Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche einen guten Morgen.
Zunächst komme ich zu dem, was noch mitzuteilen ist. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur umweltorientierten Neuausrichtung des Pflanzenschutzgesetzes, Drucksache 13/8505, zu erweitern.
Außerdem wurde vereinbart, das bereits überwiesene Haushaltsrechts-Fortentwicklungsgesetz, Drucksache 13/8293, zusätzlich dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und dem Rechtsausschuß zur Mitberatung zu überweisen.
Des weiteren soll eine Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 13/8093, die je einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Lage der Kosovo-Albaner betrifft, an den Auswärtigen Ausschuß zurücküberwiesen werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Ich rufe nun Punkt 1 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1998
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- Drucksache 13/8200-
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 1997 bis 2001 - Drucksache 13/8201 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Damit setzen wir die Haushaltsberatungen fort und kommen zur Schlußrunde. Ich erinnere daran, daß wir am Dienstag für die heutige Aussprache zwei Stunden beschlossen haben.
Die Debatte eröffnet der Kollege Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kommentare in den Zeitungen über die Haushaltsdebatte dieser Woche sind eindeutig: Die ganze Regierung einschließlich des Kanzlers wirke nur noch grau und von gestern. Eine bleierne Rede des Bundesfinanzministers, ein fahriger, rückwärtsgewandter Kanzler blieben ohne Überzeugungskraft, selbst in den Reihen der Koalition. Meine Damen und Herren, bei Ihnen herrscht zu Recht Endzeitstimmung.
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Alles, was Sie in der Finanzpolitik mit Ihren Bocksprüngen bei der Steuer- und der Rentenpolitik zur Zeit aufführen, dient nicht dem Wohl des Volkes, sondern ausschließlich der Machtsicherung, koste es, was es wolle, mögen die Staatsfinanzen dabei auch vor die Hunde gehen! Was Sie betreiben, ist Konkursverschleppung bis zum Wahltag.
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Weil die Regierung Kohl die Staatsfinanzen gründlich ruiniert hat, wird das vorgelegte Flickwerk, von dem Sie behaupten, es sei eine Haushalts- und Finanzplanung, von drei Fragen beherrscht: Wieviel neue Schulden kann die Kohl-Regierung noch aufnehmen? Welche Lasten kann die Kohl-Regierung noch in die Zukunft verschieben? Welches Volksvermögen kann die Kohl-Regierung noch verscherbeln?
Dieser Kanzler und sein Finanzminister haben die Staatsfinanzen in die Verschuldungs- und Zinsfalle getrieben. Unter Ihrer Verantwortung, Herr Waigel, ist der Schuldenberg des Bundes um nahezu 1 000 Milliarden DM auf 1 500 Milliarden DM gestiegen. Das heißt, Theo Waigel hat in seiner achtjährigen Amtszeit fast doppelt soviel Schulden gemacht wie alle 14 Bundesfinanzminister vor ihm seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland zusammen.
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Herr Waigel, jeder Tag, den Sie noch im Amt verbleiben, ist deshalb ein Tag zuviel.
({3})
Nur für die Zinsen des Bundes - ich wiederhole: nur für die Zinsen - werden die Bürgerinnen und Bürger nächstes Jahr 89 000 Millionen DM an Steuern aufbringen müssen,
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während es im Jahr der deutschen Einheit 34 Milliarden DM waren. Mit dem dramatischen Anstieg um 55 Milliarden DM in acht Jahren, Theo Waigel, haben Sie den Bundeshaushalt in die Zinsfalle geführt. Nun versuchen Sie, Herr Waigel, Ihrer deprimierenden Bilanz mit einer Lebenslüge auszuweichen. Sie behaupten, Sie stünden vor aller Welt als der erfolgreichste deutsche Finanzminister da, wenn Ihnen nicht die deutsche Einheit einen Strich durch sämtliche Rechnungen gemacht hätte.
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Merken Sie denn nicht, daß Sie damit den Glücksfall der deutschen Einheit zum Sündenbock Ihrer Politik machen?
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Die ehrwürdige „Frankfurter Allgemeine Zeitung" höhnte darüber: Für die Charakterisierung einer beruflichen Leistung ist der Konditionalsatz nicht die geeignete grammatikalische Form. Das ist der Punkt.
Es wäre doch gerade Ihre - zweifellos herausfordernde - Aufgabe als Bundesfinanzminister gewesen, die Finanzen unseres hochleistungsfähigen, aber nach der deutschen Einheit aus zwei ungleichen Teilen bestehenden Staates zu ordnen.
Die Regierung Kohl und Sie als Finanzminister hatten nach der Einheit die einmalige Chance, die Zukunft unseres Landes mit einer schöpferischen Politik zu gestalten, die Einsicht und Opferbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu nutzen, um unserem Land mit einer auf Erneuerung und Konsolidierung angelegten Finanzpolitik eine gemeinsame Zukunft zu eröffnen.
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Aber Sie, Herr Waigel, und auch Ihr Kanzler gingen im Jahre 1990 diese Aufgabe vom ersten Tag mit einer Steuerlüge an. Sie haben seither nie mehr Tritt gefaßt. Das ist der Fluch Ihrer bösen Tat.
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Sie haben bei dieser Herausforderung kläglich versagt und Ihre Glaubwürdigkeit als Finanzminister verspielt. In den Augen der Menschen stehen Sie als ein reiner Geldeintreiber da, vor dessen Zugriff noch nicht einmal mehr das Gold der Bundesbank sicher scheint.
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Sie sind ein gescheiterter und - wie Sie selbst eingestehen - amtsmüder Finanzminister, dessen öffentliches Ansehen so weit gesunken ist, daß Ihnen keine Familie in diesem Land mehr ihre Haushaltskasse anvertrauen würde.
Absolut nichts reimt sich in Ihrer Politik, Herr Waigel, mehr zusammen, es sei denn auf die Vokabeln Lug, Trug und Täuschung. Erstes Beispiel: Sie loben Ihre Wachstumspolitik über den grünen Klee, stellen aber im gleichen Atemzug angesichts der 4,4 Millionen arbeitslosen Menschen die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts fest.
Zweites Beispiel: Der Kanzler erklärt die Halbierung der Zahl der Arbeitslosen auf 2 Millionen bis zum Jahr 2000 zum Regierungsziel, aber in Ihrer Kabinettsvorlage läßt er zur gleichen Zeit beschließen, daß man im Jahre 2000 noch von 3,9 Millionen Arbeitslosen auszugehen hat.
({10})
Drittes Beispiel: Sie kündigen an, die Belastung der Bürgerinnen und Bürger mit Steuern und Abgaben auf den Stand von 1989 zurückzuführen, und gleichzeitig kündigt der Bundesarbeitsminister an, daß der Rentenbeitragssatz im nächsten Jahr auf 20,6 Prozent, möglicherweise sogar auf 20,8 Prozent, steigen wird.
Viertes Beispiel: Sie kündigen seit Jahr und Tag den Rückgang der Staatsverschuldung an, überschreiten jetzt aber mit einer neuen Rekordverschuldung von weit über 70 Milliarden DM sogar die Grenze, die Ihnen die Verfassung für die Kreditaufnahme gezogen hat.
({11})
Fünftes Beispiel: Der Kanzler versprach den Menschen in den neuen Ländern blühende Landschaften, tatsächlich aber dümpelt der Aufbau Ost vor sich hin, und - was besonders tragisch ist - der Abstand zur wirtschaftlichen Entwicklung im Westen vergrößert sich.
Deshalb fasse ich zusammen: In Ihrer Politik reimt sich absolut nichts mehr zusammen, es sei denn, auf Lug, auf Trug, auf Täuschung.
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Es ist schon erstaunlich, mit welcher Geduld unser Volk diese unglaublichen Zumutungen, Verdrehungen und Schönfärbereien der Regierung Kohl bisher hingenommen hat.
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Doch in zwölf Monaten, meine Damen und Herren, wird das Volk das System Kohl mit seiner elenden Politik des Aussitzens beenden.
({14}) Vor einem Jahr hat Herr Waigel
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hier im Deutschen Bundestag behauptet - ich zitiere -: Die Finanzpolitik 1997 steht auf sicherem Fundament. Ich wiederhole: auf sicherem Fundament. „Falsch!" , haben wir damals gesagt. Wir hatten es Ihnen vorgerechnet. Am Dienstag dieser Woche kommen Sie nun hierher und jammern, daß der Bundeshaushalt 1997 zwischen die Mühlsteine der wegbrechenden Steuereinnahmen und der überbordenden Mehrausgaben für die Arbeitslosigkeit geraten ist. Natürlich behaupten Sie wieder - Sie sollten einmal zum Augenarzt gehen -, alles sei unvorhersehbar gewesen - wie immer bei Ihnen -, und deshalb müßten Sie in diesem Jahr, wie leider auch im letzten Jahr, wiederum die Schulden um 20 Milliarden DM auf 71 oder 75 oder noch mehr Milliarden DM erhöhen; Genaues wüßten Sie wie immer auch diesmal nicht. Ihre Finanzpolitik, Herr Waigel, steht nicht auf sicherem Fundament, sondern auf Treibsand.
({16})
Die Auswirkungen Ihrer Politik sagen wir Ihnen doch seit Jahren vorher. Beispiel: wegbrechende Steuereinnahmen. Wie war das noch bei dem Standortsicherungsgesetz 1994, als Sie den Körperschaftsteuersatz, den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkommen, um 5 bzw. um 6 Prozent senkten? Damals hatten Sie die zu erwartenden Steuermindereinnahmen auf 4 Milliarden DM geschätzt. Der Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, Herr Schleußer, meinte, das werden mindestens 9 Milliarden DM. Tatsächlich fehlten am Schluß 13 Milliarden DM. Das hat 1995 zu dem kuriosen Ergebnis geführt, daß die Raucherinnen und Raucher in Deutschland mehr an Tabaksteuer zahlten als die Wirtschaftsunternehmen insgesamt an Körperschaftsteuer. Das ist das Ergebnis des von Ihnen selbst herbeigeführten Wegbrechens der Steuerbasis.
({17})
Beispiel Arbeitsmarkt: Wo sind denn die arbeitsmarktpolitischen Erfolge, die Sie den Bürgern mit Ihren gesetzlichen Kürzungen der Sozialleistungen, mit der Aufweichung des Kündigungsschutzes, mit den gesetzlichen Eingriffen in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, mit dem Ladenschlußgesetz und mit dem Dienstmädchenprivileg versprochen haben?
({18})
Wo sind denn die Arbeitsplätze, die ihr sogenanntes Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 bringen sollte? Es hat tiefe Einschnitte in Sozialleistungen und die skandalöse Streichung der privaten Vermögensteuer gebracht; ansonsten hat es 470 000 Arbeitslose mehr als noch vor einem Jahr gebracht. Seit 1995 sind deshalb die Gesamtkosten der Arbeitslosigkeit, also die Summe aus Arbeitslosenunterstützung, aus Arbeitslosenhilfe, aus der ergänzenden Sozialhilfe der Gemeinden, aus Steuermindereinnahmen und aus Fehlbeträgen bei den Beiträgen für die Bundesanstalt für Arbeit, auf heute 180 Milliarden DM, also in nur zwei Jahren um
40 Milliarden DM gestiegen. Deshalb hat die Waigelsche Finanzpolitik jede Perspektive eingebüßt.
({19})
Die Haushaltslöcher, die Sie immer wieder als unabänderlich und, blind wie Sie sind, als unvorhersehbar darstellen, sind in Wahrheit das vorhersehbare Ergebnis Ihrer in bezug auf Wirtschaft und Finanzen unsinnigen Politik gewesen, die die Arbeitslosigkeit erst erzeugt, um sie dann nachträglich zu finanzieren, statt sie von vornherein entschieden zu bekämpfen.
({20})
Bereits im Januar dieses Jahres, als auch Ihnen nach der Vorlage Ihres eigenen Jahreswirtschaftsberichtes klar sein mußte, daß sinkende Steuereinnahmen und steigende Arbeitslosigkeit in diesem Haushalt ein Loch von 20 Milliarden DM reißen würden, haben wir Sie aufgefordert, unverzüglich einen Nachtragshaushalt 1997 einzubringen, um bei über 4 Millionen Arbeitslosen erstens die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes festzustellen, zweitens die Finanzlage des Staates ungeschminkt zu erfassen und drittens dann die richtigen Maßnahmen für eine Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu ergreifen. Diesen Antrag haben Sie hier im Deutschen Bundestag und in seinen Ausschüssen über Monate schroff abgelehnt.
({21})
Den Nachtragshaushalt 1997 haben Sie nicht freiwillig vorgelegt, sondern weil Ihnen jetzt das Wasser bis zur Oberkante der Unterlippe reicht. Sie würden in diesem Herbst zahlungsunfähig werden, könnten keine Rechnungen mehr bezahlen, wenn Sie jetzt nicht weitere Schulden aufnähmen. Mit der Anhebung der Neuverschuldung auf weit über 70 Milliarden DM würden Sie aber gegen Art. 115 der Verfassung verstoßen, wonach die Höhe der Neuverschuldung die Investitionsausgaben nicht überschreiten darf. Davon gibt es nach dem Grundgesetz nur eine einzige Ausnahme: daß eine Überschreitung dieser von der Verfassung gezogenen Grenze „zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" erforderlich ist. Das ist der springende Punkt.
Herr Waigel, die Verfassung verlangt von Ihnen nicht nur, daß Sie durch den Deutschen Bundestag die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen lassen, sondern auch, daß Sie mit den damit verbundenen zusätzlichen Schulden eine Politik finanzieren, die geeignet ist, die gesamtwirtschaftliche Störung, also die millionenfache Arbeitslosigkeit in diesem Lande, zu beseitigen.
({22})
Sie aber sind gar nicht bereit, Ihre Politik zu ändern. Sie wollen nur Ihre erbärmlichen Haushaltslöcher stopfen.
({23})
Deshalb hält der Sachverständigenrat Ihren Haushalt 1997 weiterhin für verfassungswidrig, und da hat er völlig recht.
({24})
Jeden Arbeitslosen, jeden Bürger muß doch die kalte Wut packen, wenn Sie sich zu Jahresbeginn weigern, Geld auszugeben, um die Beschäftigungsprobleme in diesem Land zu beseitigen, aber jetzt am Jahresende 20 Milliarden DM Schulden machen, nur um die Löcher, die die Arbeitslosigkeit inzwischen in Ihren Haushalt gerissen hat, zu stopfen.
({25})
Es wäre Ihre Pflicht gewesen, meine Damen und Herren von der Koalition, im Frühjahr unser Angebot einer gemeinsamen aktiven Arbeitsmarktpolitik anzunehmen.
({26})
Das hätte nur einen Bruchteil gekostet, aber einigen hunderttausend Menschen wieder Lohn und Brot gebracht.
({27})
Da Ihr Gedächtnis das Gedächtnis eines Spatzen ist,
({28})
will ich Ihnen zur Erinnerung sagen, was wir Ihnen damals angeboten hatten. Wir bieten es Ihnen erneut an: ein Bündel von Maßnahmen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit und damit auch zur Reduzierung der Staatsverschuldung. Ich nenne - nur als Beispiele - fünf Maßnahmen:
Erstens. Greifen Sie unseren Gesetzentwurf für ein modernes Arbeitszeitgesetz auf und tun Sie endlich etwas gegen die hohe Überstundenzahl in Deutschland. Das würde zusätzliche Arbeitsplätze bringen.
({29})
Zweitens. Greifen Sie unsere Teilzeitinitiative auf und beseitigen Sie endlich mit uns den Mißbrauch bei der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung.
({30})
Drittens. Schieben Sie endlich mit uns der Scheinselbständigkeit einen Riegel vor, mit der sich viele, viele Firmen in unserem Lande ihrer Verpflichtung entziehen, Sozialbeiträge für Menschen zu zahlen, die ausschließlich für sie arbeiten.
Viertens. Ermöglichen Sie der Bundesanstalt für Arbeit durch korrekte Mittelzuweisung wieder eine aktive Arbeitsmarktpolitik, für Umschulungen, für Fortbildungen, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, damit die Menschen wieder in Arbeit kommen.
({31})
Fünftens. Schaffen Sie endlich mit uns wirksame Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Inzwischen sind es 150000, die keine Lehrstelle gefunden haben. Deshalb brauchen wir eine solidarische Finanzierung der Ausbildung. Die Betriebe, die nicht ausbilden, sollen wenigstens zahlen, damit die, die ausbilden, dadurch eine Entlastung bekommen können.
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Herr Bundesfinanzminister, bei Ihrer Politik ist die Überschreitung der Schuldengrenze kein einmaliger Ausrutscher, wie Sie am Dienstag sagten. Sie ist inzwischen vielmehr System. Das war 1996 so, als wir Ihnen vorrechneten, daß in Ihrem Entwurf ein 20Milliarden-DM-Loch klafft. Erst haben Sie dessen Existenz bestritten, dann auf die letzte Minute mit dem denkwürdigen, erbärmlichen Waigel-Wisch auf einem DIN-A-4-Blatt vorgegeben, Einnahmen in der Größenordnung von 20 Milliarden DM aus dem Hut zaubern zu können. Alles Luftbuchungen! Als die Wirklichkeit sie einholte, haben Sie den Haushalt 1996 mit einer verfassungswidrigen Erhöhung der Neuverschuldung auf 78 Milliarden DM ausgeglichen. In diesem Jahr überschreiten Sie die in der Verfassung angegebene Schuldengrenze erneut. Das wird nach unserer Einschätzung auch 1998 so kommen.
Trotz aller Notoperationen, aller Notverkäufe von Bundesvermögen, aller Buchungstricks und des Verschiebens von finanziellen Verpflichtungen auf künftige Haushalte ist dieses Flickwerk für nächstes Jahr so knapp genäht, daß die Neuverschuldung gerade mal 500 Millionen DM unter der Höhe der Investitionen liegt.
({33})
Bereits jetzt wissen Sie aber, daß im nächsten Jahr die Steuereinnahmen für den Bund um etwa 4 Milliarden DM geringer ausfallen werden. Außerdem haben Sie bisher für die von der F.D.P. abgepreßte Senkung des Solidaritätszuschlags keine Finanzierung. Das macht ein weiteres Haushaltsloch von 6,5 Milliarden DM netto, zusammen also über 10 Milliarden DM, die Ihnen jetzt schon für 1998 fehlen. Dazu sagte Herr Schäuble kürzlich im „Spiegel"-Interview: „Die Senkung des Solidarzuschlags ist beschlossen. Das Wie diskutieren wir später."
({34})
Nein, nicht später, sondern in dieser Woche wäre der Zeitpunkt gewesen, zu dem die Koalition dem Bürger reinen Wein einschenken müßte,
({35})
damit er weiß, was er an zusätzlichen Schulden oder an Mineralölsteuererhöhungen oder an Kürzungen von Sozialleistungen durch Sie zu erwarten hat.
Im gleichen Atemzug erklärte Herr Schäuble, die Koalition wolle im nächsten Jahr unter keinen Umständen wieder eine Debatte über die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts haben. Mir ist völlig unverständlich, wieso in diesem Jahr das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bei über vier Millionen Arbeitslosen gestört ist und im nächsten Jahr, in dem die Zahl der Arbeitslosen - wie Sie selber sagen - ebenfalls über vier Millionen liegt, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes nicht gegeben sein soll. Das paßt doch nicht zusammen. Daß Sie die Debatte im Wahljahr nicht wollen, ist leicht verständlich. Wenn ich Sie aber beim Wort nehme, dann stelle ich fest, daß Sie eine Senkung des Soli-Zuschlages auf Pump ausschließen wollen. Eine Erhöhung der Steuern oder eine Kürzung von Sozialleistungen würden die Wählerinnen und Wähler Ihnen übelnehmen. Fazit: Die Koalition hat sich in der von Theo Waigel gestellten Soli-Falle völlig verfangen.
({36})
Jetzt müssen Sie Zeit schinden, weil Sie nämlich nicht wissen, wie die versprochene Absenkung des Soli zu finanzieren ist. Das ist der wahre Grund, weshalb Sie in dieser Woche die Fortsetzung des Vermittlungsverfahrens beschlossen haben. Sie wollen sich um eine klare Antwort herumdrücken und halten deshalb das Verfahren in Gang. Sie wissen aber doch ganz genau: Ihre dort erhobene Forderung, sich die Soli-Senkung aus den Länderkassen bezahlen zu lassen, hat in der Sache mit der Steuerreform nichts zu tun und trifft selbst bei den CDU- und CSU-Ministerpräsidenten auf eisige Ablehnung.
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Der Herr Finanzminister, der nicht mehr ein und aus weiß, will nun der Öffentlichkeit den Verkauf von Bundesvermögen als einen - ich zitiere ihn wieder - „legitimen und gesamtwirtschaftlich richtigen Brückenschlag im finanziellen Gesundungsprozeß" verkaufen. Starker Tobak! Denn dieser angebliche Brückenschlag führt nicht ans rettende Ufer. Er endet freischwebend über dem finanzpolitischen Abgrund.
In Wahrheit betreiben Sie eine hemmungslose Ausplünderung des Bundesvermögens. Denn in diesem und im nächsten Jahr wollen Sie Vermögenswerte und Unternehmensbeteiligungen in einem Gesamtwert von 40 Milliarden DM verkaufen, verramschen und verpfänden, nur um Haushaltslöcher zu stopfen.
Mit diesem Bundesvermögen, dessen heutiger Wert eine Gemeinschaftsleistung der Nachkriegszeit ist, sind 14 Finanzminister vor Ihnen sorgsam und
verantwortlich umgegangen. Sie dagegen verfahren damit wie der typische Bankrotteur.
({38})
Da versteigt sich der Generalsekretär der F.D.P. zu der Aussage - ich zitiere Sie, Herr Westerwelle, einmal -:
Die Privatisierung ist nicht das Loswerden von Tafelsilber, sondern das Loswerden von Blei, das uns runterzieht, das uns Geld kostet und das den Staat immer mehr ausweitet.
Soweit Herr Westerwelle.
({39}) - Jetzt klatscht er auch noch.
({40})
Meine Damen und Herren, für wie dumm will Herr Westerwelle bzw. die F.D.P. die Menschen in diesem Land eigentlich verkaufen? Die Anteile an der Lufthansa mit einem Wert von 4 Milliarden DM sowie an der Postbank mit einem Wert von 3 Milliarden DM und das Aktienpaket der von Ihnen so hoch gerühmten Telekom in einem Wert von 33 Milliarden DM - das alles soll in Ihren Augen Blei sein?
({41})
Das ist kein Blei; das ist für Sie der prallgefüllte Rettungsring, mit dem Sie Ihren leckgeschlagenen Bundeshaushalt zwei Jahre lang vor dem Absaufen retten wollen.
({42})
Was Sie hier machen, ist unverantwortlich. Eine Haushaltspolitik der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung hätte darin bestanden, die mit der Auflösung dieses angesammelten Vermögens erzielten Einnahmen nicht zu verpulvern, sondern in die Zukunft zu investieren. Dieses Geld hätte zweckgebunden für die Förderung von Innovationen, Forschung und Entwicklung, für eine ökologische Modernisierung der Wirtschaft und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt werden müssen. In Bayern ist die CSU nach diesem Konzept vorgegangen. In Bonn dagegen verramscht der CSU-Vorsitzende das über Jahrzehnte angesammelte Vermögen.
Weil Rekordverschuldung und Ausplünderung des Bundesvermögens noch immer nicht reichen, verschieben Sie finanzielle Belastungen systematisch in die Zukunft - ohne Rücksicht auf die Handlungsfähigkeit künftiger Bundesregierungen. Das ist eine Politik des Nach-mir-die-Sintflut. Offensichtlich rechnen Sie selber nicht mehr damit, nach der Wahl noch zu regieren.
Zwei Beispiele für die Nach-mir-die-Sintflut-Politik:
Erstens. Sie haben bei der Postreform mit beschlossen: Das Aktienpaket des Bundes an der Telekom soll dazu dienen, das Defizit bei den PensionsKarl Diller
kassen des dann privatisierten Unternehmens zu finanzieren. Ab dem Jahre 2000 sind das jedes Jahr 7 Milliarden DM. Wenn Sie jetzt ein Aktienpaket im Börsenwert von 33 Milliarden DM verpfänden - wegen des Abschlags müssen Sie an die Kreditanstalt für Wiederaufbau 33 Milliarden DM abtreten, um einen Erlös in Höhe von 25 Milliarden DM zu erzielen - und dieser Bank außerdem das Recht einräumen, diese Aktien ab dem Jahre 2000 vorrangig an der Börse zu verkaufen, führt das voraussichtlich zu einer Verkaufsblockade für die restlichen dem Bund dann noch gehörenden Anteile.
Im Klartext heißt das für das nächste Jahrzehnt: Die Defizite der Postpensionskassen von 7 Milliarden DM müssen bereits in zweieinhalb Jahren aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Dafür haben Sie keine einzige D-Mark vorgesehen.
Es kann noch schlimmer kommen. Denn im Vertrag mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau haben Sie den Bund verpflichtet, unter bestimmten Bedingungen das Aktienpaket von der Kreditanstalt wieder zurückzukaufen. Das ist doch ein absolut unverantwortlicher Vertrag. Denn wie anders als über neue Schulden könnte dieser zweistellige Milliardenbetrag ab dem Jahre 2000 finanziert werden?
Herr Kollege Diller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weng?
Bitte sehr.
Herr Kollege Diller, auch wenn ich mir den Unmut der Kollegen zuziehe, weil ich Ihnen die Möglichkeit gebe, vom Text abzuweichen:
({0}) .
Sie haben hier erneut die Behauptung in den Raum gestellt - wie auch schon andere Sprecher Ihrer Fraktion -, die Teilprivatisierung der Deutschen Telekom werde die Pensionsverpflichtungen auf den Bundeshaushalt verlagern. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Behauptung deswegen unwahr ist, weil die verbleibenden Anteile des Bundes für diesen Bedarf über einen langen Zeitraum ausreichen?
({1})
Herr Kollege Dr. Weng, wie Sie genau wissen, werden zur Zeit die auf den Bund entfallenden Verpflichtungen für die Pensionskassen ganz elegant aus dem Dividendenaufkommen der Telekom finanziert, ohne jede Belastung des Bundeshaushaltes. Mit dem, was Sie ab dem Jahre 2000 noch als Aktienbesitz haben werden, werden Sie das überhaupt nicht mehr schaffen können. Deshalb wird der Bund verpflichtet sein, seinen Anteil an den Telekom-Aktien zu verkaufen. Dies wird er dann
aber nicht können, weil das mit der Zeit kollidieren wird, in der die Kreditanstalt für Wiederaufbau das bei ihr liegende Aktienpaket auf den Markt zu bringen versuchen wird. Wenn von dieser Seite und von der Seite des Bundes dann zur gleichen Zeit riesige Aktienpakete auf den Markt kämen, würde das nur zu einem Kursverlust und zu einem Wertverlust insgesamt führen, und das können wir uns nicht erlauben. Deswegen wird die Belastung am Schluß beim Bundeshaushalt enden, und das ist das Schändliche an Ihrer Politik.
({0})
Herr Diller, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zusatzfrage. Lassen Sie auch die zu?
Ja.
Herr Kollege Diller, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich das für eine abenteuerliche Konstruktion halte, die den Tatsachen und der Entwicklung nicht Rechnung tragen wird, und Sie hier insofern auf einer unwahrhaftigen Basis argumentieren?
Das behauptet derjenige,
({0})
der im Jahre 1996, ohne die geringste Mühe walten zu lassen, genau zu prüfen, was ihm auf diesem erbärmlichen Waigel-Wisch alles vorgegaukelt wird, diesen ruck, zuck mitträgt, der sich hinterher darüber beschwert, daß man diesem Finanzminister kein Wort mehr glauben könne, der ständig nicht im Haushaltsausschuß sitzt
({1})
und prüft, damit nicht seinen Aufgaben nachkommt, sondern hinterher nur immer die Schuld beim Finanzminister sieht! Sie, Herr Dr. Weng, tragen eine Mitverantwortung, denn Sie haben die schändliche Politik von Herrn Waigel mitgetragen. Deswegen wundert mich bei Ihren Einschätzungen überhaupt nichts mehr.
({2})
Es gibt noch eine Frage vom Kollegen Riedl.
Herr Kollege Diller, da ich dem Haushaltsausschuß schon seit 1970 angehöre
({0})
Dr. Erich Riedl ({1})
- vielen Dank; Kollege Austermann ist immer für sympathische Zwischenrufe in meine Richtung kompetent und zuständig -, und da ich bisher so gut wie keine Sitzung des Haushaltsausschusses versäumt habe: Sind Sie mit mir nicht der Meinung, daß der Kollege Weng zu den fleißigsten Abgeordneten im Haushaltsausschuß gehört?
({2})
Sind Sie mit mir nicht der Meinung, daß es kein guter Stil ist, wenn Sie ausgerechnet ihm, den ich oft wegen seines Fleißes bewundere - man kann in der Sache manchmal anderer Meinung sein -, hier vorhalten, er sei kaum im Haushaltsausschuß? Herr Kollege Diller, ich mache keine Gegenrechnung auf. Auch Sie sind fleißig. Aber ich kenne welche, die nicht so fleißig sind wie Sie und Herr Kollege Weng.
({3})
Herr Kollege Dr. Riedl, ich bestätige Ihnen gerne, daß Herr Kollege Dr. Weng zu den ständigen Teilnehmern an Haushaltsausschußsitzungen gehört,
({0})
daß aber gerade bei ihm der Fleiß noch nichts aussagt über die Qualität seiner Arbeit.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein zweites Beispiel für die Nach-mir-die-Sintflut-Politik: Sie setzen Ihre Verpflichtungen zur Tilgung der Bahnschulden ab 1998 durch Gesetzesänderung einfach für drei Jahre aus und verschieben so mal locker acht Milliarden DM an Tilgungsleistungen in die Zukunft. Bislang kannte man Tilgungsaussetzungen bei Staaten nur von bitterärmsten Entwicklungsländern.
Sie schwadronieren in der Koalition aber von einem notwendigen Schritt im finanziellen Gesundungsprozeß. Das können Sie dem Bürger überhaupt nicht weismachen. Der weiß, wie es um die Bundesfinanzen bestellt ist. Er braucht sich dazu nur einen Häuslebauer vorzustellen, der die Raten für sein Einfamilienhaus nicht mehr bezahlen kann und deshalb bei seiner Hausbank um einen Zahlungsaufschub bitten muß. In der Situation sind Sie mittlerweile auch.
({2})
Die Liste ließe sich übrigens beliebig verlängern. Privat vorfinanzierte Straßen müssen bald zurückgekauft werden. Mit den Investitionsausgaben im Haushalt müssen zunehmend alte Verpflichtungen abfinanziert werden. Für neue Projekte ist kein Geld mehr da.
Großprojekte wie der Transrapid sind in Ihrem Haushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung
ohne tragfähiges Finanzierungskonzept, belasten künftige Haushalte mit hohen Subventionen.
({3})
Dazu sagen wir: Wenn die deutsche Industrie zur Exportförderung den Transrapid will, dann muß sie auch die finanzielle Gesamtverantwortung dafür tragen und sie nicht dem deutschen Steuerzahler aufbürden.
({4})
Sie behaupten in Ihrer Haushaltsrede, der Haushalt 1998 würde die Wachstumskräfte stärken. Das Gegenteil ist wahr. Wo sind denn die intelligenten Ansätze für mehr Zukunftsinvestitionen, für Risikokapital, für Existenzgründungen und anwendungsorientierte Forschung?
Sie kürzen die Mittelstandsförderung um 165 Millionen DM. Sie gehen bei den Verpflichtungen für die regionale Wirtschaftsförderung im Osten um 112 Millionen, im Westen um 145 Millionen DM herunter. Sie kürzen den Wirtschaftsministern der neuen Bundesländer die Millionen für den Aufbau Ost, obwohl dort alle Zeichen auf Sturm stehen. Sie kürzen die Ausgabeprogramme für die Städtebauförderung um 10 Prozent, für den sozialen Wohnungsbau sogar um 30 Prozent.
Sie kürzen bei Forschung und Bildung mittelfristig weiter. Zwar steigt nach den Kürzungen im Vorjahr der Etat um 81 Millionen DM an, aber nur, weil die globale Minderausgabe wegfällt. Zu einer Umstrukturierung des Haushalts sind Sie nicht in der Lage; denn der Löwenanteil der Ausgaben fällt nach wie vor auf die Atomenergie.
Für eine Stärkung von Forschung und Bildung, um die deutsche Position im internationalen Wettbewerb zu verbessern, neue Märkte zu gewinnen und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen, haben Sie im neuen Haushalt viel, viel zuwenig vorgesehen.
({5})
Dagegen leisten Sie sich einen Schildbürgerstreich: Die Auflösung des Postministeriums Ende dieses Jahres wird - man staune - nicht zu Einsparungen, sondern zu Mehrausgaben führen. Die Übertragung der Aufgaben des bisherigen Postministeriums auf andere Ministerien führt zu insgesamt 35 Millionen DM Mehrausgaben. Man könnte sozusagen feststellen: Der Etat eines nicht mehr existierenden Postministeriums hat mit 10 Prozent die höchste Zuwachsrate. Das ist doch schlicht unfaßbar!
Unter dem Strich bleibt: Die Kohl-Regierung gestaltet nicht mehr. Sie verwaltet nur noch den Mangel - und das höchst mangelhaft. Ihre Haushalts- und Finanzplanung ist geprägt durch Ausweglosigkeit und Endzeitstimmung. Da Sie nach dem Motto handeln „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert",
({6})
wagen Sie ein Steuerpaket vorzulegen, das mit Einnahmeausfällen von 45 Milliarden DM bei Bund, Ländern und Gemeinden deren Haushalte endgültig ruinieren würde.
Dies ist ein in der Finanzgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einmaliger und in seiner Verantwortungslosigkeit dem Bürger gegenüber nicht mehr nachvollziehbarer Vorgang. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande wissen, daß die öffentlichen Kassen leer sind. Was soll da Ihre Verlogenheit von einer Nettoentlastung in Höhe von 30 Milliarden DM?
({7})
- Ich sage das Wort bewußt, Herr Kollege, weil Sie entweder nicht in der Lage waren oder weil Sie zu feige sind, wenigstens die auf den Bund entfallenden Steuerausfälle in der Größenordnung von über 20 Milliarden DM pro Jahr, wie es eigentlich Ihre Pflicht wäre und wie es das Gesetz erfordert, in der mittelfristigen Finanzplanung für die Jahre 1999, 2000 und 2001 auszuweisen.
({8})
Sie, Herr Bundesfinanzminister, haben vor einem Jahr gesagt, daß nach Ihrer Meinung für Steuersenkungen kein Geld da sei und deshalb eine Strukturreform in der Steuergesetzgebung aufkommensneutral gestaltet werden müsse. Inzwischen haben Sie dem erpresserischen Druck der F.D.P. nachgegeben. Ein Finanzminister, der es nicht wagt, zu seinen Amtspflichten zu stehen, die er einmal erkannt hat, und der statt dessen im stillen darauf vertraut, die Länder würden über den Bundesrat parteienübergreifend das Schlimmste schon verhindern, sollte nach meiner Auffassung den Hut nehmen.
({9})
Ihr Steuerkonzept ist unwirtschaftlich, unfinanzierbar und ungerecht. Ihr Ziel, bei Verbrauchern, bei Rentnern, bei Pendlern, bei Schichtarbeitern abzukassieren, um Steuergeschenke an Millionäre zu finanzieren, ist einfach schamlos. Sie schaffen so keine neuen Arbeitsplätze; denn es kommt in dieser Situation entscheidend darauf an, die private Nachfrage bei denen zu stärken, die heute jede Mark zweimal umdrehen müssen, bevor sie sie ausgeben können. Jahrelanger Lohnverzicht und das ständige Drehen der Regierung Kohl an der Steuer- und Abgabenschraube haben die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger immer weiter geschwächt. Das ist der Grund, weshalb es überall im Handel, in der Dienstleistung, im Handwerk zu Stagnation kommt. Der Export boomt, aber die inländische Nachfrage lahmt.
Deshalb ist es unsere Auffassung, daß wir alles daransetzen müssen, daß die Kaufkraft in unserem Lande gestärkt wird. Gleichzeitig muß die Belastung der Wirtschaft mit Lohnnebenkosten durch eine Senkung der Sozialabgaben gemindert werden. Einkommensteuerreform und Abgabenreform gehören deshalb bei uns zusammen. Wir setzen auf eine Strategie, die Angebots- und Nachfragepolitik miteinander verbindet. Die Senkung der Lohnnebenkosten und die Senkung der gewerblichen Steuersätze stellen die Angebotsseite unserer Politik dar, die Entlastung
der Arbeitnehmer und Familien die Nachfrageseite unserer Politik.
Deshalb hat unsere Steuer- und Abgabenreform fünf Elemente:
({10})
erstens Senkung der Lohnnebenkosten durch eine Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge um 2 Prozentpunkte bei gleichzeitiger Gegenfinanzierung durch einen Einstieg in die ökologische Steuerreform; zweitens Senkung des Eingangssteuersatzes für alle Lohn- und Einkommensteuerzahler auf 22 Prozent; drittens Ausweitung des steuerfreien Einkommens auf 14 000 DM für Ledige und 28 000 DM für Verheiratete plus eine Anhebung des Kindergeldes auf 250 DM für das erste und das zweite Kind; viertens Senkung der gewerblichen Steuersätze für wiederinvestierte Gewinne und fünftens solide Gegenfinanzierung durch das Schließen von Steuerschlupflöchern, eine Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und einen entschiedenen Kampf gegen die Steuerhinterziehung in diesem Lande.
Unter dem Strich bringt unsere Steuer- und Abgabenreform einer Familie mit zwei Kindern eine Entlastung von durchschnittlich etwa 2500 DM im Jahr. Das wäre für viele Familien in meinem Wahlkreis ein zusätzliches Monatsnettoeinkommen, würde ihre Kaufkraft entscheidend stärken und durch ihre Nachfrage zu neuen Arbeitsplätzen führen.
Wenn Sie jetzt nicht zu einer grundsätzlichen Korrektur Ihres unfinanzierbaren, steuerpolitisch ungerechten und wirtschaftlich fragwürdigen Konzepts bereit sind, dann werden wir unser Konzept einer Steuer- und Abgabenreform nach der Bundestagswahl umsetzen.
({11})
Unser Konzept einer Steuer- und Abgabenreform ist kein Allheilmittel. Es ist aber - davon bin ich überzeugt - ein auf die finanziellen Möglichkeiten des Staates abgestimmter Schritt in die richtige Richtung, der zu mehr Steuergerechtigkeit und zu mehr Beschäftigung führen wird und so dazu beiträgt, die Finanzprobleme des Staates zu überwinden.
({12})
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth In der Debatte spricht jetzt der Kollege Peter Jacoby.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Haushaltswoche und mit Blick auf die Diskussion, die auch über diesen Raum hinaus in Deutschland stattfindet, möchte ich zunächst einmal sagen: Wir haben es in unserem Land ganz offensichtlich mit
zwei unterschiedlichen sozialdemokratischen Parteien zu tun.
({0})
Um das zu belegen, möchte ich an das anknüpfen, womit Kollege Diller eben geschlossen hat.
In der vergangenen Woche erschien unter der Überschrift „Üble Heuchelei" ein Beitrag des früheren Finanzministers Manfred Lahnstein in der „Zeit".
({1})
Er greift das Argument, das Sie gerade gebracht haben, daß es die Massenkaufkraft zu stärken gelte, wie folgt auf:
Die vielbeschworene Forderung nach „stärkerer Massenkaufkraft" übersieht penetrant, daß eine derartige Stärkung nur über Investitionen und Beschäftigung, nicht aber über begrenzte Steuerentlastung zu erreichen ist.
Das schreibt Manfred Lahnstein - und er hat recht, meine Damen und Herren.
({2}) Manfred Lahnstein fährt fort:
An sich hätte da ein Blick auf das Jahressteuergesetz 1996 bereits vollauf genügt.
({3})
Er spitzt es dann zu und fragt:
Wo sind sie denn geblieben, die konjunkturellen Anstoßwirkungen der zwanzig Milliarden Mark an Steuerentlastungen aus höherem Grundfreibetrag und Umstellung beim Kindergeld?
({4})
Deshalb, meine Damen und Herren, sage ich: Wir haben diese Besserstellung im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1996 ermöglicht, nicht in erster Linie aus konjunkturellen Überlegungen, sondern aus sozialpolitischen, aus familienpolitischen Überlegungen.
({5})
Hinzu kommen unsere Maßnahmen, die an der Wurzel ansetzen, der Modernisierung unseres Standortes. Diese sind mittlerweile auch von anderen, jenseits von Lahnstein, als notwendig erkannt worden. Sie in der Bundestagsfraktion haben Nachholbedarf, das bei einer Haushaltsdebatte wie der heutigen entsprechend zu realisieren.
({6})
Eine zweite Bemerkung. Sie, Kollege Diller, haben die Bundesregierung am Schluß Ihrer Rede angegriffen und von der unangemessenen Privatisierung in unserem Land gesprochen. Jetzt will ich gar nicht darauf abstellen, was mittlerweile alles in der Verantwortung sozialdemokratischer Landesregierungen
privatisiert wird und was jeweils in den Haushalt eingestellt wird. Ich möchte Sie vielmehr auf etwas ganz anderes hinweisen, wiederum unter Bezugnahme auf jemanden, der für Ihre Partei über Jahre hinweg nicht irgendeine Verantwortung, sondern finanzpolitische Verantwortung in Deutschland getragen hat, nämlich Hans Apel. Er hat vor Monaten hier in Bonn ein Buch vorgestellt, in dem er auch etwas zur Privatisierung sagt. Das will ich Ihnen ebenfalls nicht vorenthalten.
Hans Apel schreibt:
Obwohl die Privatisierung öffentlicher Unternehmen in der Bundesrepublik im Vergleich zu unseren Nachbarn in Westeuropa weit gediehen ist, zwingen die riesenhaften Haushaltsdefizite den Bund und die Länder, sich von weiteren Vermögenswerten zu trennen. Das Schlagwort
- so Hans Apel vom Verscherbeln des „Tafelsilbers" macht erneut die Runde. Mit diesem törichten Begriff wird der Sachverhalt überhaupt nicht getroffen. Jede Kreditaufnahme der öffentlichen Hände belastet den Haushalt zur Zeit mit etwa sechs Prozent Zinsen. Falls die Zinsen wieder steigen, kann diese Last auch auf acht und mehr Prozent pro Haushaltsjahr wachsen. Wenn das öffentliche Vermögen derartige Renditen nicht abwirft, ist eine Privatisierung zur Verringerung exzessiver Haushaltsdefizite finanzpolitisch vernünftig.
Das schreibt Hans Apel, meine Damen und Herren. Er fügt hinzu:
Gesellschaftspolitische Einwände gegen die Veräußerung öffentlichen Vermögens zur Haushaltsfinanzierung sind häufig nur vorgeschoben und sollen partikulare Interessen verdecken.
({7})
Das, meine Damen und Herren, stand eigentlich hinter der Argumentation des Kollegen Diller.
Es haut einen fast vom Sockel, wenn man sich einmal anschaut, was der Ministerpräsident von Niedersachsen dieser Tage in Dresden gesagt hat zum notwendigen Kurs von mehr Wettbewerb, mehr Liberalisierung und mehr Privatisierung, was nachgeahmt werden soll im Blick auf die Telekommunikation. Das sei ein guter Weg gewesen, der, wie ich hinzufüge, gegen Ihren hartnäckigen Widerstand durchgesetzt worden ist. Ich finde, Sie sollten sich, Kollege Diller, auf die Höhe der programmatischen Diskussion bringen, wenn - wie im Moment - Haushaltsdebatten im Deutschen Bundestag zu führen sind.
({8})
Herr Jacoby, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Jawohl.
Herr Kollege, man kann über diese Fragen sehr nüchtern diskutieren. Sie haben
eine Beziehung hergestellt zwischen Schulden und Rendite, wenn ich das Zitat richtig verstanden habe,
({0})
das besagt, ein Verkauf wäre dann geboten, wenn der Vermögenswert nicht eine ordentliche Rendite abwirft. Da schließt sich doch die Frage an: Wer soll es denn eigentlich kaufen, wenn keine vernünftige Rendite vorhanden ist?
({1})
Kollege Schily, wir haben gerade in der letzten Woche erlebt, daß die Privatisierung der Lufthansa auch unter ökonomischen und finanzpolitischen Gesichtspunkten ein Erfolg allererster Güte war.
({0})
Insofern geht Ihre Frage am Kern der Sache vorbei.
Nächste Frage, Dr. Weng.
Herr Kollege Jacoby, Sie haben den Ministerpräsidenten von Niedersachsen im Zusammenhang mit der Privatisierung zitiert. Ist Ihnen bekannt, ob sich das Land Niedersachsen, das seinerzeit die VW-Anteile nicht privatisiert hat wie der Bund, an der kommenden Kapitalerhöhung von VW beteiligen wird bei hohen zusätzlichen Schulden, was dann aus dem Haushalt finanziert werden muß? Das rentiert sich finanziell nicht. Oder wird der Ministerpräsident von Niedersachsen, nachdem er das öffentlich äußert - wie so manches, was im Moment populär erscheint -, den Weg der Privatisierung der Restbeteiligung des Landes Niedersachsen an VW gehen?
Ihre Frage, Kollege Weng, gibt mir Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß es natürlich einen sehr nachhaltigen Widerspruch gibt zwischen dem, was der Ministerpräsident von Niedersachsen an neuen ordnungspolitischen Überlegungen propagiert, und dem, was in der eigenen Verantwortung geschieht, sowohl in der Verantwortung des Landes wie auch in der Verantwortung etwa der Landesregierung im Bundesrat, im Vermittlungsausschuß und darüber hinaus. Es klaffen Welten zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Dennoch sollte man den Mann beim Wort nehmen. Man sollte sich auf das beziehen, was er propagiert; denn womit sollte man sich denn auseinandersetzen angesichts dessen, was wir in dieser Woche in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages an unterschiedlichen, widersprüchlichen Akzentsetzungen jeweils erlebt haben?
Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich auch auf folgendes hinweisen, das am Ende dieser
Haushaltswoche doch festzustellen ist. Man kann eben nicht, Kollege Diller, im Rahmen einer allgemeinen Finanzdebatte, wie das heute der Fall ist, die Höhe der Neuverschuldung beklagen, wenn man sich andererseits notwendigen Sparmaßnahmen versagt.
({0})
Meine Damen und Herren, man kann nicht freitags kommen und die Nettoneuverschuldung kritisieren - was Sie eben wiederum getan haben -, wenn man an den Tagen zuvor - etwa gestern oder vorgestern - bei den Beratungen der Einzeletats Mehrausgaben in erheblichem Maße gefordert hat. Das ist widersprüchlich, doppelbödig und ergibt kein Konzept.
({1})
Gestern haben Sie uns zum Beispiel vorgeworfen, wir kürzten die Mittel im Bereich von ABM sowie für Fortbildung und Umschulung bei der Bundesanstalt für Arbeit. Sie sind weniger darauf eingegangen, was konkret an neuen Instrumentarien - Lohnkostenzuschüssen und dergleichen mehr - zur Bedienung des ersten Arbeitsmarktes eingesetzt wird, weil es beim zweiten Arbeitsmarkt entsprechende Probleme gibt, die bewältigt werden müssen.
Vor allen Dingen lese ich wiederum beim Ministerpräsidenten von Niedersachsen:
Wir werden flexiblere und auf den ersten Arbeitsmarkt abzielende Lösungen realisieren und ein System schaffen, in dem ein Unternehmen grundsätzlich dann Zuschüsse erhält, wenn es zusätzliche Arbeitslose einstellt.
Diese Systemumstellung ist ja längst erfolgt. Der Arbeitsminister hatte gestern Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß die Mittel, die für dieses Haushaltsjahr zur Verfügung gestellt worden sind, gar nicht alle abgeflossen sind. Wieso reden Sie, Kollege Diller, dann davon, wir kürzten die Mittel und betrieben Sozialabbau, und stellen nicht in Rechnung, daß wir Umbau- und Aufbaumaßnahmen an anderer Stelle durchführen, die doch offensichtlich auch dem Kurs des niedersächsischen Ministerpräsidenten entsprechen?
({2})
Drittens. Man kann nicht hierherkommen und angesichts der Probleme auf dem Arbeitsmarkt und der Erosion unserer Steuerbasis feststellen, daß diese Tatsachen eine Zangenwirkung auf den Haushalt mit den nachhaltigen Folgen, die das mit sich bringt, ausüben, und uns kritisieren, weil wir in dieser Situation eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen, und dann auch noch die Argumentation vortragen: Natürlich muß bei den Investitionen und dem sonstigen operativen Bereich alles so bleiben, wie es ist. Alles zusammen geht eben nicht, und deshalb haben wir uns für diesen Weg entschieden, weil wir so sicherstellen können, daß die Konjunktursignale nicht abgetötet werden, sondern in positiver Weise in die Zukunft hineingetragen werden. In diese Richtung gehen unsere
Überlegungen. Ich sage klipp und klar: Glaubwürdig ist Ihre Position in diesem Zusammenhang nicht.
Ich möchte eine weitere Bemerkung zu den Reformnotwendigkeiten machen, die mittlerweile überhaupt nicht mehr bestritten werden können. Wer morgen sicher leben will, muß heute zu Reformen bereit sein, muß sie kraftvoll durchsetzen und darf keine Angst vor Veränderungen haben. Wir müssen Wirtschaft und Gesellschaft umfassend modernisieren; denn wenn sich die ökonomische Basis der Gesellschaft dramatisch verändert, kann der gesellschaftliche Überbau nicht statisch bewahrt werden. Wenn man aber wirklich vorankommen will, müssen Brüche und Sprünge gewagt werden; denn nur sie schaffen neue Chancen.
Alles das formuliert Gerhard Schröder in dem Papier von gestern. Wir stellen einfach fest: Alle diese Forderungen richten sich an ihn selbst; es sind Forderungen auch an Sie, an die SPD-Bundestagsfraktion. Wir fordern Sie auf, auch seinen Äußerungen zur Steuerpolitik Beachtung zu schenken, daß nämlich privates Kapital seit Jahren den Investitionsstandort Deutschland meidet, weil hier die nominalen Steuersätze im europäischen Vergleich nicht wettbewerbsfähig seien. Dem müssen jetzt endlich Konsequenzen folgen. Das ist es, was es einzufordern gilt, auch im Rahmen dieser Schlußbetrachtung zur Haushaltswoche im Deutschen Bundestag.
({3})
Deshalb sage ich: Es kommt nicht darauf an, Papiere zu formulieren; es kommt nicht darauf an, neue Programmentwürfe zu formulieren, wodurch man viel Zeit verliert. Der Bundesfinanzminister hat dieser Tage davon gesprochen, es sei notwendig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, aber es komme auch auf den richtigen Zeitpunkt an. Deshalb kann es so nicht weitergehen, daß im Vermittlungsausschuß und im Rahmen der übrigen Beratungen des Bundesrates die Umsetzung der Dinge, die teilweise parteiübergreifend und auch vom Sachverständigenrat, der OECD und anderen internationalen Organisationen als richtig erkannt worden sind, weiter gebremst wird. Wir sind der Auffassung, daß Konsequenzen folgen müssen, auch in der Steuerpolitik, der Rentenpolitik und in Fortsetzung der notwendigen Programme und Reformschritte, die in unserem Land schon bisher auf den Weg gebracht worden sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will zum Schluß auf folgendes hinweisen: Die finanzpolitischen Kennziffern, von denen der Kollege Diller gesprochen hat, gehen an einigen wesentlichen Momenten und Elementen vorbei. Man muß die Höhe der Verschuldung, der Staatsquote, der Zinsausgaben und der Abgabenbelastung in Relation zu den Aufgaben sehen, die seit 1990 im Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu meistern waren und die bewältigt worden sind. Wenn mit Recht gesagt werden kann, ohne diese neue Dimension von Problemen hätten wir jetzt eine Staatsquote und einen Anteil der Gesamtausgaben des Haushaltes am Bruttosozialprodukt wie vor der Wiedervereinigung, dann ist das doch ein Beleg dafür, daß auch enorme Konsolidierungsmaßnahmen in diesen Jahren auf den Weg gebracht wurden.
Da frage ich mich natürlich, bei welchen dieser Konsolidierungsmaßnahmen - summa summarum eine Größenordnung von 120 Milliarden DM; diese Mittel waren notwendig, um neue Aufgaben im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und andere Aufgaben zu finanzieren und zu bewältigen - Sie jemals mitgewirkt haben. Wo haben Sie einen Beitrag zu einer Begrenzung dieser Situation geleistet?
({4})
Alles in allem, meine Damen und Herren, eine Haushaltswoche, die deutlich gemacht hat: Wir sind mit ganz unterschiedlichen Positionen aus Ihrem Bereich konfrontiert. Wir wünschen, daß sich diejenigen durchsetzen, die mit uns der Auffassung sind, daß Modernisierung, Erneuerung und Zielorientierung im Blick auf die Zukunft der richtige Weg sind. Wir laden Sie ein, in den anstehenden Verhandlungen der nächsten Tage, der nächsten Woche mitzuhelfen, damit das, was als notwendig und richtig erkannt worden ist, auch entsprechend umgesetzt werden kann. Alle in unserem Land werden davon profitieren.
({5})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Kristin Heyne.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Jacoby, es ist bezeichnend, wenn Sie als Haushälter in der Haushaltswoche reden und zu dem konkret vorliegenden Haushaltsplan nicht ein Wort verlieren.
({0})
Ich kann verstehen, daß es eine unangenehme Situation ist, dieses Machwerk hier verteidigen zu müssen. Ich glaube, daß das den Stolz jedes Haushäiters ein bißchen ankratzt.
Dieser Haushalt ist ein Dokument der Kurzatmigkeit, nicht nur der Kurzatmigkeit des amtsmüden Finanzministers, sondern auch der Kurzatmigkeit dieser Regierung. Mit kaum noch zu überbietender Akribie werden die letzten Ecken ausgekehrt. Kollege Jacoby, da geht es nicht nur um Privatisierungen, sondern in vielen Fällen auch darum, Verschuldung zu verstecken.
Nehmen wir zum Beispiel die Selbstbewirtschaftungsmittel der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Dies ist ein Fonds, der dazu dient, die Zuschüsse an die Landwirtschaft vorzufinanzieren. Dieser Fonds wird im Jahr 1998 aufgelöst werden. Das heißt, daß in den 98er Haushalt einmalig ein Betrag von 1,138 Milliarden DM fließt, was aber
zur Folge hat, daß in den nächsten Jahren in jedem Jahr Kredite aufgenommen werden müssen, um diese EU-Gelder zwischenzufinanzieren. Bei einem Zinssatz von 5 Prozent werden das jedes Jahr ungefähr 57 Millionen DM sein.
Zum Vergleich eine Zahl: Für den gesamten Bereich der Aidsbekämpfung sind in diesem Jahr 18 Millionen DM vorgesehen, also rund ein Drittel des Betrages, der in Zukunft allein für diese eine haushaltskosmetische Operation anfallen wird.
Dieser Haushalt ist gespickt mit kurzfristigen Einsparungen zu Lasten späterer Haushalte. Eine besondere Dreistigkeit möchte ich hier noch mal benennen. Sie gehört wieder einmal in den Bereich des Verkehrsministers. Der Finanzbericht 1998 vermerkt dazu:
Mit einem Verzicht auf die Rückführung des Schuldenstandes beim Bundeseisenbahnvermögen in den Jahren 1998 bis 2000
- man höre jetzt gut zu leistet der Verkehrsbereich einen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes, ohne daß die Investitionsplafonds berührt werden.
Hier wird von Konsolidierung gesprochen. Ich finde, es ist eine ziemliche Frechheit, von Konsolidierung zu sprechen, wenn man die Tilgung einstellt.
({1})
Stellen Sie sich doch mal einen kleinen Unternehmer vor, der zu seiner Bank geht und sagt: So, ich werde mein Unternehmen jetzt konsolidieren, indem ich die Schulden ab sofort nicht mehr tilge.
. ({2})
Wenn der nicht mindestens mit 1000 Arbeitslosen drohen kann, dann geht er still und leise in Konkurs.
({3})
Ein Konkursverfahren für Staaten gibt es bekanntermaßen nicht. Hier können die Regierungen nur abgewählt werden. Spätestens im nächsten Jahr wird es wohl soweit sein. Aber die Konkursmasse bleibt. Die muß von der nachfolgenden Regierung bewältigt werden.
Die Schuldenverschiebungsaktivitäten in diesem Haushalt sind natürlich im Zusammenhang mit den Neuverschuldungskriterien für die Europäische Währungsunion zu sehen. Mit der ausgesetzten Tilgung der Bahnschulden und dem Auflösen des Selbstbewirtschaftungsfonds wird es diesem Finanzminister gelingen, das Neuverschuldungskriterium um etwa ein Zehntel Prozentpunkt zu senken, also möglicherweise den magischen Schritt von 3,1 Prozent zu 3,0 Prozent zu schaffen.
Dafür werden wir aber in den Folgejahren Jahr für Jahr fast 200 Millionen DM Zinsen zahlen. 200 Millionen DM - Herr Jacoby, Sie müßten es aus Ihrer Haushältertätigkeit noch wissen - sind mehr als das gesamte Budget des Kinder- und Jugendhilfeplans. Wir alle haben sehr bedauert, daß es im letzten Jahr noch einmal gesenkt wurde. Nur für den Übergang von 3,1 Prozent zu 3,0 Prozent werden wir jetzt jedes Jahr Zinsen in Höhe des gesamten Budgets des Jugendhilfeplans zahlen.
Diese unsinnige Finanzakrobatik ist eben nicht gemeint, wenn im Maastricht-Vertrag von nachhaltiger Haushaltskonsolidierung die Rede ist. Die Erfolge, die diese Regierung unbestreitbar mit dem Maastricht-Vertrag errungen hat, nämlich eine gemeinsame europäische Konsolidierungspolitik, werden jetzt dadurch gefährdet, daß sie sich bei den Finanzen unsolide gebärdet. Diese Finanzpolitik ist das Gegenteil von nachhaltiger Politik, sie ist kurzatmig und zukunftsschädigend.
({4})
Frau Heyne, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?
Ja.
Frau Kollegin, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie über den Haushalt 1998 gesprochen haben, und bestätigen Sie bitte, daß das Referenzjahr für Maastricht das Jahr 1997 ist?
Lieber Kollege, Sie wissen doch, daß im Frühjahr 1998 über die Teilnahme an der Währungsunion entschieden wird. Selbstverständlich wird man bei der Gesamteinschätzung dann auch auf die 1998er Haushalte sehen. Sie basteln jetzt einen schönen Haushalt, weil Sie im Frühjahr 1998 noch nicht nachweisen müssen, ob Sie das wirklich einhalten können, was Sie hier an „Schönheiten" hineingeschrieben haben.
({0})
Ihre Kurzatmigkeit kommt nicht von ungefähr. Sie ist Folge der chronischen Verspätung dieser Regierung. Zu spät denkt Herr Rüttgers über eine Bevorzugung ausbildender Betriebe nach. Zu spät wird Herrn Kohl klar, daß Überstunden Arbeitsplätze kosten, aber die Konsequenzen hat er bis heute nicht gezogen. Zu spät gibt Herr Blüm zu, daß die Renten nicht mehr sicher sind, und zu spät holt Herr Waigel das Bareis-Gutachten aus der Tiefe seines Papierkorbs hervor.
Ja, Herr Finanzminister, Ihre Finanzpolitik hat eine gewisse Symmetrie, das muß ich zugeben, allerdings nicht in dem Sinne, wie Sie es hier vorbeten. Ihre Finanzpolitik sorgt dafür, daß die Einnahmen sinken und die Verschuldung steigt. Das aber ist genau das,
was eintritt, wenn eine Regierung zu lange nicht handelt.
({1})
Diese Regierung hat die nötigen Reformen verschleppt. Die Steuerreform muß endlich kommen, und zwar noch in diesem Jahr.
({2})
Das Gerede über und das Gefeilsche um die Nettoentlastung - Herr Westerwelle, hören Sie mir jetzt zu - müssen endlich aufhören. Herr Schäuble hat eine gewisse Beweglichkeit signalisiert. Ich bin gespannt, ob Sie ihm in Ihrer Rede zustimmen werden oder ob Sie, wie das in der Koalition üblich ist, doch wieder einmal in die andere Richtung ziehen werden.
Das Steueraufkommen ist im übrigen nicht das Problem; es liegt ziemlich gut im europäischen Mittel. Nur, Sie werden nicht mit weniger Steuern auskommen; das beweist dieser Haushalt dramatisch. Was Sie bei den Steuern einsparen, werden Sie sich an anderer Stelle zurückholen. Das bedeutet weitere Sozialkürzungen und eine erhöhte Mehrwertsteuer. In beiden Fällen treffen Sie überwiegend die Falschen, nämlich diejenigen, die eigentlich nichts mehr herzugeben haben. Ich weiß, daß das der F.D.P. mit ihrer Politik des neuen Egoismus egal ist, aber die Union muß sich endlich einmal fragen, was das C in ihrem Namen zu bedeuten hat.
({3})
Wir haben eine Situation, in der selbst die Wirtschaft bereit ist, auf die Nettoentlastung zu verzichten, wenn Sie denn nur endlich mit Ihrer Reform zu Potte kämen. Alfons Kühn, Leiter der Abteilung Steuern beim DIHT, Herr Solms, hat die Nettoentlastung ein Trostpflaster für die Lohnempfänger genannt -ein Trostpflaster soll meistens nur etwas kaschieren -, um die Streichung bei den Steuervergünstigungen auszugleichen. Wenn nicht einmal mehr der DIHT die Nettoentlastung fordert, Herr Westerwelle, für wen stehen Sie dann eigentlich noch?
({4})
- Sie stehen nicht für die Bürger und nicht für die Wirtschaft. Sie stehen für eine Partei, die nur noch um den Macht- und Selbsterhalt kämpft.
({5})
Die in dem Festhalten an einer Nettoentlastung begründete selbstgezimmerte Blockade müssen Sie endlich aufgeben. Lassen Sie uns das Problem der Steuergerechtigkeit angehen! Das Problem liegt in der ungleichen Steuerbelastung, nicht in dem Steueraufkommen an sich.
Herr Kühn vom DIHT verbindet mit einer Absenkung der Steuersätze - explizit auch ohne Nettoentlastung - die Erwartung, daß mehr Investitionen und Arbeitsplätze geschaffen werden. Zugleich bringe die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit. - Beenden Sie den Tanz um die Nettoentlastung, fangen Sie an, konstruktiv zu verhandeln - und bitte nicht nur über ein Reförmchen!
Gestern ging über den Ticker - heute war es in der Presse zu lesen -, daß es um eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage im Volumen von 25 Milliarden DM gehen soll. Mit diesem Reförmchen wird man Arbeitsplätze und Neuinvestitionen nicht schaffen. Meine Fraktion hat in Anlehnung an die Bareis-Vorschläge ein durchgerechnetes Steuermodell vorgelegt. Nach diesem Modell würde sich das Aufkommen durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage um 100 Milliarden DM erhöhen. Im gleichen Umfang könnten die Steuersätze gesenkt werden.
Die haarsträubende Mauschelei, die man in diesem Haushalt findet, macht überdeutlich, daß eine Steuerentlastung zur Zeit nicht zu finanzieren ist. Bezeichnenderweise haben Sie in Ihrer mittelfristigen Finanzplanung weder die Rentenreform noch die Steuerreform noch die Senkung des Soli-Zuschlages vorgesehen. Offenbar trauen auch Sie Ihren Vorschlägen nicht.
Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren von der Koalition - und zwar alle drei Flügel -, bringen Sie wenigstens diese eine dringend benötigte Reform auf den Weg, stopfen Sie Steuerlöcher, senken Sie die Tarife!
Noch eine kleine Anmerkung zu den Steuerideen der SPD.
({6})
Angesichts der fahrlässig unterfinanzierten Reformvorschläge der Koalition kann man - das sehe auch ich so - von Blockadehaltung der SPD nicht sprechen.
({7})
- Moment! - Allerdings: Von Zögerlichkeit - oder um ein bißchen deutlicher zu werden: von Feigheit - kann man schon sprechen angesichts der Tatsache, daß die SPD eine sehr umfängliche und vor allem umweltschädliche Subvention, die Kilometerpauschale, überhaupt nicht antasten will.
({8})
Hier bleibt die SPD hinter der Koalition zurück, die immerhin bereit ist, die Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale umzuwandeln, die nicht mehr einseitig das Auto begünstigt.
({9})
Auch das Ehegattensplitting, das für Besserverdienende eine Begünstigung in Höhe von Zigtausenden Mark bietet - egal, ob sie Kinder haben oder nicht -, wird von der SPD nicht angetastet.
({10})
- In Ihren Steuervorschlägen kommt das nicht vor. Sie haben ein bezeichnendes Fallbeispiel vorgestellt, das einer alleinerziehenden Person, einer Bankangestellten, die jährlich 93 000 DM verdient - wahrlich die klassische Situation der Alleinerziehenden!
Entschlossene Zukunftsgestaltung kann ich in der SPD-Steuerpolitik nicht erkennen, übrigens ebensowenig bei dem Landesfürsten, der diese Politik im Bundesrat vertritt. Der hat im gediegenen Rathaus zwischen Gobelin und Kronleuchtern offensichtlich soviel Patina angesetzt, daß er die Wirklichkeit des Jahres 1997 überhaupt nicht mehr zu spüren bekommt.
({11})
Die Wirklichkeit von sich selbst überlassenen Kindern und Jugendlichen, deren Eltern eben nicht 93 000 DM im Jahr verdienen, würde verbessert durch einen Hortplatz oder durch ein Jugendzentrum im Neubaugebiet, aber ganz sicherlich nicht durch geschlossene Heime.
Aber zurück zur Koalition der chronischen Verspätung: Die dramatischen Einbrüche bei den Steuereinnahmen dieses Jahres sind nicht nur Folge des Steuerdschungels, sie sind wesentlich auch Folge verschleppter Steuerharmonisierung in Europa. Schon seit Jahren fordert die EU-Kommission die Harmonisierung der Unternehmenssteuern in der Gemeinschaft. Viel zu spät und inkonsequent reagiert der Finanzminister. Angeblich verteidigen Sie, Herr Waigel, nationale Steuerhoheit. Tatsächlich aber verbuchen wir einen enormen Steuerausfall durch die Verlagerung von Finanzbeständen, Firmensitzen oder Firmenteilen in andere EU-Länder. Der EU- Steuerkommissar Monti hat auch in dieser Woche wieder davor gewarnt, daß die Steuerkonkurrenz den Abbau der Haushaltsdefizite in der EU bedrohe und Schattenwirtschaft, Steuerflucht und Steuerbetrug begünstige.
Mit dem jetzt von Ihnen geforderten Verhaltenskodex gegen unfairen Steuerwettbewerb werden Sie die Steuerausfälle - die gehen in die zig Milliarden - nicht verhindern können. Sie planen ein Gentleman's Agreement ohne rechtsverbindlichen Biß. Einen objektiven Maßstab dafür, wann die nationale Steuerpolitik zum Dumping wird, gibt es aber nicht. Ein bißchen Wettbewerb wird sich nicht realisieren lassen. Wir brauchen deshalb auf EU-Ebene einen effektiven Mindeststeuersatz - dieser ist übrigens nicht mit Lafontaines Mindeststeuer zu verwechseln - für die Kapitalerträge wie auch für die Unternehmensbesteuerung.
Im Haushalt bündelt sich die Politik einer Regierung. Es ist daher nicht verwunderlich, daß es der Finanzminister ist, dem als erstem in dieser Regierung
die Puste ausgeht. Die - wenn auch unfreiwillige - Ehrlichkeit, mit der dieser Finanzminister zugegeben hat, daß er nicht mehr mag, macht ihn fast schon wieder sympathisch. Ehrlichkeit ist selten in diesem Geschäft. Aber jetzt, Herr Waigel, wo die Wahrheit auf dem Tisch liegt, sollten Sie sich auch danach richten. In der Psychologie nennt man das Phänomen der Amtsmüdigkeit Burnout. Dieser Finanzminister - und mit ihm diese Regierung - ist ausgebrannt. Sie haben kein Feuer mehr, Sie haben keinen Atem mehr.
In der Debatte dieser Woche konnte man die typischen Verhaltensweisen einer Regierung, die ans Ende gelangt ist, erleben: Man versicherte sich gegenseitig der erbrachten Leistung. Das klang teilweise wie ein Nachruf. Kollege Riedl hat das gegenüber dem Kollegen Weng eben noch einmal vorgeführt. Die Schuld für unübersehbare Mißstände wurde bei anderen gesucht: bei der - angeblich - blockierenden Opposition oder - schlimmer noch - bei denen, die unter den Versäumnissen dieser Regierung am meisten zu leiden haben.
So fiel in der Debatte dieser Woche das böse Wort von Sozialschnorrern. Ihre Regierung hat es zugelassen, daß wir über 7 Millionen Arbeitslose haben. Da wagen Sie es, sich hier hinzustellen und von Sozialschnorrern zu reden!
({12})
Übrigens hat das keinen Ordnungsruf vom Präsidenten eingebracht. Wenn hier jemand „Scheiße", da wo es angebracht ist, sagt, dann gibt es einen Ordnungsruf. „Sozialschnorrer" darf man in diesem Hause sagen; das wird dann hinterher dezent aus dem Protokoll gestrichen.
({13})
Diese Regierung ist nicht mehr willens und nicht mehr in der Lage, die Folgen ihrer Politik zu verantworten. Sie ist ausgebrannt, atemlos und chronisch verspätet. Den Erfordernissen einer Bundesrepublik und einer Europäischen Union im Jahr 2000 kann diese Regierung nicht mehr gerecht werden.
Der Haushalt 1998 ist ein Abbild dieser Regierung. Er verschiebt Lasten in die Zukunft, er ist unseriös, er ist unfähig, Zukunft zu gestalten. Ziehen Sie diesen Haushalt zurück und geben Sie den Weg frei für eine andere Regierung!
({14})
Das Wort hat der Kollege Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Die Haushaltswoche ist eigentlich eine Gelegenheit für die Opposition, mit eigenen Alternativen und Konzepten zu überzeugen und sich mit einem eigeDr. Guido Westerwelle
nen Programm als kommende Regierung zu empfehlen. Diese Gelegenheit haben Sie verpaßt. Obwohl Ihnen die Koalition in diesem Sommer wahrlich unnötige Vorlagen geboten hat, haben Sie in dieser Woche keine dieser Vorlagen in Tore verwandelt.
Sie haben sich bemüht, Schwächen aufzuzeigen. Aber Sie haben sich nicht als kommende Regierung empfohlen, weil es Ihnen an einem politischen Konzept und Programm fehlt. Hier und da einen Fehler der Regierung oder einen Widerspruch zwischen den Koalitionsparteien zu entdecken reicht nicht aus, um die Regierung in diesem Lande zu übernehmen.
({0})
In dieser Debatte hat es eine wirklich bemerkenswerte Ausführung des Fraktionsvorsitzenden Fischer gegeben. Mir verschlug es die Sprache. Ich mußte den Atem anhalten, als ausgerechnet Joschka Fischer darüber berichtete, welche Fehler die Bundesregierung im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gemacht hat. Daß im Rahmen der deutschen Einheit auch Fehler gemacht worden sind, wird niemand in diesem Hause bestreiten können. Aber daß jemand Fehler kritisiert, der die deutsche Einheit überhaupt nicht gewollt hat, das ist abenteuerlich!
({1})
- Soll ich Ihnen die Interviews - ich habe sie dabei - von Herrn Fischer aus der Zeit der deutschen Einheit vorlesen, als er Hand in Hand mit Lafontaine zunächst für die Zweistaatlichkeit gesprochen hat?
Wenn dieser Regierung ein Vorwurf nicht gemacht werden kann, dann im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Es gibt eine Menge Kritik, die man bei jeder Regierung ablassen kann. Aber die historische Sekunde der deutschen Einheit ergriffen und begriffen zu haben, das ist mit Sicherheit das größte Verdienst der Regierung Kohl.
({2})
Die Sozialdemokraten haben ein ungelöstes Personalproblem, und sie haben vor allen Dingen ein ungelöstes Strategieproblem. Sie können sich nicht zwischen dem staatsinterventionistischen Weg von Lionel Jospin und dem marktwirtschaftlichen Kurs von Tony Blair entscheiden.
({3})
Tony Blair hat Herrn Scharping in seiner Rede auf dem Kongreß der Europäischen Sozialisten in Malmö im Sommer dieses Jahres ins Stammbuch geschrieben - ich zitiere wörtlich -:
Unser Ziel muß es sein, Barrieren gegen Beschäftigung und Arbeitsmarktflexibilität abzubauen, unnötige Bürokratie für kleine und mittlere Betriebe, die voraussichtlich am meisten Arbeitsplätze schaffen, abzuschaffen, den europäischen Binnenmarkt zu vollenden und dafür zu sorgen, daß soziale Hilfe beschäftigungswirksam ausgerichtet ist, damit diejenigen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, wieder eine Chance auf einen richtigen Arbeitsplatz bekommen.
({4})
Er fährt fort:
Unsere Bürgerinnen und Bürger werden sich schlicht weigern,
- so sagt Tony Blair mehr Steuern und Abgaben zur Finanzierung eines nicht reformierten sozialen Sicherungssystems zu zahlen.
Noch vorgestern wies Tony Blair die Kritik der Gewerkschaften an seiner angeblich kalten Politik der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit den Worten zurück:
Auch wenn manche frösteln, am Ende ist es wärmer in der realen Welt.
Zu Blair bemerkt BDI-Chef Henkel:
Das Programm Tony Blairs unterscheidet sich weniger von der F.D.P. als von der SPD.
In Deutschland wäre Tony Blair Mitglied der F.D.P. und würde von Fischer bis Lafontaine als Neoliberaler beschimpft.
({5})
Lieber neoliberal als altgrün!
({6})
Der Unterschied zwischen New Labour und alter SPD ist: Tony Blair hat seine Partei erst erneuert und wollte dann regieren. Oskar Lafontaine will erst regieren und die Partei kein bißchen erneuern.
({7})
Herr Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier?
Bitte sehr.
Herr Kollege Westerwelle, da Sie Tony Blair so für sich reklamieren, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, daß Tony Blair gerade in diesen Tagen ein Sonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit für 250 000 Jugendliche aufgelegt hat, finanziert mit einer Sondersteuer? Darf ich Ihr Zitieren von Tony Blair so verstehen, daß Sie Ihren Widerstand - als F.D.P. und in der Koalition - gegen ein solches Programm in Deutschland endlich aufgeben?
({0})
Frau Kollegin Matthäus-Maier, da Sie mich in Ihrer Rede mit einem Schüttelreim belegt haben, möchte auch ich Ihnen so
antworten: Es ist doch stets die alte Leier, was uns da fragt Matthäus-Maier!
({0})
Nun zur Antwort auf Ihre Frage: Erstens. Vergleichen Sie einmal die Quote, was die Jugendarbeitslosigkeit in Großbritannien und Deutschland angeht.
({1})
Zweitens. Das, was wir Ihnen in diesem Hause vorschlagen, nämlich eine Steuersenkungspolitik für neue Investitionen und neue Arbeitsplätze durchzusetzen, ist das, was Tony Blair bei Regierungsantritt nicht nur verkündet, sondern jetzt auch beschlossen hat. Sie weigern sich noch immer, Steuersenkungen mitzutragen. Sie machen hier die alte Umverteilungsleier, liebe Frau Matthäus-Maier.
Der Schnitt geht mitten durch dieses Parlament. Auf der Oppositionsseite sitzen die Besitzstandsparteien und Status-quo-Politiker und auf der bürgerlichen Seite dieses Hauses die Ref ormkräfte.
({2})
Früher kam übrigens der Reformdruck entweder von rechts oder von links. Heute kommt der Reformdruck aus der Mitte unserer Gesellschaft.
Es gibt eine interessante neue Ausrichtung: Während zu Beginn dieses Jahres die Reformen von der Mehrheit der Bevölkerung als Bedrohung empfunden wurden, ist es heute der Reformstau, vor dem sich die Menschen fürchten. Die meisten Menschen spüren: Das größere Risiko liegt heute nicht darin, das Bestehende zu verändern, sondern darin, es nicht zu tun. Willy Brandt warb 1972 mit dem Slogan: „Wer morgen sicher leben will, muß heute für Reformen kämpfen. " Daran sollten sich die Besitzstandsparteien SPD und Grüne heute ein Beispiel nehmen.
({3})
Herr Westerwelle, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Jens?
Aber gerne. Es ist mir ein größeres Vergnügen.
Herr Westerwelle, könnten Sie nicht aus dieser theatralischen Rolle, die Sie hier spielen, ein wenig herausschlüpfen und sich manchmal ein bißchen mehr um Wahrheit bemühen? Daß Sie das Bundespostministerium abschaffen, ist eine löbliche Tat. Daß Sie aber eine Regulierungsbehörde einführen, die 40 Millionen DM mehr kostet als die Abschaffung des Postministeriums, ist ein Skandal. Finden Sie das nicht auch?
Erstens. Sie haben sich zu Wort gemeldet, um einen Kommentar zu meiner Rede abzugeben. Das ist Ihnen auch gelungen. Aber bei allem Respekt: Wenn es um Theatralik
geht, kann niemand in diesem Hause mit Rudolf Scharping konkurrieren.
Zweitens. Ich bin sicher, Sie haben der Rede von Herrn Rexrodt zugehört. Dann haben Sie auch ausführliche Erklärungen und ein ausführliches Programm zur Regulierungsbehörde gehört.
Im übrigen bin ich persönlich der Auffassung, daß Zwischenfragen an das anknüpfen sollten, was der Redner gesagt hat. Man sollte nicht irgend etwas vortragen, was man schon immer einmal sagen wollte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es gibt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Koppelin.
Bitte sehr.
Herr Kollege Westerwelle, wie erklären Sie sich - gerade nach dieser Frage, die wir eben gehört haben -, daß es auch unter Sozialdemokraten einen unglaublichen Drang gibt, an die Spitze dieser Regulierungsbehörde zu kommen?
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Der Drang der Sozialdemokraten an die Spitze dieser Regulierungsbehörde ist mir bekannt, wie ich mir übrigens auch bei der Debatte über die 610-Mark-Beschäftigungsverhältnisse - aus der Sicht von Sozialdemokraten reines Teufelszeug - gedacht habe: Ich möchte nicht wissen, wieviel Mitarbeiter von Abgeordneten der SPD- Fraktion auf der Basis von 610-Mark-Beschäftigungsverhältnissen angestellt sind.
({0})
Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates müssen neu bestimmt werden. Die entscheidende Frage lautet: Wie organisieren wir die Gesellschaft mit weniger Staat? Das zentrale Thema heißt: Eigenverantwortung versus Vollkaskostaat.
Die Verbeamtung der deutschen Politik, die Verstaatlichung des Denkens sind die Ursachen für die Immobilität des politischen Systems. Nach der PDS - das hat sich in dieser Woche gezeigt - ist in diesem Hause keine Partei so staats- und planwirtschaftlich orientiert wie die grüne Partei. Wer auf die Globalisierung der Wirtschaft und auf die Internationalisierung der Gesellschaft mit einer Renationalisierung der Politik reagieren will, entscheidet ebenso provinziell wie untauglich.
Die Globalisierung ist für die Gesellschaften gefährlich, die nur die Risiken sehen und nicht auch die überwiegenden Chancen. Globalisierung ist nicht zuerst Gefahr, sondern Herausforderung für Deutschland. Die Globalisierung führt nur dort zu Ellbogengesellschaften und sozialem Darwinismus, wo man sie ignoriert und naiv zu verhindern versucht. Um diese Länder machen die Investitionen eiDr. Guido Westerwelle
nen Bogen. Dort wandern Arbeitsplätze ab, geht die Voraussetzung für jede soziale Sicherheit verloren.
Alles, was man verteilen will, muß man vorher erst einmal erwirtschaften.
({1})
Gestatten Sie? - Frau Margareta Wolf, bitte.
Herr Kollege Westerwelle, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland unter Ihrer Regierung einen absoluten Tiefstand erreicht haben? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß dies auch den Verlust von Arbeitsplätzen nach sich zieht?
({0})
Ich bin hundertprozentig Ihrer Auffassung, daß der Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland das eigentliche Alarmsignal ist. Wir hatten 1995 einen Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen auf etwas mehr als 18 Milliarden DM. Er ist 1996 auf etwas mehr als 1 Milliarde DM zurückgegangen.
Deshalb ist es nach meiner Auffassung kein Standortpessimismus, jetzt zu sagen: Wir müssen unseren Standort verbessern. Was uns unterscheidet, ist, daß Sie nur darauf warten, daß andere Länder im internationalen Wettbewerb ihre Standortbedingungen irgendwann einmal verschlechtern. Bei der Steuer- und Abgabenpolitik ist dies besonders offensichtlich. Sie empfehlen, durch europäische und internationale Vereinbarungen dafür zu sorgen, daß beispielsweise in Belgien - wo Frau Schreinemakers hingeht - eine vergleichbare Steuer- und Abgabenquote herrscht wie in Deutschland. Darauf hat ganz Belgien gewartet. Frau Kollegin, kein einziges Land auf dieser Welt wird die eigenen Bedingungen und Wettbewerbsvorteile verschlechtern, nur damit die deutsche Wirtschaft wieder mehr Chancen hat. Wir müssen unseren Standort selbst verbessern, zum Beispiel durch eine Steuersenkungspolitik, Frau Kollegin.
({0})
Der Sozialstaat ist auf eine funktionierende und erfolgreiche Volkswirtschaft angewiesen. Sie mögen das mit Neidkampagnen begleiten. Die Neidkampagnen in Wahlkampfzeiten eignen sich vielleicht für demoskopische Erfolge, sie mögen den Leistungsbereiten in dieser Gesellschaft immer neue Lasten aufbürden. Wir sagen dazu: Wir sitzen alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern. Wenn wir die Leistungsbereiten in diesem Lande weiter gängeln und weiter drücken,
({1})
dann werden die Abwanderungen von Investitionen
nicht aufhören und in diesem Lande keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Deswegen fordern wir eine Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung und wollen an die Politik anknüpfen, die Mitte der 80er Jahre so erfolgreich in Westdeutschland gewesen ist.
({2})
Die Steuerreform ist der Schlüssel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für stabile Haushalte in unserem Land. Steuersenkungen sind das beste Beschäftigungsprogramm, weil sie für neue Investitionen und damit eben auch für neue Arbeitsplätze sorgen. Nur wer Arbeit hat, kann überhaupt Steuern zahlen. Deswegen reißen Steuersenkungen keine Löcher in öffentliche Kassen,
({3})
sondern konsolidieren die Haushalte durch eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt.
Wir Freie Demokraten sind zu Kompromissen im Rahmen der Steuerverhandlungen bereit. Es darf aber keine Umverteilungsreform als fauler Kompromiß übrigbleiben. Wir Freie Demokraten halten am Ziel einer Nettoentlastung von 30 Milliarden DM fest. Stufenlösungen sind denkbar, aber auch die erste Stufe muß ein Einstieg in eine echte Steuersenkungsreform sein. Für die Freien Demokraten gilt: Steuersenkungen so viel und so früh wie möglich, um neue Investitionen zu ermöglichen. Ich füge hinzu: Der Solidaritätszuschlag wird wie in der Koalition vereinbart um zwei Prozentpunkte zum 1. Januar 1998 gesenkt.
({4})
Je mehr Mut die Politik bei der Steuerreform jetzt hat, um so besser für die Arbeitsplätze in Deutschland.
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Die Opposition sagt: Wir können uns eine große Steuerreform nicht leisten. Die Koalition sagt: Deutschland kann sich das Scheitern einer großen Steuerreform nicht leisten.
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Wenn die Steuerschraube zu fest angedreht wird, würgt sie die Konjunktur ab, sorgt für das Abwandern von Investitionen und damit für den Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland. Das führt zu weniger Staatseinnahmen. Dieser Effekt wird in der Volkswirtschaft als Laffer-Kurve bezeichnet.
Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen Dingen von den Grünen, das Buch „Grundzüge der Mikroökonomik" von Varian empfehlen. Sie dürfen es allerdings nur dann lesen, wenn Jürgen Trittin nicht zusieht, weil es aus dem Amerikanischen übersetzt ist. Dort heißt es wörtlich:
Eine Erhöhung des Steuersatzes führt letztlich zu einer Reduktion der Einnahmen, wenn der Steuersatz bereits hoch genug ist.
Mit anderen Worten: Ab einem gewissen Punkt führen höhere Steuern zu einem sinkenden Sozialprodukt und damit zu niedrigeren Steuereinnahmen, weil die Leistungsbereitschaft zerstört wird. Was Tausende von Volkswirtschaftsstudenten jedes Jahr im zweiten Semester lernen, hat die Opposition bis heute noch nicht begriffen.
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Wer wie die SPD bis jetzt noch kein eigenes erstes Steuerreformkonzept vorgelegt hat, kann von der Koalition kein zweites Konzept verlangen. Eine Pressemitteilung oder eine flammende Rede der finanzpolitischen Sprecherin in diesem Hause ist noch kein Konzept.
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Das mindeste, was man verlangen darf, sind konkrete Vorstellungen der Opposition über einen Tarifverlauf.
({9})
Herr Poß, hier muß ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilen. „Brandstifter" ist ein Wort, das im Parlament nicht erlaubt ist.
Ich meine, die Steuerverhandlungen in der nächsten Woche sind zu wichtig, als daß sie von Herrn Voscherau nur als Wahlkampfgetöse und Schaufensterveranstaltung mißbraucht werden.
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Ich würde gerne noch einmal auf einen Punkt, den Sie immer bringen, hinweisen; es handelt sich um die ökologische Steuerreform. Niemand in diesem Hause bestreitet, daß unser Steuersystem ökologisch stärker ausgerichtet werden soll - so ist es übrigens auch in der Koalition beschlossen worden.
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Sie aber wollen Ökosteuern einfach nur auf die ohnehin viel zu hohe Steuer- und Abgabenlast für die Finanzierung Ihrer ideologischen Sonderprogramme draufsatteln.
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Das ist mit uns in diesem Lande nicht zu machen. Darin besteht der Unterschied.
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Wir haben eine viel zu hohe Steuer- und Abgabenquote. Im übrigen ist es schon dreist, Frau Heyne, bei allem Respekt, wenn Sie ausgerechnet den DIHT für Ihre Politik in Anspruch nehmen, der im Sommer dieses Jahres noch in einem Brief geschrieben hat, daß eine Umschichtung kaum Arbeitsplätze schafft, sondern im Gegenteil eine Entlastung notwendig ist. Das ist das, was wir wollen.
Ich möchte Ihnen sagen, was in der „Handwerkszeitung" von heute steht. Handwerkliche Existenzgründer 1997 wurden gefragt: Was ist das Wichtigste? Wo fehlt es noch an Unterstützung? 70 Prozent sagten: Es sind die Steuererleichterungen, die wir brauchen. - Wir sind der Meinung, daß das Handwerk recht hat. Denn im Mittelstand entsteht das Gros der Arbeitsplätze und das Gros der Ausbildungsplätze.
Sie mögen unsere Mittelstandspolitik als Klientelpolitik diffamieren.
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Wir nennen Mittelstandspolitik Arbeitnehmerpolitik.
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Es gibt keinen Mangel an Arbeit, es gibt einen Mangel an bezahlbarer Arbeit. Das hat jetzt endlich auch Herr Schröder in seinem Papier festgestellt. Wir warten alle darauf, wann die SPD-Fraktion dieses Papier von Herrn Schröder entweder wieder über den Haufen wirft oder endlich zur Kenntnis nimmt.
Wir brauchen eine Reform der sozialen Sicherungssysteme. Wir brauchen eine Bildungsreform. Wir brauchen eine Rentenreform. Auch da reicht es nicht aus, daß man nur die Lasten von der einen Schulter der Volkswirtschaft auf die andere Schulter der Volkswirtschaft umverteilt. Wir wollen bei der Rentenreform Rentensicherheit für die heutige Seniorengeneration. Aber wir wollen auch einen Umbau des Generationsvertrags, damit auch die nächste Generation Generationengerechtigkeit und Rentensicherheit erfährt.
({6})
Meine Damen und Herren, wir stehen in Deutschland vor einem Wendepunkt der Politik. Die Gesellschaften werden gewinnen, die sich dem Wandel stellen. Wir werden entscheiden müssen, ob es uns gelingt, unsere Gesellschaft mit weniger Staat zu organisieren. Eigeninitiative ist das zentrale Thema der deutschen Politik; das sagt Herr von Dohnanyi völlig zu Recht und wirbt deshalb übrigens in Hamburg für die F.D.P. Die Gesellschaften werden verlieren, die sich dem Wandel verweigern.
Die Parteien werden die Wahlen gewinnen, die für Reformpolitik stehen. Die Oppositionsparteien haben sich in dieser Woche als strukturkonservative Reformverweigerer gezeigt, nach dem Motto: Es muß etwas geschehen; nur, ändern darf sich nichts. RotGrün ist der mumifizierte Zeitgeist der 70er Jahre.
({7})
Mit diesem Besitzstandsdenken werden Sie vielleicht demoskopische Tageserfolge erzielen. Die Bundestagswahl werden Sie letztendlich verlieren.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Joachim Poß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu mehreren wahrheitswidrigen Behauptungen von Herrn Westerwelle stelle ich hier fest, daß die F.D.P. und die Koalition in den letzten Jahren das Steuerrecht systematisch verwüstet haben,
({0})
Schlupflöcher geschaffen haben für ihre Klientel,
({1})
mit dem Ergebnis, daß inzwischen nur noch 50 Prozent aller Einkünfte voll der Besteuerung unterworfen werden,
({2})
mit dem Ergebnis, daß die eigentlichen Leistungsträger dieser Gesellschaft, Herr Westerwelle, die Frauen und Männer, die jeden Tag ins Büro, in die Fabriken gehen und die ein Durchschnittseinkommen haben oder etwas über dem Durchschnitt liegen, die höchste Steuer- und Abgabenlast der Geschichte zu tragen haben. Sie sind dafür verantwortlich.
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Mit dem Zwischenruf, der gerügt wurde, habe ich nicht Sie persönlich als Brandstifter bezeichnen wollen, sondern nur deutlich machen wollen: Wer dafür ursächlich mitverantwortlich ist - ob Sie als Person oder Herr Solms, der neben Ihnen sitzt und da mehr auf dem Buckel hat -, der darf nicht solche Reden führen. Das ist, wie wenn der Brandstifter nach der Feuerwehr ruft. Das tun Sie nämlich.
({4})
Wer so viel auf dem Kerbholz hat und sich so an den Menschen versündigt hat, die jeden Tag arbeiten, darf solche Reden hier nicht ungestraft halten.
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Entgegnung, Herr Kollege Westerwelle.
Zunächst einmal haben wir, Herr Kollege, ganz offensichtlich einen Meinungsunterschied darüber, was Florett ist, was Degen ist und was die Keule ist. Das ist eine Frage
des Stils; das bleibt Ihnen unbenommen. Ich habe das nicht zu kommentieren.
Aber das andere ist eine sachliche Frage, die ich doch sehr bemerkenswert finde. Ich finde, es ist ein starkes Stück, daß Sie, wenn es zum Beispiel um die Konsolidierung der Haushalte geht, pausenlos zum Beispiel im Bereich des Bundesrates Einsparungsmaßnahmen blockieren. Sie beklagen die Haushaltslöcher, die Sie im Bundesrat selber graben. Sie graben die Haushaltslöcher, stellen sich fröhlich pfeifend daneben und haben den Spaten noch in der Hand. Das, was Sie machen, ist nicht seriöse Politik.
({0})
Der zweite Punkt: die Frage der bisherigen Steuer- und Abgabenquote. Wir haben zur Zeit eine Steuer- und Abgabenquote, die bei etwa 45 Prozent liegt; wir haben eine Staatsquote, die bei etwa 50 Prozent liegt. Das kann vorübergehend im Hinblick auf die Sonderaufgabe der deutschen Einheit sehr wohl gerechtfertigt werden. Wir sagen aber als Koalition, wir sollten uns nicht an diesen hohen Anteil von Staatswirtschaft in diesem Lande gewöhnen, sondern wir sollten Jahre nach der Einheit begreifen, daß die staatswirtschaftlichen Strukturen verringert werden müssen, die Staatsquote gesenkt werden muß und deswegen die Steuer- und Abgabenlast zurückgeführt werden muß.
({1})
- Nein! - Das ist die Auffassung der Koalition. Sie haben sich hier als nichts anderes als Umverteilungspolitiker gezeigt, die gegen marktwirtschaftliche Erneuerung Opposition machen. Das ist der Punkt, um den es hier geht.
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Auch Sie haben die notwendigen Reformen angesprochen, die ich übrigens ausdrücklich unterstütze. Auch wir sind der Meinung, daß man für eine Steuersenkungspolitik Zwischenfinanzierungen braucht, bis es zu einem Beschäftigungseffekt kommen kann.
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Deswegen wollen wir zum Beispiel eine Privatisierungspolitik, die nicht nur ordnungspolitisch geboten ist, sondern auch fiskalisch.
Ich möchte Ihnen einmal folgendes Beispiel nennen. Mit teutonischer Ignoranz mag für Sie Neuseeland ein Land von Kiwis und Schafen sein. Schauen Sie sich aber einmal an, was in Neuseeland mit marktwirtschaftlichen Reformen gemacht worden ist: Abbau der Arbeitslosigkeit von 11 Prozent auf 6 Prozent in drei Jahren, reales Wachstum von durchschnittlich 5 Prozent in den letzten drei Jahren, Geldwertstabilität für die Lebenshaltung von 2 Prozent. Die Defizitquote wurde von 7 Prozent in den Jahren 1991/1992 umgewandelt in einen Haushaltsüberschuß von 3 Prozent.
({4})
Die Schuldenstandsquote ist gesunken. Die Staatsquote sank von 45 Prozent auf 35 Prozent.
Wir sagen Ihnen: Die sozialste Politik in diesem Lande ist immer noch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.
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Nicht diejenigen, die mit Neidparolen durch die Straßen ziehen, sind Arbeitnehmerparteien, sondern diejenigen, die mit marktwirtschaftlichen Bedingungen für Investitionen und neue Arbeitsplätze sorgen. Wir sind die Arbeitnehmerparteien in diesem Hause.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Prof. Dr. Luft.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Westerwelle, den vielbeschworenen und eben von Ihnen gar lauthals beschrienen Reformstau in diesem Lande werden Sie mit dem Haushalt 1998 natürlich nicht auflösen, über den Sie im übrigen nicht ein einziges Wort verloren haben.
({0})
Sie werden mit dem Haushalt 1998 Ihre längst verstaubte, in manchen anderen europäischen Ländern überholte Politik konservieren und zementieren. Mit dieser verstaubten Politik bekommen Sie als F.D.P. in den neuen Bundesländern, die erst seit sieben Jahren die Planwirtschaft hinter sich gelassen haben, marktwirtschaftlich, wie Sie merken, keinen Fuß auf den Boden. Das müssen Sie sich auch einmal sagen lassen.
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Nach dieser Schlußrunde in der ersten Lesung des Bundesetats 1998 wird nun dieser Entwurf, der auf außerordentlich schwammigem Fundament steht, in die Ausschußberatungen verwiesen werden. Wenn es nicht noch, was leider nicht zu erwarten ist, einige grundlegende Veränderungen an diesem Etatentwurf gibt, dann steht ein Nachtragshaushalt 1998 schon am Horizont.
Mit Verlaub: Bei der Aufstellung eines Bundeshaushalts kann man doch nicht wie beim Ausfüllen eines Lottoscheins verfahren. Man kann doch nicht die Eckdaten nach dem Prinzip Hoffnung tippen.
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Man muß vielmehr ungeschönt und ungeschminkt den Fakten ins Auge sehen und diesen Fakten im Budgetansatz Rechnung tragen.
Wie schon im Haushalt 1997 handelt es sich auch bei vielen in diesem Entwurf verankerten Ausgaben und Einnahmen wiederum um Wunschvorstellungen und um ungedeckte Schecks. Ich nenne nur - das ist hier häufig schon geschehen - drei Eckdaten: Ich nenne den Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit, der den Bedingungen nicht gerecht wird. Ich nenne die konzipierten Steuereinnahmen, die angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Insolvenzwellen, die durch dieses Land rollen, nicht eintreten werden, und ich nenne die illusionär niedrig angesetzte Nettokreditaufnahme, die nur auf die Einhaltung des Defizitkriteriums von Maastricht ausgerichtet ist.
Allein wegen dieser drei geschönten Ausgangsdaten wird der gesamte Haushalt spätestens im Februar oder März 1998 wieder ins Wanken geraten. Es ist eigentlich schade um die Zeit, die sich so viele Haushälterinnen und Haushälter sowie Abgeordnete in anderen Ausschüssen nehmen, um Titel für Titel durchzugehen und um 10 000 oder 100 000 DM zu feilschen, wenn am Ende das ganze Konstrukt sowieso nur auf schwammigem Fundament steht.
({3})
Mit dem Prinzip Hoffnung muß beim Schicksalsbuch der Nation aufgehört werden.
Ist es nicht blamabel, wenn im Haushaltsausschuß schon 1996 und verstärkt 1997 die Befassung mit Anträgen des Finanzministers auf überplanmäßige Ausgaben ständig zunahm? Gewöhnlich heißt es in den Begründungen, es handle sich um unvorhergesehene Ausgaben.
Ich frage mich nur: Wer ist denn da so kurzsichtig, daß in grundlegenden Bereichen ständig Mittel nachbeantragt werden müssen, die im übrigen von allen Oppositionsparteien schon längst angemahnt worden sind?
Dieses notdürftige Reparieren im nachhinein wird für die Gesellschaft teurer, als wenn man rechtzeitig den Gegebenheiten und den Erfordernissen ins Auge sehen würde. Das würde natürlich die Abkehr von neoliberalen Glaubensbekenntnissen erfordern, Herr Kollege Westerwelle. Dies würde ganz einfach ökonomische Vernunft verlangen.
Sie schwören, das, was Sie im Haushalt 1998 vorsehen, sei ordnungspolitisch richtig. Da frage ich mich: Kann man die Richtigkeit von Ordnungspolitik nur an der Einhaltung von Lehrsätzen prüfen oder messen? Sollten dafür nicht realwirtschaftliche oder soziale Effekte der Maßstab sein?
Sie feiern sich - Herr Kollege Jacoby hat das heute wieder getan - wegen der Einmalerlöse aus der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Wir wollen keinen ideologischen Streit über Privatisierung. Nur, Sie haben der Öffentlichkeit noch nie erklärt, daß in den nächsten Jahren außer diesen Einmaleinnahmen, für die Sie sich feiern, laufende Gewinnausschüttungen verlorengehen werden und daß es fraglich ist, ob die Relation zwischen Zins- und Renditeerwartungen, die Herr Jacoby hergestellt hat, so aufgehen wird,
wie er sich das vorstellt. Sie haben weder der Öffentlichkeit und nicht einmal den Abgeordneten im Haushaltsausschuß darauf eine Antwort gegeben. Ich habe wiederholt danach gefragt und bin mit nichtssagenden Auskünften abgespeist worden.
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Sie sprechen in großen Worten von der notwendigen Verschlankung des Staates. Diese Forderung ist zu akzeptieren. Aber wenn man sich das anschaut, was bei der Auflösung des Postministeriums geschieht - ich will das hier nicht ausweiten; es ist in dieser Woche wiederholt angesprochen worden -, dann spricht das für das Gegenteil.
Sie sagen, Investoren bräuchten Planungssicherheit. Das ist völlig richtig. Aber was machen Sie? Sie stellen Barmittel in den Haushalt ein, die die in den vergangenen Jahren eingegangenen Verpflichtungsermächtigungen nicht decken. Ich frage mich, was das noch mit Planungssicherheit zu tun hat. Das alles sind nur Beispiele. Ich kann wirklich nicht erkennen, wem solche verbalen ordnungspolitischen Prinzipien überhaupt nützen.
Eine Reform des Haushaltsrechts und der Haushaltspraxis ist in dieser Republik zweifelsohne überfällig, um bestimmte Mißstände bis hin zur Aushebelung von Rechten der Parlamentarier abzustellen. Es gibt dazu von der Regierung einen Gesetzentwurf. Die Bündnisgrünen haben, wie ich finde, einen sehr fundierten Antrag vorgelegt. Ich will an dieser Stelle - denn die Ausschußberatungen darüber liegen noch vor uns - nur sagen: Wenn es schon zu einer Korrektur des Haushaltsrechts kommt, müßte gesichert werden, daß die Kontrollergebnisse des Bundesrechnungshofes künftig nicht so ohne Konsequenzen verhallen, wie das bislang häufig geschieht.
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Ich nenne nur ein einziges Beispiel, nämlich den Prüfbericht des Rechnungshofes vom 27. September 1995 über die vom Bund viel zu billig verkauften DDR-Banken, woraus sich Nachforderungen an die Deutsche Bank und die Dresdner Bank in Milliardenhöhe ergeben könnten. Nichts dergleichen geschieht. Aber wenn es eine Nachforderung an eine Sozialhilfeempfängerin gibt, dann sind Sie ganz schnell zur Stelle.
Beifall bei der PDS)
Natürlich hat diese Republik keine profane, durch technische oder rechtliche Feinkorrekturen behebbare Haushaltskrise. Diese Republik hat eine lange schwelende Beschäftigungskrise und eine damit in Zusammenhang stehende Einnahmekrise. Das Land lebt nicht über seine Verhältnisse, wie es häufig suggeriert wird. Millionen Menschen, darunter viele Frauen und viele junge Leute, müssen nur wegen der Politik dieser Koalition Jahr um Jahr unter ihren Möglichkeiten bleiben, weil es nicht einmal gelungen ist, die Überstundenzahl abzubauen und per Gesetz etwas Handfestes zu installieren oder auch sozialrechtlich eine Absicherung der Teilzeitarbeit herbeizuführen -, um nur Beispiele zu nennen.
Dies alles ist eine beispiellose politikverursachte Verschwendung von potentiellem Volkseinkommen. So viel, wie Sie brachliegen lassen, ja, vergeuden, können Sie durch ein auf strikte Sparsamkeit ausgerichtetes Haushaltsrecht und einen straffen Haushaltsvollzug nie und nimmer kompensieren. Alles, was Sie bislang unter der Flagge der Deregulierung oder gar unter der Flagge der Reform auf den Weg gebracht haben, hat sich beschäftigungspolitisch als eine Nullnummer erwiesen. Geschäftigkeit der Regierung ist doch überhaupt nicht mit Beschäftigungszunahme in diesem Lande gleichzusetzen.
Selbst das gewiß nicht PDS-verdächtige „Handelsblatt" urteilt zum Etatentwurf 1998 zusammenfassend - ich zitiere -:
Das Schlimme an Waigels Zahlenwerk ist freilich, daß es die notleidende Struktur der Bundesfinanzen in den nächsten Jahren nicht um ein Jota verbessert.
Das genau ist der Punkt. Ausgabenkürzungen müssen selbstverständlich dort sein, wo sie sinnvoll sind. Aber mit Ihren Sparprogrammen werden Sie keine nachhaltige Haushaltssanierung bewirken. Sie beantworten ganz einfach die Frage nicht, welche Folgewirkungen mit Ihren sogenannten Sparmaßnahmen verbunden sein werden. Es ist doch einfach unlogisch, die positiven Beschäftigungswirkungen einer zunehmenden Auslandsnachfrage zu feiern, gleichzeitig aber die negativen Wirkungen einer rückläufigen Staatsnachfrage infolge drastischer Sparprogramme zu verschweigen.
Der Haupthebel zur Haushaltskonsolidierung sind Einnahmeverbesserungen über mehr Beschäftigung und über eine gute Bildung der jungen Leute.
Dazu schlagen wir erstens vor, mit öffentlichen Investitionen eine ökologische und eine Verkehrswende in den neuen, aber auch in den alten Bundesländern einzuleiten und infrastrukturelle Verbesserungen in Bereichen herbeizuführen, die zur Zeit notleidend sind. Wir werden Finanzierungsquellen dafür benennen. Auch wir haben gelernt, daß man, wenn man etwas verteilen will, wissen muß, wie man es bezahlt.
Wir fordern zweitens die Einrichtung eines Fonds für soziale und ökologische Gemeinschaftsaufgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit. Mit den Mitteln dieses Fonds sollte 1998 wirklich der Einstieg in einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor im normalen Arbeitsmarkt finanziert werden. Auch hierfür werden wir finanzielle Modalitäten formulieren. Wir meinen, daß dies nicht immer als ein Notprogramm und etwas, dessen man sich besser schämen sollte, abqualifiziert werden darf.
Drittens sind wir dafür, endlich ein Recht junger Leute auf berufliche Erstausbildung gesetzlich zu verankern. Solange die Wirtschaft ihrer diesbezüglichen Aufgabe nach dem Grundgesetzartikel „Eigentum verpflichtet" nicht nachkommt und eine Ausbildungsumlagefinanzierung, wie von den Oppositionsparteien gefordert, nicht wirksam wird, wollen wir, daß ein mittelfristiges Ausbildungsprogramm für hunderttausend junge Leute aufgelegt wird. Die
Dringlichkeit muß ich nicht begründen. Die Kosten für den Bund sind etwa identisch mit dem, was Sie 1998 für den Eurofighter eingestellt haben.
Wir fordern viertens, den Kommunen die Sozialhilfeausgaben für Langzeitarbeitslose zu erstatten. Das sind jährlich 7 Milliarden DM. Zum Vergleich: Der Verzicht auf die 2-Punkte-Absenkung des Soli-Zuschlages bringt 7,5 Milliarden DM. Die Kommunen bekämen auf diese Weise wieder finanzpolitischen Spielraum, um Infrastrukturmaßnahmen, darunter auch Infrastrukturmaßnahmen für Jugendarbeit, zu finanzieren. Dies brächte Arbeitsplätze und vor allen Dingen neue Lebensperspektiven für Hunderttausende von heute perspektivlosen Menschen.
Nicht nur global denken darf als modern gelten; sozial denken darf nicht unmodern werden.
Danke schön.
({6})
Es spricht jetzt der Kollege Friedrich Merz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn noch einmal auf die Debatte vom vergangenen Mittwoch und hier insbesondere auf die Rede des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine zurückkommen. Herr Lafontaine hat von dieser Stelle aus einzelne Kollegen von uns im Laufe seiner Rede als „Schnösel" bezeichnet.
({0})
Dies reiht sich ein in eine Vielzahl von abwertenden und persönlich herabsetzenden Reden, die der Ministerpräsident des Saarlandes, der hier im Hause leider nicht der Ordnungsgewalt des amtierenden Präsidenten unterliegt, in den letzten Wochen - wir erinnern uns - innerhalb und außerhalb des Bundestages gehalten hat.
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, ganz offen und ehrlich sagen, was ich von solchen Bemerkungen und solchen Reden von diesem Pult aus halte.
({1})
Diese herabwürdigenden Reden über das Parlament und seine Abgeordneten haben in Deutschland schon einmal eine Demokratie zerstört.
({2})
Ich will auf eine Bemerkung zurückkommen, die Frau Matthäus-Maier am letzten Dienstag, auch von dieser Stelle aus, gemacht hat, die sie in letzter Zeit häufig wiederholt und die sich - wie ich das selber, auch in Versammlungen in meinem Wahlkreis, erfahren habe - bei den Menschen festsetzt. Frau Matthäus-Maier, Sie haben wiederholt die Behauptung aufgestellt, daß es unter dieser Regierung nach wie
vor möglich sei, Schmiergelder steuerlich abzusetzen.
Ich will an dieser Stelle folgendes feststellen: Seit dem 1. Januar 1996 sind durch Änderungen im Jahressteuergesetz 1996 in Anknüpfung an das Strafrecht in der Bundesrepublik Deutschland Betriebsausgaben, die als Schmiergelder gezahlt werden, nicht mehr steuerlich abzugsfähig.
Innerhalb der Europäischen Union gilt seit dem 26. Mai 1997, also seit wenigen Wochen, ein sogenanntes Bestechungsübereinkommen, das alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unterzeichnet und in Kraft gesetzt haben.
({3})
Auch innerhalb der Europäischen Union sind Bestechungsgelder nicht mehr steuerlich abzugsfähig.
Innerhalb der OECD, innerhalb der G 7 und innerhalb der UNO wird auf Betreiben der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland an Konventionen gearbeitet, um auch im internationalen Bereich solche Vorgänge in Zukunft zu unterbinden.
({4})
. Frau Matthäus-Maier, ich habe die herzliche Bitte, daß Sie solche wahrheitswidrigen Behauptungen, die einen Kern an Unzufriedenheit und einen Sozialneid in die Bundesrepublik Deutschland hineintragen, von dieser Stelle aus nicht wiederholen.
({5})
Es gibt einen weiteren bemerkenswerten Vorgang dieser Haushaltswoche, der wahrscheinlich in der SPD länger in Erinnerung bleiben wird als in der deutschen Öffentlichkeit. Ich will trotzdem darauf zurückkommen: Ebenfalls vor zwei Tagen hat ein weiterer bedeutender Ministerpräsident der SPD ein Thesenpapier vorgestellt.
({6})
- Es scheint Sie hochgradig nervös zu machen,
({7})
daß der Ministerpräsident von Niedersachsen ein Thesenpapier zur wirtschaftlichen Erneuerung in Deutschland veröffentlicht hat. Diese Reaktion ist interessant.
Ich habe das nicht nur in den Zeitungen nachgelesen, sondern ich habe den Text selbst gelesen. Er ist überschrieben mit „Thesenpapier des wirtschaftspolitischen Diskussionskreises von Ministerpräsident Gerhard Schröder"; die SPD kommt darin überhaupt nicht vor. Die erstaunte Öffentlichkeit stellt fest: Dieses Thesenpapier wird nicht etwa in Hannover, wo Herr Schröder seinem Amt nachzugehen hätte, oder in Bonn, wo die Haushaltsdebatte und die GeneralFriedrich Merz
abrechnung der Opposition mit der Regierung stattfinden, vorgetragen. Nein, es wird an einem Ort vorgetragen, wo es die SPD der Bundesrepublik Deutschland fast gar nicht mehr gibt: nämlich in Sachsen, in Dresden. Ich empfehle, der nächste Ort sollte München sein. Da sind die Verhältnisse für die SPD ähnlich.
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Dieses Programm ist deswegen so interessant, weil es nicht nur vom Ort der Vorstellung, sondern auch von seinem Inhalt her Aufmerksamkeit verdient, und zwar deshalb, weil es sich in einen offenen Widerspruch zu dem setzt, was der Parteivorsitzende der SPD am selben Tag, fast zur selben Stunde, von diesem Pult aus behauptet.
Ich will Ihnen zwei Beispiele vortragen. Der Ministerpräsident des Saarlands, SPD-Parteivorsitzende und Mitkanzlerkandidat der Opposition spricht von dieser Stelle:
Die Reichen in Deutschland werden immer reicher und die Armen immer ärmer.
An dieser Stelle kommt Beifall von Ihnen; das dürfen Sie nicht vergessen.
Am selben Tag schreibt der niedersächsische Ministerpräsident und Mitkanzlerkandidat Schröder in Dresden:
Auf der anderen Seite sind wir bei uns mit der auf Ludwig Erhard zurückgehenden und von Karl Schiller weiterentwickelten Sozialen Marktwirtschaft jahrzehntelang nicht schlecht gefahren, die soziale Sicherung ist relativ intakt.
Was stimmt denn nun eigentlich? Welche Beschreibung dieses Landes hätten Sie denn gerne?
Der Ministerpräsident des Saarlandes spricht von dieser Stelle aus zum wiederholten Mal von der Stärkung der Massenkaufkraft, die in Deutschland notwendig sei. In dem Papier von Schröder kommt über das Thema Massenkaufkraft überhaupt nichts vor. Er schreibt statt dessen:
Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht dringend Kapital zur Produktivitätssteigerung.
({9})
„Kapital" ist ein Ausdruck, der in Ihren Reihen mittlerweile mit einem hohen Tabu belegt ist. Schröder fährt fort:
Privates Kapital aber meidet seit Jahren Deutschland als Investitionsstandort, weil hier die nominalen Steuersätze im europäischen Vergleich nicht wettbewerbsfähig sind.
Die ausländischen Investitionen in Deutschland sind inzwischen auf einen historischen Tiefstand gesunken. Diese Hindernisse müssen wir beseitigen.
Meine Damen und Herren, wir fordern den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen auf, an der Politik nicht nur in Dresden beschreibend teilzunehmen, sondern in Bonn aktiv mitzuwirken und die Steuerreform und andere Reformvorhaben mit uns zu verabschieden.
({10})
Ich frage mich manchmal, Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Bundestagsfraktion, ob Sie eigentlich diese Doppelstrategie bewußt nach draußen tragen, ob Sie das bewußt als eine Mißachtung der Parteilinie hinnehmen oder ob Sie selbst Opfer dieser Strategie sind, die in Ihrer eigenen Partei offensichtlich gefahren wird.
({11})
Allerdings werden Sie eines Tages, wenn Sie wieder Regierungsverantwortung in Bonn übernehmen wollen, schon Fragen beantworten müssen. Ich frage Sie: Glauben Sie eigentlich, daß die Menschen in unserem Land aus einer doch ganz verständlichen Veränderungsangst heraus denen vertrauen, die ihnen wahrheitswidrig einreden, in Deutschland könne alles so bleiben, wie es ist?
({12})
Wenn Ihnen das dann gelingen sollte, wie wollen Sie im nächsten Jahr eigentlich regieren, wenn Sie nach der Wahl das Gegenteil von dem erklären müßten, was Sie heute noch sagen?
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Meine Damen und Herren, ich möchte auf einen letzten Aspekt zu sprechen kommen, der eine grundlegende politische Entscheidung in Deutschland und in Europa betrifft, die im nächsten Jahr ansteht, nämlich die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Einführung des Euro. Auch die SPD- Bundestagsfraktion hat dem Vertrag von Maastricht fast einstimmig zugestimmt. Auffallend ist, daß alle Ihre Spitzenredner in der Debatte, die über den Haushalt 1998 stattfindet, zu diesem Thema praktisch nichts zu sagen gehabt haben.
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Wenn diese Entscheidung im Mai 1998 getroffen wird, dürfen wir doch damit nicht verbinden, daß dies automatisch in Deutschland mit einer Verbesserung der Investitionsbedingungen und mit einer Zunahme an Arbeitsplätzen verbunden ist. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein Modernisierungsprogramm für Europa. Die Frage ist nur, ob die Arbeitsplätze, die wir uns davon versprechen, auch in Deutschland entstehen können. Wenn wir diese Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1999 eingehen, dann wird dies bedeuten, daß die realwirtschaftlichen Herausforderungen für die teilnehmenden Volkswirtschaften viel schärfer werden, als sie es gegenwärtig in unterschiedlichen Währungsgebieten noch sind. Deswegen müssen wir die Entscheidung über den Euro in einen Gesamtzusammenhang
mit den notwendigen Reformen stellen, die in Deutschland gemacht werden müssen.
({15})
Herr Poß, weil Sie noch einmal die Steuerbasis angesprochen haben, möchte ich Ihnen sagen: Die wegbrechende Steuerbasis macht auch uns Sorgen. Deswegen gibt es den Vorschlag, die Bemessungsgrundlage im Rahmen der Steuerreform zu verbreitern, um die Stetigkeit der Steuereinnahmen wiederherzustellen. Ich will Ihnen aber auch sagen, damit kein falscher Eindruck in der Öffentlichkeit entsteht: Wir sind bereit, Kompromisse zu machen, und zwischen Bundestag und Bundesrat muß es auch Kompromißfähigkeit geben. Nur sind wir nicht bereit, eine Art Minireform zu machen, die nichts bewirkt,
({16})
die in der Öffentlichkeit den falschen Eindruck erweckt, man könne dieses Problem mit Trippelschritten lösen.
({17})
Wir sagen ja zu einer grundlegenden Steuerreform, wie wir sie in der Koalition im letzten Jahr entwickelt haben.
({18})
Wenn wir uns schrittweise dem richtigen Ziel nähern, sind wir zu Kompromissen bereit.
({19})
Wenn wir aber mit Ihnen Schritte in die falsche Richtung machen sollen, meine Damen und Herren, dann sind wir zu einer solchen Steuerreform nicht bereit. Dann werden wir im Wahljahr 1998 über dieses Thema öffentlich streiten müssen.
Vielen Dank.
({20})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten Matthäus-Maier das Wort.
Herr Kollege Merz, Sie haben eben gesagt, ich hätte mich am Dienstag wahrheitwidrig zu der steuerlichen Absetzbarkeit von Schmiergeldern im Ausland geäußert. Ich lese Ihnen die kurze Passage einfach vor. Ich habe gesagt:
Wir sind bereit, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und Schlupflöcher zu schließen. Aber eines muß ich hier doch noch sagen - weil mir das auffällt -: Wissen Sie, was in Ihrem langen Katalog zum Schließen von Schlupflöchern fehlt? - Die Abschaffung der steuerlichen Absetzbarkeit von Schmiergeldern im Ausland. Wir mußten Sie dazu drängen, im Jahressteuergesetz die steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern im Inland abzuschaffen.
Ich füge hier hinzu: Es war sehr schwer, das gegen Sie durchzusetzen.
Es ist die OECD,
- so habe ich Dienstag gesagt es sind die Amerikaner und Franzosen, die uns auffordern, endlich den Unsinn abzuschaffen, daß Korruption, daß Schmiergelder von deutschen Firmen im Ausland auch noch von der Steuer abgesetzt werden können. Deswegen sagen wir: Das ist das Minimum, das auch in diesen Katalog gehört.
Was ich am Dienstag gesagt habe, entspricht den Tatsachen, der Wahrheit und ist damit nicht wahrheitswidrig. Deswegen fordere ich Sie auf, dies zurückzunehmen.
({0})
Zweitens. Im Frühjahr und Sommer haben wir zusammen ein Antikorruptionsgesetz gemacht. Es waren die SPD-Mitglieder in dieser Arbeitsgruppe und im Ausschuß, die uns Steuerfachleuten immer wieder berichtet haben, daß sich Ihre Seite vehement dagegen gewehrt hat, die steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern im Ausland endlich abzuschaffen.
({1})
Drittens. Als ich im Januar in Washington war und dort, wie es viele von uns machen, ein Gespräch mit den Vertretern des BDI und des Deutschen Industrie- und Handelstages geführt habe, wurde ich gefragt, warum der Deutsche Bundestag nicht endlich die steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern im Ausland abschafft. Ich habe gesagt: Du liebe Güte, gehen Sie endlich einmal zu unserer Regierungskoalition! Wir sind dazu bereit.
Daß bis heute Schmiergelder im Ausland steuerlich absetzbar sind, ist ein Skandal, schadet Deutschland und der deutschen Wirtschaft im Ausland!
({2})
Herr Kollege Merz, Sie können darauf antworten. - Bitte.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis, daß Sie am Dienstag eine Einschränkung gemacht haben, was das Ausland anbetrifft. Ich habe Ihnen auch nicht vorgeworfen, daß Ihre Aussage wahrheitswidrig ist.
({0})
- Nun hören Sie mich doch einmal in Ruhe an!
({1})
Ich habe hier erstens darauf hingewiesen, daß Sie - wahrheitswidrig - den Eindruck erwecken, als ob Schmiergelder auch in Deutschland noch steuerlich abzugsfähig seien.
({2})
Ich nehme zur Kenntnis, daß wir beide diesen Tatbestand richtigerweise als in der Bundesrepublik Deutschland abgeschafft sehen.
({3})
Ich habe zweitens darauf hingewiesen, daß innerhalb der Europäischen Union seit Mai dieses Jahres ein Übereinkommen besteht, daß derartige Zahlungen auch innerhalb der Europäischen Union nicht mehr als steuerlich abzugsfähig zuläßt.
({4})
Immerhin sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für uns, zumindest steuerrechtlich, Teil des Auslands. Innerhalb der Europäischen Union gibt es nun, seit Mai 1997, das Übereinkommen, daß dies nicht mehr zulässig ist.
({5})
Die dritte Frage, die Sie angesprochen haben, Frau Matthäus-Maier, ist außerordentlich kompliziert. Ich habe darauf hingewiesen, daß die OECD, die G 7 und die UNO dabei sind, unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland, Konventionen zu erarbeiten. Dies ist allerdings ein außergewöhnlich schwieriger Sachverhalt, der hier geklärt werden muß.
({6})
Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie sich durch meine Rede berührt fühlen
({7})
- ich bedaure dies -, daß ich so verstanden werden konnte, als würde ich Sie der wahrheitswidrigen Behauptung, das gelte auch für das Inland, bezichtigen. Das nehme ich zurück, Herr Präsident.
Ansonsten sollten wir uns gemeinsam um die Lösung dieses Problems bemühen, ohne damit den entsprechenden Neid in der Bundesrepublik Deutschland hervorzurufen.
({8})
Ich gebe dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu dem Punkt, der zwischen Ihnen, Frau Kollegin Matthäus-Maier, und dem Kollegen Merz eine
Rolle gespielt hat, sagen, daß die Bundesregierung mit allem Nachdruck bemüht ist, so schnell wie möglich eine solche Konvention zu erreichen, weil wir nur mit einer solchen Konvention die Dinge international wirklich in den Griff bekommen können. Einseitige oder bilaterale Entscheidungen sind nicht ausreichend. Das ist es, wofür wir kämpfen, nichts anderes. Wir stehen an der Spitze derer, die für eine umfassende Bekämpfung dieses Tatbestandes auch im Ausland stehen.
({0})
Erwecken Sie hier also keinen falschen Eindruck!
({1})
Kollege Diller, Sie haben als haushaltspolitischer Sprecher der SPD Anspruch, daß ich kurz auf Ihre Ausführungen eingehe. Sie haben mir unterstellt, ich hätte gesagt, ich wäre der erfolgreichste Finanzminister, wenn nicht die deutsche Einheit mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. In der Tat habe ich schon einige Male gesagt, daß ich, wenn die deutsche Einheit nicht gekommen wäre, vor Ihnen mit einer glänzenden finanzpolitischen Bilanz aufwarten könnte. Dann habe ich jedesmal hinzugefügt: Gott sei Dank ist die deutsche Einheit gekommen.
({2})
Ich trage diese Aufgabe - mit allen Angriffen - gern, weil sie zu den glücklichsten Dingen in diesem Jahrhundert gehört. Jeder andere Finanzminister vor mir, sei er Christlich-Sozialer, Christdemokrat, Sozialdemokrat oder Freier Demokrat gewesen - alle aus diesen Parteien haben schon einmal einen Finanzminister gestellt -, wäre glücklich gewesen - trotz aller Angriffe und schäbigen Unterstellungen -, wenn er diese Aufgabe hätte mit bewältigen dürfen. Darauf bin ich stolz.
({3})
Nur eines, Herr Diller, habe ich nicht getan, obwohl ich aus einer großen Volkspartei komme:
({4})
Ich habe nicht Ost gegen West und West gegen Ost ausgespielt.
({5})
Ich kann mich noch erinnern, wie die Herrschaften Lafontaine und Schröder durchs Land gegangen sind.
({6})
Damals war eine Wahl in Niedersachsen, wo der Ministerpräsident, der jetzt Kanzler in Deutschland werden will, durch die Dörfer gegangen ist und den Menschen gesagt hat: Euer Kindergarten, die Straße kann nicht bezahlt werden, kann nicht gebaut werden, weil das Geld für Waigel, für die deutsche EinBundesminister Dr. Theodor Waigel
heit benötigt wird. Das nenne ich schäbige Politik, eine schäbige Haltung und einen miserablen Stil.
({7})
Dann haben Sie sich zu einer Wortwahl durchgerungen - Sie haben es ruhig vorgetragen -: „Lug", „Trug", „Täuschung", „zum Augenarzt gehen" - wir tragen beide eine Brille;
({8})
diese Dummheiten sollten wir uns sparen -, „erbärmlich", „verlogen", „verkommen". Herr Diller, es ist ein nicht mehr zu unterbietendes Niveau, das Sie hier geboten haben.
({9})
Nehmen Sie zur Kenntnis: Mit Kritik setze ich mich gern auseinander, aber Unanständigkeit prallt an mir ab. Damit können Sie mich nicht treffen.
({10})
Die Debatte dieser Woche hat bestätigt: Die Koalition verfügt über ein überzeugendes Konzept, und die Opposition ist ohne Alternative.
({11})
Die Märkte vertrauen unserer stabilitätsorientierten Politik.
({12})
Die aktuellen Daten des Statistische Bundesamtes sind eine eindrucksvolle Bestätigung dieses Kurses. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat deutlich an Fahrt gewonnen. Die Impulse aus dem Außenhandel erfassen nun die inländische Nachfrage.
Im ersten Halbjahr 1997 ist das BIP real um 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Wachstumsmotor ist immer noch der Export, der um 9,5 Prozent gewachsen ist.
({13})
Auch die Ausrüstungsinvestitionen geben Anlaß zu einer optimistischen Einschätzung: Im ersten Halbjahr 1997 waren sie um 3,5 Prozent höher als im Vorjahr.
Es ist eigentlich schade nach einer so langen Diskussion - obwohl Sie eine Zeitlang über Schiller und andere verfügten -, daß Sie in die national und international längst widerlegte These von Keynes zurückfallen und wieder die alten Rezepte von Nachfrage, Umverteilung, Stärkung und Steigerung der sogenannten Massenkaufkraft aufnehmen. Diese Irrtümer haben wir in den 70er Jahren und Anfang der 80er bitter bezahlen müssen.
({14})
Sie und wir haben die Intensität der Ohrfeige der Märkte lange zu spüren bekommen.
Was nützt eine höhere Kaufkraft, wenn das auf Grund dieser Kaufkraft angesammelte Kapital für den Kauf von High-Tech-Produkten aus dem Ausland verwendet wird, die bei uns nicht ebenso kostengünstig produziert und angeboten werden können?
({15})
Wenn Sie mit Viktor Klima, Wim Kok oder Tony Blair sprechen, werden Sie merken, daß alle drei Kronzeugen gegen die Politik der deutschen Sozialdemokratie sind.
Ein Wort zu den Zahlen des Statistischen Bundesamts zum Staatsdefizit 1996 und 1997. Eine Überprüfung und gegebenenfalls eine Revision des Staatsdefizits des Vorjahres erfolgen regelmäßig im September des Folgejahres. Bis dahin ergeben sich immer noch Korrekturen bei den Ausgangsdaten. Im März 1997 sind einige Daten des vierten Quartals 1996 noch nicht endgültig, beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt, die Ausgaben der Gebietskörperschaften oder der Sozialversicherungen. Die nun bekanntgegebenen Zahlen zum Staatsdefizit 1996 weisen die Defizitquote für 1996 mit 3,5 Prozent, also mit 0,3 Prozentpunkten weniger als in der März-Rechnung, aus.
Für die Berechnung der Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages ist aber die Abgrenzung des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen verbindlich. Ihr unterliegen alle Mitgliedstaaten der EU, hier gibt es keine Sonderregeln oder Ausnahmen. Danach müssen die öffentlichen Krankenhäuser im Unternehmenssektor gebucht werden, da sie ihre Erlöse überwiegend am Markt erzielen. Nach diesem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen beträgt die Defizitquote 1996 damit 3,4 Prozent.
({16})
Die niedrige Basis geht nun in die Berechnungen für 1997 ein. Das hat mit Buchungstricks überhaupt nichts zu tun; das ist europäischer statistischer Standard, an den sich alle halten müssen.
({17})
Genauso wurden übrigens die Tätigkeit der Treuhand oder der Bahn bzw. deren Schulden nach den statistischen Regeln zum privaten Sektor gerechnet. Wenn wir nicht vor zwei, drei Jahren die Bahnschulden in den öffentlichen Bereich übernommen hätten und wenn wir nicht die anderen Aufgaben geschultert hätten, dann stünden wir, was die MaastrichtZahlen anbelangt, völlig anders da.
Wir hätten damals sagen können: Unter diesem Aspekt übernehmen wir die Bundesbahnschulden nicht in den Bundeshaushalt. Wir hätten auch die Treuhanddefizite volkswirtschaftlich und finanzwirtschaftlich woanders verankern können. Dann lägen die Schuldenquote um 14 Prozent niedriger und die Defizitquote um mindestens 1 Prozent niedriger als heute. In der Abrechnung für das Jahr 1994 haben wir alle Kriterien von Maastricht erreicht; unter Zugrundelegung der gleichen statistischen BedingunBundesminister Dr. Theodor Waigel
gen hätten wir auch heute überhaupt kein Problem, alle Kriterien sehr leicht zu erreichen.
({18})
Unter diesen Umständen ist die Einhaltung des Maastricht-Defizit-Kriteriums für 1997 erreichbar. Das halte ich für eine wichtige Botschaft.
Kein anderes Land in Europa - darauf hat der frühere irische Finanzminister Ruairi Quinn, auch ein Sozialdemokrat, hingewiesen - hat in den letzten sieben Jahren solche Herausforderungen bewältigt. Er fügte hinzu, keine andere Volkswirtschaft der Welt hätte sie bewältigt. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
({19})
Wir werden uns im Frühjahr 1998 mit sachverständigem Beistand entscheiden. Dann liegt der Bericht des EWI vor, an dem die Deutsche Bundesbank und Präsident Tietmeyer mitwirken. Natürlich wird die Stellungnahme der Bundesbank auch für unsere Bewertung und Diskussion eine ganz wichtige Rolle spielen. Bundestag und Bundesrat werden sich genauestens informieren und ihre Bewertung abgeben. Die Kommission wird ihre Empfehlung aussprechen. Der Ecofin wird über das Vorliegen exzessiver Defizite entscheiden und Vorschläge zu ihrer Beseitigung machen. Dann wird der Europäische Rat entscheiden - eine der wichtigsten Entscheidungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben sich wieder des Begriffs der Steuerquote bedient. Das ist eine völlige Verkennung der Tatsachen. Sie verweisen auf Eurostat: Danach liegt Deutschland etwa im Mittelfeld der EU bei der Steuer- und Abgabenquote. Die Höhe der Steuerquote sagt aber nichts über ihre Qualität aus.
Wäre die günstige Steuerquote ein Ergebnis der von uns gewollten Steuerreform - Absenkung der Sätze -, dann wäre sie erwünscht. Wenn diese niedrige Steuerquote aber das Ergebnis von Steueroptimierungen und Steuerverlagerungen ist, dann ist sie nicht erwünscht und muß durch die Steuerreform geändert werden.
({20})
Ein Wort zur Senkung der Lohnnebenkosten. Es gehört zum kleinen ökonomischen Einmaleins: Eine reine Umschichtung ins Steuersystem bringt keine Arbeitsplätze. Darum verbinden wir die Senkung der Lohnnebenkosten mit der klaren Forderung nach Strukturreformen. Ich fordere Sie noch einmal auf: Sagen Sie uns möglichst schnell
({21})
- heute - , ob Sie bereit sind, einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zuzustimmen, um Strukturreformen auf den Weg zu bringen; denn viel Zeit bleibt uns dafür nicht. Wir können die, die davon betroffen sind,
nicht im unklaren lassen. Aber genau darauf sind Sie eine Antwort in dieser Debatte bisher schuldig geblieben.
({22})
Übrigens ist der steuerfinanzierte Bundeszuschuß viel höher als die reklamierten versicherungsfremden Leistungen. Das wissen auch Sie ganz genau.
Der Kollege Jacoby hat in seiner glänzenden Rede bereits darauf hingewiesen, was Manfred Lahnstein am 5. September in der „Zeit" gesagt hat. Ich zitiere wörtlich:
Die vielbeschworene Forderung nach „stärkerer Massenkaufkraft" übersieht penetrant, daß eine derartige Stärkung nur über Investitionen und Beschäftigung, nicht aber über begrenzte Steuerentlastung zu erreichen ist.
Er schreibt vorher - auch das ist es wert, hier erwähnt zu werden -:
Der Koalition ist zugute zu halten, daß ihr gedanklicher Ansatz im Kern richtig war und bleibt: Verbreiterung der schrumpfenden Steuerbasis durch einen einfacheren Lohn- und Einkommenstarif, niedrigere Grenzsteuersätze und eine Beseitigung wesentlicher Steuervergünstigungen. Dieser Ansatz entfaltet seine Entlastungseffekte dort, wo hohe Multiplikatorwirkung und damit Positives für Wachstum und Beschäftigung zu erwarten sind.
Er ist auch nicht „unsozial", wie Vertreter der Opposition immer wieder gerne behaupten.
Der wichtigste Satz:
Unsozial ist allein die gegenwärtige Lage.
Meine Damen und Herren, führen Sie sich das doch um Gottes willen einmal zu Gemüte, bevor wir uns nächste Woche wieder zusammensetzen, um hoffentlich eine gemeinsame Lösung zu erreichen, die der Investitionsstandort Deutschland dringend benötigt.
({23})
Wir haben in dieser Woche Kompromißlinien angedeutet. Man könnte das Reformgesetz 1998 um eine Senkung des Eingangssteuersatzes und des Höchststeuersatzes für nichtgewerbliche Einkünfte anreichern. Wir könnten die Nettoentlastung in der Größenordnung lassen, wie wir sie für 1998, für die erste Stufe, miteinander vereinbart haben.
Dann müßte aber auch die Umsetzung des Restpaketes in finanzwirtschaftlich vertretbaren Stufen klar vereinbart werden. Denn es kann nicht sein, daß wir eine Gegenfinanzierung aufbauen, die in den Jahren danach zu einer Überfinanzierung und Überkompensation der öffentlichen Haushalte führen würde. Genau dies kann nicht dem Prinzip Hoffnung überlassen bleiben, sondern bedarf klarer Festlegungen über die Senkung der Steuersätze, damit die Wirtschaft, damit die Investoren, damit alle Beteiligten
eine kalkulierbare Grundlage für ihre Investitionsentscheidungen im nächsten Jahrzehnt bekommen.
({24})
Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind offensichtlich noch die einzige, die den Höchststeuersatz bei 53 Prozent beibehalten möchte.
({25})
- Sind auch Sie dabei? ({26})
- Okay. Es ist nicht schön von Ihnen, Frau MatthäusMaier, daß Sie Herrn Scharping so desavouieren; denn wie die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" am 20. August letzten Jahres schrieb: „Scharping will Spitzensteuersatz auf 40 Prozent senken." Schleußer auch. Es scheinen sich also ungute Gesellen in Ihrer Nachbarschaft aufzuhalten, mit denen Sie wenig anfangen können. Das kann ich aber verstehen.
Ein Wort zur Privatisierung: Es wird immer wieder versucht, den Eindruck zu erwecken, das sei eine Verschleuderung von Tafelsilber. Selten ist etwas dümmlicher und falscher gewesen. Privatisierung ist neben den wichtigen Konsequenzen für den Bundeshaushalt und für die Landeshaushalte ordnungspolitisch richtig.
Ich nenne Beispiele: Preussag 1959, Volkswagen AG 1961, VEBA AG, VIAG, Salzgitter AG. Aus der Salzgitter AG haben wir die „Bundesstiftung Umwelt" mit einem Kapitalstock in Höhe von 2,5 Milliarden DM ausgestattet. Die Privatisierungen des Bundes waren immer erfolgreich, nie ein Flop. Darauf sind wir stolz.
Ich nenne Beispiele aus neuerer Zeit: Deutsche Bahn AG, Börseneinführung der Telekom im November 1996 mit der größten Plazierung. Für die Postbank AG kommt ein Verkauf und/oder eine Börseneinführung in Betracht. Die Gelbe Post soll in absehbarer Zeit folgen. Der Börsengang zur Vollprivatisierung der Deutschen Lufthansa AG steht unmittelbar bevor.
Übrigens: Die Privatisierung von Bahn und Post fand mit Zustimmung der SPD statt. Ein Teil der SPD-regierten Länder folgt mit dem, was sie noch besitzen, unserem Beispiel.
Frau Matthäus-Maier hat gesagt, man müsse sich für ein Amt erst qualifizieren. Von den zwei Herrschaften in Deutschland, die als Bankrotteure ihrer Landespolitik dastehen, lasse ich mir keine Vorwürfe machen.
({27})
1985 übernahm Lafontaine die Regierung im Saarland mit Schulden in Höhe von 6,5 Milliarden DM. Ende 1993 hatten sich diese Schulden auf 14,7 Milliarden DM mehr als verdoppelt. Nur eine Teilentschuldung sicherte dem Land für die Jahre 1994 bis 1998 insgesamt 8 Milliarden DM in Jahresraten von jeweils 1,6 Milliarden DM.
Es gehört eine Menge Chuzpe dazu, wenn sich jemand, der am Tropf des Bundes hängt und damit überhaupt erst seine finanzpolitischen Dinge bewältigen kann, hier hinstellt und uns angreift. Dazu gehört Unverfrorenheit.
({28})
Beim Kandidatenkandidaten - ich meine Schröder
- sieht es nicht besser aus. Bis 1990 betrugen die Schulden in Niedersachsen 37 Milliarden DM. Jetzt, nach sieben Jahren, sind es 70 Milliarden DM. Eine exzessive Personalausdehnung führt nach Berechnungen niedersächsischer Experten bis zum Jahre 2020 zu Schulden in Höhe von etwa 150 Milliarden DM. Es wird festgestellt: Wenn nicht mindestens 40 000 Stellen im Landesdienst gestrichen werden, sind in etwa 20 Jahren drei Viertel des Landeshaushalts durch Zins- und Personalausgaben gebunden.
Da sagt der Mann: Hören Sie mal, wenn mir der Griff auf die Makroökonomie nicht gegeben wird, wie soll ich dann die Probleme meines Landes lösen?
- Stellen Sie sich einmal vor, einer unserer Ministerpräsidenten würde mit einer solchen Unverfrorenheit in den Landtag gehen und sagen: Ich kann hier gar nichts machen, nur die große Makroökonomie kann mir die großen Rezepte geben.
Es ist schon ein Stück Unverfrorenheit und Großmannssucht dabei, mit der man versucht, die Deutschen blenden zu wollen; aber ich bin zuversichtlich, sie werden sich nicht blenden lassen.
({29})
Ein Wort zur Steuer- und Abgabenlast. Die Abgabenquote lag im Jahr 1977, als wir von einem Weltökonomen regiert wurden, bei 43,3 Prozent des BIP. Das ist ziemlich genau das Niveau von 1993/94. Die Abgabenquote betrug 1970 36,6 Prozent, 1982 lag sie schon bei 42,8 Prozent des BIP. Das ist eine Steigerung um 20 Prozent, und zwar in einer Zeit, in der es nur „normale" Probleme zu bewältigen gab und in der der damalige Bundeskanzler bereits unter der ungeheuren Last einer Ölkrise, die er an die Wand malte, litt. Er war damals nicht in der Lage, die Probleme in den Griff zu bekommen, weil er eine falsche Politik machte.
({30})
Es gehört schon eine gehörige Portion Unverschämtheit, Gedankenlosigkeit oder Verdrängung der Wirklichkeit in der Vergangenheit dazu, uns, die wir große Probleme im Zusammenhang mit der Vollendung der deutschen Einheit und dem demokratischen Wiederaufbau erfolgreich bewältigt haben, der gleich hohen Steuerabgabe zu zeihen und sie uns vorzuwerfen.
({31})
Von 1991 bis 1996 ist die Neuverschuldung trotz der Belastungen durch die Einheit insgesamt um rund 10 Milliarden DM gegenüber der Regierungsplanung unterschritten worden. Dies ist Ihnen in keinem vergleichbaren Zeitraum, in dem sozialdemokratische Finanzminister regierten, gelungen.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, noch ein Wort zu Ihrem Dauerbrenner Jäger 90 bzw. - wenn Sie das lieber haben - Eurofighter. Sie sagen, wir würden die Folgebelastungen des Jäger 90 im Haushalt verschweigen. Das ist falsch. Wir werden die erforderlichen Verpflichtungsermächtigungen von rund 23 Milliarden DM im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens einbringen.
({32})
- Sie können doch nicht mehr von uns verlangen, als daß wir 1998 einen konkreten Ansatz einstellen, diesen über den gesamten Zeitraum des mittelfristigen Finanzplans beibehalten und damit deutlich machen: Jawohl, wir werden dieses Projekt durchsetzen, weil es wichtig ist für die Bundeswehr, weil es wichtig ist für die europäische Verteidigungspolitik und weil es wichtig ist für die Bündnis- und Kooperationsfähigkeit Deutschlands.
({33})
Übrigens werden wir mit großem Interesse beobachten, wie die SPD-Abgeordneten aus Ingolstadt, Augsburg, München, Niedersachsen, Hamburg - aus all den Wahlkreisen, in denen es DASA-Standorte gibt - reagieren werden. Das wird eine interessante Debatte und eine interessante Abstimmung. Es sind nämlich nicht nur irgendwo ein paar Arbeitsplätze - übrigens keine in meinem Wahlkreis - betroffen. Vielmehr ist dies eine entscheidende Frage für die Luft- und Raumfahrt in Deutschland, für die Möglichkeiten dieser Technologie.
({34})
Dieser Eurofighter ist nichts anderes als die Antwort auf die Rüstungsbeschränkungen, auf die Abrüstung, auf den Wegfall der Raketen, die früher einmal auf uns gerichtet waren.
({35})
Das ist der Preis, den wir für die Freiheit, für die Verteidigungsfähigkeit und für die Bündnisfähigkeit Deutschlands entrichten.
({36})
Frau Matthäus-Maier, eines möchte ich mit Ihnen noch ganz konkret klären. Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte mich gegenüber meinem früheren Kollegen, dem letzten Finanzminister der DDR, Romberg, unfair geäußert. Diese Behauptung hat Ihr Kollege Thierse bereits am 12. Oktober 1995 erhoben. Ich habe ihm damals gesagt, er solle das unterlassen.
Denn von mir haben Sie nie ein negatives Wort über den Kollegen Romberg gehört. Trotz unterschiedlicher Meinungen habe ich den Mann hochgeschätzt und weiß, wie schwierig seine Aufgabe damals war. Thierse mußte damals zugestehen:
Ich will ausdrücklich zurücknehmen, daß ich in meiner Rede von beleidigenden Äußerungen gesprochen habe.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß Sie von mir keine negative Bemerkung über den Kollegen Romberg finden werden, weil ich sehr wohl weiß, daß er unter schwierigen Umständen - auch wenn wir unterschiedlicher Meinung waren - eine beachtliche Verantwortung getragen hat; er hat die wichtige Unterschrift unter den gemeinsamen Vertrag zur Einführung der deutschen Währungsunion geleistet.
({37})
- Die habe ich nie gemacht. Das müssen Sie nicht mit mir ausmachen. Ich weiß sehr wohl, wie man in einem solchen Stand miteinander umgeht. Ich habe mich an die Spielregeln gehalten und weiß auch, was menschliche Anständigkeit bedeutet. Ich lasse mir von Ihnen keine menschlichen Unanständigkeiten unterstellen. - Das ist nur eine Randbemerkung, aber das konnte ich nicht unwidersprochen lassen.
({38})
Meine Damen und Herren, es geht darum, die Zukunft zu gewinnen. Niemals in diesem Jahrhundert waren die Aussichten für einen langen globalen Aufschwung günstiger als heute. Die OECD erwartet einen „Quantensprung" in der weltwirtschaftlichen Entwicklung und spricht von einem „Fenster glücklicher Umstände". Es gibt große Chancen für Wettbewerb, Wachstum und Wohlstand sowie für eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen. Voraussetzung ist, daß wir auf einem marktwirtschaftlichen Kurs bleiben, auf einem Kurs, mit dem Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft.
Wir wollen kein Diktat der Märkte. Wir wollen einen starken Staat, der ein starker Rechtsstaat sein kann, der seine Aufgaben effizient, kostengünstig und bürgerfreundlich erfüllt. Aber es wird ein schlankerer Staat sein müssen als in der Vergangenheit.
({39})
Wenn dieses neue Gleichgewicht zwischen Markt und Staat erfolgreich umgesetzt wird, wenn die notwendigen institutionellen und politischen Reformen kommen, dann bestehen auch in Deutschland gute Chancen, an einem neuen Wirtschaftswunder im 21. Jahrhundert weltweit angemessen teilzuhaben. Dafür sind alle in der Pflicht:
({40})
Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Opposition, die Tarifpartner, die Kirchen, die Verbände
und schließlich jeder einzelne. Wohlverstandene Interessenvertretung braucht den Blick auf das Gemeinwohl genauso wie der Markt die Moral.
Lassen Sie uns - bei allen Unterschieden - das Verbindende suchen und unser Land gemeinsam voranbringen. Das schafft Vertrauen nach innen und nach außen. Stabilität und Vertrauen sind unser größtes Kapital, eine Investition in die Zukunft. Damit werden wir die Probleme für Deutschland, für Europa und weltweit lösen.
Ich danke Ihnen.
({41})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da die Debatte zu Ende geht, nur wenige Bemerkungen.
Erstens. Mehrere Redner von Ihnen haben kritisiert, wir hätten keine Alternativen vorgestellt.
({0})
Viele Redner aus meiner Partei haben im Laufe der Woche sehr viele Alternativen vorgestellt.
({1})
Wenn Sie sie nicht gut finden, ist das Ihr gutes Recht. Aber behaupten Sie nicht, wir hätten nicht Alternativen genannt.
({2})
Zweitens. Zur F.D.P., gerade nach der Rede von Herrn Westerwelle heute morgen. Bei der F.D.P. ist eines besonders auffällig: Einerseits fordern Sie in Ihrem Grundsatzprogramm, ein Verbot der Neuverschuldung des Staates sogar im Grundgesetz zu verankern. Andererseits machen Sie in der Praxis dauernd Steuersenkungsversprechungen, die zu riesigen neuen Schulden führen würden. Dazu sage ich Ihnen: Einerseits zu versprechen, keine neuen Schulden zu machen und dies sogar im Grundgesetz zu verankern, andererseits aber Steuersenkungen zu versprechen, die zu riesigen neuen Schulden führen, um Wählerstimmen zu kaufen, das ist eine Verhöhnung des gesunden Menschenverstandes.
({3})
Frau Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westerwelle?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß mit der Steuersenkungspolitik und den entsprechenden Beschäftigungseffekten in den USA, in Großbritannien und in Neuseeland - diese drei Länder sind mir jetzt sofort ohne weitere Unterlagen präsent - nicht nur die Steuer- und Abgabenquote gesenkt werden konnte, sondern bis zum Jahr 2004 beispielsweise beide Häuser in den USA gemeinsam mit dem Präsidenten sogar eine Rückführung der Verschuldung auf Null beschlossen haben?
Sind Sie also bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Politik der Steuersenkungen in diesen Ländern nicht nur für Arbeitsplätze, sondern auch für den Abbau der Staatsschulden gut war? Denn ob man Staatsschulden abbauen kann, hängt davon ab, daß Menschen Arbeit haben. Es kann nämlich nur Steuern zahlen, wer Arbeit hat.
Herr Kollege Westerwelle, mir ist bekannt, daß Sie das immer wieder gebetsmühlenhaft erzählen, daß dies aber nicht den Tatsachen entspricht. Die Laffer-Kurve stimmt in der Praxis nicht.
Nur ein Gegenargument: Es steht fest, daß die Regierung von Präsident Reagen in acht Jahren mehr Schulden in Amerika aufgehäuft hat als alle Präsidenten der USA in 200 Jahren vor ihm und daß die Regierung Clinton diese erst wieder zurückführen mußte, und zwar mit der Folge, daß sie dann mit einem konsolidierten Haushalt die Möglichkeiten von Steuersenkungen hatte - im Unterschied zu Ihnen.
({0})
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Westerwelle?
Bitte schön.
Bitte schön.
Genau auf diesen Punkt würde ich gerne noch zu sprechen kommen und deswegen nachfragen. Wir sind sicherlich einer Meinung, daß die Kombination von Steuersenkungspolitik mit den entsprechenden Staatsinterventionismen der Reagen-Ara, wenn Sie an SDI und ähnliche große Ausgabenprogramme denken, sehr unglücklich gewesen ist, was ich hier übrigens ausdrücklich unterstreichen will.
Aber die fortgesetzte Steuersenkungspolitik, wie sie von den Demokraten in den USA weitergeführt worden ist, und die Rückführung der Staatsausgaben haben genau zu den Effekten geführt, die Sie hier bezweifeln.
Herr Kollege Westerwelle, es ist genau umgekehrt. Erst nachdem in den USA unter der Präsidentschaft des Demokraten Clinton und unter Mithilfe - das machen sie in der Regel gemeinsam - der Republikaner der Haushalt einigerIngrid Matthäus-Maier
maßen in Ordnung gebracht wurde, entstand überhaupt die Möglichkeit um dann neuen Spielraum für Steuersenkungen zu nutzen.
({0})
Das ist eben der Unterschied zu Deutschland.
({1})
Drittens: Überall fragt man sich jetzt, ob es von Ihrer Seite denn Kompromissignale gibt. Ich habe all die Tage sehr sorgfältig zugehört. Der Kollege Schäuble hat am Mittwoch eine Äußerung gemacht, die man als Kompromißangebot verstehen könnte. Er sagte - so habe ich es verstanden -: Wir können eine Steuerreform machen, die aufkommensneutral ist.
Falls sich der Kollege Schäuble damit auf unsere monatelange Forderung zubewegt, nämlich ohne Riesenstaatsschulden eine ordentlich und solide finanzierte Steuerreform zu machen, dann könnte ich mich damit anfreunden. Aber in all den anderen Tagen gab es von Ihnen zig unterschiedliche Signale, von Herrn Waigel heute ein anderes als von Ihnen.
({2})
Jeder von Ihnen schlägt etwas anderes vor.
Deswegen sage ich Ihnen: Mit uns kann es Kompromisse geben, aber nur, wenn Sie endlich ein neues Konzept schriftlich auf den Tisch legen, das solide finanziert, sozial gerecht und auch ökonomisch vernünftig ist, um Arbeitsplätze zu schaffen; sonst nicht, meine Damen und Herren.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Rönsch?
Was war mit dem Kollegen Fischer?
Er hat darauf verzichtet. Keine Sorge; er hat sich wieder hingesetzt.
({0})
- Eine Sekunde. Wir können eine neue Debattenrunde beginnen. Wir behandeln noch diese beiden Zwischenfragen, und dann schließen wir.
Die erste hat Frau Kollegin Rönsch, und dann kommt der Abgeordnete Joseph Fischer.
Bitte schön, Frau Rönsch.
Herr Präsident, ich bedanke mich.
Nachdem der Kollege Fischer wieder Platz genommen hat, habe ich gedacht, er hat seine Zwischenfrage zurückgezogen.
Frau Matthäus-Maier, wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, dann haben Sie uns die Haushaltssanierung von Bill Clinton zum Vorbild gegeben. Ich hätte gerne von Ihnen gewußt, ob Sie bereit sind, ansatzweise die Streichungen im Sozialhaushalt mitzutragen, die Bill Clinton in den USA durchgeführt hat?
({0})
Frau Kollegin, Bill Clinton hatte die Chance, Steuern zu senken, weil und nachdem er den Haushalt in Ordnung gebracht hat. Damit habe ich nicht gefordert, daß seine Vorschläge in allen Details bei uns umgesetzt werden.
({0})
Da der Kollege Waigel damit heute wieder angefangen hat: Wenn Sie sagen, wir haben kein Geld für den Jäger 90, dann können wir uns über den Rest unterhalten.
({1})
Verehrte Kollegen, wer eine Frage stellt, muß auch die Ruhe aufbringen, sich die Antwort anzuhören.
Nun kommt der Kollege Joseph Fischer mit einer Frage.
Frau Kollegin, würden Sie mir den freundlichen Gefallen tun und den Fans der amerikanischen Entwicklung die Frage stellen, ob sie in der Tat diese amerikanische Entwicklung hier in diesem Lande wollen? Wollen sie den Anteil von „working poors", und den Anteil von sozialer Desintegration mit Kriminalität, wollen sie die Einkommensspreizung, die eine Konsequenz dieser Politik ist? Das alles muß man mit in Rechnung stellen.
Wenn hier von Herrn Westerwelle das amerikanische Modell als unsere Zukunft dargestellt wird, sollte er dieses sagen. Es würde mich interessieren, ob er dafür in diesem Land eine Mehrheit bekommt. Das würde bedeuten, daß wir hier in diesem Lande die Gesellschaft sprengen werden.
({0})
Sehr geehrter Herr Fischer, unser Problem ist, daß wir jetzt, um viertel vor zwölf, am Schluß der Debatte sind. Aber eines ist klar: Die Amerikaner haben ganz sicher ein erhebliches Jobwunder geschaffen.
({0})
Sicher geht ein erheblicher Teil der Menschen in moderne, zukunftssichere Arbeitsplätze. Aber wir wissen, daß mindestens die Hälfte in Arbeitsplätze hineingegangen ist, mit denen sich die Amerikaner statt
des Problems der Arbeitslosigkeit das Problem der Armut eingehandelt haben.
({1})
Gerade in Amerika - das wissen Sie doch - kommt es immer häufiger vor, daß Menschen einen, zwei oder drei Jobs nebeneinander haben müssen, um sich und ihre Familie zu ernähren. Es geht sicher nicht, dieses Thema allein auf Grund der Zwischenfrage von Herrn Westerwelle ausführlich zu diskutieren.
Aber eines ergibt sich daraus: Wir brauchen eine Steuer- und Abgabenreform mit zwei Komponenten: eine Angebotsstärkung für Betriebe durch die Senkung der Lohnzusatzkosten und die Senkung der gewerblichen Spitzensteuersätze. Aber wir brauchen auch eine Stärkung der Nachfrage der Menschen.
Heute morgen stand in der Zeitung - Sie haben es vielleicht gelesen -: Der Metro-Chef Klaus Wiegandt sagt: Die Konsumneigung in Deutschland ist erschreckend schwach. Wir hatten den schlechtesten August seit 30 Jahren.
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Von Kanzler Kohl ist heute morgen in der Zeitung zu lesen: Die gute Konjunktur sei hauptsächlich auf den Export zurückzuführen. Statt sich darüber zu freuen, werde die schwache Binnenkonjunktur beklagt.
Meinen Sie, Herr Wiegandt freut sich nicht über den Export, oder wir freuten uns nicht über den Export? Wir sagen nur: Der Export allein schafft es nicht. Wenn wir mit der Steuer- und Abgabenreform nicht dem Durchschnittsverdiener, den Familien mit Kindern Geld in die Hand geben, damit sie kaufen können, wäre eine solche Reform verfehlt. Deshalb brauchen wir eine Reform. Wir sind dazu bereit, aber nicht zu Ihren Bedingungen, sondern nur, wenn sie solide finanziert, ökonomisch vernünftig und sozial gerecht ist.
Ich danke Ihnen.
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Nun gebe ich dem Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle zu einer Kurzintervention das Wort.
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Herr Kollege Fischer, auf Ihren Zwischenruf möchte ich Ihnen nur sagen: Es schadet auch in der Politik nicht, wenn man noch mehr zu Ende gemacht hat als die Fahrschule. Deshalb bei allem Respekt - mäßigen Sie die Art und Weise, in der Sie Zwischenrufe machen.
Ich möchte ausdrücklich das aufgreifen, was Sie, Frau Matthäus-Maier, gesagt haben und würdige ausdrücklich, wie differenziert Sie auf die Beschäftigungssituation in den USA eingegangen sind. Ich finde, wir sollten besser auf dieser Diskussionsbasis ins Gespräch kommen, weil ich nämlich Ihre Auffassung vertrete, daß die Steuersenkungspolitik erst in Kombination mit einer entsprechenden Reduzierung der Ausgaben die richtigen politischen Ergebnisse ermöglicht.
Sie sagen zu Recht, daß in den USA nicht nur Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich entstanden sind, die sogenannten Billig-Jobs, die Big-Mäc-Jobs, sondern daß es in den USA durch die Steuersenkungspolitik auch eine Vielzahl hochqualifizierter Arbeitsplätze gegeben hat.
({0})
Hier ist beispielsweise an die neuen Technologien wie Bio- und Gentechnologie zu denken.
Ich meine, wir sollten hier eines miteinander vereinbaren - vielleicht, Frau Kollegin, stimmen wir in diesem Punkt überein -: Auch das Schaffen von Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich hat eine große soziale Komponente. Niemand in diesem Haus will amerikanische Verhältnisse. Ich will sie jedenfalls nicht, das sage ich hier ausdrücklich.
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- Ganz sicher nicht. Sie müßten sich mehr mit dem auseinandersetzen, was ich sage und was ich gesagt habe. Hören Sie bitte nicht immer nur das, was Ihren Vorurteilen entspricht, sondern hören Sie zu, was ich sage. Reduzieren Sie einmal Ihr selektives Gehör. Das wäre ein wirklicher Fortschritt. Das gilt gerade für Sie, Herr Kollege, bei allem Respekt.
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- Herr Fischer, wirklich. Wir freuen uns sehr, daß Sie später noch gekommen sind. Aber wir haben schon einmal ohne Sie angefangen.
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Ich möchte Ihnen noch etwas zu diesen Billig-Jobs sagen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, daß wir in diesem Lande auch einmal begreifen, daß die Sockellohnpolitik, die Politik, die auch im Niedriglohnbereich die Kosten und die Niveaus der Löhne immer weiter nach oben getrieben hat, nur dazu geführt hat, daß im Niedriglohnbereich Arbeitsplätze weggefallen sind und die Schwarzarbeit zugenommen hat. Deswegen empfinde ich es nicht als unsozial, zu sagen: Wir brauchen auch Arbeitsplätze für Menschen, die nicht mit einem PC umgehen können.
({4})
Frau Matthäus-Maier, Sie können zu allem Überfluß noch antworten.
Nein.
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Das Haushaltsgesetz 1998 und der Finanzplan des Bundes 1997 bis 2001 auf Drucksachen 13/8200 und 13/8201 sollen gemäß § 95 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Jetzt kommt noch eine leichtere Übung.
({0})
Ich rufe die Zusatzpunkte 4 und 6 auf:
ZP4 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes
- Drucksache 13/8443 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Michaele Hustedt, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltorientierte Neuausrichtung des Pflanzenschutzgesetzes
- Drucksache 13/8505 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2})
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Wolfgang Gröbl.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich Zulassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln sehr unterschiedlich entwikkelt. Eine Regelung im Rahmen der EU war dringend nötig. Maßgebliches Vorbild für die EU-Richtlinie 91/ 414 war das deutsche Pflanzenschutzgesetz von
1986. Somit hat die Bundesregierung unser hohes Schutzniveau für Mensch, Tier und Naturhaushalt auf europäischer Ebene durchgesetzt. Von der weitgehenden Harmonisierung erwarten wir den Abbau von Wettbewerbsunterschieden für Land-, Forstwirtschaft und Gartenbau.
Zwischenzeitlich ist auch die erforderliche Nachbesserung im Anhang VI erfolgt. Zur Erinnerung: Die Bundesregierung hatte die Verabschiedung dieser einheitlichen Grundsätze damals abgelehnt, da sie einen geteilten Schutz des Grundwassers enthielten. Diese Regelung hätte unterhalb unseres bestehenden Schutzniveaus gelegen. Das Europäische Parlament ist noch weitergegangen und hat im Sinne der Bundesrepublik dagegen geklagt. So wurde eine Neufassung des Anhangs VI notwendig, die im Agrarministerrat am 22. und 23. September dieses Jahres abgestimmt wird.
Mit dem vorliegenden Entwurf wird im wesentlichen diese europäische Harmonisierung bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln in deutsches Recht umgesetzt. Neu ist die Indikationszulassung. Anstelle der Zulassung zum Inverkehrbringen des Pflanzenschutzmittels tritt die Zulassung mit festgesetzten Anwendungsgebieten, also Pflanze und Schadorganismus, und Anwendungsbestimmungen.
({0})
Dadurch wird die Sicherheit erhöht, freilich die Flexibilität für die Anwender eingeschränkt.
Damit in den Betrieben keine Lücken bei der Bekämpfung von Schadorganismen auftreten, hat die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf Vorsorge getroffen. Diese bezieht sich auf rechtliche Vorschriften ebenso wie auf organisatorische Zusammenarbeit zwischen Berufsstand, Pflanzenschutzdiensten der Länder, pflanzenschutzmittelherstellender Industrie und den mit der Zulassung befaßten Behörden.
Meine Damen und Herren, die drei Säulen der Pflanzenschutzpolitik der Bundesregierung sind: gut ausgebildete und informierte Anwender,
({1})
qualitativ hochwertige, umfassend geprüfte Mittel und gut funktionierende Geräte. Diese drei Säulen sind zusammen mit dem Konzept des integrierten Pflanzenschutzes zu sehen.
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Die Bundesrepublik Deutschland hat den integrierten Pflanzenschutz als erstes europäisches Land bereits vor mehr als zehn Jahren gesetzlich verankert. Dieser Ansatz ist der beste Garant dafür, Restrisiken der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln auf ein Minimum zu begrenzen. Die Bundesrepublik Deutschland braucht auch hier den Vergleich mit anderen Mitgliedstaaten nicht zu scheuen.
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Dies sage ich insbesondere denen, die Chemie
grundsätzlich für etwas Böses halten, in jedem cheParl. Staatssekretär Wolfgang Gröbl
mischen Stoff Katastrophen vermuten und dadurch Ängste der Menschen heraufbeschwören.
Neben der oben geschilderten Umsetzung der EWG-Vorschriften haben wir eine Reihe von zusätzlichen Änderungen vorgesehen, zum Beispiel einengende Vorschriften zur Anwendung selbsthergestellter und damit nicht zugelassener Pflanzenschutzmittel, zur Anwendung von Pflanzenschutzmitteln im Haus- und Kleingartenbereich und zum Inverkehrbringen von Pflanzenstärkungsmitteln.
Meine Damen und Herren, mit dieser Novelle des Pflanzenschutzgesetzes setzen wir unsere erfolgreiche Politik im Pflanzenschutz fort. Deshalb meine Bitte: Beraten wir den Entwurf zügig und verabschieden wir ihn so bald wie möglich. Er kommt unserer Land- und Forstwirtschaft und dem Gartenbau insgesamt zugute.
Vielen Dank.
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Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Ulrike Höfken.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich wollte Sie nicht mit einer Freitagnachmittagsdebatte ärgern. Aber ein umweltrelevantes Gesetz nach dem anderen wird in den letzten Wochen durch dieses Parlament geschoben, zum Teil - wohl als Ausdruck der Nervosität der Bundesregierung - mit erheblicher Eile: das Wasserhaushaltsgesetz, das Bodenschutzgesetz, das BauROG, das Tierschutzgesetz und das Naturschutzgesetz. Ich finde es notwendig, daß wir in diesem Zusammenhang auch über das Pflanzenschutzgesetz eingehend beraten.
Das Naturschutzgesetz nimmt sehr eindeutig auf das Pflanzenschutzgesetz Bezug: als Grundlage der Eingriffsregelung, das heißt, als sehr relevanter Bestandteil, und Definition der guten fachlichen Praxis. Aber genau das versäumt die Vorlage der Bundesregierung: eine gesetzliche Definition der guten fachlichen Praxis in diesem Bereich zu geben. Vielmehr soll es offensichtlich zu einer unverbindlichen Bundesempfehlung kommen, die diese Definition vornimmt. Eine Grundlage für die Landwirte, eine Grundlage für den Umweltschutz, für die Wasserbehörden haben wir in diesem Fall nicht.
Ich denke, das ist ein Versäumnis, das man nicht ohne weiteres auf sich beruhen lassen kann. Da kann man nicht sagen, daß es nur darum geht, EU-Vorlagen umzusetzen; das ist eine Selbstverständlichkeit.
Eine Änderung des Pflanzenschutzgesetzes muß doch den Anforderungen gerecht werden, die sich daraus ergeben, daß die Bundesregierung die Biokonvention in Rio unterschrieben hat, daß sie sich darin verpflichtet hat, den Schutz der biologischen Vielfalt zu fördern und zu sichern. Dies müßte sich in einem solchen Gesetzentwurf, in einer solchen Änderung wiederfinden lassen. Das ist nicht der. Fall. Wir haben statt dessen eine risikoreiche Deregulierung.
Es geht nicht darum, chemische Substanzen „böse" zu finden, Herr Gröbl, sondern darum, ihnen nicht mit einer Naivität zu begegnen, die der Sache überhaupt nicht angemessen ist.
Wir schlagen vor, ein Pestizidreduktionsprogramm, das es auch in anderen europäischen Ländern gibt, aufzulegen. Hier wird unter anderem das Verbot der Anwendung im privaten und nichtkommerziellen Bereich, im übrigen auch zum Schutz der Anwender, die Einführung einer Vor-Ort-Beratungspflicht sowie das Verbot aller in der Umwelt akkumulierenden, das heißt, sich anreichernden, wassergefährdenden und gesundheitsschädlichen Pestizide und die gesetzliche Definition der guten fachlichen Praxis im Bereich des Pflanzenschutzes gefordert.
Ich denke, wir haben es bei den Pestiziden mit Substanzen zu tun, die hochproblematisch sind. Es sollte erwartet werden, daß dieser Änderung des Pflanzenschutzgesetzes große Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Vielen Dank.
({0})
Nun spricht der Abgeordnete Helmut Lamp.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Staatssekretär hat die Änderung des Pflanzenschutzrechtes umrissen. Ich möchte mir ersparen, das zu ergänzen. Vielmehr möchte ich der Bundesregierung meinen Dank dafür aussprechen, daß sie seit Jahren bemüht ist, die hohen Anforderungen des Umweltschutzes und des Schutzes des Menschen auch hier umzusetzen. Ich denke, daß es sinnvoll ist, alle Harmonisierungsmöglichkeiten zu nutzen, um bestehende oder sich abzeichnende Wettbewerbsnachteile für die deutsche Landwirtschaft, für Industrie und den Handel abzubauen. Darüber wird noch zu reden sein.
Insbesondere möchte ich mich mit dem Antrag der Grünen beschäftigen. Ich will zunächst darauf eingehen, daß die Grünen in ihrem Antrag Nachweise der Notwendigkeit des Pflanzenschutzes fordern. Es ist offensichtlich zunehmend in Vergessenheit geraten, daß ohne sachgerechten Pflanzenschutz der Hunger in der Welt ganz andere Dimensionen annehmen würde. Für die stark wachsende Weltbevölkerung ist der heutige Stand des sachgerechten Pflanzenschutzes ein Segen.
Ich möchte auf das Zentrum Ihres Antrages eingehen, das auf die Einführung eines Pestizid-Reduzierungsprogrammes zielt. Sie haben gesagt, daß es solche Programme bereits in Dänemark, in Schweden und in den Niederlanden gibt. Das ist wahr. Schweden ist kein gutes Beispiel, weil dort 60 oder 70 Prozent der Pflanzenschutzmittel in den Wäldern eingesetzt werden. Das ist kein gutes Beispiel für die Landwirtschaft. Aber in Dänemark und in den Niederlanden konnte die Menge der eingesetzten Pflanzenschutzmittel immerhin um 30 Prozent bzw. im Fall der Niederlande um über 40 Prozent reduziert werden.
Auf den ersten Blick sind das imponierende Zahlen. Trotzdem lehne ich eine solche Lösung ab; denn hier wird nicht besonders intelligent vorgegangen. Man berücksichtigt vor allen Dingen die Menge und nicht die enormen Wirkungsunterschiede des breiten Mittelangebotes. So käme doch kein Mensch auf die Idee, den Konsum alkoholischer Getränke vorn Malzbier bis zum 80 prozentigen Rum ohne Unterscheidung des Alkoholgehalts nur nach Litern zu beurteilen.
Herr Kollege Lamp, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Ja.
Bitte schön.
Sind Sie tatsächlich der Auffassung, daß der Hunger in der Welt reduziert werden konnte? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß es gerade wegen des Einsatzes von Pestiziden zu weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Menschen gekommen ist und daß der Erfolg der grünen Revolution doch etwas sehr gering im Verhältnis zum betriebenen Aufwand war? Ich denke an die Umweltfolgen, die wir gerade deswegen zu verzeichnen haben, weil Ackerflächen nicht mehr genutzt werden können.
Der zweite Punkt. Ich denke, Sie haben mit Ihren Anmerkungen über die Mengen recht, die natürlich nicht das einzige Kriterium sein können. Aber wie beurteilen Sie eine Vorgehensweise - auch wir schlagen sie vor -, die sich an einer qualitativen Reduktion ausrichtet und damit eine Beratung einschließt?
Auf den letzten Teil Ihrer Frage komme ich gleich noch zu sprechen.
Auf Grund von weltweiten Untersuchungen und Veröffenlichungen und nach meinen eigenen Erfahrungen im Betrieb bin ich der festen Überzeugung, daß die Menge der Welternte ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln Jahr für Jahr um mindestens 30 Prozent geringer ausfallen würde.
Sie haben schon recht, daß in der dritten Welt oftmals nicht sachgerecht mit den eingesetzten Pflanzenschutzmitteln umgegangen wird. Wenn der Einsatz so wie bei uns gehandhabt wird, treten keine gesundheitlichen Schädigungen auf. Insbesondere sind zu 60 bis 70 Prozent die Anwender gefährdet. Ich habe mich bei den Berufsgenossenschaften erkundigt.
Es gibt hier bei uns keinerlei gesundheitliche Folgen auf Grund der Anwendung dieser Mittel und schon gar nicht auf Grund des Genusses von Lebensmitteln, von denen man sagen könnte, daß sie mit Pflanzenschutzmitteln belastet und daß auf Grund dessen möglicherweise irgendwelche Krankheiten festzustellen seien. Das ist bei uns nicht der Fall. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln spielt im deutschen Gesundheitswesen keine Rolle.
Ich möchte auf Ihr Reduktionsprogramm zurückkommen. Zum einen: Es ist nicht besonders intelligent gestaltet. Zum zweiten möchte ich Ihnen sagen, daß die deutsche Landwirtschaft ohne jede Reduktionsregelung von 1989 bis 1995 die Aufwandmenge hat halbieren können. Das bedeutet 50 Prozent weniger Menge. Das ist eine enorme, viel zu selten anerkannte Leistung, die realisiert werden konnte, weil sich zunehmend die Methoden des integrierten Pflanzenanbaus durchsetzen, sich die Gerätetechnik - der Staatssekretär hat. das schon angesprochen - weiter verbessert hat, die Resistenz gegen Krankheiten ein vorrangiges Ziel der Züchtung ist und weil das fortschrittsorientierte Wirtschaften der deutschen Landwirte durch einen beispielhaft hohen Ausbildungsstand gesichert wird. Zusätzlich vermitteln Seminare und Schulungen den jeweils neuesten Wissensstand.
Es gibt bei uns keine nachweisbaren gesundheitlichen Probleme.
({0})
Deshalb, so denke ich, benötigen wir ein solches Reduktionsprogramm nicht.
Frau Höfken, zu den gesundheitlichen Problemen möchte ich Ihnen noch sagen, daß ohne Einsatz von Pflanzenschutzmitteln sehr wohl gesundheitliche Probleme auftreten können. Denn wir alle wissen, daß die Belastung mit Schadpilzen bei nicht behandeltem Getreide wesentlich höher ist. Es gibt keinen chemischen Stoff, der verläßlicher Krebs erzeugt, also zur Bildung von Tumoren führt, als die Gifte von Schadpilzen.
Ich bedanke mich.
({1})
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Landwirtschaft in den westlichen Industrieländern, insbesondere in Europa, hat in den letzten 50 Jahren eine erstaunliche Produktionssteigerung erlebt. Es ist gelungen, die Bevölkerung mit preiswerten Lebensmitteln von hoher Qualität in Überfluß zu versorgen und gleichzeitig den Arbeitsaufwand zu senken.
Dazu hat zweifellos der chemische Pflanzenschutz einen wichtigen Beitrag geleistet. Er ist aus einer modernen Landwirtschaft nicht mehr wegzudenken, allein wenn man bedenkt, wie es gelungen ist, durch chemische Unkrautbekämpfung schwere körperliche Arbeit zu reduzieren, die in der Vergangenheit häufig von Frauen und Kindern geleistet wurde.
Angesichts der Ertragssteigerung und der Fortschritte in der Produktionstechnik, die mit dem chemischen Pflanzenschutz möglich waren, sind anfängDr. Gerald Thalheim
lich die negativen Folgen dieser Entwicklung vernachlässigt worden.
Erst als in den 60er Jahren die durch DDT verursachten Umweltbelastungen bekannt wurden, setzte bei Landwirten und Industrie - zugegebenermaßen nach langer öffentlicher Diskussion - endlich ein Umdenken ein. Auch der Gesetzgeber zog mit immer schärferen Bestimmungen im Pflanzenschutzgesetz Grenzen für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, wobei die Bundesrepublik eine Vorreiterrolle eingenommen hat.
Mit der EU-Richtlinie kommt es endlich zu einer einheitlichen Regelung auf europäischer Ebene. Damit entfallen die häufig beklagten Wettbewerbsverzerrungen innerhalb des europäischen Binnenmarkts, über die wir in der Vergangenheit häufig diskutiert haben.
({0})
- Herr Kollege, es ist zumindest ein Einstieg in die Diskussion erreicht worden. Ich hoffe - darauf werde ich am Ende meiner Rede noch eingehen -, daß es in den Ausschußberatungen noch zu Veränderungen kommt.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird, so denke ich, ein entscheidender Schritt in Richtung einer Harmonisierung getan. Außerdem gelingt es, Lücken in der Gesetzgebung zu schließen. Das gilt - von meinen Vorrednern wurde das bereits angesprochen - für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln im Kleingartenbereich, also auf nichtlandwirtschaftlichem Gebiet. Dort gäbe es bei der Umsetzung des Gesetzentwurfes deutliche Fortschritte hinsichtlich der Verbesserung des Umwelt- und Verbraucherschutzes.
Im Bundesrat wurde der vorliegende Gesetzentwurf bereits beraten. Von seiten des Bundesrates und der beteiligten Verbände liegen eine ganze Reihe von Vorschlägen für die Verbesserung bzw. Abänderung des Gesetzentwurfes vor. Ich bin der Überzeugung, daß es in den Ausschußberatungen gelingt, ein Gesetz zu verabschieden, das den hohen Anforderungen des Umwelt- und Verbraucherschutzes gerecht wird, mit vertretbarem Kosten- und Personalaufwand zu administrieren ist sowie der Landwirtschaft und der Industrie Sicherheit für die Neuentwicklung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln gibt.
Bereits seit 1989 wurde die Pflanzenschutzmittelanwendung in Deutschland durch einen effizienteren Einsatz und innovative Entwicklung der Pflanzenschutzmittel um 50 Prozent reduziert. Ich bin der Überzeugung, daß sich dieser Trend künftig fortsetzen wird und daß es deshalb nicht zusätzlicher Bestimmungen bedarf, wie sie etwa in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt werden.
Vielen Dank.
({1})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Ulrich Heinrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen ersten Beratung des Regierungsentwurfs eines Pflanzenschutzgesetzes haben wir einen schwierigen Balanceakt zu vollbringen. Einerseits wollen wir das hohe deutsche Schutzniveau für Mensch, Umwelt, Pflanzen und Tiere sichern. Auf der anderen Seite wollen wir es natürlich zu keinen weiteren Wettbewerbsnachteilen für die Landwirte und die heimische Industrie kommen lassen. Wir bewegen uns hier also mitten im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie. Deshalb appelliere ich an dieser Stelle ausdrücklich an alle Beteiligten auf die alten Grabenkämpfe zu verzichten. Wir sollten vielmehr die Fakten in einem Gesamtzusammenhang sehen, der globale und nicht nationale oder sektorale Antworten erfordert. Daher will ich auch erst die Erfolge aufzeigen, die wir heute im Pflanzenschutz erreicht haben, bevor ich auf die Novelle des Pflanzenschutzgesetzes selber eingehe.
Am Beispiel Deutschland sieht man, daß man am erfolgreichsten ist, wenn der Staat nicht dirigistisch interveniert. Wir haben den Pflanzenschutzmittelaufwand um 50 Prozent reduziert; Herr Kollege Thalheim hat das bereits gesagt.
Wir brauchen kein Gesetz zur Beschreibung der guten fachlichen Praxis, Frau Kollegin.
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Wir halten diese Bürokratisierung für nicht angemessen, für hinderlich und nicht innovativ genug. Wenn wir etwas brauchen, können wir allenfalls mit Leitsätzen zur guten fachlichen Praxis im Pflanzenschutzbereich umgehen. Diese Leitsätze sind bereits formuliert und liegen mir hier auch vor. Wir sind durchaus bereit, die gute fachliche Praxis mit in den Vordergrund zu stellen, aber wir sind auf keinen Fall bereit, sie in Gesetzesform zu gießen.
Daß unsere Bauern verantwortungsvoll mit dem Pflanzenschutz umgehen, belegen die Angaben des Umweltbundesamtes. In 95 Prozent von über 60 000 Proben von Grund- und Oberflächengewässern sind keine Rückstände nachweisbar. In 99 Prozent der Analysen wurde der sehr strenge Vorsorgewert der Trinkwasserverordnung durch die zugelassenen Pflanzenschutzmittel eingehalten. Deutschland hat weltweit die schärfsten Umweltstandards. Dabei unterliegen gerade die Pflanzenschutzmittel sehr strengen Zulassungsverfahren. Sie werden nur zugelassen, wenn ihre Wirkung auf Mensch, Natur und Umwelt von der zuständigen Biologischen Bundesanstalt im Einvernehmen mit dem Umweltbundesamt sowie dem Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin als unbedenklich eingestuft wird.
Der umweltschonende integrierte Pflanzenschutz hat sich in der Landwirtschaft voll durchgesetzt. Hier sind wir Spitzenreiter. So werden zum Beispiel sogenannte Nützlinge, insbesondere im Obst- und GemüEva Bulling-Schröter
seanbau, aber auch im Maisanbau, eingesetzt. Ich kann das aus eigener Erfahrung in meinem Betrieb sagen: Ich verzichte auf einen Insektizideinsatz im Maisanbau und setze die nützliche Schlupfwespe ein, um hier wirklich zu reduzieren. Wir tun alles, was sinnvoll ist.
Deshalb müssen wir andererseits aber auch sehen, daß wir zu einer globalen Bewertung kommen. Dazu gehört, daß die Weltbevölkerung jedes Jahr um 80 Millionen wächst. Die steigenden Einkommen und eine höhere Nachfrage nach Getreide sind ganz besondere Herausforderungen, die weit über die agrarpolitische Frage hinausgehen und die in der Zukunft auf uns zukommen. Diese globalen Probleme sind nicht ohne Pflanzenschutzmittel und ohne die Biotechnologie zu lösen.
Auf der Grundlage der EU-Richtlinie über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln soll nun ein einheitlicher Binnenmarkt weitestgehend ohne Handelsbarrieren geschaffen werden. Große Bedenken habe ich, ob dies mit der Novelle in der jetzt vorliegenden Form erreicht werden kann. In dem Maße, wie wir unser hohes Schutzniveau für Mensch und Umwelt ausbauen, nehmen gleichzeitig die Wettbewerbsverzerrungen zu und eben nicht ab.
Mit der sogenannten Indikationszulassung wird insbesondere die Situation für Pflanzenschutzmittelanwendungen in Sonderkulturen weiter verschärft. Ich habe das vorhin bereits in einem Zwischenruf zum Ausdruck gebracht. Welche Alternativen können wir unseren Sonderkulturbetrieben anbieten, wenn wir auf bewährte Mittel immer weniger zurückgreifen können?
Problematisch ist weiterhin die zunehmende Bürokratie und die Regulierungsdichte. Die Schaffung einer großen Anzahl von zusätzlichen Stellen im Bereich der Industrie und der Landwirtschaft mit zusätzlichen Kosten von 120 Millionen DM zeigt deutlich, daß dieses Gesetz auch finanzielle Auswirkungen hat und wir es vor diesem Hintergrund sehr sorgfältig zu beraten hatten.
Weitere Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der deutschen Landwirtschaft entstehen durch Beschränkungen beim Einkauf von Pflanzenschutzmitteln in anderen europäischen Ländern. Daß wir baden-württembergische Bauern natürlich auch im angrenzenden Elsaß einkaufen konnten - was bei uns bisher gang und gäbe war -, wird damit unterbunden. Ich meine, hier ist das Harmonisierungsziel nicht erreicht. Hier müssen wir den Anforderungen eines offenen Binnenmarktes entsprechend gerecht werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Es wäre vielleicht denkbar, daß wir hier ein vereinfachtes Zulassungsverfahren für identische Importe vorsehen.
Der vorliegende Entwurf - wir haben heute die erste Lesung - wird gründlich überarbeitet werdenmüssen, um all den Dingen, die unter anderem ich Ihnen vorgetragen habe, Rechnung zu tragen. Ich bin überzeugt, wir werden diese Aufgabe meistern.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offiziell werden in Deutschland pro Jahr etwa 35 000 Tonnen Pflanzenschutzmittel verkauft. Nachdem die Mengen zu Beginn der 90er Jahre gesunken waren, stiegen sie von 1994 auf 1995 wieder um 18 Prozent an, und sie steigen weiter.
An dieser Stelle möchte ich nicht auf die zahlreichen Untersuchungen eingehen, die nachgewiesen haben, welche Schäden viele Pflanzenschutzmittel im Naturhaushalt anrichten. Statt zu reduzieren, rechnen die produzierenden Chemiekonzerne mit wachsenden Marktanteilen gerade in diesen Bereichen. Mit steigender Einführung von pestizidresistenten genmanipulierten Pflanzen darf es keine Senkung des Verbrauchs geben; denn dann wären die diesbezüglichen teuren Forschungen in den Sand gesetzt.
Nebenbei bemerkt haben deutsche Chemiefirmen keine Hemmungen, bei uns seit langem verbotene Pestizide nach Lateinamerika zu verkaufen, von wo sie zum Beispiel mit importierten Bananen wieder zurückkommen. Das zum Thema Welternährung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bisherige Pflanzenschutzrecht hat mit dazu beigetragen, daß die konventionelle Landwirtschaft vor allem auf Spezialisierung und Monokultur setzt. Die Pflege der Pflanzenkulturen besteht aus einer Mischung von Prophylaxe vor Schädlingsbefall und Düngung mit synthetischen und Wirtschaftsdüngern. Hinzu kommt der Einsatz von Funktionsregulatoren und Wachstumshemmern, die mit all ihren schädigenden Wirkungen für die Artenvielfalt verbunden sind. Laut Naturschutzbund Deutschland sind bei jeder siebten Pflanzenart, die in der roten Liste auftaucht, Herbizide Hauptursache ihrer Gefährdung.
Das alles ist sicher erschreckend, darf aber nicht dazu führen, den Bäuerinnen und Bauern pauschal die Schuld dafür zuzuschieben; denn sie sind Gefangene in einem harten Konkurrenzkampf und in einem Interessengeflecht von chemischer Industrie, Lebensmittelkonzernen und Großagrariern. Nicht umsonst saß der gerade verabschiedete Präsident des Bauernverbandes, Freiherr von Heereman, lange Jahre im Aufsichtsrat des Chemieriesen Bayer.
Wir sehen die von der Bundesregierung vorgelegte Novelle des Pflanzenschutzgesetzes als verfehlt an. Notwendig wäre ein weitreichendes Verbot des Einsatzes von Pestiziden. Verbindliche Anwendungsregeln und Zulassungsverfahren sind genauso notwendig wie die Definition des wiederum unbestimmten Begriffes „gute fachliche Praxis".
Wir lehnen weiterhin die Beschneidung der Mitspracherechte der Bundesländer bei der Zulassung von Pestiziden ab und fordern, wie auch die Umweltverbände, einen Zugang zu Daten über die Auswirkungen der Pestizidwirkstoffe auf die menschliche Gesundheit. Wir unterstützen die Forderung der Umweltverbände, ein Pestizidreduktionsprogramm einzuführen, und werden für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmen.
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Zum Schluß gebe ich das Wort der Abgeordneten Susanne Kastner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung steht mit der Umsetzung von EG-Richtlinien auf dem Kriegsfuß. Das wissen wir spätestens seit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes im Frühjahr und dem Urteil zur Zahlung von Ersatzleistungen wegen zu später Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie. Auch die Vorlage der Bundesregierung zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes war überfällig, gilt es doch, die EG-Pflanzenschutzrichtlinie von 1991 in deutsches Recht umzusetzen und den angestauten Reformbedarf im Pflanzenschutzrecht abzubauen.
Die Harmonisierung ist aus Gründen des Umweltschutzes, des Gesundheitsschutzes und des Wettbewerbsschutzes dringend erforderlich. So muß zum Beispiel die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln wie Atrazin, die ins Grundwasser und ins Trinkwasser gelangen, auch in Frankreich und Belgien verboten werden. Anderenfalls könnten sich die deutschen Landwirte Atrazin oder andere bei uns verbotene Herbizide im Nachbarland kaufen, um sie aus Wettbewerbsgründen bei uns anzuwenden. Da der Grenzwert für Pflanzenschutzmittel in der EG-Trinkwasserrichtlinie mit Erfolg gegen die Änderungsforderungen der Industrie und der Agrarlobby in Brüssel verteidigt werden konnte, muß konsequenterweise auch die Anwendung der wassergefährdenden Wirkstoffe verhindert werden.
Ein Kuriosum ist die Umsetzung der EG-Pflanzenschutzrichtlinie in bezug auf den Anhang VI der Richtlinie, in dem die einheitlichen Grundsätze und Kriterien für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln festgelegt werden. Der Europäische Gerichtshof hatte die Richtlinie zu Anhang VI nach Klage des Europäischen Parlamentes für nichtig erklärt, weil darin unter anderem der Schutz des Grundwassers nicht entsprechend der Mutterrichtlinie geregelt sei. Zur Zeit liegt der Vorschlag für eine geänderte Richtlinie zu Anhang VI der Pflanzenschutzrichtlinie dem Bundesrat und dem Bundestag zur Stellungnahme vor. Für die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Pflanzenschutzrecht spielt das nach Meinung der Bundesregierung aber überhaupt keine Rolle.
Wir brauchen jedoch weitergehende Änderungen des Pflanzenschutzgesetzes, um gefährliche Auswirkungen der hochwirksamen chemischen Pflanzenschutzwirkstoffe auf die Umwelt, die Gesundheit des Menschen und die Natur möglichst schnell auszuschließen. Durch Anwendung der Herbizide auf Freiflächen geraten Wirkstoffe ins Grundwasser, in die Flüsse und ins Trinkwasser. Die hormonellen Wirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Tiere und Menschen sind erst seit kurzem mit erschreckenden Ergebnissen untersucht worden. Auch zu den krebserregenden Auswirkungen geringster Mengen chemischer Pflanzenschutzmittel gibt es inzwischen neue Untersuchungen.
Bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, die ähnlich wie hochwirksame Arzneimittel nur von Fachleuten und auf Rezept möglich sein dürfte, gibt es noch große Unsicherheit und nicht akzeptable Praktiken. Dazu gehören die Entsorgung von Resten dieser Pflanzenschutzmittel auf dem Hof in die Kanalisation oder die Anwendung bei Wind oder auf bestimmten Flächen in der Nähe von Gewässern.
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Die Bundesregierung lehnt die Forderung nach einer Rechtsverordnung über die gute fachliche Praxis bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln aber wiederum ab. Der Bundesrat fordert in vielen Punkten eine Änderung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, die diese Vorschläge aber zum Teil ablehnt. Die Wasserwirtschaft und die Umweltverbände fordern ebenfalls weitergehende Änderungen.
Die SPD wird sich für eine sorgfältige Beratung des Gesetzentwurfes im Umwelt- und Agrarausschuß des Bundestages einsetzen und in einer öffentlichen Anhörung die Streitfragen zur Diskussion stellen. Wir als politisch Verantwortliche haben aber die Aufgabe, nicht nur verbal, sondern auch durch die Tat unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/8443 und des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/8505 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.,
Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. September 1997, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.