Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, daß wegen des gesetzlichen Feiertags am 3. Oktober, der dieses Jahr auf einen Freitag fällt, die Frist für die Einreichung der Fragen für die Fragestunde in der nächsten Sitzungswoche auf Donnerstag, den 2. Oktober 1997, 10.00 Uhr vorverlegt wird. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist es so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Gesetzentwurf der Bundesregierung über den deutschen Auslandsrundfunk und den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Staatsferne und Selbstbestimmung des deutschen Auslandsrundfunks" einschließlich der bereits vorliegenden Beschlußempfehlung des Innenausschusses - das ist Drucksache 13/8402 - an diesen Ausschuß zurückzuüberweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Widerspruch gibt es nicht. Dann verfahren wir so.
Bevor ich Tagesordnungspunkt 14 aufrufe, gibt es einen Antrag aus der Gruppe der PDS, zur Geschäftsordnung zu sprechen. Bitte, Herr Gysi.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach § 20 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung besteht die Möglichkeit, die Tagesordnung auch dann zu erweitern, wenn es nicht am Vortag vor 18 Uhr beantragt worden ist, allerdings nur dann, wenn keine Fraktion oder keine anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Hauses dem widersprechen. Ich hoffe, daß das nicht geschehen wird.
Wir beantragen, die Tagesordnung um den Punkt zu erweitern, daß über die Ergebnisse des gestrigen Vermittlungsverfahrens hier im Bundestag heute berichtet wird.
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Darüber muß nicht abgestimmt werden; das kann man in der nächsten Woche machen. Aber ich finde, es muß heute darüber berichtet werden.
Ich will das kurz begründen. Der Vermittlungsausschuß ist eine Einrichtung von Bundestag und Bundesrat. Ich finde, es ist für alle Abgeordneten dieses Hauses eine Zumutung, über eine so wichtige Beratung und ihr Ergebnis erst nach einer Woche offiziell im Bundestag informiert zu werden, während wir uns bis dahin mit Interviews und Agenturmeldungen abspeisen lassen müssen. Bei den Agenturmeldungen ist übrigens ein ziemlicher Wirrwarr festzustellen, so daß man ihnen nichts Genaues entnehmen kann.
Nun haben natürlich die meisten Fraktionen ihre Vertreter im Vermittlungsausschuß und können sich von diesen informieren lassen. Aber es ist bekanntlich ein wenig einseitig, wie jeder einzelne so etwas erlebt. Wir würden gern von allen Seiten informiert werden.
Hinzu kommt in bezug auf die Gruppe der PDS, daß sie im Vermittlungsausschuß nicht vertreten ist, so daß wir als ein Bestandteil des Bundestages überhaupt gar keine Kenntnis haben und allein darauf angewiesen sind, über Pressemeldungen informiert zu werden. Ich finde das einfach unzumutbar.
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Nach einer so wichtigen Sitzung muß hier wenigstens eine Information möglich sein. Wie gesagt, die Abstimmung muß nicht heute stattfinden. Ich verstehe, daß die Fraktionen darüber noch beraten wollen. Aber daß heute eine Information gegeben wird, das bitte ich auf jeden Fall auf die Tagesordnung zu setzen.
Ich will noch etwas hinzufügen. Wenn es sich nämlich so verhält, wie man es den Interviews entnehmen kann - nun weiß ich ja nicht, ob das so stimmt -, dann haben wir es wirklich damit zu tun, daß es keine Möglichkeit der Verständigung zwischen den jeweiligen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat mehr gibt. Wenn es sich wirklich so verhält, dann steht uns ein Jahr Nichtpolitik bevor. Wahlkampf ersetzt Politik nicht. Die Bevölkerung erwartet politische Entscheidungen. Ich finde, das ist eine Zumutung für die gesamte Bevölkerung, aber auch für die Mitglieder dieses Hauses. Wir würden uns dann ein Jahr lang nur noch darauf konzentrieren, den anderen vorzuführen oder mit irgendwelchen Anträgen
oder Reden irgendwelche Punkte in der Bevölkerung zu machen. Aber in der Gesellschaft würden wir nichts voranbringen.
Man muß Politik nicht mögen, aber wichtig ist sie für die Gesellschaft doch. Wenn hier keine politischen Entscheidungen mehr möglich sind, dann muß man daraus die Konsequenz ziehen.
Deshalb brauchen wir heute die Information; denn wir haben vor, in der nächsten Woche erneut - wie schon im Juni; nur hoffen wir diesmal auf die Zustimmung des Hauses - die Beratung eines Antrags auf die Tagesordnung setzen zu lassen, wonach der Bundeskanzler aufgefordert wird, die Vertrauensfrage zu stellen, um so den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Darum soll es heute aber nicht gehen. Das können wir in der nächsten Woche entscheiden. Ich denke, dann ist es dringend geboten.
Dieser Stillstand ist für alle Seiten der Gesellschaft unerträglich. Wir müssen jetzt zu einem Neuanfang kommen. Heute brauchen wir aber erst einmal Informationen über das, was gestern tatsächlich gelaufen ist.
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Zur Geschäftsordnung spricht jetzt der Abgeordnete Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag von Herrn Gysi ist sachwidrig und hat nur den Charakter eines Schaufensterantrags. Auf Grund der interfraktionellen Vorbereitung dieser Sitzungswoche war hinreichend bekannt, daß der Vermittlungsausschuß gestern getagt hat. Wir haben bis in die Nacht getagt; ich war dabei.
Wir haben uns in den Fraktionen vorbehalten, über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses zu berichten und zu informieren. Die SPD-Fraktion hatte heute noch nicht die Chance, das zu tun. Bei den Koalitionsfraktionen war das anders. Wir werden das in einem ordnungsgemäßen Verfahren in der nächsten Sitzungswoche behandeln.
Die Gruppe der PDS wird genauso wie alle anderen Mitglieder dieses Hauses schriftlich über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses informiert und hat dann den gleichen Sachstand wie alle anderen.
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Zur Geschäftsordnung spricht jetzt der Kollege Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, daß der Vermittlungsausschuß gestern nacht eine sehr gute Entscheidung für Deutschland getroffen hat.
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Wir sind sehr gespannt, wie sich die Kollegen Blüm und Schäuble zu diesem Mehrheitsbeschluß des Vermittlungsausschusses stellen werden; denn er enthält wesentliche Elemente der Vorschläge von Herrn Schäuble und Herrn Blüm.
Ich will den Koalitionsfraktionen Gelegenheit geben zur Besinnung zu kommen. Deshalb ist es unsinnig, heute dem Vorschlag von Herrn Gysi zu folgen. Wir werden ihm nicht folgen. Sie haben dann ein paar Tage Zeit - bis Mittwoch oder Donnerstag -, zur Vernunft zu kommen, dann können wir vielleicht eine gute Entscheidung für Deutschland treffen.
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Eine weitere Wortmeldung zur Geschäftsordnung liegt vom Kollegen Lühr vor.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich auf Herrn Struck reagieren. Ich finde, der Vermittlungsausschuß hat heute nacht einen fatalen Beschluß für die Entwicklung und die Arbeitsplätze in Deutschland gefaßt.
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Ansonsten schließe ich mich den Ausführungen des Redners der CDU-Fraktion an. Der Antrag der PDS ist ein reiner Schaufensterantrag. Mit ihm wird populistisch versucht, Stimmung zu machen. Dem sollten wir nicht folgen.
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Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Nach unserer Geschäftsordnung ist es so, daß, wenn ein Antrag auf zusätzliche Aufsetzung eines Tagesordnungspunktes gestellt wird und Widerspruch erfolgt, darüber nicht abgestimmt zu werden braucht. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Schlußberichts und eines Ergänzenden Berichts der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages
Abschließende Empfehlungen zur Vorbereitung der Verkleinerung des Deutschen Bundestages und zu Vorschriften des Bundeswahlgesetzes
gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 29. Juni 1995 und vom 30. November 1995
- Drucksachen 13/7950, 13/8270 -Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Andreas Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Oppositionsparteien und -fraktionen mit ihrer parteitaktischen Totalblockade ein Stück Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie kaputtgemacht haben, haben wir heute mit der Debatte durchaus die Chance, ein paar Glaubwürdigkeitspunkte im öffentlichen Bewußtsein zurückzugewinnen.
Wir debattieren heute den Schlußbericht der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages. Der Deutsche Bundestag hat am 29. Juni 1995 beschlossen, die Reformkommission mit der Erarbeitung einer Stellungnahme zu folgenden wichtigen Fragen zu beauftragen:
Welche Schritte sind notwendig, um die Verkleinerung des Parlaments ab 2002 zu realisieren? Die gemeinsame Geschäftsgrundlage unserer Arbeit war eine einvernehmliche Position. Sie hieß: Beibehaltung des geltenden Wahlrechtes, das heißt ein klares Bekenntnis zu unserem personalisierten Verhältniswahlsystem mit einer Parität von Direkt- und Listenmandaten.
Darüber hinaus gehörte zu unserem Prüfungsauftrag folgende Frage: Gibt es bereits für die 14. Wahlperiode Handlungsbedarf in bezug auf einen Neuzuschnitt der Wahlkreise? Auch hier haben wir uns sehr schnell auf die gemeinsame, gute Position geeinigt, daß wir für die kommende Wahlperiode - um keine unnötige Verwirrung für die Wähler zu schaffen - keine Wahlkreisveränderung vornehmen, weil wir für die 15. Wahlperiode ohnehin große Veränderungen vorsehen.
Außerdem mußten wir uns mit den Fragen auseinandersetzen: Ist die in unserer Verfassung verankerte Grundmandateklausel nach unserem Wahlrecht zulässig? Sind die Überhangmandate, die auf. Grund unseres Wahlsystems entstehen können, mit der Verfassung vereinbar?
Die Reformkommission - das will ich hier deutlich sagen - hat meines Erachtens einen hervorragenden Abschlußbericht vorgelegt. Ich will deshalb an dieser Stelle im Namen der CDU/CSU-Fraktion all denen danken, die an dieser Arbeit mitgewirkt haben. Ich danke dem Vorsitzenden der Kommission, dem Vizepräsidenten Herrn Klose. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen. Ich bedanke mich sehr herzlich bei den Sachverständigen, die ihren Anteil beigetragen haben, und ich danke auch den Mitarbeitern des Kommissionssekretariates für ihre gute Arbeit.
Das Signal, das von diesem Bericht ausgeht, ist meines Erachtens völlig klar und eindeutig: Der Deutsche Bundestag verkleinert sich. Das bereits beschlossene Gesetz wird - daran kann es jetzt keinen Zweifel mehr geben - mit Wirkung für die 15. Wahlperiode umgesetzt. Der Schlußbericht der Reformkommission ist damit ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Glaubwürdigkeit unseres Parlamentes. Wir kündigen nicht nur an, wir versprechen nicht nur - nein, wir realisieren auch und setzen um.
Es ist ja bemerkenswert, wenn sich ein Organ selbst verkleinert. Wir tun dies in aller Entschiedenheit. Wir sind damit ein positives Vorbild für viele staatliche Bereiche, denen eine Schlankheitskur im Sinne staatlicher Effizienzsteigerung ebenfalls guttun würde.
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Ich bin mir sicher, daß wir für die uns selbst verordnete Schlankheitskur in der Bevölkerung eine breite Zustimmung finden werden.
Die Verkleinerung unseres Parlamentes, die wir vornehmen werden, ist in ihrem Umfang richtig und angemessen. Die Zahl der Wahlkreise wird von 328 auf 299 reduziert. Da es bei der Gleichordnung von Direktmandaten und Listenmandaten bleiben wird, wird sich daraus - einmal abgesehen von möglichen Überhangmandaten - eine Anzahl von 598 Abgeordneten des Deutschen Bundestages ab 2002 ergeben.
Einen Punkt will ich in diesem Zusammenhang unterstreichen: Die Verringerung der Abgeordnetenzahl bedeutet nicht eine Verringerung der demokratischen Legitimation unseres Parlamentes. Die Verkleinerung des Bundestages ist nicht auch eine Schwächung der repräsentativen Demokratie. Nein, ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Die Bedeutung des einzelnen Abgeordneten wird - übrigens auch in der öffentlichen Wahrnehmung - steigen. Die Konzentration der Kräfte des Parlamentariers auf das wirklich Wichtige und Entscheidende wird notwendiger. Das kann keine Fehlentwicklung sein.
Die Arbeit des Deutschen Bundestages wird insgesamt effizienter und für den Beobachter transparenter. Also: Die Verkleinerung des Parlaments bedeutet keinen Abbau von Demokratie, sondern gibt uns eine konkrete Chance, unserer unbestrittenen parlamentarischen und repräsentativen Demokratie neuen Schwung zu verleihen.
Durch die Verkleinerung des Bundestages werden in einem durchschnittlich großen Bundestagswahlkreis zukünftig nicht mehr wie bisher etwa 220 000, sondern dann 250 000 Bürgerinnen und Bürger wohnen. 598 Abgeordnete werden dann rund 80 Millionen deutsche Bürger repräsentieren. Jeder einzelne Abgeordnete repräsentiert dann im Durchschnitt 130 000 Bürgerinnen und Bürger.
Es gibt aber auch Kritik. Sie wissen das. Verbände und Medien sagen, diese Reduzierung reiche nicht aus. Da gibt es sogar Vorschläge, der Bundestag sollte sich auf 250 bis 300 Abgeordnete verringern. Meine Damen und Herren, ich finde, wenn man unsere Bevölkerungszahl und unser personalisiertes Verhältniswahlrecht berücksichtigt, kann man das wirklich nicht als einen Vorschlag zur Verschlankung des Parlaments sehen. Dieser Vorschlag würde vielAndreas Schmidt ({1})
mehr eine Ausdünnung der parlamentarischen Demokratie bedeuten, die wir in diesem Haus, glaube ich, gemeinsam ablehnen. Ich sage noch einmal: Wir wollen ein schlankeres Parlament, aber wir wollen mit der Verkleinerung keine magere Demokratie in diesem Land. Die Verkleinerung in dieser Größenordnung ist deshalb angemessen. Aber sie ist auch ein klares und eindeutiges Signal für einen schlankeren Staat.
Es ist sicher nicht üblich, daß sich Verfassungsorgane gegenseitig Ratschläge geben. Dennoch finde ich, daß wir mit unserem Verkleinerungsschritt auch ein Vorbild und ein Signal für die Landtage in den Bundesländern geben. Das Repräsentanzverhältnis zwischen Bürgern und Landtagsabgeordneten in den Bundesländern ist im Vergleich zu dem Repräsentanzverhältnis Bürger - Bundestagsabgeordnete höchst unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen repräsentiert zum Beispiel ein Abgeordneter rund 80 000 Bürger, im Saarland nicht einmal 20 000. In Hamburg repräsentiert ein Abgeordneter rund 14 000 Bürger, in Bremen dagegen nur 6 800. Die Zahlen machen, so glaube ich, deutlich, daß die von mir angegebene Vorbildfunktion für die Bundesländer und für die Landtage gerechtfertigt ist.
Meine Damen und Herren, um die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ohne Wenn und Aber umzusetzen, haben wir uns durch Gesetz gebunden, den Neuzuschnitt der Wahlkreise für die Bundestagswahl 2002 bereits in dieser Wahlperiode vorzunehmen. Die Reformkommission hat bezüglich des Zuschnittes der 299 Wahlkreise - dies will ich hier betonen, weil es da Mißverständnisse gegeben hat - keinen eigenen Vorschlag unterbreitet. Dies kann auch nicht Aufgabe der Reformkommission sein. Das Statistische Bundesamt hat der Reformkommission einen Vorschlag für den Neuzuschnitt der Wahlkreise übermittelt. Dieser Vorschlag ist eine Grundlage für die jetzt beginnenden Beratungen. Aber - dies will ich hier betonen - die Entscheidungen zu diesem Thema fällt nicht die Exekutive, fällt nicht ein Bundesamt. Vielmehr ist dies Aufgabe dieses Hauses. Federführend für diese Aufgabe - dafür wünsche ich viel Glück und Erfolg - ist der Innenausschuß des Deutschen Bundestages.
Ich glaube übrigens - ich will das hier offen sagen -, daß bei gutem Willen aller Beteiligten und der notwendigen Konzentration auch diese wichtige Aufgabe bis zum Ende dieses Jahres erledigt sein kann. Ich finde, wir sollten uns dieses Ziel gemeinsam setzen und der Öffentlichkeit sagen: Wir gehen zügig an die Sache heran und kommen in diesem Jahr zu einem Abschluß.
Neben dem Punkt der Verkleinerung haben wir in dem Schlußbericht der Reformkommission gemeinsam festgestellt, daß die Fünfprozentklausel zum bewährten Kernbestand des deutschen Wahlrechts gehört und daher ohne jeden Zweifel Bestand haben muß und auch in Zukunft Bestand haben wird. Die Fünfprozentklausel hat nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch auf der Ebene der Länder für stabile parlamentarische Mehrheiten und Verhältnisse gesorgt und damit die Funktionsfähigkeit der
Parlamente und auch des demokratischen Staatswesens insgesamt sichern geholfen. Ich erinnere mich und Sie alle erinnern sich, daß die Fünfprozenthürde in Hamburg verhindert hat, daß die rechtsradikale DVU parlamentarische Verantwortung bekommen hat. Ich glaube, auch hieran zeigt sich, daß es richtig ist, daß wir die Fünfprozentklausel haben.
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Meine Damen und Herren, wir haben uns in der Reformkommission einvernehmlich auch darauf geeinigt, die sogenannte Grundmandatsklausel nicht in Frage zu stellen.
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- Der Beifall kommt jetzt von der falschen Seite. Ich will ganz eindeutig sagen: Für die Unionsfraktionen, Frau Kollegin Enkelmann, war es immer klar, daß wir die politische Auseinandersetzung mit der SED- Nachfolgepartei PDS nicht über das Wahlrecht, sondern über politische Inhalte führen.
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Damit werden wir viel erfolgreicher sein als über den anderen Weg.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Dehnel?
Bitte schön, Herr Dehnel.
Lieber Kollege Schmidt, was würden Sie sagen, wenn eine ultrarechte Partei über diese Klausel in das Parlament einziehen würde?
Herr Kollege Dehnel, dies fände ich für die Demokratie genauso abträglich, als wenn die PDS wieder in das Parlament einziehen würde.
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Deswegen sollten wir alles tun, um über politische Inhaltsdiskussionen zu verhindern, daß die Rechts- und die Linksradikalen in diesem Parlament irgend etwas zu sagen haben. Das sollte der gemeinsame Wille der demokratischen Parteien dieses Hauses sein.
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Es ist ein hohes Gut in der Demokratie, wenn es einen Konsens der großen Fraktionen, der demokratischen Parteien dieses Hauses bezüglich unseres Wahlrechts gibt. Das Wahlrecht gehört zu den
Andreas Schmidt ({2})
Grundlagen, auf denen der notwendige politische Streit in einer Demokratie stattfinden soll und muß. Die Regeln und Grundlagen, auf denen dieser Streit ausgetragen wird, sollten jedoch im Interesse einer stabilen Demokratie nicht im Streit stehen.
Der Schlußbericht der Reformkommission - das stelle ich ausdrücklich fest -, über den wir heute debattieren, ist im Ergebnis ein Konsenspapier. Dies begrüße ich ausdrücklich. Wenn ich aber zu den Sozialdemokraten hinüberschaue, muß ich sagen - auch das gehört zur Wahrheit -, daß die Oppositionsparteien, vor allem die Sozialdemokraten, während der Arbeit der Reformkommission zumindest eine Zeitlang vom gemeinsamen Weg des Konsenses auf den Irrweg des Nonsenses abgerutscht sind.
Die Sozialdemokraten haben während der Beratungen verlangt, daß bereits für die 14. Legislaturperiode für entstehende Überhangmandate Ausgleichsmandate geschaffen werden sollen. Die Realisierung dieses Vorschlages der Sozialdemokraten hätte im Ergebnis dazu geführt, daß der Deutsche Bundestag in der 14. Wahlperiode durch die entstehenden Ausgleichsmandate erheblich vergrößert worden wäre. Vor dem Hintergrund des gemeinsamen Verkleinerungsbeschlusses wäre die Durchsetzung dieses Vorschlages in der Tat grotesk und absurd gewesen.
Der Schlußbericht der Reformkommission stellt hinsichtlich der Überhangmandate eindeutig zu Recht fest, daß Überhangmandate nicht nur nicht zu beanstanden, sondern in besonderem Maße demokratisch legitimiert sind. Überhangmandate sind immer Direktmandate und beruhen daher letztlich auf der bewußten Entscheidung der Wählerinnen und Wähler in unserem Land.
Daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD, mit Ihrer Position nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich falsch gelegen haben, ergibt sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. April 1997. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht den Versuch des Landes Niedersachsen und damit den Versuch von Ministerpräsident Schröder vereitelt, die Rechtmäßigkeit von Überhangmandaten in Zweifel ziehen zu lassen.
Deswegen betone ich noch einmal - auch für meine Fraktion - ausdrücklich: Überhangmandate sind eindeutig die mögliche Konsequenz unseres personalisierten Verhältniswahlrechts und sollten im Grundsatz zwischen uns nicht länger streitig sein.
Durch den Neuzuschnitt der Wahlkreise, verbunden mit der Angleichung der Einwohnerzahl, werden zukünftig Überhangmandate, die durch eine Disproportionalität zwischen der Anzahl der Wahlkreise und der Bevölkerungszahl entstehen, vermieden werden. Das ist unser gemeinsamer Wille. Das wird mit der Reform des Wahlrechtes für das Jahr 2002 ganz sicher erreicht.
Abschließend fasse ich zusammen: Ich bin sicher, daß wir mit dem vorgelegten Schlußbericht der Reformkommission ein wichtiges und positives Signal für unsere parlamentarische Demokratie im Bund und in den Ländern geben. Ich verbinde damit die
Hoffnung, daß - nachdem die SPD bzw. das Land Niedersachsen in Karlsruhe mit dem Versuch gescheitert ist, das Wahlrecht zu verändern - dieser gemeinsame Abschlußbericht eine tragfähige Grundlage dafür sein wird, in Zukunft den Konsens der Demokraten bezüglich unseres Wahlrechtes zu gewährleisten.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beiden Schmidts haben als Sprecher unserer Fraktionen in der Reformkommission über viele Monate gemeinsam gearbeitet. Darum gilt mein Dank am Anfang der guten Zusammenarbeit zwischen uns beiden, aber auch zwischen allen Beteiligten in der Reformkommission, und zwar sowohl den Abgeordneten als auch den Sachverständigen. Dort herrschte eine gute Atmosphäre, auch wenn wir uns in der Sache ab und zu massiv auseinandergesetzt haben.
Ich denke, daß es ganz besonders des Dankes an Vizepräsident Klose bedarf - auch Sie, Herr Kollege Schmidt, haben es mit Recht ausgesprochen -, weil er für diese Atmosphäre gesorgt und die Grundlagen dafür gelegt hat, daß wir heute diesen Endbericht vorstellen können.
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Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande erwarten zu Recht, daß wir reformfähig sind. Dort, wo wir es schaffen können, haben wir es auch immer wieder bewiesen. Es gibt ja nicht nur Fälle wie gestern abend, als durch die Blockade der CDU/CSU im Vermittlungsausschuß die Steuerreform beerdigt wurde, sondern auch manch andere Dinge, die wir in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder auf den Weg gebracht haben, sprechen für sich. Das letzte gute Beispiel war gestern morgen das Kindschaftsrecht. In diese Reihe guter Reformansätze dieses Parlaments kann sich auch der Schlußbericht der Reformkommission zur Verkleinerung des Deutschen Bundestages einreihen. Darum bewerten wir ihn grundsätzlich positiv, auch wenn wir in diesem Zusammenhang nach wie vor einige Mängel zu beklagen haben. Wir hatten uns in diesem Hause selber die Vorgabe gegeben, den Deutschen Bundestag um mindestens 100 auf jedenfalls unter 600 Abgeordnete zu verkleinern. Das wird geschehen. Wir haben es sogar ins Bundeswahlgesetz hineingeschrieben, das schon im vorigen Jahr entsprechend verändert wurde.
Die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ist, wenn man so will, einer der letzten Bausteine des Gesamtprojekts Parlamentsreform, bei dem ja noch eine ganze Reihe von anderen Dingen von uns beraten, behandelt und auch entschieden worden sind. Der letzte Punkt der Parlamentsreform wird die ReWilhelm Schmidt ({1})
form der Wahlkreise nach der Verkleinerung sein. Einen weiteren Punkt haben wir gestern im Geschäftsordnungsausschuß auf der Grundlage eines Vorschlages meiner Fraktion zu diskutieren begonnen, nämlich die Veränderung der Verhaltensregeln für Abgeordnete: Wir wollen, daß mehr Informationen über die Nebentätigkeiten der Abgeordneten, wenn sie schon wahrgenommen werden, an die Öffentlichkeit dringen und nicht geheimgehalten werden. Dafür werden wir im Geschäftsordnungsausschuß sorgen.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Zwischenbericht, den wir im vorigen Jahr diskutiert haben, hat bereits an den Tag gebracht, daß die Verkleinerung des Deutschen Bundestages auf 598 Sitze und die Verringerung der Wahlkreise von 328 auf 299 natürlich auch einige Folgerungen mit sich bringt, die wir alle gemeinsam zum Schluß noch zu diskutieren haben werden. Wenn wir den Bundestag um ungefähr 11 Prozent verkleinern, heißt das logischerweise im Umkehrschluß, daß wir die Wahlkreise um durchschnittlich 11 Prozent zu vergrößern haben. Dieser Forderung und dieser logischen Entwicklung darf sich in diesem Hause niemand entziehen. Ich will das schon an dieser Stelle sagen, weil ich finde, daß wir bei allen Regelungen, die wir im Generellen getroffen haben, nun auch alle in der Detailarbeit in der Pflicht stehen, das Reformwerk zu vollenden.
Ich bin der Auffassung, daß wir ansonsten gar nicht so sehr dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben haben, wie immer behauptet wird. Der Tatsache nämlich, daß draußen immer häufiger von uns die Verkleinerung des Bundestages gefordert wurde, ist Rechnung zu tragen; aber wir haben sie auch von uns selbst aus als notwendig erachtet, denn nach der deutschen Einheit war der Bundestag mit 672 - nominell 656 - Sitzen ein zu großes Parlament und an mancher Stelle sehr bewegungsunfähig geworden. Ich will aber gleichzeitig darauf hinweisen, daß wir der Forderung: „Verkleinert das Parlament auf 400 Sitze!" natürlich überhaupt nicht nachgeben wollten und konnten. Denn gleichzeitig werden wir Abgeordnete, die wir unsere Arbeit wahrhaftig ernst nehmen, im Wahlkreis immer wieder darauf angesprochen, was wir denn nun alles machen sollen. Am Ende gibt es eine Spannbreite zwischen der einen Forderung, daß jeder Bürger und jede Bürgerin einen eigenen Abgeordneten haben möchte, und der anderen Forderung, daß nicht mehr als 400 Abgeordnete im Parlament sitzen dürfen. Diesen Widerspruch haben wir jedesmal im Einzelfall aufzulösen. Aber solchen populistischen Neigungen muß man nicht nachgeben; das haben wir auch bei dieser Reform nicht gemacht.
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In der Frage der neuen Toleranzgrenzen für die Wahlkreisgröße haben wir erfreulicherweise Einigkeit erzielt. Diese zwingen uns nämlich übrigens, auch wenn wir nicht zu den eben skizzierten Schlußfolgerungen kämen, jetzt doch an vielen Stellen in Deutschland Konsequenzen zu ziehen. Wir hatten
schon zur Wahl 1998 die uns massiv bedrängende Frage zu klären, wieviel Wahlkreise wir, weil sie durch die Bevölkerungsentwicklung an die Toleranzgrenzen gestoßen sind, nun verändern wollen. Wir hätten eigentlich schon zur Wahl 1998 156 Wahlkreise verändern wollen oder müssen. Wir haben es dann auf Sparflamme fahren wollen und können, weil wir uns gemeinsam darauf verständigt hatten. Aber die Schlußfolgerung daraus ist, daß wir den Reformstau, was die Parlamentsreform und die Größe der Wahlkreise anbetrifft, den wir nun seit fast 20 Jahren vor uns hergeschoben haben, nun endlich zum Jahre 2002 auflösen müssen. Dazu werden wir uns entsprechend zu stellen haben.
Wir sind uns über eine Veränderung der Toleranzgrenzen einig. Wir sind uns auch einig gewesen - das ist durch den Verfassungsgerichtsbeschluß bestätigt worden -, daß wir bei der Grundmandateklausel und bei der Fünfprozenthürde richtig liegen.
Der andere Teil, bei dem wir nach wie vor - das will ich im Widerspruch zu dem, was Herr Kollege Schmidt gesagt hat, noch einmal sehr deutlich ausführen - im Konflikt stehen, ist die Frage der Überhangmandate. Das will die SPD so nicht hinnehmen. Ich finde, wir sind durch den Verfassungsgerichtsbeschluß vom April dieses Jahres an vielen Stellen bestätigt worden. Es ist so, daß durch das Vier-zu-vierUrteil die Verfassungsgemäßheit nicht angezweifelt worden ist. Die Angelegenheit ist aber beileibe auch nicht so entschieden worden, daß wir nun nicht noch einmal eine Initiative ergreifen könnten. Ich sichere Ihnen schon jetzt zu, meine Damen und Herren auf der rechten Seite, daß wir das tun werden.
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Problematik möglicherweise zunächst in juristischer Hinsicht geklärt. Aber .der verfassungspolitische Konflikt ist damit wahrhaftig nicht überwunden. Wir finden, daß das, was die CDU/CSU und F.D.P. als Sieg für sich bezeichnet haben, sicherlich eher ein Pyrrhussieg ist; denn das Handeln des Gesetzgebers nach der Wahl 1998 ist damit überhaupt nicht ausgeschlossen. Wir behalten uns dies ausdrücklich vor.
Wir werden auch deswegen darauf zurückkommen müssen, weil wir zu befürchten haben, daß bei der Wahl 1998 erneut eine erhebliche Anzahl von Einsprüchen gegen das Wahlergebnis, das am 27. September 1998 noch zu finden sein wird, eingelegt werden. Dies wird uns zu neuen Entscheidungen führen müssen, die wir dann zur Wahl 2002 durchaus noch zeitgerecht treffen können.
Von daher hat das Verfassungsgerichtsurteil vom 10. April 1997 eine Reihe von Implikationen, die auch unsere Argumentation durchaus unterstützen. Wenn vier von acht Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichtern die Meinung der SPD-Fraktion unterstützen, dann ist das ein sehr deutliches Kennzeichen dafür, daß wir mit unserer Rechtsauffassung - mit unserer politischen Auffassung allemal - gar nicht so verkehrt liegen.
Wilhelm Schmidt ({5})
Die Auseinandersetzung mit der Grundmandateklausel ist vom Abgeordneten Schmidt von der CDU/ CSU-Seite eher richtig bewertet worden. Wir wollen nach wie vor nicht die Auseinandersetzung auf diesem juristischen Feld mit Gruppen und Fraktionen, die über diesen Weg in den Bundestag gekommen sind. Wir werden mit der PDS die politische Auseinandersetzung genauso pflegen wie bisher. An der Grundmandateklausel wird nicht gerührt und gerappelt. Dazu stehen auch wir - nicht nur, weil wir das im Bundesverfassungsgerichtsurteil bestätigt bekommen haben, sondern auch, weil wir dabei von politischen Überzeugungen getragen werden.
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Meine Damen und Herren, ich will zum Schluß darauf hinweisen, daß wir mit dem vorliegenden Abschlußbericht nur die Vorschläge der Reformkommission präsentieren und daß nun die sicherlich sehr schwierige und mühselige Arbeit des Innenausschusses - am Schluß auch des gesamten Plenums - zur Neuordnung des Wahlkreiszuschnitts noch bevorsteht. Ich sage das deswegen, weil ich schon von vielen Seiten angesprochen worden bin, nach dem Motto: Aber in meiner Region mußt du mich vor Folgerungen aus dieser Reform schonen und schützen.
Das geht beileibe nicht, wiewohl wir natürlich durchaus die Möglichkeit sehen, noch etwas an den Vorschlägen zum Wahlkreiszuschnitt zu verändern. Das ist überhaupt keine Frage; die Vorschläge sind nicht feststehend. Aber sie sind durchaus ein Maßstab und eine Orientierung, die auf der Basis sehr neutraler und sehr fundierter Kenntnisse des Statistischen Bundesamtes und damit des Bundeswahlleiters zustande gekommen sind, der sich in vielen Fällen in den Ländern rückversichert hat. Man mag beklagen, daß sich manche Länder ein wenig gedrückt haben, uns Schützenhilfe zu leisten, wenn es darum geht, objektive Maßstäbe für die Wahlkreisveränderungen zu finden.
Das Entscheidende scheint mir aber wirklich zu sein, daß wir jetzt nicht so vorgehen dürfen, daß die Interessen der einzelnen Abgeordneten, die jetzt im Parlament sind, oder die Interessen einzelner Gruppen möglicherweise in den Vordergrund rücken. Daß die Reformkommission dies berücksichtigt hat, hat sie mit ihrer Arbeit unter Beweis gestellt. Die Dinge sind dort sehr neutral, sehr objektiv behandelt worden, ganz bewußt unter dem Vorzeichen, daß sich nicht der eine vom anderen über den Tisch ziehen läßt oder der eine den anderen über den Tisch ziehen will. Das ist wichtig gewesen, und das sollte auch die Maxime für die Arbeit im Innenausschuß sein, dem ich sonst gar nichts weiter auf den Weg geben möchte, zumal ich mich selbst in die Arbeit dieses Ausschusses sehr gerne einklinken möchte.
Daß es eine Objektivität unter uns gibt, mag man daran erkennen, daß auch in meinem Umfeld, im SPD-Bezirk Braunschweig, durchaus Schwierigkeiten bestehen, die Reduzierung der Zahl der Wahlkreise umzusetzen; denn ein Wahlkreis von fünf wird auf Grund dieser Beschlüsse eingespart werden müssen. Wir tun uns naturgemäß sehr, sehr schwer dabei.
Von daher ist Objektivität ein ganz wichtiger Aspekt, den wir für die vor uns liegende Arbeit entsprechend nutzen sollten.
Wir haben auch unter diesem Aspekt mit der Kommissionsarbeit und dem vorliegenden Schlußbericht ein Beispiel geliefert, um die weiteren Weichen zum Abschluß der Verkleinerung zu stellen. Ich warne jedenfalls sehr nachdrücklich davor, sich möglicherweise an irgendeiner Stelle noch davor zu drücken, das, was wir schon im Bundeswahlgesetz als prinzipielle Regelung stehen haben, nämlich auf 598 Abgeordnete und damit auf 299 Wahlkreise herunterzugehen, noch zu verschieben oder in sonstiger Weise nicht zu realisieren. Ich sage das deswegen, weil der Kollege Andreas Schmidt mit Recht zu Beginn seiner Ausführungen darauf hingewiesen hat, daß wir, wenn dies geschähe, weitere Bausteine dafür lieferten, die Politik- und Parlamentsverdrossenheit in diesem Lande zu nähren. Das wollen wir nicht, und das darf auch nicht sein.
Ein letztes möchte ich in diesem Zusammenhang als Ergänzung und vielleicht auch als Bitte und Auftrag über den eigentlichen Abschlußbericht der Reformkommission hinaus auf den Weg bringen: Ich ermuntere diejenigen, die jetzt die Abschlußarbeit in den Ausschüssen und dann auch hier im Plenum zu leisten haben, darüber nachzudenken, vielleicht doch noch eine Regelung zur Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre ab 2002 einzubauen. Auch dafür gibt es eine gute Grundlage; denn wir wissen - das erfahren wir nicht zuletzt in dieser Wahlperiode -, wie spät man manchmal mit der Arbeit beginnt und wie früh der Wahlkampf für die nächste Wahl schon wieder anfängt. Der Kanzler hat bereits im Juni gesagt, wenn es nicht anders gehe, machten wir eben 14 Monate lang Wahlkampf. Damit ist natürlich auch eine Lähmung des Parlamentsbetriebes vorgezeichnet, die wir nicht wollen. Wir wollen auf jeden Fall eine kontinuierliche und solide Arbeit des Parlaments gewährleistet wissen, nicht aber einen 14 monatigen Wahlkampf; das ist die Entscheidung auf der rechten Seite des Hauses gewesen. Hier wäre eine Ausdehnung der Wahlperiode auf fünf Jahre sicherlich eine Verbesserung.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, diesen Abschlußbericht der Reformkommission wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen und bei der weiteren Arbeit als gute, objektive Grundlage zu berücksichtigen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Häfner.
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte an den Anfang meiner Ausführungen einen Dank an den Vorsitzenden, an die Mitglieder und Sachverständigen, aber auch - und weiß Gott nicht zuletzt - an die Mitarbeiter der Reformkommission stellen. Wir haben zwei Jahre intensiver
und auch kollegialer Beratungen hinter uns gebracht und dabei zu einigen wichtigen Weichenstellungen gefunden, dabei allerdings auch - darauf werde ich noch zurückkommen - ein ganz zentrales Problem unseres Wahlrechtes ungelöst gelassen.
Zunächst das wichtigste Ergebnis: Der Bundestag hat eine Verkleinerung auf 598 Abgeordnete zur 15. Wahlperiode beschlossen. Wir begrüßen diesen Beschluß. Wir haben ihn ja von Anfang an mit eigenen Anträgen gefordert und mit herbeigeführt. Der Beschluß kann die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes stärken und dessen Effizienz fördern. Allerdings muß er das nicht.
Das ist schon einmal ein Punkt, an dem die Kommission meines Erachtens ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Die Effizienz, die Transparenz, die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes leiden unter vielen anderen Dingen weit mehr als unter der Größe dieses Hauses. All unsere Vorschläge zu Fragen einer weitergehenden Parlamentsreform wie der Straffung des Gesetzgebungsverfahrens oder einer Erweiterung der Rechte des einzelnen Abgeordneten sind bereits bei der Einsetzung der Kommission abgelehnt worden.
Aber noch etwas zur Verkleinerung. Der Bundestag war ja nicht deshalb zu groß, weil wir das deutsche Parlament willkürlich aufgebläht hätten, sondern weil die glückliche Vereinigung der über 40 Jahre getrennten Teile Deutschlands zu einem Anwachsen der Bevölkerungszahl und damit auch der Anzahl der Abgeordneten geführt hat. Die Verkleinerung war jetzt trotzdem oder gerade deshalb notwendig, so wie viele andere Reformen im vereinten Deutschland zur Herstellung von Effizienz, Arbeitsfähigkeit, Transparenz und auch mehr demokratischer Legitimation erforderlich wären. Ich würde mir wünschen, wir hätten die Kraft zu noch sehr viel weitergehenden Reformen im Bereich der Festigung und Verbesserung der Demokratie als nur zur Verkleinerung des Bundestages.
Dann ist uns als zweites gelungen - darüber bin ich sehr froh -, die Toleranzgrenzen im Wahlgesetz zu verändern. Die bisherige Regelung hat dazu geführt, daß einzelne Wahlkreise doppelt so viele Wahlberechtigte umfassen konnten wie andere Wahlkreise, ohne daß es zu einer Änderung der Wahlkreisabgrenzung hätte kommen müssen. Daß in Zukunft eine Neuabgrenzung bereits bei einer Abweichung der einzelnen Wahlkreise gegenüber dem Wahlkreisdurchschnitt in Höhe von 15 Prozent stattfinden soll und bei einer Abweichung von 25 Prozent stattfinden muß, entspricht der Forderung meiner Fraktion und fand erfreulicherweise ebenfalls Konsens in der Kommission.
Konsens hatten wir auch in der Frage der Grundmandate; darauf ist schon eingegangen worden. Die PDS ist - das will ich hier deutlich sagen - unser politischer Gegner. Aber sie ist in den neuen Bundesländern von zum Teil über 20 Prozent der Bevölkerung gewählt. Es wäre gänzlich absurd, diese Partei nun mit Veränderungen im Wahlrecht aus dem deutschen Parlament katapultieren zu wollen. Ich bitte Sie, zu bedenken: Damit wären ja nicht nur den Abgeordneten der PDS sozusagen die Stühle vor die Tür gesetzt, sondern vor allem auch den zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern, die sie gewählt haben und die hier von ihr vertreten werden. Das ist es, was mir manchmal in unseren Debatten zu kurz gekommen zu sein scheint.
Wir sollten nie vergessen: Im Kern geht es beim Wahlrecht nicht um uns, nicht um die Abgeordneten, nicht um die Parteien, sondern im Kern geht es beim Wahlrecht um die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Das Wahlrecht ist eben ein elementares Recht der Bürger. Bürgerinnen und Bürger sind in der Demokratie der Souverän. Von ihnen geht alle Staatsgewalt aus, und sie wird laut Grundgesetz von ihnen in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Solange der Gesetzgeber weiterhin die von den Eltern unseres Grundgesetzes vorgesehene Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid verweigert, bleibt das Wahlrecht das einzige Instrument, mit dem die Bürgerinnen und Bürger ihre Souveränität ausüben, ihrem politischen Willen Ausdruck verleihen können.
Deshalb ist das Wahlrecht eine sehr fragile Angelegenheit. Es beinhaltet die Spielregeln, nach denen in der Demokratie gespielt wird, und diese sollte man im Konsens zwischen den beteiligten Politikern, aber nicht nur im Konsens zwischen diesen, sondern auch im Konsens zwischen den Sachverständigen und der Bevölkerung verändern und nicht, wie es hier geschehen ist, mit knappen Mehrheiten.
Ich halte das für ein sehr trauriges Resultat unserer Arbeit in der Kommission, daß in der weiß Gott möglicherweise wahlentscheidenden Frage der Überhangmandate kein Konsens besteht. - Der Grund, Herr Schmidt - ich glaube, das darf man Ihnen zu Recht unterstellen -, warum Sie hier eine Änderung, wie von uns vorgeschlagen, abgelehnt haben, ist, daß Sie schon jetzt nur mit einer großen Zahl von Überhangmandaten Ihre Mehrheit im Deutschen Bundestag absichern können und daß Sie natürlich Angst vor der Wahl 1998 haben.
({0})
Es macht Ihnen gar nichts aus, daß Sie einen Übergangskanzler stellen. Aber ich sage Ihnen: Eine Überhangregierung hat dieses Land nicht verdient.
({1})
Sie sind jetzt nur noch eine Übergangsregierung, aber eine Überhangregierung wollen wir in Zukunft nicht.
({2})
- Das ist keine Entgleisung. Wenn es eine Entgleisung ist, dann ist es eine Entgleisung von Ihrer Seite.
Das oberste Prinzip beim Wahlrecht ist der gleiche Erfolgswert aller Stimmen. One person - one vote, das müßte das Prinzip sein. Sie wissen, daß schon bei der vergangenen Wahl die CDU für die Wahl eines
CDU-Abgeordneten um einige Tausend Stimmen weniger brauchte als die Grünen für die Wahl eines ihrer Abgeordneten. Das heißt, daß Stimmen von Wählerinnen und Wählern der Grünen weniger gezählt haben als CDU-Wählerstimmen und das Ergebnis, wie es von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt wurde, verfälscht worden ist.
({3})
Das führt zu abstrusen und, wie ich meine, auch demokratieschädlichen Ergebnissen. Überlegen Sie sich doch einmal, was es bedeutet, wenn möglicherweise nach der nächsten Wahl eine erkennbare Mehrheit nach den Zweitstimmen errechnet wird und allen klar ist: Es regiert zum Beispiel wieder Ihre Koalition, obwohl sie abgewirtschaftet hat, aber dann durch Überhangmandate. Es wird nicht so kommen; es wird andersherum kommen. Das wissen Sie.
Sie haben es bei der irrsinnigen Regelung belassen, daß durch Überhangmandate die Mehrheitsverhältnisse gekippt werden können und vier Jahre lang eine andere Bundesregierung, als von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt ist, regieren kann. Das kann doch nicht im Sinne der Demokratie sein. Was bedeutet das für die Akzeptanz der Demokratie, aber auch der politischen Entscheidungen dieses Hauses? Daß Sie so etwas sehenden Auges beibehalten und dabei mitmachen, finde ich erschreckend.
Herr Schmidt, ich muß ihnen deutlich sagen: Sie haben den Konsens durch offenkundigen - wenn ich dieses Wort aufgreifen darf - Nonsens ersetzt.
({4})
- Das war der CDU-Schmidt. Ich kann Sie beide noch immer deutlich unterscheiden, auch wenn Sie häufig das „Schmidteinander" in erkennbarer Weise gepflegt haben. - Aber Sie haben wirklich Konsens durch Nonsens ersetzt. Das ist ärgerlich nicht nur für uns; das ist ärgerlich für dieses Land. Wir haben schon jetzt nur noch einen Überhang-, Übergangkanzler.
({5})
- Beides stimmt! Darum verwechsle ich die beiden im Alphabet nebeneinanderstehenden Laute so leicht. Überhang und Übergang sind nahe beieinander. - Aber nur mit den Überhangmandaten haben Sie überhaupt noch eine Chance, sich zu retten.
Ich hoffe auf einen so deutlichen Wahlsieg für RotGrün bei der nächsten Bundestagswahl, daß Ihnen auch die Überhangmandate nicht mehr helfen werden, Ihre verfehlte Politik weiter zu betreiben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich wollte gerade auf die „überhängende Zeit" hinweisen. Aber Sie haben das vorher bemerkt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Häfner, die letztgenannte Hoffnung, die Sie hier vermutlich vergebens ausgesprochen haben, ist jedenfalls nicht Inhalt des Schlußberichts der Reformkommission.
({0})
Zu der von Ihnen beschriebenen Situation wird es nicht kommen.
Wenn ich richtig gerechnet habe, steht das Thema „Verkleinerung des Bundestages" in dieser Wahlperiode bereits zum siebten Male auf der Tagesordnung. Das bedeutet dennoch nicht, daß die Verkleinerung strittig wäre. Im Gegenteil: Wir sind uns einig. Nicht nur die Verwaltung, auch das Parlament muß schlanker werden. Dies gilt auch und gerade im Hinblick auf den bevorstehenden Umzug nach Berlin. Die Zahl der Abgeordneten im 15. Deutschen Bundestag wird deutlich reduziert werden.
Wir haben im Oktober letzten Jahres mit der 13. Änderung des Bundeswahlgesetzes die Zahl der Abgeordneten auf künftig 598 festgelegt. Das bedeutet 299 direkt in Wahlkreisen gewählte Abgeordnete und dieselbe Zahl von über Landeslisten zu wählenden Abgeordneten. Manche halten die Verkleinerung für zu gering. Sie wollen deutlich weniger Abgeordnete. Es heißt immer wieder, der Bundestag sei im Vergleich zu anderen demokratischen Parlamenten zu groß. Dies ist falsch. In einer repräsentativen Demokratie darf die Zahl der Repräsentanten nicht zu klein sein, sonst geht die vielbeschworene Bürgernähe erst recht verloren.
Das britische Unterhaus, oft zitiertes Vorbild für die parlamentarische Demokratie, zählt 650 Abgeordnete. In Italien sind es 630 und in Frankreich 577 Abgeordnete. Aber die Zahl der Wahlberechtigten ist in diesen Ländern geringer. Schon jetzt hat der Bundestag nach Rußland, Japan und den USA mit einem Abgeordneten für 92 000 Wahlberechtigte eines der ungünstigsten Verhältnisse. Nach der Verkleinerung sind es über 100000 Wahlberechtigte je Abgeordneten. Diese Zahl ist doppelt bis dreifach so hoch wie die Zahl der Wahlberechtigten je Landtagsabgeordneten in den Bundesländern. Weder während der Weimarer Republik - anfangs mit 423, später sogar mit 647 Abgeordneten - noch in der Anfangszeit der Bundesrepublik mit damals 410 Abgeordneten gab es ein so ungünstiges Verhältnis von Abgeordnetenzahl zur Zahl der Repräsentierten.
Für eine weitergehende Verkleinerung des Bundestages wird ferner das Argument benutzt, ein kleinerer Bundestag wäre wesentlich arbeitsfähiger. Auch dies trifft nur scheinbar zu und hält einer
genaueren Betrachtung nicht stand. Denn die Größe zum Beispiel der Ausschüsse und Gremien richtet sich nicht nach der Gesamtzahl der Abgeordneten, sondern nach dem Parteienproporz. Wenn eine kleine Fraktion im Ausschuß zumindest mit einem Abgeordneten vertreten sein soll - das muß ja wohl so sein -, dann ergibt sich auf Grund der zu wahrenden Mehrheitsverhältnisse automatisch die Größe der Gremien. Umgekehrt würde eine zu starke Verkleinerung die kleinen Fraktionen faktisch von einer effektiven Teilhabe an den parlamentarischen Willensbildungsprozessen ausschließen.
Rund 30 Ausschüsse, Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen gilt es allein derzeit zu beschicken. Es darf aber nicht so weit kommen, daß eine zum Beispiel mit 10 Prozent in den Bundestag gewählte Partei - Sie sehen, ich spreche jetzt gar nicht von der F.D.P. ({1})
allein schon durch die Überlastung der einzelnen Abgeordneten mit Aufgaben und Funktionen an der effektiven Mitwirkung in diesen Gremien gehindert wird. Im Sinne der politischen Meinungsvielfalt ist es schließlich wünschenswert, daß auch die kleineren Parlamentsparteien aus allen Bundesländern mit Bundestagsabgeordneten vertreten sind. Die Gesamtzahl der Abgeordneten muß daher so bemessen sein, daß auch eine Partei mit einem Wählerreservoir von etwa 10 Prozent zumindest die Chance hat, aus möglichst allen Bundesländern Abgeordnete in den Bundestag zu entsenden. Denn eine Repräsentanz in der Fläche ist nicht nur für die einzelne Partei von Bedeutung, sondern für die Akzeptanz des parlamentarischen Systems insgesamt. Wäre sie nicht mehr gewährleistet, geriete unser ganzes Wahlrecht schnell in eine Schieflage.
Im übrigen kann auch das zum Beispiel vom Bund der Steuerzahler immer wieder angemahnte Kostenargument nicht überzeugen. Nicht nur, daß die Kosten umgerechnet pro Kopf der Bevölkerung und Jahr lediglich bei gut 10 DM liegen, ist hier von Bedeutung, sondern auch folgende Überlegung: Eine Verringerung der Zahl der Abgeordneten würde natürlich zu Einsparungen bei der Gesamtsumme der Diäten führen. Doch wenn es Abgeordnete zeitlich und arbeitsmäßig nicht mehr schaffen können, eine ordentliche Arbeit für einen zu großen Wahlkreis und für zu viele Themen und Gremien im Parlament zu leisten, würde der Druck zwangsläufig größer, den Mitarbeiterstab zu erhöhen und bestimmte Aufgaben an diesen zu delegieren. Gerade wer das Beispiel USA anführt, sollte auch wissen, daß dort die Abgeordneten ein Vielfaches an Mitarbeitern haben. Das käme dem Steuerzahler aber erst recht teuer.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. tritt daher für die angemessene Reduzierung des Bundestags auf 598 Sitze ein. Für ein Herummanipulieren am Wahlrecht steht die F.D.P. nicht zur Verfügung. Das haben wir vor einem Jahr anläßlich der Verabschiedung des 13. Wahlrechtsänderungsgesetzes deutlich gemacht. Dazu stehen wir auch jetzt. Denn gerade in diesen Tagen, in denen Reformen blockiert werden und mutige politische Neuansätze im Parteienclinch steckenbleiben, wird der Ruf nach einer Wahlrechtsänderung schnell wieder laut.
Von einem Mehrheitswahlrecht versprechen sich manche den Ausweg aus der Entscheidungsblokkade. Davor können wir, wie Sie verstehen werden, nur warnen.
({2})
Deutschland würde um ein großes Stück politischer Vielfalt gebracht. Daß die F.D.P. und etwa auch die Grünen dieser Meinung sind, ist klar. Aber auch Bundespräsident Roman Herzog sieht dies so. In der „Berliner Zeitung" vom 17. September dieses Jahres erklärt er - ich zitiere -:
Aber ich habe schon in den 60er Jahren darauf hingewiesen, daß eine Verbitterung der Bürger entstehen würde, wenn durch ein Wahlsystem, also durch einen juristischen Federstrich, die bestehenden kleinen Parteien herauskatapultiert würden.
Dem ist, so glaube ich, nichts hinzuzufügen.
Das Mehrheitswahlrecht wäre also der falsche Weg zur Lösung der Strukturprobleme unseres politischen Systems. Nicht die Größe des Bundestags, nicht das Wahlrecht, sondern auch das inzwischen entstandene Maß an Vermischung der Verantwortung zwischen den Institutionen, vor allem zwischen den Ländern und dem Bund, hat die derzeitige Blockadesituation maßgeblich mit beeinflußt.
Wir brauchen zur Lösung der dringenden Probleme daher klare Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Die Zahl der Länder werden wir vermutlich nicht so leicht verringern können. Aber Graf Lambsdorff hat recht: Wir brauchen eine Reform des föderalen Systems der Bundesrepublik. Dazu muß zwingend gehören: erstens eine deutlichere Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenz und Aufgabenverantwortlichkeiten des Bundes und der Länder, zweitens eine klarere Verteilung der Einnahmequellen in der Finanzverfassung zwischen Bund und Ländern
({3})
und schließlich drittens die Schaffung leistungsstarker Bundesländer. Denn Voraussetzung für einen funktionsfähigen Föderalismus sind Länder mit vergleichbarer Wirtschafts- und Finanzstärke.
Wir wollen starke Länder mit klaren Kompetenzen und ausreichender Finanzausstattung. Wir wollen aber auch klare Entscheidungsbefugnisse des Bundes. Aus einem klassischen System der horizontalen Gewaltenteilung ist unser Föderalismus allmählich zu einem System der Gewaltenhemmung geworden. Können wir uns das in der augenblicklichen Situation wirklich leisten? Das ist die Frage.
({4})
Diese Strukturprobleme müssen wir angehen. Mit einer Änderung des Wahlrechts dagegen wären wir keinen Schritt weiter.
Vor diesem Hintergrund begrüßt die F.D.P. ausdrücklich die jetzt vorgelegten Empfehlungen der Reformkommission. Danach bleibt es auch künftig so, daß die Bevölkerungszahl die maßgebliche Bemessungsgrundlage für die Wahlkreiseinteilung ist. Es wird nichts am Verhältnis der Zahlen von Direkt- und Listenmandaten geändert. Es wird nichts an der Fünfprozentklausel geändert. Es wird nichts an der Grundmandatsklausel und der Regelung der Überhangmandate geändert. Wir sehen uns darin auch durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom April dieses Jahres bestätigt. Dies gilt im übrigen auch für die von der Reformkommission vorgeschlagenen Abweichungen, bei denen ein Neuzuschnitt von Wahlkreisen vorgenommen werden muß. Künftig werden Abweichungen von über 25 Prozent nicht mehr geduldet. Auch dies ist ein wesentliches Element, Herr Kollege Häfner, um schon für die Wahl 1998 und erst recht für die späteren Wahlen Verfälschungen von Wahlergebnissen - das sage ich bewußt - durch Überhangmandate weitgehend auszuschließen.
Meine Damen und Herren, bei der Verkleinerung des Bundestags und damit bei' der Veränderung der Wahlkreise tut sich eine Parallele zu anderen Veränderungen auf, die wir schon vollzogen haben. So wurden etwa bei der Verkleinerung der Bundeswehr aus Demonstranten gegen die Bundeswehr plötzlich Kämpfer für die Erhaltung der jeweiligen Standorte. Ähnliches erleben wir jetzt beim Bundesgrenzschutzkonzept. Viele Sparapostel werden nun zu rastlosen Briefeschreibern, da es um ihren Wahlkreis und dessen Zuschnitt geht. Plötzlich geht es nicht mehr um „die da oben in Bonn", sondern um „unseren Abgeordneten im Wahlkreis". Nicht von ungefähr haben daher eine Reihe von Bundesländern lange gezögert, überhaupt eigene Vorschläge für die Reduzierung beizusteuern.
Wir sind froh, daß mit der von der Reformkommission vorgeschlagenen Wahlkreiseinteilung die Voraussetzung dafür geschaffen ist, daß wir auch dieses Problem in absehbarer Zeit, das heißt noch in diesem Jahr im Innenausschuß einer vernünftigen Lösung zuführen werden.
Bei dieser Gelegenheit - dies ist mein Schlußgedanke - sollten wir uns auch darauf verständigen, ob nicht Art. 39 des Grundgesetzes so geändert werden kann, daß der Wahltermin künftig nicht immer weiter im Jahr zeitlich zurückwandert, bis er schließlich in die Sommerferien fällt, wo er sicher nicht hingehört. Wir sollten Art. 39 im Zuge dieser gesamten Reform so gestalten, daß der Wahltermin im Herbst bleibt, wie er von den Wählern gut akzeptiert wird.
Ich schließe mit dem Dank an alle, die an der Abfassung des vorzüglichen Abschlußberichts beteiligt waren.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Reform, nein, eigentlich eine Revolution erschüttert das Hohe Haus. Gewaltige Umwälzungen werfen ihre langen Schatten voraus. Nichts wird mehr sein wie früher. Mit der Verkleinerung des Parlaments wird das politische System in seinen Grundfesten getroffen. Endlich, endlich werden die Bürgerinnen und Bürger wieder voller Ehrfurcht auf dieses Hohe Haus blicken.
Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man die ersten Reden hier verfolgt hat. Ich will allerdings daran erinnern, was der Ausgangspunkt für die Arbeit der Reformkommission gewesen ist. Der Ausgangspunkt war immerhin das hehre Ziel einer grundlegenden Reformierung des Parlaments. Man muß sich heute ernsthaft fragen, was davon tatsächlich übriggeblieben ist:
({0})
eine vollmundige Ankündigung, die wie Seifenblasen geplatzt ist. Nein, die kräftige Diätenerhöhung darf ich natürlich nicht vergessen.
Um nicht mißverstanden zu werden: Die PDS ist nicht unbedingt gegen eine Verkleinerung des Parlaments; denn auf den Hinterbänken der großen Fraktionen sitzen viel zu viele Leute ihre Zeit ab.
({1})
Das aber als Reform des Parlaments, besser: des parlamentarischen Systems zu verkaufen ist letztlich nur ein Griff in die politische Trickkiste.
Ich will unsere Kritik an der Verkleinerung des Deutschen Bundestages in der Form, wie sie vorgenommen werden soll, noch einmal vortragen. Sie bedeutet eben keineswegs eine Parlamentsreform im Sinne der Erweiterung und Verbesserung der parlamentarischen Demokratie, nämlich der parlamentarischen Vertretung der Bevölkerung.
Dies zeigt sich unter anderem auch darin, daß die Wahlkreise erheblich vergrößert werden sollen und so den Abgeordneten der unmittelbare Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern in den Wahlkreisen erschwert werden soll. Offenkundig ist das aber auch so gewollt. Zudem bleibt der bürokratische Apparat des Bundestages und der Regierung das, was er ist.
Das bedeutet, daß ohne eine grundlegende Reform und Stärkung der Abgeordnetenkompetenzen und der Kompetenzen des Parlaments überhaupt - insbesondere gegenüber der Regierung - die Regierungslastigkeit des Bundestages weiter zunehmen wird. Gestern stand unter anderem das Problem der Anzahl Bundesminister und der Parlamentarischen Staatssekretäre zur Debatte. Da sollte man anfangen; aber man sollte wesentlich weiter gehen.
Nicht einmal mehr eine Regelung zur Kompensation der Überhangmandate wird empfohlen. Da beruft man sich nun auf die Mehrheitsentscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, obDr. Dagmar Enkelmann
wohl die Mehrheit des Senates ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate bei der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag keine Vorentscheidung über die generelle Frage nach deren politischem Sinn oder Unsinn bedeutet.
Wir bleiben dabei, daß eine Kompensation politisch dringend geboten wäre. Die große Zahl der Überhangmandate bei der letzten Wahl hat letztlich den Willen der Wählerinnen und Wähler ignoriert und im Ergebnis verfälscht.
Nahegelegt wird eine solche Kompensation durch das Minderheitenvotum des Zweiten Senats. Offenkundig sind solche Entscheidungen durchaus sehr unterschiedlich auslegbar.
Mich wundert ein wenig die Zaghaftigkeit der SPD. Die heutige Ankündigung, daß jetzt gehandelt werden soll, kann man nur begrüßen.
Die Empfehlungen der Reformkommission bestätigen, daß eine grundlegende Parlamentsreform nicht gewollt ist. Wenn man sich wirklich um Effektivität der parlamentarischen Arbeit sorgte, dann müßte man dort anfangen, wo aus Gründen einer Beschäftigungstherapie für anderweitig nicht zu beschäftigende Abgeordnete inzwischen mehr als 250 Gremien eingerichtet wurden, und zwar einschließlich Apparaten und entsprechender finanzieller Mittel. Ich denke, hier könnte in ganz anderen Größenordnungen gespart werden.
Wenn es tatsächlich um mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit parlamentarischer Entscheidungen geht, muß man bei einer grundsätzlichen Öffentlichkeit parlamentarischer Gremien ansetzen, bei der Ausweitung der Kontrollrechte gegenüber der Regierung, dem Ausbau des Petitionsrechts usw., usf. Entsprechende Vorschläge sind an vielen Stellen auch von der PDS gemacht worden.
({2})
Wenn man sich wirklich Sorgen um die Politikverdrossenheit macht - vielleicht sollte man besser „Politikerverdrossenheit" sagen -, dann wird es wenig helfen, daß statt 672 Abgeordneten dann nur noch 598 Abgeordnete im Plenum sitzen oder eben auch nicht.
({3})
Die PDS fordert eine deutliche Wende hin zu unmittelbarer und verbindlicher Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen. Eine solche Wende würde bei Veränderungen des Wahlrechts beginnen - auch hierzu liegen unsere Vorschläge vor -, ginge über die Ausgestaltung einer Volksgesetzgebung - wir fordern auch den Volksentscheid auf Bundesebene ({4})
und reichte bis zur Einrichtung des Amtes eines Bürgerbeauftragten; auch darüber wird momentan diskutiert.
Das wäre eine wirkliche Reform; das würde zu mehr Glaubwürdigkeit des Parlaments und letzten Endes seiner Abgeordneten führen. Das würde parlamentarische Demokratie stärken, aber genau dieses Signal, Herr Kollege Schmidt, ist hier heute ausgeblieben.
({5})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/7950 und 13/8270 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 1. Juni 1995
Konzept Nachhaltigkeit
Fundamente für die Gesellschaft von morgen
- Drucksachen 13/1533, 13/7400, 13/7415 ({0})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Es liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Vorwort des Zwischenberichts der Enquete-Kommission ist mit dem Satz aus „Alice im Wunderland" überschrieben: „Bitte sage mir, welchen Weg ich gehen soll!" Die Antwort lautet: „Das hängt davon ab, wohin du willst."
Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" tagte zwar im Deutschen Bundestag und nicht im Wunderland,
({0})
obwohl man über manche Entwicklungen hier im
Bundestag immer wieder ins Staunen gerät; das Zitat
ist dennoch ein Schlüssel für unsere Arbeit. Deshalb hat es in dem Vorwort seinen Platz.
Wir haben nach rund zweijähriger Tätigkeit einen gemeinsamen Zwischenbericht vorgelegt. Bei unserer Arbeit geht es darum, daß wir einen Weg in eine zukunftsfähige, nachhaltige Gesellschaft aufzeigen wollen. Wir wollen diesen Weg finden und beschreiben.
Wir stehen im Moment an einer entscheidenden Wegekreuzung. Weitermachen wie bisher ist angesichts unserer Umweltsituation keine Perspektive. Unser Wirtschafts- und Wohlstandsmodell ist schon bei uns nicht zukunftsfähig. Es kann auch kein Modell dafür sein, wie andere Länder ihre Zukunft gestalten sollen.
Nachhaltigkeit beschreibt das Leitbild, daß wir zukünftigen Generationen die gleichen Lebenschancen einräumen wollen, wie wir sie heute haben. Es geht also darum, von den Zinsen der Natur statt vom Naturkapital zu leben.
In Zeiten eines sich verschärfenden Wettbewerbs und immer enger werdender weltwirtschaftlicher Verflechtungen haben Umweltbelange in der Politik einen schweren Stand. Manche stellen sich die Frage, ob Umweltpolitik in der globalisierten Wirtschaft zur Illusion wird. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall: Wir haben globale Herausforderungen; denken wir nur einmal an die derzeitige Situation in Malaysia. Die Globalisierung bietet uns auch Chancen; denn es globalisieren sich nicht nur die Wirtschafts-, Waren- und Geldströme, sondern auch die Umweltstandards. Wir müssen gemeinsam eine Weltinnenpolitik gestalten.
({1})
Wir haben in New York aber auch gelernt, daß es töricht wäre, allein auf die internationale Seite zu hoffen und nicht auch auf nationaler Ebene das zu tun, was wir tun könnten und sollten. Das heißt, wir brauchen dringend eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, um zu zeigen, mit welchen Instrumenten, Maßnahmen und Zielen wir die Weichen für die Zukunft stellen können.
Ich finde es bemerkenswert, daß sich der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Schäuble, in einer vielzitierten Rede vor der CSU in Ingolstadt eindeutig positiv zum Thema nachhaltige Entwicklung geäußert hat. Wir können dem, was dort gesagt wurde, in vielen Punkten eigentlich nur zustimmen.
({2})
Es ist aber wichtig, daß dies auch in den entsprechenden Fraktionen so gesehen wird. Vielleicht haben wir da eine Chance, dies gemeinsam zu gestalten.
({3})
Herr Fritz, ich hätte erwartet, daß Sie für Ihren Fraktionsvorsitzenden klatschen. Aber gut, das war ein Angebot zur Zusammenarbeit auch hier im Plenum.
Es ist ganz interessant, daß immer nur ein Teil der Rede von Herrn Schäuble zitiert wird.
({4})
Ich fand die Aspekte Globalisierung und Regionalisierung sowie die Frage, was man in der Politik eigentlich noch gestalten kann, sehr bemerkenswert. Wir müssen uns fragen: Warum gelingt es uns bislang so wenig, dieses Thema bei uns in der Bundesrepublik zu verankern?
Wir haben uns in der Enquete-Kommission überlegt, daß es wenig Sinn macht, den Schadstoff der Woche oder den Skandal des Monats in den Mittelpunkt zu stellen. Wir brauchen vielmehr eine langfristige Weichenstellung und Orientierung. Deshalb ist es notwendig, Zielvorgaben zu entwickeln. Wir haben die Erarbeitung von Umweltzielen in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit gestellt.
Das beste Beispiel hierfür ist der Flächenverbrauch. Jeder im Saal wird mir zustimmen, daß der Flächenverbrauch von täglich 100 Fußballfeldern alles andere als nachhaltig ist und daß es gelingen muß, hier zu einem gemeinsam erarbeiteten Umweltziel zu kommen.
({5})
Wir haben im Zwischenbericht 30 Ziele für den Bereich Boden und Fläche angedacht und diskutiert. Wir werden uns im Abschlußbericht bemühen, diese Ziele zu quantifizieren. Hierbei - das können Sie der Frau Umweltministerin ausrichten, Herr Hirche - stehen wir an der Seite der Frau Umweltministerin, die in dieser Woche gefordert hat, daß Umweltziele politisch quantifiziert werden müssen, um eine politische Richtung vorzugeben, in die man dann gemeinsam geht. Hier gibt es überhaupt keinen Unterschied in der Bewertung. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, diese Umweltziele im Endbericht zu beschreiben.
Wir wollen in unserem Endbericht aber auch beschreiben, wie wir diese Umweltziele erreichen und wie wir eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten können. Wir glauben, daß es nicht genügt, ein Umweltziel zu beschreiben - ich denke in diesem Zusammenhang nur an das CO2-Reduktionsziel der Bundesregierung -, sondern daß man dann eben auch über Instrumente und Maßnahmen diskutieren muß, mit denen man diese Ziele zu erreichen glaubt. Wir müssen feststellen, daß es teilweise an politischem Mut fehlt, die Empfehlungen, die die Enquete-Kommission als Instrument der Politikberatung für den Deutschen Bundestag erarbeitet hat, dann auch umzusetzen. Ich hoffe, daß wir es angesichts eines gemeinsamen Zwischenberichts und eines dann gemeinsam zu erstellenden Endberichts zusammen schaffen werden, den Mut aufzubringen, die Empfehlungen in politisches Handeln umzusetzen. Denn es macht ja wenig Sinn, immer nur neue Berichte zu schreiben, ohne daß das wirklich umgesetzt wird.
({6})
Wir haben im Zwischenbericht auch Themen aufgegriffen, bei denen wir glauben, daß es in der BunMarion Caspers-Merk
desrepublik Deutschland einen Handlungsbedarf gibt. Ich nenne in diesem Zusammenhang ganz bewußt das Thema „Lokale Agenda 21". Sie bietet die Chance, in der Kommunalpolitik einen neuen Meinungsbildungs- und Partizipationsprozeß anzustoßen. Wir glauben, daß wir hier nach dem Motto handeln müssen: Global denken, lokal handeln. Nur frage ich: Wo bleibt dieses Prinzip, wenn bislang nur 10 Prozent der deutschen Städte und Gemeinden eine lokale Agenda 21 erarbeitet haben? Unsere Enquete-Kommission hat die erste bundesweite Anhörung dazu gemacht und hat damit, glaube ich, einen sehr wichtigen Prozeß angestoßen. Ich bin sehr froh, daß sich mittlerweile ausweislich einer zweiten Umfrage des Deutschen Städtetages wesentlich mehr Kommunen auf diesen Schritt eingelassen haben. Ich appelliere in diesem Zusammenhang nochmals an die Bundesregierung, die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker bei diesem Prozeß adäquat zu unterstützen.
({7})
Ich finde es nicht in Ordnung, daß Tony Blair bei der Sondergeneralversammlung in New York angekündigt hat, daß bis zum Jahr 2000 100 Prozent der Kommunen in England ein solches Konzept für eine zukunftsfähige Kommunalentwicklung erarbeiten werden und daß wir bei dieser Entwicklung im hinteren Mittelfeld - um nicht zu sagen: abgehängt - sind. Deswegen bedarf es großer Anstrengungen von seiten des Bundes, aber auch der Länder, um die Kommunen bei dieser wichtigen Aufgabe zu unterstützen.
({8})
Wir haben in der Enquete-Kommission gemeinsam einen langen Weg zurückgelegt. In der 12. Legislaturperiode stand noch das Thema der Schadstoffminderung und der Chemiepolitik im Zentrum unserer Diskussionen. Heute geht es um die Frage der Zukunftsfähigkeit allgemein und auch darum, wie wir diese Weichenstellung in Richtung Zukunftsfähigkeit hinbekommen können.
Wir haben festgestellt, daß es Instrumente für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie gibt, die zentral sind. Das Konzept für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie und einen nationalen Umweltplan darf nicht das Konzept einer Partei oder einer Interessengruppe sein. Es muß gegebenenfalls - so steht es in meinem Manuskript; ich füge hinzu: hoffentlich - auch einen Regierungswechsel überstehen. Es muß so angelegt sein, daß es ressortübergreifend verankert ist. Wir brauchen endlich einen breiten gesellschaftlichen Diskurs; dieser fehlte bislang. Auf der einen Seite gibt es Regierungsprogramme, die erarbeitet wurden, und auf der anderen Seite gibt es Empfehlungen der Enquete-Kommission. Aber es gab niemals eine systematische Einbeziehung der gesellschaftlichen Gruppen. Ich glaube, daran fehlt es.
Ich will an die Debatte über den Bericht der Reformkommission, die wir eben geführt haben, ausdrücklich anknüpfen. Wir merken doch, daß es einen Reformbedarf auch bei unseren Institutionen gibt. Nirgendwo ist in unseren Institutionen des Parlamentarismus das Prinzip der Nachhaltigkeit bislang verankert.
({9})
Vielmehr haben wir diese Querschnittsaufgabe aufgespalten und auf die unterschiedlichsten Ressorts verteilt. Es gibt unterschiedliche Sachverständigenräte, zum einen solche für Wirtschaftsfragen und zum anderen solche für Umweltfragen. Es gibt keine Querschnittsorientierung und keine Zusammenarbeit. Wo der Ressortegoismus überwiegt, bleibt die Nachhaltigkeit auf der Strecke. Deswegen müssen wir im Abschlußbericht - wir werden dies auch tun - ganz klar auch zu dem Thema institutionelle Reformen Vorschläge unterbreiten.
({10})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Kollegin CaspersMerk, halten Sie es für ein Anzeichen großen Interesses der Bundesregierung an der Arbeit der EnqueteKommission und an der notwendigen interdisziplinären Umsetzung der Ergebnisse der Enquete-Kommission, daß auf der Regierungsbank nur der Parlamentarische Staatssekretär des Umweltministeriums sitzt und sonst überhaupt kein Ressort vertreten ist?
Die Frau Bundesumweltministerin hat sich entschuldigt. Es ist ein Problem - da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu -, daß der Arbeit der Enquete-Kommission von der Regierung häufig zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schließlich ist sie ein Politikberatungsinstrument des Parlaments, und darauf sollten wir stolz sein. Wir haben uns damit weltweit eine einmalige Chance geschaffen. Aber die Ergebnisse müssen auch ernstgenommen und umgesetzt werden. Das war in der Tat in der Vergangenheit zuwenig der Fall.
Bei der Zusendung und Kommentierung des Berichts war auffallend, daß die Zahl der internationalen und europäischen Korrespondenz um den Faktor zehn höher war als die der Stellungnahmen des Bundes und der Länder. Große Aufmerksamkeit haben wir allerdings - ich will berichten, daß die 12 000 Exemplare des Zwischenberichts vergriffen sind - von vielen Nicht-Regierungsorganisationen, Universitäten und jungen Menschen erhalten, die sagen:
Endlich beschäftigt sich einmal eine Kommission des
Bundestags mit unserer Zukunft; das interessiert uns.
({0})
Ich will - als Vorsitzende habe ich die Aufgabe, darzustellen, wie wir gearbeitet haben - ein Wort des Kollegen Fritz aufgreifen. Der Kollege Fritz hat einmal richtig gesagt: Es ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, mit 30 Personen ein Buch zu schreiben. Das ist in der Tat so, weil sich jeder in einzelnen Kapiteln wiederfinden will.
Uns ist aber ein parteiübergreifender Konsens zur Erarbeitung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und zur Erarbeitung von quantifizierten Umweltzielen gelungen. Wir haben wirkliche Pionierarbeit im Bereich des Flächenverbrauchs und im Bedürfnisfeld Bauen und Wohnen geleistet. Wenn dies aufgegriffen würde und wenn das Thema Nachhaltigkeit nicht nur ein einzelner Debattenbeitrag bliebe, sondern als Grundmelodie auch bei den anderen Debatten einfließen könnte, hätten wir viel erreicht.
Abschließend möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit bedanken. Den Sachverständigen und externen Experten - schließlich ist es ein runder Tisch in der Kommission, an dem Abgeordnete und Experten gleichberechtigt zusammenarbeiten - und vor allen Dingen dem engagierten und motivierten Sekretariat der Enquete-Kommission, das für uns die vielen wissenschaftlichen Gutachten aufbereitet und lesbar gemacht und für einen guten Zwischenbericht mit gesorgt hat, möchte ich herzlichen Dank sagen.
Ich darf Ihnen ankündigen: Den Schlußbericht wollen wir in genau der gleichen Qualität machen. Wir verstehen uns als die Speerspitze für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Dabei soll es bleiben.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz.
Meine Damen und Herren! Herr Kuhlwein, die Bundesregierung hat sich gerade durch ein wichtiges Ressort, das Wirtschaftsressort, verstärkt.
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Ihre etwas abschätzige Bemerkung zum Postministerium muß ich gleich zurechtrücken. Es gibt überhaupt nichts Nachhaltigeres als das, was das Postministerium tut, nämlich sich abzuschaffen. Wenn das manch anderer an anderer Stelle tun würde, wäre das sehr hilfreich.
Meine Damen und Herren, die Diskussion des Zwischenberichts der Enquete-Kommission gibt zunächst einmal Anlaß - Frau Caspers-Merk, Sie haben das bereits getan -, den Beteiligten, den Kollegen und Mitarbeitern in der Kommission, aber auch all denjenigen, die Informationen und Sachverstand in vielfältiger Weise eingespeist und dadurch wesentlich dazu beigetragen haben, daß die Arbeit geleistet werden konnte, zu danken.
Die Enquete-Kommission arbeitet in einem ganz anderen Umfeld als in der letzten Legislaturperiode. Damals hatten wir sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal. Wir waren diejenigen in Deutschland, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Viele standen dem Ziel der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung mißtrauisch gegenüber; viele wußten auch noch gar nichts damit anzufangen. Mittlerweile hat die Diskussion über mögliche Konzepte für nachhaltige Entwicklung in Deutschland an Breite gewonnen.
Die grundsätzliche Arbeit der Kommission steht im Wettbewerb mit Entwürfen von Nichtregierungsorganisationen und Verbänden. Die internationale Diskussion geht weiter. Nachbarländer haben Konzepte entwickelt. Bundesbehörden - nicht zuletzt das Bundesumweltministerium - und Bundesländer arbeiten ganz konkret an Schritten hin zu einem Konzept der Nachhaltigkeit.
Diese Parallelität kann nur nützen. Ich glaube, sie zeigt auch, daß die Diskussion der letzten fünf Jahre nicht umsonst war. Es ist wie auf der Rennbahn im Stadion: Wenn man alleine seine Runden zieht, dann wird man schnell müde. Wenn noch andere da sind, dann motiviert das; denn man möchte nicht überholt werden. Insofern ist es auch ein Ansporn für die Kommission, daß viele im Wettbewerb mit ihr stehen.
Durch das gleichzeitige Vorangehen hat sich die an die Arbeit der Kommission gerichtete Erwartung natürlich erhöht. Dabei ist uns selbst klargeworden, daß nicht alle Facetten dessen, was im Einsetzungsbeschluß des Deutschen Bundestages steht, von der Kommission auch erfüllt werden kann. Ich glaube dennoch, daß die Kommission ganz wichtige Schritte getan und einige eingeleitet hat, die die Diskussion aller Beteiligten weiter befruchten werden.
Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission zeigt deutlich, daß der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung nicht mit isolierten umweltpolitischen Handlungsoptionen beschritten werden kann. Deshalb war mir einiges von dem, was Frau CaspersMerk gesagt hat, etwas zu stark auf die Umweltseite konzentriert. Vielmehr brauchen wir einen integrativen Ansatz - wir denken, daß wir ihn in der Kommission gefunden haben -, der soziale, ökonomische und ökologische Ziele im Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung zusammenführt.
Das ist im übrigen auch das, was die Christlich Demokratische Union bei der Verabschiedung des Grundsatzprogramms unter „ökologische und soErich G. Fritz
ziale Marktwirtschaft" verstanden hat. Deshalb ist es überhaupt nicht erstaunlich, daß die Rede von Herrn Dr. Schäuble neulich, die mit Recht viel zitiert wird, weil es eine gute Rede ist, dies zum Inhalt hatte. Sie trifft den Kernbereich dieser Problematik; aber damit sind wir noch nicht am Ziel dieser Diskussion.
Frau Caspers-Merk, Sie haben die Frage gestellt, warum es eigentlich so schwer ist voranzukommen. Ich glaube, die Antwort ist ganz einfach: Dieser Ansatz verlangt so viel Bereitschaft, sich auf neues Denken einzulassen, daß dies von einer Gesellschaft, die lange Jahre nur darauf konzentriert war, in welcher Zeit etwas besser, in welcher Zeit etwas mehr wird, eine völlige Umstellung des normalen Interessenspiels erfordert. Denn schließlich sind wir weitgehend nach Interessen organisiert. Was wir in der letzten Periode im Zusammenhang mit der chemischen Industrie erlebt haben, macht aber Mut und zeigt, daß dann, wenn man sich bemüht, den Gedanken im Diskurs voranzutreiben, ein Ergebnis herauskommt und die Verantwortlichen sich darauf einlassen, weil sie feststellen: Dies ist ein Weg, auf dem man eine neue Entwicklung in Gang setzen kann.
An manchen Stellen wird die Rolle des Staates noch überschätzt. Ich glaube, auch in diesem Haus gibt es dafür einige Beispiele. Ich sage: Ja, der Staat kann im ökologischen Bereich durchaus verbindliche Ziele setzen. Das hat die Enquete-Kommission beispielhaft in den Bereichen „Böden" sowie „Bauen und Wohnen" aufgezeigt. Wir haben Umweltziele, Umweltqualitätsziele und Umwelthandlungsziele definiert. Ich staune über das Echo auf dieses Bemühen. Das ist ein Baustein, den andere aufgreifen und in Regierungshandeln umsetzen können.
Aber ansonsten muß in der nachhaltigen Entwicklung die Rahmensetzung so erfolgen, wie sich das in der sozialen Marktwirtschaft bewährt hat. Die Steuerung geschieht im ökonomischen und sozialen Bereich, nicht vorwiegend über Gesetze, sondern über den Markt, über persönliche Wertentscheidungen, über staatliche Rahmenbedingungen, ganz entscheidend über Einstellungsveränderungen im gesellschaftlichen Bereich. Dieser Prozeß unterliegt unendlich vielen Einflußfaktoren. Diese sind in einer Kommission gar nicht so leicht zu erfassen.
Deshalb kann nur scheitern, wer jetzt meint, noch so gut gemeinte Pläne, die sich auf die Dekretierung durch den Staat verlassen, seien die Lösung des Problems. Da steckt der Fehler schon im System; denn die jeweils entstehende Tendenz zur Überregulierung liegt ja im System Staat begründet. Deshalb muß eine zukunftsfähige Strategie zur Nachhaltigkeit die privaten Akteure viel stärker im Blick haben als die herkömmliche Umweltpolitik.
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Die stärkere Übertragung von Verantwortung auf Private wird aber nur gelingen, wenn man den Mut hat, mehr Vertrauen in die Eigenverantwortung, die Übernahme von Verantwortungsbereitschaft und das Eigeninteresse der privaten und wirtschaftlichen Akteure zu legen. Die Bereitschaft dazu korrespondiert natürlich wieder mit der Frage, wie die Rahmensetzung des Staates erfolgen wird. Wir haben also eine Situation, die geradezu die Steuerungsinstrumente und die Mobilisierung der Bürger im Erhardschen Sinne herausfordert. Vielleicht sollten wir uns das noch einmal anschauen.
Die Arbeit der Enquete-Kommission wird am Ende daran gemessen werden, ob es ihr gelingt, einen offenen, für breite Beteiligung und Mitgestaltung geeigneten Weg für eine Strategie der Nachhaltigkeit in Deutschland zu finden. Auf die Suche gemacht haben sich viele. Das ist gut so. Es muß ein Suchprozeß sein, weil nur dadurch ein Zusammenwirken von staatlichen und privaten Akteuren möglich wird. Wir brauchen in diesem Prozeß den Einsatz der Politik und der Unternehmen, der privaten Organisationen und der Gewerkschaften. Wir müssen den privaten Architekten genauso erreichen wie die privaten Haushalte, die Handwerksmeister, die kleinen Institute, wie die großen Einheiten und Initiativen.
Vor allen Dingen muß der langfristige Vorteil einer Veränderung für jedermann erkennbar werden. Es ist, glaube ich, eine der Schwächen bei unserer Diskussion, daß alle noch denken, da komme etwas Bedrohliches auf sie zu, etwa, was ihnen viel abfordere. Wir müssen viel stärker betonen, welche Chancen auf Dauer für die Entwicklung unserer Gesellschaft in einer solchen Veränderung stecken.
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Die Enquete-Kommission muß bis zum Ende der Legislaturperiode nach diesen Erfahrungen vor allem die Gestaltbarkeit dieses noch weitgehend zufälligen, sehr pluralen Prozesses deutlich machen und Grundlagen für die nötigen Rahmenbedingungen erarbeiten. Für den Bereich der Ökologie ist dazu ein gutes Beispiel gelungen; ich habe es gerade schon angeführt.
Ich glaube, daß wir durch die Definition und die Entwicklung eines Rasters für konkrete Umweltziele, Umweltqualitätsziele und Umwelthandlungsziele den Dialog ein ganzes Stück beeinflußt haben, weil wir für Vereinheitlichung sorgen. Es wird an mehr Stellen die gleiche Sprache gesprochen. Das ist ein wichtiger Fortschritt.
Wesentlich schwieriger als die Festlegung von Zielen im ökologischen Bereich ist allerdings die Abwägung mit ökonomischen und sozialen Zielen. In beiden Bereichen hat der Staat nur eingeschränkte Möglichkeiten der Einflußnahme. Die Wertvorstellungen und Ziele entstehen dort viel stärker individuell und sind weniger direkt durch staatliches Handeln zu beeinflussen. Aus diesen Gründen wird die Formulierung entsprechender Ziele in der Kommission nicht einfach sein. Sie ist auch nicht aus sozusagen wissenschaftlich begründeten Vorgaben wie bei Schadstoff- oder Umweltbelastungsgrenzen abzuleiten.
Es kann also nur darum gehen, den Rahmen darzustellen, der mit ökologischen Zielen korreliert oder auch konkurriert, und eine offene Diskussion über die Abwägung zu ermöglichen. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, einmal zu zeigen, daß das überhaupt geht, daß es möglich ist, daß man das nicht dem ZuErich G. Fritz
fall überlassen muß, sondern daß es dafür Prozesse geben kann, die nicht zufällig oder gottgewollt oder was auch immer sind, sondern, für jedermann durchschaubar, zu Ergebnissen führen. Es wird ein wichtiger Lernprozeß für die nötigen Auseinandersetzungen um das Maß ökologischer Zielsetzungen sowie um die Wahl der richtigen Instrumente und den Zeitrahmen sein, in dem die Ziele erreicht werden können.
Wichtiger aber als alle quantitativen Vorgaben ist in diesem Prozeß die Entwicklung von Formen der Beteiligung der Akteure, auf deren freiwilliges und bewußtes Verhalten eine Nachhaltigkeitsstrategie unerläßlich angewiesen ist. Ich glaube, daß nur dann, wenn das gelingt, eines der Papiere, die es bis heute schon gibt, auf Dauer überhaupt eine Wirkung erzeugen wird. Ansonsten wird das alles nur Papier bleiben. Viele der Länder, die wir gesehen haben und mit denen wir gesprochen haben, legen den Verdacht nahe, daß es dabei bleiben soll.
Die Anhörungen der Enquete-Kommission haben gezeigt, daß an vielen Stellen in Deutschland nach Wegen gesucht wird. Unternehmen haben ihre Bemühungen um betriebswirtschaftlich und ökologisch vernünftige Verringerungen des Material- und Energieeinsatzes vorgestellt. Nichtregierungsorganisationen haben ihre Bemühungen um neue Ansätze bei der Nachhaltigkeitsstrategie vorgestellt und werden in Kürze in einer weiteren Anhörung zu Wort kommen. Viele Initiativen im Rahmen der lokalen Agenda 21 arbeiten am gleichen Ziel. Frau CaspersMerk hat zu Recht gesagt, es könnten noch mehr sein. Aber man muß dazu sagen: Unabhängig von der politischen Mehrheit in den jeweiligen Gemeinden haben diese Initiativen ganz unterschiedliche Unterstützung in ihrem kommunalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld. Nicht überall haben sie solche Startvorteile wie in Bayern, dem Land, in dem man als erstes den Schritt unternommen hat.
Die Bundesregierung unterstützt unsere Arbeit durch die Arbeit des Bundesumweltministeriums. Anregungen sind schrittweise auch schon umgesetzt und weiterentwickelt worden. Die Arbeitsgruppen des Bundesumweltministeriums für „Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung" haben bereits im Juni 1997 erste Ergebnisse vorgelegt. Dies ermuntert uns, diesen Weg weiterzugehen. Dies dient auch einer Verbreiterung der Basis.
Aufgabe der Enquete-Kommission ist es, die Zieldefinition über den rein ökologischen Bereich hinaus auch durch Abwägung mit ökonomischen und sozialen Zielen zu konkreten Handlungsoptionen zu entwickeln. Kriterien und Ziele müssen so gefaßt werden, daß sie in einer breiten öffentlichen Diskussion die Bereitschaft zur Veränderung fördern. Die Instrumente, die zum Erreichen so gefundener Ziele eingesetzt werden können, müssen eine vernünftige und akzeptierbare Mischung aus staatlichen Rahmenbedingungen und privaten Veränderungsmöglichkeiten darstellen.
Es geht darum, daß diejenigen, die konkret etwas verändern müssen, auch den Gestaltungsspielraum dafür haben, daß sie ermuntert werden und sehen, daß sich damit auch ihr eigener Vorteil verbinden kann.
Die Erfolge der Umweltpolitik in den vergangenen Jahren haben auch den internationalen Handlungsspielraum ausgeweitet. Ich glaube, daß wir als Deutsche sagen können, daß wir daran maßgeblich beteiligt sind. Wir alle wissen, daß das Modell der Industriestaaten nicht der Maßstab einer nachhaltigen internationalen Entwicklung sein kann und daß wir auf diesem Weg viel Geduld brauchen.
Ich wünsche der Enquete-Kommission für die Bewältigung der großen Aufgaben in den wenigen noch verbleibenden Monaten viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Rochlitz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission hofften nicht nur wir Bündnisgrünen, daß ein parlamentarisches Gremium eine Politik der Nachhaltigkeit über den Tag hinaus, also über die Wahlperiode hinweg, formulieren werde.
Immerhin wurde damals unter anderem beschlossen, die Grundlagen für einen nationalen Umweltplan zu erarbeiten. Dies klang erfrischend angesichts einer immer mehr in die Defensive, ja auf den Rückzug gedrängten Tagesumweltpolitik. Schon seit etwa 1990 war der kräftige Gegenwind für die Umweltpolitik merklich, der einerseits durch den Umbruch in Mittel- und Osteuropa und andererseits durch die steigende Massenarbeitslosigkeit verursacht wurde.
In der Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland wurde und wird weiterhin offen ein Abbau der Umweltpolitik gefordert. Diesen Forderungen kam die Bundesregierung geflissentlich nach: Deregulierungen, sogenannte freiwillige Vereinbarungen und Gesetzesnovellen mit negativen oder zweifelhaften umweltpolitischen Folgen waren das Ergebnis.
In dieser Stimmungs- und Interessenlage war es schon von besonderer Bedeutung, daß sich alle Fraktionen zu den Inhalten des Einsetzungsbeschlusses bereit fanden. Allen Beteiligten - insbesondere in den Koalitionsfraktionen, Herr Fritz - ist dafür zu danken, ebenso wie Ihnen für Ihre heutige nachdenkliche Rede.
Aber das Lobeslied der Vorredner auf die Arbeit der Enquete-Kommission muß deutlich relativiert werden. Eigentlich geschah nur Selbstverständliches, nämlich die parlamentarische Aufnahme der weitreichenden internationalen Verpflichtungen der Konferenz von Rio von 1992. Die Förderung nachhaltiger Entwicklung und der dringende Handlungsbedarf zur Erhaltung der natürlichen LebensgrundDr. Jürgen Rochlitz
lagen auch für künftige Generationen gehören zum Kern dieser Konferenzvereinbarungen.
Sie hätten eigentlich zu Regierungshandlungen führen müssen. Doch den Kanzler-Ankündigungen von 1992 und später folgten nur leere Worte. Das nötige beherzte Anpacken zum Konkretisieren eines Wegs zur Nachhaltigkeit blieb bis heute aus. Nicht nur die Bundesregierung, alle Parteien und so manche Nichtregierungsorganisation knickten vor dem Zeitgeist einer radikalen Ökonomisierung ein.
Insbesondere die Medien - von der Tageszeitung bis zum Fernsehen - verstärken diesen Effekt und beteiligen sich an einer Desinformation der Bevölkerung durch Verbreitung von Ökooptimismus oder Katastrophenmeldungen. Die wichtigen Informationen dazwischen fehlen.
Der Gier nach weltweit einzufahrenden Gewinnen werden nicht nur Arbeitsplätze geopfert, sondern auf der Strecke bleiben sowohl der Schutz unserer Lebensgrundlagen als auch die Kultur des sozialen Miteinander.
Von ersten Schritten, geschweige denn von einem Weg in Richtung nachhaltige Entwicklung ist unter diesen Bedingungen keine Spur zu vermelden. So erleben wir eine Bundesregierung und mit ihr bisher noch eine Mehrheit der Gesellschaft, die beinahe achtlos der Zerstörungsbilanz nur eines einzigen Tages zuschauen, wie sie kürzlich vom Umweltbundesamt dargestellt wurde. An einem Tag werden weltweit - und dies sind nur einige Beispiele - 55 000 Hektar Tropenwald vernichtet, 20 000 Hektar Ackerland anderen Zwecken geopfert oder vernichtet, 100 bis 200 Arten ausgerottet und die Atmosphäre mit 60 Millionen Tonnen CO2 belastet.
Von einer Trendumkehr sind wir noch weit entfernt, wenn angesichts der diesjährigen Menetekel an der Wand - das Oder-Hochwasser und die jetzt brennenden Wälder in Indonesien, beides letztlich auch indirekt Folgen der zunehmenden Erderwärmung - nicht Besinnung statt kurzfristiger Betroffenheit am Fernseher einkehrt. Besinnung auf die ökologischen Notwendigkeiten zur Stabilisierung unserer Lebensgrundlagen hätte gerade in der EnqueteKommission stattfinden müssen. Kolleginnen und Kollegen mit dem nötigen Feingespür dafür gäbe es über Parteigrenzen hinweg.
Doch leider wirken der Druck der Tagespolitik und der Einfluß der ökologisch unsensibilisierten Kollegen aus den Fraktionen - ich meine zum Beispiel diejenigen, die heute nicht anwesend sind - wie Bremsklötze. Es kam bisher nicht entsprechend dem Auftrag des Bundestages zur Festlegung von konkreten Umweltzielen, selbst nicht in den von der Kommission ausgewählten Beispielfeldern Bauen und Wohnen, wenn man einmal von einer halbherzigen Forderung der Reduktion des Flächenverbrauchs absieht.
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Damit bleibt die Kommission deutlich hinter Reduktionsforderungen zurück, die schon 1994 vom
Sachverständigenrat für Umweltfragen aufgestellt worden sind. Zwar hat zumindest die chemische Industrie unter BASF-Chef Jürgen Strube gelernt, daß Sustainable Development auch ihr Handeln angeht. Dieser Erkenntnisgewinn verdient Unterstützung. Wenn jedoch die formulierten Umweltziele der Kommission an mangelnder Konkretisierung kranken, dann geht die Rücksicht auf die mit Sitz und Stimme in der Enquete-Kommission vertretene Chemieindustrie entschieden zu weit.
Die Mehrheit der Kommission hat übersehen, daß der Begriff der nachhaltigen Entwicklung eng mit der Orientierung am Vorsorgeprinzip gekoppelt ist. Dieses erfordert aber sowohl konkrete, das heißt bezifferte Ziele, als auch einen konkreten Zeithorizont. Gleichwohl konnte sich die Kommission dazu nicht aufraffen. Deswegen mußte ich gerade hierzu ein ausführliches Sondervotum abgeben. Dabei habe ich lediglich einige der Langzeitforderungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen wie zum Beispiel die 80 prozentige Reduktion der versauernd wirkenden Schadgase bis 2010 oder die Ausweitung der Naturschutzflächen aufgenommen.
Wie ein absurdes Theater mutet die Behandlung der Problematik von Gefahren und unvertretbaren Risiken durch die Kommission an. Sowohl der Sachverständigenrat für Umweltfragen als auch das Bundesumweltamt betrachten Gefahren und unvertretbare Risiken als Elemente der Nichtnachhaltigkeit. Das Umweltbundesamt formulierte jüngst als Handlungsgrundsatz für die nachhaltige Entwicklung:
Gefahren und unvertretbare Risiken für den Menschen und die Umwelt durch anthropogene Einwirkungen sind zu vermeiden.
Damit stellte es fest, daß Gefahren und unvertretbare Risiken vor allem nachfolgende Generationen unzumutbar belasten oder gefährden können.
Die Enquete-Kommission war in ihrer Mehrheit noch nicht einmal willens, im Zwischenbericht festzuhalten, daß sie über die Notwendigkeit eines solchen zusätzlichen Nachhaltigkeitsgrundsatzes diskutiert hatte. Zu klaren Aussagen, daß und warum die Mehrheit einen solchen Grundsatz nicht für nötig hält, konnte sie sich bisher noch nicht durchringen. Hintergrund für dieses Verhalten der Mehrheit ist, daß es hier um die Problematik von Atom-, Gen- und anderen Risikotechniken geht.
Meine Damen und Herren, der Endbericht ist noch nicht geschrieben. Es besteht also noch die Möglichkeit, die dargestellten Notwendigkeiten für den Prozeß der nachhaltigen Entwicklung in den Endbericht aufzunehmen. Ich hoffe dabei auf die Unterstützung aller, die an einer dauerhaft stabilisierten Umwelt Interesse haben.
Danke schön.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat gibt es in der heutigen Debatte eine Reihe von Übereinstimmungen im umweltpolitischen Bereich. Es handelt sich ja auch um eine sehr grundsätzliche Arbeit, die die Enquete-Kommission zu leisten hat. Ich will jetzt nicht auf alle Punkte eingehen, die wir im Laufe der Zeit besprochen haben. Ich will Schwerpunkte setzen und bei dem einen oder anderen Punkt sagen, wo ich mir etwas anderes oder ein bißchen mehr vorstellen könnte.
Für die F.D.P. ist zunächst einmal die wichtigste Aufgabe dieser Enquete-Kommission, eine integrative Politik der Nachhaltigkeit anzustoßen,
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die gleichermaßen die natürlichen Lebensgrundlagen erhält, wirtschaftlichen Wohlstand sichert und für sozialen Ausgleich sorgt. Es muß jetzt auch allen klarwerden, daß hinter diesem Konzept der Nachhaltigkeit mehr steckt als nur traditionelle Umweltpolitik. Aus dieser Erkenntnis müssen natürlich auch konkrete Schritte erfolgen.
Wenn es bisher Aufgabe der Umweltpolitik war, sich als eine Art Mainstream-Politik zu etablieren, so ist jetzt wichtig, daß wir die Integration ökologischer Aspekte in alle anderen Politikbereiche schaffen und daß wir die Integration ökologischer, ökonomischer und sozialer Fragen zusammen in allen Politikbereichen vornehmen.
Das birgt natürlich auch Brisantes. Das heißt nämlich, Umweltpolitik ist demnach nicht nur unter Nachhaltigkeitsaspekten zu beleuchten, sondern eben auch in alle Politikbereiche zu integrieren. Das ist eigentlich das Wichtige. Das heißt, auch Finanz- und Sozialpolitik müssen unter Nachhaltigkeitsaspekten betrachtet werden.
Die Enquete-Kommission hat sich bisher im wesentlichen - das hat die Vorsitzende schon erläutert - mit Umweltpolitik und vor allen Dingen mit Umweltzielen beschäftigt. Wir haben dabei lediglich Umweltziele für Deutschland im Bereich Böden, Ressourcen und Stoffeinträge formuliert. Die Einigung auf Umweltziele ist aber nur ein erster Schritt, um eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zu erreichen. Das ist schon der erste Punkt, in dem man über diese grundsätzliche Sache hinausgehen muß; denn nur zusammen mit ökonomischen und sozialen Zielen wird daraus nachher auch eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung.
Der Streit, ob und wie diese Integration ökologischer, sozialer und ökonomischer Ziele konkret vorgenommen werden soll, lähmt im Augenblick, wie ich finde, ein Stück weit die Arbeit der EnqueteKommission. Ich finde es bemerkenswert, daß die Integration der drei Dimensionen, auf die wir uns schon verständigt hatten, die klar war, die wir auch einmal gemeinsam in einem Bericht festgelegt haben, auf seiten der SPD eigentlich nur noch von einem einsamen Rufer verlangt wird, während die anderen ausschließlich die ökologische Dimension betrachten.
Die Enquete-Kommission ist nicht dafür eingesetzt, sich mit allgemeinen umweltpolitischen Fragestellungen zu beschäftigen. Vielmehr sollen von dieser Enquete-Kommission neue Impulse für die Umweltpolitik ausgehen. Ökologische Ziele sollen in Bereiche integriert werden, die diese Ziele bisher nicht berücksichtigt haben. Ich hoffe sehr, daß es uns in der verbleibenden Zeit gelingt, konkrete Vorschläge für eine Integration ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele zu erarbeiten.
Das Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung kann und darf allerdings nicht von einzelnen Gruppen vorgegeben werden. Darüber besteht auf jeden Fall Einigkeit; ich denke, darüber haben wir lange genug gesprochen. Am Ende eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses muß die konkrete Formulierung von Zielen erfolgen. Diese Formulierung muß die Bedürfnisse der Menschen mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung verknüpfen.
Teile der SPD und ein Stück weit die Grünen - dafür waren Sie, Herr Kollege Rochlitz, gerade wieder beispielhaft - würden gerne ab und an Ziele von oben vorgeben. Dazu gab es schon ein paar Beispiele. Es ist natürlich einfach, den Bürgern die eigenen Vorstellungen von einem nachhaltigen Konsumoder Produktionsstil zu verordnen.
In den Diskussionen darüber kommt immer wieder heraus, daß unter dem Stichwort Nachhaltigkeit nichts anderes als alte Vorstellungen zu bestimmten Bereichen verborgen sind, die die Frage betreffen: Was soll eigentlich vorgeschrieben werden in bezug darauf, wer was wo und wann zu verwenden und zu verwerten hat? Dies ist zum Beispiel im Bereich Produktdesign der Fall. Da kommen manchmal alte Diskussionen hoch, die in die Enquete-Kommission eigentlich nicht hineingehören, die ich in dieser Enquete-Kommission nicht erwarte.
Wir fordern auch die Zusammenstellung der Ziele in einem Umweltplan, den die Enquete-Kommission „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie" nennt. Es existieren viele verschiedene Ziele, die nicht alle gleichzeitig realisiert werden können, weil dazu nur begrenzt ökonomische Kräfte zur Verfügung stehen.
Der Umweltplan setzt die verschiedenen Ziele zueinander in Beziehung. Er zwingt zu Entscheidungen und - das ist das Wichtige - über Zielhierarchien und damit über Prioritäten, welche Ziele wann verwirklicht werden sollen. Ziel ist es also, durch den Umweltplan einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. Ich verspreche mir davon, daß wir von dieser Stoff-des-Monats-Politik wegkommen. Bei Umweltproblemen, die gerade eines nationalen Handelns bedürfen, kann der Umweltplan verläßliche Angaben für den Staat, aber auch für die Unternehmen und die Menschen bieten.
Deswegen ist wichtig, daß wir auf diesem Gebiet weiterkommen. Deswegen setzt auch die F.D.P. sich weiter dafür ein, daß in der Enquete-Kommission unter Aspekten der Nachhaltigkeit Kriterien für einen Umweltplan erarbeitet werden. Wir werden es nicht
schaffen, das alles zu bewerten; aber die Kriterien sind wenigstens zu erarbeiten.
Die Enquete-Kommission will in der verbleibenden Zeit die Auswirkungen zusätzlicher Flächeninanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrszwecke unter Nachhaltigkeitsaspekten untersuchen. Wir haben mehrfach betont, daß jetzt geklärt werden muß, mit welchen Instrumenten eine effektive und effiziente Zielerreichung möglich ist.
Konkret soll erarbeitet werden, mit welchen Instrumenten die Umsetzung des Ziels einer Reduktion des Flächenverbrauchs zu realisieren ist. Schwerpunkt der weiteren Arbeit der Kommission muß es sein, Wege aufzuzeigen, wie man den Flächenverbrauch senken kann, ohne ganz auf Neubau zu verzichten, und wie man dieses Ziel auch mit ökonomischen und sozialen Zielen vereinbaren kann.
Für mich steht die Frage im Zentrum, mit welchen Instrumenten man möglichst effektiv und möglichst effizient ökologische Ziele erreichen kann; daran arbeiten wir gerade. Aber wir müssen uns anstrengen, daß wir dazu etwas liefern, weil das einer der entscheidenden Punkte ist.
Um eine Politik der Nachhaltigkeit in die Entscheidungsabläufe zu integrieren, sind Innovationen erforderlich. Für die F.D.P. ist dabei klar, daß zur Erreichung des Zieles einer nachhaltigen, zukunftsverträglichen Entwicklung auch die Chance des technologischen Fortschritts genutzt werden muß. Ohne diesen technologischen Fortschritt ist nachhaltige Entwicklung nicht realisierbar. Auch darüber müssen wir uns noch einmal unterhalten.
Das geht insbesondere an die Adresse der Grünen. Wenn einem in Diskussionen über Chancen und Risiken neuer Technologien manchmal als Antwort entgegengehalten wird, es wäre besser, wenn es diese Neuerungen nicht gäbe, dann ist das völlig ignorant. So kann man damit nicht umgehen. Wir müssen uns darüber im klaren sein - das ist das Wesentliche, was ich von dieser Enquete-Kommission noch erwarte -, daß jede Chance, die wir mit neuen Technologien besitzen, immer auch ein Risiko beinhaltet. Wir müssen davon wegkommen, daß wir immer nur Angst vor allem und jedem haben, und wir müssen hin zu einer vernünftigen Abwägung von Risiken und Chancen kommen. Darin sehe ich eine der ganz wesentlichen Aufgaben der Kommission auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung, auf ein Umdenken der Gesellschaft in Deutschland. Dazu kann die Enquete-Kommission noch eine wichtige Arbeit leisten, und ich hoffe, daß wir das schaffen.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Köhne.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß ein Richtungswechsel hin zu einer nachhaltig, zukunftsfähigen Entwicklung notwendig ist, darüber herrscht weitgehende Einigkeit. Was aber konkret unter diesem schillernden Begriff zu verstehen ist und wie eine solche Entwicklung einzuleiten wäre, darüber herrscht noch weitgehend Unklarheit und vor allen Dingen auch Uneinigkeit. Konsens herrscht im Grunde genommen nur über die vier sogenannten Managementregeln, die bereits in der 12. Legislaturperiode aufgestellt wurden und die nur besagen, daß wir mit unseren Ressourcen schonend umgehen müssen.
Bereits über eine fünfte Regel gibt es Streit; das hat eben die Kollegin Homburger schon angesprochen. Wir meinen, daß eine Regel erforderlich ist, die besagt, daß Risiken, die potentiell irreparable Schäden - ich betone: irreparable Schäden - in der Biosphäre hervorrufen können, zu vermeiden sind. Ebenso wie Herr Kollege Rochlitz und die Grünen halte ich es für erforderlich, daß man diesen Aspekt unter die Regeln der Nachhaltigkeit aufnimmt; denn man muß sich darüber im klaren sein, daß die Nutzung der Atomenergie und der Gentechnik auch irreparable Schäden hervorrufen kann. Da müssen bestimmte Schranken und Grenzen gesetzt werden, sonst werden wir möglicherweise diese Welt letztendlich sogar zerstören.
Darüber hinaus, liebe Kollegin Homburger, gibt es oberflächlich Einigkeit darüber, daß man auch die soziale und ökonomische Seite von Nachhaltigkeit betrachten muß. Aber ob das dann inhaltlich auf dasselbe hinausläuft, ist immer die ganz große Frage.
Wir sind der Ansicht, daß mindestens zwei weitere Regeln, die die soziale Seite der Nachhaltigkeit berühren, erforderlich wären.
Erste Regel: Die Erde und ihr Reichtum gehören allen Menschen und allen zukünftigen Generationen gleichermaßen. Allen Menschen sind deshalb gleiche Nutzungschancen und Zugangsmöglichkeiten zu den natürlichen Ressourcen zu gewähren. Das geht aber nur weltweit,
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und man muß sich darüber im klaren sein, daß 20 Prozent der Weltbevölkerung momentan ungefähr 80 Prozent der Ressourcen nutzen.
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Die zweite Regel, die hinzukommen muß, lautet: Jeder Mensch muß die Möglichkeit haben, durch eigene Arbeit die notwendigen Mittel für seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß entsprechend zu organisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was fehlt, ist letztendlich die Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie. Dazu muß man sich natürlich auch die Frage stellen, welche Interessen eigentlich einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung entgegenstehen. Hierzu möchte ich kurz die ,,Frankfurter Rundschau" von heute zitieren, in der der Kollege Wolfgang Thierse und Ernst-Ulrich von Weizsäcker schreiben:
Ein wesentlicher Teil des Wettbewerbs ist die
Kostenkonkurrenz ... Der Wettbewerb belohnt
niedrige Preise auch dann, wenn sie durch staatliche Subventionen, kostenlose Infrastruktur, unmenschlich niedrige Löhne, Unterdrückung von Frauen, Kinderarbeit, Raubbau an der Natur, Vernachlässigung des Umweltschutzes oder sittenwidrige Beeinflussung der Politik erreicht werden.
Dem kann ich nur zustimmen.
Es sind also die ökonomischen Interessen, die weltweite Jagd nach dem größten Profit, die einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung entgegenstehen.
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Es wäre also eine wesentliche Aufgabe der Kommission, Vorschläge zu erarbeiten, wie Profitinteressen der Gesellschaft zurückgedrängt werden können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Reichard.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Enquete-Kommission hat, wie wir schon in einigen Berichten gehört haben, den Zwischenbericht vorgelegt. Der Zwischenbericht trägt einen sehr anspruchsvollen Titel: „Konzept Nachhaltigkeit - Fundamente für die Gesellschaft von morgen".
Ich denke, es sind Bausteine für die Fundamente. Für mich gehört jedenfalls eine ganze Menge mehr dazu als das, was wir in der Kommission zusammenzutragen in der Lage sind.
An die ersten Sitzungen kann ich mich noch ganz gut erinnern. Es wurde lange darüber diskutiert, wie die Strukturierung in der Bearbeitung des Themas überhaupt vorgenommen werden kann. Bei dieser Gelegenheit wurde auch deutlich, wie unterschiedlich die Bedeutung gleicher Begriffe bei den Autoren ist, die sich mit dem Thema schon befaßt haben. Auf diese Weise gelingt es trefflich, aneinander vorbeizureden.
Deshalb war es für uns am Anfang erst einmal wichtig und richtig, einigermaßen Klarheit und Konsens über den Inhalt der wesentlichen Grundbegriffe herbeizuführen. Das scheint mir auch ganz gut gelungen zu sein.
Es ist uns auch bald klargeworden, daß es in der begrenzten Zeit und mit begrenzten Mitteln nur möglich sein kann, anhand ausgewählter Beispielfelder so konkret wie möglich aufzuzeigen, wie Ziele, Maßnahmen und Instrumente für eine nachhaltige Entwicklung zu gestalten sind.
Mit der Erklärung des Begriffs „nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung" habe ich allerdings Probleme. Eigentlich können nur Insider etwas damit anfangen, die ohnehin schon wissen, worum es geht.
Wenn ich mir die Erklärung ansehe, die wir in der Kurzfassung des Zwischenberichts geschrieben haben, dann habe ich gewisse Zweifel, ob der Mann oder die Frau auf der Straße, die wir ja letztlich erreichen müssen und auch wollen, verstehen, worum es geht.
Ich zitiere aus der Zusammenfassung des Zwischenberichts:
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Die langfristige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen bilden die drei Dimensionen, die das Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung zu vereinbaren sucht. Die Komplexität dieser drei Dimensionen, die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten, Produktions- und Handelsverflechtungen, Lebens- und Konsumgewohnheiten und den damit verbundenen Stoffströmen und Umweltbelastungen verlangen einen Richtungswechsel, der mit Einzelfallregelungen nicht zu erreichen ist.
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Ich hoffe, Sie wissen jetzt alle, was Sache ist. Aber wie ich sehe, sitzen hier nur Insider. Es wäre vielleicht eine Möglichkeit, Journalisten um Hilfe zu bitten, diese Aussagen über eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung allgemeinverständlich fürs Volk zu formulieren.
Für mich betrüblich an meinen kritischen Betrachtungen ist allerdings folgendes: Ich bin als Mitglied der Kommission dabeigewesen und habe mich bis jetzt nicht erfolgreich für eine allgemeinverständliche Sprache einsetzen können. Aber es ist noch Zeit. Langsam beginne ich schon selbst, sozusagen doppeltspiralförmig geschraubt daherzureden. Das scheint ansteckend zu sein. Wir sollten etwas dagegen tun.
Ich halte unser Thema für ausgesprochen wichtig. Es ist eben gerade nicht für Spezialistenzirkel gedacht. Wir brauchen vielmehr die Einbeziehung vieler gesellschaftlicher Gruppen für die Umsetzung der sogenannten lokalen Agenda 21 auch auf der lokalen Ebene.
Bei der Vorbereitung dieser Rede fiel mir ein Satz ein, den ich in der Schule lernen mußte - ich glaube, er stammt von Karl Marx -: Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.
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Nun bin ich alles andere als ein Marx-Fan, aber in diesem Falle glaube ich, der Mann hat nicht ganz unrecht. Unsere Idee soll die Massen ergreifen, denn nur dann sind sie in der Lage, ihr Verhalten zu ändern.
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Dazu müssen sie aber die Ideen verstehen können.
Christa Reichard ({4})
Obwohl ich katholisch bin, gebe ich auch Martin Luther mit seiner Forderung, den Leuten aufs Maul zu schauen, recht. Dies sollten wir spätestens mit unserem Abschlußbericht - wenigstens in der Kurzfassung - tun. Es lassen sich bestimmt Kommunikationsspezialisten finden, die eine allgemeinverständliche Kurzform des Abschlußberichts erstellen können. Ich habe es versucht. Es ist mir leider nicht gelungen. Zugunsten einer volkstümlichen Darstellung würde ich auf eine wissenschaftliche Studie verzichten.
Mir sind meine einleitenden Bemerkungen etwas sehr breit geraten. Aber ich halte es wirklich für wesentlich, zu erkennen, daß unsere Arbeit nur wirksam werden kann, wenn jedermann verstehen kann, was wir eigentlich wollen. Von Fachleuten bin ich ebenso wie die anderen Mitglieder der EnqueteKommission in den letzten Wochen immer wieder auf unseren Zwischenbericht lobend und anerkennend angesprochen worden. Daher würde sich die Übersetzung fürs Volk, meine ich, auch lohnen.
Noch einige wenige Worte zum Inhalt unserer Arbeit. Wir haben uns u. a. den Problembereich Böden ausgewählt, um an diesem Beispiel einen Katalog von Umweltqualitätszielen und Umwelthandlungszielen darzustellen. Dabei wurden Aspekte für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Nutzung von Böden unterschieden. Ich nenne die Böden als Lagerstätte für Rohstoffe, Stoffeinträge in Böden, Böden als Filter und Speicher für Grundwasser, Erosion und Verdichtung von Böden oder auch Böden als begrenzte Flächenressource. Verknappung bzw. Gefährdung von Böden wird auf Versiegelung, nutzungsbedingte Bödenabträge, Bodenverdichtung oder auf Stoffeinträge zurückgeführt.
An zwei konkreten Beispielen - der Bodenversauerung und der Verkehrs- und Siedlungsflächennutzung - wird nun in Studien geprüft, wie die Rahmenbedingungen zu gestalten sind, damit den ökologischen Erfordernissen Rechnung getragen wird, ohne wirtschaftliche und soziale Probleme unerträglich zu verschärfen.
An einem Beispiel versuche ich das klarzumachen: Der Abbau von oberflächennahen Rohstoffen bzw. allein schon die Antragstellung auf Abbau und die Festlegung von Vorranggebieten für den Abbau in meinem Heimatland Sachsen haben zu heftigsten Auseinandersetzungen geführt. An diesem Beispiel werden die unterschiedlichsten Aspekte sehr deutlich sichtbar. Es besteht ein wirtschaftliches Interesse am Abbau. Auch ökologisch ist es sinnvoll, Baumaterial möglichst einsatznah zu gewinnen - wir haben in unserem Land viel zu bauen. Es werden Arbeitsplätze geschaffen, die wir dringend benötigen.
Aber es wird in einer zerstörenden und nicht nachhaltigen Art in die Landschaft eingegriffen. Es kommt zu Lärmbelastung und Belastung durch zusätzlichen Verkehr. In einer solchen Situation ist es ungeheuer schwierig, Lösungen zu finden, die den Forderungen der Umwelt, der Wirtschaft und den sozialen Fragen genügen. In diesem Zielkonflikt kann nur eine Kompromißlösung sinnvoll sein, bei der sich keine Seite hundertprozentig durchgesetzt hat.
Die Bedeutung des Umweltmediums Boden und die Notwendigkeit seines gesetzlichen Schutzes wird national und international zunehmend anerkannt. Deshalb haben Bundesregierung und Bundestag ein Bundes-Bodenschutzgesetz vorgelegt, das im Vermittlungsausschuß zu einem hoffentlich erfolgreichen Abschluß gebracht werden kann. Auch hier waren Hauptstreitpunkte der Konflikt zwischen Schutz und Nutzung des Bodens sowie der Konflikt um die sozialen Auswirkungen, beispielsweise die Haftungsregelungen.
Hier sehen Sie, wie unterschiedlich wir den Begriff der Zukunftsverträglichkeit interpretieren können. Für die Zukunft des Bodens wäre es am zukunftsverträglichsten, wenn wir ihn in Ruhe lassen und auf eine weitere Nutzung völlig verzichten würden. Für eine nach unseren Vorstellungen verträgliche Zukunft der Menschheit aber ist eine weitere Nutzung des Bodens gar nicht zu umgehen. In diesem Grundkonflikt sozialverträgliche Regelungen zu finden - das verlangt nicht nur ein fundamentales Umdenken, sondern auch neue Methoden der Konfliktlösung.
Meine Damen und Herren, ich denke, mit dem Zwischenbericht haben wir Fachleuten eine gute Arbeitsgrundlage an die Hand gegeben. Dafür möchte ich abschließend allen daran beteiligten Mitgliedern und Mitarbeitern der Kommission herzlich danken. Ich darf hinzufügen: Ich wünsche uns einen Abschlußbericht nicht nur für Fachleute, sondern auch für alle diejenigen, die an diesem Prozeß beteiligt werden sollen.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ursula Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gemessen daran, daß Enquete-Kommissionen keine tagesaktuellen Schlagzeilen zu Mißständen oder politisch-personellen Kontroversen produzieren, ist die Medienwahrnehmung, das öffentliche Interesse an unserer Arbeit schon bemerkenswert gewesen. Die Resonanz - bei Würdigung auch all der kritischen Begleitstimmen, die es gegeben hat - ist überwiegend positiv.
Dann gibt es Ministerien wie die für Umwelt, Städtebau und Forschung, die aus unseren Beratungen Honig saugen und Themen sowie Stichworte mit einer manchmal unglaublichen Geschwindigkeit aufgreifen, um damit eigene Gesprächsrunden, Workshops und programmatische Versatzstücke zu organisieren. Was dann hinterher tatsächlich in Entscheidungen umgesetzt wird, ist das andere. Gleichwohl freuen wir uns natürlich darüber, daß wir den Ministerien Impulse geben können.
Ich nehme dies zum Anlaß, darauf hinzuweisen, daß es ein strukturelles Ungleichgewicht zuungunsten des Parlamentes gibt. So haben die Beamten der Ministerien jederzeit Zugang zu all unseren Beratungen, während die Ministerien ihre interne Wissensanreicherung meistens als Closed-shop-VeranstalUrsula Burchardt
tung betreiben. Besonders ärgerlich war es, daß das BMBF trotz mehrfacher Wünsche der Enquete-Kommission, in die Beratungen über das neue Umweltforschungsprogramm einbezogen zu werden, dies völlig ignoriert hat. Man hat zwar Gewerkschaften, Verbände und die Wirtschaft daran beteiligt. Aber für Abgeordnete war dies eine geschlossene Veranstaltung. Ich denke, das ist schlechter Stil.
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Was die parlamentarische Rezeption betrifft, muß man einfach einmal daran erinnern, daß die Forderung nach einer nationalen Umweltstrategie, einem nationalen Umweltplan bereits einstimmig vom Bundestag beschlossen wurde. Ich erinnere an die Beschlußempfehlung „Forschungspolitik für eine zukunftverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft". Ich bringe das insbesondere auch Ihnen, Frau Kollegin Homburger, in Erinnerung. Denn das, was Sie soeben hier an Schwarzweißmalerei im Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt geboten haben, war, so glaube ich, unserer Debatten nicht würdig und fällt in altes Lagerdenken zurück, das wir in der Kommission an dieser Stelle nicht hatten.
({1})
- Das, was Sie hier geboten haben, ist der Rückfall in die klassische Lagermentalität: Die einen sind gegen technischen Fortschritt und malen ihn als böses Szenario an die Wand, und die anderen sind für ihn, weil in diesem Bereich das Heil der Welt liegt. Ich glaube, genau diese Auseinandersetzung haben wir in der Enquete-Kommission überwunden. Ich halte dies für einen großen Fortschritt und möchte alle Kollegen und Kolleginnen bitten, auch die Fortschritte, die manchmal nur in kleinen Schritten erfolgen, hier entsprechend zu würdigen.
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Was die Kritik bzw. den Antrag der PDS angeht, so muß man feststellen: Das ist ein klassisches Eigentor. Herr Köhne, jetzt sind Sie angesprochen. Gerade bei denjenigen Punkten, die Sie in Ihrem Antrag am heftigsten kritisieren, gab es in der laufenden Arbeit weder eine Beteiligung noch konkrete und praktische Beiträge Ihrerseits. Wenn man auf diese Art und Weise Fundamentalopposition betreiben will, sollte man sich ernsthaft überlegen, ob man Mitglied einer Enquete-Kommission bleiben will, die auf Zusammenarbeit angelegt ist - nicht aber auf Konsens um jeden Preis.
({3})
Frau Enkelmann hat heute in der Debatte zuvor darauf hingewiesen, wie sehr die PDS die demokratische Teilhabe und Beteiligung wertschätzt. Dann aber muß ich sagen, daß Sie mit Ihrem Antrag, mit dem Sie den Mitgliedern der Kommission - nicht nur den Abgeordneten, sondern auch den Sachverständigen - aufdrücken wollen, was sie in den nächsten Monaten zu tun haben, genau das Gegenteil von dem tun, was Sie nach außen immer proklamieren. Das muß man einmal ganz deutlich sagen. Es ist nämlich ärgerlich, wenn Leute nicht mitarbeiten, keine Beiträge liefern, hinterher aber alles in Grund und Boden kritisieren.
Nachhaltige Entwicklung, meine Damen und Herren, heißt: anders entscheiden als bisher. „Anders entscheiden" setzt neues Denken voraus. Das ist der Kerngehalt des vielgerühmten und vielzitierten Begriffs Innovation. Deshalb ist dies eines unserer zentralen Themen.
Fakt ist: Wer von Modernisierungsdefiziten redet, darf über die eigenen nicht schweigen. Wir haben festgestellt, daß das politische System in alten Denkmustern und Routinen verharrt. Notwendig sind tatsächlich institutionelle Innovationen.
Ich will zwei nennen, die aus unserer Arbeit resultieren. Das erste ist die Rolle der Ökologie; sie gehört tatsächlich ins Zentrum der Entscheidungsfindung. Sie haben recht, Frau Kollegin Homburger und Herr Kollege Fritz: Wir haben gesagt, daß Nachhaltigkeit drei Dimensionen hat. Das Innovative aber ist, daß die Ökologie endlich ins Zentrum der Entscheidungsfindung kommt und nicht weiter hinter die anderen Bereiche zurückfällt. Das heißt: Sie kann nicht mehr nur die Rolle spielen, in einem Ressort oder in Einzelprogrammen bei anderen Ministerien „geparkt" zu werden. Sie gehört in das Zielbündel der Entscheidungsfindung, so wie das innovative Unternehmen bereits betreiben.
({4})
Der zweite Ansatzpunkt, den wir herausgefiltert haben, ist: Globalisierung muß als Chance erkannt werden und für Gestaltungsspielräume genutzt werden. Unsere Studien und Expertenrunden belegen, daß es genügend Gestaltungsspielräume gibt. Dies wird gerade am Beispiel „Bauen und Wohnen" - ich nenne als Stichworte: Flächenverbrauch, Energie- und Stoffströme - überdeutlich. Ich denke, wenn sich das demokratisch-parlamentarische System nicht selbst der Legitimation berauben will, dann kommt es darauf an, diese Freiheitsräume, anknüpfend an ökologische Spielräume, auszuloten, regional- und sektorspezifisch zu entwickeln und europäisch zu vernetzen.
Sie werden jetzt sicher sagen: Das wird ja wohl nicht alles zum Thema „institutionelle Innovation" gewesen sein. Wir bleiben dran. Dringend zu klären ist beispielsweise das Problem: Wie lassen sich langfristige Bedürfnisse kommender Generationen betreffende Entscheidungen in einem politischen System durchsetzen, das in vier- bis fünfjährigen Zyklen agiert? Brauchen wir für ökologische Kreisläufe eine Art Pendant zur Bundesbank? Oder muß man, wenn man Nachhaltigkeit eher von der ökonomischen Seite her betrachtet, Natur als Produktionsfaktor wie Kapital und Arbeit werten? Und was heißt das dann beispielsweise für Verhandlungssysteme, gerade vor dem Hintergrund, daß wir eine klare staatliche Rahmensetzung, klare Zielvorgaben wollen, daß wir wollen, daß auch möglichst viel selbst geregelt werden soll, Selbstverpflichtungen aber - so das Kartellamt und eine Studie des BMWi - ordnungspolitisch nicht durchhaltbar sind? Letztlich, so
denke ich, kommen wir, gerade wenn wir nach marktwirtschaftlichen Instrumenten suchen, auch an einer Prüfung von Versicherungslösungen nicht vorbei.
Meine Damen und Herren, das sind einige der Fragen, die in den nächsten Monaten zur Klärung anstehen. Ich bin sicher, daß wir, auch wenn wir nicht alles schaffen werden, was wir uns vorgenommen haben, für die Modernisierungsdebatten dieser Tage zwar keine Rezepte, aber doch manche Impulse geben können.
Im übrigen gilt: Wir können nur so viel leisten, wie wir tatsächlich an Ressourcen zur Verfügung stehen haben. Da muß ich eine deutliche Kritik an das gesamte Haus, auch an den Haushaltsausschuß, äußern: Das, was wir im Moment an personellen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung haben, ist die absolut unterste Grenze. Wenn sie unterschritten wird, wird es unseriös. Dann kann man auch keine Erwartungen mehr an die Leistungsfähigkeit von Enquete-Kommissionen stellen.
Um noch einmal auf die Impulse zurückzukommen, die wir geben wollen: Ob sie aufgenommen werden oder nicht, wird ein Testfall für die Lernfähigkeit des politischen Systems. Die Innovationsforschung lehrt uns, daß im globalen Wettbewerb nur lernfähige Systeme dauerhaft überleben können.
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Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Hirche das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorausgesetzt, Frau Caspers-Merk, daß Sie dies nicht als unzulässige Einmischung betrachten, möchte ich doch für die Bundesregierung feststellen: Es ist eine sehr verdienstvolle Arbeit, die Sie als Enquete-Kommission hier vorgelegt haben.
Bei allen kritischen Bemerkungen, die man machen kann und die in dieser Debatte gefallen sind: Es lohnt sich, auf diesem Wege weiter zu diskutieren, insbesondere darüber, was es für Deutschland und eine Weltinnenpolitik bedeutet, die drei Aspekte „ökologisch", „ökonomisch" und „sozial" in ihrem Spannungsverhältnis auszugleichen. Das ist spannend, und ich darf sagen: Ich habe mich beim Nachlesen der Rede des Bundesaußenministers, die er vor zwei Tagen vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gehalten hat, sehr gefreut, daß er diesen Gedanken unter dem Stichwort „Neue Sicherheitspolitik für die Welt" mit aufgenommen hat.
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Insofern ist in der Tat das Wort von dem integrativen Ansatz in der Weltinnenpolitik etwas Richtiges.
Nun sollten wir nicht in die deutsche Art verfallen, uns gegenseitig die Schwierigkeiten, auf die wir auf diesem Weg stoßen, vorzuhalten. Wir sollten vielmehr weiter versuchen, auf diesem Weg voranzukommen; denn es ist in der Tat so: Hier muß nicht nur die Wirtschafts- und die Sozialpolitik, sondern auch die Umweltpolitik lernen, jeweils andere Aspekte mit einzubeziehen. Manchmal kommt es mir in der Debatte - weil sie nur von Umweltpolitikern geführt wird - so vor, als würde man immer mit dem Finger auf die anderen zeigen und nicht sehen, daß einige Finger zurückzeigen.
Ich meine, daß sich die Bundesregierung in den Hauptzielen ihrer Arbeit bestätigt sehen kann. Wir fangen in Deutschland ja nicht beim Punkt Null an. Das sollten wir also auch nicht behaupten, sondern versuchen, die noch offenen Probleme zu lösen. Wenn das amerikanische Worldwatch Institute uns in dem Bericht 1997 „Zur Lage der Welt" bescheinigt, daß Deutschland eine führende Rolle im Umweltschutz spielt, dann sollten wir diese führende Rolle nutzen, zum Beispiel bei der Frage der Internationalisierung von Standards, damit wir weiterkommen, damit wir überhaupt auf der gleichen Grundlage diskutieren können.
Zum anderen ist es sicher richtig, daß der Dialog in unserer Gesellschaft über die Setzung von Prioritäten, die Setzung von Handlungszielen und von Handlungsschwerpunkten fortgesetzt werden muß. Ich bin dankbar, daß von Herrn Fritz und auch von Frau Homburger in dieser Debatte schon gesagt worden ist, daß die Bundesregierung versucht - Sie haben das in Ihrer Kommission positiv begleitet -, neben das Ordnungsrecht neue Instrumente zu stellen, die auf mehr Freiwilligkeit setzen. Ich erinnere an unsere Diskussion über das Umweltaudit.
Um auf ein Ereignis dieser Woche Bezug zu nehmen: Wenn, wie am 23. September geschehen, die chemische Industrie eine Selbstverpflichtung abgibt, wonach eine Stoffdokumentation aufgebaut werden soll, mit der ein Grunddatensatz zu allen betriebsintern gehandhabten Stoffen zusammengetragen wird, der dann auch für Behörden zugänglich ist, so ist das ein Schritt zu dem Ziel, überhaupt zu wissen, was vor sich geht, um dann weitere Fortschritte zu erzielen.
Sie wissen, daß Frau Ministerin Merkel im Dialog mit den gesellschaftlichen Gruppen den Prozeß „Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung" eingeleitet hat. Vor der Sommerpause wurde dazu eine umfängliche Zwischenbilanz vorgelegt. Dieser Dialog muß intensiv fortgesetzt werden.
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Er schließt, Frau Caspers-Merk, natürlich auch die Kommunen ein; das ist klar. Aber Deutschland ist ein föderativer Staat, mit Kommunen, die ihre jeweilige Kommunalverfassung haben. Ich möchte nicht wissen, was der Deutsche Städtetag und der Städte- und Gemeindebund sagen würde wenn der Bundeskanzler sich irgendwo hinstellte und erklärte: Bis zum Jahr 2000 werden unsere Kommunen dies und das gemacht haben. - Das kann man in einem zentralistiParl. Staatssekretär Walter Hirche
schen Staat wie Großbritannien machen, aber nicht in Deutschland.
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Die Demokratie auf den verschiedenen Selbstverwaltungsebenen, die wir in der Vergangenheit aufgebaut haben, sollten wir uns auch in Zukunft „gönnen" und nicht unter dem Ansatz von bestimmten Vorstellungen vernachlässigen.
Ihre Themen Boden, Bauen und Wohnen sehe ich als besondere Schwerpunkte, weil der Flächenverbrauch ebenfalls ein herausragendes Thema ist. Wir haben mit dem Bundes-Bodenschutzgesetz und auch mit dem Bundesnaturschutzgesetz darauf reagiert.
Ich muß Ihnen sagen, ich bin entsetzt darüber, daß gestern in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses von Ihren Vertretern jegliche weitere Diskussion über das Bundesnaturschutzgesetz mit dem Hinweis darauf abgelehnt worden ist, die SPD habe überhaupt kein Interesse daran, Landwirten, denen wir wegen naturschutzrechtlicher Erwägungen Einschränkungen zumuten, eine Entschädigung zukommen zu lassen.
Wenn wir den Menschen Einbußen im sozialen Bereich zumuten und sagen „Dafür bekommt ihr aber nichts", dann empfinden sie das nicht als eine Aufforderung zum Dialog;
({3})
sondern sie empfinden das als eine Abschreckung durch Politik insgesamt.
Wir sind uns sicher einig darüber, daß der Klimaschutz ein wichtiges Thema ist. Wenn Sie - wie ich in der letzten Woche - Gelegenheit haben, mit den Leuten in Saudi-Arabien darüber zu diskutieren, warum sie als ölerzeugendes Land zum Klimaschutz und zur CO2-Verminderung beitragen sollten, dann müssen Sie auf Vokabeln wie „sustainable development", also „nachhaltige Entwicklung", kommen. Sie müssen die verschiedenen Interessen zusammenbringen. Das müssen wir in Deutschland, glaube ich, noch lernen.
Innovationen sind bei uns Schlüssel der Zukunftsvorsorge; das ist völlig klar. Die Kommission hat entsprechende Schwerpunkte gesetzt - dem gingen lange Diskussionen voraus -: Kreislaufwirtschaft, die in Deutschland nicht umstritten ist, Recyclingtechnologien und Ökobilanzen. Wir diskutieren auch über die Aktualisierung der Verpackungsverordnung. Das alles sind Instrumente, die wir gemeinsam angehen.
Ich biete gern an - weil Sie das erwähnt haben, Frau Burchardt - daß wir uns Gedanken darüber machen, wie die Erfahrungen und Wünsche der Enquete-Kommission besser in das Umweltforschungsprogramm einfließen können. Ich denke, das ist im Zusammenhang mit der Verbesserung des Dialogs ein wichtiger Punkt.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Enquete-Kommission hat sich ein großes Programm vorgenommen. Wir als Bundesregierung möchten diese Arbeit auch weiter konstruktiv begleiten. Ich wünsche der Enquete-Kommission - in unser aller Interesse - weiterhin Erfolg bei ihrer Arbeit. Ich bin auf den Abschlußbericht gespannt - auch auf die Umsetzungsphase, die dann hoffentlich folgt.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Abgeordneten Ulrike Mehl.
Lieber Herr Hirche, Sie haben eben kurz auf das Bundesnaturschutzgesetz abgehoben und haben gesagt, daß Sie es sehr bedauern, daß es gestern in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses gescheitert ist. Auch ich bedauere dies sehr.
Ich möchte hier aber folgenden Sachverhalt festhalten: Die Bundesregierung hat einen Entwurf zum Bundesnaturschutzgesetz vorgelegt, der weit hinter das bestehende Recht zurückfällt.
({0})
- Das ist Fakt. - Auch die Interessenvertreter im Bereich Naturschutz sagen, daß dieses Gesetz nicht nur in einem Punkt, sondern in vielen Punkten weit hinter das bestehende Recht zurückfällt. Wir aber wollen eine Weiterentwicklung des Naturschutzes. Das haben Sie mit Ihrer Vorlage überhaupt nicht erreicht. Diese Vorlage ist hier mit Ihrer Mehrheit verabschiedet worden und dann in den Bundesrat gegangen. Sie ist schon im ersten Durchlauf vom Bundesrat abgelehnt worden, im zweiten Durchlauf ebenfalls. Dann haben Sie den Vermittlungsausschuß angerufen.
Auch das ist ein wesentlicher Fakt: Sie haben ein Interesse an Verhandlungen. Nun sind Sie aber gestern in die Arbeitsgruppe gekommen und haben keinerlei Vorschläge gemacht, wie und wo verhandelt wird. Sie haben nicht gesagt, welche Angebote Sie machen, obwohl wir Sie danach gefragt haben.
Wir hatten nicht vor, monatelang über die weichen Punkte zu verhandeln; sondern wir wollten erst mal über die wesentlichen Punkte reden. Der wesentlichste Punkt ist die Ausgleichsregelung in der Landwirtschaft. Da waren Sie nicht in der Lage, uns ein Angebot zu machen. Wir haben zwei Stunden geredet und Ihre allgemeinen Positionen ausgetauscht; das machen wir nun schon monatelang. Aber Sie haben nichts vorlegen können.
Lieber Herr Kollege, dann können Sie aber auch nicht von uns erwarten, daß wir zu Ihrem schlechten Gesetz Vorschläge machen. Daß Sie Schwierigkeiten damit haben und daß es für eine Umweltministerin ein Problem ist, ins Land gehen und sagen zu müssen, daß sie ihr eigenes Gesetz nicht durchbringen kann, weil es so schlecht ist, kann ich nachvollziehen. Von uns können Sie aber wirklich nicht erwarten, daß wir das auch noch befördern.
({1})
Herr Hirche, Sie können antworten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle klar: Die Verhandlungen in der Arbeitsgruppe sind gestern deshalb gescheitert, weil die SPD die ersatzlose Streichung von Entschädigungsleistungen bei Eingriffen ins Eigentum verlangt hat.
({0})
Das ist ein ganz neuer Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich bedauere es außerordentlich, daß es dadurch einen Rückfall
({1})
in der Diskussion gegeben hat, zu einer Diskussion, die ich eigentlich allein wegen Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes für abgeschlossen hielt.
Über die inhaltliche Ausgestaltung von Gesetzen kann man streiten, zum Beispiel darüber, ob die vorgesehenen Regelungen einem ausreichen oder nicht. Darüber kann es politischen Streit geben. Wir hätten es uns gewünscht, daß die SPD mit ihrer politischen Mehrheit dazu beigetragen hätte, Auflagen der Europäischen Union wie etwa die FFH-Richtlinie, die wir umsetzen müssen, zu erfüllen.
({2})
Dies hätte im Vermittlungsausschuß geschehen können.
Die SPD hat des weiteren beantragt, die für den Naturschutz ausgewiesenen Flächen auf 10 Prozent der Landesfläche zu erhöhen, aber sie will den Landwirten nichts dafür zahlen.
({3})
Das ist ein zweiter Gesichtspunkt, der nicht akzeptiert werden kann. Denn wir wollen Naturschutz mit den Betroffenen, wir wollen keine obrigkeitlichen Regelungen gegen die Betroffenen.
({4})
Ich glaube, daß Sie damit dem Naturschutz in Deutschland einen Bärendienst erwiesen haben.
({5})
Ich lasse eine weitere Kurzintervention, die des Abgeordneten Michael Müller, zu.
Herr Staatssekretär, was ich bei Ihrer Kurzintervention ein wenig problematisch finde, ist, daß Sie jetzt in der Öffentlichkeit Interpretationen vornehmen und Behauptungen aufstellen, die mit den Verhandlungen gestern nun wirklich nichts zu tun haben.
({0})
Ich finde, das ist auch kein guter Stil. Ich will das in
aller Deutlichkeit sagen. Es mag ja sein, daß Sie von
jemandem informiert worden sind, der die Problematik nicht richtig erfaßt hat. Aber es waren genug Leute dabei, die es Ihnen anders hätten sagen können.
Wir bleiben dabei: Wir wollen ein Naturschutzgesetz, das auch den Interessen anderer gesellschaftlicher Gruppen entspricht. Aber vordringlich wollen wir ein Naturschutzgesetz, das auch die Natur schützt. Dabei bleiben wir.
({1})
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn es ungewöhnlich ist, mit einer Intervention auf eine Intervention zu antworten, möchte ich sagen: Ich bleibe auf Grund der Informationen, die ich bekommen habe, bei der Darstellung.
({0})
Herr Müller, ich war nicht dabei; das ist richtig. Aber die betreffenden Personen, die dabei waren, bestätigen die Sachdarstellung, die ich gegeben habe. Wir werden genügend Gelegenheit haben, mit den Betroffenen darüber zu reden, wie der Schaden, der durch die gestrige Entscheidung bei den Landwirten entstanden ist, zu reparieren ist und wie die Landwirte in das Boot der Kooperation zurückzuholen sind. Das ist das Ziel der Bundesregierung.
({1}): Sie sind hier doch verantwortlich!)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/7400 und 13/7415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/8545 soll an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 9. Mai 1996
- Drucksachen 13/4477, 13/8170 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Abgeordneten Ortrun Schätzle.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auf dem internationalen Forum, das unsere Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen" am vergangenen Montag veranstaltete, wurde von seiten der ausländischen Experten die Meinung geäußert, der vorliegende Zwischenbericht der Enquete-Kommission unterscheide sich in seiner Sachlichkeit sehr von der emotional geführten Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit. Diese Beurteilung spricht für sachorientierte Arbeit. Sie erkennt das Bemühen an, sorgfältig, differenziert und wissenschaftlich fundiert die Konfliktfelder aufzuarbeiten, welche die Bevölkerung im Hinblick auf die zunehmende Verbreitung sogenannter Sekten, Gurus und Psychogruppen seit Jahren als beängstigend und bedrohlich empfindet.
Ich möchte an dieser Stelle allen Mitgliedern der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen" und dem Fachsekretariat für die hohe Einsatzbereitschaft und gute Zusammenarbeit während des ersten Arbeitsjahres sehr herzlich danken.
({0})
Welches sind nun die Gefährdungspotentiale von sogenannten Sekten und Psychogruppen? Was beunruhigt die Bevölkerung? Die Klagen spiegeln sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Petitionen wider, die den Deutschen Bundestag erreicht haben. Die Klagen reichen von psychischer Manipulation der Anhänger bis zum psychischen, physischen und finanziellen Ruin.
Diese menschlichen Schicksale entzünden die öffentliche Debatte mit der Frage, ob und inwieweit diese Einzelfälle verallgemeinert werden können und ob der Staat eingreifen müsse. Der Staat handelt. Laut Einsetzungsbeschluß unserer Enquete-Kommission hat sie die Aufgabe, Ziele, Praktiken und Methoden neuerer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen und Psychogruppen und deren Konfliktfelder zu analysieren und entsprechende politische Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.
So waren Fragen des Verfassungsrechts, des Verfassungsschutzes, der Situation von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen, deren Innenstrukturen, deren Psychomethoden und deren wirtschaftliche Betätigung sowie Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung von Betroffenen und ihren Angehörigen Schwerpunkte unserer bisherigen Arbeit. Anhörungen, Gespräche mit externen Experten, Gutachten und Forschungsaufträge erbrachten zusätzliche wertvolle Erkenntnisse.
Mit dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission, unserem Arbeitsprotokoll, gewähren wir heute Einblick in unsere Arbeit, in die bisherigen Ergebnisse, in unsere weiteren Vorhaben, aber auch in die unglaublich schwierigen Abwägungsprozesse darüber, wo staatliches Handeln oder staatliche Zurückhaltung geboten ist.
Wir sind uns schon bewußt, daß in Zeiten beschleunigter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen das Bedürfnis nach spiritueller und moralischer Orientierung wächst, zumal in einer pluralistischen und dynamischen Gesellschaft nicht alle Bedürfnisse und Sehnsüchte von den traditionellen Institutionen befriedigt werden können.
Es steht dem Staat und seinen Organen aber nicht zu, Urteile über religiöse und weltanschauliche Systeme oder Auffassungen zu fällen. Unsere Enquete-Kommission ist kein Gesinnungs-TÜV. Wir stigmatisieren nicht, wir diskriminieren nicht, sondern die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sind für uns zentrale und unveräußerliche Menschenrechte, zu denen wir uns ausdrücklich bekennen.
({1})
Wenn aber die Grundrechte mißbraucht werden, wenn Bürgerinnen und Bürger mit zweifelhaften Methoden in Gruppen hineingezogen und dort festgehalten werden, wenn sie Schäden erleiden, muß der Staat einschreiten. Der Staat hat eine soziale Verantwortung für seine Bürger zu tragen. Das gilt insbesondere für die Schwächsten, für Kinder und Jugendliche.
Religionsfreiheit darf unter gar keinen Umständen als Schutzschild für Rechtsverletzungen dienen. Die Religionsfreiheit hört dort auf, wo gegen die Menschenwürde verstoßen wird.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Der Zwischenbericht hat erste Handlungsempfehlungen formuliert - Handlungsempfehlungen, die auch nur einen Vorläufigkeitscharakter tragen. Bis zur Vorlage des Endberichts im Frühjahr 1998 bleibt noch viel zu tun.
In unserer Arbeit wird
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen!
- weiterhin die freiheitlich-demokratische Ordnung mit ihren Grundwerten Maßstab und Leitlinie des Handelns bleiben.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Renate Rennebach.
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke,
die Enquete-Kommission hat Grund, zufrieden zu sein mit ihrer bisherigen Arbeit und ihren bislang erzielten Ergebnissen. Auch der heute zur Debatte stehende Zwischenbericht belegt dies in gelungener Weise. Dies ist für mich Anlaß, vorweg allen zu danken, die dazu beigetragen haben. Ich meine damit nicht nur die parlamentarischen Mitglieder der Enquete-Kommission. Gleichwohl möchte ich natürlich in erster Linie Frau Schätzle danken, die mit ihrer ruhigen, gelassenen Art in der Leitung der Enquete manche überschäumenden Gemüter wieder zusammengeführt hat. Auch das war sehr wichtig.
({0})
Aber ich möchte auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - denen von uns Abgeordneten und denen des Sekretariats - recht herzlich danken. Ich möchte den Sachverständigen danken und den zahlreichen zu unseren Anhörungen geladenen Expertinnen und Experten sowie denjenigen, die von außen unsere Arbeit mit schriftlichen Stellungnahmen und Anmerkungen begleitet haben.
Meine Damen und Herren, ich verzichte an dieser Stelle auf eine weitere Kurzfassung der wesentlichen Elemente des Zwischenberichts. Die zentralen Aussagen sind ja bereits in der Öffentlichkeit stark diskutiert worden. Ich möchte statt dessen lieber auf einige Punkte aufmerksam machen, die aus meiner Sicht - und natürlich aus Sicht der SPD-Fraktion - besonders bedeutsam sind.
Von Beginn an hat es Kritik an Sinn und Zweck der Enquete-Kommission gegeben. Diese kam sowohl von außen - die Scientology-Organisation hat uns sogar mit zwei Klagen beglückt - als auch von innen. Ich bin heute mehr denn je der Auffassung, daß diese Kritik unberechtigt und falsch war. Die oft aufgeregte und heftige öffentliche Diskussion, gerade auch im letzten Jahr, hat mich nachträglich darin bestärkt, wie wichtig es war, daß die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen und diese Enquete-Kommission beantragt hat.
Vor allem zwei Ziele wurden dabei von uns verfolgt: Erstens erschien es uns dringend notwendig, daß endlich auch auf der bundespolitischen Ebene das Thema angepackt und substantiell bearbeitet wird. Insbesondere die Bundesregierung hat hier über Jahre durch ihre Untätigkeit und Konzeptlosigkeit so ziemlich alles versäumt, was es zu versäumen gab. Gäbe es die Enquete-Kommission nicht, wäre das Thema und wären die Probleme, um die es geht, für die verantwortliche Bundesregierung auch weiterhin nicht existent und handlungsrelevant. So erfüllt es auch nur die Erwartungen, daß sich die zuständige Ministerin Nolte seit der Einsetzung der Enquete-Kommission vollends zurücklehnt. Ihr Haus entblößt sich gar durch Unkenntnis der staatlichen Aufgabenverteilung und verweist in Stellungnahmen zur Thematik darauf, daß es die Enquete-Kommission gibt, die sich ja umfassend mit dem Thema beschäftigt.
Das zweite Ziel, das die SPD mit ihrem Antrag verfolgt, gründete sich in unserer Auffassung, daß die hochsensible Problematik nur dann verantwortungsbewußt behandelt werden kann, wenn sie fundiert aufgearbeitet und der Gegenstandsbereich intensiv und in seiner Gesamtbreite erforscht wird. Schnellschüsse und Sprechblasen waren und sind zu vermeiden, und zwar in besonderer Weise dann, wenn elementare Grundrechte berührt sind. Genau deshalb kam für die SPD nur eine Enquete in Frage. Zudem waren sowohl der SPD-Antrag wie auch der Einsetzungsauftrag darauf angelegt, daß das gesamte Problemfeld mit einbezogen wird.
Man kann es nicht oft genug sagen - entgegen der öffentlichen Debatte, die sich fast nur auf Scientology konzentriert, und entgegen dem, was Scientology und andere fälschlicherweise in die Welt zu setzen versuchen -: Diese Enquete ist weder eine Scientology-Enquete noch ein Inquisitionsgremium oder der verlängerte Arm der christlichen Großkirchen. Sie hat nicht die Aufgabe, religionswissenschaftliche Diskurse zu führen oder religiöse oder weltanschauliche Lehren zu bewerten. Die Enquete-Kommission befaßt sich ausschließlich mit den Problemen im Umfeld von sogenannten Sekten und Psychogruppen - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Deshalb möchte ich hier deutlich machen: Wer immer noch den Zweck dieser Enquete-Kommission kritisiert, der hat schlicht keine Ahnung von dem, was es an zum Teil wirklich schrecklichen Problemen, Konflikten und Schicksalen gibt, und der hat keine Ahnung, was Politik zu leisten hat und was politische Verantwortung bedeutet.
Als zweiten Aspekt möchte ich auf das Sondervotum der SPD-Fraktion eingehen. Ich verberge nicht, daß ich es ein wenig enttäuschend finde, daß sich in der Kommission keine Mehrheit dafür fand, die Schaffung einer gesetzlichen Regelung zur Förderung von Eltern- und Betroffeneninitiativen zu empfehlen. Tatsache ist, daß es diese privaten Initiativen sind, die neben kirchlichen Beratungsstellen und einigen versprengten Anlaufstellen bei den Ländern eine großartige Beratungs- und Informationsarbeit leisten. - Im übrigen, da Sie gerade hier sitzen, Herr Ministerpräsident Stolpe: Auch in Brandenburg ist da noch ganz tiefes Neuland.
Wir alle wissen, wie wichtig diese Arbeit ist. Diese Initiativen bieten Hilfe für Aussteiger, für Angehörige von Opfern, geben Bürgern Informationen oder helfen, juristischen Beistand zu finden, und das alles auf der Basis von privatem Engagement und Spenden. Viele leisten eine engagierte und vor allem verdienstvolle Arbeit; auch das muß hier einmal gesagt werden. Selbstverständlich ist es gerechtfertigt, in Teilen eine fehlende Professionalisierung und Qualifizierung ihrer Arbeit zu beklagen. Eine ganze Reihe der Initiativen sieht dies selber so und würde sicherlich gerne ihr Angebot verbessern. Das scheitert jedoch vor allem an den fehlenden finanziellen Mitteln.
Es ist auch richtig, daß die Enquete-Kommission ihre Beratungen zu der Frage noch nicht abgeschlossen hat, wie zukünftige Beratungs- und Informationsarbeit organisiert und gestaltet werden sollte. In jedem Fall werden jedoch private Stellen mit einzubeziehen sein. Deshalb ist es mir schlicht unbegreifRenate Rennebach
lich, warum sich die anderen Fraktionen der Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage, die nach dem sogenannten Osho-Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes notwendig ist, verweigert haben. Wohlgemerkt: Wir haben nicht gefordert, konkrete einzelne Initiativen zu unterstützen; uns geht es ausschließlich um die gesetzlich notwendigen Voraussetzungen. Wir hoffen, daß wir hierbei wenigstens für den Endbericht eine Mehrheit zustande bekommen.
Zum dritten möchte ich die Handlungsempfehlungen bezüglich der pseudotherapeutischen Angebote einer Reihe der sogenannten Sekten. und Psychogruppen ansprechen. Hier sind wir nach unserer Auffassung auf einem guten Weg, zum einen mit dem Bundesratsentwurf Hamburgs zur Regelung der gewerblichen Lebenshilfe und zum anderen mit den in den Handlungsempfehlungen aufgezeigten Grundsätzen für ein Psychotherapeutengesetz. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß sich auch die Vertreter der Regierungsfraktionen in der Enquete-Kommission diese Grundsätze zu eigen gemacht haben und sich mit der SPD zusammen vor allem für die Gleichstellung von psychisch Kranken und somatisch Kranken eingesetzt haben.
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, alle Kraft, Ihre Fraktionen insbesondere im Gesundheitsausschuß davon zu überzeugen, endlich von dem unsinnigen Vorhaben Abstand zu nehmen, psychisch Kranken eine Zuzahlung zu den Behandlungskosten aufzubürden. Gerade diejenigen, die als ehemalige Mitglieder von sogenannten Sekten und Psychogruppen eine psychotherapeutische Behandlung brauchen, sind fast immer auch finanziell am Ende. Das Zuzahlungsmodell verhindert deshalb systematisch die von uns allen als elementare Hilfeleistung für dringend notwendig und geboten gehaltene psychotherapeutische Behandlung von Opfern sogenannter Sekten und Psychogruppen.
({1})
Deshalb nochmals meine Bitte und mein Wunsch an die Koalitionsvertreter: Helfen Sie, daß dieser Beschluß im Gesundheitsausschuß Wirklichkeit wird und wir endlich dieses Gesetz verabschieden können. Die Kolleginnen und Kollegen sollen ihre Blokkadehaltung aufgeben - um auch dieses Stichwort einmal zu erwähnen.
Um allerdings zu einer wirksamen gesetzlichen Lösung im Hinblick auf diese pseudotherapeutischen Angebote zu kommen, ist es aus unserer Sicht unumgänglich, daß wir nun nicht auf halbem Weg stehenbleiben. Dafür wird es notwendig sein, daß wir uns bei den weiteren Beratungen nochmals dezidiert mit dem Entwurf aus Hamburg für ein Lebensbewältigungshilfegesetz auseinandersetzen und dabei dafür sorgen, daß es hier nicht zu einer halbherzigen und damit letztlich unwirksamen Lösung kommt. Zudem müssen wir uns mit dem Heilpraktikergesetz als drittem gesetzlichen Pfeiler auseinandersetzen. Unser Ziel muß sein, sämtliche Schlupfwinkel zu schließen, die es unseriösen Anbietern auf dem Sekten- und Psychomarkt ermöglichen, ihre gesundheits- und sozialschädlichen Therapieangebote an den Mann oder an die Frau zu bringen.
Wenn der Zwischenbericht eine Halbzeitbilanz darstellt, kommen wir nicht umhin, auch die Konfliktpunkte in den bisherigen Beratungen anzusprechen.
Sehr verehrte Frau Dr. Köster-Loßack von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in der mir eigenen Offenheit sage ich Ihnen zu dem von Ihnen abgegebenen Sondervotum: Dieses ist für mich nach wie vor in höchstem Maße unverständlich, weil es - wie Sie selbst wissen - in der Regel nach Ihren Wünschen gegangen ist.
Wer eine solche wirklich grundlegende und pauschalierte Kritik an der Arbeitsweise und den bisherigen Ergebnissen der Enquete-Kommission übt wie Sie, der disqualifiziert sich selbst, weil er offenbar weder das Problem, um das es in dieser Enquete-Kommission geht, noch den Einsetzungsauftrag verstanden hat. Sie kritisieren, aber eine eigenständige Position Ihrer Fraktion fehlt völlig.
Was Sie jedoch machen, nämlich sich methodisch wie inhaltlich an der Mehrheit der Enquete-Kommission abarbeiten, kommt einer Verweigerungshaltung gleich, diese Probleme und Konflikte lösen zu wollen. Vielleicht sollten Sie in der Zukunft ein wenig mehr auf die Stimmen Ihrer vielbeschworenen Parteibasis oder der ausländischen Grünen hören, die deutlich machen, daß auch für sie angesichts der in Teilen wirklich üblen Schicksale von Opfern dringender Handlungsbedarf besteht und sie entsprechende Initiativen auch von ihren parlamentarischen Vertretern erwarten.
Uns allen liegt der Schutz der Religionsfreiheit am Herzen. Offenbar im Unterschied zu Ihnen sehen wir jedoch auch die Opfer und müssen deshalb feststellen, daß es hier zu verbesserten Schutzregelungen kommen muß und der Verweis auf das Strafrecht nicht ausreicht.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Jeder kann von mir aus glauben, was auch immer er will. Wer jedoch mit seiner Glaubensfreiheit die Freiheit und Würde anderer Menschen angreift oder verletzt, den gilt es, in seine Schranken zu verweisen.
Ich muß Ihnen noch eines mitteilen: Wenn ich in von Ihnen zu verantwortenden Publikationen lese, die SPD habe mit dazu beigetragen, daß in der Enquete-Kommission die Auseinandersetzung über innerkirchliche Problemgruppen verhindert worden wäre, ist dies ziemlich dreist. Ich möchte hier bewußt allen mitteilen, die bei den entsprechenden Beratungen nicht dabei waren: Wir haben uns lange und heftig mit diesem Thema auseinandergesetzt. Es waren die SPD und nicht zuletzt meine Wenigkeit, die von Beginn an die Auffassung vertreten haben: Die Enquete-Kommission darf vor innerkirchlichen Problemgruppen und exemplarisch vor dem Opus Dei nicht haltmachen.
Wir haben uns in der Enquete-Kommission in stundenlangen Sitzungen darüber gestritten, ob dem SPD-Antrag stattgegeben wird, das Opus Dei selbst zur Anhörung der Sekten und Psychogruppen einzuRenate Rennebach
laden. Dabei standen wir leider immer völlig allein da, denn CDU/CSU, F.D.P. und auch Bündnis 90/Die Grünen haben dies stets rundweg abgelehnt. Uns jetzt vorzuwerfen, wir hätten es abgelehnt, halte ich für dreist.
Wir bedauern die Ablehnung nach wie vor, weil wir es für einen inhaltlichen und methodischen Fehler halten und die Enquete mit dem Makel behaftet bleiben wird, innerkirchliche Problemgruppen ausgeblendet zu haben.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Ich wünsche uns weiterhin gute Zusammenarbeit, und ich danke für die Aufmerksamkeit. Dies wollte ich in längeren Sätzen sagen, aber nun mache ich es kürzer.
({0})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Roland Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Viele Bürger fragen mich: Warum beschäftigt sich der Deutsche Bundestag überhaupt mit diesem Thema?
Man muß sich die Fakten ansehen. Ich glaube, das ist wichtiger, als hier vordergründige Streitereien auszubreiten: Neue religiöse Bewegungen, Sondergruppen, sogenannte Sekten und der Psycho- und Esoterik-Markt haben in den letzten Jahren ein erhebliches Gewicht gewonnen. Es gibt über 800 000 Anhänger solcher Gruppen und Organisationen. Etwa 200 000 Menschen standen ihnen schon einmal nahe. Rund 1,2 Millionen Menschen besuchten schon Kurse, Veranstaltungen und Meditationen solcher Gruppen. Etwa 500 solcher Gruppen sind uns bekannt.
Der Psycho- und Esoterik-Markt setzt in jedem Jahr ungefähr 18 Milliarden DM um. Zeitschriften aus diesem Bereich haben zusammen eine geschätzte Auflage von fast 3 Millionen Exemplaren. Die sich daraus ergebenden Konflikte rechtfertigen es, daß der Bundestag genauer und intensiver hinschaut, um sich mit den individuellen und gesellschaftlichen Aspekten des Themas auseinanderzusetzen.
Was ist der Auftrag der Enquete-Kommission? Frau Schätzle hat den Einsetzungsbeschluß zitiert. Wir wollen durch unsere Arbeit in der Enquete-Kommission zur Aufklärung des Problemfeldes und zu einer Versachlichung der öffentlichen Diskussion beitragen. Nachdem vielfältiger berechtigter Dank vorgetragen wurde, möchte ich an dieser Stelle auch dem zuständigen Bundesministerium für die Unterstützung unserer Arbeit ein herzliches Dankeschön sagen.
({0})
Von welchem Grundgedanken läßt sich die F.D.P. bei ihrer Arbeit in dieser Enquete-Kommission leiten? Auf meinen Antrag hin hat die Enquete-Kommission folgendes beschlossen:
Die Enquete-Kommission sieht ({1}) ihre Aufgabe auch darin, durch Aufklärung ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem Pauschalurteile über religiöse und weltanschauliche Minderheiten und ihre Konfliktträchtigkeit vermieden werden. Die Enquete-Kommission bekennt sich uneingeschränkt zu religiös-weltanschaulicher Toleranz und Pluralität auf der Grundlage von Artikel 4 Grundgesetz.
Ich begrüße es, daß wir in diesem Punkt völlige Übereinstimmung zwischen den Fraktionen feststellen können.
Welches sind die vorläufigen Ergebnisse der Arbeit unserer Kommission? Der Bürger, der vor einem ständig wachsenden Angebot therapeutischer und therapieähnlicher Verfahren und Techniken steht, muß mehr Verbraucherschutz und mehr Transparenz auf diesem Markt bekommen. Wir Liberalen fordern, daß der Kunde bei Programmangeboten, bei denen es um gewerbliche Lebenshilfe und -bewältigung geht, über die berufliche Qualifikation der mit der Durchführung Beauftragten informiert wird. Außerdem muß über die angewandten Techniken, die Ziele und die voraussichtliche Dauer der Behandlung sowie über mögliche Risiken aufgeklärt werden. Ein Haftungsausschluß für mögliche psychische Folgen bei Teilnehmern ist einfach nicht akzeptabel.
Die Enquete-Kommission spricht sich auch dafür aus, im überfälligen Psychotherapeutengesetz Regelungen für den Zugang und die Qualifizierung des Berufs. des Psychotherapeuten und zur Qualitätssicherung des psychotherapeutischen Angebots zu treffen. Auch hinsichtlich der Beratungseinrichtungen und Betroffeneninitiativen besteht Handlungsbedarf. Sie leisten wertvolle Arbeit, die unsere Unterstützung verdient. Wir denken hier beispielsweise an die Errichtung einer Stiftung, um auf Dauer professionelle Beratungsstandards zu gewährleisten.
Besonders wichtig ist uns aber die Situation von Kindern und Jugendlichen in solchen Gruppierungen. In der ersten von drei Anhörungen zu diesem Thema kamen ehemalige Anhänger und Mitglieder zu Wort. Ein Fall hat mich besonders schockiert. Eine Mutter schilderte den Umgang der Gruppe Thakar Singh mit ihrem etwa zweijährigen Kind: Dieses Kind mußte täglich zehn bis zwölf Stunden mit verbundenen Augen und Stöpseln im Ohr meditieren. Es durfte kein Spielzeug besitzen, mußte teilweise kalt baden und ausschließlich mit einer Augenbinde essen. Es verfiel nach kürzester Zeit in völlige Apathie. Dies wurde von der Gruppe als Reinheit der Seele interpretiert. Man muß kein Psychologe sein, um zu erkennen, welch unglaubliches Leid diesem Kind zugefügt wurde und wie lange es dauert, bis solche traumatischen Erfahrungen verarbeitet werden. Ich glaube, solche Vorgänge machen deutlich, daß staatliches Handeln gefragt ist. Wissenschaftler beklagten in unseren Anhörungen ein erhebliches Forschungsdefizit. Wir fordern deshalb die zuständigen politischen und wissenschaftlichen Einrichtungen auf, sich diesem Thema verstärkt zuzuwenden.
Gibt es auch Gruppen, die in der Gesellschaft nach politischer und wirtschaftlicher Macht streben, um dieselbe zu mißbrauchen? In einem Fall, dem der Scientology-Organisation, gibt es Hinweise, daß von ihr Gefahren für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehen könnten. Die Innenminister haben im Juni 1997 beschlossen, im Sonderfall der Scientology-Organisation alle verfügbaren Informationen über diese Gruppe durch die Ämter für Verfassungsschutz sammeln und auswerten zu lassen. Das halten wir Liberalen für richtig.
Ich möchte exemplarisch zwei Äußerungen des Scientology-Gründers, Herrn Hubbard, zitieren:
Das Ziel der Abteilung
- für Regierungsfragen von Scientology ist es, die Regierung und feindliche Philosophien oder Gesellschaften in einen Zustand vollständiger Gefügigkeit mit den Zielen der Scientology zu bringen.
Das zweite Zitat lautet:
Vielleicht werden in ferner Zukunft nur noch dem
Nichtaberrierten die Bürgerrechte verliehen.
Der „Nichtaberrierte" ist nach der Doktrin und Sprache von Scientology der bedingungslose Anhänger dieser Organisation -. Wenn solche Äußerungen als Prinzipien dem Handeln einer Organisation zugrunde liegen, sind wir uns doch wohl einig, daß hier ein genaueres Hinschauen durch den Staat gerechtfertigt ist.
({2})
Sollte sich herausstellen, daß die Beobachtungen keine belastbaren Informationen über ein tatsächliches Verhalten von Scientology bzw. seiner Anhänger in diesem genannten Sinne ergeben, müßte die Beobachtung allerdings beendet werden.
Ich muß in diesem Zusammenhang eines sagen: Ich bin zutiefst schockiert und empört darüber, daß Vertreter von Scientology es wagen, die Ermordung von 6 Millionen Juden im nationalsozialistischen Deutschland zur Propagierung ihrer eigenen Zwecke zu mißbrauchen.
({3})
Der Vergleich der Behandlung von Scientologen im demokratischen Deutschland mit der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 ist eine ungeheuerliche Beleidigung der Opfer jenes Regimes.
Warum hat der Psycho- und Esoterikmarkt einen so großen Zulauf? Sicher liegt eine Hauptursache in der Entwicklung unserer westlichen Gesellschaften. 50 Prozent aller Haushalte in deutschen Großstädten sind Single-Haushalte. Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden. Traditionelle Milieus, in denen Menschen früher Geborgenheit fanden, lösen sich auf. Die großen gesellschaftlichen Gruppen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen verlieren zunehmend ihre Bindungswirkung.
In einer Zeit unglaublicher Veränderungen lebend - global betrachtet, vor allem aber auch im Alltagsleben - suchen Menschen zunehmend Halt und Geborgenheit. Es ist deshalb kein Wunder, daß sich immer mehr Gruppen bilden, die den Menschen Hilfe zur Bewältigung ihrer Probleme anbieten und das Bedürfnis nach Spiritualität befriedigen.
Es wäre völlig falsch und ungerecht, all diese Gruppierungen sozusagen über einen Kamm zu scheren. Vieler dieser Gruppen sind seriös und wollen den Menschen tatsächlich helfen. Andere jedoch nutzen die Ängste und Hoffnungen ihrer Anhänger schamlos aus, um sich zu bereichern. Ich füge hinzu: Auch die oft undifferenzierte und manchmal reißerische Berichterstattung in manchen Medien trägt nicht zu einem sachlichen und vorurteilsfreien Umgang mit diesen Gruppen bei.
Wie sieht es international aus? Am Montag hat eine Anhörung hier im Bundestag mit internationalen Experten ergeben, daß sehr unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, wie von staatlicher Seite mit sogenannten Sekten und Psychogruppen umzugehen sei. Ich halte es für sehr wünschenswert, ein gemeinsames europäisches Vorgehen anzustreben.
Es hat in den letzten Monaten Mißverständnisse zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland gegeben. Diese beruhen auf der unterschiedlichen Beurteilung möglicher Gefahren, die von der Scientology-Organisation ausgehen könnten. Vor allem aber beruhen sie auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen. Es gab in Deutschland in diesem Jahrhundert einen autoritären Obrigkeitsstaat. Es gab in Deutschland in diesem Jahrhundert ein nationalsozialistisches Unrechtsregime. Und es gab bis vor wenigen Jahren in einem Teil unseres Vaterlandes ein kommunistisches Regime. Die USA hingegen können zurückblicken auf eine ungebrochene freiheitliche Verfassungstradition.
Vor diesem Hintergrund unterschiedlicher historischer Gegebenheiten müssen unsere amerikanischen Freunde verstehen, daß wir in Deutschland das Konzept der wehrhaften Demokratie vertreten: keine Freiheit für die Feinde der Freiheit - ob diese nun in einem religiös-weltanschaulichen Gewand auftreten oder nicht.
Uns Liberalen ist es ein Anliegen, durch Aufklärung die öffentliche Diskussion zu versachlichen. Wir wollen dazu beitragen, stigmatisierende Pauschalurteile über religiös-weltanschauliche Minderheiten zu vermeiden. Wir wollen ein gesellschaftliches Klima bewußter Toleranz fördern, das eine Stärkung gesellschaftlicher Pluralität ermöglichen und Konflikteskalationen vermeiden kann.
Unser Motto für die weitere Arbeit inder EnqueteKommission lautet deshalb: Wahrung der Menschenwürde, religiöse Toleranz und Transparenz auf dem Psychomarkt. Ein Jahr harter, aber wichtiger Arbeit liegt vor uns. Ich freue mich darauf.
({4})
Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute den Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen". Für uns alle in der Kommission ist klar, daß es keine Scientology-Kommission sein soll und darf. Dennoch, das Thema Scientology überlagert die ganze Kommissionsarbeit, insbesondere in der öffentlichen Auseinandersetzung. Das zeigt nicht nur die nationale Berichterstattung, sondern vor allem auch die aktuelle Reaktion aus den Vereinigten Staaten. Dort wird, unter anderem von Regierungsvertretern, der Vorwurf erhoben, in Deutschland werde die Religionsfreiheit von Scientologen unterdrückt. Das ist falsch.
Allerdings ist es genauso falsch, den amerikanischen Bedenken mit Vorwürfen oder Unverständnis zu begegnen, wie es Außenminister Kinkel getan hat.
({0})
Wenn amerikanische Befürchtungen von deutscher Seite als unerträglich bezeichnet werden, verschärft das nur die Auseinandersetzung und schadet den deutsch-amerikanischen Beziehungen und den deutschen Interessen.
Auf die unerträglichen Vergleiche der ScientologyOrganisation mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hat schon der Kollege Kohn hingewiesen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kohn?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, dem Parlament gegenüber einzuräumen, daß sich die Äußerungen von Außenminister Kinkel nicht auf die amerikanische Regierung, sondern auf die Aktivitäten eines Senators bezogen haben, der damit Wahlkampf machen will?
Das kann man so betrachten. Aber nach vielen Gesprächen, die ich im Sommer in den USA hatte, möchte ich behaupten, daß es sich nicht nur auf den Herrn d'Amato bezieht, sondern auf eine breitere Diskussion in Universitäten und anderen Bereichen. Es geht nicht generell um die amerikanische Regierung. Damit wollte ich nur darauf hinweisen, wie wichtig es ist, in diesem Zusammenhang mit äußerster Vorsicht vorzugehen.
({0})
Die Situation würde allerdings noch zusätzlich verschärft, wenn sich die Meldung der „Süddeutschen Zeitung" von heute morgen bewahrheiten würde:
Der Bundesnachrichtendienst ... soll sich nach Plänen des Kanzleramtes im Ausland um Aktivitäten der Scientology-Sekte kümmern. Der für die Koordination der Geheimdienste zuständige Staatsminister Bernd Schmidbauer und BND- Chef Hansjörg Geiger haben bereits erste Gespräche darüber geführt. Ein Beschluß steht aber noch aus. Die Beobachtung der ScientologySekte durch den BND könnte zu Verwicklungen in der Geheimdienstszene führen. In den Vereinigten Staaten beispielsweise gehören auch höhere Geheimdienstler Scientology an.
Auf Grund ihrer Geschichte und ihrer Grundwerte reagieren die USA äußerst sensibel, wenn sie religiöse Freiheiten bedroht sehen. Das müssen wir verstehen. Vernunft und Dialog müssen an die Stelle weiterer verbaler Attacken treten.
Bei uns führt die Dominanz des Themas Scientology allerdings zu einem weiteren Problem. Scientology wird in der Öffentlichkeit als Sekte wahrgenommen. Gleichzeitig werden aber auch Gruppen wie die Freikirchen, Baptisten, Mormonen, Zeugen Jehovas, Osho usw. in der Öffentlichkeit als Sekten bezeichnet; damit ist ein völlig heterogenes Spektrum angesprochen. Durch die verallgemeinernde Verwendung des abwertenden Sektenbegriffs vor allem in den Medien wird diesen Gruppen das gleiche Gefahrenpotential wie Scientology zugeschrieben. Das ist falsch und für viele Anhänger alternativer Glaubensgruppen besorgniserregend.
({1})
- Ich meinte alternative Glaubensvorstellungen im Verhältnis zu den großen Kirchen in Deutschland, die zentral organisiert sind.
Gerade in Zeiten zunehmender sozialer Polarisierung müssen wir dafür sorgen, daß ethnische, gesellschaftliche und religiöse Minderheiten nicht ausgegrenzt oder diskriminiert werden.
({2})
Ich möchte etwas zu dem Sondervotum sagen, das wir abgegeben haben. Unser Sachverständiger Professor Seiwert, dem ich auch an dieser Stelle herzlich für seine Mitarbeit danken möchte, und ich haben uns beim Zwischenbericht der Stimme enthalten. Folgenden Punkten konnten wir nicht zustimmen:
Die Kommissionsmehrheit spricht sich in dem Zwischenbericht zwar ausdrücklich gegen Pauschalurteile über religiöse und weltanschauliche Minderheiten aus. Aber im Papier der Arbeitsgruppe 3, das als Anlage beigefügt ist, wird massiv gegen diesen Vorsatz verstoßen. Ohne daß klar wird, auf wen sich die Aussagen beziehen, werden schwerste Beschuldigungen gegen die „sogenannten Anbieter auf dem
Religions-, Weltanschauungs- und Psychomarkt" erhoben.
({3})
Diese Gruppen werden allgemein und ohne jeden konkreten Beleg mit wirtschaftlicher Ausbeutung und kriminellen Handlungen wie Betrug, Wucher, Steuerhinterziehung oder Körperverletzung in Zusammenhang gebracht. Da nicht geklärt ist, wer gemeint ist, teilen wir die Besorgnis von Angehörigen religiöser und weltanschaulicher Minderheiten, daß sie pauschalen Verdächtigungen ausgesetzt sind.
Wir sehen ebenso, wie es von Vorrednern gesagt wurde, die dringende Notwendigkeit, durch verstärkte Forschungsaktivitäten unsere Wissenslücken zu schließen. Die Tatsache, daß keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vorliegen, bedeutet nicht, daß keine Probleme bestünden. Die Anhörungen haben, wie schon gesagt worden ist, gezeigt, daß es in Einzelfällen zu erheblichen Konflikten und auch zu strafbaren Handlungen kommt.
Wenn nur die Gefährlichkeit der neuen religiösen Bewegungen und sogenannten Psychogruppen betont wird, werden mögliche positive Effekte für Menschen, die Orientierung oder enge soziale Bindungen suchen, verschwiegen. Moderne Gesellschaften wie die unsere müssen akzeptieren, daß nicht nur viele Nationalitäten zusammenleben, sondern auch die Lebensstile und Glaubensüberzeugungen immer vielfältiger werden.
({4})
Deswegen dürfen wir auch nicht zwischen guten alten und schlechten neuen Religionen unterscheiden. Wer dies macht, verstößt gegen das Verfassungsprinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität.
Die Enquete-Kommission hat die Aufgabe, unabhängig von den aktuellen politischen Entscheidungszwängen Handlungsempfehlungen zu geben. Die Empfehlungen zur Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, zur Förderung wissenschaftlicher Forschung und zum Verzicht auf Änderung von Art. 4 des Grundgesetzes entsprechen der bisherigen Diskussion. Wir begrüßen diese Empfehlungen grundsätzlich, halten jedoch detaillierte Vorschläge ohne eine vorherige intensivere Diskussion für verfrüht. Deswegen haben wir eine Große Anfrage zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe in den Bundestag eingebracht. Auf der Grundlage ihrer Beantwortung werden wir uns dann weitere Gedanken in diesem Zusammenhang machen.
Im Zwischenbericht wird ebenso ausdrücklich der Beschluß der Innenministerkonferenz begrüßt, die Scientology-Organisation durch die Ämter für Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Das halten wir für falsch. Soweit der Scientology-Organisation oder einzelnen ihrer Mitglieder Gesetzesverstöße vorgeworfen werden, zum Beispiel im Straf-, Zivil- oder Gewerberecht, sind hierfür die regulären Organe der Rechtspflege zuständig.
Natürlich ist schonungslose Aufklärung über Methoden und Ziele von Scientology notwendig, aber die Verfassungsschutzbeobachtung wird nach unserer Auffassung nur bewirken, daß sich die Mitglieder und Anhänger der Organisation kriminalisiert fühlen, die Bindungen an die Organisation eher noch verstärkt und Außenkontakte verringert werden. Dadurch wird es Aussteigern und Aussteigerinnen strukturell schwerer gemacht, diesen Ausstieg auch wirklich zu vollziehen.
({5})
Nach unserer Überzeugung ist es Aufgabe der Enquete-Kommission, die genannten Bedenken ausführlich zu diskutieren, bevor Handlungsempfehlungen in diesem sensiblen Bereich gegeben werden. Da dies bisher nicht geschehen ist, können wir dem Zwischenbericht der Kommission so nicht zustimmen.
Zum Abschluß möchte ich sagen: Wir müssen uns bewußt sein, daß bei allen staatlichen Eingriffen und Repressionen immer auch gesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt werden. Das Problem dabei ist, daß darunter oft diejenigen leiden, die gar nicht gemeint sind.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind ja inzwischen fast nur noch Kollegen hier, die in dieser Enquete-Kommission mitarbeiten.
({0})
- Nicht ganz. Ich begrüße besonders diejenigen, die nicht so intensiv mitarbeiten.
Es ist heute morgen viel gesagt worden. Ich muß ganz ehrlich sagen, Frau Rennebach - ich will jetzt nichts kritisieren -: Ich wünsche mir für die zukünftige Arbeit, daß wir die Parteipolitik aus dieser Thematik heraushalten. Wir haben Themen genug, über die wir politisch wirklich deftig streiten können. Ich glaube, dies muß nicht so ein Thema sein.
({1})
Ich freue mich - ich bin da an sich sehr positiv überrascht -, daß wir in der Enquete-Kommission, alle miteinander, auch die Experten, mit diesem Thema sehr behutsam umgehen. Es gibt eigentlich niemanden, der so spricht, wie man es manchmal außerhalb des Parlaments in Zeitungen liest. Die Sensibilität ist vielmehr bei fast allen Mitgliedern sehr groß. Ich begrüße das.
Ich möchte hier auch noch einmal erklären - die Vorsitzende, Frau Schätzle, hat es vorhin schon einmal gesagt -: Art. 4 ist eine ungeheuer wichtige Vorschrift. Man kann es gar nicht oft genug wiederholen, daß wir in der Enquete-Kommission wohl einstimmig der Meinung sind, daß das Recht auf freie
Ausübung der Religion ein elementares Menschenrecht ist.
Insofern bin auch ich - ich betone das bei jeder Gelegenheit gerne - gegen jede Verteufelung und Stigmatisierung von Religionen genauso wie von Sekten. Das ist eine ganz wichtige Aussage, die wir immer wieder allen entgegenhalten müssen, die dieser Kommission skeptisch gegenüberstehen.
Ich möchte noch einen Aspekt herausgreifen. Ich bin Sozialpolitikerin. Ich finde schon, daß wir uns in der Enquete-Kommission doch noch einmal intensiv mit der Arbeit beschäftigen müssen, das heißt mit solchen Fragen wie: Was ist das für eine Arbeit, die da in den Gruppen stattfindet? Gibt es da Ausbeutung? Gibt es da ungesetzliche Beschäftigungen? Gibt es Leute, die ohne Lohn arbeiten? Arbeiten sie für viel zu geringen Lohn?
Ich freue mich, daß wir dies im weiteren Verlauf unserer Arbeit noch vertiefen werden. Wir müssen allerdings auch dabei sehr behutsam sein; denn man darf nicht alles über einen Kamm scheren. Es ist jedem klar, daß im Rahmen von Religion, von Kirchen, von Sekten auch ehrenamtliche Arbeit einen hohen Stellenwert hat. Dies abzugrenzen wird für uns sicherlich ein ungeheures Problem darstellen. Niemand würde sagen, daß es unehrenhaft oder illegal sei, zum Beispiel im Kloster zu arbeiten.
Es ist schwierig, zu entscheiden: Wo liegt die Abgrenzung zwischen ehrenamtlicher und hauptamtlicher Tätigkeit? Das Bundesarbeitsgericht hat 1995 einige Kriterien festgelegt, ab wann die Betätigung als hauptamtlicher Mitarbeiter in einer Gruppe als Arbeitsverhältnis anzusehen ist. Aber eine wirkliche Rechtsgrundlage haben wir in diesem Bereich natürlich nicht.
Es kommt nicht darauf an, Bürokratie für Ehrenamtlichkeit zu schaffen, sondern es kommt darauf an, eine Abgrenzung zu finden: Wo wird Beschäftigung illegal, wann ist sie von uns nicht mehr hinzunehmen? Und dann ist die Frage zu stellen: Müssen wir neue Kriterien entwickeln?
Ich wünsche mir, auch im Sinne all derer, die vielleicht in einer problematischen Art von dieser Entwicklung betroffen sind, eine konstruktive Zusammenarbeit. Ich finde Ihren Vorschlag sehr gut, Herr Kohn, durch fachmännische Beratung zu helfen. Ich glaube, die Beratung muß einer der Schwerpunkte sein, die wir bei unserer Arbeit setzen müssen. Mir ist das jedenfalls nach den vielen Anhörungen, insbesondere nach der gestrigen Anhörung, deutlich geworden.
Vielen Dank.
({2})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Enquete-Kommission hat zweifellos einen umfangreichen Zwischenbericht über die bisherige Arbeit vorgelegt und auf diese Weise ausführlich dokumentiert.
Für mich ist es keine Frage, daß nach den neuesten Meldungen - beispielsweise in der „FAZ" - die Organisation Scientology Kinder- und Jugendlager in England unterhält. Schon von daher hat diese Kommission ihre Berechtigung. Sie hat bis zum heutigen Tag mit Sicherheit eine wichtige Arbeit geleistet. Ich will nicht das wiederholen, was meine Kolleginnen und Kollegen bereits vorausgeschickt haben. All das, was die Anhörungen der Kommission in diesen Tagen und Wochen hervorgebracht haben, war in bezug auf die Arbeit der Scientologen, aber auch anderer sogenannter Sekten und Psychogruppen schokkierend.
Die Kolleginnen und Kollegen haben schon angesprochen, wie problematisch das Thema Religionsfreiheit ist und wie dünn das Eis ist, auf das wir uns manchmal begeben, wenn es darum geht, Gruppen zu stigmatisieren oder auch nur in die Kategorie Sekten oder sogenannte Psychogruppen einzuordnen.
Ich meine - in diesem Punkt unterscheide ich mich von den großen Parteien bzw. von der F.D.P.; ich bin eher der Meinung der Grünen -, daß eine Überwachung von Scientology durch den Verfassungsschutz keine geeignete Maßnahme ist. Es gibt genügend Ansatzpunkte, bei Verstößen gegen das Steuerrecht, das Sozial- und Arbeitsrecht, Datenschutz-, Wettbewerbs- und Strafgesetze gegen die Scientologen vorzugehen.
Aber noch ein weiterer Punkt ist für mich wichtig. Mit dieser Überwachung wird sehr schnell die Schwelle für weitere Überwachungen gesenkt. Der Trend in Richtung Überwachungsstaat wird dadurch fortgesetzt. Zudem möchte ich an folgendes erinnern: Bei der Anhörung konnten wir durch die Vertreter der Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz erfahren, daß die sogenannten Sekten und Psychogruppen, die tatsächlich rassistisches und antisemitisches Gedankengut verbreiten, deshalb nicht ins Visier des Verfassungsschutzes geraten, weil sie angeblich zu klein oder zu bedeutungslos sind.
Unabdingbar scheint mir deswegen zu sein, daß eine konsequente Aufklärungsarbeit über die Praktiken der Scientologen sowie der anderen sektenähnlichen Organisationen durch die Bundeszentrale für politische Bildung, aber auch durch andere Institutionen geleistet wird. Unabdingbar ist weiterhin, daß es eine finanzielle Förderung der freien Träger der Jugend-, Eltern- und Betroffeneninitiativen gibt, die sich mit diesem Thema befassen, und daß es ein konsequentes Vorgehen gegen rechtswidrige Praktiken von Scientologen oder Angehörigen ähnlicher Organisationen in diesem Land gibt.
Bei aller berechtigten Kritik, die in der öffentlichen Debatte an Zielvorstellungen und Praktiken von Scientology geübt wird, darf nicht aus dem Blick geraten, daß andere Sekten, deren Vertreter wir in der Kommission zum Teil angehört oder die wir untersucht haben, undemokratische Strukturen aufweiUlla Jelpke
sen, zum Beispiel ISCON/Krishna. Die Zeugen Jehovas sind Anhänger von autoritären und frauenfeindlichen Vorstellungen. Rechtswidrige Praktiken - das haben wir heute schon von dem Kollegen Kohn gehört - werden von Sant Thakar Singh begangen. Die in Amerika tätige Sekte Heavens Gate in San Diego veranlaßte ihre Anhänger und Anhängerinnen zu einem kollektiven Selbstmord. Rassistische und antisemitische. Positionen werden von „Universelles Leben", „Akropolis" und anderen Organisationen vertreten. Ich will sie hier nicht alle nennen. In den vergangenen Tagen haben wir von Aussteigern und Aussteigerinnen ähnliche Vorwürfe vernehmen können.
Mir ist wichtig, daß diese Organisationen nicht zu weit in den Hintergrund geraten und Scientology zu sehr in den Vordergrund gerät, wie das von den Medien leider häufig kolportiert wird.
({0})
Zum Schluß kann ich nur sagen: Ich weiß, daß mir als ein Mitglied einer Gruppe natürlich nur wenig Möglichkeiten bleiben, in einer solchen Kommission voll mitzuarbeiten. Deswegen sind meine Vorstellungen nicht als Antrag zu verstehen, sondern sollten als weitere Überlegungen in die Arbeit dieser EnqueteKommission mit eingehen. Ich hoffe, die Kommission wird in diesem Sinne weiterarbeiten.
Danke.
({1})
Ich gebe dem Abgeordneten Eckart von Klaeden das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Teilen der öffentlichen Diskussion in Deutschland, aber vor allem im Ausland wird manchmal der Eindruck erweckt, unsere Tätigkeit verletze oder berühre Art. 4 des Grundgesetzes. Ich will in der mir verbleibenden Zeit versuchen, zur Aufklärung dieses Mißverständnisses beizutragen, und will mich zu Anfang deutlich hinter die Aussagen von Frau Schnieber-Jastram und Frau Köster-Loßack zur Religionsfreiheit, insbesondere zum Schutz der ethnischen, religiösen und sozialen Minderheiten, und zum Neutralitätsgebot des Staates stellen. Ich glaube, dazu muß ich hier nichts weiter ausführen.
Daß die Religionsfreiheit in unserer Verfassung einen derartig hohen Stellenwert genießt, findet darin seinen Ausdruck, daß sie durch verfassungsimmanente Schranken geschützt ist. Wir begreifen die Grundrechte in unserer Staatstradition nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als eine staatliche Werteordnung, die die Schutzpflichten des Staates aktiviert. Wenn insbesondere Rechte aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes, also das Recht auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit, durch Organisationen gefährdet sind, dann entsteht eine Schutzpflicht des Staates unabhängig davon, ob sich die Organisation, die diese Rechtsgüter gefährdet, Religionsgemeinschaft, Psychogruppe oder sonstwie nennt.
Ich halte es auch für richtig, daß sich, wenn eine Organisation, die über nicht unerhebliche finanzielle Mittel verfügt, von sich selber erklärt, die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland durch eine andere Ordnung ersetzen zu wollen, der Verfassungsschutz diese wenigstens einmal ansieht. Vielleicht kommt er ja zu dem Ergebnis, daß eine solche Gefahr von dieser Organisation nicht ausgeht. Daß man aber grundsätzlich sagt: Wir schauen uns diese Organisation nicht an, kann ich nicht nachvollziehen.
Ich möchte hier ein Beispiel aus der amerikanischen Geschichte nennen, das jedenfalls aus meiner Sicht zeigt, daß eine derartige Aktivität durchaus in demokratischer Tradition steht. In den 60er Jahren hat es in den Vereinigten Staaten, in Mississippi, schwere Rassenunruhen gegeben. Diese Unruhen sind von den dortigen Protagonisten, die diese Unruhen ausgelöst haben, mit religiösen Motiven verklärt worden. Diese religiösen Motive haben das FBI überhaupt nicht davon abgehalten, diesen rassistischen Sumpf auszutrocknen.
Ich meine, daß die Arbeit, die das FBI damals geleistet hat, zu den bemerkenswertesten Teilen der amerikanischen Geschichte gehört. Durch dieses Beispiel wird deutlich, daß das Anführen religiöser Motive noch lange nicht dazu führen kann, sie als gesichert ansehen zu müssen.
Wir haben auch in anderen Punkten eine etwas andere Tradition als die Vereinigten Staaten. Wir bekennen uns zum Beispiel zum Sozialstaatsgebot. Auch daraus ergibt sich für unseren Staat eine stärkere Aufklärungspflicht den Bürgern gegenüber, als das in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Ich will aber betonen, daß das aus meiner Sicht keine Frage von mehr oder weniger Grundrechten bzw. Demokratie ist, sondern daß es dort unterschiedliche Staatszielbestimmungen und Wege gibt, die sich alle im demokratischen Spektrum bewegen. Es steht uns daher nicht zu, den amerikanischen Weg zu kritisieren. Es ist aber auch gestattet, darauf hinzuweisen, daß wir an unseren Prinzipien festhalten wollen.
Abschließend will ich die Warnung aussprechen, daß bei uns in Deutschland - diesen Eindruck habe ich manchmal - in der öffentlichen Diskussion der Einfluß und die Gefahr, die von sogenannten Sekten und Psychogruppen ausgehen, überschätzt werden. Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Eine unmittelbare Gefährdung unserer staatlichen Ordnung jedenfalls kann ich bisher nicht erkennen. Und das ist auch gut so.
({0})
Ich gebe der Abgeordneten Gisela Schröter das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Mit dem Zwischenbericht haben wir ein
ganz schön hartes Stück Weg hinter uns gebracht. Ich denke, es liegt auch noch ein schweres Stück Weg vor uns.
Gestatten Sie mir, daß ich in meinen Ausführungen zum Zwischenbericht auf den ganz besonders sensiblen Bereich „Kinder und Jugendliche in sogenannten Sekten und Psychogruppen" eingehen werde. Die Verstöße gegen die Rechte von Kindern und Jugendlichen haben in unserer Arbeit eine sehr zentrale Rolle gespielt. Im Bereich der sogenannten Sekten und Psychogruppen gibt es ein besonders dunkles Kapitel, den Umgang mit Kindern. Der Kollege Kohn hat dazu schon ein Beispiel gebracht.
Wir müssen wissen, daß nach Schätzungen in der Bundesrepublik zwischen 100 000 und 200 000 Kinder bis 18 Jahre in sogenannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen, viele von ihnen schon in der zweiten Generation. Die Probleme bei der Erziehung sind vielfältig und reichen von körperlicher Mißhandlung bis hin zu sozialer Ausgrenzung und sexueller Ausbeutung. In manchen Gruppierungen werden systematisch Ängste erzeugt; den Kindern wird mit Endzeit und Dämonen gedroht. Hierfür gibt es genügend Beispiele. Viele von uns kennen sicher auch das Problem bei den Zeugen Jehovas, die Bluttransfusionen ablehnen.
Ich denke, wir sind uns darüber einig - auch auf Grund dieser Beispiele - daß es keinen Zweifel an der Wichtigkeit gibt, hier staatlich zu handeln. Vielfach aber werden die Zweifel daran mit dem Hinweis begründet: Wenn sich jemand einer sogenannten Sekte oder Psychogruppe anschließt, dann ist das seine freie, individuelle Entscheidung.
Wie fragwürdig diese Behauptung in bezug auf einen erwachsenen Menschen ist, belegen unsere Untersuchungen zu den sogenannten Psychotechniken, die in einzelnen dieser Gruppierungen angewendet werden. Schon gar nicht aber kann bei Kindern und Jugendlichen, die in diesen sogenannten Sekten und Psychogruppen sind, von einer freien Willensentscheidung gesprochen werden. Davon kann wirklich nicht die Rede sein. Selbstverständlich muß auch hier differenziert werden. In den einzelnen Gruppierungen verläuft die Einflußnahme auf Kinder in unterschiedlichem Ausmaß. Die Fälle aber, in denen es zu massiven Schädigungen kommt, sind zahlreich. Hier muß der Staat, müssen wir als Gesetzgeber handeln.
Für unsere Fraktion war der Mißbrauch gerade von Kindern und Jugendlichen und die Petitionen, die dazu an uns gerichtet worden sind, ein zentraler Beweggrund, nachdrücklich für die Einsetzung dieser Enquete-Kommission einzutreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in drei Anhörungen hat sich die Kommission allein mit diesem Thema befaßt. Ein eigener Arbeitskreis der Enquete-Kommission hat dieses Feld bearbeitet.
In der ersten Anhörung haben Betroffene Einzelfälle geschildert. Es handelte sich um Betroffene, die selbst als ehemalige Mitglieder oder Anhänger dieser Gruppierung den Umgang mit den Kindern erlebt haben. Dabei wurde allen klar, daß eine große Bandbreite von erzieherischen Einflußnahmen gegenüber
Kindern an der Tagesordnung ist. Wie schon angesprochen, reichen sie von ganz subtilen Methoden der Angsterzeugung bis hin zur offenen Form physischer Gewalt.
Besondere Schwierigkeiten treten für die Kinder immer dann auf, wenn das Wertesystem der einzelnen Gruppe mit den Wertemaßstäben der übrigen Gesellschaft kollidiert. Schwierige Situationen entstehen für die Kinder auch dann, wenn ein Elternteil die Gruppe verläßt und das Kind mitnimmt. Oft nutzt der in der Gruppe verbleibende Elternteil die daraus entstandene Zerrissenheit des Kindes für die Durchsetzung eigener Interessen.
In der Anhörung der wissenschaftlichen Experten zu den pädagogischen und psychologischen Aspekten wurde klar, daß wir in diesem Bereich enorme Forschungsdefizite haben. Aus den Stellungnahmen der Fachleute ergibt sich ein umfangreicher Katalog von Forschungsthemen zur Situation von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen. Hier brauchen wir also große Anstrengungen, vor allem in den Erziehungswissenschaften.
Genauso dringend oder noch dringender - das hat die Anhörung der juristischen Experten bestätigt - brauchen wir eine zielgruppenorientierte Aufklärung und Information. Familiengerichte, beteiligte Jugendämter und psychologische Gerichtsgutachter müssen für das Thema sensibilisiert werden.
Zum Beispiel brauchen wir eine besondere Sensibilisierung von Familienrichtern. Die Erfahrung zeigt, daß viele Ehen, in denen nur ein Partner Mitglied einer solchen Gruppierung ist, irgendwann scheitern. Wenn es gemeinsame Kinder gibt, muß über das Umgangs- und Sorgerecht entschieden werden. Die bisherige Praxis bei den Familiengerichten sieht in der Regel so aus, daß unter Hinweis auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit die Mitgliedschaft des einen Elternteils einfach tabuisiert wird. Damit werden Sachverhalte systematisch ausgeblendet, die für das Wohl des Kindes von entscheidender Bedeutung sind.
Natürlich darf es nicht so sein, daß die Sorgerechtsentscheidung wegen der bloßen Mitgliedschaft in einer sogenannten Sekte oder Psychogruppe zuungunsten des betreffenden Elternteils ausfällt. Hier ist eine Einzelfallklärung ganz besonders notwendig, aber auch die Sensibilisierung der Gerichte und der Rechtsprechenden.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen: Es geht hierbei nicht um alle diejenigen Religionsgemeinschaften, die sich bereits seit längerer Zeit etabliert haben und mit denen es keine Probleme gibt. Genauso möchte ich aber betonen: Im Interesse einer klaren Differenzierung darf die Bezugnahme auf das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht dazu führen, daß das Schicksal von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen tabuisiert wird.
({0})
Strafrechtlich relevante Tatbestände bleiben sonst unentdeckt und damit der strafrechtlichen Verfolgung entzogen.
Ich wiederhole: Notwendig ist ganz besonders eine gezielte Aufklärung von Familienrichtern, Mitarbeitern von Jugendämtern und Gerichtspsychologen. Mittels Schulungen müssen sie mit der Problematik von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen vertraut werden.
Es geht jedoch auch um die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen, um an dem spezifischen Gefährdungs- und Konfliktpotential der sogenannten Sekten und Psychogruppen anzusetzen. Wir müssen also genau herausfinden, wie die Ziele, Praktiken und Binnenstrukturen der Gruppierung aussehen, die das Recht der Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen. Darauf haben auch meine Vorredner immer wieder hingewiesen.
Wir müssen die Fälle unterscheiden, in denen sich sogenannte Sekten und Psychogruppen mißbräuchlich auf das Recht der Religionsfreiheit berufen, um etwa steuerliche Vorteile zu genießen oder um kriminelle Handlungen einer Strafverfolgung zu entziehen. Es ist unsere Aufgabe, das Grundrecht selbst vor Mißbrauch zu schützen.
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Wir haben bezüglich einer Expertenanhörung zu verfassungsrechtlichen Fragen im Zwischenbericht festgehalten:
Nach Einschätzung der Rechtsexperten ist die Geltung von Artikel 4 nicht absolut, sondern sie unterliegt verfassungsimmanenten Schranken.
Danach sollte die Religionsfreiheit nicht so weit gehen, daß andere verfassungsmäßig geschützte Güter mißachtet werden. So darf zum Beispiel die kritische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gemeinschaft nicht beschnitten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Zwischenbericht gibt auch erste Empfehlungen für einzelgesetzliche Maßnahmen; diese sind heute schon genannt worden: das Psychotherapeutengesetz, das Heilpraktikergesetz. Es geht um den Verbraucherschutz. Nur so sind Mißbrauch und Gefährdungen zu verhindern, nur so werden Schädigungen klar als Straftatbestände definiert und rechtliche Grundlagen für staatliches Eingreifen geschaffen.
Meiner Meinung nach haben wir noch einiges an Arbeit zu leisten. Ich hoffe, daß wir die Arbeit gut bewältigen und daß wir im Interesse vor allen Dingen auch der Kinder und Jugendlichen zu einem guten Ergebnis kommen.
Herzlichen Dank.
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Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Helmut Jawurek.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der jetzt vor uns liegende Zwischenbericht der Enquete-Kommission dokumentiert, wie ich meine, sehr gut die von uns bisher geleistete Arbeit, die sehr umfangreich war und die wir in einem Jahr bewältigt haben.
Eine abschließende Bewertung enthält der Bericht natürlich nicht. Unsere Handlungsempfehlungen und Stellungnahmen zeigen aber doch eindeutig - ich glaube, das ist auch in dieser Debatte deutlich geworden -, in welcher Hinsicht wir bereits heute Regelungs- und Handlungsbedarf sehen.
Wir haben heute Fragen des Verfassungsschutzes, mögliche physische Manipulationen und wirtschaftliche Betätigungsfelder, besonders aber die Situation von Kindern und Jugendlichen in Sekten, worauf meine Vorrednerin bereits eingegangen ist, behandelt. Dieser letzte Themenbereich liegt mir besonders am Herzen.
In ihren Handlungsempfehlungen hat die Enquete-Kommission angeregt, Forschungen im Bereich „Kinder in sogenannten Sekten und Psychogruppen" künftig verstärkt zu fördern. Experten haben in den verschiedenen Anhörungen zu diesem Thema immer wieder beklagt, daß es da erhebliche Forschungsdefizite gibt.
Wir haben festgestellt, daß in Deutschland 100 000 bis 200 000 Kinder und Jugendliche in solchen Gruppierungen leben. Da tauchen Probleme verschiedenster Art auf: körperliche Gewalt, sexuelle Ausbeutung, Angsterzeugung, soziale Ausgrenzung. In der Regel müssen sich die Kinder und Jugendlichen bei einem Ausstieg aus diesen Gruppierungen auch gegen ihre Familie entscheiden, und zwar dann, wenn die Familie dieser Gruppierung noch angehört. Der Forschungsstand zu diesem Problemfeld ist äußerst unbefriedigend, auch in der Literatur.
Es muß ein wesentlicher Unterschied beachtet werden: Kinder kommen über ihre Eltern zu solchen Gruppierungen, Jugendliche sind meist selbst aktiv. Sie suchen neue Dimensionen des Lebens; sie wollen bewußt neue Erfahrungen machen. Hier müssen wir die Aufklärung dringend verstärken. Ein Ausstieg ist für Kinder und Jugendliche schwieriger als für Erwachsene, da sie auf Grund der Erziehung in der Gruppe zu sehr an diese gebunden sind.
Mein Kollege Kohn hat das Fallbeispiel Sant Thakar Singh bereits vorgestellt. Bei der Anhörung war ich beeindruckt von der eindringlichen Schilderung der Mutter über das jahrelange Leben mit ihrem zweijährigen Kleinkind und später mit einem Säugling in dieser Gruppe. Uns allen - parteiübergreifend - ist spätestens da klargeworden, daß hier ein riesiger Handlungsbedarf besteht, der mit den bisherigen rechtsstaatlichen Mitteln so gut wie überhaupt nicht gedeckt werden kann.
({0})
Zum psychologischen Hintergrund. Es fehlen Langzeitstudien über die Lebensläufe der Kinder, die den Zusammenhang von Gruppenzugehörigkeit und Erfolg bzw. Scheitern im weiteren Verlauf des Lebens aufzeigen.
Kinder haben weniger Erfahrungen, an denen sie das Erlebte messen können; sie haben keine Vergleichsmöglichkeiten, keine entsprechenden Wertmaßstäbe. Sie haben weniger Ich-Stärke und eine engere Bindung an die Personen in der Gruppe. Da ist ein Vertrauensmißbrauch natürlich leicht.
Auf den juristischen Hintergrund hat meine Vorrednerin bereits hingewiesen: daß insbesondere im Familienrecht, bei den Rechtsanwälten noch sehr großer Aufklärungsbedarf besteht.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, liebe Kollegin Köster-Loßack, den Beschluß der Innenministerkonferenz vom 5. Juni: Beobachtung von Scientology durch den Verfassungsschutz. Ich begrüße insbesondere die Initiative der Bayerischen Staatsregierung und des bayerischen Innenministers, die hier mustergültig waren.
({1})]: Baden-Württemberg
nicht zu vergessen!)
Meiner Meinung nach ist zu bedauern, daß noch nicht alle Bundesländer ihrem eigenen Beschluß von damals gefolgt sind. Ich hoffe, daß auch SchleswigHolstein noch nachzieht.
Wir alle sind gefordert, den Ausstieg der Menschen aus diesen Gruppierungen zu erleichtern. Wir müssen überprüfen, ob die Sozialversicherungsbeiträge wirklich abgeführt worden sind, ob die Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsrechts eingehalten werden. Ich denke, daß der 12-Punkte-Katalog Bayerns ein wichtiger, wegweisender Schritt ist.
Wir müssen dem Mißbrauch auf dem Gebiet der gewerblichen Lebenshilfe entgegentreten. Der aktuelle Gesetzentwurf zum Beispiel Hamburgs, in den bewußt auch das Strafrecht und die Strafverfolgung hineingenommen wurden, ist in meinen Augen dafür eine ausgezeichnete Basis. Ich hoffe, daß er auch bald verabschiedet wird.
({2})
Ich persönlich finde es positiv, daß verschiedene Bundesländer auf unterschiedlichsten Gebieten immer wieder tätig werden, zum Beispiel heute auch die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern im Bundesrat,
({3})
die im Hinblick auf Scientology von der Bundesregierung neue Initiativen fordern.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war für mich schon beeindruckend, wie wir uns am Schluß, als wir um den Endbericht gerungen haben -11 Politiker unterschiedlichster Fraktionen und 11 Wissenschaftler mit unterschiedlichstem Background -, bemüht haben, einen Konsens zu finden und einen gemeinsamen Abschlußbericht vorzustellen. Ich bedaure, daß die Grünen dem Bericht nur „fast völlig" zustimmen können - aber immerhin.
Wir werden nächstes Jahr, in einem Wahljahr, den Schlußbericht vorstellen. Ich hoffe, daß es uns gelingt, aus ihm den Wahlkampf möglichst herauszuhalten. Denn ich glaube, Parteiengezänk ist das letzte, was wir in diesem hochsensiblen Politikfeld gebrauchen können.
Vielen Dank.
({5})
Nun gebe ich das Wort noch dem Abgeordneten Ronald Pofalla.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an das anschließen, womit der Kollege Jawurek geendet hat. Ich möchte nämlich noch einmal darauf hinweisen, daß die Arbeit dieser Enquete-Kommission ja am Ende auch in bezug auf die Beschlußlage in 98 Prozent der Fälle zu einheitlichen Voten geführt hat und wir nur an zwei Stellen - darauf gehe ich gleich noch ein - kleinere Sondervoten zu verzeichnen hatten. Das stelle ich deshalb an den Anfang, weil man, wenn man Ihren Ausführungen, Frau Kollegin Rennebach, gefolgt ist, ja den Eindruck gewinnen muß, als ob die Differenzen in der Arbeit der Kommission riesig gewesen wären. Das ist nach meiner Überzeugung wirklich nicht der Fall gewesen. Ich gehe auf einige der Ausführungen, die Sie gemacht haben, ein.
Es gibt ein Sondervotum der SPD. Es ist übrigens fünf Zeilen lang. Das kann man im Bericht der Enquete-Kommission nachlesen - es sind fünf ganze Zeilen.
({0}): Aber mit viel
Substanz!)
Es geht dabei um die Förderung von Betroffenen- und Elterninitiativen mit staatlichen Mitteln. Die Anhörungen der Betroffenengruppen selber wie auch der Verfassungsjuristen im Hinblick auf Art. 4 des Grundgesetzes haben auf ein juristisches Problem aufmerksam gemacht. Dieses juristische Problem liegt in unserer eigenen Verfassung; es besteht nämlich darin, daß es ein sogenanntes staatliches Neutralitätsgebot gibt und wir nicht von vornherein vorhandene Betroffenen- und Elterninitiativen unterstützen können. Wir haben ja ausdrücklich gesagt, daß wir uns im. folgenden Jahr, dem zweiten Jahr der Arbeit der Enquete-Kommission, mit dieser Frage befassen wollen und nach Möglichkeiten Ausschau halten wollen, die uns unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten eine saubere Empfehlung an den Deutschen Bundestag ermöglichen, wie man zu einer solchen Förderung von Betroffenen- und Elterninitiativen - das kann auch in anderer Form, beispielsweise über die Gründung einer Stiftung, geschehen - kommen kann. Ich lege deshalb Wert darauf, das hier festzustellen, damit der Eindruck, den Sie wiederholt zu erwecken versucht haben, nicht entsteht.
Frau Rennebach, Sie haben am 30. Juni 1997 - das müssen Sie selber verantworten; das soll das Haus ja auch wissen - alle Beratungs-, Betroffenen- und Elterninitiativen angeschrieben, und Sie haben es wirklich unterlassen, auf diesen Teilaspekt der BeRonald Pofalla
schlußlage der Enquete-Kommission hinzuweisen. Es hat definitiv keiner - von keiner Seite - abschließend abgelehnt, solche Initiativen zu unterstützen. Vielmehr haben wir gesagt: Unsere Beratungen sind noch nicht so weit, daß wir dem Deutschen Bundestag eine juristisch korrekte Möglichkeit empfehlen könnten, wie hier verfahren werden kann.
Von daher muß ich ganz ehrlich sagen, daß ich solche Briefe, die natürlich bei solchen Gruppen gut ankommen, für in der Sache falsch halte. Diese Briefe haben mit dem tatsächlichen Sachstand der Beratungen in unserer Enquete-Kommission nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Rennebach?
Bitte schön.
Herr Kollege Pofalla, Sie werden mir zugestehen, daß ich jetzt nicht länger ausführe, wie dieses Sondervotum zustande gekommen ist. Ich frage Sie: Können Sie mir zustimmen, daß es unser Sondervotum ist, das die Schaffung gesetzlicher Regelungen fordert, um die Unterstützung und Finanzierung von Eltern- und Betroffeneninitiativen zu gewährleisten? Das ist genau das, was Sie jetzt bemängeln.
Stimmt es, daß wir gefordert haben, die gesetzlichen Regelungen zu schaffen? Nur darum geht es. Es geht nicht darum, daß Sie sie nicht einsetzen wollen, sondern zunächst müssen die gesetzlichen Regelungen geschaffen werden.
Da ich Ihnen immer gerne da, wo ich es kann, zustimme, will ich es an dieser Stelle tun, aber mit folgendem Zusatz: Genau diese gesetzliche Regelung ist das Problem, vor dem wir stehen. Unsere Verfassung läßt unter dem Gesichtspunkt des staatlichen Neutralitätsgebots möglicherweise diese Lösung nicht zu und zwingt uns vielleicht zu einer Stiftungslösung, die dann keine gesetzliche Lösung ist, sondern eine andere Form der Unterstützung bietet.
({0})
Von daher sage ich Ihnen: Es stimmt; genau deshalb haben wir diese Forderung der sozialdemokratischen Arbeitsgruppe abgelehnt. Das ist völlig richtig.
Ich komme nun zum Psychotherapeutengesetz. Der Deutschen Bundestag berät - ich weiß nicht, zum wievielten Male - die Möglichkeit, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen. Wir empfehlen dem Deutschen Bundestag dazu - einvernehmlich, mit Ihrer Zustimmung - fünf Einzelpunkte, die wir in die Beratungen zum Psychotherapeutengesetz gern aufgenommen sähen.
Sie graben heute den Unterschied aus - es hat übrigens bei den Beratungen keinen Unterschied gegeben; denn diesen Antrag haben Sie in den Beratungen nicht gestellt -, der im Fachausschuß, im Gesundheitsausschuß, in der Tat diskutiert wird, nämlich die Frage der Selbstbeteiligung von Patienten, die sich psyhotherapeutischen Beratungen unterziehen. Darüber hat es keinen Dissens in der EnqueteKommission gegeben. Dazu hat es keine Anträge von Ihnen gegeben. Zum Psychotherapeutengesetz hat es einen einheitlichen Beratungsstand gegeben.
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Nach den Beratungen zum Psychotherapeutengesetz ist in der Tat vorgesehen, bei 50 Therapeutenstunden eine Eigenbeteiligung von 840 DM in das Gesetz aufzunehmen, während die jetzige Regelung die volle Kostenübernahme bei den Patienten bedeutet, die sich psychotherapeutisch beraten lassen. Sie hätten besser den positiven Anteil herausgestellt, daß jetzt 80 oder 90 Prozent der Kosten übernommen werden sollen und der Eigenbeteiligungsanteil nur 840 DM bei 50 Therapeutenstunden betragen soll. Wenn das die Differenz und der große oppositionelle Antrag der SPD in diesem Zusammenhang ist, dann bin ich mir sicher, wie die Bundestagswahlen im nächsten Jahr ausgehen werden.
Eine letzte Anmerkung zum Sondervotum der Grünen. Ich mache aus meiner Meinung kein Hehl: Dieses Sondervotum der Grünen hat uns alle überrascht, weil nach den Beratungen in der Enquete-Kommission dieses Sondervotum nicht vorauszusehen war.
Ich muß allerdings, ohne jede Formulierung im Sondervotum der Grünen zu teilen, offen sagen, daß dieses Sondervotum in der Tat festhält, wo möglicherweise Arbeitsschwerpunkte für das zweite Jahr unserer Arbeit liegen. Im Rückblick auf das erste Jahr zeigt es Kritikpunkte auf. Hier müssen wir möglicherweise nacharbeiten.
Ich teile nicht alle Formulierungen, aber so, wie Sie es dargestellt haben, war der Ablauf wirklich nicht. Wir sollten das zweite Jahr dazu nutzen, uns auf die Gemeinsamkeiten und nicht auf die Unterschiede zu konzentrieren, was Sie, Frau Rennebach, manchmal gern tun.
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Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/8170 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1. Oktober 1997, 12 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.