen Beschäftigungen unterhalb des Tarifs bestehen.
Herr Minister, Sie sagten gestern, Sie wollen prüfen, ob soziale Mindeststandards im Postgesetz festgeschrieben werden können. Wir werden aber sicher sehen, daß der PDS-Antrag, der genau das fordert, von Ihrer Mehrheit abgeschmettert wird.
Auch die kommunalen Vertreter aus Nichtballungszentren haben vermutlich recht, wenn sie befürchten, daß die Versorgung mit Postdienstleistungen auf dem flachen Lande künftig nicht billiger, dafür aber bedeutend mieser wird. Warum sonst war Ihre Koalition so erpicht darauf, im derzeit geltenden Gesetz das Wort „Universaldienst" durch den schwammigen Begriff „Grundversorgung" zu ersetzen? Warum sonst haben Sie es im Vorfeld unterlassen, die sogenannte Grundversorgung klar zu definieren? Aber wahrscheinlich ist Ihr Verständnis vom Verfassungsauftrag für eine flächendeckende und angemessene Versorgung mit postalischen Dienstleistungen ebensowenig ernst zu nehmen wie das großspurige Wort Ihres Kanzlers von der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000.
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Vielleicht soll dieses in vielfacher Hinsicht skandalöse Postgesetz auch Ihr Abschiedsgeschenk an die Unternehmerverbände sein, wenn Sie demnächst aus dem Amt scheiden. Eines ist es jedenfalls nicht: ein Beitrag zur Sicherung von tariflicher und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in diesem Lande.
Sogar innerhalb der EU preschen Sie mit Ihrer schmalbrüstigen Exklusivlizenz für die Deutsche Post ohne Not vor und beweisen damit einmal mehr, daß Ihr ständiges demagogisches Gerede von der Sicherung des Standortes Deutschland in der Praxis nicht das Papier wert ist, auf dem es geschrieben steht.
Selbst der bei der öffentlichen Anhörung im Postausschuß anwesende EU-Vertreter bestätigte, daß es von seiner Seite keinerlei Einwände gegen eine umfangreichere Exklusivlizenz gibt, sofern dies zur Finanzierung von Verpflichtungen, zum Beispiel Pensionslasten, nötig ist. Aber Sie, Herr Minister, verweigern die Aussage, wenn Sie erklären sollen, wie eine schwindsüchtige Post diese Lasten tragen soll. Sie verweisen einfach auf den Bund und stoßen damit in ein Horn, das Ihnen dann längst nicht mehr gehört.
Die Postlerinnen und Postler haben ihr Opfer auf dem Altar der Liberalisierung längst gebracht. Das, was Sie, Herr Minister, Postreform nennen, hat in diesem Jahrzehnt bereits mehr als 100 000 Arbeitsplätze gekostet. Bei einem weiteren Arbeitsplatzabbau könnte es die Postbeschäftigten im Osten besonders hart treffen, da sie ja nicht in den Genuß der Verbeamtung gekommen sind.
Wenn ich dieses Postgesetz zum Maßstab nehme, kann ich nur zu dem Schluß kommen, daß Ihrer Koalition, Herr Minister, auch das geringste Maß an Verantwortung fehlt. Gerade deshalb hoffe und erwarte ich von der SPD, daß sie dieses Mal ihre Verantwortung wahrnimmt und dieses Gesetz im Bundesrat stoppt - im Gegensatz zu 1994, als sie mit ihrer
Zustimmung zur Grundgesetzänderung indirekt mithalf, die Weichen für den jetzt geplanten sozialen Kahlschlag zu stellen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Meister, CDU/ CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine werten Kollegen! Herr Kollege Jüttemann, es ist schon ein erheblicher Fortschritt, daß die Empfänger von Briefsendungen in den neuen Bundesländern heute davon ausgehen können, daß nur sie diese Briefsendung lesen und nicht andere. Insofern haben wir in den letzten Jahren eine sehr positive Entwicklung der Postpolitik gehabt.
({0})
Denken wir einmal an die Erhöhung des Briefportos am 1. September 1997 auf 1,10 DM! Wenn wir dies mit dem europäischen Schnitt vergleichen, liegen wir mit unserem Porto um etwa 50 Prozent darüber. Das Postgesetz hat das Ziel, hier eine wesentliche Erleichterung für unsere Bürger durch eine Portoreduzierung zu bringen. Dies ist etwas Positives für den Geldbeutel der Bürger. Dies ist etwas Positives für die Kostenstruktur am Standort Deutschland. Ich glaube deshalb im Gegensatz zum Kollegen Bury, daß dies eine echte Politik für die Menschen in unserem Land ist.
({1})
Im Gegensatz zum Kollegen Bury möchte ich hier klar und deutlich sagen: Ich lege im Einvernehmen mit der gesamten Koalition sehr viel Wert darauf - mir ist das nicht gleichgültig, daß wir auch nach dem 1. Januar 1998 ein Postgesetz haben. Ich möchte nicht den Zustand erreichen, daß wir kein Postgesetz mehr haben und nur die allgemeinen Gesetze gelten. Das wäre für die Beschäftigten der Post AG das Schlimmste, und das wäre das Schlimmste, was für die Bürger in unserem Land geschehen könnte.
Ich möchte ausdrücklich an die Verantwortung der Kollegen. der SPD-Fraktion und der SPD-regierten Länder im Bundesrat appellieren, dieser Verantwortung im Interesse der Beschäftigten der Post AG und der Bürger dieses Landes gerecht zu werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?
Kochen Sie nicht Ihr parteipolitisches Süppchen auf dem Rücken der Mitarbeiter der Post AG und der Bürger in diesem Land, sondern bekennen Sie sich zu Ihrer Verantwortung.
({0})
Manchmal hat die Präsidentin Schwierigkeiten den Redefluß zu unterbrechen, wenn die Sätze fünf Minuten dauern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?
Gerne, Herr Kollege. Bitte sehr.
Herr Kollege, könnten Sie mir einmal erklären, warum der Minister das Briefporto zunächst auf 1,10 DM erhöht und Sie erklären, mit diesem Gesetz solle eine Konkurrenz eingeführt werden, damit wir wieder zu niedrigeren Preisen kommen? Warum hat der Minister dann überhaupt die Portoerhöhung genehmigt, wenn er jetzt die Absicht hat, zu einem einfacheren und niedrigeren Porto zu kommen?
Herr Kollege Heistermann, wir werden durch den Wettbewerb zunächst einmal anderen die Möglichkeit schaffen, auf den Markt zu kommen und andere Dienstleistungen mit höherer Qualität, auf einem höheren Niveau, mit einer anderen Bandbreite anzubieten. Es wird auch die Möglichkeit geben, Laufzeiten zu verkürzen. Wir werden mit Sicherheit auch - allein schon, wenn Sie sich die internationale Situation ansehen - zu niedrigeren Preisen kommen.
Das Problem, das wir bei der Preisgestaltung der Post AG haben,
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ist zum Beispiel die Tatsache, daß die Personalnebenkosten dort bei 120 Prozent liegen. Üblich sind in Deutschland - bedauerlicherweise - etwa 80 Prozent. Diese 80 Prozent sind schon zu hoch, aber die 120 Prozent, die wir bei der Post AG haben, sind auf jeden Fall zu hoch. Wir mußten dieser Situation Rechnung tragen. Wir können das Unternehmen hier nicht ins Messer laufen lassen. Dies hat aber nicht der Minister allein getan, sondern auch Ihre Kollegen im Regulierungsrat haben dieser Entscheidung zugestimmt, nicht zuletzt um eine flächendeckende Versorgung im Lande sicherzustellen, zu dem sich beide große Volksparteien bekennen. Deshalb war die Entscheidung richtig. Nichtsdestotrotz gehe ich davon aus, daß wir zu günstigeren Konditionen kommen.
Ich möchte außerdem festhalten: Nach meiner Auffassung wird dieses Gesetz langfristig Arbeitsplätze am Standort Deutschland sichern und neue Arbeitsplätze schaffen. Ich möchte das begründen: Wir haben vor einiger Zeit das Stichwort Remailing im Ausschuß diskutiert. Beim Remailing haben wir insbesondere das Problem der Portodifferenzen im Vergleich des deutschen Tarifs mit dem internationalen Porto anderer Staaten, was dazu führt, daß sehr viele mittelständische Unternehmer, die Versandleistungen, die Druckleistungen anbieten, hier nicht mehr zu wettbewerbsfähigen Konditionen arbeiten können. Wir werden hier nur dann zu einer Chance kommen, diese Arbeitsplätze am Standort Deutschland
zu halten und wieder neue entstehen zu lassen, wenn wir aktzeptable, international vergleichbare Porti haben. Deshalb brauchen wir die Liberalisierung.
Meine Damen und Herren, wir müssen auch an dieser Stelle dem Unternehmen Post AG die Fesseln nehmen, damit es sich am Wettbewerb überhaupt beteiligen kann, die Möglichkeit hat, mit in diesen Preis- und Qualitätswettbewerb einzusteigen. Leider sind Sie der Meinung, daß diese Fessel auf Dauer bleiben solle.
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Ich möchte einen vierten Punkt nennen, Herr Bury. Das ist die elektronische Substitution. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Stellen Sie sich einmal vor: Die Deutsche Telekom AG verschickt monatlich an ihre 40 Millionen Kunden ihre Rechnungen für die Telefonanschlüsse; wenn diese 480 Millionen Sendungen pro Jahr plötzlich per elektronischer Post geschickt werden und nicht mehr per Briefpost, dann ist das ganze damit verbundene Umsatzvolumen weg. Heute hat die Deutsche Post AG keine Chance, auf eine solche Entwicklung zu reagieren. Mit unserem Liberalisierungsschritt bekommt die Post AG die Möglichkeit, hier ein Angebot zu machen, das konkurrenzfähig ist,
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und dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Das ist es, was wir wollen: Wir wollen die Post AG von den Fesseln befreien, die Sie ihr angelegt haben.
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Herr Abgeordneter Meister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Barthel?
Ich erkenne die Taktik: Man möchte meine Rede hier nicht im Zusammenhang hören.
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Aber gerne, Herr Kollege Barthel. Bitte sehr.
Herr Meister, können Sie vielleicht dem Hohen Hause einmal erklären, warum Sie es, wenn das wahr ist, was Sie sagen - Sie wollen, daß der Wettbewerb eröffnet wird und daß die Post AG günstigere Angebote machen kann -, der Post AG im Unterschied zu ihren Wettbewerbern verwehren, freie Preise im Wettbewerb anzubieten? Genau in dem Fall, den Sie beschrieben haben - wenn ein großer Kunde eine Versendung vornehmen will -, wollen Sie die Post AG daran hindern, ein Angebot im freien Wettbewerb zu machen. Vielmehr wollen Sie das Angebot der Post AG der Genehmigung der Regulierungsbehörde unterwerfen und damit die Post AG in diesem Wettbewerb um Wochen zurückwerfen. Das heißt, daß im Ergebnis die Wettbewerber diese Sendungen längst zugestellt haben, bevor die Regulierungsbehörde überhaupt reagieren konnte.
Können Sie dem Parlament erklären, was Sie da eigentlich vorhaben?
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Herr Kollege Barthel, wenn wir Wettbewerb wollen, dann brauchen wir nach meiner Auffassung zunächst einmal einen sehr starken Regulierer, der dafür sorgt, daß wir überhaupt erst Wettbewerb am Markt bekommen. Gegenwärtig haben wir ein Monopol, und dieses Monopol muß zunächst einmal zu einem Wettbewerber auf dem Markt transformiert werden. Dafür brauchen wir einen Regulierer, der aufpaßt, daß der seitherige Monopolist seine Marktmacht, die er einfach auf Grund der Tradition, der Historie hat, nicht mißbraucht, um, obwohl wir den Markt gesetzlich geöffnet haben, in der Praxis das Monopol festzuschreiben. Deshalb brauchen wir einen Regulierer, deshalb brauchen wir auch eine Preisaufsicht, nicht um die Post AG aus dem Wettbewerb herauszunehmen, sondern um dafür zu sorgen, daß andere die Chance haben, in diesen Markt einzusteigen.
Ich möchte Sie bitten - auch Sie sind im Beirat der Regulierungsbehörde -, mit dafür zu kämpfen, daß dieser Markt geöffnet wird und daß auch andere Unternehmen die Chance haben, in diesen Markt einzusteigen, Leistungen anzubieten und Arbeitsplätze zu schaffen.
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Meine Damen und Herren, ich habe darauf hingewiesen, daß nach meiner Meinung Umfang, Bandbreite und Qualität der Dienstleistungen steigen werden. Dafür brauchen wir, wie ich eben auf Ihre Frage gesagt habe, einen starken Regulierer, der das insbesondere im Sinne der Kunden durchsetzt, damit überhaupt Wettbewerb entstehen kann.
Wir brauchen die räumliche Nähe von Ein- und Auslieferung. Wir bekennen uns ausdrücklich dazu, daß wir eine flächendeckende Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland erhalten wollen. Wir haben in diesem Gesetz die notwendigen Mechanismen vorgesehen, um diese flächendeckende Versorgung sicherzustellen.
Sie können uns vorhalten, daß die sogenannte Grundversorgungsverordnung noch nicht verabschiedet ist. Aber im Gesetz steht, daß sich sowohl der Deutsche Bundestag wie auch der Bundesrat mit der Grundversorgungsverordnung befassen. Wir werden als Parlamentarier die Möglichkeit haben, dafür zu sorgen, daß Ihre Bedenken, die Sie hier geäußert haben, ausgeräumt werden. Wir haben in der Zukunft noch die Möglichkeit, das zu tun, und für unsere Fraktion kann ich erklären: Wir werden diese Verantwortung wahrnehmen.
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Ich möchte zu dem Kollegen Kiper sagen: Sie haben eine hervorragende Rede gehalten. Ich möchte nur an einer Stelle leichte Kritik anbringen bzw. Sie etwas beruhigen. Sie haben über die Tarifeinheit im
Raum gesprochen und gesagt, Sie hätten Besorgnisse, daß insbesondere der ländliche Raum von steigenden Preisen betroffen sein werde. Wir haben in diesem Gesetz eine Obergrenze festgelegt. Die Preise im Raum werden auf keinen Fall über die Preise, die am Jahresende gelten, 1,10 DM für den Normalbrief, steigen können. Damit ist auch für diejenigen, die in ländlichen Gebieten wohnen, durch das Gesetz eine Sicherheit gegeben. Ich glaube, damit sind auch die von Ihnen angesprochenen Bedenken ausgeräumt.
Meine Damen und Herren, oft werden die Themen Grundversorgung und Exklusivlizenz durcheinandergewürfelt. Ich möchte feststellen: Exklusivlizenz und Grundversorgung haben nichts miteinander zu tun. Die Grundversorgungsfinanzierung ist im Gesetz durch einen Finanzierungsmechanismus geregelt, und die Exklusivlizenz dient dazu, dem Unternehmen Deutsche Post AG den Transfer vom Monopolisten zum Markt zu gewähren, die Altlasten, Pensionen, zu denen der Bund nach 2000 einen wesentlichen Finanzierungsbeitrag leisten wird, zu tragen und zum dritten die Zukunftsinvestitionen, die in den neuen Bundesländern getätigt worden sind, zu finanzieren. All das sind temporäre Dinge. Deshalb kann nach unserer Meinung die Exklusivlizenz wegfallen, wenn sich die temporären Belastungen erledigt haben. Es ist nicht notwendig, daß sie auf Dauer aufrechterhalten wird.
Wir werden uns selbstverständlich darum bemühen - wie es der Kollege van Haaren als Vorsitzender der Deutschen Postgewerkschaft in der Anhörung angemahnt hat -, daß wir uns im Einklang mit den EU-Regelungen befinden. Wir werden uns darum kümmern, Herr Kollege Bury, daß wir mit der EU-Gesetzgebung konsistent sind. Aber das kann natürlich nicht dazu führen - darum werden wir bei der EU werben -, daß wir das, was wir schon liberalisiert haben, wieder in den Monopolbereich zurückführen. Wir müssen hier ein ernstes Wort mit der EU reden, inwieweit es möglich ist, daß nicht Rückschritt betrieben wird, sondern daß wir in dem Sinne, in dem das Gesetz angelegt ist, auch in Zukunft weitergehen.
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Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, möchte ich abschließend darauf hinweisen, daß wir uns mit der Post-Kundenschutzverordnung detailliert im Ausschuß befaßt haben. Jeder einzelne Paragraph der Post-Kundenschutzverordnung wurde beraten, und wir haben sichergestellt, daß sich jede Position in der Gesetzgebung bzw. in den allgemeinen Geschäftsbedingungen und den Verordnungen, die aus dem Gesetz erwachsen, wiederfinden wird. Damit kann der Postkunde davon ausgehen, daß er die gleiche Sicherheit für die Versorgungsleistungen hat wie seither.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Barthel, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf Regierungsseite halten es viele für eine hohle Phrase, wenn im Zusammenhang mit dem Entwurf des Postgesetzes der Bundesregierung davon gesprochen wird, daß die Anwendung dieses Gesetzes auf dem Postmarkt zu frühkapitalistischen Verhältnissen führen wird. Ich halte diesen Vorwurf für sehr begründet.
Vor ungefähr 150 Jahren fand die Arbeit unter den Bedingungen eines massenhaften Überangebots an Arbeitskräften in gnadenloser Konkurrenz von Arbeitenden und Arbeitsuchenden untereinander und ohne tarifvertragliche und sozialstaatliche Regelungen statt. Nachdem durch den Sozialstaat des Grundgesetzes dem Wettbewerb um die billigsten Löhne und die niedrigsten Sozialkosten eine Untergrenze gesetzt war, richtete sich die Konkurrenz mehr an Produktivität, besseren Produkten und Kundennähe aus.
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Die Massenarbeitslosigkeit - nun sind wir wieder in der Gegenwart - führt die Unternehmen jetzt in Versuchung, ihr Heil in Lohn- und Sozialkostensenkungen zu suchen statt in neuen Märkten und in Innovation.
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Diesen strategischen Fehlorientierungen der Unternehmen leistet die Bundesregierung Vorschub. Das neue Postgesetz ist ein Musterbeispiel dafür.
Das Postgesetz soll Wettbewerb und Markt schaffen, wo es sie bisher nur teilweise gibt, wo deshalb auch nur keine oder nur schwache soziale und tarifliche Standards bei den neuen Wettbewerbern existieren und wo es dank der „hervorragenden Sozialpolitik" dieser Regierung so gut wie keinen gesetzlichen Schutz gibt. Sie haben es ja immer wieder blokkiert, wenn wir, die SPD, Anträge gegen Scheinselbständigkeit, gegen sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse und gegen illegale Praktiken auf dem Arbeitsmarkt gestellt haben. Im Gegenteil: Sie haben das Spektrum ungeschützter Arbeit massiv erweitert. Stichworte sind: Kündigungsschutz, befristete Arbeitsverhältnisse und das Drama mit dem Entsendegesetz.
Bei 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen und bei massivem Arbeitsplatzabbau des bisherigen Teilmonopolisten Post AG wird ein bisher geschützter Bereich, der kein Wachstumsbereich ist, dem Wettbewerb ausgesetzt. Wir haben es also mit Verdrängungswettbewerb um Sendungsvolumen und um Arbeitsplätze zu tun. In ihrem Gesetzentwurf bejaht die
Bundesregierung für den Postsektor mit Recht eine Sonderstellung. Sie bejaht sektorspezifische Regelungen bei der Entgeltregulierung, beim offenen Netzzugang, bei der eigens dafür geschaffenen Regulierungsbehörde usw. Sektorspezifische Regelungen sieht man, so weit das Auge reicht.
Eine solche sektorspezifische Regelung stellt auch die künftige Berechnungsgrundlage von Entgelten dar. Da ist die Rede von den „Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung". Explizit aus dieser Rechnung ausgeschlossen sind die Arbeitskosten zu geschützten Bedingungen. Das heißt, effizient ist das jeweils Billigste. Das Billigste aber ist sozialversicherungsfrei und ein Kindertaschengeld.
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Dies wird jetzt zum Maßstab, an dem sich alle Unternehmen der Branche ausrichten müssen, wenn sie nicht das Nachsehen wegen zu hoher Personalkosten haben wollen. Das ist letzten Endes der Grund, warum jetzt auch die Post AG schon anfängt, 610-DM-Jobs anzubieten und Subunternehmen, sprich Scheinselbständige, zu beauftragen. Aber Sie wollen unseren Antrag ablehnen, branchenübliche und sozial gesicherte Arbeitsbedingungen zur Preisgestaltung als Grundlage zu nehmen. Sie wollen es ablehnen, die Kosten des Gesamtnetzes der Post zugrunde zu legen, obwohl eine sogenannte „effiziente Einzelleistung" ohne ein Gesamtsystem geradezu das Gegenteil von effizient ist.
Sie wollen die auf die einzelnen Dienstleistungen entfallenden Kosten zum Maßstab Ihrer unglückseligen Ausgleichsregelung für die Grundversorgung machen. Im Unterschied zur Ausbildung sind Sie hier für eine Umlage. Es soll nach dieser Regelung derjenige Bewerber bei einer Ausschreibung zum Zuge kommen, der den geringsten finanziellen Ausgleich dafür verlangt. Für diesen Billiganbieter wollen Sie dann einen billigen Ausgleich finanzieren. Das muß wirklich eine tolle Grundversorgung werden.
({3})
Das ist nach unserer Auffassung die gesetzlich geregelte Subventionierung von Lohn- und Sozialdumping.
Die Kapitalseite dagegen wird diesem Dumping nicht unterworfen. Das Gesetz garantiert an gleicher Stelle - ich zitiere wörtlich - „eine angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals". Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Deswegen liegt es genau auf Ihrer Linie, daß Sie an zwei entscheidenden Stellen sektorspezifische Regelungen ablehnen, nämlich erstens dort, wo es sich um die Ansprüche und den Schutz der Kunden handelt, und zweitens dort, wo es um die Arbeitsbedingungen geht.
Einen kleinen Moment, Herr Abgeordneter.
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Es kann jeden einmal treffen, daß er vor der namentlichen Abstimmung sprechen muß. Also hören Sie bitte dem Kollegen zu. Das wäre fair.
({0})
Gerade deswegen, weil Sie keinen umfassenden und bezahlbaren Universaldienst für alle wollen, sondern eine Schmalspurpost, weil Sie keine verläßlichen Standards für Kunden und Beschäftigte und weil Sie die Post AG unfairen Wettbewerbsbedingungen aussetzen wollen, trifft der Vorwurf zu, daß Sie einen Wettbewerb um die miesesten Arbeitsbedingungen und die jeweils billigsten Angebote wollen, inklusive Rosinenpickerei und allem, was noch dazugehört. Sie zerstören damit Arbeitsplätze und die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, das jahrzehntelang unabdingbare Infrastruktur bedeutet hat und von allen bezahltes öffentliches Eigentum war.
({0})
Wir wollen einen wirklichen Wettbewerb um Kundenfreundlichkeit, um Dienstleistungsqualität und um flächendeckend bezahlbare Angebote. Deshalb auch unsere Anträge. Sie sagen - jetzt kommen wir zu dem Punkt der Auseinandersetzung -, das sei alles überflüssig, der Wettbewerb regele das. Der Wettbewerb schafft angeblich automatisch gute Qualität und gute Arbeitsplätze. Wir sagen: Wenn der Wettbewerb das regelt, um so besser. Dann brauchen wir die Regulierungsinstrumente nicht einzusetzen. Das gilt im übrigen auch für andere Gesetze. Weil die meisten bekanntlich nicht stehlen, müssen sie auch das Gesetz nicht fürchten.
({1})
Aber sollen wir deswegen auf die einschlägigen Paragraphen im Strafgesetzbuch verzichten? Ich frage unter diesen Voraussetzungen die Bundesregierung und all die Wettbewerber, die unsere Vorschläge ablehnen: Wenn der Markt ohnehin alles regelt, wovor haben Sie eigentlich Angst? Warum wehren Sie sich so erbittert gegen die gesetzliche Absicherung von etwas, was sowieso kommt? Der Punkt ist: Sie glauben es selbst nicht.
({2})
Die Realität auf dem Arbeitsmarkt, die Realität gerade bei Kurier-, Expreß- und Paketdiensten und alternativen Zustelldiensten zeigt es. Viele Äußerungen von Ihrer Seite in den letzten Wochen und Monaten zeigen es auch: Die Posträuber im Bundestag verkleiden sich in der Öffentlichkeit als Beschützer: sei es der Kollege Stadler, der heldenhaft für die Dompost in Passau kämpft; sei es Frau Blank, die auf den einschlägigen Podiumsdiskussionen den aufgebrachten Postlern versichert, so schlimm werde es schon nicht werden, weil der Bundesrat sich ja noch damit befassen muß; sei es Herr Minister Seehofer, der auf die einschlägigen Schreiben von Betriebsräten der Post AG leichtsinnigerweise auch noch schriftlich erklärt, er habe dem Postminister entsprechende Hinweise gegeben und die Forderungen der Betriebsräte unterstützt; sei es der CSU-Abgeordnete Götzer aus Landshut, der sich entschieden für ein Monopol der Post AG für einen großen Teil der Postsendungen einsetzt: 350 Gramm für Briefe und 100 Gramm für Infosendungen; seien es zahllose CSU-Landtagsabgeordnete, die im politischen und öffentlichen Raum gegen die jetzige 100-Gramm-Grenze kämpfen; sie werden angeführt vom Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr und Technologie, der erst letzte Woche auf einer Großkundgebung der DPG im Namen der Bayerischen Staatsregierung erklärt hat:
Wir fordern insbesondere eine Einbeziehung der
sogenannten Infopost ... in die Lizenzpflicht,
und unter Bezugnahme auf die Vorstellungen der Bundesregierung fuhr er fort:
Wir lehnen diesen engen Umfang mit allem Nachdruck ab. Die Exklusivlizenz muß vielmehr auch die Beförderung von InfoPost und adressierten Katalogen unter 100 g Einzelgewicht umfassen ... Nur durch Einbeziehung der InfoPost in den Bereich der Exklusivlizenz können ein umfassender Universaldienst gewährleistet und Sonderbelastungen der Deutschen Post AG ausgeglichen werden.
Es geht dann munter weiter mit nachdrücklichen Forderungen nach leistungsgerechter Entlohnung, Beständigkeit im Arbeitsverhältnis und einem dichten Filialnetz.
Warten wir es ab, wie sich die Bayerische Staatsregierung im Bundesrat verhält. Die namentliche Abstimmung gibt den CSU-Abgeordneten im Bundestag schon heute vor allen Dingen im Hinblick darauf, daß sie dann nicht wieder im Januar in Wildbad Kreuth mit dem Brüllaffen konfrontiert werden, eine Chance.
({3})
Wenn es bei uns schon nichts nützt, kann man für die leiseren Töne vielleicht die Katholische Landvolkbewegung anführen, die sich auch in diesem Sinne geäußert hat. Daß Sie von der Koalition es un- ter diesen Bedingungen kaum erwarten können, hinter die verschlossenen Türen des Vermittlungsausschusses zu kommen, kann ich vor diesem Hintergrund und angesichts der Aktivitäten der Beschäftigten verstehen. Sie haben mit Recht Angst vor der Offentlichkeit.
({4})
Bei den Grünen, auch das muß man hier leider anmerken, ist es nicht anders: An der Basis reden sie
grün, hier zerfallen sie wieder in ihre Grundfarben blau und gelb.
({5})
Wir werden es auch noch dem Letzten erklären, daß es heute eben nicht um Sonderrechte für ein Unternehmen und um Privilegien für bestimmte Beschäftigte geht, sondern um die Zukunft einer ganzen Branche, und daß Ihr Postgesetz sich gleichermaßen gegen Arbeitsplätze und gegen die normalen Postkundinnen und Postkunden richtet.
({6})
Deswegen werden wir in den nächsten Wochen nicht lockerlassen, für ein besseres Gesetz zu kämpfen oder Ihren Entwurf ganz scheitern zu lassen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Herr Postminister Bötsch.
({0})
Sie kann man offensichtlich schon mit meinem Namen erheitern. Das finde ich ganz toll. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!
({0})
Die heutige Debatte hat gezeigt, daß die letzten drei Monate, die ich als Minister für Post und Telekommunikation arbeiten darf, noch eine große politische Herausforderung darstellen.
({1})
Denn der Ihnen zur Abstimmung vorliegende Entwurf eines Postgesetzes wird uns im Hinblick auf die erforderliche Zustimmung des Bundesrates, meine Damen und Herren Kollegen von der Koalition, noch ein gehöriges Maß an Überzeugungsarbeit abverlangen, wie wir heute in der Debatte gesehen haben.
Heute geht es um den vom Postausschuß verabschiedeten Entwurf. Ich bitte Sie, ihm zuzustimmen.
({2})
Ich will meine Rede, da wir eine namentliche Abstimmung vor uns haben, relativ kurz halten.
Herr Kollege Kiper, angesichts dessen, daß Sie nur einige Schönheitsfehler an unserem Entwurf entdeckt haben, verstehe ich nicht, warum Sie dem Entwurf nicht zustimmen wollen; denn Sie haben ja auch im Ausschuß öfter mit der Koalition gestimmt.
Der Kollege Bury, der ansonsten als sehr sachverständig gilt, hat aber heute die Argumente so vertreten, wie sich andere Leute manchmal die Füße vertreten.
({3})
Ich habe seine Argumente nicht ganz verstanden.
Zu Ihnen, Herr Kollege Barthel, möchte ich sagen: Natürlich haben Sie recht. Die Koalition und die Regierung haben sich mit dem Postgesetz sehr viel Mühe gegeben, um einen gemeinsamen Gesetzentwurf zustande' zu bringen. Das halte ich in einer Koalition für völlig normal. Glauben Sie mir: Ich möchte die F.D.P. ja nicht heiraten.
({4})
Ich möchte aber mit der F.D.P. auch in Zukunft Politik für Deutschland mitgestalten können. Das ist unsere Aufgabe.
({5})
Dieses Postgesetz ist eine Voraussetzung dafür, daß wir das tun können.
Es wurde hier schon gesagt - manchmal etwas verschämt -, daß am Ende des Jahres das derzeit geltende Postgesetz ausläuft. Herr Kollege Funke, unsere damalige Entscheidung, Zeitgesetze zu schaffen, war eine gute Entscheidung. Es gibt nämlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder< verabschieden wir ein neues Postgesetz mit den Kautelen und den Möglichkeiten einer Exklusivlizenz, oder es gibt überhaupt kein Postgesetz. Dann haben wir einen voll liberalisierten Markt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Sie möglicherweise gestern mit der Postgewerkschaft demonstriert haben:
({6})
Glauben Sie, daß alle 43 000 Menschen, die angeblich in der Poppelsdorfer Allee waren, wissen, daß die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind, wenn das Postgesetz scheitert, sondern daß es einen voll liberalisierten Markt ohne Regulierung, ohne Kautelen und ohne Sonderbehandlung der Deutschen Post AG für die nächsten Jahre gibt?
({7})
Was ist eigentlich schlimmer als ein öffentliches Monopol? - Ein privates Monopol. Genau das wollen wir mit dem Postgesetz - mit den Ausnahmen, die hier mehrfach genannt wurden - beseitigen. Ich glaube, daß die vorgesehene Fortführung des Briefmonopols - wir nennen das eine Exklusivlizenz - für Normalbriefe unter 100 Gramm ein vernünftiger Kompromiß ist.
Wer heute diese Debatte verfolgt hat und die öffentliche Debatte verfolgt, der wird feststellen, daß es alle Nuancen von Meinungen zu diesem Thema gibt: Herr Bury sagt so und Herr Kiper so. Herr Jüttemann sagt etwas, Herr van Haaren etwas anderes und Herr Hübner vom Postverband wiederum etwas anderes.
({8})
Bundesminister Dr. Wolfgang Dötsch
Da halte ich es mit Goethe und seinen Worten: „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten."
({9})
Das heißt, ich fühle mich mit dem Kompromiß, den wir Ihnen hier vorgelegt haben, sehr gut.
Wenn Sie das Hearing vom 24. September im Postausschuß in Erinnerung haben, dann werden Sie feststellen, daß unser Kompromiß bei allen Sachverständigen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf positive Resonanz gestoßen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
({10})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Der Abgeordnete Helmut Heiderich hat nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung abgegeben, die wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll nehmen.*)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines Postgesetzes in der Ausschußfassung auf den Drucksachen 13/7774 und 13/8702 Buchstabe a. Dazu liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der SPD und ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über diese müssen wir zunächst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/8715? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/8716? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem eben festgehaltenen Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/8717? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/8718? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung? - Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist
*) Anlage 3
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Nein, oben links noch nicht. - Nun sind alle Urnen besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe damit die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird später bekanntgegeben * ), und wir setzen die Beratungen fort.
Damit ich für die weiteren Abstimmungen einen Überblick habe, bitte ich Sie, Platz zu nehmen oder den Saal schnell zu verlassen.
Wir kommen nun zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Grundsätzen zur Neuordnung des Postsektors auf Drucksache 13/8702 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4582 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Dienstleistungen für das 21. Jahrhundert auf Drucksache 13/8702 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6556 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Festschreibung und Sicherung von sozialen Standards und Leistungsgarantien im Postgesetz; das ist jetzt Drucksache 13/8702 Buchstabe d. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7094 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den deutschen Auslandsrundfunk
- Drucksache 13/4708 -({0})
*) Seite 17800 B
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Innenausschusses ({1})
- Drucksache 13/8669 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Joseph-Theodor Blank
Rezzo Schlauch Dr. Max Stadler Ulla Jelpke
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/8489 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz
Uta Titze-Stecher
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rezzo Schlauch, Christa Nickels und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Staatsferne und Selbstbestimmung des deutschen Auslandsrundfunks ({4})
- Drucksachen 13/4846, 13/8669 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Joseph-Theodor Blank
Rezzo Schlauch Dr. Max Stadler Ulla Jelpke
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Joseph Fischer ({5}), Rezzo Schlauch, Christa Nickels, Dr. Antje Vollmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherung der Staatsferne und der Rundfunkfreiheit im Deutschland-Radio
- Drucksache 13/1429-Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Arne Börnsen ({7}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Garantie des Bestandes der ARD
- zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur vereinbarten Debatte zu dem Thema „Strukturreform der ARD"
- Drucksachen 13/396, 13/404, 13/4645 - Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Otto Wilhelm ({8})
Rezzo Schlauch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Deutsche Welle leistet durch ihre Arbeit einen ausgezeichneten Beitrag zu einem umfassenden und objektiven Deutschlandbild in der ganzen Welt. Dafür gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Welle von dieser Stelle aus ganz herzlicher Dank.
({0})
Die Deutsche Welle ist nach BBC und Voice of America der drittgrößte Auslandsrundfunksender der Welt. Mit ihrem Hörfunk und weiteren 38 fremdsprachigen Programmen erreicht sie regelmäßig über 30 Millionen Hörer. Zur Verbreitung ihres dreisprachigen Fernsehprogramms, das rund um die Uhr ausgestrahlt wird, hat die Deutsche Welle das nach CNN dichteste Satellitennetz der Welt. Durch diese technischen Möglichkeiten können weltweit 100 Millionen Haushalte erreicht werden. Das macht die Bedeutung des deutschen Auslandsrundfunks für die auswärtige Medien- und Kulturarbeit deutlich.
Um weltweit den hervorragenden Ruf zu festigen und die Position im internationalen Wettbewerb behaupten zu können, ist eine Änderung der gesetzlichen Grundlage erforderlich. Diese Änderung erlaubt die flexible Anpassung an die sich rasend schnell verändernden Informationsmärkte der Welt. Sie eröffnet die volle Konkurrenzfähigkeit der Deutschen Welle mit den öffentlich-rechtlichen und den privaten Unternehmen in Deutschland und im internationalen Vergleich.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf hat in den Ausschüssen weitgehend Zustimmung gefunden. Ich meine, das ist gut so. Ich erhoffe mir auch eine breite Zustimmung im Deutschen Bundestag. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Welle müssen wissen, daß das Parlament hinter ihrer Arbeit steht.
Daher ist die Regelung über die Finanzierung der Deutschen Welle von zentraler Bedeutung. In diesem Bereich gibt und gab es durchaus beachtliche Unterschiede; das soll nicht beiseite gewischt werden. Wir Medienpolitiker wollen eher eine Globalfinanzierung, um mehr wirtschaftlichen Spielraum für entsprechendes Handeln und Denken zu erreichen. Ich weiß aber, daß es zwischen der Autonomie der Rundfunkanstalt und dem Budgetrecht des Parlaments abzuwägen galt.
Ich meine, daß die jetzt gefundene Regelung einen fairen Interessenausgleich zwischen den rundfunkrechtlichen und den haushaltsrechtlichen Interessen sichert. Dabei bleibt die Programmautonomie der Deutschen Welle in vollem Umfang gewahrt. Der Bundeszuschuß ist sowohl nach dem Haushaltsplan
der Deutschen Welle als auch nach dem Haushaltsgesetz des Bundes bestimmt.
Was die Neuregelung der Gremien anbelangt, so bleibt es bei der bisherigen Größenordnung. Eine Ausweitung des Verwaltungsrates oder des Rundfunkrates würde unserer Erkenntnis nach einer Entbürokratisierung zuwiderlaufen. Beide Gremien haben, so meine ich, gute Arbeit geleistet.
In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich den Vorschlag des Intendanten der Deutschen Welle, Dieter Weirich, die finanzielle Eigenverantwortung der Redaktionen durch ein dezentrales Budgetmanagement zu stärken. Wir begrüßen, daß die Deutsche Welle trotz Stagnation im Haushalt die Ausgaben für ihre Programme erhöht hat. Dies ist, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, eine Sparpolitik, mit der gleichzeitig Kreativität und Produktivität gefordert werden.
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Keine andere öffentlich-rechtliche Anstalt in Deutschland hat eine so umfangreiche Unternehmensreform geleistet. Besonders bemerkenswert ist, daß die Zahl der Auszubildenden in den neuen Medienberufen deutlich gesteigert wurde. Ich meine, hier ergeben sich gerade für junge Menschen chancenreiche Berufsperspektiven. Beachtlich sind auch die Anstrengungen zur Modernisierung des Hauses, in deren Mittelpunkt die Digitalisierung steht. Mit Investitionen in Höhe von 70 Millionen DM wird die Deutsche Welle bis zum Jahr 2000 bei Radio und Fernsehen voll digitalisiert sein.
Meine Damen und Herren, eines ist besonders wichtig - vielleicht wissen dies die meisten Kolleginnen und Kollegen nicht -: Der Deutschen Welle wird es in Zukunft möglich sein, Werbung zu betreiben und Sponsoren zu gewinnen. Uns ist bewußt, daß es nicht leicht sein wird, für ein weltweit ausgestrahltes Programm Werbekunden zu akquirieren. Trotzdem sollte es Ansporn für die Deutsche Welle und für deutsche Firmen sein, ihre Produkte im Ausland auch in dieser Form zu präsentieren. Zu erzielende Werbeeinnahmen werden dabei zur Hälfte dem Bundeszuschuß angerechnet. Dies bedeutet eine Entlastung der Steuerzahler.
Was den Sitz der Deutschen Welle anbetrifft: Nach dem Umzug in den Schürmannbau werden Bonn für den Rundfunk und Berlin für die Fernsehproduktion Standorte der Deutschen Welle sein.
Mit dem neuen Gesetz wird der deutsche Auslandsrundfunk deutlich gestärkt. Dies ist gut so. Denn elektronische Medien spielen eine immer größere Rolle in der auswärtigen Medien- und Kulturpolitik. Das weltweite Interesse an Deutschland ist besonders seit der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes sichtbar gestiegen. Die deutsche Sprache erlebt vor allem in Mittel-, Ost- und Südosteuropa eine Renaissance. Deswegen sollten wir über die Parteigrenzen hinweg gemeinschaftlich dafür sorgen, daß Deutschlands Stimme in der Welt im Zeitalter der Globalisierung noch wirkungsvoller wahrgenommen wird, als dies bisher der Fall ist.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelie Sonntag-Wolgast.
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es geschieht nicht häufig, daß wir hier im Deutschen Bundestag über Gegenwart und Zukunft des Rundfunks sprechen. Deswegen nehme ich gern die Gelegenheit wahr, auch ein paar übergreifende und aktuelle Themen der Medienpolitik anzusprechen. Dabei stört es mich überhaupt nicht, daß unser Antrag mit der klaren Forderung nach Bestandsgarantie der ARD, über den Sie, Herr Marschewski, leider kein Wort verloren haben, zweieinhalb stattliche Jahre auf dem Buckel hat.
({0})
Erstens. Der Bundeskanzler hatte ja seinerzeit ähnlich wie die Ministerpräsidenten Bayerns und Sachsens gezielte Angriffe gegen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerichtet. Dieser skandalöse Eingriff in die Programmgestaltung darf nicht durch Liegenlassen angeblich überholter Anträge in Vergessenheit geraten.
Zweitens. Wir können keinesfalls sicher sein, daß demnächst nicht neue Versuche aus den Reihen derjenigen gestartet werden, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen und den Hörfunk über kurz oder lang aushungern wollen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Anregung des Kollegen Scholz vor einigen Monaten, durch technische Manipulationen ARD und ZDF aus dem Mattscheibenangebot auszublenden
({1})
und den Inhabern solcher Geräte damit die Gebührenzahlung zu ersparen.
({2})
Zum Glück, meine liebe Kollegen und Kolleginnen, ist diese Mischung aus Treppenwitz und blankem Populismus selbst in Kreisen konservativer Systemveränderer auf wenig Gegenliebe gestoßen. Aber wer schützt uns vor weiteren ideologisch bedingten Attacken dieser Art nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein"?
Deshalb, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist ein eindeutiges Bekenntnis hier im Parlament zu Bestands- und Entwicklungsgarantien des öffentlichrechtlichen Rundfunks angebracht und notwendig.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Duve?
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie erwähnten eben Bemerkungen von Professor Scholz und Vorschläge zur Wegdrängung der Öffentlich-Rechtlichen. Ist Ihnen bekannt, ob er dies in seiner Eigenschaft als Mitglied des Deutschen Bundestages gemacht hat oder als doch immer wieder in Anspruch genommener Anwalt großer privater Medienfirmen?
Herr Kollege, mir ist nicht bekannt, in welcher Funktion er das getan hat, aber ich halte es für nötig, diese Frage mal eingehend zu überprüfen.
({0})
Meine Damen und Herren, die SPD steht zur dualen Rundfunkordnung. Wir brauchen und wollen starke und leistungsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, und wir brauchen und wollen auch starke und leistungsfähige Medienhäuser in privater Leitung. Die duale Rundfunkordnung steht auf diesen beiden Säulen, und wer eine davon einreißt oder brüchig macht, der schädigt das gesamte Gebäude. Das sagen inzwischen nicht nur die Intendanten und die Programmdirektoren der öffentlich rechtlichen Anstalten, sondern das sagen genauso die einsichtigen und vernünftigen Repräsentanten der privaten Anbieter.
Wenn dieser öffentlich-rechtliche Rundfunk überleben und sich zeitgemäß ausrichten soll, dann darf man ihn aber auch nicht in die Museumsvitrine stellen. Dann muß er sich vielmehr ausweiten können, sich neuen technischen Möglichkeiten widmen.
Wir stehen zu diesem System, und zwar nicht allein deshalb, weil ja das Bundesverfassungsgericht seinen Bestand und auch seine Entwicklung bestätigt hat. Wir stehen dazu auch aus politischer Überzeugung und in dem Bewußtsein, daß er als unverzichtbarer Bestandteil unserer Demokratie einfach dazugehört.
Dieses Plädoyer soll nicht als unkritischer Jubel verstanden werden. So manches, was in den Programmen geschieht, speziell im Radio, läßt mich schon vor Wut manchmal mit den Zähnen knirschen. Aber, meine Damen und Herren, darum geht es hier nicht. Wir Politiker sollen nicht als fleischgewordene Drohgebärde hier stehen, wir sollen uns nicht an Einschüchterungsversuchen und Verunsicherung beteiligen, denn das trägt überhaupt nicht dazu bei, Motivation oder Reformwillen in den Anstalten zu steigern.
Es ist auch nicht unsere Aufgabe, jede Maßnahme zum Stellenabbau als wesentliches Zeichen von Innovationsfähigkeit in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten anzupreisen; denn bei allem Zwang zum Sparen und auch zum Verschlanken vergessen wir bitte nicht, daß in diesen Sendern eine reiche Auswahl qualifizierter Arbeitsplätze besteht, und das ist ja schließlich gut so.
({1})
Wenn wir gemeinsam die Überzeugung vertreten, daß die öffentlich-rechtlichen Sender die Grundversorgung leisten sollen, dann bedeutet das auch, daß siè zur Sachinformation, zur Meinungsbildung und zur Wahrung der Interessen von Minderheiten verpflichtet sind, aber sie sind nicht zum Nischendasein verurteilt. Sie sollen auch die Bedürfnisse der Menschen nach publikumswirksamer und einschaltquotensteigernder Unterhaltung befriedigen, einschließlich der Übertragung wichtiger Sportereignisse. Die dürfen nämlich keine Frage des Geldbeutels und der Pay-TV-Programme werden, sondern müssen auch künftig jedermann frei zugänglich sein. Dafür müssen wir in der Politik sorgen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir verabschieden heute das Gesetz über den deutschen Auslandsrundfunk. Wir haben uns Zeit gelassen für die parlamentarische Beratung. Zum Beispiel hat die SPD eine Anhörung durchgesetzt, und das war gut so. Wir werden dem Gesetz trotz einiger Bedenken zustimmen. Wir haben zwar einige unserer Forderungen nicht durchsetzen können - dazu zählen klarere Mitbestimmungsmöglichkeiten für das Personal und eine Stärkung der Rechte des Rundfunkrates, auch verbindliche Regelungen für die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen in den Gremien -, aber es ist uns Gott sei Dank aus dem Parlament heraus gelungen, im Konsens den Entwurf der Bundesregierung in zwei entscheidenden Punkten zu verbessern.
Erstens haben wir die Pläne der Bundesregierung durchkreuzt, die Aufsichtsgremien unnötig aufzublähen. Sie wollte nämlich die Zahl der Mitglieder im Verwaltungsrat von 7 auf 9 und im Rundfunkrat sogar von 17 auf 30 anheben. Das lief mit uns nicht. Es würde auch die Handlungsfähigkeit der Gremien eher schwächen und die Macht des Intendanten noch steigern. Beides wäre nicht in unserem Sinne.
Zweitens muß auch klar sein: Die Deutsche Welle soll frei und unabhängig nach den allgemeinen Kriterien journalistischer Fairneß berichten können und nicht als Hofsender der Herren Kohl und Kinkel. Ursprünglich wollte nämlich die Bundesregierung im Gesetz so etwas festgehalten wissen, daß die Berichterstattung in dem
Bewußtsein erfolgen solle, daß die Sendungen der Deutschen Welle die Beziehungen der Bundesrepublik zu auswärtigen Staaten berühren können.
Das wäre, meine Damen und Herren, wirklich ein An-die-Leine-Legen gewesen. Das wollten wir nicht.
Der Auslandsrundfunk soll umfassend darüber berichten, was in Deutschland und in der Welt geschieht. Er läßt unterschiedliche Positionen zu Wort kommen. Das ist eine bare Selbstverständlichkeit. Er sollte sich intensiv mit der Situation der Menschenrechte und der Minderheiten befassen. Wir wünschen Auslandsrundfunk als Transporteur demokratischer und friedlicher Ideen, nicht aber als Außenposten der Bundesregierung.
Also, Staatseinfluß eindämmen. Aber es ist durchaus angebracht, daß Vertreter des Parlaments, also der Legislative, in den Gremien vertreten sind, und das um so mehr, als die Deutsche Welle immerhin mit gut 600 Millionen DM pro Jahr aus Bundesmitteln ihre Existenz fristet.
Die Forderung, weder Vertreter der Bundesregierung noch des Bundestages in die Gremien zu schikken, läuft auf eine Selbstentmachtung des Parlaments hinaus. Deswegen werden wir dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen trotz mancher guter Anregungen dort nicht entsprechen können. Außerdem sollte man sich auch klarmachen, daß Gremien in der Besetzung außerhalb von Parteien auch nicht frei von parteipolitischer Einfärbung sind. Wer das glaubt, ist ein bißchen blauäugig.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen nicht folgen. Sie fordern absolute Werbefreiheit für die Deutsche Welle. Das ist zwar in seinem Purismus sympathisch, aber wirklichkeitsfremd. Außerdem sollten wir die Kirche im Dorf lassen bzw. auf dem Boden der Realitäten bleiben. Werbekunden werden da nicht gerade Schlange stehen; dazu ist das Publikum der Deutschen Welle, über die Welt verbreitet, viel zu diffus. Aber die Chance, gegebenenfalls in bescheidenem Umfang durch Werbung die Einnahmen zu steigern, sollten wir der Deutschen Welle nicht verbauen.
Ich mache, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine letzte Anmerkung. Die betrifft die Standortfrage. Wir haben der Deutschen Welle den Sitz von Studios in Köln und Berlin abgesichert, und es steht auch der Umzug in den Schürmann-Bau aus dem asbestgeschädigten Hochhaus in Köln nun fest verankert im Gesetz. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung muß dafür Sorge tragen, daß der traurige und rostige Riesenrumpf, den wir da drüben leider zu beklagen haben und für dessen Fertigstellung man ja eher beten als Wetten abschließen kann, zum gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung steht. In dieser Frage nehmen wir die Bundesregierung in die Pflicht. Das wird auch für eine sozialdemokratisch geführte Regierung gelten, von der wir vom nächsten Herbst an fest ausgehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, teile ich Ihnen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines Postgesetzes mit. Das waren die Drucksachen 13/7774 und 13/8702.
Abgegebene Stimmen: 592.
Mit Ja haben gestimmt: 313.
Mit Nein haben gestimmt: 279.
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 591; davon:
ja: 312
nein: 279
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Heinz-Günter Bargfrede
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen ({0}) Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Rudolf Braun ({1}) Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({2}) Hartmut Büttner
({3}) Dankward Buwitt
Manfred Carstens ({4}) Peter Harry Carstensen
({5}) Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß
Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjörgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann
Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann
Horst Eylmann Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke Ulf Fink
Dirk Fischer ({6})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos
Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner Peter Götz
Joachim Gres
Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther ({7}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
Gottfried Haschke
({8}) Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser ({9}) Hansgeorg Hauser
({10}) Helmut Heiderich Manfred Heise
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken
Peter Hintze
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster'
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Helmut Jawurek
Dr.-Ing. Rainer Jork Michael Jung ({11}) Ulrich Junghanns
Dr. Egon Jüttner
Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
({12})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus
Wolfgang Krause ({13}) Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz
Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
({14})
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp
Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Christian Lenzer
Peter Letzgus
Editha Limbach
Walter Link ({15}) Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold ({16})
Dr. Manfred Lischewski
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wollgang Lohmann ({17}) Julius Louven
Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({18}) Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
({19}) Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer ({20}) Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller ({21}) Engelbert Nelle
Bernd Neumann ({22}) Johannes Nitsch
Claudia Nolte
Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost
Eduard Oswald Norbert Otto ({23}) Dr. Gerhard Päselt Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold
Anton Pfeifer
Dr. Gero Pfennig Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Rauen
Christa Reichard ({24}) Klaus Dieter Reichardt ({25})
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter
Roland Richwien Dr. Norbert Rieder Klaus Riegert
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({26}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Adolf Roth ({27}) Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer ({28}) Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu
Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz
Christian Schmidt ({29}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({30})
Andreas Schmidt ({31}) Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
({32})
Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
({33}) Gerhard Schulz ({34}) Frederick Schulze
({35}) Diethard Schütze ({36}) Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger Gunnar Uldall Wolfgang Vogt ({37})
Dr. Horst Waffenschmidt
Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm ({38}) Bernd Wilz
Willy Wimmer ({39}) Matthias Wissmann
Dr. Fritz Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun ({40})
Günther Bredehorn Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann Gisela Frick
Paul K. Friedhoff Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher
Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({41}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Dr. Burkhard Hirsch Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Dr. Otto Graf Lambsdorff Sabine LeutheusserSchnarrenberger Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Klaus Röhl
Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Hermann Otto Sohns
Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng ({42})
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Hermann Bachmaier Ernst Bahr
Doris Barnett
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Lilo Blunck
Arne Börnsen ({43}) Anni Brandt-Elsweier
Tilo Braune
Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({44})
Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen
Rudolf Dreßler Freimut Duve
Ludwig Eich
Gernot Erler
Petra Ernstberger Annette Faße
Elke Ferner
Lothar Fischer ({45}) Gabriele Fograscher
Iris Follak
Dagmar Freitag Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser Uwe Göllner
Günter Graf ({46}) Angelika Graf ({47}) Dieter Grasedieck
Karl Hermann Haack
({48})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein
Klaus Hasenfratz Dieter Heistermann Reinhold Hemker
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch
Reinhold Hiller ({49}) Stephan Hilsberg
Jelena Hoffmann ({50}) Frank Hofmann ({51}) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Wolfgang Ilte
Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Volker Jung ({52}) Sabine Kaspereit Susanne Kastner
Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel Konrad Kunick Christine Kurzhals
Vizepräsidentin Dr. Antie Vollmer
Werner Labsch
Brigitte Lange
Detlev von Larcher Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann ({53}) Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({54}) Winfried Mante
Ulrike Mascher
Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Ulrike Mehl
Herbert Meißner
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({55}) Ursula Mogg
Michael Müller ({56}) Jutta Müller ({57}) Volker Neumann ({58}) Gerhard Neumann ({59}) Dr. Edith Niehuis
Dr. Roll Niese
Doris Odendahl
Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth Dr. Wilfried Penner Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Rudolf Scharping Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer ({60})
Ulla Schmidt ({61}) Dagmar Schmidt ({62}) Wilhelm Schmidt ({63}) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({64}) Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({65})
Reinhard Schultz ({66})
Volkmar Schultz ({67}) Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({68})
Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz Lisa Seuster
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler
Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Ute Vogt ({69})
Hans Georg Wagner
Hans Wallow
Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({70}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen ({71}) Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich Helmut Wieczorek
({72})
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Heidi Wright
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({73}) Elisabeth Altmann
({74}) Marieluise Beck ({75}) Volker Beck ({76}) Angelika Beer
Matthias Berninger Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Andrea Fischer ({77}) Joseph Fischer ({78}) Rita Grießhaber
Antje Hermenau Ulrike Höfken
Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper
Dr. Angelika Köster-Loßack Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger Kerstin Müller ({79}) Winfried Nachtwei
Egbert Nitsch ({80}) Cern Özdemir
Gerd Poppe
Simone Probst
Dr. Jürgen Rochlitz Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt ({81}) Ursula Schönberger Christian Sterzing
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({82}) Margareta Wolf ({83})
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Maritta Böttcher
Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Dr. Gregor Gysi
Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll
Dr. Willibald Jacob Ulla Jelpke
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller ({84}) Rosei Neuhäuser Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick Dr. Winfried Wolf Gerhard Zwerenz
Fraktionslos
Kurt Neumann ({85})
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({86})
Antretter, Robert, SPD
Dr. Blank, Joseph-Theodor,
CDU/CSU
Graf von Einsiedel, Heinrich,
PDS
Fischer ({87}), Leni,
CDU/CSU
Francke ({88}), Klaus,
CDU/CSU
Dr. Götzer, Wolfgang,
CDU/CSU Ibrügger, Lothar, SPD
Dr. Jobst, Dionys, CDU/CSU Dr.- Ing. Kansy, Dietmar, CDU/CSU
Meckel, Markus, SPD Raidel, Hans, CDU/CSU Schloten, Dieter, SPD Schulte ({89}), Brigitte,
SPD
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter, CDU/CSU
Voigt ({90}), Karsten D., SPD
Dr. Wieczorek, Norbert, SPD Zapf, Uta, SPD
Zierer, Benno, CDU/CSU Zumkley, Peter, SPD
Jetzt hat das Wort weiter in der Debatte der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von meiner Fraktion liegen zu dieser Debatte zwei Anträge vor, die sich unter anderem mit der Sicherung der Staatsferne beim Rundfunk beschäftigen. Dabei handelt es sich nun wahrhaftig nicht um eine Kleinigkeit, sondern um ein vom Grundgesetz und der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus gutem Grund bestätigtes Gut.
Bei allen Sonntagsreden zum Thema Rundfunk wird gerne betont, wie wichtig unabhängige Medien sind. Seltsamerweise scheint dabei für viele Politiker nicht die Unabhängigkeit und Freiheit vom Staat gemeint zu sein.
Ich freue mich, daß im neuen Gesetz für die Deutsche Welle nicht noch mehr Staatsvertreter in den Aufsichtsgremien vorhanden sind, wie es die Bundesregierung ursprünglich vorgesehen hat. Da scheint bei einigen Verantwortlichen das demokratiVolker Beck ({0})
sche Gewissen im letzten Moment doch noch einmal aufgewacht zu sein. Es geht aber leider nicht so weit, daß die bisherigen staatlichen Repräsentanten aus den Kontrollgremien zurückgezogen und diese Gremien für gesellschaftliche Gruppen geöffnet werden, um diesen ein stärkeres Gewicht zu verleihen. Die Koalitionsfraktionen und die SPD offenbaren dadurch ein seltsames Mißtrauen in die gesellschaftlichen Kräfte, wie auch Sie, Frau Sonntag-Wolgast, es gerade noch dokumentiert haben.
Wir bedauern sehr, daß in der Empfehlung des Innenausschusses keine Rede davon ist, die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien so zu ändern, daß neue gesellschaftliche Gruppen darin ihren Platz finden. Aber es soll ja auch alles beim alten bleiben, auch bei der Deutschen Welle. Zu groß scheint die Sorge der Bundesregierung zu sein, ein pluralistisch und zeitgemäß zusammengesetzter Rundfunkrat der Deutschen Welle könnte dem Intendanten - nicht zufällig war er auch einmal Mitglied dieses Hohen Hauses und saß auf den Koalitionsbänken - auf die Finger sch auen, womöglich hier und da einmal in die Suppe spucken und statt ihren Partikularinteressen die Interessen der Gesellschaft vertreten.
Die Deutsche Welle darf nicht das Verlautbarungsorgan der Bundesregierung werden, wie es ursprünglich im Entwurf intendiert war - jetzt ist dies etwas abgeschwächt -, genausowenig aber auch die PR-Abteilung der deutschen Exportwirtschaft.
Wie erklären Sie, daß die Koalitionsparteien und die Bundesregierung permanent fordern, daß die Werbung bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF abgeschafft wird, während sie aber bei der Deutschen Welle jetzt per Gesetz überhaupt erst eingeführt werden soll? Die Koalition entlarvt damit ihre Intention in der Diskussion um ARD und ZDF. Es geht Ihnen bei der Forderung nach Werbefreiheit bei ARD und ZDF also nicht um die Unabhängigkeit des Programms und des Programmniveaus, sondern um die Ausschaltung von unliebsamer Konkurrenz für die kommerziellen Fernsehveranstalter auf dem Werbemarkt.
Die Werbung bei der Deutschen Welle soll also den Bundesetat entlasten, so hört man. Die Sorge der Bundesregierung um den Bundesetat im Zusammenhang mit der Deutschen Welle ist allerdings schon fast rührend. Beim von der Bundesregierung geplanten Umzug der Deutschen Welle in den SchürmannBau kann Geld wohl keine Rolle gespielt haben; schließlich wird dort einmal das teuerste Funkhaus der Welt stehen. Sage und schreibe 1,4 Milliarden DM wird es bis zur Fertigstellung verschlungen haben.
({1})
Statt eines baldigen Umzugs aus dem asbestverseuchten Funkhaus an einen anderen Standort in Köln wurde in den vergangenen Monaten lieber mit einem Umzug nach Leipzig oder Berlin gedroht. Billigere und schnellere Lösungen, wie sie es in Köln zum Beispiel im Mediapark gäbe, sind nie auch nur einer Prüfung unterzogen worden, obwohl es dort Angebote für rund 200 Millionen DM gegeben hat, also einem Bruchteil der Kosten, die für den Schürmann-Bau zu veranschlagen sind.
Nein, auf dem Rücken der Steuerzahler und auf dem Rücken der gesundheitlich bedrohten Beschäftigten der Deutschen Welle wird an der unsinnigen Standortentscheidung Bonn festgehalten. Was man in der Ausschußsitzung erleben mußte, als erwogen wurde, vielleicht ganz aus dem Rheinland wegzugehen, grenzte in der Tat schon an Nötigung.
Medien- und wirtschaftspolitisch ist der Weggang vom Medienstandort Köln eine Fehlentscheidung. Dabei - das dürften auch die Nicht-Kölner unter Ihnen verstehen - weiß doch jedes Kind, daß es richtiger gewesen wäre, nach dem kölschen Lied und Motto zu handeln: Mer losse de Welle in Kölle, denn da gehööt se hin. Wat sull die dann woanders, das hätt doch keine Senn.
({2})
Jetzt kommt der bayerische Beitrag.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Fall wird der Beitrag ausnahmsweise nicht so übermäßig bayerisch, sondern deutsch; denn es geht um die Deutsche Welle, die durch das Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts vom 29. November 1960 als Anstalt des öffentlichen Rechts gegründet worden ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ich bitte Sie um Entschuldigung, aber als Hamburger Abgeordneter, der seit bald 18 Jahren im Deutschen Bundestag sitzt und der dem deutschen Volk verpflichtet ist, wie es in der Verfassung ja heißt, muß ich Sie doch das Folgende fragen. Sie haben eben eine Unterscheidung zwischen sich als Bayer und sich - in einer gewissen Nebenabteilung - als Deutscher gemacht, die bei mir als Hamburger doch einen gewissen Schock ausgelöst hat,
({0})
und ich möchte Sie bitten, das doch einmal so zu erläutern, daß ich meinen Wählern, meinem VertragsFreimut Duve
partner, dem deutschen Volk klarmachen kann: Es handelt sich um eine Einheit.
({1})
Lieber Herr Kollege Duve, ich will jetzt nicht unbedingt das Motto von CSU-Parteitagen zitieren, aber doch sagen: Die Einheit ist eigentlich noch größer. Sie beginnt in Bayern, wird dann in Deutschland fortgesetzt und endet gewissermaßen in Europa.
Was allerdings die Medien anbelangt, so muß ich sagen, daß der Bayerische Rundfunk immer eine besondere Stellung eingenommen hat, über die ich heute gerade nicht spreche. Vielmehr versuche ich jetzt zum Thema, nämlich zur Deutschen Welle, zu kommen.
Ihr kommt nämlich eine exponierte Stellung zu, weil sie nach Überleitung des Deutschlandfunks in die Zuständigkeit der Länder nunmehr die einzige Rundfunkanstalt des Bundesrechts ist. Ihre Bedeutung ist zudem dadurch gewachsen, daß sie seit April 1992 durch die Übernahme des Betriebsteils RIAS-TV auch ein Fernsehprogramm veranstaltet, das über Satellit weltweit verbreitet wird. Der veränderten Rolle der Deutschen Welle wurde die bisherige gesetzliche Grundlage nicht mehr gerecht. Daher ist es notwendig, ein neues Gesetz über den deutschen Auslandsrundfunk zu erlassen.
({0})
Frau Sonntag-Wolgast, ich möchte jetzt die Einleitung abschließen und berichten, daß nach intensiven Beratungen in diversen Ausschüssen dem Plenum nunmehr in zweiter und dritter Lesung ein Gesetzentwurf vorliegt, der - das haben die Vorredner auch schon gewürdigt - gegenüber dem Regierungsentwurf einige nicht unbedeutende Veränderungen erfahren hat.
Geblieben ist allerdings die Finanzierungsgarantie in § 43 des Deutsche-Welle-Gesetzes. Diese ist notwendig, weil nach der alten Gesetzeslage keine Regelung über die Finanzierung der Anstalt getroffen worden ist. Praktisch wird sich allerdings wenig ändern; denn auch künftig wird nach § 44 die Deutsche Welle nahezu vollständig vom Bund und damit vom Steuerzahler finanziert werden.
Es ist schon erwähnt worden, daß die genannte Vorschrift auch sonstige Einnahmen, etwa aus der Werbung, zuläßt. Deren praktische Bedeutung wird vermutlich ebenfalls gering bleiben. Dennoch wollten wir bewußt diese Finanzierungsquelle im Interesse einer zumindest theoretisch möglichen Entlastung des Steuerzahlers nicht völlig ausschließen.
Es gibt einen Unterschied, Herr Kollege Beck, zu der Situation bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten anderer Provenienz. Die F.D.P. hat sehr wohl Sympathien dafür, für das duale Rundfunksystem das britische Modell zu übernehmen, das eine klare Trennung in Form der Gebührenfinanzierung für die öffentlich-rechtlichen Sender und der Werbefinanzierung für die privaten Sender vorsieht. Die Zielsetzung dabei ist in der Tat, daß ein von Werbeeinnahmen unabhängiger Sender in der Programmgestaltung im Vergleich zur jetzigen Situation ein Stück Freiheit dazugewinnt. Dies wird ja mehr und mehr erkannt. Dieser Vorschlag von uns findet in der öffentlichen Diskussion immer mehr Zustimmung.
Bei der Deutschen Welle haben wir es ja nicht mit einem gebührenfinanzierten, sondern mit einem steuerfinanzierten Sender zu tun. Das macht doch einen Unterschied aus,
({1})
und deswegen haben wir zusammen mit der SPD die Ansicht vertreten, daß wir die Finanzierungsquelle Werbung nicht ausschließen wollen, obwohl wir uns davon keine nennenswerten Beiträge versprechen.
({2})
Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Punkt der Ausschußberatungen war die Definition des Programmauftrags in § 4. Die Hauptaufgabe der Deutschen Welle ist demnach, den Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes Deutschlandbild zu vermitteln. Sie soll also sozusagen ein Auslandsrundfunk für Ausländer sein. Andererseits zeigt die Erfahrung, daß die Deutsche Welle vielfach von Deutschen, die vorübergehend oder auf längere Dauer im Ausland leben, gerne als manchmal sogar einzige Informationsquelle über das Geschehen im Heimatland genutzt wird. Eine Definition des Programmauftrags, wonach sich die Deutsche Welle ausschließlich an Ausländer wenden solle, wäre daher zu eng gewesen. Die in den Ausschußberatungen gefundene Neufassung des § 4 erscheint uns eine vernünftige Formulierung der Zielsetzung der Deutschen Welle.
Dasselbe gilt für die in den Ausschußberatungen leicht abgeänderte Formulierung der Programmgrundsätze. Daß die Berichterstattung umfassend, wahrheitsgetreu und sachlich sein soll, versteht sich von selbst.
Die besondere Aufgabe der Deutschen Welle führte zu einem Zusatz in § 5 Abs. 3 des Gesetzentwurfes, jedenfalls nach der mir vorliegenden Fassung. Demnach soll die Berichterstattung „in dem Bewußtsein erfolgen, daß Sendungen der Deutschen Welle die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu ausländischen Staaten berühren".
An der Art der Finanzierung aus Steuermitteln, am Programmauftrag und an den soeben genannten Programmgrundsätzen zeigt sich schon eine Sonderstellung der Deutschen Welle in der deutschen Rundfunklandschaft. Sie ist kein Regierungssender, und ihre Sendungen haben keinen offiziösen Charakter. Dennoch erfüllt sie unzweifelhaft eine wichtige Funktion im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik. Zugleich gilt für die Deutsche Welle elbstverständlich die Rundfunkfreiheit nach Art. 5 des Grundgesetzes.
Aus dieser Gemengelage heraus kam es in den Ausschußberatungen zu einer intensiven Debatte
darüber, ob es denn richtig wäre, § 60, wonach die Deutsche Welle keiner staatlichen Fachaufsicht unterliegt, dahin gehend zu ergänzen, daß Programmschwerpunkte zwischen der Bundesregierung und der Deutschen Welle abzustimmen seien. Eine Rahmenvereinbarung zwischen der Bundesregierung und der Deutschen Welle über solche Programmschwerpunkte war in der Diskussion. Die Befürworter beriefen sich dabei insbesondere auch auf das britische Vorbild, den Auslandsrundfunk der BBC. Es war also kein unanständiges Anliegen, wie man sieht; vielmehr hat es sein Vorbild in einem demokratischen Staat.
({3})
Der Innenausschuß hat es jedoch bei § 60 in der Fassung des Regierungsentwurfes belassen. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes garantiert den Rundfunkanstalten eine umfassende Programmgestaltungsfreiheit. Der Grundsatz der Staatsfreiheit von Rundfunk und Fernsehen gehört zu den tragenden Prinzipien der medienrechtlichen Verfassungsjudikatur. Unabhängig von dem juristischen Streit, ob die Deutsche Welle grundrechtsfähig ist, hat es der Ausschuß zu Recht für richtig gehalten, auch schon den Anschein eines Eingriffes in die Programmgestaltungsfreiheit zu vermeiden. Die diskutierte Rahmenvereinbarung ist daher nicht Gegenstand des dem Plenum vorliegenden Gesetzentwurfes geworden.
Richtigerweise wirkt jedoch der Rundfunkrat über § 31 auf die Erfüllung des Programmauftrages hin. Er überwacht die Einhaltung der Programmgrundsätze und der allgemeinen Programmrichtlinien. Rundfunkrat und Verwaltungsrat sind entsprechend dem sonstigen Rundfunkrecht die zuständigen Gremien, in denen insbesondere auch die Bundesregierung - das ist völlig legitim -, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat ihre Interessen gegenüber der Deutschen Welle wahrnehmen können.
Entgegen dem Regierungsentwurf führten die Ausschußberatungen zu dem Ergebnis, daß die Zusammensetzung und die Zahl dieser Gremien im wesentlichen unverändert bleiben soll. Die Idee schlanker Aufsichtsgremien gab dabei den Ausschlag, und es bedurfte hier nicht etwa des Anstoßes durch die SPD; vielmehr sind schon die Koalitionsfraktionen zu diesem Ergebnis gekommen. Dies hat freilich verhindert, Herr Kollege Beck, gegenüber der geltenden Rechtslage neue gesellschaftliche Gruppen oder Organisationen in diese Gremien mit aufzunehmen.
Abschließend sei noch bemerkt, daß in den Ausschußberatungen die Bestellung einer Gleichstellungsbeauftragten sowie die Bestellung einer Jugendschutzbeauftragten neu in das Gesetz mit aufgenommen worden sind. Vor allem die letztere Bestimmung in Verbindung mit der Vorschrift des § 6 über die Unzulässigkeit von Sendungen bestimmten Inhaltes garantiert einen völlig ausreichenden Jugendschutz. Weitergehender Regelungsbedarf bestand daher insoweit nach Auffassung der F.D.P. nicht.
Insgesamt liegt nach unserer Meinung nunmehr eine Gesetzesfassung vor, die die Tätigkeit der Deutschen Welle auf eine neue, moderne Grundlage stellt. Die F.D.P.-Fraktion wird dem Gesetz daher zustimmen.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bierstedt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zuerst einige Bemerkungen zu den ARD-Anträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen machen.
Obwohl beide Anträge bereits 1995 formuliert wurden, haben sie - und da stimme ich mit Ihnen, Frau Sonntag-Wolgast, im wesentlichen natürlich überein - nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Zweifelsfrei ist es völlig richtig, vom Deutschen Bundestag zu fordern, daß er den Bundeskanzler, auf dessen Äußerungen zur damaligen Zeit wesentliche Passagen der Anträge Bezug nehmen, ausbremst. Aber hier muß ich Herrn Bundeskanzler Dr. Kohl ausnahmsweise einmal in Schutz nehmen.
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Er ist es doch nicht ganz allein gewesen. Es gab und es gibt noch wesentlich mehr Menschen in diesem Land - mit teilweise recht hohem Einfluß -, die in wesentlich differenzierterer Form - auch weil das Bundesverfassungsgericht mit seinem diesbezüglichen Urteil die Latte löblicherweise sehr hoch gehängt hat
am Bestand dieses Eckpfeilers der Rundfunklandschaft rütteln und auf Inhalte Einfluß nehmen wollen. Diesen Leuten, inklusive dem Bundeskanzler, muß Einhalt geboten werden.
Es gibt weiterhin die berechtigte Forderung nach einer anderen Zusammensetzung der Aufsichtsgremien. Regierung und Parteien, sprich: Parlamentarier, sollen raus - anscheinend wegen gemachter schlechter Erfahrungen. Ich teile nicht ganz diese auch in meiner Partei populäre Auffassung, populär unter anderem auch deshalb, weil wir als PDS in jedem neuen Auf sichtsgremiumbesetzungsrechenexempel auf wundersame Weise herausgerechnet werden, zumindest auf Bundesebene.
Ich meine, eine Regierung ist nicht per se schlecht. Nun gut: Diese ist mit Sicherheit schlecht. Eine neue und vor allem andere Regierung könnte sich tatsächlich der Allgemeinheit und nicht nur ihrer Mehrheit verpflichtet fühlen. Zudem meine ich, daß es in allen Parteien Parlamentarier gibt, die neben Sachkunde auch genügend Persönlichkeit und vor allen Dingen Rückgrat gegenüber kleinlichem Parteiengezänk mitbringen und in der Lage sind, eine solche Aufsichtsfunktion ihrem Gewissen folgend wahrzunehmen.
Ich weigere mich deshalb, wegen befürchteter und allgemein beliebter Politikerschelte einen vorauseilenden Gehorsam zu zeigen. Nichtsdestotrotz können wir seitens der PDS der Mehrheit der Aussagen
in den Anträgen - hierbei beziehe ich den Grünen-Antrag zum Deutschlandradio mit ein - zustimmen.
Als das Bundesverfassungsgericht formulierte, „Der Rundfunk dient der Meinungs- und Willensbildungsfreiheit des einzelnen und der Gesellschaft", hat es sicherlich unsere Gesellschaft in der Bundesrepublik gemeint und nicht ausländische Gesellschaften. Daraus leiten wir, wenn es um den deutschen Auslandsrundfunk geht, den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten ab, auch wenn sie sich in Umbruch- oder schwierigen Krisensituationen befinden - O-Ton des SPD-Änderungsantrages.
Informieren ja, einmischen nein - dieser Grundsatz hätte viel stärker den Geist des vorliegenden Gesetzes beeinflussen müssen. In diesem Zusammenhang kamen uns übrigens berechtigte Zweifel, als im ersten Entwurf ein Vertreter des Bundes der Vertriebenen als Mitglied des Rundfunkrates benannt werden sollte. Ich denke, er ist kein geeignetes Mitglied des Rundfunkrates.
Auch das Ansinnen in Abs. 2 des § 4 - Programmauftrag -, „Die Sendungen sollen vor allem dem friedlichen Zusammenleben der Völker untereinander dienen", streichen zu wollen erschien uns völlig unverständlich. Hier plädieren wir schon eher für die Übernahme der Grünen-Fassung des § 4. Die allerdings auch dort formulierte Einmischung, wo es um die Beförderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Minderheitenschutz geht, der friedliche Dialog angeregt wird und der Wahrheitsgrundsatz über allem steht, könnten wir ohne weiteres mittragen.
Der Wahrheitsgrundsatz hat natürlich auch etwas mit journalistischem Selbstbestimmungsrecht zu tun, welches wiederum nicht unwesentlich mit finanzieller Unabhängigkeit zu tun hat. Öffentlicher Rundfunk muß öffentlich finanziert werden, und zwar solide. Das heißt, ich plädiere für Werbefreiheit im Programm der Deutschen Welle.
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Wenn wir schon „deutsche Auffassungen darstellen und erläutern wollen" , wie es im Änderungsbeschluß des Innenausschusses zu § 4 für meine Begriffe ein wenig zu nationalistisch formuliert ist, müssen wir im Ausland nicht auch noch für deutschen Quark und Joghurt werben wollen.
Abschließend sei bemerkt, daß wir, obwohl eine Reihe von Paragraphen des Gesetzentwurfs solide Arbeit bestätigen, der vorliegenden Beschlußempfehlung nicht zustimmen können. Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Hans-Otto Wilhelm, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will ein paar
Sätze zu dem von Frau Kollegin Sonntag-Wolgast angesprochenen Thema der ARD und der vermeintlich fleischgewordenen Bedrohungsgebärde sagen. Es wäre mir lieber gewesen, und es hätte meinem intellektuellen Anspruch Genüge getan, wenn Sie die Rede, die Sie offenbar 1995 aufgesetzt haben, heute nicht so gehalten hätten, als wäre in der Zwischenzeit überhaupt nichts passiert.
Auch die Zwischenfrage des Kollegen Duve offenbart eine Nichtbeschäftigung über zweieinhalb Jahre; denn die Frage, warum der Bundeskanzler diese Einwände seinerzeit gemacht hat, ist längst geklärt. Es wird doch niemand - auch niemand von Ihnen - einem Parteivorsitzenden das Recht absprechen wollen, zu Strukturfragen von was auch immer, in dem Fall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Stellung zu beziehen. Diese Fragen sind doch längst geklärt und hätten sich in Ihrem Gedächtnis eigentlich festgraben sollen.
Ich will Ihnen nur die heutige Bandbreite Ihrer Partei deutlich machen, weil Sie jetzt ein so überzeugter Anhänger des dualen Systems sind, was Sie früher nie waren.
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Vor wenigen Tagen hat Ihr Kollege Mosdorf zu meiner Überraschung beantragt und gefordert, daß der private Rundfunk, Herr Kollege Stadler, größere und bessere Werbemöglichkeiten eingeräumt bekommt. Ich hoffe, daß Sie es gelesen haben. Ich hoffe auch, daß Sie erschreckt waren, denn das stimmt mit Ihrer Meinung nicht überein.
Heute fordert der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz im Zusammenhang mit den Gesprächen über die Erstellung von Länderlisten für Sportübertragungen, daß auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach 20 Uhr werben darf. Sie müssen versuchen, diese Bandbreiten, die bei Ihnen immer wieder entstehen und zu Irritationen in der Öffentlichkeit führen, ein bißchen zusammenzuführen.
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Die entscheidende Frage, Frau Sonntag-Wolgast - die kann man auch nicht aus dem Blickwinkel des Hamburger NDR-Maulwurfs betrachten ({2})
- es ist aber die Wahrheit -, ist nämlich die, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk - wie ich gehört habe - in die Vitrine des Museums geschoben werden soll.
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- Entschuldigung, das sind doch Formulierungen von vorgestern.
Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der wie kein anderer in der Welt über Einnahmen von 12 Milliarden DM verfügt, wo vor kurzem Staatsverträge stattgefunden haben, wo Spartenkanäle eingeräumt wurden, wo ZDF Online macht, wo eine Ausweitung auf
Hans-Otto Wilhelm ({4})
bis zu 55 Hörfunkprogramme gemacht wird: Hier von einem Wegschieben in die Museumsvitrine zu sprechen offenbart eine Unkenntnis der Entwicklung, die bemerkenswert ist.
Der entscheidende Punkt - ich versuche jetzt, mich bei Ihnen aufklärerisch zu betätigen - ist der, ob Sie öffentlich-rechtlichen Rundfunk - das ist in der Tat sein Dilemma - über die Quote oder über den Auftrag definieren, den ihm das Bundesverfassungsgericht zuordnet.
Wenn ich, wie Herr Beck formuliert hat und wie Sie formuliert haben, auch nach 20 Uhr Werbung ermögliche, garantiere ich Ihnen - nein, prophezeie ich Ihnen -, daß sich das Programmumfeld immer mehr dem anpaßt, was im privaten Rundfunk gesendet wird.
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Herr Kollege Wilhelm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Genau das wollen wir nicht. Wir dürfen es im Grunde auch gar nicht. - Entschuldigen Sie, wollten Sie eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gestatten Sie das? Bitte, Frau Dr. Sonntag-Wolgast.
Herr Kollege Wilhelm, ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß ich mit keinem Wort von einer Ausweitung der Werbemöglichkeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf 20 Uhr und später gesprochen habe? Ist es außerdem Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß sich der Kollege Mosdorf, zwischen dem und mir Sie angeblich eine Kontroverse ausmachen, ebenfalls mit ähnlichen Argumenten wie ich immer wieder für beide Säulen der dualen Rundfunkordnung ausspricht?
({0})
Das ist natürlich richtig. Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe darauf hingewiesen, daß der Kollege Beck, der unverändert Ihrer Partei angehört, heute vorgeschlagen hat, Werbemöglichkeiten nach 20 Uhr zu schaffen. Da er immerhin Rundfunkkommissionsvorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ist, ging ich davon aus, daß seine Meinung ein gewisses Gewicht hätte. Wenn Sie ihm widersprechen - was ich vermute - nehme ich das zur Kenntnis. Das heißt, Sie haben einen internen Aufklärungsbedarf, nicht wir.
Die Frage ist: Definieren wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk über die Quote? Das ist das große Thema. Übrigens ist Herr Reiter bezüglich strukturreformerischer Überlegungen ganz anderer Auffas-sung. Dies ist nur eine Frage für Politiker. Machen wir uns doch nichts vor: Zwischenzeitlich gab es eine Fusion von Sendern. Sie tun so, als hätte das alles nicht stattgefunden. Es findet jeden Tag statt, und Sie reden von Vitrinen und von Museum.
Die Frage ist doch: Wollen wir im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein anderes Programm als bei den Privaten? Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu unmißverständlich erklärt, daß sich das Gebührenprivileg ausschließlich daran orientiert, daß eine Grundversorgung - die Definition ist nicht immer leicht - abgeleitet werden kann.
In dem Maße, in dem ich nach Quoten schlechte Sendungen aus dem öffentlich-rechtlichen Programm herausnehme und wichtige Sendungen wie zum Beispiel das Kinderprogramm im ZDF in den Spartenkanal hineingebe, entferne ich mich von dem Anspruch, den das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat. Man nähert sich dem, was im privaten Rundfunk gemacht wird.
Herr Kollege Wilhelm, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bierstedt?
Nein. Ich habe leider sowenig Zeit. Ich hätte gerne mehr Aufklärungsmöglichkeiten.
Aus diesem Grund müssen wir darauf achten, daß das öffentlich-rechtliche System nicht aus Quotenüberlegungen heraus zum Schluß nichts anderes als die privaten Sender anbietet. Dann verliert es sein Gebührenprivileg, was wir nicht wollen, weil wir einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben wollen. Deswegen muß man mit mehr darangehen als mit diesen Schlagworten. Je mehr das Private die Grundversorgung übernimmt, desto mehr nähert es sich dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das ist eine ganz schwierige, auch verfassungsrechtliche Frage. Darauf will ich hinweisen.
Einsichtige Leute, aus welchen Rundfunkanstalten auch immer, wissen doch längst, daß diese Entwicklung weitergegangen ist. Man kann die technologischen Entwicklungen, die uns morgen einen ganz anderen Rundfunk bescheren werden als den heutigen, doch nicht mit solchen alten Schlagworten und - Entschuldigung - alten Kamellen bestehen. Wir wollen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir wollen, daß er ein anderes - ich sage es einmal, obwohl der Begriff mißverständlich ist -, besseres Programm bietet.
Das kann ich doch nicht dadurch erreichen, daß ich jeden Tag die Intendanten damit beglücke, daß ihre Quoten annähernd denen der Privaten entsprechen. Ich wäre für weniger Quote und bin für die Gebühr - wenn der Auftrag erfüllt wird; das muß unsere Zielsetzung sein.
Aber es muß auch erlaubt sein, über Veränderungen von Strukturen zu reden. Natürlich gibt es eine .Bestandsgarantie, aber doch nicht in der jetzigen Formation. Es muß doch Änderung möglich sein, wie in unserer ganzen Welt, wie in der Wirtschaft, wo auch immer. Wir können doch nicht über die Öffentlich-rechtlichen die Käseglocke des Unveränderbaren stürzen. Ich möchte Sie ermutigen, diesen natürlich schwierigen Weg weiterzugehen.
Hans-Otto Wilhelm ({0})
Wir sind mit unseren Einwänden in Wahrheit besorgter um diesen Rundfunk, was seine Zukunftsfähigkeit anbelangt. Wir werden weiter über seine Reformen reden. Wir brauchen keine 55 Programme. Wir brauchen auch keine 10 Sender. Wir haben 3 sat, wir haben Arte: Sie verlagern alles in die Sparte.
Achten Sie bitte auf die Zeit!
Das kann doch nicht Auftrag des öffentlich-rechtlichen Systems sein.
Wir wollen einen guten öffentlich-rechtlichen Sender. Er muß reformfähig sein. Daran arbeiten wir. Das hat mit Eingriff in die Programmstruktur und in die Programmhoheit aber auch nicht das geringste zu tun. Wer so etwas behauptet, der mißversteht bewußt, oder er versteht von dem Thema nichts. Das letztere vermute ich gelegentlich.
({0})
Das Wort hat der Kollege Freimut Duve, SPD.
Herr Kollege Wilhelm, wenn es beiden gelingt - der Quote und der Gebühr -, die Qualität zu verbessern, und wenn es auch den Privaten gelingt, nicht sozusagen die Quotenwildheit zum Programmprinzip zu machen, wenn sich beide Systeme der Zuschauer und der Zuhörer wegen in der Qualitätsanforderung angleichen, dann sind wir in dieser Frage gar nicht so weit auseinander.
Ich will noch ein paar Bemerkungen zur Deutschen Welle machen. Ich habe es bedauert, daß sich der Rechtsausschuß nicht mit dieser Sache beschäftigt hat. Ich habe mich darum bemüht; das hat nicht stattgefunden. Die Rechtsstellung dieses Senders ist nämlich bis heute nicht geklärt, auch nicht durch das Gesetz.
Öffentlich-rechtlich heißt Grundversorgung - dazu haben wir ein Bundesgerichtsurteil. Grundversorgung im Auslandsrundfunk ist völlig unmöglich - technisch unmöglich und auch kulturell überhaupt nicht sinnvoll. Insofern klafft hier eine rechtliche Lücke.
Ich bedauere es außerordentlich, daß sich der Rechtsausschuß damit nicht befaßt hat. Das ist der Grund, warum ich mich heute abend enthalten werde. Denn wir hätten vielleicht einige in der Debatte nicht geklärte Fragen dann klären lassen können, die ich als juristischer Laie nicht klären kann.
Wem gehört der Sender überhaupt? Der Intendant sagt: Wir gehören uns selbst, weil wir öffentlich-rechtlich sind. Ich sage: Was? 100 Prozent Zuweisung vom Steuerzahler, 640 Millionen DM, Verdoppelung der Zuwendung in sieben Jahren, und da gehört ihr euch selbst, in der Form eines öffentlich-rechtlichen Senders wie etwa der NDR? Problematisch! Aber das ist nicht erörtert worden.
Ein zweiter Punkt, warum ich nicht zustimmen werde: Rahmenvereinbarung. Da bin ich völlig anderer Meinung als Herr Beck, der die Meinungsfreiheit und Art. 5 an diesem Sender exemplifizieren will. Darum geht es nicht. Es geht um die unternehmerischen Entscheidungen dieses Senders. Die Befreiung von einer Aufsicht über die unternehmerischen Entscheidungen wird mit Art. 5 des Grundgesetzes begründet.
Ich bin radikal für eine Nichteinmischung in die Sendeinhalte. Das ist selbstverständlich; ich bin viel zu lange im Rundfunkrat gewesen, um etwas anderes zu wollen. Aber ein Sender, der zu 100 Prozent vom Bund finanziert wird, der braucht nach meiner Meinung eine Rahmenvereinbarung für seine unternehmerischen Entscheidungen in anderen Ländern.
Ich will ein Beispiel nennen. Der Sender hat versucht, mit einer privaten Firma in Südafrika die Ausstrahlung eines deutschen Fernsehprogramms zu organisieren. Der südafrikanische Staat hat dem deutschen Verhandlungspartner gesagt: Das geht nicht, wir sind bereits ein Vielsprachenland, wir wollen nicht noch eine Sprache mehr haben.
Ich will das nicht bewerten, aber an einer solchen Sache muß die Bundesrepublik Deutschland beteiligt werden, weil die südafrikanische Republik natürlich davon ausging, daß das eine Absicht der Bundesrepublik Deutschland war und nicht eine des Senders. Es war aber auf rein privatem Weg organisiert.
Ich könnte andere Beispiele anführen. Es geht aber damm, ob ein zu 100 Prozent vom Steuerzahler finanzierter Sender in seinen unternehmerischen Entscheidungen völlig frei ist - wenn man es genau liest, sieht man, er kann alles machen - oder ob es nicht doch eine Rahmenvereinbarung für dieses Feld der Entscheidung, aber natürlich nicht für den Journalismus, geben muß.
Sie, Herr Kollege von der PDS, haben von der Nichteinmischung des Senders gesprochen. Dieser Sender mußte sich - das ist eine große Leistung - immer wieder in die Diktatur etwa in Griechenland einmischen. Das war eine ganz große Leistung. Ich habe selber daran mitgewirkt.
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Er hat sich in die Diktatur in der Türkei zu einer bestimmten Zeit eingemischt. Er hat Sondersendungen gemacht, in denen er sagte: Auch wir haben einen Demokratieauftrag, zumindest im europäischen Rahmen; dieser Auftrag ist vom Parlament und von der Regierung gewollt.
Die alte Formel von der Nichteinmischung, die Sie gebraucht haben, ist doch unmöglich. Der Sender soll sich in einer verantwortungsbewußten und im Einzelfall sicher auch mit dem Rundfunkrat und der Regierung vereinbarten Form absprechen. Aber dann soll er sich auch einmischen können.
Das tut BBC in vielen Bereichen Asiens. Ich finde diesen Sender wunderbar und seine Leistungen hervorragend. Das ist ein gutes Zeugnis. Ich bin überhaupt nicht der Meinung des ersten Redners, daß wir
genau wissen können, wie viele ihn sehen und hören. In diesem Bereich gibt es große Fragen. Aber er hat einen wichtigen Auftrag, und ich hoffe, daß trotz der vielen Zweifel, die immer wieder auftauchen, der Bundestag und die Bundesregierung in den nächsten Jahren neben und hinter diesem Sender stehen werden. Ich erwarte von dem Sender und seinem Intendanten, daß er sich so verhält, daß der Bundestag sich auch künftig dafür einsetzen wird, Mittel für die Deutsche Welle aufzubringen.
Herr Kollege Duve, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bierstedt?
Ja, bitte. Herr Kollege Bierstedt, Ihnen ist das Wort. Ich wollte sagen: Yours is the floor, aber das sagt man im Bundestag nicht.
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Herr Kollege Duve, wenn Sie meine Rede sehr aufmerksam verfolgt haben - das haben Sie natürlich -, dann haben Sie gehört, daß ich von einer möglichen Einmischung in einer Form analog des Änderungsantrags von Bündnis 90/Die Grünen gesprochen habe. Ich habe von einer Einmischung gesprochen, wie sie im Änderungsantrag vordem formuliert ist, abgeraten.
Wenn Sie sich weiter erinnern, so waren wir uns bereits in der Debatte zu den Medien in Bosnien-Herzegowina nach einem kurzen Disput einig - es ist vielleicht anderthalb Jahre her -, daß es eine Einmischung in der Form, wie sie damals formuliert worden ist - wir haben das so gesagt, und Sie haben zugestimmt -, nicht geben kann. Es ging einfach darum, bosnische Journalisten in den Bereich der Deutschen Welle einzubeziehen.
Frage!
Können Sie mir zustimmen, daß eine Einmischung sehr differenziert betrachtet werden sollte?
Einmischung muß immer differenziert betrachtet werden, im familiären Verhältnis, im nachbarschaftlichen Verhältnis und im zwischenstaatlichen Verhältnis. Das ist doch klar. Aber so radikal, wie Sie das gesagt haben, geht es nicht.
Dieser Sender hat auch den Auftrag, dafür zu sorgen, daß bei möglichst vielen unserer Nachbarn und bei den Staaten, mit denen wir zusammenarbeiten, die Demokratie erhalten bleibt. Das hat er bisher getan, und das soll er auch weiterhin tun.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Claus-Peter Grotz, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beratung des Gesetzentwurfs zur Deutschen Welle, zum deutschen Auslandsrundfunk, auf die ich mich in meinem Beitrag konzentrieren möchte, hat länger gedauert, als ursprünglich erwartet. Dieses Gesetz war in der laufenden Legislaturperiode zum zweitenmal Gegenstand unserer Beratungen. Wir haben aber - insofern hat sich die Zeit gelohnt - die Chance genutzt, um die Deutsche Welle, ihren Auftrag und ihre Stellung noch einmal intensiv in den Kontext der deutschen auswärtigen Kulturpolitik einzuordnen.
In einer Zeit knapper Haushaltsmittel, in einer Zeit, in der in anderen Ländern der Auslandsrundfunk zurückgeführt oder gar wie in Kanada ganz aufgelöst wird, mußten auch wir uns noch einmal klar-werden, ob bzw. wie wir die Aufgabe, den Programmauftrag und die Stellung der Deutschen Welle sehen. In der Tat hat sich an der Aufgabenstellung - ursprünglich war es einmal, wie es eben nochmals besprochen wurde, eine Stimme der Freiheit, Krisenradio - auch im Zuge der Revolutionen von 1989 durch den Wandel in den internationalen Beziehungen einiges geändert.
Wir haben die Frage im vorliegenden Gesetzentwurf für eine Aufgabe, eine Notwendigkeit der Deutschen Welle positiv beantwortet. In der Tat haben wir uns, was den Programmauftrag und die Definition der Aufgabe anlangt, sehr viel Mühe gegeben. Unstrittig ist, daß ein steuerfinanzierter Auslandsrundfunk, so wie es die Deutsche Welle ist, nur im Kontext der Außenpolitik seine Begründung und seine Legitimation hat. Dies gilt besonders auch deshalb, weil neue Sendetechniken und Empfangsmöglichkeiten auch den Privatsendern eine globale Präsenz ermöglichen, eine Entwicklung, die in den kommenden Jahren sicherlich zunehmen wird.
Jedoch ist die Darstellung, die Vermittlung, die kritische und selbstkritische Diskussion unseres demokratisch-pluralistischen Gemeinwesens ein legitimes außenpolitisches Interesse, das uns als Haushaltsgesetzgeber Geld für die Deutsche Welle bereitstellen läßt. Auch ist unbestritten, daß das Interesse am wiedervereinigten Deutschland und an seiner Entwicklung in den vergangenen Jahren gewachsen ist.
Wer auf die auswärtige Kulturpolitik insgesamt und ihren Finanzrahmen blickt, wird feststellen, daß die 600 Millionen DM, die die Deutsche Welle jährlich erhält, innerhalb dieses Kulturhaushaltes einen erheblichen Anteil ausmachen. Daraus - es ist mir sehr wichtig, das in meinem Beitrag zu betonen - erwächst der Deutschen Welle auch eine besondere Aufgabe. Die Deutsche Welle ist kein Solitär, sondern sie steht in der auswärtigen Kulturpolitik als Teil, als integrierter Baustein. Auch ohne Rahmenvereinbarung, über die wir gesprochen haben - das haben wir jetzt anders geregelt -, muß die Deutsche Welle diese Aufgabe innerhalb der auswärtigen Kulturpolitik begreifen.
Diese besondere Verantwortung als Teil auswärtiger Kulturpolitik erstreckt sich auf das Zusammenwirken mit den Mittlern, mit den anderen Organisationen der auswärtigen Kulturpolitik. Diese Zusam17810
menarbeit muß von Kooperation, von Partnerschaft, von Arbeitsteilung und Ergänzung geprägt sein. Die Deutsche Welle ist nicht die Superinstitution der auswärtigen Kulturarbeit, sondern sie muß im Kontext der anderen Mittler ihre Aufgabe erfüllen.
Auf Grund ihrer technischen Möglichkeiten - das ist das Besondere der Deutschen Welle - kann die Deutsche Welle in der Fläche informieren. Sie kann auf unser Land neugierig machen. Diese Neugierde muß dann von Goethe-Instituten, von Inter Nationes und den anderen Trägern auswärtiger Kulturarbeit aufgenommen und vertieft werden. Kulturaustausch, Dialog der Kulturen braucht die persönliche Begegnung. So ergibt sich dann insgesamt ein gut geknüpftes Netzwerk von Trägern und Mittlern in der auswärtigen Kulturpolitik.
Das Deutsche-Welle-Gesetz, das wir heute verabschieden, gibt dem Sender eine gute Grundlage für seinen Beitrag zur auswärtigen Kulturpolitik. Dies drückt auch unsere Erwartungen an die Deutsche Welle aus.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über den deutschen Auslandsrundfunk. Das sind die Drucksachen 13/4708 und 13/8669 Buchstabe a. Der Innenausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Stimmen aus der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei einer Stimmenthaltung aus dem Bereich der SPD-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung angenommen; Mehrheitsverhältnisse wie vorher.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen „Staatsferne und Selbstbestimmung des deutschen Auslandsrundfunks" auf Drucksache 13/ 8669, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4846 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und der PDS angenommen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Sicherung der Staatsferne und der Rundfunkfreiheit im Deutschland-Radio" auf Drucksache 13/1429 an den Innenausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Garantie des Bestandes der ARD auf Drucksache 13/4645, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/396 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Strukturreform der ARD auf Drucksache 13/4645, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/404 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die der Opposition angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a bis 6d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen
- Drucksache 13/.8635 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({0})
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung ({1}), Wolfgang Behrendt, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eckpunkte einer langfristigen deutschen Kohlepolitik
- Drucksache 13/5015 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({2})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes und des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz
- Drucksache 13/8641-Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, Reinhard Weis ({4}), Michael Müller ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Endlager für radioaktive Abfalle Morsleben
- Drucksachen 13/5921, 13/7132 Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Zur Großen Anfrage der Fraktion der SPD zum Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Volker Jung, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sicherlich kein Zufall, daß wir heute das Gesetz zur Steinkohlefinanzierung und die Atomrechtsnovelle im Zusammenhang beraten, obwohl Sie diesmal darauf verzichtet haben, beide Fragen in einem Artikelgesetz zusammenzupacken. Im Gegensatz zum Bundeskanzler wollten Sie ja immer ein Junktim zwischen beiden Fragen - wenn schon nicht formal, dann wenigstens politischherstellen. Das gilt vor allen Dingen für die Minister Rexrodt und Merkel. Das wird Ihnen nachträglich nicht mehr gelingen.
Nachdem auch die letzte Energiekonsensrunde daran gescheitert ist, daß Sie einen Entsorgungskompromiß, den es hätte geben können und der greifbar nahe war, nur um den Preis haben wollten, daß wir einer Zukunftsoption für die Nutzung der Kernenergie zustimmen, wird nichts anderes mehr übrigbleiben, als jede einzelne energiepolitische Frage im Bundestag und im Bundesrat unter Beachtung aller Verfahrensvorschriften für sich zu behandeln. Dabei können Sie davon ausgehen: Unsere Beschlüsse, so bald wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen, stehen nicht zur Disposition. Dies wird die Meßlatte bei allen Novellierungsvorhaben sein.
({0})
Aber auch in anderen wichtigen energiepolitischen Fragen sind wir von einem Konsens noch sehr weit entfernt. Ihr Vorgehen bei der Energierechtsnovelle spottet jeder Beschreibung, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Die ökologischen Konsequenzen eines wie auch immer ausgestalteten Preiswettbewerbs bei Strom und Gas haben Sie am Anfang überhaupt nicht beachtet; dann haben Sie einige Leerformeln nachgeschoben, die keine Wirkung entfalten werden, und bis heute haben Sie keine belastbaren Vorrangregelungen für erneuerbare Energiequellen und die Kraft-Wärme-Koppelung gefunden. Das Ganze wollen Sie jetzt auch noch am Bundesrat vorbeilotsen, indem Sie die Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzesvorhabens wegmanipulieren.
Ich habe es im Wirtschaftsausschuß angekündigt und wiederhole es im Plenum: Wir werden detailliert überprüfen lassen, ob dies mit unserer Verfassung vereinbar ist. Wenn das nicht der Fall ist, was ich vermute, dann können Sie sich auf ein Normenkontrollverfahren und einen Antrag auf einstweilige Anordnung einstellen, die das Gesetz an dem Tag, an dem es in Kraft treten soll, einkassieren werden.
({1})
Davon abgesehen möchte ich Sie fragen: Glauben Sie wirklich, daß Sie eine Energierechtsreform, die unsere Versorgungsstrukturen grundlegend ändern wird, ohne die Mitwirkung der Länder und Kommunen erfolgreich - das heißt: sachgerecht und langfristig, um Planungssicherheit zu geben - abschließen können? Da müßten Ihnen doch selber die allergrößten Zweifel kommen.
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Zweifel müßten Ihnen allerdings auch bei Ihrer Kohlepolitik kommen. Wenn die bayerische Regierung den Bundesrat noch im September aufgefordert hat, sein Bedauern darüber auszudrücken, daß sich die Beteiligten am Kohlekompromiß nicht zu einem deutlicheren sukzessiven Abbau der Steinkohlehilfen entschließen konnten, läuft das doch darauf hinaus, den mühsam ausgehandelten Kohlekompromiß vom März in einem halben Jahr wieder in Frage zu stellen, noch bevor das Gesetzgebungsvorhaben überhaupt abgeschlossen ist.
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Die Verweilzeiten der Absprachen mit der Regierungskoalition scheinen immer kürzer zu werden, je näher ihr Ende kommt.
Aber glücklicherweise ist dieser Vorschlag im Bundesrat nicht mehrheitsfähig. Wir haben ja den Entschließungsantrag von Bayern und Baden-Württemberg vom Januar dieses Jahres noch in bester Erinnerung, der einen Kahlschlag bei der heimischen Steinkohle wollte, aber keine Mehrheit gefunden hat. Er hätte zu einem nicht mehr beherrschbaren Abbau von Arbeitsplätzen im Bergbau und darüber hinaus in der Mantelwirtschaft geführt. Er hätte alle eingeleiteten Maßnahmen und Anstrengungen für einen geordneten Strukturwandel in den Bergbauländern zunichte gemacht.
Hätte sich dieser Vorschlag durchgesetzt, dann wären die Reviere an Ruhr und Saar in eine existentielle Krise geraten. Mit dem Zechensterben hätten über 50 000 Bergleute ihren Arbeitsplatz verloren, davon allein 35 000 in den kommenden drei Jahren. Die Folge dieses bruchartigen Arbeitsplatzabbaus wäre gewesen, daß es in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Steinkohlebergbaus erstmals betriebsbedingte Kündigungen gegeben hätte. Dies wäre dem Staat keineswegs billiger gekommen - zu dieser Schlußfolgerung kommt man, wenn man sich nicht von kleinkariertem Ressortdenken leiten läßt -, weil dann in massiver Weise Arbeitslosengelder und Stilllegungshilfen hätten finanziert werden müssen.
Die Eckpunkte des Kohlekompromisses, dem neben der Bundesregierung die Bergbauländer, die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie und der Steinkohlebergbau zugestimmt haben, sind keineswegs das Wunschergebnis der SPD gewesen. Wir haVolker Jung ({4})
I ben den Kompromiß aber gutgeheißen, weil für die Bergleute an Ruhr und Saar das Schlimmste verhindert werden konnte und Planungssicherheit wenigstens bis zum Jahr 2005 besteht.
Wir setzen auf die Zusicherung, daß es zu keinen betriebsbedingten Kündigungen, daß es zu keinen Massenentlassungen kommen wird und daß ein lebhafter und lebensfähiger Bergbau gesichert bleibt.
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Dies ist aber nur sichergestellt, wenn die im Gesetzentwurf verankerte Finanzierung von niemandem mehr in Frage gestellt wird und wenn dazu mehrjährige Verpflichtungsermächtigungen erteilt werden. Ich füge hinzu: Wir verlangen darüber hinaus, daß eine Perspektive für die Zeit nach 2005 entwickelt wird. Es entspricht keineswegs dem Geist des Kohle-kompromisses, daß dazu in dem vorliegenden Gesetzentwurf keine verbindliche Regelung vorgesehen ist. Das werden wir mit neuen Mehrheiten im Bundestag ändern.
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Der Kohlekompromiß ist vor allen Dingen deswegen zustande gekommen, weil die Bergleute, unterstützt von vielen Menschen in den Revieren, mit vielen Aktionen, auch hier in Bonn, für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze gekämpft haben.
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) Ich hatte das Gefühl, daß sich große Teile unserer Bevölkerung mit diesem Kampf identifiziert haben und daß die Bergleute ihn stellvertretend für alle geführt haben, die sich vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten.
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Die Bergleute haben damit schließlich eine Katastrophe in den Kohlerevieren verhindert und Tausende von Arbeitsplätzen im Bergbau und in der Mantelwirtschaft gesichert.
Meine Damen und Herren, wir bedanken uns für die Unterstützung durch die Bevölkerung. Wir bedanken uns auch bei der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie sowie bei den Bergbauunternehmen. Aber wir bedanken uns nicht zuletzt
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auch bei den Landesregierungen von NordrheinWestfalen und dem Saarland, daß dieser Kompromiß zustande kommen konnte. Er ist nur durch die beträchtlichen finanziellen Zusagen von NordrheinWestfalen und die bevorstehende Übertragung des Anteils des Saarlandes an der Saarberg AG auf die Ruhrkohle AG möglich geworden.
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Die Bundesregierung sollte sich diese Lehre in der Kohlepolitik zu Herzen nehmen und in der Sache Kompromisse suchen, statt mit ihrer Konfrontationspolitik den Weg zu vernünftigen Lösungen zu verbauen.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat der Kollege Gunnar Uldall, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu den Ausführungen des Kollegen Jung möchte ich zunächst sagen: Das Energiewirtschaftsgesetz wird kommen.
({0})
- Sehr bald wird es kommen, Frau Kollegin. - Die Verfassungsfrage, Herr Jung, überlassen Sie bitte geeigneteren Gremien.
Eines möchte ich hinzufügen: Diese Polemik, die Sie gegen ein so weitreichendes und tiefgehendes Gesetz für die Zukunft Deutschlands hier entfaltet haben, paßt überhaupt nicht. Hier sehen wir wieder: Die notwendigen Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, um Deutschland für das nächste Jahrhundert fit zu machen, werden von den Sozialdemokraten aus purem Parteiegoismus nicht mitgetragen.
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Dies ist absolut unverständlich. Ich kann wirklich nur sagen: Entwickeln Sie lieber kreative Ansätze mit, so wie wir es tun, Herr Jung, damit wir bei dieser Energiewirtschaftsgesetzgebung zu einem vernünftigen Miteinander kommen.
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Es wird immer unterschätzt, welche Bedeutung die Energiekosten für eine Volkswirtschaft haben. Wir werden, wenn das Gesetz auf der Tagesordnung steht - heute ist das nicht Gegenstand unserer Debatte -, sehr deutlich machen, wie wichtig es ist, daß wir dieses Gesetz bekommen. Ich bitte Sie sehr, Herr Jung, daß Sie Ihr Störfeuer und Ihre Polemik gegen dieses Gesetz einstellen und es statt dessen zum Wohle der ganzen Volkswirtschaft in Deutschland unterstützen.
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Zur Kohle: Die Bundesregierung ist den Kohleunternehmen, den Bergleuten und den Revierländern mit diesem Kohlekompromiß, über den wir heute in erster Lesung zu beschließen haben, sehr weit entgegengekommen. In dem vorliegenden Gesetzentwurf sind Finanzmittel vorgesehen, die nach Einschätzung meiner Fraktion an die Obergrenze dessen stoßen, was gerade noch zu verantworten ist. In keinem anderen Land Europas werden so hohe Kohlesubventionen gezahlt wie bei uns in Deutschland. Keine andere Branche erhält so hohe Zuwendungen wie die
Kohlebranche. Keine andere Branche bekommt auf eine so lange Perspektive von acht Jahren im voraus eine Zusicherung über soviel Geld ausgesprochen wie die Kohlewirtschaft.
Insofern kann ich wirklich nur sagen: Es wäre angebracht, wenn man von seiten der SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen statt billiger Polemik ein Lob für die Bundesregierung über deren großes Entgegenkommen aussprechen würde.
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Es wäre auch angebracht, einen Dank an den Steuerzahler auszusprechen. Denn jede Mark, die hier ausgegeben wird, wird von anderen Arbeitnehmern und von anderen Mittelständlern in Deutschland eingezahlt. Dafür sollten Sie sich bedanken, statt noch mehr zu fordern.
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Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat die deutsche Steinkohle den Steuerzahler bereits über 200 Milliarden DM gekostet. Bis 2005 kommen weitere Beträge von etwa 60 Milliarden DM dazu. Halten Sie sich diese Beträge, von denen wir hier reden, doch bitte einmal vor Augen. Dann können Sie doch nicht so tun, als wenn das nur ein Pappenstiel wäre und noch mehr sein müßte. In diesen Beträgen sind noch nicht einmal die enormen Beiträge für die Knappschaftsversicherung enthalten.
Herr Jung, Sie sagten: Das ist nicht unser Wunschergebnis. Das sage auch ich. Ich hätte mir auch lieber ein anderes Ergebnis im Sinne des deutschen Steuerzahlers vorgestellt.
Es wäre auch besser, bereits heute zu sagen, daß und in welchem Jahr die Subventionen nach dem Jahre 2005 endgültig auslaufen. Es wäre klarer, wenn man bereits heute sagen würde, zum Beispiel im Jahre 2007, 2008 oder 2009 sei das Ende der Kohlesubvention erreicht. Dann wären klare Verhältnisse geschaffen. Dann könnten sich die Unternehmen darauf einstellen, daß eben nicht mehr mit Subventionen aus der Bundeskasse zu rechnen ist. Es wäre dann auch ganz klar, daß es mit diesem Gesetz keine Zusagen für irgendwelche dauerhaften Zahlungen gibt, die nach dem Jahre 2005 unbegrenzt nach Belieben weiterlaufen.
Bei den Auseinandersetzungen in den vergangenen Monaten haben wir sehr häufig erlebt, daß immer über nebulöse Zusagen geredet wurde, die gemacht worden seien. Ich sage - damit das dieses Mal ganz klar ist -: Es gibt keine Zusagen über das Jahr 2005 hinaus. Alles, was über das Jahr 2005 hinausgeht, muß neu verhandelt werden.
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Es gibt nicht die Möglichkeit, daß Sie dann sagen: Damals ist das aber nicht sehr deutlich gesagt worden. - Es wird heute durch mich für die Fraktion ganz deutlich gesagt: Es gibt keine feste Zusage für das, was nach 2005 kommt. Dies muß neu verhandelt werden.
Meine Damen und Herren, überall in Europa laufen die Steinkohlesubventionen aus. Im Jahre 2005 wird es in Frankreich Kohlesubvention null geben; in Belgien Kohlesubvention null; in Großbritannien Kohlesubvention null; in Spanien wird es nur noch eine ganz kleine Restgröße an Subventionen geben.
Wenn Sie jetzt sagen, es müsse noch über das Jahr 2005 hinaus feste Zusagen geben, Herr Jung, dann kann ich nur sagen: In dieser Situation, daß in keinem anderen Land in Europa im Jahre 2005 noch Kohlesubventionen gezahlt werden, und bei der sich abzeichnenden Haushaltsmittelknappheit soll man bitte nicht glauben, daß es dann irgendeine Sicherheit für Subventionszusagen geben könne.
Egal, welche Koalition dann in Düsseldorf herrscht, egal, welche Koalition dann hier herrscht: Man muß einfach sehen, daß die Kassen leer sind. Das europäische Umfeld sieht dann anders aus, als es heute aussieht. Wir werden davon ausgehen müssen, daß dann die Kohlesubventionen zurückgefahren werden. Die öffentlichen Haushalte werden weitere Subventionen nicht zulassen.
Wer heute den Eindruck erweckt, es würde immer so weitergehen können, nährt bei den Bergleuten falsche Vorstellungen und versündigt sich an der Berufsplanung dieser Leute.
Herr Kollege Uldall, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?
Ja.
Bitte.
Ich habe die Frage, ob Sie eigentlich wissen, wie hoch ein Arbeitsplatz in Bayern für den Eurofighter subventioniert wird? Ich habe berechnet, daß das bei 56 Milliarden DM für 10 000 Arbeitsplätze - diese Zahl nennt die Gewerkschaft, 18 000 ist viel zu hoch gegriffen - 300 000 DM pro Arbeitsplatz sind - das wäre wesentlich mehr als bei einem Kohlearbeitsplatz -, während zum Beispiel im Bereich der Förderung der Windenergie ein Arbeitsplatz über das Stromeinspeisungsgesetz mit 6000 DM pro Jahr, bei derselben Anzahl von 10 000 Arbeitsplätzen, gefördert wird.
Liebe Frau Kollegin, bei dem, was wir an die Betriebe für die Flugzeuge bezahlen, handelt es sich nicht um Subventionen.
({0})
Vielmehr sind das Zahlungen für den Kauf dieser Flugzeuge. Das ist völlig klar.
Welche Alternativen zur Kohle wir haben, werde ich gleich noch darlegen. Es geht nicht darum, daß wir sozusagen Subventionen für eine Industrie zahlen. Es geht darum, daß wir für die Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes in der langfristigen
Perspektive eine entsprechende Ausrüstung der Bundeswehr haben wollen.
({1})
Das ist unsere Auffassung. Wenn Sie der Auffassung sind, dies wäre nicht so notwendig und wir hätten immer eine Friedensgarantie, dann sagen Sie das bitte den Menschen draußen. Sie haben in Ihrer Politik, was die Sicherheit für Deutschland betrifft, in den letzten 15 Jahren immer falsch gelegen.
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Daß wir heute eine so langfristige Friedensperspektive haben, ist unser Verdienst gewesen, da wir nicht vor Ihren Forderungen eingeknickt sind.
Um es klar zu sagen: Die heimische Kohle ist aus Gründen der Versorgungssicherheit nicht notwendig. Es gibt auf dem Weltmarkt heute und in Zukunft genügend Kohle zu wettbewerbsfähigen Preisen. Es gibt genügend Schiffsraum, um diese Kohle zu uns nach Deutschland zu transportieren. Wenn man davon ausgeht, daß wir Kohle in Deutschland brauchen, dann ist es günstiger, in Deutschland eine entsprechende Kohlereserve anzulegen und zu lagern, als die Kohleproduktion kontinuierlich fortzuführen. Die Kosten für das Anlegen von entsprechenden Lagerstätten und für die Zinsen sind bei weitem nicht so hoch wie die Kosten bei einer weiteren Förderung der Kohle in Deutschland. Das Argument, wir bräuchten heimische Kohle zur Versorgungssicherheit in Deutschland und müßten deswegen die Ruhrkohle und die Saarkohle weiter fördern und subventionieren, ist nicht aufrechtzuerhalten.
Beim Erdöl gilt das gleiche. Wir sind im Moment dabei, die nationale Rohölreserve abzubauen. Ich habe nicht gehört, daß dazu irgend jemand gesagt hätte, damit sei die Sicherheit der Energieversorgung in Deutschland beeinträchtigt. Wir sollten aufhören, uns mit dem Argument der Versorgungssicherheit in die Tasche zu lügen.
Die Steinkohlesubventionen sind inzwischen nur noch sozial- und regionalpolitisch zu begründen. Wenn die Bundesländer Saarland und Nordrhein-Westfalen ein großes Interesse an der weiteren Subventionierung der heimischen Steinkohle haben, dann sollten sie sich stärker als bisher an den Kohlesubventionen beteiligen. Herr Jung hat der nordrhein-westfälischen Landesregierung vorhin seinen herzlichen Dank für deren große Leistung bei der Kohlesubventionierung ausgesprochen. Das ist überhaupt nicht zu rechtfertigen. Wenn wir erkennen, daß es sich bei der Kohle allein um ein regionalpolitisches Problem in Nordrhein-Westfalen und im Saarland handelt, dann müssen wir die Hilfestellung durch den Bund genauso einstufen wie andere Hilfestellungen, die der Bund ebenfalls aus regionalpolitischen Erwägungen vornimmt.
Als Beispiel nenne ich die Gemeinschaftsaufgaben, bei denen es eine Teilung 50 : 50 gibt. Auch bei der Werfthilfe gibt es eine Teilung: Zwei Drittel tragen die norddeutschen Küstenländer mit Werftstandorten, ein Drittel trägt der Bund. Bei der Kohle hingegen gibt es folgende Teilung: 90 Prozent trägt der Bund, 10 Prozent das Land Nordrhein-Westfalen und das Saarland so gut wie gar nichts!
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Das ist nicht zu rechtfertigen. Man muß schon sehr verblendet sein, wenn man sagt, es sei ein besonderer Anlaß, sich bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung zu bedanken. Herr Jung, das paßt einfach nicht zu den Realitäten.
Häufig wird behauptet, daß die Bundesregierung angesichts der Demonstrationen der Bergleute, die ' der Kollege Jung vorhin angesprochen hat, eingeknickt sei. Sie haben gesagt, das seien tolle Demonstrationen gewesen. Man sollte sich einmal ansehen, was bei diesen Demonstrationen herausgekommen ist. Dann muß man die sehr interessante Feststellung machen, daß die Subventionen, die tatsächlich aus der Staatskasse gezahlt werden, geringer sind als nach dem Angebot, das die Bundesregierung vor den Demonstrationen unterbreitet hatte. Es geht dabei um folgende Größenordnung: In dem Vorschlag vom 6. März dieses Jahres sind 60,75 Milliarden DM unterbreitet worden; jetzt ist eine Zahlungsverpflichtung von 59,25 Milliarden DM herausgekommen. Das heißt: Bis zum Jahre 2005 werden jährlich 1,5 Milliarden DM weniger an Subventionen aus der Staatskasse gezahlt, als die Bundesregierung vor den Demonstrationen angeboten hatte.
Es gibt nur einen kleinen Unterschied: Es hat eine Verschiebung von der Landeskasse in Düsseldorf zur Bundeskasse in Bonn gegeben. Der Bund übernimmt jetzt etwas mehr, die Landesregierung Nordrhein-Westfalen etwas weniger. Das ist der einzige Unterschied. In der Summe aber erhalten die Bergbauunternehmen bis zum Jahre 2005 jährlich 1,5 Milliarden DM weniger.
Daß die Bergleute dafür gestreikt haben und auf die Barrikaden gegangen sein sollen, daß es eine interne Lastenverschiebung zwischen Bonn und Düsseldorf in der von mir beschriebenen Weise gibt, mag wohl keiner im Ernst behaupten.
Es stimmt: Das Schöne an der Finanzpolitik ist, daß man Zahlen genau vergleichen kann. Es ist einfach so, daß im Ergebnis nach den Demonstrationen weniger herausgekommen ist, als vorher von der Regierung angeboten worden war. Lassen Sie mich deshalb feststellen: Dies dürfte die erste Demonstration, der erste Streik in der Geschichte der Arbeiterbewegung gewesen sein, bei dem ein schlechterer Abschluß als das bekämpfte Angebot erstreikt und dann auch noch bejubelt wurde.
Meine Damen und Herren, dies ist die nackte Wahrheit. Man hätte das vielleicht schon im Frühjahr sehr viel deutlicher sagen sollen. Wir haben es jetzt gesagt. Ich glaube, dies trägt sehr zur Aufhellung der Situation bei.
Energiepolitik ist immer eine Gesamtheit von verschiedenen Energiequellen. Dies gilt für die Kohlepolitik und den Strombereich, den wir in Kürze noch einmal behandeln werden. Mein Kollege Grill wird
nachher noch zu den anderen Aspekten der vorliegenden Anträge etwas sagen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat Herr Minister Professor Dammeyer.
Minister Dr. Manfred Dammeyer ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gebe zu, daß ich diese Diskussion ein klein wenig gespenstisch finde. Ich halte sie deshalb für gespenstisch, weil das Band der Solidarität durch das ganze Ruhrgebiet gebunden worden war, woran nicht nur Bergleute beteiligt waren, weil hier in Bonn Verhandlungen geführt und Abschlüsse getroffen worden sind, an denen mehrere Partner beteiligt waren, und alle sich in die Hand versprochen haben, daß das eine verläßliche Grundlage für einen auf Dauer lebensfähigen Bergbau sein soll - nicht, Herr Uldall, eine Grundlage für ein Abschießen des Bergbaus ein bißchen später, sondern eine Grundlage für einen auf Dauer lebensfähigen Bergbau.
Sie können hier nicht herkommen und sagen: Es hat niemand eine solche Zusage gegeben. Diese Zusage, einen lebensfähigen und gesamtwirtschaftlich vertretbaren Bergbau zu erhalten, ist die Erklärung der Bundesregierung am Tag der Vereinbarung gewesen. Mehr noch: Das ist auch die Erklärung der Bundesregierung am Tag der Verabschiedung dieses Gesetzes im Kabinett gewesen.
Auch wir hatten unsere Befürchtungen, als wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung sahen, weil dort kein Wort stand, wie es denn nach dem Jahr 2005 weitergeht, ob nicht möglicherweise das, was Sie hier eben gesagt haben, die Meinung der Bundesregierung sein könnte. Wir waren eigentlich sicher, uns auf die Erklärung, die die Bundesregierung seinerzeit in den Verhandlungen abgegeben hatte, und auf die Erklärung, die die Bundesregierung auch noch bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfes in ihr eigenes Protokoll geschrieben hatte, verlassen zu können. Jetzt kann man fast nur noch darauf setzen, daß die Bundesregierung mehr zu ihrem Wort steht als die Abgeordneten der CDU/CSU.
({1})
Denn wenn Sie hier sagen, es müsse schon jetzt festgelegt werden, wann mit den Subventionen Schluß sei, und Sie auch noch Zahlen nennen - 2007 oder 2009-, dann ist dies nicht die Aufforderung, nach dem Jahre 2005 einen lebensfähigen und gesamtwirtschaftlich vertretbaren Bergbau aufrechtzuerhalten, sondern die Aufforderung, ihn danach zu liquidieren. Das ist ja auch Ihre Zielsetzung.
Meine Damen und Herren, das kann nicht angehen. Denn genau nach diesen sehr sorgfältigen und schwierigen Verhandlungen, bei denen sich die Landesregierung Nordrhein-Westfalen verpflichtet hat, ab dem Jahre 1998 1 Milliarde DM zusätzlich zu zahlen, können Sie nicht sagen: Das wird weniger. 1 Milliarde DM zusätzlich kann man schon zählen. Auch wir können zählen.
({2})
Ich sage ernsthaft: Das ist mehr als nur die Frage danach, ob denn möglicherweise hier im Deutschen Bundestag über etwaige Variationen diskutiert wird. Die Schwierigkeiten, die wir Anfang dieses Jahres öffentlich zu sehen bekamen, haben schon eine Qualität, die auf Dauer bestehen kann. Wenn Sie hier meinen, daß die gemachte Zusage, nämlich der Grundkonsens, den Bergbau auf dem Niveau aufrechtzuerhalten, das bis zum Jahre 2005 in gemeinsamer Überlegung erzielt werden soll, reduziert werden müßte oder gar zurückgenommen werden soll, dann provozieren Sie schon jetzt eine Auseinandersetzung, die nicht erst nach dem Jahre 2005 öffentlich stattfinden wird. Ich möchte Sie wirklich bitten, von diesem Weg abzugehen.
Wie gesagt, wir hofften darauf, daß der Text des Gesetzentwurfes nicht unbedingt zu Befürchtungen Anlaß geben mußte. Aber die Erklärungen, die dazu kommen, wecken allerschlimmste Befürchtungen.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Ursula Schönberger, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Energiepolitik der derzeitigen Bundesregierung, Herr Uldall, setzt auf Aufrechterhaltung veralteter Strukturen und Techniken. Wissentlich und willentlich werden die Gefahren der Atomenergie, die stattfindende Klimaveränderung und die immense Ressourcenverschwendung in Kauf genommen. Sobald sich Alternativen zu dieser rückwärtsgewandten und zerstörerischen Politik zu einem zukunftsfähigen Wirtschaftszweig entwickeln, wie das zum Beispiel bei der Windenergie der Fall ist, setzt diese Regierung ihre ganze Energie dafür ein, diese positiven Entwicklungen, die ja auch viele Arbeitsplätze geschaffen haben, wieder plattzumachen.
Wir haben hier vor zwei Wochen eine beeindrukkende Demonstration von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Gewerkschaften, Unternehmerinnen und Unternehmern, Landwirtinnen und Landwirten sowie Umweltverbänden für den Ausbau dieser zukunftsfähigen Energienutzung erlebt. Im Angesicht dieses gesellschaftlichen Bündnisses hat die Bundesregierung den Angriff auf die Windenergie erst einmal aufgeschoben. Aber die Vernunft ist auf dieser Seite leider noch lange nicht eingezogen.
({0})
- Genau, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Wir beraten heute über Kohlefinanzierung und Atomgesetznovellierung. Die Subventionen für die Steinkohle, Herr Uldall, sind auch für uns im wesentUrsula Schönberger
lichen eine sozialpolitische und regionalpolitische und keine energiepolitische Frage. Aber warum denn nur noch eine sozialpolitische oder regionalpolitische Frage? Genau das ist doch wirklich auch wichtig.
Regionalpolitisch haben wir als Gesellschaft eine Bringschuld gegenüber den Revieren, die über viele Jahrzehnte die Basis für die industrielle Produktivität gebildet haben. Das ist klar. Doch die Frage ist nicht, diesen Bestand zu subventionieren - und da sind auch die betroffenen Landesregierungen in der Pflicht, nicht nur aus Gewohnheit eine strukturkonservative Position zu vertreten -, sondern es geht darum, erfolgreiche regionalentwicklungspolitische Umbauprogramme aufzulegen, die dann allerdings auch gesamtgesellschaftlich finanziert werden müssen.
Energiepolitisch heißt die Alternative nicht, die heimische Kohle durch Importkohle zu ersetzen. Entscheidend ist doch, die CO2-Emissionen zu reduzieren, Energieeinsparung und rationelle Energieverwendung durchzusetzen und Kohle mittelfristig nur noch im Kraft-Wärme-gekoppelten Betrieb zu verstromen. Die Verknüpfung von Kohle und Atom hat eine lange Tradition. Seit vielen Jahren versucht die Bundesregierung mit der Zusage für die weitere Subventionierung der Steinkohle die Kohleländer zu erpressen, der Fortführung ihrer Atompolitik zuzustimmen. Ihre klare Absage an diese Politik, Herr Jung, ist hier nicht sehr klar gewesen. Das macht deutlich, daß diese Verknüpfung im wesentlichen machtpolitisch und nicht sachlich begründet war. Natürlich kann man der irrigen Meinung sein, daß ein Energiemix aus Kohle und Atomenergie Sinn machen würde. Aber dies ist keineswegs zwingend. Gerade das erwähnte Aufblühen des Windenergiebereichs macht deutlich, daß hier ganz andere, zukunftsfähige Alternativen realisiert werden könnten, wenn denn der politische Wille endlich da wäre.
({1})
Die Ultima ratio dieser Bundesregierung ist es, tatsächliche Probleme durch neue Gesetze oder im Falle der Atomenergie auch durch Bundesweisung einfach wegzudefinieren, ohne sie zu lösen. Jüngstes, skurriles Beispiel ist die Weisung der Bundesumweltministerin im Konrad-Verfahren, das Land Niedersachsen solle doch einfach ignorieren, daß sich die Atommüllmengen in den letzten Jahren ganz anders entwickelt haben als in sämtlichen Entsorgungskonzepten angenommen, und ohne zu prüfen, ob überhaupt entsprechender Müll vorhanden ist, davon ausgehen, der Plan für Konrad sei einfach gerechtfertigt.
So forsch die jetzt vorgelegte Novellierung des Atomgesetzes auch daherkommt, sie ist im wesentlichen doch das Eingeständnis, daß die Bundesregierung die tatsächlichen Probleme der Atomenergie nicht zu lösen vermag. Mit dieser Novellierung soll das Schutzziel des Atomgesetzes zu Gunsten einer höchst fragwürdigen Wirtschaftlichkeit für die Betreiber weiter ausgehöhlt werden. Seit Jahren verweisen atomenergiekritische Landesregierungen darauf, daß das in § 1 des Atomgesetzes definierte Schutzziel dem Ziel der Förderung der Atomenergie mindestens gleichwertig ist, und beharren auf einem strikt sicherheitsorientierten Vollzug des Gesetzes.
Seit Jahren gibt es darüber einen Streit zwischen der Bundesregierung, die die Wirtschaftsinteressen der Atomindustrie vertritt, und immer mehr Ländern, die die Schutzinteressen der Bevölkerung voranstellen. In diesem Streit konnte sich die Bundesregierung in den letzten Jahren nur noch mit dem Mittel der Bundesweisungen durchsetzen, gestützt auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, daß die Länder einer Bundesweisung zu folgen haben, unabhängig von der inhaltlichen Rechtmäßigkeit einer solchen Weisung.
Jetzt will Frau Merkel die Rechtslage endgültig zugunsten der Atomindustrie bzw. ihres Ministeriums klären. Durch die vorgelegte Gesetzesänderung soll der Grad der Sicherheit explizit von der Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen abhängig gemacht werden. Sowohl Veränderungen in Atomkraftwerken als auch die Entsorgung radioaktiver Abfälle sollen in wirtschaftlich vertretbarer Weise geschehen. Dies soll ausdrücklich Vorrang vor dem Stand von Wissenschaft und Technik bekommen.
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- Wirtschaftlichkeit vor Sicherheit.
Der derzeit von Siemens und Framatome entwikkelte neue Reaktor soll durch ein standortunabhängiges Genehmigungsverfahren sanktioniert und die Öffentlichkeitsbeteiligung gleich ganz abgeschafft werden.
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Die Antwort von Frau Merkel auf die Proteste von Bürgerinnen und Bürgern gegen ihre Atompolitik ist, die Rechte und Einwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger möglichst gleich ganz abzuschaffen. Doch damit stellt sie sich völlig ins Abseits. Schon das Battelle-Institut kam in den 70er Jahren zu dem Resultat, daß mangelnde Partizipationsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger in für sie existentiellen Entscheidungsfragen in einem Staat nicht zu Ruhe, sondern ganz genau zu Protesten und Widerstand führt.
Das liegt doch auf der Hand: Wenn Bürgerinnen und Bürger sich gegen eine Politik wehren wollen und sie immer weiter von den Entscheidungsprozessen ausgegrenzt werden, was bleibt ihnen denn anderes übrig, als auf die Straße zu gehen? Wir können die Menschen nur dazu aufrufen, auf die Straße zu gehen, ihre Interessen massiv zu äußern und zum Beispiel beim nächsten Castor-Transport, ob nach Gorleben oder Ahaus, auf die Straße zu gehen.
({4})
Auch wir werden uns weiter daran beteiligen. Wir rufen die Betroffenen, Bürgerinitiativen und Verbände auf, zur vorliegenden Atomgesetznovelle
Stellung zu nehmen und an der öffentlichen Anhörung des Umweltausschusses am 29. Oktober teilzunehmen.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wollen mit dieser Novelle nicht nur in mehreren Punkten die Öffentlichkeitsbeteiligung abschaffen, sie wollen auch eine Lex Bernstorff einführen, die es endlich ermöglichen soll, den Grafen Bernstorff, der die Salzrechte im Gebiet des geplanten Endlagers Gorleben hat, zu enteignen.
Sie wollen - das ist mit der größte Skandal an dieser Novellierung - entgegen den Regelungen des deutsch-deutschen Einigungsvertrages das Endlager Morsleben über den 30. Juni 2000 hinaus weiterbetreiben. Das Endlager Morsleben ist die derzeit billigste, aber auch dreckigste Möglichkeit, sich erst einmal der radioaktiven Abfälle zu entledigen. Dieses Lager soll ohne ordentliches Planfeststellungsverfahren bis zum Jahre 2005 weiterbetrieben werden.
Die Bundesumweltministerin verzögert aus politischen Gründen das Planfeststellungsverfahren zur Schließung von Morsleben. Dann konstruiert sie eine angebliche Rechtsunsicherheit nach dem 30. Juni 2000, um sich dann selbst den fadenscheinigen Vorwand zu liefern, nicht nur eine scheinbare Rechtssicherheit herzustellen, sondern gleich bis 2005 weiter einzulagern. Das schafft keine Rechtssicherheit, schon gar nicht für die Menschen im Osten, die sich - egal wie sie zu den einzelnen Inhalten des deutschdeutschen Einigungsvertrages stehen - wenigstens darauf verlassen können müssen, daß dieser nicht revidiert wird.
({5})
Während selbst im Nachbarland Frankreich, dem Eldorado der Atomenergie, ein Prozeß des Umdenkens und der Neubewertung der Atomenergie beginnt, bewährt sich Frau Merkel mit dieser Atomgesetznovelle als von sachlichen Einwänden unberührte Planierraupe der Atomindustrie.
({6})
Der Bundesrat hat die Atomgesetznovelle nicht nur abgelehnt, sondern auch Zustimmungspflichtigkeit reklamiert. Denn es geht hier nicht nur um die katastrophale Energiepolitik der Bundesregierung, sondern auch gerade um die unmittelbaren Rechte der Länder.
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Die spannende Frage ist, ob und wie weit die Länder, wenn es zum Schwur kommt, ihre Rechte durchsetzen werden. Sachsen-Anhalt, das ja wegen Morsleben in besonderer Weise betroffen ist, hat bereits die Einreichung einer Verfassungsklage angekündigt. Wir werden daran mitwirken, daß auch die anderen Bundesländer sich weiterhin zu einer Abwehrfront gegenüber dem Angriff der Bundesumweltministerin auf die Reste der föderalen Elemente im Atombereich zusammenschließen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Frühjahr dieses Jahres hat sich die Bundesregierung nach einem Gespräch zwischen Bundeskanzler und IG Bergbau und Energie auf die weitere Unterstützung der Steinkohle verständigt. Der Finanzrahmen soll bis zum Jahre 2005 reichen; und er wird stehen. Aber, Herr Minister, man wird angesichts eines solchen Ergebnisses wenigstens mit. den Zähnen knirschen dürfen; auch Herr Jung hat sich das erlaubt.
Die Absatzhilfen von Bund und Ländern werden von insgesamt 9,25 Milliarden DM im Jahr 1998 auf 5,5 Milliarden DM im Jahr 2005 zurückgeführt. Der Bundesanteil wird in diesem langen Zeitraum von 7,75 Milliarden DM auf 3,8 Milliarden DM reduziert. Diese Beträge, Herr Jung, sind natürlich nicht Peanuts, wie Sie es darzustellen versucht haben. Sie fehlen zum Beispiel bei der Sanierung der ostdeutschen Braunkohlengebiete. Deswegen haben wir ja auch diese Probleme.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet jedoch mehr als nur die Absenkung der Beihilfen. Er faßt die plafondierten Absatzhilfen zusammen: Verstromungs- und Kokskohlebeihilfen werden zu einem Haushaltstitel verschmolzen, und der Verwendungszweck der Finanzplafonds wird erweitert. Zukünftig werden die Bergbauunternehmen die ihnen zur Verfügung stehenden Plafondsbeiträge auch für Stillegungsaufwendungen einsetzen können. Dabei geht die F.D.P. davon aus, daß die Revierländer den vereinbarten geringen Betrag zu den Steinkohlehilfen auch tatsächlich leisten.
Leider ist es uns nicht gelungen, die SPD als Mitstreiter einer vernünftigen, langfristig angelegten Energiepolitik zu gewinnen und das trotz der vielen überparteilichen Konsensrunden,
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die wir zur Zukunft der deutschen Steinkohle, zur Kernenergienutzung und vor allem zur Entsorgung geführt haben - ganz zu schweigen vom Bündnis 90/ Die Grünen, die mit ihrer Blockadepolitik zu Garzweiler II selbst die SPD das Fürchten lehrten.
Bereits vor dem Streit um Steuern und Rente haben die Sozialdemokraten gezeigt, daß es ihnen nicht um die konstruktive Gestaltung eines zukunftsfähigen Standorts Deutschland geht. Sie haben mit Ihrem Ausstieg aus den Energiekonsensgesprächen sichtbar gemacht, wo Sie Ihren politischen Hebel ansetzen wollen. Das muß einmal gesagt werden.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen wird uns ein wahrlich kostenträchtiges Gesetz vorgelegt, ein Gesetz, mit dem durch Bundesmittel ein Finanzrahmen von 35,46 Milliarden DM für den Zeitraum von 1997 bis 2000 zur Verfügung gestellt werden soll. Für die Jahre von 2001 bis 2005 soll ein ähnlich hoher Betrag, nämlich 33,7 Milliarden DM, folgen. Dies ist also eine riesige ABM.
Auch wenn sich das Land Nordrhein-Westfalen stärker als bisher an der Finanzierung der Steinkohlehilfen beteiligen will, ist es aus wirtschaftspolitischer Sicht außerordentlich problematisch, einen einzelnen Sektor so hoch zu subventionieren - Herr Uldall hat das schon gesagt -, einen Sektor, der unter wettbewerblichen Bedingungen nicht überlebensfähig wäre.
In einer zukunftsweisenden Energiepolitik muß der Blick nach vorne gerichtet sein. Deshalb braucht Deutschland die schnelle Verabschiedung der Energierechtsnovelle. Sie dient der Steigerung der Attraktivität unseres Wirtschaftsstandortes und wird zu deutlichen Preisrückgängen bei Strom und Gas führen. Das ist schließlich das Ziel, das wir alle vor Augen haben müssen. - Von ihr werden wichtige Impulse ausgehen, die ihren Niederschlag langfristig auch auf dem Arbeitsmarkt finden werden. Dessen sind wir ganz sicher.
Für die Schaffung neuer zukunftsorientierter Arbeitsplätze sind Investitionen nötig. Um so problematischer istes, wenn diese Mittel für Branchen von gestern aufgewendet werden. Die Fortsetzung der Steinkohlebeihilfen ist nach Ansicht der F.D.P. nur unter der Voraussetzung akzeptabel, daß die Gestaltung des Auslauf-Bergbaus sozialverträglich erfolgt.
Wir Freidemokraten haben als einzige den Mut besessen - das muß man hier auch einmal sagen -, den Menschen in den Steinkohlerevieren diese Wahrheit zu sagen. Dafür haben wir Prügel bezogen. Deshalb richtete sich der Unmut der Demonstranten vornehmlich gegen die F.D.P. Wir wissen, was da am Thomas-Dehler-Haus passiert ist.
Natürlich waren bei der Demo auf der Adenauerallee auch die Grünen unter Führung von Herrn Fischer dabei. Plötzlich waren auch die Grünen für die Steinkohle. Das war verwunderlich, da sie bis dahin die Steinkohle immer als Umweltverpester attackiert hatten. Frau Kollegin Schönberger - da sind Sie noch -, ich möchte Sie fragen: Was ist denn nun: Sind Sie wieder für Steinkohle, oder sind Sie jetzt dagegen? Das muß irgendwann schon mal geklärt werden. Ich habe Ihren Worten heute entnommen: Sie sind zur Zeit gerade mal wieder gegen Steinkohle. Solch erbärmlicher Opportunismus ist vielleicht gut für die „Tagesschau" - das hat ja auch gewirkt -, aber er ist schädlich für die Arbeitsplätze in Deutschland.
Wenn wir den jungen Menschen in unserem Lande eine verläßliche Zukunftsperspektive bieten wollen, dann können wir uns Dauersubventionen für Industrien von gestern nicht mehr leisten. Deshalb verstehen wir den Kompromiß als sozialverträglichen Einstieg in den Ausstieg beim Steinkohlebergbau und als Signal für den längst überfälligen Strukturwandel, genau wie bei der Braunkohle.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Rolf Köhne, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Türk, Herr Kollege Uldall, eine ABM für Steinkohle erscheint mir deutlich sinnvoller als die vom Kabinett beschlossene ABM für die Rüstungsindustrie. Steinkohle hat nämlich einen höheren Brennwert als ein Eurofighter.
({0})
Aber das ist eigentlich gar nicht mein Thema. Ich wollte mich mit den Änderungen des Atomgesetzes beschäftigen, die Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, vorschlagen.
Sie wollen einen § 7 c in das Atomgesetz einfügen, durch den das deutsch-französische EPR-Projekt einem sogenannten allgemeinen, standortunabhängigen Prüfverfahren unterzogen werden kann. Das Besondere dabei ist: Eine Öffentlichkeitsbeteiligung soll in diesem Stadium nicht erfolgen. Das Ergebnis einer standortunabhängigen Prüfung soll zwar „kein Präjudiz für Entscheidungen von Landesbehörden in einem späteren Genehmigungsverfahren" darstellen, jedoch sollen die Inhalte des abgeschlossenen Prüfverfahrens im Rahmen eines späteren Genehmigungsverfahrens „als Grundlage für die dort vorzunehmende Prüfung" berücksichtigt werden.
Eine Information der Bevölkerung über das Prüfungsergebnis soll nur durch Bekanntgabe des Ergebnisses im Bundesanzeiger erfolgen. Ein Prüfergebnis enthält aber - im Gegensatz zu einem Sicherheitsbericht, der Teil der Bekanntgabe des Vorhabens in einem öffentlichen Verfahren ist - nur einen Teil der Informationen und ist nur sehr beschränkt aussagefähig. Unwillkürlich drängt sich einem deshalb die Frage auf: Warum soll die Bevölkerung sich nicht an einer solchen „Prüfung" durch die Diskussion aller Tatsachen beteiligen können?
In § 7 Abs. 2 des Atomgesetzes steht, daß für ein Atomkraftwerk heute die Genehmigung nur dann erteilt werden darf, wenn auf Grund der Beschaffenheit und des Betriebs der Anlage auch bei Kernschmelzunfällen Katastrophenschutzmaßnahmen außerhalb des abgeschlossenen Geländes der Anlage nicht erforderlich werden. Die Aufnahme dieser Bestimmung in das Atomgesetz betrachten wir als einen wichtigen Erfolg der Anti-Atom-Bewegung. Diese Bestimmung beruht auch auf dem Kalkar-Urteil von 1978, aus dem ich zitieren möchte:
Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Läßt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt.
Es geht also um einen dynamischen Grundrechtsschutz.
Die neuesten Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik sind in der Studie DRS-B zusammengefaßt. Nach dieser Studie ist es bedeutend wahrscheinlicher geworden, als früher angenommen, daß es zu schweren Kernschmelzunfällen kommen kann, bei denen praktisch das gesamte radioaktive Inventar freigesetzt würde. Die Konsequenz eines solchen Kernschmelzunfalls wäre, daß Katastrophenschutzmaßnahmen und eine kurzfristige Evakuierung aus einem Gebiet von zirka 10 000 Quadratkilometern und eine Umsiedlung sogar aus einem Gebiet von zirka 100 000 Quadratkilometern organisiert werden müßten. Eine solche gesellschaftliche Katastrophe würde in der dicht besiedelten Bundesrepublik ein weitaus größeres Ausmaß annehmen als der Reaktorunfall von Tschernobyl. Dies alles wäre den Bürgerinnen und Bürgern nicht zumutbar und wäre eine Grundrechtsverletzung. Das Ergebnis der DRS-BStudie hätte - am Kalkar-Urteil gemessen - erfordert, alle Atomkraftwerke sofort stillzulegen.
Man kann sich leicht vorstellen, daß an ein neues Atomkraftwerk, das den Anforderungen des § 7 Abs. 2 genügen sollte, weitaus höhere technische Anforderungen gestellt werden müßten, als das für die derzeit bestehenden Atomkraftwerke gilt. Ein EPR müßte also so gebaut werden, daß es durch Unfälle während seines Betriebes nicht zu grundrechtsverletzenden Folgen für die Bevölkerung kommt. Der EPR unterscheidet sich im technischen Aufbau von den derzeit betriebenen Atomkraftwerken prinzipiell nicht; er unterscheidet sich nur in nebenrangigen Punkten. Damit Siemens und Framatome trotzdem ein Gütesiegel bekommen, um ihre Anlagen verkaufen zu können, soll die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt: In einer Erörterung mit Beteiligung Dritter käme es natürlich zu einer Debatte über die Sicherheit der bestehenden Atomkraftwerke. Dabei würde sich herausstellen, daß die bestehenden Atomkraftwerke nicht den Forderungen des § 7 Abs. 2 genügen, weshalb verlangt werden müßte, daß diese Atomkraftwerke stillgelegt werden. Genau das ist der Grund, meine Damen und Herren, warum Sie im Interesse der Atomindustrie diesen § 7 einfügen wollen. Wir werden das nicht mitmachen.
({1})
Das Wort hat der Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Köhne, bei der kerntechnischen Vergangenheit der PDS/SED hätten Sie besser geschwiegen, als hier einen solchen Vortrag zu halten.
({0})
Ich möchte das aufgreifen, Herr Jung und Herr Dammeyer, was Sie hier zum Thema Kernenergie,
Kohle und Steinkohle vorgetragen haben, weil Sie sich von der Kernenergie deutlich abgesetzt haben - mal ganz abgesehen davon, daß die Sozialdemokraten in dieser Debatte interessanterweise kein Wort der Solidarität mit der Braunkohle in Ostdeutschland gefunden haben. Das wollen wir für das Protokoll festhalten.
({1})
Der erste Punkt: In Anbetracht der Tatsache, Herr Jung und Herr Dammeyer, daß alle Nichtkohleländer auf dem Hintergrund der Kernenergie über Jahre in der Lage waren, den Kohlepfennig wirtschaftlich zu verkraften, ist es im Grunde genommen eine Unverschämtheit von Ihnen, sich heute hier hinzustellen und so zu tun, als seien die Bundesregierung, die CDU/CSU und die F.D.P. ein Feind der Steinkohle in Nordrhein-Westfalen und im Saarland. Dieses können Sie mit nichts belegen.
Der zweite Punkt - ich will das als Niedersachse deutlich sagen -: Wir haben im letzten Jahr des Kohlepfennigs 850 Millionen DM von den Bürgern, von der Wirtschaft in Niedersachsen abkassiert, um die deutsche Steinkohle in Nordrhein-Westfalen und im Saarland zu stützen. Dies war nur möglich - das weiß jeder hier im Saal, der Energiepolitik auch unter historischen Gesichtspunkten betrachtet -, weil in Hessen und in Niedersachsen - in Ländern mit sozialdemokratischer Politik - Kernenergie in Deutschland als der Ausweg aus der energiepolitischen Einseitigkeit angesehen wurde.
Deswegen ist es schon ein Stück unverschämt, wenn Sie heute' sang- und klanglos die Solidarität, die Sie der Kernenergie schulden, in Sachen Entsorgung aufgeben, sich freisprechen von dem, was Sie als Erbe in dieses Land mit eingebracht haben, und so tun, als hätten Sie mit den Aufgaben der Sicherheit der Kernenergie und der Sicherheit der Entsorgung überhaupt nichts mehr zu tun.
({2})
Herr Kollege Grill, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident. Ich habe nur acht Minuten Redezeit und möchte meine Überlegungen hier vortragen.
Frau Schönberger, wenn Sie hier eine solche Rede halten, wie Sie es getan haben, kann ich nur sagen: Sie haben bei der Steinkohle nach dem Prinzip „Macht statt Grundsätze" gehandelt. Sie haben in Anbetracht der streikenden Bergarbeiter innerhalb von wenigen Stunden 2 Milliarden DM auf den Steinkohleetat draufgelegt, und Ihre Kollegin Frau Hustedt hat in der Fraktion verzweifelt dafür gekämpft, daß sie die 2 Milliarden DM für die erneuerbaren Energien behalten kann. Sie haben überhaupt kein Recht, von diesem Pult aus den Wandel zu neuen Energiestrukturen anzumahnen angesichts
dessen, was Sie selbst hier in Bonn in Anbetracht der streikenden Bergarbeiter entschieden haben.
({0})
Das andere ist: Nach dem, was jetzt in den Zeitungen erscheint, was Herr Clement in Nordrhein-Westfalen plant, sage ich Ihnen voraus: Am Ende dieses Jahres werden die Grünen in Nordrhein-Westfalen auch bei Garzweiler II die Macht den Grundsätzen vorziehen. Das werden wir noch in diesem Jahr erleben. Deswegen sollten Sie uns, was Klimapolitik angeht, was die Glaubwürdigkeit von Energiepolitik angeht, keine Ratschläge in Sachen Glaubwürdigkeit und Prinzipien erteilen.
({1})
Sie haben die These aufgestellt: Die Länder sind für die Sicherheit der Kernenergie, und Frau Merkel und die Bundesregierung machen nur das, was die Wirtschaft will. - Nein. In Niedersachsen haben wir genau die umgekehrte Situation; in Hessen haben wir genau die umgekehrte Situation. Deswegen sage ich Ihnen nur: In Niedersachsen zahlt der Steuerzahler 100 Millionen DM für den Rechtsbruch von Frau Griefahn und nicht für die Sicherheit von Frau Griefahn. Frau Griefahn und Herr Schröder sind unfähig, die Sicherheit der Entsorgung zu planen. Das ist der Punkt.
({2})
Bevor ich zum Inhalt der Novelle des Atomgesetzes komme, noch folgende Bemerkung: Wir haben ein ganz aktuelles Beispiel aus einem Musterland, das Sie immer wieder anführen: Schweden hat schon wieder den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Es wird ihn aller Voraussicht nach nicht vollziehen. Aber vorsichtshalber hat es im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernenergie die Europäische Union darum gebeten, man möge ihm ein Plus von 5 Prozent bei den CO2-Emissionen zugestehen. An Hand des schwedischen Beispieles kann man also sehr direkt nachweisen, daß diejenigen, die aus der Kernenergie aussteigen, das Klima belasten und auf Kosten des Klimas handeln. Dann können wir über einige Quadratkilometer mehr reden, als Herr Köhne meinte uns hier vorführen zu müssen.
Die Novelle zum Atomgesetz sorgt für mehr Sicherheit.
({3})
Sie sorgt für die Prüfung eines Reaktors, den wir schon in die 4. Novelle eingebracht haben. Ich sage Ihnen: Es gibt in dem Augenblick eine Öffentlichkeitsbeteiligung, in dem es ein standortgebundenes Verfahren gibt. Das ist ohne jeden Zweifel.
({4})
- Lieber Herr Schütz, Sie wissen, daß das richtig ist.
Die Enteignungsfrage ist keine Frage der Lex Gorleben oder Lex Bernstorff. Für mich ist unerklärlich - ich gebe zu, daß wir an dieser Stelle ein wenig Nachholbedarf haben -, warum im Berggesetz kein Enteignungsparagraph enthalten ist, eine Rechtsmaterie, die in vielen anderen Gesetzen in diesem Land im Interesse des Allgemeinwohls geregelt ist. Aber das mögen die beantworten, die das Berggesetz geschrieben haben. Aber Sie brauchen das Institut der Enteignung nicht nur in Gorleben. Denn Sie werden ja sehr mutig sein - das habe ich in den Beschlüssen der Landtage bisher bloß noch nicht gefunden -, wenn es um alternative Standorte zu Gorleben geht. Da könnten Sie auch in diese Situation kommen. Deswegen werden wir mit der Privatisierung ein Stück Distanz zwischen dem Betreiber des Endlagers und der Bundesregierung schaffen. Dies ist im juristischen wie im faktischen Sinne ausgesprochen klug.
Das andere ist, daß das Bergrecht mit dem notwendigen Enteignungsparagraphen genauso versehen wird, wie das beim Eisenbahngesetz oder bei Straßengesetzen in Deutschland gang und gäbe und gute Praxis ist, und niemand käme auf bösartige Gedanken.
Eine letzte Bemerkung noch zu Morsleben: Ich denke, daß es unbestreitbar ist, daß es in Morsleben nicht darum geht, mehr einzulagern und mutwillig irgend etwas zu verlängern, weil man sonst keine Möglichkeit hätte. Es geht vielmehr darum, in Morsleben auf einer sicheren Rechtsgrundlage eine Schließung dieser Anlage vorzubereiten und in Form eines ordentlichen Verfahrens umzusetzen.
Deswegen, Frau Schönberger, möchte ich die herzliche Bitte an Sie richten: Sagen Sie doch einmal die Wahrheit! Sprechen Sie draußen über Frau Merkel nicht immer in einer geradezu menschenverachtenden Weise.
({5})
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wer so redet wie Sie - Frau Merkel als Planierraupe der Atomindustrie -, der verschenkt Glaubwürdigkeit. Er übt politische Kritik, die in der Sache überhaupt nichts nützt und die gerade Frau Merkel - als jemand, der aus dem Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung in die Politik eingetreten ist - diffamiert, einen Menschen, der lange genug in einem System hat leben müssen, in dem er nicht nach den Kernkraftwerken in Lubrnin, Greifswald und anderswo gefragt worden ist.
({6})
Deswegen möchte ich Sie herzlich bitten: Lassen Sie doch solche Formulierungen sein! Denn Sie verletzen den Menschen Merkel aufs tiefste, ohne daß Sie damit politisch irgend etwas bewirkten. Sie sollten sich einer solchen Wortwahl in diesem Hause schämen.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Schönberger.
Herr Grill, ich möchte mich hier dagegen verwahren,
eine menschenverachtende Aussage bezüglich Frau Merkel getroffen zu haben.
({0})
Ich habe versucht, einen Begriff zu finden, der in ziviler Weise das ausdrückt, was die Christlichen Demokraten gegen Atomkraft - also Ihre Parteikollegen - am 16. Juli 1997 über Frau Merkel gesagt haben: Sie sei eine Stalinorgel der Atomwirtschaft. - Ich fand es völlig unangebracht, einen Menschen so zu bezeichnen.
({1}) - Die Christlichen Demokraten gegen Atomkraft.
Ich habe doch versucht, einen Begriff zu finden, der das Verhalten von Frau Merkel in sehr ziviler Weise ausdrückt.
({2})
Ich muß Ihnen sagen: Gerade an einen Menschen, der - das respektiere ich sehr, Herr Grill - in einem System aufwachsen mußte, in dem er zu energiepolitischen Entscheidungen nicht gefragt worden ist, stelle ich den Anspruch, daß er Fragen der Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung, der Öffentlichkeit, der Mitwirkungsmöglichkeit und föderalen Elementen positiv gegenübersteht, den Menschen Möglichkeiten zum Mitreden eröffnet und ihre Rechte nicht, wie es jetzt Frau Merkel mit dieser Atomgesetznovellierung tut, beschneidet und nicht versucht, zentralistisch gegen die Länder vorzugehen.
({3})
Herr Kollege Grill, wollen Sie dazu etwas sagen?
Herr Präsident, der Beitrag ist es nicht wert, beantwortet zu werden.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Schütz, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Grill, ich will zweierlei zu Ihren Ausführungen sagen.
Erstens. Wir Sozialdemokraten haben im Energiewirtschaftsgesetz etwas zur Braunkohle gesagt und haben da die Braunkohle abgesichert. In den heute zur Debatte stehenden Gesetzen, in den die Braunkohle keine Rolle spielt, tun wir das nicht. Wir tun es an der richtigen Stelle; das sollten auch Sie tun.
({0})
Zweitens. Sie haben uns gerade angegriffen, wir verabschiedeten uns heute sang- und klanglos aus der Solidarität mit der Kernenergie. Ich glaube, Sie wissen, daß wir uns 1986, als Tschernobyl passiert war, sang- und klanglos aus der Solidarität mit der Kernenergie verabschiedet haben.
({1})
Das war das Datum, das uns erneut zum Nachdenken gebracht hat.
Sie legen ohne zwingende Notwendigkeit eine Atomrechtsnovelle vor, mit der Sie eine Reihe von Privilegien für die Atomwirtschaft schaffen, während wir zeitgleich - Sie erinnern sich daran - im Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes für regenerative Energien kämpfen und ihre massive Benachteiligung zurückweisen.
Die Änderung des Atomgesetzes paßt in die Linie einer Konfrontationspolitik gegen Umweltschutz und gegen Sicherheitsinteressen, zu der auch die Vorlage zum Energiewirtschaftsgesetz mit der fehlenden Vorrangregelung für regenerative Energien und die Vorstöße zur Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes gehören.
Wenn Frau Merkel sich mit dem gleichen Nachdruck, mit dem sie sich für die Änderung der Atomrechtsnovelle einsetzt und mit dem sie für die damit verwobenen Wirtschaftsinteressen kämpft, für die erneuerbaren Energien und für den Umweltschutz einsetzen würde - unser Beifall wäre ihr sicher.
({2})
So jedoch agiert Frau Merkel als Advokatin der Atomenergie, während ihr Herr Kollege Rexrodt sich als Totengräber der regenerativen Energien betätigt.
({3})
Das ist das Rollenverhalten, das wir hier festzustellen haben.
Durch alle Formulierungen des Gesetzentwurfs, den wir vor uns haben, zieht sich das Unterlaufen der Zustimmungspflicht durch den Bundesrat wie ein roter Faden. Sie wollen als Bundesregierung die Alleinherrschaft in der Kernenergie. Sie wollen jede föderale Mitbestimmung aushebeln.
({4})
Das ist das, was Sie im Augenblick vorhaben. Sie wollen mit Ihrer Mehrheit im Bundestag - gegen die Länder - die Laufzeiten der bestehenden Kernkraftwerke ausweiten und gleichzeitig neue Reaktorlinien ermöglichen. Mit diesem Zangenangriff verabschieden Sie sich endgültig aus den Konsensbemühungen. Sie erweisen sich als unfähig, mit uns in der Kernenergiepolitik zu gemeinsamen Lösungen, zum Beispiel in der Entsorgung, zu kommen.
({5})
Dietmar Schütz ({6})
- Wir haben Angebote vorgelegt.
({7})
- Sie müssen sich schon melden, Herr Grill. Ich kann jetzt nicht in eine solche Diskussion mit Ihnen eintreten.
Kern Ihrer strategischen Bewegung ist die Einführung eines standortunabhängigen Prüfverfahrens zur Förderung des neuen deutsch-französischen EPR-Projektes zwischen Siemens und Framatome. Sie wollen über Veränderungsgenehmigungen, ohne den Stand von Technik und Wissenschaft berücksichtigen zu müssen, eine Laufzeitverlängerung bestehender Kraftwerke erreichen. Das ist es, was Sie wollen.
Mit § 7 c der Atomgesetznovelle soll, wie die Bundesregierung schreibt, ein standortunabhängiges Prüfverfahren beim Bundesamt für Strahlenschutz errichtet werden, um die Sicherheitstechnik weiterzuentwickeln und die - so wörtlich - „Kernenergieoption für den Wirtschaftsstandort Deutschland" im Hinblick auf das deutsch-französische EPR-Projekt zu wahren.
Sieht man von der schon im Rahmen der bestehenden Gesetze möglichen und stattfindenden Weiterentwicklung der Sicherheitstechnik ab, kommt der Kern der Novelle ans Tageslicht. Es geht einzig und allein um die Schaffung eines gesetzlichen Prüfrahmens für das EPR-Kooperationsprojekt von Siemens und Framatome, das in Deutschland - außer den unionsregierten Ländern Bayern und Baden-Württemberg - kein Bundesland will und das gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung gebaut werden soll. Das ist das, was Sie vorhaben.
Im Rahmen eines standortunabhängigen Prüfverfahrens soll die gesamte technische und sicherheitsrelevante Ausstattung des Reaktors vorab geprüft werden, um so eine - vor allem auf den Export zielende - Plakette des hohen sicherheitstechnischen Standards vorweisen zu können. Dabei soll die Feststellung dieses Prüfverfahrens keine bindende Wirkung für die später stattfindenden standortbezogenen Genehmigungsverfahren haben. Es muß also alles noch einmal unabhängig und unbeeinflußt wenn dies möglich ist -, diesmal unter Einschluß der Öffentlichkeit und möglicher Betroffener im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens geprüft werden.
Für wie naiv halten Sie uns und die rechtlich und politisch interessierte Öffentlichkeit, wenn Sie glauben, dies alles unter Aushebelung der gesamten föderalen Länderstruktur und dennoch verfassungsrechtlich sauber bewerkstelligen zu können?
({8})
Dieses Prüfverfahren, Herr Grill, stellt mindestens ein faktisches, wenn nicht sogar ein rechtliches Präjudiz für die später zu beteiligenden Landesbehörden dar. Wir alle wissen von der normativen Kraft des
Faktischen. Dies prägt eben spätere Genehmigungsverfahren.
Mit Blick auf die Öffentlichkeitsbeteiligung ist es eine Farce, daß das gesamte sicherheitstechnische Prüfverfahren noch einmal mit denselben Gutachtern durchgeführt wird - weil es nur diese kleine Gruppe gibt -, die sich schon vorher damit befaßt haben. Werden diejenigen, die sich schon vorher festgelegt haben, im Dialog mit der Öffentlichkeit zu einem anderen Urteil kommen? Das glaubt doch kein Mensch. Insofern ist die Präjudizwirkung da, und das ist das verfassungsrechtlich Kritische an dem gesamten Verfahren.
Ob die Wegnahme der faktischen inhaltlichen Prüfungskompetenz im Planfeststellungsverfahren und die Übertragung eines standortunabhängigen Prüfverfahrens auf eine Bundesbehörde nicht in föderale Rechte eingreiften, werden wir verfassungsrechtlich prüfen müssen. Das werden wir auch tin. Wenn es nur um eine Prüfplakette geht, braucht man dafür kein öffentliches Verfahren. Das können Sie auch im Rahmen privatrechtlicher Prüfverfahren vor dem Bundesamt für Strahlenschutz machen. Jetzt ein weiteres Verfahren zu entwickeln ist völlig überflüssig.
({9})
- Das können Sie auch mit dem TÜV machen.
({10})
- Herr Präsident, ich möchte in Ruhe reden. Sie müssen sich melden, Herr Grill.
({11})
Nach § 7 Abs. 2 Atomgesetz soll - unter Hinweis auf das anzuwendende Verhältnismäßigkeitsprinzip
- für Veränderungen bestehender Anlagen oder ihres Betriebes der Stand von Wissenschaft und Technik nicht oder nur noch eingeschränkt einzuhalten sein. Diese Regelung, so die Bundesregierung in Ihrer Begründung, diene der Herstellung von mehr Rechtssicherheit bei Betreibern und Behörden und - wörtlich
- „der Verbesserung des Sicherheitsniveaus von Altanlagen" .
Diese Argumentation ist überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Hier liegt doch offenkundig ein logischer Blackout vor, wenn ein Verzicht auf höhere Sicherheitsanforderungen mit einem Gewinn an Sicherheit gleichgesetzt wird. Der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtfertigt keine Gesetzesänderung, da er schon jetzt grundsätzlich bei jeder behördlichen Entscheidung zu berücksichtigen ist.
Herr Kollege Schütz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hellwig?
Lassen Sie mich bitte diesen Gedanken zu Ende bringen.
Dietmar Schütz ({0})
In der krausen Logik dieses Gesetzentwurfes wird aus dem richtigen und vernünftigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein Stemmeisen zur Aushebelung der ebenfalls grundgesetzlich verankerten Schadens-vorsorge, die nach aller gängigen Praxis nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zu erfolgen hat.
Bitte.
Herr Kollege Schütz, ich darf Sie an unsere vor kurzem geführte Debatte im Umweltausschuß erinnern. Stimmen Sie mir darin zu, daß bei den mittel- und osteuropäischen Staaten, die demnächst Mitglied der Europäischen Union werden, die Energieversorgung zwischen 50 und 80 Prozent durch Kernkraftwerke stattfindet und die Europäische Union größtes Interesse daran hat, daß in diesen Kernkraftwerken annähernd der Sicherheitsstandard, der für uns geltendes Recht ist, erreicht wird? Ist es nicht so, daß man sich jetzt darüber unterhält, daß dort sogar Neubauten geplant sind, weil man ganz nüchtern feststellt, mit Hilfe der Kernenergie sei die kostengünstigste, effizienteste und wirtschaftlich beste Form der Energiegewinnung gegeben?
({0})
Ich bin davon überzeugt, daß diese Form des Denkens auch zu uns überschwappen wird.
Die Frage, bitte.
Ich wollte Sie nur fragen: Sind Sie sich dessen bewußt, daß eine solche Regelung, wie wir sie jetzt vorsehen, in der Europäischen Union weiterführend sein wird?
Frau Hellwig, das Atomgesetz gilt für die Bundesrepublik Deutschland. Ich kämpfe darum, daß die Standards in der Bundesrepublik Deutschland eingehalten werden. Wenn wir gute Standards haben, können wir sie als Beispiele gelten lassen. Wir müssen uns dabei am Stand von Wissenschaft und Technik orientieren. Wir dürfen mit den Standards nicht heruntergehen.
Das, was Sie im Augenblick vorhaben, ist eine Verlängerung der Laufzeiten. Darum geht es im Augenblick. Jede Verhältnismäßigkeitsrhetorik vernebelt das. Sie wollen eine Laufzeitverlängerung und quasi eine Art Runderneuerung der Atomkraftwerke haben. Das geht nicht. Das können wir nicht zulassen, daß wir hier ein Atomkraftwerk wie einen Autoreifen behandeln. Wir müssen hier den Stand von Wissenschaft und Technik einhalten, um mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt weiterzumachen.
({0})
Sie können doch bei dieser Frage hier nicht die Gesamtbetriebsdauer eines Kernkraftwerkes ausblenden und so tun, als wenn Sie jederzeit, ohne Technik und Wissenschaft zu berücksichtigen, weitere Verfahren durchführen können. Das können Sie nicht mit uns machen. Es gibt eine Laufzeitbegrenzung von Atomkraftwerken. Auch Sie müssen diese einhalten.
Eine Petrifizierung von Anlagen, die nach 30 oder 40 Jahren immer noch, ohne den neuesten Stand zu berücksichtigen, weiter betrieben werden, wird es mit unserer Hilfe nicht geben. Dazu werden wir unsere Hand nicht leihen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Neuordnung der Steinkohlesubventionen, den die Bundesregierung vorgelegt hat, setzt die kohlepolitischen Vereinbarungen mit den Revierländern und dem Bergbau vom 13. März dieses Jahres um. Ab 1998 werden die Finanzhilfen des Bundes für Verstromung, Kokskohle und Stillegungen in einem Plafonds zusammengefaßt und bis zum Jahr 2005 in einer degressiven Finanzlinie von 7 Milliarden DM auf dann 3,8 Milliarden DM zurückgeführt.
Daneben werden Verpflichtungsermächtigungen in künftigen Haushaltsverfahren bereitgestellt werden, die im wesentlichen an die vollständige Privatisierung der Saar-Bergwerke geknüpft sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle kennen unsere Haushaltssituation. Vor diesem Hintergrund sind die Zusagen des Bundes das Äußerste des finanzpolitisch Vertretbaren, aber auch das Äußerste dessen, was wir uns wirtschaftspolitisch erlauben können. 1998 werden die Kohlehilfen mehr als die Hälfte, nämlich 54 Prozent des Haushaltes des Bundesministeriums für Wirtschaft, ausmachen. Das sind in absoluten Zahlen 8,7 Milliarden DM von 16,1 Milliarden DM.
Sie werden verstehen, Herr Kollege Jung, daß ich mich über die Frage, ob diese Relation, daß 54 Prozent des BMWi-Haushaltes für Kohlehilfen aufgewendet werden, für mich ein Grund zur Freude ist, lieber ausschweigen möchte.
Gleichwohl erhält der Steinkohlebergbau mit diesem Finanzrahmen die notwendige langfristige Perspektive und Planungssicherheit. Er kann und muß jetzt in eigener unternehmerischer Verantwortung über Absatz und Stillegungen entscheiden und den Anpassungsprozeß in den Revieren fortführen.
Ich möchte hier nicht verschweigen - gerade weil Sie, Herr Kollege Jung, die Proteste und Demonstrationen im März von denjenigen, die um ihren Arbeitsplatz fürchten, hochstilisiert haben -, daß mit diesem Kompromiß natürlich auch Einschnitte in FörParl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
derkapazitäten und ein durchaus erheblicher Arbeitsplatzabbau - im Bergbau sind bis 2005 voraussichtlich 45 000 bis 50 000 Arbeitsplätze betroffen - verbunden sind.
({0})
- Aber, Herr Kollege Jung, darin sind wir uns ja wahrscheinlich wieder einig, daß durch die zeitliche Streckung der Anpassung Strukturbrüche vermieden werden. Die Unternehmen und selbst die bisherige Gewerkschaft Bergbau haben erklärt, daß der Anpassungsprozeß auf dieser Grundlage sozial verträglich gestaltet werden kann. Ich glaube übrigens, daß die Gründung der Deutschen Steinkohle AG unter dem Dach der Ruhrkohle diesen revierübergreifenden Prozeß erleichtern wird.
Zum Kompromiß gehört, daß sich Nordrhein-Westfalen ab 1998 mit einem Beitrag von 1 Milliarde DM pro Jahr an den Hilfen beteiligen wird. Demgegenüber wird das Saarland keinen Beitrag zu dem Kohleplafonds leisten.
({1})
Die Bundesregierung wird aber den Saarland-Anteil von 200 Millionen DM jährlich als zusätzliche Verpflichtungsermächtigung übernehmen. Voraussetzung ist, daß sich das Saarland nicht gegen die Gründung der Deutschen Steinkohle AG sperrt und, wie auch der Bund, seinen Anteil an der Saar-Bergwerke AG an die Ruhrkohle verkauft.
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schütz?
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, daß während der Laufzeit des Übergangsplans bis 2005 etwa 20 000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Aber 2005 folgen dann ja noch 30000. Sind auch Sie der Meinung, wie es der Kollege Uldall sagte, daß im Jahre 2005 auch für diese das Ende gekommen ist? Wie sieht das denn dann aus?
Herr Kollege Schütz, nach meiner Kenntnis ist die Frage, wie es nach 2005 weitergehen soll, in den Gesprächen damals ausdrücklich offengehalten worden. Man hat damals vereinbart, daß man in den Jahren 2001 oder 2002 die Frage nach dem weiteren Vorgehen ab 2005 aufgreifen und entscheiden will.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Revierländer müssen jetzt die Zeit nutzen, um die Umstrukturierung in den betroffenen Regionen weiter voranzutreiben. Sie müssen ihrer regionalpolitischen Verantwortung gerecht werden und den Menschen in den Revieren Zukunftsperspektiven eröffnen. Dabei hilft zusätzlich, daß die Kohleregionen an Saar und Ruhr Zielgebiete der nationalen wie auch der europäischen Regionalförderung bleiben. Es liegt in der Verantwortung der Revierländer, auch diese Fördermaßnahmen sinnvoll zu konzentrieren.
Zum Entwurf der Atomrechtsnovelle will ich nur sagen - Herr Kollege Hirche wird es sicherlich gleich noch ausführlicher kommentieren -: Die Haltung der A-Länder im Bundesrat überrascht mich nicht. Sie sollten aber eines nicht übersehen: Auch wenn es keine formale Verknüpfung beider Gesetzentwürfe gibt, war und bleibt die Steinkohle energiepolitisch eng mit der Kernenergie verknüpft. Gerade in Zeiten knapper Finanzen liegt dies auf der Hand. Die Atomgesetznovelle soll dazu beitragen, daß wir uns die Option Kernenergie erhalten und eine international anerkannte Hochtechnologie und die mit ihr verbundenen Arbeitsplätze nicht ins Ausland abwandern. Auch das ist ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der Politik der Bundesregierung in Sachen Wirtschaftsstandort Deutschland.
Wie immer man aber zur zukünftigen Entwicklung der Kernenergie steht, ich muß sagen: Eine Blockade der Entsorgung ist meines Erachtens nicht zu verantworten. Die Bundesregierung macht mit der vorliegenden Atomrechtsnovelle deutlich, daß sie sich dieser Verantwortung für die Entsorgung stellen will.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Uwe Küster, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war der feste politische Wille der demokratisch gewählten Volkskammer, bei der Vereinigung dieselben Rechtsstandards wie in der alten Bundesrepublik zu bekommen. Das galt auch für das Atommüllendlager Morsleben in Sachsen-Anhalt. Wohlwissend, daß sich die Angleichung dieser Sicherheitsstandards in diesem schwierigen Bereich nur langfristig vollziehen kann, hat man hierfür einen Übergangszeitraum von zehn Jahren vorgesehen.
Diese Bundesregierung und die verschiedenen Bundesumweltminister hatten also seit der deutschen Vereinigung sieben Jahre Zeit, die Bestimmungen des Einigungsvertrages umzusetzen und damit der Notwendigkeit zur Verbesserung der Sicherheitsstandards in Morsleben Rechnung zu tragen. Was hat aber diese Bundesregierung in dieser Zeit gemacht? Sie hat in dieser Zeit weder für eine Sicherheitsprüfung noch für eine Sicherung der Umweltstandards gesorgt.
({0})
Ihr ist die Rechtssicherheit des Atommüllendlagers Morsleben völlig egal.
({1})
Im Klartext heißt das: Das Atommüllendlager besteht als Reservat des unsicheren und öffentlich nicht nachvollziehbaren DDR-Atomrechts weiter.
Ganz plötzlich kommt - wie Ziethen aus dem Busch - die Bundesregierung daher, die sich diese Versäumnisse in Morsleben natürlich anrechnen lassen muß, und will mit einem Federstrich am Bundesrat vorbei die Betriebsgenehmigung um weitere fünf Jahre verlängern. Hier versündigt sich die Bundesregierung am deutsch-deutschen Einigungsvertrag aus dem Jahre 1990. Diese Art von Politik ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
({2})
Statt die gesetzlichen Bestimmungen des Einigungsvertrages einzuhalten und umzusetzen, höhlen Sie diesen Rechtsstaat aus. Statt im Fall der Entsorgung auf einen Konsens zu setzen, setzen Sie auf Konfrontation.
Dieser Gesetzentwurf ist eindeutig verfassungswidrig. Er umgeht ganz bewußt die Mitwirkung der Bundesländer und mißachtet die föderale Ordnung unseres Bundesstaates.
Herr Kolb, Sie haben eben gesagt - auch Herr Grill hat sich dazu eingelassen -, Sie wollen im Fall Morsleben am Land Sachsen-Anhalt vorbei eigenmächtig Fristen verlängern. Sie wollen zukünftig allein und nach eigenem Dafürhalten ohne Einbeziehung des Landes Sachsen-Anhalt die Betriebsgenehmigung von Morsleben festsetzen und verlängern. Die Verlängerung der Betriebsgenehmigung im Fall Morsleben begründet Frau Merkel immer mit der Standardausrede: „Die Frist der Betriebsgenehmigung" - der Einigungsvertrag hat zehn Jahre vorgesehen - „im Fall Morsleben ist zu kurz gewesen und muß nun aus Gründen der Rechtssicherheit verlängert werden." Das heißt: Die Unsicherheit, die in diesem Fall herrscht, wird weiter verlängert. Was ist denn das für eine Rechtssicherheit? Ich halte diese Ausrede einfach für lächerlich.
Ich darf darauf hinweisen: Bis Mitte dieses Jahres ist vom Bundesamt für Strahlenschutz im Fall Morsleben nicht eine einzige Planungsunterlage für das im Jahre 1992 beantragte Planfeststellungsverfahren vorgelegt worden. Das heißt, Sie haben seit 1992 fünf Jahre - das ist sträflich - verstreichen lassen, ohne daß etwas passiert ist.
Immer wieder haben verschiedene Experten darauf hingewiesen, der Sicherheitsstandard von Morsleben genüge bei weitem nicht den Anforderungen, die wir für den nur 50 Kilometer weiter entfernten Standort Gorleben in Niedersachsen verlangen. Es kann nicht sein, daß auf diese kurze Entfernung zwei Standards gelten. Es wird Zeit, daß wir uns auf ein vernünftiges Konzept in Konsens einigen.
Bis heute hat es niemand fertiggebracht, die Langzeitsicherheit für Morsleben nachzuweisen. Bis heute gibt es kein abgeschlossenes Planfeststellungsverfahren.
Herr Kollege Küster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Bitte, Herr Grill.
Herr Küster, können Sie mir ein Papier vorlegen, das von der SPD verbindlich als Verhandlungsangebot an Frau Merkel oder die Bundesregierung übergeben werden kann? Haben Sie in der SPD-Fraktion ein Angebot, das Sie uns übergeben können, damit wir wissen, wie die Entsorgung aussehen soll?
Herr Grill, hier geht es um eine ganz einfache Sache, nämlich einen Auftrag aus dem Einigungsvertrag. Ich habe ihn gerade zitiert.
({0})
- Herr Grill, ich antworte auf Ihre Frage. Das mag Ihnen nicht passen; das verstehe ich. - Sie haben mit dem Einigungsvertrag einen Auftrag übernommen. Sie sind mit diesem Auftrag in den letzten sieben Jahren sträflich umgegangen. Das Planfeststellungsverfahren ist 1992 begonnen worden, und seitdem ist nichts vorgelegt worden. Wenn Sie so sicher sind - ich habe doch nichts dagegen -, daß Sie das Planfeststellungsverfahren für Morsleben zu Ende bringen, dann haben Sie doch ein sicheres Endlager. Aber Sie sind doch selber so unsicher, daß Sie genau wissen, daß Sie das nicht durchkriegen.
({1})
- Ich habe auf Ihre Frage geantwortet.
An Frau Merkel geht die Aufforderung, daß sie den Feststellungsauftrag für die Stellung von Morsleben endlich umsetzt und daß dieser Auftrag ernstgenommen wird. Wenn sie ihn ernst nehmen würde, würde sie diese Atomrechtsnovelle gar nicht erst auf den Weg bringen. Hier wird nämlich versucht, auf Zeit zu spielen, um dann später - das ist der Verdacht, der nicht von der Hand zu weisen ist - weiter einzulagern. Wir glauben Ihnen an dieser Stelle nicht, weil Sie die ganzen Jahre nicht geleistet haben, was Auftrag war.
Setzen Sie also ein positives Zeichen für die Menschen in den neuen Bundesländern, besonders in dem betroffenen Land Sachsen-Anhalt, und sorgen Sie dafür, daß hier Sicherheit geschaffen wird. Das fordern wir, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Walter Hirche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Energie hat etwas mit Klima zu tun; davon haben einige Redner gesprochen. Man muß auch immer wieder darauf hinweisen, daß das ein Thema ist, das nicht nur Deutschland betrifft, sondern weltweit und gerade im Hinblick auf Kyoto von Bedeutung ist.
Es ist schon interessant, wenn man in OPEC-Staaten mit der Frage konfrontiert wird, warum wir in Deutschland das Mineralöl höher besteuern wollen. Wenn wir dann sagen, wegen des CO2-Problems, werden wir gefragt, warum wir auf der anderen Seite Subventionen für die Steinkohle zahlen. Das heißt, daß in der Dritten Welt gesagt wird: Unsere Ressource besteuert ihr, weil sie angeblich schädlich ist, aber eure eigene Ressource betrachtet ihr wohl nicht als schädlich; da gebt ihr noch zusätzlich Subventionen. Das ist eine ganz interessante Diskussion, die man einmal in den Reihen der SPD aufnehmen sollte.
({0})
Die Bundesregierung hält an dem Energiemix aus Kohle, Kernenergie und regenerativen Energien fest. Wir werden darüber zu diskutieren haben, wie der Anteil der regenerativen Energien in den nächsten Jahren erhöht werden kann. Das ist eine Debatte, von der wir wissen, daß wir uns ihr stellen wollen und müssen.
Aber zu dem Atomgesetz zurück, weil das der engere Punkt ist, über den wir uns unterhalten. Wir brauchen belastbare gesetzliche und programmatisch konzeptionelle Grundlagen. Ich muß leider feststellen, daß im Unterschied zu den 70er Jahren eine Einigung mit der SPD darüber heute nicht mehr möglich ist. Damals war es die Bundesregierung unter Helmut Schmidt, die mit den Ländern zusammen einen Kernenergie- und Entsorgungskonsens gefunden hat, der in den 80er Jahren einseitig verlassen worden ist.
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Herr Kollege Hirche, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Caspers-Merk?
Gut.
Herr Kollege Hirche, Sie haben eben gesagt, daß bei Ihnen Konsens über den Energiemix bestehe. Wie erklären Sie uns dann bitte, daß in dem Gutachten „Nachhaltiges Deutschland" vom Umweltbundesamt langfristig ein Ausstieg aus der Atomenergie gefordert wird?
Wir haben eine Fülle von Studien. Dazu gehört auch die UBA-Studie. Es entscheidet noch immer die Meinung der Bundesregierung und nicht die einer nachgeordneten Behörde darüber, was Politik in diesem Lande ist. Das können Sie noch zehnmal zitieren; das ist deswegen kein Ersatz für die Politik der Bundesregierung.
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Ich sage hier auch ganz deutlich - weil Herr Jung vorhin noch einmal darauf hingewiesen hat, daß es einen alten, vielleicht inzwischen auch veralteten, Ausstiegsbeschluß der SPD aus den 80er Jahren gibt -: Wir haben eine Diskussion, die mit Ihrem Kollegen Linkohr aus dem Europäischen Parlament zu uns herüberkommt, der sagt, die SPD sollte mal im Angesicht der europäischen Diskussion darüber nachdenken, ob dieser Beschluß eigentlich noch zeitgemäß ist.
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Die Bundesregierung hat mehrfach versucht, mit der Opposition zu einer Verständigung zu kommen. Drei Anläufe -1993, 1995 und 1997 - haben nicht zu einem Erfolg geführt. Stein des Anstoßes im Zusammenhang mit der Diskussion über fortlaufende Kohlefinanzierung bzw. Kernenergie waren die Regelungen zum weiteren sicheren Betrieb der Kernkraftwerke. Die Notwendigkeit, sich auch weiterhin mit der Entwicklung der kerntechnischen Sicherheit für die laufenden Kraftwerke in Deutschland und für die Verbesserung der Sicherheit von Kernkraftwerken insbesondere in den Staaten des ehemaligen Ostblocks zu befassen, wird von der Opposition verkannt.
Wenn jetzt der Entwurf der Bundesregierung zur Änderung des Atomgesetzes von Mitte Juli dieses Jahres mit formalen Argumenten heftig kritisiert wird, dann wird von der Opposition vergessen - ich will das hier aber noch einmal sagen -, daß der Entwurf nur solche Punkte aufgreift, die in dem Verständigungspapier zwischen Regierung und SPD vom 1. Februar dieses Jahres enthalten sind.
({2})
Damit ist bewiesen, daß bei gutem Willen sachlich vernünftige Ergebnisse hätten erzielt werden können.
Wenn es denn nicht möglich ist, zu einem Ergebnis zu kommen, wenn man sich zusammensetzt, dann wird diese Bundesregierung auch weiterhin nicht nur bei dem Thema Renten oder Solidaritätszuschlag, sondern auch im Bereich Energie und in anderen Bereichen mit ihrer Mehrheit in diesem Parlament handeln, um deutlich zu machen, daß es nicht an uns liegt, wenn bestimmte Beschlüsse in dieser Republik nicht übergreifend zustande kommen. Wir werden handeln.
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Ich sehe es ganz gelassen, daß Sie hier sagen, dies oder das sei nicht verfassungskonform. Das gehört zur üblichen Auseinandersetzung. Uns werden Sie damit nicht irritieren. Sie haben in dem Zusammenhang Ihre verfassungsmäßigen Rechte. Wir sehen das also ganz gelassen. Wir wären auch töricht, wenn wir das nicht alles vorher überprüft hätten.
Es ist notwendig, die Sicherheit unserer Kernkraftwerke ohne Rechtsunklarheiten verbessern zu können. Das ist einer der Punkte dieser Novelle. Dies ist nur möglich, wenn wir uns intensiv an der Weiterentwicklung der kerntechnischen Sicherheit beteiligen. Weil die Bundesregierung dies ernst nimmt und sich ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung stellt, brauchen wir diesen Gesetzentwurf, diese Novellierung.
Ich will kurz sieben Punkte benennen, die in besonderer Weise von Bedeutung sind.
Erstens. Die Novelle stärkt die Position der Sicherheitsbehörden. Damit kommt die für die kerntechnische Sicherheit verantwortliche Bundesaufsicht ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung nach, für eine effektive Aufgabenwahrnehmung der atomrechtlichen Sicherheitsbehörden zu sorgen. Demgegenüber etwa zu behaupten, die Novelle ziele auf „ betreiberfreundliche " Erleichterungen für die Nutzung der Kernenergie ab, ist absurd.
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Die Tatsachen insbesondere im Endlagerbereich widerlegen solche Kritik.
Zweitens. Errichtung und Betrieb von Endlagern sind nationale Aufgaben. Damit diese gesetzliche, bundesweit geltende Verpflichtung erfüllt werden kann, sollen in das Atomgesetz Regelungen eingeführt werden, die eine Enteignung ermöglichen, sofern Rechte einzelner dem gemeinwohlorientieren Entsorgungskonzept entgegenstehen. Das ist der Inhalt des Gesetzentwurfes, mehr nicht. Herr Grill hat hier schon darauf hingewiesen: Wenn alternative Standorte in Frage kämen, die Sie ja immer fordern, dann müßte diese Möglichkeit selbstverständlich auch für diese Standorte gelten. Deswegen muß diese Möglichkeit eingeführt werden.
Drittens. Die Endlagerung muß als wesentlicher Endpunkt der sicheren Entsorgung zügig verwirklicht werden. Der Gesetzentwurf eröffnet die Möglichkeit, die Entsorgungspflichtigen als Verursacher stärker in die Verantwortung zu ziehen. Damit werden die Voraussetzungen für eine zügige Verwirklichung der Endlagerung verbessert.
Viertens. Die Verlängerung der Übergangsfristen des Einigungsvertrages für fortgeltende Genehmigungen in den neuen Bundesländern - Herr Küster, ich komme zu Ihnen - dient vorrangig der Schaffung von Rechtssicherheit und ist notwendig, um in geordneten Verwaltungsverfahren die erforderlichen Anschlußgenehmigungen für die Stillegung zu erstellen.
Die Verlängerung der Geltungsdauer der Genehmigungen - es geht praktisch um das Endlager Morsleben - erfolgt ohne die Absicht, das bisher vorgesehene Einlagerungsvolumen zu erhöhen. Der Bund
hat zum Endlager Morsleben seinen Planfeststellungsantrag auf die Stillegung beschränkt.
Im übrigen ist für Morsleben alle Sicherheit und alle Rechtssicherheit gegeben. Wir haben uns in diesem Hause oft genug darüber unterhalten. Ein Vergleich mit Gorleben kann nicht angestellt werden. In welcher Debatte sind wir eigentlich? In Morsleben geht es um schwachaktiven Müll. Bei Gorleben unterhalten wir uns darüber, daß dort hochaktiver Müll untergebracht werden muß. Diese Dinge kann man nicht zusammenbringen, bei allem Interesse eines lokal betroffenen Abgeordneten. Ich bitte doch, die Dinge sachlich korrekt auseinanderzuhalten.
Herr Kollege Hirche, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Küster?
Sicher.
Herr Staatssekretär Hirche, Sie haben eben gesagt, daß das Einlagerungsvolumen nicht verändert werden soll. Und der Einlagerungszeitraum? Dazu haben Sie sich nicht eingelassen.
Natürlich habe ich das, Herr Kollege. Vielleicht haben Sie dem, was ich gesagt habe, nicht von Anfang an zugehört. Deswegen habe ich nämlich zwischendurch Ihren Namen genannt. Ich habe gesagt, wir haben einen Antrag gestellt, weil wir den Zeitraum verlängern wollen, aber nicht, um in diesem Zeitrahmen mehr Volumen als im Einigungsvertrag vorgesehen unterzubringen. Im Einigungsvertrag haben wir zwei Bestimmungen. Von diesen beiden Bestimmungen soll eine verändert werden, und zwar in einem parlamentarischen Verfahren. Dazu ist der Deutsche Bundestag mit seinen frei gewählten Abgeordneten aus Ost- und Westdeutschland in der Lage.
Fünftens. Bestehende Kernkraftwerke sollen durch sicherheitstechnische Verbesserungen kontinuierlich nachgerüstet werden. Durch die Regelung zu Veränderungsgenehmigungen wird klargestellt, daß der Stand von Wissenschaft und Technik auch für solche Nachrüstungen gilt. Dabei ist natürlich der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Wir wollen die Sicherheit verbessern und nicht wie die Gegner dieser Regelung Nachrüstungen verhindern. Die Unterbindung von Nachrüstungen ist ein durchsichtiges Spiel, um dem Abschaltziel näherzukommen. Das macht die Bundesregierung nicht mit.
Sechstens. Das neue Prüfverfahren für Kernkraftwerke berührt die atomrechtlichen Kompetenzen der Länder nicht. Es werden keinerlei Rechte beschnitten. Sein Zweck ist, die Sicherheitstechnik weiterzuParl. Staatssekretär Walter Hirche
entwickeln. Dafür hat der Bund die Sachkompetenz, Herr Schütz.
Wir wollen mit dieser Neuregelung sicherstellen, daß die Option für eine künftige Kernenergienutzung nicht leichtfertig verspielt wird. Das gilt insbesondere für den EPR, aber auch für sicherheitstechnische Verbesserungen in Osteuropa. Wir Deutschen laufen bei der Diskussion, die die Opposition anzettelt, doch Gefahr, uns aus der internationalen Sicherheitsdiskussion auszuklinken. Als Ergebnis blieben dann die unsicheren Reaktoren in Mittel- und Osteuropa übrig. Diese Bundesregierung will dafür Sorge tragen, daß die Kernreaktoren in Deutschland durch Nachrüstung weiter verbessert werden, daß ein neuer Typ konstruiert werden kann, daß ein entsprechendes Prüfverfahren vorhanden ist und daß wir in der Lage sind, mit diesem öffentlich-rechtlichen Siegel in Osteuropa eine entsprechend sichere Entwicklung von Kernkraftwerken einzuleiten.
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Herr Kollege Hirche, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Gern, Herr Präsident.
Herr Hirche, es ist doch so, daß diejenigen, die in einem standortunabhängigen Verfahren gefragt werden, in der Regel dieselben sind, die auch in einem standortabhängigen Verfahren beauftragt werden. Oder sehen Sie einen Unterschied? Wir haben nämlich nur eine Mannschaft von etwa 30 Leuten, die das Geschäft betreiben. Man muß sich dann doch fragen, ob sie, wenn sie in dem standortunabhängigen Verfahren schon A gesagt haben, dann in dem standortabhängigen Verfahren B sagen werden. Das glauben Sie doch wohl nicht!
Herr Schütz, es kann sein, daß es dieselben Leute sind; dahin ging ja Ihre Frage. Diese Leute - so denke ich einmal - werden - genauso wie ich das von Ihnen erwarte - nicht bei einer Gelegenheit das eine und bei der nächsten das andere sagen. Das ändert aber überhaupt nichts daran, daß es sich in dem einen Fall um ein standortunabhängiges Verfahren handelt und in dem anderen Fall die öffentliche Beteiligung mit Standortbezug vorhanden ist. Bestimmte Diskussionen - ich erinnere Sie an Mülheim-Kärlich - haben wir doch nicht, weil wir abstrakt über Kernenergie oder einen bestimmten Reaktortyp diskutieren, sondern weil es um einen bestimmten Standort geht.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir werden alle Möglichkeiten nutzen - das noch zu Ihrer Frage -, die der Bundesregierung "zur Verbesserung der Sicherheit in diesem Zusammenhang gegeben sind. Daran werden Sie uns nicht hindern. Wir wollen, daß diese Option im Interesse des Weltklimas auch in Zukunft erhalten bleibt.
Herr Kollege Hirche, es gibt noch zwei weitere Fragen. Lassen Sie die zu?
Ich möchte die beiden Kollegen bitten, die Fragen zurückzustellen, damit ich zum Schluß kommen kann.
Meine Damen und Herren, wir sollten die einzelnen Punkte im Interesse der Sicherheit und Berechenbarkeit für wirtschaftliche Planungen gemeinsam in den Ausschußsitzungen erörtern. Ich begrüße ausdrücklich, daß es mit Zustimmung der Opposition zu einer raschen Sachverständigenanhörung kommt. Das kann zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen. Das wäre im Interesse einer sicheren, umweltgerechten und wirtschaftlichen Energieversorgung - auch mit Kernenergie - wünschenswert und wird von der Öffentlichkeit erwartet.
Lassen Sie uns gemeinsam wieder Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik schaffen. Ich denke, die Novellierung des Atomgesetzes ist hierfür ein guter Anlaß.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/8635, 13/5015 und 13/8641 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/die Grünen auf Drucksache 13/8720 soll federführend an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungsvorschlägen einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erstellung eines nationalen Umweltplans - Drucksache 13/7884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Acht Jahre nach dem Ende des realen Sozialismus fordern die Grünen einen nationalen Umweltplan. Manche sagen, das sei unmodern. Nun kann man sich über den Namen streiten, also darüber, ob es national oder Umweltplan heißen muß. Ich glaube, daß er ein absolut modernes Instrument der heutigen Umweltpolitik sein kann und daß das von vielen noch nicht begriffen worden ist.
Gerade in der Umweltpolitik geht es heute nicht mehr darum, End-of-Pipe-Technologien durchzusetzen, sondern darum, neue Produktionstechniken, neue Produkte und neue Dienstleistungen durchzusetzen. Dabei ist die Mitarbeit der Gesellschaft notwendig. Man kann das nicht gegen die Gesellschaft verwirklichen. End-of-Pipe-Technologien konnte man mit dem Schlauchboot und Verordnungen durchsetzen. Die Durchsetzung neuer Produkte ist jetzt eine Sache, bei deren Verwirklichung man die Mitarbeit der Gesellschaft braucht.
Auch die Wirtschaft hat ein Interesse - dieses Interesse wächst - an einem solchen nationalen Umweltplan.
({0})
- Ja, Sie sehen das anders. Aber dann diskutieren Sie nicht mit der Wirtschaft. Die Wirtschaft sagt: Deutschland als Innovationsstandort ist wichtig. Da müssen wir vorankommen. Es gibt aber keinen Innovationsstandort Deutschland.
Wir brauchen die gesellschaftliche Diskussion, weil wir nicht mehr die Mittel haben, mit der Gießkanne zu forschen. Wir müssen voraussagen, was sich diese Gesellschaft in zehn Jahren wünscht und wo es Absatzmärkte gibt. Dieser Diskussionsprozeß im Rahmen eines nationalen Umweltplanes kann dabei hellen, solche Felder zu benennen und damit auch Investitionssicherheit für neue Produkte und neue Produktionstechniken zu geben.
({1})
Hinzu kommt folgendes: Bei der jetzigen Politik der Bundesregierung ist es doch so, daß Pionierunternehmen, die bei der ökologischen Innovation voranschreiten, geradezu bestraft und nicht belohnt werden, weil der Staat in diesem Bereich eben keine Ziele formuliert und keine Rahmenbedingungen schafft, damit diese neuen ökologischen Produkte tatsächlich abgesetzt werden können. Dafür gibt es Tausende von Beispielen, beim Stromeinspeisungsgesetz angefangen über die Blockade bei der Ökosteuer, wodurch Energieeinspartechniken nicht zum
Zuge kommen, bis hin zur Abfallpolitik, wo auch Recyclingtechniken abgeblockt werden.
Genau hier setzt der nationale Umweltplan an. Die Menschheit hat ein großes Problem, nämlich die Bewahrung ihrer Lebensgrundlagen. Wenn sich die Gesellschaft unabhängig von Legislaturperioden und Regierungsverantwortung auf Ziele, Wege und Instrumente einigt, dann kann man tatsächlich einen ökologischen Innovationsprozeß anstoßen, der eine doppelte Dividende abwirft.
({2})
Nun sieht es so aus, daß sich zunehmend auch die Bundesregierung - mühsam nährt sich das Eichhörnchen - Schritt für Schritt dieser Position nähert. Das sehen wir durchaus. Allerdings ist es außerordentlich bedauerlich, daß der nationale Umweltplan nicht als ein modernes Instrument begriffen und mit voller Kraft vorangetrieben wird. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, daß manche Teile des Kabinetts - ich will das gar nicht Frau Merkel oder Herrn Hirche unterstellen - schon jetzt nicht einverstanden sind, daß es ein CO2-Ziel gibt, und sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, daß noch weitere Ziele festgelegt werden, an denen man dann eine mangelnde Umweltpolitik messen könnte.
Deswegen glauben wir, daß die Plauschrunden, die Frau Merkel zu diesem Thema eingerichtet hat und die sozusagen eine Bewegung in Richtung auf dieses Instrument darstellen, in keiner Weise ausreichen; denn es fehlt zum ersten die absolute Verbindlichkeit eines Prozesses. Es ist nicht so, daß dieser Prozeß automatisch auf Ziele hinausläuft - das ist auch gar nicht Sinn des Prozesses, wie er im Augenblick stattfindet - und daß dann Instrumente festgelegt werden, wie man etwas umsetzt. So ein nationaler Umweltplan muß ressortübergreifend angelegt werden. Da müssen der Verkehrsminister, der Landwirtschaftsminister, der Forschungsminister, der Wirtschaftsminister mit ins Boot und Rechenschaft ablegen über das, was sie getan haben.
Es muß also Aufgabe des Kabinetts sein unter Federführung des Bundeskanzlers Kohl. Aber Frau Merkel macht es dann hintenherum unter dem Motto: Hoffentlich merkt es kein Kabinettsmitglied. Das geht auch nicht. Es darf auch nicht so sein, daß Frau Merkel irgendwelche Personen benennt, sondern es muß tatsächlich ein repräsentativer Prozeß sein, für den Menschen aus den gesellschaftlichen Gruppen benannt werden, die dann den Prozeß auch wieder zurücktragen können in diese gesellschaftlichen Gruppen.
({3})
Kurz und gut, es gibt vorsichtige Ansätze. 60 Länder haben bereits Umweltpläne entwickelt. Deutschland ist in dieser Frage ein absoluter Nachreiter und weit im Rückstand.
Wir glauben, daß das ein modernes Instrument wird, daß es damit aber in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht so vorangehen wird, wie wir uns das wünschen. Unser Ziel wird daher sein, das
bei den nächsten Koalitionsverhandlungen ins Zentrum einer gemeinsamen Umweltpolitik zu stellen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis 1989 hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, dem gescheiterten Experiment einer Planwirtschaft ausgeliefert zu sein. Und nun geht es schon wieder los!
({0})
Sie wollen einen nationalen Umweltplan. Aber ein Plan löst die Probleme nicht. Sie können den Begriff nicht einfach mit neuen Inhalten füllen. Schon der Begriff erzeugt bei mir eine Gänsehaut. Dann wählen Sie doch andere Begriffe. Das muß ich schon sagen, auch wenn ich beim genauen Lesen des Antrages einige vernünftige Sätze gefunden habe.
({1})
- Wollen Sie mir zuhören? Sonst können wir mit der Debatte gleich aufhören.
({2})
Nun lassen Sie doch Frau Reichard reden.
Wer hier einfältig ist, darüber würde ich mich nachher gern noch einmal mit Ihnen unterhalten.
Vielleicht haben Sie das nicht miterlebt: Seit geraumer Zeit ist ein Diskussionsprozeß schon im Gange, aber das wird offensichtlich ignoriert.
Frau Kollegin Reichard, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köhne?
Nein, diesem Herrn möchte ich keine Zwischenfrage beantworten.
Ich denke, Sie ignorieren das, was in dieser Gesellschaft bereits auf der kommunalen Ebene, auf der Landes- und der Bundesebene geschieht. Gerade weil es die Ministerin initiiert hat und Ihnen das nicht paßt, wird es mißtrauisch beäugt und geringgeschätzt. Gleichzeitig fordern Sie genau das, was bereits geschieht. Es ist eine sehr merkwürdige Verfahrensweise und selektive Realitätswahrnehmung, meine Damen und Herren.
Sie führen an, daß zwei Drittel aller Industrieländer bereits Umweltpläne erstellt haben. Dadurch soll der Eindruck erweckt werden, Deutschland hinke der internationalen Entwicklung im Umweltschutz hinterher.
({0})
Das ist völlig falsch und führt bewußt in die Irre. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Es wird keine Aussage über die Qualität dieser Umweltpläne oder über die Umweltstandards in den Ländern gemacht, in denen sie erstellt wurden, weil Sie genau wissen, daß es sich bei den vorliegenden Plänen um Dokumente höchst unterschiedlicher Qualität handelt.
({1})
Ein großer Teil dieser Umweltpläne wurde auf Druck der Weltbank als Bedingung für weitere Kreditzusagen erstellt. Nur ganz wenige Umweltpläne kommen dem bundesdeutschen Niveau der bereits geltenden Umweltstandards überhaupt nur nahe.
({2})
Fast alle Pläne enthalten nur in sehr bescheidenem Maße quantifizierte Ziele
({3})
und werden nur unter sehr begrenzter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen erstellt.
Das Bundesumweltministerium bezieht mit dem sogenannten Schritteprozeß gesellschaftliche Gruppen ein. Das begrüße ich und wundere mich über die fehlende Anerkennung von Ihrer Seite.
Man könnte ja auch ganz anders vorgehen, beispielsweise wie in Japan. Da wurden die bisher bestehenden gesetzlichen Zielvorgaben ohne öffentliche Beteiligung einfach zusammengestellt. Das wäre eine der leichtesten Übungen für die Bundesregierung. Da möchte ich Ihr Geschrei hören.
({4})
Die Frage, ob Umweltpläne in anderen Ländern tatsächlich zu umweltpolitischen Fortschritten geführt haben, wird mit dem Hinweis abgetan, das könne man jetzt noch nicht prüfen.
({5})
Solange Sie dies aber noch nicht prüfen können, können Sie seriöserweise auch nicht zu dem Schluß kommen, daß in Deutschland Defizite in der Umweltpolitik bestehen.
Christa Reichard ({6})
Mit Hinweis auf die Errungenschaften ausländischer Umweltpläne wird der Eindruck erweckt, daß die anderen Länder hinsichtlich der Umweltplanung Deutschland voraus seien. Das ist aber überhaupt nicht der. Fall. Ich frage mich, warum der Vergleich zwischen den Umweltplänen des Auslandes und unseren jetzt schon geltenden Standards vermieden wird. Ein Plan alleine hilft der Umwelt nicht. Letztlich ergeben sich nämlich bei der Umsetzung eines solchen Planes die gleichen Schwierigkeiten wie bei einer Umweltpolitik ohne Umweltplan.
({7})
In der im Antrag immer wieder zitierten Studie wird der Eindruck erweckt, ein Umweltplan sei eine notwendige Bedingung für Exporterfolge bei Umwelttechnik. Dies ist nachweislich Unsinn. Tatsächlich haben wir auch ohne Plan eine ganz beachtliche Bilanz beim Export von Umwelttechnik, den wir auch ausbauen sollten, wie beispielsweise über das Transferzentrum für Umwelttechnik in Leipzig.
({8})
Derzeit liegen wir knapp hinter den USA weltweit auf Platz zwei,
({9})
und dies ohne Umweltplan.
Ein weiteres Beispiel für Deutschlands Vorreiterstellung ist das Öko-Audit. 75 Prozent der Zertifizierungen der EU entfallen auf die Bundesrepublik. Es ist also völlig absurd, aus dem Fehlen eines Umweltplanes abzuleiten, daß Standortnachteile drohen.
Unter Punkt 4 Ihres Antrags schreiben Sie, daß vor allem auch naturwissenschaftlich begründete Ziele für die bisher nicht gelösten und globalen Umweltprobleme erforderlich seien. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ihrer Forderung, daß die Wissenschaft zur warnenden Instanz werden muß, die die Probleme beschreibt, die die Gesellschaft lösen soll, halte ich allerdings für abenteuerlich. Ich frage mich, welcher Wissenschaftler sich dieser Auffassung von der Aufgabe der Wissenschaft anschließen kann.
Dann stellen Sie unter Punkt 5 die Behauptung auf, daß ein nationaler Umweltplan einen neuen modernen Typus von Planung darstelle, und überlassen dem Staat gnädigerweise flankierende Maßnahmen und Kontrollfunktionen. Das Parlament kommt allenfalls mit einigen Vertretern am Rande des runden Tisches vor.
({10})
Ihnen scheint überhaupt nicht klar zu sein, daß eine konsensuale Zielfindung zum kleinsten gemeinsamen Nenner führt, der mit ihren eigenen Vorstellungen am Ende wenig gemeinsam haben dürfte. Die Vorstellung, durch einen Diskussionsprozeß zu einem gesellschaftlichen Konsens zu kommen, der auch nur annähernd den Zielvorstellungen der Umweltverbände entspricht, ist schlicht und einfach naiv.
Föderalismus, verfassungsmäßige Aufteilung der Zuständigkeiten in Deutschland wird einfach ignoriert. Eine demokratische Legitimation derer, die sich um runde Tische im Kanzleramt versammeln sollen, spielt überhaupt keine Rolle. Hauptsache, sie werden von der Regierung eingebunden. Das alles hat wenig mit dem zu tun, was ich mir unter parlamentarischer Demokratie vorstelle.
Sie sprechen sich auch für eine Informationskampagne der Bundesregierung zur Unterrichtung und Aufklärung aus. Abgesehen von meinen Zweifeln, ob Sie das wirklich wollen, halte ich Information und Aufklärung über Inhalt und Ziele einer nachhaltigen Entwicklung für eine Aufgabe all derer, die es schon kapiert haben, und das auf allen Ebenen.
Beteiligen sollten sich daran auch die Länder und Kommunen, die Schulen, Hochschulen, Kindergärten, Volkshochschulen und andere Bildungseinrichtungen. Das sollte in einer Sprache passieren, die jeder versteht, so daß sich möglichst viele Menschen auch an den lokalen Agendaprozessen beteiligen und im Learning-by-doing-Verfahren Nachhaltigkeit selbst mitgestalten können. Information und Beteiligung vor Ort ist viel wirksamer als ein nationaler Plan, der abstrackt über den Köpfen schwebt.
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Die Broschüren der Bundesregierung, die Sie fordern, erreichen nach meiner bisherigen Erfahrung überwiegend die Menschen, die an Themen bereits interessiert sind. Es geht aber darum, Interesse vielerorts überhaupt erst einmal zu wecken.
({12})
Da würde ich mir eine verstärkte Unterstützung von Aufklärung durch die Werbebranche und die Medien sehr wünschen.
({13})
Auf die vielen Widersprüche innerhalb des vorliegenden Antrags möchte ich nicht weiter eingehen.
Gestatten Sie mir abschließend noch einen Hinweis. Ich wundere mich, daß der Begriff der Nachhaltigkeit einseitig und nahezu ausschließlich in Richtung Umweltpolitik gedeutet wird. Ich halte das für die Akzeptanz des Leitbilds der Nachhaltigkeit eher für schädlich. Für mich und wohl auch die meisten Mitglieder der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" geht es gerade um die gleichrangige Betrachtung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekte einer Entwicklung im Sinne der Nachhaltigkeit.
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Christa Reichard ({15})
Diesen Zielen kommen der von der Bundesregierung begonnene Diskussionsprozeß der Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung und hoffentlich auch der Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" weit näher als der vorliegende untaugliche Antrag.
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Das Wort hat die Kollegin Marion Caspers-Merk, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe drei Zuhörer von der CDU/CSU! Es ist wirklich interessant, daß wir einen so wichtigen Punkt zu solch später Zeit diskutieren, und dann auch noch in einer Situation, in der wir uns eigentlich über Konsensverfahren und Dialogkultur unterhalten sollten, Frau Kollegin Reichard, in der man einmal überlegen sollte, was eigentlich, vom Antrag abgesehen, der Kern der Gemeinsamkeit ist.
Das Thema nationaler Umweltplan macht zur Zeit Furore. Nicht nur, daß dies als Empfehlung für einen neuen Politikansatz von der Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode im Einsetzungsbeschluß festgehalten wurde, daß zahlreiche Umweltverbände dieses Thema diskutieren und daß auch die Fachwissenschaften ein solches modernes Politikinstrument vorschlagen. Wir müssen ihn in unserem eigenen Interesse als Umweltpolitikerinnen und Umweltpolitiker umsetzen; denn der nationale Umweltplan bzw. die nationale Nachhaltigkeitsstrategie - das gefällt mir besser, weil es noch ein Stück mehr ist - beinhaltet fünf Chancen.
Die erste Chance haben wir uns bei der vorhergehenden Debatte schon selbst vorgeführt. Wenn wir die Umweltpolitik kritisch beleuchten, kommen wir zu dem Ergebnis, daß wir uns derzeit in einer Situation der Selbstblockade der Umweltpolitik befinden. Den Umweltverbänden gelingt es vielleicht gerade noch, Schlimmstes zu verhindern. Den Wirtschaftsverbänden gelingt es nicht, das durchzusetzen, was sie wollen. Wir befinden uns also in einer Doublelose-Situation.
Dies sehen wir auch bei Kabinettsentscheidungen: Da macht der Wirtschaftsminister teilweise gegen die Umweltministerin Politik. Auch dort kann nur noch Schlimmstes verhindert werden. Es gibt überhaupt niemanden, der innerhalb der Bundesregierung Zukunftsfähigkeit organisiert. Deswegen glaube ich, daß wir, wenn wir vom „Schadstoff des Monats" und vom „Skandal der Woche " wegkommen wollen, einen neuen Ansatz brauchen. Mit einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie werden wieder Prioritäten
und Umweltziele festgelegt und daraus Maßnahmen abgeleitet.
Der zweite Grund, warum wir ein solch modernes Planungsinstrument brauchen, ist, daß der Blick dadurch nach vorne gerichtet wird statt zurück. Wir Deutschen sind Weltmeister beim Erstellen von Umweltberichten. Wie die Umwelt aussieht, wissen wir ganz genau. Wir kennen jeden Grenzwert und jeden Schadstoff. Das aber bedeutet nur, daß wir am Ist-Zustand festhalten. Es gelingt uns jedoch nicht, uns auf gemeinsame Umweltziele zu verständigen.
({0})
Wir haben in der gesamten Bundesrepublik bislang nur ein gemeinsames Umweltziel, das CO2-Reduktionsziel. Eigentlich aber wären wir gut beraten, auch andere gemeinsame Umweltziele zu haben, zum Beispiel bei der Halbierung des Abfallaufkommens bis zu einem gewissen Zeitpunkt - darüber muß man diskutieren, aber das wäre doch vernünftig -, der Verbesserung der Wasserqualität bis zu einem gewissen Zeitpunkt oder der Reduzierung des Flächenverbrauchs bis zu einem gewissen Zeitpunkt.
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- Ich will nur sagen: Die Umweltziele sind uns wichtig, weil sich erst durch die Festlegung dieser Ziele die Flexibilität der Instrumente und Maßnahmen - diese wird ja immer wieder gefordert - entwickeln lassen.
Der dritte Grund für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie ist der, daß es sich um eine echte Querschnittsaufgabe handelt. Es macht doch gar keinen Sinn, daß die Umweltministerin allein für die CO2-Politik zuständig sein soll. Wir wissen doch ganz genau, daß es große Bereiche gibt, zum Beispiel die Verkehrspolitik, aber auch der Baubereich - ich nenne nur die Wärmedämmung -, in denen die CO2Emissionen noch zunehmen. Deswegen wäre es doch vernünftig, daß man es als Querschnittsaufgabe organisiert.
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Deshalb fordern wir, daß es auch als echte Querschnittsaufgabe angelegt wird. Wir müssen versuchen, es zu einer Gemeinschaftsaufgabe der Bundesregierung insgesamt zu machen. Das ist bislang noch nicht erfolgt.
Viertens. Warum brauchen wir den nationalen Umweltplan? Weil es damit gelingt, die Verursacher mit ins Boot zu holen. Das Interessante an diesem Politikansatz ist doch auch - das hat ja der Schritteprozeß, den Frau Merkel eingeleitet hat, gezeigt -, daß plötzlich Vereinbarungen mit den Verbänden zustande kommen und daß man selbst ein Stück weit verantwortlich ist. Es gibt eine Zusammenarbeit zwischen Tourismusverbänden und Naturschützern, und es wird vereinbart, daß man das Thema sanfter Tourismus voranbringt. Der Staat allein kann es nämlich nicht richten. Deswegen ist gerade dieses moderne Instrument der nationalen Umweltstrategie eine Chance, daß man auch in den Bereichen, in denen wir bislang keine Erfolge hatten, vorankommt.
Der fünfte Grund - ihn hat schon die Kollegin Hustedt erwähnt - ist, daß wir bislang versäumt haben, die Agenda 21 in nationale Politik umzusetzen. Wir haben vor fünf Jahren in Rio die Agenda 21 unterschrieben. Dort steht ausdrücklich, daß wir eine nationale Nachhaltigkeitspolitik brauchen. Wenn man sich jetzt anschaut, was passiert ist, dann kommt man zu dem Schluß, daß wir diese Agenda eben nicht umgesetzt haben wie zwei Drittel aller Industriestaaten und weltweit mittlerweile fast 80 Länder. Vielmehr machen wir nach wie vor Ressortpolitik; wir machen jede Menge Pläne, Frau Kollegin Reichard. Wir sollten nicht so tun, als machten wir keine Pläne. Wir machen Raumordnungspläne, Haushaltspläne; es gibt jede Menge Fachpläne. Sie werden aber nicht zusammengeführt. Das Schlimme ist: Sie widersprechen sich noch teilweise in ihren Zielsetzungen.
Aus diesen fünf Gründen brauchen wir eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie.
Frau Kollegin Hustedt, es gibt ja schon einiges an Vorarbeiten. Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" hat in ihrem Zwischenbericht dies als Aufgabe an die Bundesregierung ausdrücklich formuliert. Es gibt einen Beschluß des Deutschen Bundestages zur Erstellung eines nationalen Umweltplans. Unsere Empfehlungen sind ja mittlerweile von der Frau Ministerin Merkel aufgegriffen worden. Das heißt, sie hat sich also ein Stück weit bewegt und auf unsere Vorschläge reagiert. Das Ob ist also gar nicht mehr strittig; deswegen habe ich auch diese Gespensterdebatte eben nicht verstanden. Vielmehr sind das Wer, das Wie und das Was strittig, und es ist strittig, wie es organisiert werden soll und wie verbindlich das Ganze ist. Um diese Streitpunkte geht es.
Die Bundesregierung hat nach anfänglichem Zögern jetzt begonnen, Umweltziele in einem Diskussionsverfahren erarbeiten zu lassen. Dabei ist dieses Schrittepapier der Bundesregierung herausgekommen, das in sechs Arbeitsgruppen erarbeitet worden ist. Man muß sich aber einmal den Energieteil, um den es jetzt geht, anschauen. Das strittige Feld der Atomenergie wird überhaupt nicht berührt. Beim Thema der erneuerbaren Energien heißt es: Eine Mehrheit sagt, daß sie gefördert werden müssen; eine Minderheit sagt, daß sie nicht gefördert werden sollen. Ja, wie entscheiden wir uns denn? Und: Wie sollen diese Konsensverfahren zu einem Ergebnis führen, das verbindlich ist und auch hält? Denn diesen unfruchtbaren Streit können wir uns doch auf Dauer überhaupt nicht mehr leisten, wenn wir Zukunftsfähigkeit organisieren wollen.
({3})
Deshalb glaube ich, daß der schon eingeleitete Prozeß bestimmte Mindestanforderungen erfüllen muß. Sie will ich jetzt für unsere Fraktion formulieren.
Die Mindestanforderungen, Herr Kollege Hirche, sind, daß wir erwarten, daß nicht die Umweltministerin allein diesen Schritteprozeß durchführt. Wir wollen vielmehr, daß die anderen Ressorts mitverantwortlich für die Ergebnisse sind.
({4}) Das macht doch überhaupt keinen Sinn: Die Umweltministerin stellt einen Leitfaden für den kommunalen Klimaschutz vor, und der Wirtschaftsminister macht kommunalen Klimaschutz mit dem Energiewirtschaftsgesetz unmöglich.
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Wir wollen, daß dies zusammengefaßt wird, und wir wollen eine gemeinsame Strategie.
Unser zweiter Punkt ist die Verbindlichkeit. Sie darf sich nicht darin erschöpfen, daß man ein paar Debattierzirkel einrichtet, etwa sechs Arbeitsgruppen. Es ist ja sehr nett, wenn man sich wieder einmal trifft; die Umweltszene ist ja sehr übersichtlich geworden. Entscheidend ist doch vielmehr, daß das, was dann erarbeitet wird, in Schritten umgesetzt wird. Diese Verbindlichkeit gibt es nicht; deswegen wollen wir dazu einen Kabinettsbeschluß.
({6})
Der dritte Punkt: Wir wollen, daß die bestehenden Ansätze besser zusammengeführt werden. Es gibt derzeit fünf verschiedene Berichte, Reports und Vorschläge, die sich alle mit dem Thema nachhaltige Entwicklung beschäftigen. Es gibt den Zwischenbericht der Enquete-Kommission, den UBA-Bericht „Nachhaltiges Deutschland", die Studie des Wuppertal-Instituts „Zukunftsfähiges Deutschland", den Rat von Sachverständigen für Umweltfragen und den Schritteprozeß.
Was machen wir nun mit all diesen Büchern? Die müssen doch irgendwo sinnvoll zusammengeführt werden. Es hat doch keinen Sinn, das Rad immer neu zu erfinden. Wir wollen von der Bundesregierung verbindlich hören, wie sie diese Vorarbeiten aufgreift und wie diese Vorarbeiten umgesetzt werden sollen.
Der letzte Punkt. Wir wollen, daß jetzt auch die Rolle des Staates geklärt wird. Es kann doch nicht sein, daß der Staat bei diesem Schritteprozeß nur moderiert. Wir wollen, daß der Staat letzte Instanz ist und daß verbindliche Reduktionsziele festgelegt werden, die quantifiziert sind.
Es macht keinen Sinn, wenn wir uns alle tief in die Augen schauen und sagen: Jawohl, wir wollen, daß alles besser wird. Vielmehr wollen wir wissen, wieviel und wann es besser wird. Deshalb ist für uns entscheidend, daß diese quantifizierten Ziele am Ende alle in den Umweltplan hineinkommen, wobei uns die nationale Nachhaltigkeitsstrategie lieber ist, weil sie mehr ist als Umweltpolitik.
Wir als Enquete-Kommission können drei Dinge tun. Wir können sagen, wie man den Prozeß organisiert. Wir können einige Bausteine liefern. Das haben wir auch schon gemacht. Beim Bedürfnisfeld Bauen und Wohnen, beim Thema Flächenverbrauch, beim Thema Informationstechnologien und Versauerung werden wir so etwas wie Bausteine für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie liefern.
Zusammengefaßt und zusammengeführt werden müssen diese Bausteine aber von der BundesregieMarion Caspers-Merk
rung. Deswegen erwarten wir von Ihnen, Herr Kollege Hirche, jetzt ein deutliches Ja zu einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, ein Ja zu einem verbindlichen Prozeß, damit es uns gemeinsam gelingt, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte behandelt einen wesentlichen Teilaspekt der Arbeit der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" , die wir im Zusammenhang mit dem Zwischenbericht hier im Plenum erst kürzlich diskutiert haben. Dabei haben wir auch den nationalen Umweltplan bzw., wie sich die Enquete-Kommission ausdrückt, die nationale Nachhaltigkeitsstrategie behandelt.
Über den Begriff, finde ich, lohnt es sich nicht zu streiten. Ob der Begriff nationale Nachhaltigkeitsstrategie besser ist als der Begriff nationaler Umweltplan, ist nebensächlich, wenn man sich darüber im klaren ist, was sie beinhalten.
Ich will aber sagen, daß ich es einigermaßen willkürlich finde, dieses Thema erneut und isoliert herauszugreifen. Gleichwohl verdient die Idee des nationalen Umweltplans eine ernsthafte Debatte,
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an der sich die F.D.P. gerne beteiligt und auch schon beteiligt hat, Frau Kollegin Hustedt.
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Was also ist ein nationaler Umweltplan? Ist es ein staatlich verordneter Fünfjahresplan, wie wir ihn aus sozialistischen Planwirtschaften kennen, mit staatlichen Vorgaben für alle Beteiligten? Ist er unflexibel, überwachungsbedürftig und unfähig, sich an rasch ändernde Rahmenbedingungen anzupassen? Einen solchen Umweltplan würde die F.D.P. ablehnen. Wir wollen nicht noch mehr Reglementierung, sondern mehr Freiheit und Flexibilität in Deutschland.
Die F.D.P. unterstützt aber die Idee eines Umweltplans als Grundlage für rationale Umweltpolitik. Wir brauchen klare Zielsetzungen, Zeiträume und Prioritätensetzungen, um allen Beteiligten Sicherheit für Investitionen, Innovationen und Produktentwicklung zu geben. Ich denke, man könnte das vielleicht mit dem Begriff Umweltaudit für Deutschland umschreiben.
So wie das betriebliche Umweltmanagement müssen auch wir eine Bestandsaufnahme machen, die Schwachstellen analysieren und daraus Ziele ableiten. Dabei müssen Prioritäten gesetzt sowie die wirtschaftlichen und sozialen Folgen berücksichtigt werden. Das allerdings ist, finde ich, in dem Antrag der Grünen überhaupt nicht herausgekommen.
Täuschen wir uns nicht: Diese Aufgabe wäre für viele von uns schwer zu bewältigen; denn sie setzt Unvoreingenommenheit und die Bereitschaft voraus, bisherige Steckenpferde in Frage zu stellen. Ich finde, der Antrag der Grünen zeigt, daß sie diese Bereitschaft zum Neudenken nicht haben. Ihre Standardforderungen wie Steigerung der Mehrwegquoten, 10 Prozent Naturschutzfläche, Solarförderprogramme usw. wollen sie vorweg festgeschrieben bekommen. Sie wollen wohl doch nur den nationalen Umweltplan mißbrauchen, um alten grünen Ideologien ein neues Mäntelchen umzuhängen.
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Dann müßten Sie nämlich eine Testfrage beantworten: Wenn Sie einen konsensualen Umweltplan, also beispielsweise einen Konsens zwischen der . Partei der Grünen, den Umweltverbänden, der Landwirtschaft und den Bundesländern über Naturschutz und Landwirtschaft, erreichen wollen, sind Sie dann bereit, für einen solchen Konsens Kompromisse einzugehen? Oder gibt es den Konsens für Sie nur dann, wenn sich diejenigen, die betroffen sind, und diejenigen, die es bezahlen müssen, Ihren Vorstellungen anschließen? Im Klartext also: Würden die Grünen einen Umweltplan mittragen, der nicht 10 oder 15 Prozent der Fläche Deutschlands zum Reservat erklärt?
Eine zweite Frage, auch an die Grünen: Kann es mit den Grünen im nationalen Umweltplan einen energiepolitischen Konsens im Spannungsfeld zwischen steinkohle- und braunkohlefördernden Ländern, Kernkraftwerksbetreibern,
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regenerativen Energien und energieintensiven Industriebranchen geben?
Bisher haben sich die Grünen fein herausgehalten. Die Konsenssuche haben Sie schließlich Herrn Schröder überlassen, den Sie als Minenhund vorneweg geschickt haben.
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Mit Rücksicht auf die rot-grünen Koalitionsträume durfte er keinen Konsens abschließen. Das heißt de facto: SPD und Grüne bleiben in dieser auch für die nachhaltige Entwicklung zentralen Frage weiter handlungsunfähig. Ein nationaler Umweltplan ohne Aussagen zur Energiepolitik und zum Klimaschutz wäre aber schlicht wertlos.
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Solange bei den Grünen das Betondenken herrscht, sind solche Anträge wie der vorliegende nicht ernst zu nehmen. Die Grünen sind für ein solches umweltpolitisches Instrument nicht reif. Ein nationaler Umweltplan setzt die Bereitschaft voraus, vernetzt zu denken, das Wichtige von weniger WichBirgit Homburger
tigem zu unterscheiden und vor allem auch Zielkonflikte zu lösen. Das ist eine der wesentlichsten Aufgaben eines solchen nationalen Umweltplans.
Wer für die Windenergie ist, aber gleichzeitig den Naturschutz dagegen ins Feld führt, wer die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene fordert, aber jede neue Schienentrasse bekämpft, wer mehr Bodenschutz fordert, aber die Müllverbrennung als Alternative zur Deponie bekämpft, wer den Einsatz von schädlichen Pflanzenschutzmitteln verringern will, aber die Gentechnik als eine Möglichkeit dahin ablehnt, der ist für eine rationale Umweltpolitik nicht geeignet.
Für die Grünen wäre - Herr Rochlitz, ich sage Ihnen das - ein nationaler Umweltplan das größte Unglück: Sie müßten sich nämlich entscheiden, was Sie wollen; und daran würden Sie scheitern.
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Das Wort hat die Kollegin Bulling-Schröter, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kolleginnen und Kollegen der Opposition haben schon ausführlich dargelegt, warum ein nationaler Umweltplan eine nützliche Sache sein kann. Ich möchte mich darauf beschränken, auch die Grenzen eines solchen Planes aufzuzeigen, um dem Mißverständnis vorzubeugen, ein solcher Plan wäre der Motor zur Durchsetzung einer nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft.
Ein nationaler Umweltplan könnte unter bestimmten Bedingungen einen neuartigen, demokratischeren Suchprozeß nach normativen Grenzen bzw. Grenzwerten, beispielsweise für den Flächenverbrauch, für Emissionen, Schadstofffrachten oder Lasten usw., in Gang setzen.
Vor allem die zeitliche Festschreibung noch zu erreichender Standards und deren Unterteilung in eine Rang- und Reihenfolge würde die politische Diskussion über den Stellenwert der natürlichen Umwelt neu beleben.
Dies alles wäre sehr viel und - gemessen an der gesellschaftlichen Defensive, in der sich die Umweltpolitik in der Bundesrepublik befindet - schon fast visionär. Doch im Zusammenhang mit der Debatte um eine sozialökologisch nachhaltig wirtschaftende Gesellschaft sollte dieses Instrument realistisch betrachtet werden.
Dabei bleibt festzustellen: Erstens. Genauso wie die Wirtschaft und ihr parlamentarischer Arm bisherige Umweltpolitik nur insoweit tolerieren, wie keine wesentlichen Einschnitte in Umsatz und Gewinn zu erwarten sind, werden die im Umweltplan festzulegenden Ziele den entsprechenden Interessen ausgeliefert sein. Soll sich also die Position zu einem
Grenzwert verändern, nur weil er ab heute in einem anderen Papier abgedruckt werden kann?
Zweitens. Wenn es stimmt, daß die Bundesrepublik meilenweit von den vielzitierten Gleichgewichtskriterien einer nachhaltigen Wirtschaftsweise entfernt ist, stellt sich doch irgendwann die Frage, wo die Ursachen dieser Nichtnachhaltigkeit liegen. Einer Antwort weicht nicht nur die Koalition aus. Auch in der SPD, in der, wie wir seit dem Schröder-Papier wissen, die engagierten Umweltpolitikerinnen und -politiker nicht viel zu melden haben, und im Wirtschaftsflügel der Bündnisgrünen wird gedeckelt.
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In den Gremien dieses Hauses wird folgerichtig jede Position marginalisiert, die das böse Wort „Kapitalismus" in den Mund nimmt und den Anteil der profitorientierten Marktwirtschaft an dem gigantischen Ressourcenverbrauch und der ständig wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich auf dieser Erde hinterfragt.
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Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ein Umweltplan wäre sicher ein Fortschritt. Wenn er allerdings nicht in eine ernsthafte Diskussion um die grundsätzliche Organisation unserer Produktions-, Verteilungs- und Lebensweise eingebettet wird, wird er zur Spielwiese zwischen Ministerialdirigenten und Jet-set-NGOs. Die Abrechnung seiner Ziele wird später einmal nichts anderes werden als eine peinliche Chronik des Versagens.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Rochlitz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Zeit der Globalisierung mag es wie Rückschritt klingen, wenn ein nationaler Umweltplan gefordert wird. Sowohl die nationale Begrenzung als auch der Umweltbezug erscheinen nicht mehr zeitgemäß. Tatsächlich verstellen uns die auf der Haut brennenden Probleme wie zum Beispiel Massenarbeitslosigkeit und schwindende Berufschancen für die heranwachsende Generation den Blick auf unsere tatsächlichen Lebensgrundlagen.
Meine Damen und Herren, hätten Umweltschützer vor Jahren die Gefahr des Brandes von Hunderttausenden Quadratkilometern tropischer Regenwälder benannt, gar die jetzt in Indonesien wabernden Smogschwaden vorausgesagt, sie wären als spinnerte „Katastrophisten" abgetan worden. Doch selbst mit diesem Menetekel vor Augen werden die übrigen globalen Umweltprobleme durch die Bundesregierung nicht genügend ernstgenommen. Statt dessen schauen die politisch Verantwortlichen tatenlos zu, wie der Pilz des Diktats des Ökonomischen die ganze Welt überwuchert. Ohne soziale und ökologische Korrekturen führt dies zur Zerstörung der LeDr. Jürgen Rochlitz
bensgrundlagen und zur Gesundheitsgefährdung wie jetzt in Indonesien und weiter weg von nachhaltiger Entwicklung.
Wesentliches Merkmal einer Umkehr zu mehr Nachhaltigkeit wäre, endlich über den Zustand und die Zukunft der Welt nachzudenken. Vielleicht würde sogar diese Bundesregierung feststellen, daß manche Umweltprobleme daraus resultieren, daß das Gut Umwelt immer noch als gratis zur Verfügung stehend angesehen wird.
Insofern versagt der vielbeschworene Markt, der hier der Steuerung durch den Staat bedarf, mit einer komplexen Strategie der Integration von Ressorts. Die internationale Staatengemeinschaft mit der Agenda 21 wie auch der Deutsche Bundestag mit seinem Einsetzungsbeschluß zur Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" haben daher einen nationalen Umweltplan im wahrsten Sinne dieses Wortes als strategisches Element für die Umkehr zur nachhaltigen Entwicklung eingefordert.
Während es in der Finanz- und Haushaltspolitik platte Selbstverständlichkeit ist, mit konkreten Zielen - Beispiel Euro-Kriterien - und Plänen zu arbeiten, zieren sich Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, diese bewährten Instrumente in der Umweltpolitik einzuführen. Eine panische Abneigung gegenüber allzuviel Konkretheit bei der Formulierung von Zielen und zugehörigen Zeithorizonten ist leider auch in der Enquete-Kommission zu bemerken. Frau Reichard hat uns ein Beispiel dafür geliefert.
Dies bleibt unverständlich, wurde doch durch mehrere internationale Konferenzen ein planvoller Ausstieg aus der Verwendung die Ozonschicht zerstörender FCKW erreicht, eben mit ganz konkreten Zeithorizonten und Beschränkungen. Analog sollte nun auch im nationalen Rahmen bei Umweltproblemen von höchster Priorität vorgegangen werden.
Nicht nur in der Bundesregierung, sondern in der ganzen deutschen, ja europäischen Gesellschaft muß der Umweltpolitik durch mehr Integration der Problemfelder wie Verkehr, Landwirtschaft und Energie endlich wieder das ihr gebührende Gewicht verliehen werden. Genau dies würde ein nationaler Umweltplan leisten. Den nötigen Biß bekommt er allerdings durch die Formulierung quantitativer Aussagen zur Wirkungsminderung und deren Zeithorizont.
Zwei konkrete Beispiele für Zielvorstellungen möchte ich nennen. So sollte der Ausstoß von Vorläufersubstanzen für das gesundheitsschädliche bodennahe Ozon bis zum Jahre 2005 um 80 Prozent gesenkt werden, wie es schon 1994 vom Sachverständigenrat für Umweltfragen vorgeschlagen und jetzt auch vom Umweltbundesamt aufgegriffen worden ist. Ich frage Sie, Frau Homburger, Frau Reichard: Was ist dabei sozialistische Planwirtschaft? - Damit würde zugleich einer weiteren Überdüngung der Meere, einer fortschreitenden Versauerung der Böden und der Schädigung von Ökosystemen wie Wäldern vorgebeugt.
Begonnen werden müßte damit sofort im Bereich des Güterverkehrs. Das hat auch das Umweltbundesamt dargelegt. Im nationalen Umweltplan müßten konkrete Fristen festgelegt werden, bis zu deren Ablauf 30 Prozent, dann 50 Prozent dieses Verkehrssektors auf die Schiene verlegt werden. Damit könnten nicht nur die zu erwartenden Verkehrszuwächse gebändigt werden, die auf uns zurollen werden, sondern es ergäben sich auch mehr Arbeitsplätze.
Auch der Schutz vor Hochwasser in den Flußlandschaften könnte besser durch ein Umweltziel im Rahmen eines nationalen Umweltplans, zum Beispiel Bildung von 15 Prozent Vorrangflächen für den Naturschutz bis zum Jahre 2010, gewährleistet werden. Dann hätten Sie ein Instrument gegen die Hochwasser und ihre Folgen.
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Mit einer solchen weitsichtigen Umweltpolitik könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Auch wirtschaftlich-finanziell, Frau Homburger, würde sich ein solches Bemühen um Ökoeffizienz national wie international auszahlen.
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Mit einem nationalen Umweltplan und mit Zielkonkretisierungen würde man erreichen, daß bei den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft das Einbeziehen der Nachhaltigkeitsprinzipien, sozialer, ökonomischer und ökologischer Prinzipien, in Entscheidungen aus dem Zustand der Entwicklungsbedürftigkeit herausgeführt würde. Dies muß für Sie, Frau Homburger, aber auch für den Bundeskanzler gelten.
Danke schön.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hirche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag wird wieder einmal ein Plan gefordert, als gäbe es nicht längst einen Prozeß zur Umsetzung prioritärer Umweltziele, als gäbe es nicht längst Überlegungen, wo Prioritäten zu setzen sind und wie sie abgearbeitet werden.
Wer sich diesen Antrag durchliest, der staunt über die bemerkenswerte bürokratische Akribie, mit der hier einzelne Sätze formuliert worden sind. Insofern - ich widerspreche ungern - sehe ich einen Unterschied, ob man über eine Strategie zur Nachhaltigkeit diskutiert oder ob man über einen Plan für alle Bereiche der Gesellschaft diskutiert. Mich schaudert in dem Zusammenhang, und ich glaube, daß Sie dem Anliegen, das dahintersteht und das ich positiv würParl. Staatssekretär Walter Hirche
digen will, mit dieser Art von Antrag einen Bärendienst erweisen.
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In diesem Antrag wird alles eingekästelt, aber eines nicht verfolgt, was heute von der Umweltpolitik verlangt wird und was wir in anderen Gesellschaftsbereichen wieder ansteuern wollen, nämlich mehr Flexibilität. Das, was hier beschrieben wird, erweckt den Verdacht, sehr ins einzelne zu gehen und ganz anders zu sein als das, was Frau Caspers-Merk später dargestellt hat.
Der Antrag beruht darauf, daß er die Idee in die Welt setzt, es gäbe in Deutschland keine Fortschritte im Umweltschutz. Zum Erschrecken der Pessimisten ist der Umweltschutz aber durchaus eine Erfolgsgeschichte in Deutschland.
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Ich darf dazu auf das World Watch Institute und seinen 1997er Bericht hinweisen. Er heißt „Zur Lage der Welt", und darin wird bescheinigt, daß Deutschland eine führende Rolle im Umweltschutz weltweit spielt.
Wir haben eine Schadstoffminderung, insbesondere in der Luftreinhaltung, der Abwasserreinigung und der Abfallvermeidung, mit international beispielhaften Erfolgen. Der Artenreichtum im Rhein ist heute wieder auf dem Stand der 20er Jahre. In den neuen Ländern ist die Modernisierung der Umweltinfrastruktur in vollem Gange. Der Einstieg in die Kreislaufwirtschaft ist vollzogen und das Abfallaufkommen deutlich rückläufig.
Wir haben auch deutliche Zeichen in der Entwicklung und Nutzung moderner Energieumwandlungsund -nutzungstechniken und im Hinblick auf den Einsatz erneuerbarer Energien gesetzt. Bei allem nachvollziehbaren Streit um die Nutzung der Windenergie haben wir 1997 mit 1800 Megawatt installierter Leistung die USA von Platz 1 verdrängt.
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Während wir die CO2-Emissionen seit 1990 um 10 Prozent gesenkt haben, sind sie in fast allen Ländern der Welt gestiegen, übrigens gerade auch in solchen Ländern, deren Umweltpläne eigentlich einen Rückgang vorsehen. Sie kennen ja die Diskussion in den Niederlanden - wo man das, was Sie fordern, gemacht hat -, weil in der Wirklichkeit das Gegenteil von dem passiert, was in den Plänen beschrieben wird. Konzentrieren wir uns mehr auf die konkreten Dinge, die in der Wirklichkeit verbessert werden sollten!
Ein Umweltplan - das ist der Einwand - ist keineswegs mit einer erfolgreichen Politik gleichzusetzen. Was hätte die DDR mit ihren Fünfjahresplänen sonst alles erreichen müssen? Auch Sie wissen, Umwelttechnologie „Made in Germany" nimmt eine Spitzenposition auf dem Weltmarkt ein.
Natürlich dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, sondern müssen uns auf die Bereiche
konzentrieren, in denen noch die größten Abweichungen vom Pfad einer nachhaltigen Entwicklung gegeben sind. Aber ich sage noch einmal: Dazu brauchen wir keinen Plan in diesem Sinne.
Der Prozeß, der eingeleitet worden ist, „Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung", verfolgt nicht nur das Ziel, ein Schwerpunktprogramm zu erarbeiten, sondern will auch Transparenz, Nachvollziehbarkeit, öffentliche Diskussion und klare Prioritätensetzung.
Auch die Ziele sind relativ unbestritten: Klimaschutz, Schutz des Naturhaushaltes, Ressourcenschonung, Schutz der menschlichen Gesundheit, umweltschonende Mobilität und Umweltethik. Die Arbeitskreise haben ihre Zwischenbilanz vorgelegt. Die Diskussion geht weiter.
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In dem Bestreben, die gesellschaftlichen Gruppen umfassend einzubeziehen, stimme ich mit den Antragstellern überein. Aber dieser Prozeß läuft doch. Wenn Frau Caspers-Merk hier von - ich habe es mir notiert - „nationaler Nachhaltigkeitsstrategie" gesprochen hat, dann ist das, auch bei der Gespreiztheit des Begriffes, etwas, worauf man sich in der Debatte durchaus verständigen kann.
Aber die Beispiele, die in dem Antrag aufgeführt sind - zum Beispiel wird auf die ökologische Steuerreform und naturverträgliche Landwirtschaft hingewiesen -, in denen man sich ganz schnell einigen könnte, sind nun gerade von Wunschdenken gekennzeichnet. Jeder hier im Hause weiß doch, daß es sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was naturverträgliche Landwirtschaft ist und wie eine ökologische Steuerreform aussieht.
Haben Sie heute nicht in der Zeitung gelesen, daß die neugegründete IG Bergbau, Chemie und Energie die Pläne einer ökologischen Steuerreform, wie sie auf dem Tisch liegen, ablehnt, weil sie das für arbeitsplatzgefährdend hält? Ich denke, es gibt unterschiedliche Interessen und Konflikte. Wir werden diesen Prozeß der Nachhaltigkeit weiter verfolgen.
Die Reaktion von Ihrer Seite auf die Frage von Frau Homburger, was die Grünen davon halten, wenn dieser Prozeß zu anderen Ergebnissen führen könnte, als sie selber im Auge haben, war ganz aufschlußreich: Wir machen das nur, wenn das in die richtige Richtung geht.
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Das heißt doch: wenn es so läuft wie Sie sich das vorstellen.
Wir sehen das als Konsensvorgang, so wie es auch die Kommission und Frau Merkel mit dem „Schritteprozeß" versuchen. Ich glaube, daß dann Deutschland auch im nächsten Jahr und in fünf Jahren wird sagen können: Andere mögen einen nationalen Plan haben, wir sind in der nationalen Umweltpolitik bedeutend weiter als alle anderen mit ihren Plänen. Darüber eine öffentliche Diskussion zu führen, jeweils einzelne Ziele zu definieren, ist in Ordnung.
Insofern sage ich ja zu einer Nachhaltigkeitsstrategie, aber nein zu verbindlichen Plänen über alles in der Gesellschaft.
Herr Kollege Hirche, wollen Sie noch einen Augenblick stehenbleiben und die Frage der Kollegin Eichstädt-Bohlig zulassen?
Weil wir am Ende der Debatte sind, Herr Präsident, und Sie mich so nett fragen.
Angesichts der Bemerkung über die richtige oder falsche Richtung möchte ich Sie doch noch fragen, ob Sie die Ziele, die von Rio zur CO2-Minderung vorgegeben sind, für die falsche Richtung halten?
Nein, an diesen Zielen richtet sich die Bundesregierung aus. Ich habe nur den Zwischenruf etwas anders verstanden.
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Wenn wir etwas detailgenauer diskutieren wollen, dann ist das festzuhalten. Wenn ich sehe, was heute in den Bundesländern gesagt wird, in denen die Grünen vorher in der Opposition waren und jetzt an der Regierung beteiligt sind, habe ich manchmal den Eindruck, daß die Diskussion über öffentliche Beteiligung und Konsensbildung ganz anders aussieht als vorher.
Insofern sehe ich dies nicht als ein Instrument an, um die Diskussion zu bereichern, sondern als einen Versuch, in die inneren Zirkel hineinzukommen, in denen etwas diskutiert wird. Ich denke, dann bleiben wir lieber bei den Verfahren, die die Bundesregierung eingeschlagen hat. Da ist genug Transparenz,
genug Demokratie und genug Verbändebeteiligung. So wollen wir es auch in Zukunft halten.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/7884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({0}), Oswald Metzger, Christian Sterzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unterstützung der Schweiz bei den Verhandlungen zum Alpentransit
- Drucksache 13/8574 Für die Debatte war eine halbe Stunde vorgesehen. Mir ist aber mitgeteilt worden, daß alle an der Debatte Beteiligten ihre Beiträge zu Protokoll geben wollen. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Rehbock-Zureich, SPD; Grotz, CDU/CSU; Friedrich, F.D.P.; Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen; Wolf, PDS, und den Parlamentarischen Staatssekretär Nitsch. Ich gehe davon aus, daß das Haus mit dieser Verfahrensweise einverstanden ist. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage, auf Drucksache 13/8574 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Oktober 1997, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.