Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/11/1997

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen guten Morgen und eröffne die Sitzung. Lassen Sie mich zunächst zu einigen amtlichen Mitteilungen kommen. Der Kollege Dr. Dietrich Mahlo hat auf seine Mitgliedschaft im Kuratorium des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung verzichtet. Die Fraktion der CDU/CSU benennt deshalb als seinen Nachfolger den Kollegen Werner Lensing. Ich gehe davon aus, daß Sie mit dieser Benennung einverstanden sind. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksachen 13/1685, 13/8488 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksachen 13/8340, 13/ 8488 - Der Zusatzpunkt soll nach der Beratung des Einzelplanes 11, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, aufgerufen und nach einer 30 minütigen Debatte wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheit namentlich abgestimmt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so. Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 1 - fort: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1998 ({1}) - Drucksache 13/8200 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 1997 bis 2001 - Drucksache 13/8201 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß Ich erinnere daran, daß wir am Dienstag für die heutige Aussprache zum Haushalt insgesamt sieben Stunden beschlossen haben. Zwischenzeitlich hat man sich jedoch darauf verständigt, die Aussprache zum Wirtschaftsetat auf zwei Stunden zu verlängern. - Ich gehe vom Einverständnis aus. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft, Einzelplan 09. Das Wort hat Herr Bundesminister Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums fügt sich ein in den finanzpolitischen Kurs der Konsolidierung und in den wirtschaftspolitischen Kurs zur Stärkung von Wachstum und Arbeitsplätzen. Er ist eng bemessen, und manches, was wünschenswert wäre, ist aus ihm nicht zu leisten. Aktiv werden gestaltet Existenzgründung und Existenzsicherung, die Integration mittlerer und kleiner Unternehmen in die Weltwirtschaft und immer wieder die Verbreiterung der wirtschaftlichen Grundlage in den neuen Ländern. Von den insgesamt 16,1 Milliarden DM gehen 8,7 Milliarden DM in die Kohle. Das begrenzt den Rahmen, und das zeigt, wie notwendig es ist, diese Hilfen des Bundes konsequent bis zum Jahr 2005 auf 4 Milliarden DM zurückzufahren. ({0}) So wichtig finanzielle Spielräume sind: Wichtiger ist, daß die Wirtschaftspolitik ihren Beitrag zur Reformpolitik in diesem Lande leistet, zu Reformen, die erstarrte Strukturen überwinden und Verhaltensweisen verändern sollen, Strukturen, die, einst als Errungenschaften gepriesen, sich heute als Investitionsbremse erweisen. Ich sage es gleich vorab: Am Entstehen dieser Strukturen, die wir heute zum Teil beklagen, haben viele mitgewirkt: die Parteien, die heute die Koalition bilden - auch meine Partei -, die heutigen Oppositionsparteien, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sowie viele gesellschaftliche Institutionen. Wir haben uns damals von anderen, aus sich heraus verständlichen und nachvollziehbaren Prioritäten leiten lassen, und wir waren stolz auf das Erreichte. Aber wir haben dann auch feststellen müssen, daß viele der zunächst bewährten Regeln Anpassung verhindern, daß unser Steuersystem unübersichtlich und zum Teil ungerecht geworden ist, daß Schutzvorschriften im Arbeitsrecht zur Einstellungsbremse geworden sind und vor allem, daß wir überall an finanzielle Grenzen stoßen. Das Richtige tut, wer diese Strukturen aufbricht, wer Reformen voranbringt. Das Falsche tut, wer diese Reformen verhindert. Reformen verlangen Augenmaß und Konsequenz; Augenmaß, weil es nicht darum geht, den Sozialstaat abzuschaffen, und Konsequenz, weil notwendige Reformen nicht zerredet und verwässert werden dürfen. Das letztere schließt einen sachgerechten Kompromiß durchaus ein. Wo ist nun die Alternative der Opposition zu dieser Reformpolitik? Sie wäre im übrigen eine Alternative zur Politik von Tony Blair und den Sozialdemokraten in Holland und in Skandinavien. Aber davon ist weit und breit nichts zu sehen. ({1}) Dabei geht es mir nicht um die Höhe des Steuersatzes für Nachtzuschläge oder den Streit darüber, was nun eine versicherungsfremde Leistung ist oder nicht. Es geht mir auch nicht darum, in welchem Jahr punktgenau das Strommonopol aufgegeben werden muß. Es geht darum - das darf ich in aller Ruhe und Konsequenz sagen -, daß Sie im Grundansatz keine Alternative haben zu einer Politik, die auf die Senkung von Steuern und Abgaben hinausläuft, auf die Neuorganisation der Arbeitswelt, auf die Schaffung neuer Beschäftigungsfelder und auf den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern. ({2}) Wenn es ernst wird, verweigern Sie sich entgegen Ihren Bekundungen jeder wirksamen Veränderung. Sie verweigern sich nicht, weil Sie es besser wissen, sondern weil Sie sich davon einen parteipolitischen Vorteil versprechen. ({3}) Meine Damen und Herren, die SPD irrt sich auch, wenn sie Umverteilung propagiert und damit. die Massenkaufkraft zu stärken versucht. Das hieße, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Wir wollen die Nachfrage stärken durch mehr Reformen, das heißt durch mehr Beschäftigung. Wir wollen die Differenz zwischen brutto und netto geringer machen. Das steigert die Nettokaufkraft. Lesen Sie dazu nach, was uns der IWF und die OECD ins Stammbuch geschrieben haben. ({4}) Sie haben genau die Politik, die von uns gemacht wird, bestätigt. ({5}) Dennoch muß ich sagen: Es hat sich eine Menge verändert. Ich habe vor wenigen Tagen eine Übersicht über die Umsetzung des 50-Punkte-Programms für Investitionen und Arbeitsplätze und des Programms für mehr Wachstum' und Beschäftigung vorgelegt. Wer genau hinsieht und nicht in billiger Polemik macht, der wird zugeben müssen, daß Reformpolitik in vielen Bereichen und vorwiegend da, wo es nicht auf die Zustimmung des Bundesrats ankommt, weit vorangekommen ist. ({6}) - Auch beim Ladenschluß. - Ich nenne die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, auch in der Gentechnologie. Ich verweise auf die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes, die Reform der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Privatisierung der Telekom und anderer Bereiche, ({7}) die Reform des Finanzmarkts und wichtige Veränderungen sogar im Steuerrecht. Dabei bin ich weit davon entfernt, mich zurückzulehnen und selbstgefällig zu sagen: Das ist genug. Entscheidende Schritte stehen noch aus, vor allem in der Steuerreform. Aber da ist klar, wer blockiert und warum blockiert wird. ({8}) Im Haushalt 1998 des Bundeswirtschaftsministers sind erstmals Mittel für Aufgaben in der Telekommunikation und im Postbereich vorgesehen. Ich will jetzt nicht darauf eingehen, daß der Weg zur Privatisierung der alten Bundespost ein dornenreicher war, bei dem die SPD gemeinsam mit der Postgewerkschaft zunächst die Rolle des Verhinderers, dann die des Bremsers spielte und heute die Rolle des Besitzstandswahrers spielt. Ich muß aber einräumen, daß die Integration der politischen Teile des Postministeriums in das BMWi und BMF und die Errichtung der Wettbewerbsbehörde im ersten Anlauf nicht zu Einsparungen führen können. Ich bedaure das, gebe aber zu bedenken: Erstens. Wir brauchen für die neuen wettbewerbspolitischen Aufgaben hochqualifizierte Leute. Zweitens. Jeder von Ihnen kennt das Dienstrecht.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Formanski?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ja, bitte.

Norbert Formanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000568, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie erwähnten eben wieder das 50-Punkte-Programm. Davor gab es ein 20-Punkte-Programm und ein 10Punkte-Programm; es gab ein neues Ladenschlußgesetz. Dies alles wurde immer wieder mit der Begründung eingebracht, der Standort Deutschland solle wesentlich gestärkt werden. Die Frage ist: Wann dürfen wir denn endlich mit paradiesischen Zuständen auf dem Arbeitsmarkt rechnen?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Diese Frage ist nun geradezu eine Vorlage. Ich habe an dieser Stelle und bei jeder sich bietenden Gelegenheit gesagt, daß wir eine an sich, gemessen am BIP, günstige Entwicklung des Sozialproduktes haben, daß aber die günstige Wachstumsentwicklung erst sehr zögerlich auf den Arbeitsmarkt durchschlagen wird. ({0}) Das bedeutet, daß wir wohl noch in diesem Jahr, wie ich es einschätze, mit einer Trendwende am Arbeitsmarkt rechnen können. ({1}) - Hören Sie gut zu. Sie müßten wissen, was eine Trendwende in der Wirtschaftsstatistik bedeutet. Das ist ein Zustand, in dem die Arbeitslosigkeit saisonbereinigt nicht mehr wächst. Das ist aber nicht mit einem drastischen Rückgang der Arbeitslosigkeit gleichzusetzen. Ein solcher Rückgang braucht Zeit und wird nur in dem Maße gelingen, in dem wir hier unsere Hausaufgaben machen können und mit unserer Reformpolitik zurechtkommen. ({2}) Wenn Sie im Bundesrat und anderswo nicht mehr als Besitzstandswahrer und Bremser auftreten, dann werden diese „paradiesischen Zustände" eintreten, nicht eher, meine Damen und Herren. ({3}) Ich komme auf das Postministerium und dessen Integration in das BMWi zurück. Die Integration des Postministeriums in mein Ministerium ist in trokkenen Tüchern; die Organisation steht. Das gilt auch für die Wettbewerbsbehörde. Gehen Sie bitte davon aus - da setze ich mich heute offiziell unter Zugzwang -: Die administrativen und technischen Bereiche, die wir mit dem Bundesamt für Post und Telekommunikation in Mainz übernehmen, werden ab 1. Januar 1998 systematisch überprüft und deutlich verschlankt; ich sage das ganz offiziell. ({4}) In Post und Telekommunikation wird es zusätzliche Arbeitsplätze nur über mehr Wettbewerb, neue Dienste und neue Beschäftigungsfelder geben. Die Explosion der Aktivitäten, wie wir sie beim Mobilfunk, bei Electronic Commerce und auch in privaten Transport- und Logistikzentren erleben, sind dafür anschauliche Beispiele. Die Politik der Marktöffnung und des Wettbewerbs, wie sie vom Kollegen Bötsch erfolgreich vorangebracht worden ist, wird fortgesetzt. ({5}) Es geht nicht darum, die Deutsche Telekom oder die gelbe Post zugrunde zu richten, meine Damen und Herren, ganz im Gegenteil. Aber es geht auch nicht an, daß bestimmte Unternehmensführer in werbewirksamen Auftritten auf der einen Seite den Wettbewerb beschwören und auf der anderen Seite wettbewerbsverzerrende Gebühren durchdrücken wollen. ({6}) Das wird es nicht geben. Anmaßende Auftritte beeindrucken mich in diesem Zusammenhang schon gar nicht. Meine Damen und Herren, in Deutschland liegen die gewerblichen und industriellen Strompreise um 20 Prozent über denen vergleichbarer Nachbarländer. Das hat mehrere Ursachen. Eine wesentliche Ursache dafür ist die weitgehend erstarrte und festgezurrte Ordnung der deutschen Energiemärkte. Seit 25 Jahren wird versucht, diese Strukturen aufzubrechen. Diese Versuche sind immer gescheitert. Niemand hat sich hier mit Ruhm bekleckert, und jeder kehre vor seiner eigenen Tür. In Brüssel haben wir im vorigen Jahr mit der Stromrichtlinie einen wichtigen Schritt geschafft. Jetzt stehen wir vor wichtigen Entscheidungen in diesem Parlament. Mein Gesetzentwurf zur Reform des Energiewirtschaftsrechts sieht eine Aufhebung der bestehenden Demarkationen vor, das heißt die Abschaffung der Monopole. ({7}) Dabei wird den Belangen des Umweltschutzes und der ostdeutschen Braunkohle soweit wie möglich Rechnung getragen. Das gilt auch für die Interessen der Kommunen. Wir sind bereit, den Stadtwerken sehr weit entgegenzukommen, auch durch die Gewährung einer Übergangszeit. Aber eine dauernde Herausnahme aus dem Wettbewerb durch zeitlich unbegrenzte Festschreibungen des sogenannten Single-BuyerPrinzips kann es nicht geben. ({8}) Damit würde diese Reform in ihr Gegenteil verkehrt. ({9}) Die Konzessionsabgabe bleibt unangetastet. Keiner sollte übersehen, daß es viele kommunale Stromversorger gibt, die in der neuen Wettbewerbsordnung Chancen für zusätzliche Aktivitäten und Arbeitsplätze sehen. Bereits im Vorfeld dieser gesetzliBundesminister Dr. Günter Rexrodt chen Neuordnung ist ungeheuer viel in Gang gekommen. Es gibt aber auch andere - und das sind, wie so oft, die Lautstarken -, die diese Reform ablehnen, weil sie angeblich die Konzentration in der Elektrizitätswirtschaft fördere. Außerdem gäbe es, so wird argumentiert, ein Strompreisgefälle zwischen Stadt und Land. - Diese Argumente sind in weiten Teilen nicht stichhaltig; sie sind vorgeschoben. Ich sage deutlich: Kommunale Selbstverwaltung ja, aber nicht Arrondierung gewachsener Strukturen und Festschreibung von Privilegien oder am Ende sogar Pöstchenwirtschaft zu Lasten der Stromkunden. Das wird es mit mir nicht geben. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Das ist dann aber bitte die letzte.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bitte, Herr Rössel.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Bundesminister Rexrodt, Sie haben vor wenigen Minuten erklärt, daß Sie mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes die Konzessionsabgabe, die an die Städte fließt, unangetastet lassen. Welche Stellung beziehen Sie unter Beachtung dieser Aussage zu der Pressemitteilung des Deutschen Städtetages vom 27. August 1997, wonach den Städten in der Bundesrepublik Deutschland bei Verabschiedung der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz Einnahmeausfälle in Höhe von etwa 3 Milliarden DM jährlich entstünden? Damit würden sich die derzeitigen Einnahmen der Städte aus der Konzessionsabgabe halbieren. Wie gehen Sie mit dieser nachgewiesenen Einschätzung um, auch angesichts der Tatsache, daß die Kreditmarktverschuldung der deutschen Städte und Gemeinden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von vergangener Woche mittlerweile 170 Milliarden DM erreicht hat?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ich bestreite diese Aussage; sie ist nicht richtig. Wir haben uns mit der Frage der Konzessionsabgabe lange auseinandergesetzt. ({0}) Wenn es Wettbewerb gibt, dann wird es den Gemeinden eher und in jedem Fall unkomplizierter möglich sein, die maximale Konzessionsabgabe durchzusetzen. Das ist im Wettbewerb immer besser möglich als unter anderen Konstellationen. ({1}) Die von Ihnen zitierte Aussage ist falsch und nur vorgeschoben. Meine Damen und Herren, ich habe nur eine Viertelstunde Redezeit. Ich wollte noch viel über den Mittelstand sagen, der im Mittelpunkt unserer Politik steht: Ich freue mich, daß es gelungen ist, die Ansätze im Haushalt 1998 alles im allem zu halten. Ich möchte aber in der verbliebenen Zeit noch ein Thema ansprechen, bei dem ich besonderen Handlungsbedarf sehe. Es geht um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern. Zunächst einmal möchte ich feststellen, daß das Konzept der steuerlichen Förderung für die Zeit nach 1998 steht. Es stellt im Kern auf eine Verdoppelung der Investitionszulage im verarbeitenden Gewerbe und die Einbeziehung der produktionsnahen Dienstleistungen ab. Dafür wird die Abschreibungspräferenz abgeschafft und die Überförderung, zu der es in einigen Bereichen gekommen ist, zurückgefahren; das ganze System bekommt degressive Elemente. ({2}) Dieses Konzept ist ein großer Erfolg und macht die Wirtschaftsförderung in weiten Teilen bis zum Jahre 2004 berechenbar. Ich bin in diesem Zusammenhang - das möchte ich hier einmal sagen - dem Kollegen Waigel für seine aufgeschlossene Haltung und auch der Opposition für ihre konstruktive Haltung dankbar. ({3}) Die Bundesregierung hat sich immer dazu bekannt, auch die zweite Säule der Wirtschaftsförderung Ost, die Gemeinschaftsaufgabe, auf hohem Niveau fortzusetzen. Dabei geht es um Barmittel allein für den Bund von jährlich zwischen 2,5 und 3 Milliarden DM. Diese Summe zu finanzieren ist angesichts der finanziellen Engpässe nicht einfach. Ich habe mich in den letzten Wochen in der strittigen Frage der Barmittelansätze für 1998 in schwierigen Verhandlungen mit den neuen Ländern auf einen Kompromißvorschlag geeinigt, der bei vertretbarer Belastung des Bundeshaushalts ein klares Signal geben könnte in Richtung auf zusätzliche Investitionen und Arbeitsplätze in den neuen Ländern. Der Vorschlag steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung dieses Hauses. Ich bitte Sie alle, meine Damen und Herren, um Unterstützung. ({4}) Ich kann und will auf Einzelheiten hier nicht eingehen, sondern möchte noch einmal politisch klar sagen: Es geht nicht um eine unkritische Fortsetzung der Förderung in den neuen Ländern. Alle Programme müssen von Zeit zu Zeit durchforstet werden. Aber es geht damm, daß wir beim Aufbau Ost erst die erste Hälfte des Weges geschafft haben und weiterhin ein hohes Niveau der Förderung brauchen. Das gilt auch für Forschung und Entwicklung, wo ich die Ansätze für nächstes Jahr in etwa halten kann. Mir ist es für das Jahr 1997, in dem auf Grund der Haushaltssperre ein Bewilligungsstopp drohte, gelungen, durch Umschichtungen im eigenen Haus dafür zu sorgen, daß die Förderung weitergehen kann. Das war ein großer Kraftakt; aber es lohnt sich für Forschung und Entwicklung in den neuen Ländern. ({5}) Das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung am Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland werden auf mittlere Sicht davon abhängen, wie wir bei unseren Reformen vorankommen, wie wir unsere Hausaufgaben machen. Die Chancen für deutliches und nachhaltiges Wachstum insgesamt sind so günstig wie seit vielen Jahren nicht. Die Weltwirtschaft ist in guter Verfassung. Immer neue Länder kommen auf den Plan. Die Internationalisierung der Märkte bietet viel mehr Chancen als Risiken. Das müssen wir sehen. Der einheitliche europäische Wirtschaftsraum geht mit dem Euro seiner Vollendung entgegen. Der Euro wird in der Wirtschaft gewünscht und gebraucht. Es wird ein stabiler Euro sein. Unser Land hat seine Standortvorteile noch nicht verspielt: ({6}) eine gute Infrastruktur, eine hervorragende Ausbildung, ein gesundes Verhältnis von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben, leistungsfähige Unternehmer, vernünftige Gewerkschaften und in vielen Bereichen auch eine gute Stellung bei Forschung und Entwicklung. Aber es gibt auch Hemmnisse. Sie liegen in Überregulierung, Besitzstandsdenken und zum Teil in der Scheu vor dem Risiko. Diese Hemmnisse zu überwinden ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Es ist die Koalition, die die entscheidenden Impulse setzt. Wir müssen den Reformstau überwinden. Wir wollen vernünftige Kompromisse mit der Opposition. Wir wollen, daß sich etwas bewegt. Es gibt zu dieser Reformpolitik im Grundansatz keine Alternative. Diese Reformpolitik liegt im Interesse der Arbeitsplätze und der Menschen in diesem Land. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste Rednerin in dieser Debatte spricht die Kollegin Anke Fuchs.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ach, Herr Rexrodt! Hätte der Bundeskanzler Ihnen doch die Gnade der frühen Abberufung gewährt, dann wären Sie jetzt in einer besseren Lage. ({0}) So erzählen Sie Jahr für Jahr dasselbe. Aber durch jeden Ihrer Programmpunkte ist die Arbeitslosigkeit gestiegen. Sie müssen doch irgendwann einmal zu der Erkenntnis kommen, daß der Weg, den Sie uns immer vorgegeben haben, falsch gewesen ist, weil Sie die Probleme nicht gelöst haben. ({1}) Ich habe die Debatte aufmerksam verfolgt und habe mir alle Haushaltsansätze angeschaut, und zwar im Hinblick auf die Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, der Innovation, der Zukunftsorientierung und der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dabei wurde ja von Herrn Minister Waigel eindrucksvoll belegt, daß unser Steuersystem zerklüftet ist und daß es eine Erosion auf der Einnahmenseite gibt. Mein logisches Resümee ist: Raum ist nur für eine aufkommensneutrale Steuerreform. Diese ist allerdings dringend erforderlich, damit wir wieder eine Basis für vernünftige Politik haben. ({2}) Ja, es ist richtig: Unsere Volkswirtschaft ist internationalem Konkurrenzdruck ausgesetzt. Aber um die Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft zu sichern, müssen wir doch jetzt den Herausforderungen ins Auge sehen. ({3}) Das heißt: Modernisierung des Bildungssystems, Nutzung der Zukunftstechnologien, Verbreiterung der Unternehmenslandschaft und Förderung des Mittelstandes. Wir brauchen einen Strukturwandel durch Innovation und wirtschaftliche Dynamik. Dazu ist diese Bundesregierung aber nicht fähig. ({4}) Prüfen Sie einmal die Haushalte! Meine Kollegen Rolf Schwanitz und Ernst Schwanhold werden darauf noch einmal eingehen. Sie tun noch so, als ob in den Haushalten des Wirtschaftsministeriums oder des sogenannten Zukunftsministeriums wirklich die richtigen Impulse gegeben werden. Dabei wird in diesen Haushalten gekürzt. Da kann man eine ganze Liste aufstellen. Es wird gekürzt bei der Förderung für die mittelständischen Unternehmen; es wird überall dort gekürzt, wo wir der mittelständischen Wirtschaft helfen könnten, den Anschluß an den Strukturwandel zu finden. Nein, all Ihre Haushaltsansätze zeigen: Sie wursteln sich weiter durch, versuchen, über die Runden zu kommen; Machterhalt ist Ihnen wichtiger als eine dynamische, zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. ({5}) Ich möchte noch einmal auch an die CDU/CSU appellieren: Wir versagen doch auch vor der Zukunftsaufgabe, wenn wir weiter zulassen, daß die berufliche Bildung und die Chancen junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt so vernachlässigt werden. Investitionen in Ausbildung und Qualifikation sind doch Anke Fuchs ({6}) ein Element, um in einer von Globalisierung gekennzeichneten Welt überhaupt mithalten zu können. Unsere Demokratie muß und kann gewährleisten, daß junge Menschen ihre Fähigkeiten entfalten können und eine Eintrittskarte in die Arbeitswelt erhalten. Wer das nicht gewährleistet, versündigt sich an der jungen Generation und macht unsere Zukunft kaputt, in der es auf Qualifikation ankommt. ({7}) Wenn sich Unternehmen dieser Aufgabe entziehen, dann ist die Politik gefordert. Deswegen besagt unser Ansatz: Wirtschaft, werde deiner Aufgabe gerecht und stelle genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung! Macht es branchenspezifisch! Aber wenn ihr es nicht könnt, dann wird der Staat mit einer Ausbildungsabgabe eingreifen, damit die jungen Leute nicht auf der Straße bleiben. ({8}) Die wirtschaftliche Lage ist durch einen Exportboom gekennzeichnet; die Wirtschaft und die Betriebe haben schmerzhafte Anpassungsprozesse hinter sich gebracht, und sie haben ihren Nachholbedarf in bezug auf Modernität und Infrastruktur befriedigt. Das ist gut so. Niemand von uns hat etwas dagegen, wenn der Aufschwung kommt, wenn es wirtschaftliches Wachstum gibt und wenn zumindest die Exportwirtschaft boomt. Aber diese Tatsachen können doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die binnenwirtschaftliche Entwicklung vor sich hin dümpelt. Das hat etwas mit Ihrer Politik zu tun, well von Ihren Haushaltsansätzen und den Streitereien der Koalition Signale des Attentismus ausgehen und keine dynamische wirtschaftliche Entwicklung in Gang gebracht werden kann. ({9}) Insofern sind Sie durch die Art Ihrer Politik die Verhinderer von dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung. ({10}) Ich habe auf die Kürzungen hingewiesen. Sie müßten doch jetzt in diesen Bereichen investieren; aber Sie tun es nicht. Und was sagt der Wirtschaftsminister? - Wir haben es ja gehört. Er sagt, von Reform zu Reform sei die Sache besser geworden. Da faßt man sich doch an den Kopf. Ich habe nach der gestrigen Debatte in einem Lexikon nachgeschlagen, was eigentlich „Leistung" heißt. Sie, die CDU/CSU und die F.D.P., bezeichnen sich ja immer als Leistungsträger. Ich habe gedacht: Schaust du einmal ins Lexikon. Da steht unter dem Stichwort „Leistung": die in bestimmter Zeit verrichtete Arbeit, auch das dadurch geschaffene Arbeitsergebnis. Das geschaffene Arbeitsergebnis von 15 Jahren Kohl und Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. ist: höchste Staatsverschuldung, höchste Arbeitslosigkeit, höchste Abgabenlast. Nein, Sie sind keine Leistungsträger; Sie haben eine Negativleistung vollbracht. Sie dürften eigentlich gar nicht darüber reden, daß Ihnen noch ein Stückchen Steuerentlastung gewährt werden soll. ({11}) Von Programm zu Programm wurden Erwartungen geweckt: Jetzt komme die Trendwende; jetzt müsse man wirklich zusehen, daß sich auch auf dem Arbeitsmarkt etwas tut. Im Grunde ist jedoch die Arbeitslosigkeit von Programmpunkt zu Programmpunkt gestiegen. Das möchte ich herausarbeiten, meine Damen und Herren: 4 Millionen Arbeitslose belasten unsere gesamten Haushalte mit 180 Milliarden DM. Es geht um die Zukunft und die Perspektiven von Menschen. Die Ursache für die Probleme bei der Arbeitslosenversicherung, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung ist aber doch die Tatsache, daß wir zu viele Arbeitslose und zu wenige Beitragszahler haben. Wenn sich all Ihre Programme auf dem Arbeitsmarkt nicht auswirken, dann sind Sie gescheitert, meine Damen und Herren. Das müssen Sie endlich mal zugeben. Sie müssen sagen: Wir müssen eine Trendwende herbeiführen, die mit Investitionen, aber auch mit anderen Maßnahmen dazu beiträgt, daß die hohe Arbeitslosigkeit abgebaut wird und nicht nur stagniert. ({12}) - Herr Hinsken, wir blockieren doch nicht. Ich nenne Ihnen ein Stichwort: Ladenschlußgesetz. Wir beide müssen uns nicht darüber unterhalten, welch ein Flop das war. Die Menschen haben genug Zeit zum Einkaufen; sie haben zuwenig Geld zum Einkaufen. Das haben wir alle miteinander gewußt und auch immer gesagt; das will ich jetzt nicht vertiefen. ({13}) Stichwort Gesundheitsreform - ein grandioses Programm zum Abbau von Arbeitsplätzen. Die Menschen sind bei der Bundesanstalt für Arbeit gelandet. Stichwort Schlechtwettergeld - die Abschaffung des Schlechtwettergeldes war teurer, als die vorherige Situation es war. Die Bundesanstalt für Arbeit mußte mehr und nicht weniger zahlen. Stichwort Baubranche - eine bodenständige Branche, die in einer Kombination davon lebt, daß öffentliche Haushalte ihre Aufgaben erfüllen, die davon lebt, daß die öffentliche Hand die Rechnungen bezahlt, die davon lebt, daß die Mindestlöhne, die wir vereinbart haben, auch gezahlt werden. Das alles hat mit Globalisierung nichts zu tun. Das sind hausgemachte Fehler dieser Bundesregierung. Anke Fuchs ({14}) Die belasten die Bundesanstalt für Arbeit und damit die gesamten Haushalte. ({15}) Ich verweise auf die „grandiose" Leistung, das Arbeitsförderungsgesetz so zu verändern, daß dadurch jetzt 300000 Leute mehr auf der Straße stehen. Das zeigt doch, daß Sie nicht nachdenken, daß Sie nicht in der Lage sind, die Folgen Ihrer Entscheidungen vernünftig zu durchdenken. Denn sonst würden Sie doch gar nicht auf die Idee kommen, für die Bundesanstalt für Arbeit gar keine Zuschüsse mehr vorzusehen, obwohl Sie dann am Ende des Jahres locker vom Hocker 20 Milliarden DM zuschießen müssen. Was hätten wir mit den 20 Milliarden DM tun können, wenn wir sie zu Beginn des Jahres in die berufliche Bildung, in die wirtschaftliche Entwicklung, in die soziale Sicherheit investiert hätten! ({16}) Sie haben es auch geschafft, daß der soziale Konsens beschädigt wurde. Sie haben zugelassen, daß die Spitzenfunktionäre der Unternehmensverbände den sozialen Konsens aufgekündigt und auf Konfrontation gesetzt haben. Sie haben sich von der unglaublichen Dreistigkeit des Herrn Henkel, der Schmusekurs habe Arbeitsplätze geschaffen, nicht distanziert. Nein, Sie haben die Shareholder-valueIdeologie unterstützt und die Durchökonomisierung der Gesellschaft zum Programm erhoben. Sie sind verantwortlich für die geistig-moralische Verrohung in bezug auf das Miteinander und für das Zusammenbrechen des sozialen Konsenses. ({17}) Die Steuergesetze sind so gestaltet, daß es als eine Art Monopoly-Spiel gesellschaftsfähig geworden ist, keine Steuern zu zahlen. Herr Rexrodt, die Ursache, daß der Boden für Gemeinsamkeit zerstört wurde, liegt darin, daß Sie die Kräfte nicht gebündelt haben, sondern die Spitzenfunktionäre ihre Meinung haben sagen lassen und alle anderen mit Sozialabbau belastet haben. Der Hauptgrund, warum es in den anderen Ländern besser funktioniert als bei uns, ist: Dort war das Klima für die notwendigen Veränderungen sozial ausgewogen. Sie haben das Klima mit Ihrer Akzeptanz einer einseitigen Interessenvertretung durch die Spitzenfunktionäre der unternehmerischen Wirtschaft kaputtgemacht. ({18}) Da wir auf die Niederlande schauen, erwähne ich das Beispiel der dortigen Teilzeitinitiative: Teilzeitinitiative heißt dort, sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeitsplätze zu schaffen. Das ist mit Ihnen gar nicht zu machen. Dies ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie Sie einseitig ökonomisch falsche Projekte auf den Weg bringen und sich dann wundern, wenn die Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt nicht so sind, wie Sie das wollen. ({19}) Ich habe gehofft, daß die CDU das begreift, und daran geglaubt, daß wenigstens die CDU weiß, was sozialer Zusammenhalt in unserer Gesellschaft bedeutet: daß dies ein positiver Standortfaktor ist und seine Beschädigung auch ökonomisch falsch ist. Ich habe auch angenommen, das gemeinsame Papier der Kirchen werde zum Nachdenken genutzt. Aber Machterhalt ist eben wichtiger als der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Lassen Sie mich noch auf zwei Punkte in der aktuellen Diskussion eingehen. Erstens zum Stichwort Lohnnebenkosten. Wir waren doch schon einmal sehr viel weiter, als wir in diesem Bundestag über die Frage diskutiert haben, wohin die Investitionen fließen sollen, wie die inhaltliche Ausrichtung des Fortschritts in der Zukunft aussieht. Wir alle waren der Auffassung: Die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft hat eine grandiose wirtschaftspolitische Bedeutung. Der erste Schritt dahin, so haben wir miteinander gesagt, ist die Belastung des Faktors Umwelt und die Entlastung des Faktors Arbeit. Warum um Gottes willen ist es nicht möglich, einen Einstieg in die ökologische Steuerreform zu erreichen? ({20}) Das wäre ein Weg, bei dem klar wäre, welches Ziel Innovationen und Strukturwandel haben sollen. Ich weiß, Herr Sohns war auf meiner Seite, Herr Repnik war auf meiner Seite. Sie hatten Ihre Papiere alle schon verfaßt, aber dann kamen die Interessenvertreter und sagten, sie wollten das nicht. Damit war die Sache vom Tisch. Machterhalt und einseitige Interessenvertretung sind Ihnen wichtiger. Es ist ein Jammer, meine Damen und Herren, daß wir nicht einmal diese kleine Wende, die zu vielen Verbesserungen hätte führen können, geschafft haben. Ich fordere Sie auf - wenn es denn noch Gespräche geben soll -, diese ökologische Steuerreform in einem ersten Schritt mit uns gemeinsam durchzusetzen. ({21}) Zweitens. Selbst wenn eine Innovations- und Bildungsinitiative zu mehr Arbeitsplätzen führt, bleibt die Frage, was wir mit den heute arbeitslosen Menschen machen. Herr Gerhardt hat gestern immer von Leistung geredet und davon, daß die Leute arbeiten sollen. Nicht einmal hat er einen Satz wie folgenden gesagt: Wer auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen ist, hat auch einen Anspruch auf sie. Ich sage Ihnen: Wir müssen den Arbeitsmarkt in Ordnung bringen. Darin steckt Potential für den Abbau der Arbeitslosigkeit um eine Million Menschen. Das hat nichts mit Globalisierung zu tun, sondern liegt daran, daß die Bundesregierung nicht in der Anke Fuchs ({22}) Lage ist, Veränderungen, die durchsetzbar wären, so zu gestalten, daß Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Ich nenne stichwortartig die Punkte: Vier Millionen Menschen sind auf der Basis dieser schrecklichen 610-DM-Verträge beschäftigt. Wenn wir daraus ordentliche Teilzeitarbeitsplätze machten, könnten wir einen großen Beitrag zum Abbau von Arbeitslosigkeit leisten. ({23}) Phänomene wie Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und Scheinselbständigkeit haben sich wie ein Wust entwickelt. Wenn man das ordnete, würde man dazu beitragen, daß es zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse gibt. Es würde mehr Beitragszahler geben, und wir würden diesen ganzen grauen Markt eindämmen, dem ja die moralische Kategorie zugrunde liegt: Ich mache das mal eben schwarz; es ist mir doch egal, wenn ich der Gesellschaft damit schade. - Hier Ordnung zu schaffen, hat auch damit zu tun, wie wir mit menschlichen Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt umgehen. Zusammenfassend noch einmal die Stichworte: 610-DM-Arbeitsverträge, Mindestlöhne in der Baubranche, Verbesserung der Zahlungsmoral der öffentlichen Hand, nachdrücklichere Bekämpfung der illegalen Beschäftigung. Darin läge die Chance, die Zahl der Arbeitslosen um eine Million zu reduzieren. Darin läge die Chance, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 zu halbieren. Nur in einer Bündelung all unserer Strategien, in einer Bündelung der Kräfte bekommen wir beides hin: eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung für die Zukunft, die sich auf dem globalisierten Markt durchsetzen wird - vor allem wenn der Euro kommt -, und daneben Sicherheit und Zuversicht für die Menschen, daß diejenigen, denen auf dem Weg nicht alle Chancen offenstehen, nicht allem gelassen werden. Deswegen gehören Innovation und soziale Gerechtigkeit zusammen. Sie verlassen den gemeinsamen Weg dieses sozialen Konsenses, wenn Sie so weiterwurschteln wie bisher. Es ist an der Zeit, daß es einen Neuanfang in dieser Bundesrepublik gibt. ({24})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Dankward Buwitt.

Dankward Buwitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000318, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Fuchs, es gibt sicher ziemlich viele Themen, von denen wir glauben, daß wir zu einer gemeinsamen Linie kommen könnten. Aber ich sage gleich dazu: Es ist doch eigentlich nicht richtig, daß man sich, wenn man auf der einen Seite die Zustände in der Steuerpolitik beklagt, auf der anderen Seite der Veränderung verweigert. Sie reden in erster Linie von Beschäftigung. Was wir wollen, ist mehr Arbeit und damit mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Ich denke, daß gerade bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit eine hohe Verantwortung bei den Bundesländern liegt. Die Steuerreform könnte einen wesentlichen Beitrag zum Abbau der Schwarzarbeit leisten. ({0}) Die Diskussionen der vergangenen Tage werfen bei mir die Frage auf, ob wir wirklich glauben, daß wir uns bei den Bürgern noch verständlich machen können. Wir streiten angesichts von 6 Millionen Menschen, die arbeitslos oder in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind und die auf eine neue Chance für sich warten, darüber, was der eine oder der andere verhindert. Wir streiten uns über Machterhalt oder Machtstreben und darüber, ob etwas zu verhindern schon eine Blockade ist. Die Diskussionen erinnern mich fatal an die Themen der letzten Jahre, bei denen die SPD systematisch verhindert hat, notwendige Dinge zum Wohle unserer Bürger umzusetzen. ({1}) - Ich denke, das hat damit zu tun, Frau Hermenau. Ich komme schon noch dazu, und Sie werden das dann auch erkennen. Durch die Tatenlosigkeit beim Asylrecht sind Hunderttausende von Wirtschaftsasylanten nach Deutschland gekommen und haben die öffentlichen Kassen und den Arbeitsmarkt - natürlich nur den illegalen - stark und zusätzlich belastet. Herr Glos hat gestern darauf hingewiesen, daß die SPD den Veränderungen erst zugestimmt hat, als der Druck von außen zu groß geworden war. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen der letzten Tage, bis Sie sich endlich entschlossen haben, unseren Vorstellungen zur Verbrechensbekämpfung Ihre Zustimmung zu geben. Wollen Sie denn den Bürgern zumuten, daß der Schaden von Woche zu Woche größer wird, wenn Sie sich weiterhin der Mitarbeit und der Zustimmung bei den Veränderungen der Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze verweigern? Ziel unserer Politik muß es sein, durch Haushaltsdisziplin der öffentlichen Hände und durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Investitionen unseren Beitrag zu leisten, damit mehr Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden können. Es kann uns doch nicht egal sein, daß die großen deutschen Unternehmen zwar immer mehr Menschen beschäftigen, allerdings immer weniger in Deutschland, und daß ausländische Investoren einen großen Bogen um Deutschland, den zentral gelegenen Standort mit dem größten Markt in Mitteleuropa, einer hervorragenden Infrastruktur und einer gut ausgebildeten Arbeitnehmerschaft - um nur einige Fakten zu nennen -, machen. Es kann doch keiner glauben, daß dies allein durch die Absenkung des unteren Steuersatzes oder durch die Verschiebung von Lohnnebenkosten zu ändern ist. Meine Damen und Herren, das glaubt ja auch niemand. Man muß nicht die neutralen Gremien wie den IWF bemühen, auch viele namhafte Personen aus der SPD haben den von uns vorgelegten Entwurf zur Steuerreform als den richtigen Ansatz gesehen. Herr Gerhardt hat gestern viele Zitate gebracht. So war es bis vor kurzem, bis Sie auf eine Politik eingeschworen wurden, die seit Jahren im Saarland praktiziert wird und die diese Region an den Bettelstab gebracht hat und zum Kostgänger des Bundes werden ließ. ({2}) - Ich war schon öfter dort. Der Bund, der gerade aus dieser Ecke am meisten beschimpft wird - wir haben das gestern wieder erlebt -, ist aber zum Zahlen immer noch gut genug, egal ob es um Sonderzuweisungen des Bundes oder um Geld für Kohle geht, Riesenaufwendungen für die Knappschaft und vieles andere mehr. ({3}) - Im Gegensatz zur Kohle ist die Berlin-Förderung abgebaut worden. Das scheint an Ihnen vorbeigegangen zu sein, Herr Fischer. ({4}) Das Saarland entwickelt sich immer noch schlechter als viele andere Regionen. Hören Sie sich doch einmal an, was die IHK in ihrem Jahresbericht 1995 dazu sagt. ({5}) - Die des Saarlandes. In den 60er und 70er Jahren zählte das Saarland zu den deutschen Regionen mit den größten Erfolgen in der Industrieansiedlung. Insgesamt konnten 200 Betriebe angesiedelt werden, die heute rund 50 000 Menschen beschäftigen. Seit zehn oder zwölf Jahren gibt es den Ausgleich für die Arbeitsplatzverluste im Montanbereich kaum noch. Den Trend umzukehren, die Konjunkturbelebung für mehr Arbeitsplätze zu nutzen geht uns alle an. Wir alle haben dazu unseren Beitrag zu leisten. Das im Haushalt 1998 .vorgesehene Ausgabenvolumen von 461 Milliarden DM stellt mit einer nominalen Steigerung von 0,5 Prozent real eine Rückführung der Bundesausgaben gegenüber 1997 dar. Der Haushalt erfüllt damit das, was er von anderen fordert, nämlich Ausgabendisziplin und Einschränkungen im öffentlichen Bereich. Dies ist eine der Voraussetzungen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu ertüchtigen. Die zweite Voraussetzung sind die Rahmenbedingungen, in denen die Wirtschaft tätig werden kann. Die Koalition hat hier gemeinsam mit der Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, die eine verläßliche Entlastungsperspektive und günstige Rahmenbedingungen schaffen. ({6}) Im Rahmen des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung sind zum Beispiel - das ist schon angeführt worden - Veränderungen beim Kündigungsschutz vorgenommen worden, das Arbeitsrecht und die Ladenschlußzeiten wurden flexibilisiert, die unternehmerische Selbständigkeit gefördert, die Vermögensteuer abgeschafft, und in diesen Tagen wurde die Streichung der Gewerbekapitalsteuer endgültig abgesichert, um nur wenige Beispiele zu nennen. ({7}) Ich denke, es kann nicht richtig sein, daß man immer fragt, was denn gemacht worden ist, was es denn gebracht hat, wenn man sich den entscheidenden Veränderungen selber verweigert hat. ({8}) Der IWF prognostiziert für das Jahr 1998 ein reales Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent, für das Jahr 1997 immerhin noch 2,3 Prozent. ({9}) In dem 50-Punkte-Programm der Bundesregierung, dem Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze, sieht der IWF ausdrücklich den richtigen Ansatz, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Er empfiehlt, den eingeschlagenen Weg entschieden fortzusetzen. Offen sind die Fragen - an deren Beantwortung müssen Sie sich einfach beteiligen - einer Absenkung der Lohnnebenkosten sowie der Gestaltung der steuerlichen Rahmenbedingungen, bestehend aus geringerer Steuerbelastung, Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und damit verbundener erheblicher Reduzierung der Steuerverkürzung und einer Vereinfachung des Steuersystems. Letztendlich bleiben noch die offenen Fragen bei der Sicherung der Altersversorgung. Hier müssen wir im Interesse der Bürger schnellstens zu tragfähigen Lösungen kommen. ({10}) Lassen Sie mich zu einigen Einzelheiten des Einzelplans 09, die neu oder besonders gravierend sind, kommen. Generell ist zu sagen - der Wirtschaftsminister hat es ausgeführt -, daß zwar im Sinne der strikten Ausgabendisziplin der Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft einen wesentlichen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet. Aber man muß sehen: Damit ist der Rahmen natürlich eng, und viele Wünsche sind nicht mehr erfüllbar. Von den Einsparungen, die vorgenommen werden müssen, sind alle Bereiche betroffen: von der Kohle über die Werften bis hin zur Regional- und Mittelstandsförderung. Nehmen wir zuerst die Steinkohlenförderung. Die Ausgaben für den Steinkohlenbergbau sinken von 9,071 Milliarden DM - das ist das Soll 1997 - um 335 Millionen DM. Da braucht man über Berlin gar nicht zu reden. Ursache hierfür ist die Rückführung der Absatz- und Stillegungshilfen im Steinkohlenbergbau. Minister Rexrodt hat darauf hingewiesen, daß die Kohlehilfe allein 54,2 Prozent seines gesamten Haushaltes ausmache. Ich bin der Meinung, daß die Hilfen für die Steinkohlenförderung, wie dies im Frühjahr vereinbart worden ist, weiter zurückgeführt werden müssen. ({11}) Wir dürfen nicht länger unrentable Arbeitsplätze in dieser Größenordnung finanzieren. Arbeitsplätze im Kohlebergbau dürfen nicht völlig anders bewertet werden als Arbeitsplätze in anderen Branchen. ({12}) Das grundsätzliche Regulativ muß die Marktwirtschaft sein, wenn auch sozial abgefedert. Wir müssen weg von staatlichen Subventionen, damit die Gelder in anderen Bereichen sinnvoller eingesetzt werden können. ({13}) Der Minister hat darauf hingewiesen, daß neu in seinem Haushalt die Veranschlagung der Mittel für die Übernahme ministerieller Aufgaben aus dem Bereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation ist, das zum Ende dieses Jahres aufgelöst werden soll. Die sich aus dem Gesetz ergebenden Aufgaben werden dann von einer neuen Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post wahrgenommen. Im Entwurf des Haushalts 1998 sind für diese Regulierungsbehörde und die Übernahme ministerieller Aufgaben aus dem Bereich des BMPT Gesamtausgaben von 365 Millionen DM veranschlagt. Diese hohen Anfangskosten - auch hierauf hat Minister Rexrodt hingewiesen - sind natürlich ebenfalls Ausdruck dessen, was alles übernommen werden muß. Aber sie bedürfen einer schnellen Korrektur. Hierzu laufen bereits die Ausschreibungen für die Organisationsgutachten. Die Ergebnisse der entsprechenden Consultingfirmen zur Optimierung und zum Abbauvolumen bei der Regulierungsbehörde müssen schnellstens berücksichtigt werden. Das Parlament muß umfassend und laufend darüber informiert werden. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Globalisierung der Märkte wird die Aufgabe der Regulierungsbehörde die Sicherung des chancengleichen Wettbewerbs sein. Sie wird dazu beitragen, transparente und unabhängige Entscheidungen zu sichern. Ein besonderer Schwerpunkt im neuen Haushalt bleibt nach wie vor die Investitionsförderung. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" sind für 1998 Barmittel für die GA West und GA Ost von insgesamt 2,9 Milliarden DM vorgesehen. Hier gibt es durch die Förderzusagen der vergangenen Zeit ein Problem, das wir im Zuge der Haushaltsberatungen noch lösen müssen. Wir sind uns aber darüber einig, daß die Regionalförderung Gemeinschaftsaufgabe Ost auf hohem Niveau fortgesetzt werden muß. Für einen selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung ist die Verbesserung der Infrastruktur von grundlegender Bedeutung. ({14}) Dafür setzen wir uns auch in wirtschaftlich und haushaltspolitisch schwieriger Zeit weiterhin ein. Lassen Sie mich ein Wort zum Mittelstand sagen. Eine der drängenden Fragen sind die Ausbildungsplätze. Dieses Problem stellt sich überall, aber mit besonderer Schärfe in den neuen Bundesländern. Neu im Einzelplan 09 ist die Veranschlagung von Mitteln für das Sonderprogramm 1997 zur Schaffung neuer Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern von rund 44 Millionen DM. Wir hoffen, daß dies - gemeinsam mit den Beiträgen der Länder - ein Beitrag dazu sein kann, jedem einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen. ({15}) Für die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen sieht der Haushalt 1998 1,95 Milliarden DM vor. Die geringfügige Absenkung ist insbesondere auf die Ausfinanzierung des Eigenkapitalhilfeprogramms zurückzuführen. Seit diesem Jahr werden - Sie wissen das - Neuzusagen aus dem ERP-Sondervermögen finanziert. Durch diese Übernahme in das ERP-Sondervermögen kann das Eigenkapitalhilfeprogramm in der bisherigen Höhe von 2 Milliarden DM pro Jahr fortgeführt und langfristig gesichert werden. Gerade mit dem Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze sowie dem Bündnis für mehr Arbeit zwischen Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften hat die Bundesregierung einen wichtigen Anstoß gegeben. Jeder der drei Bündnispartner hat erklärt, in seinem Bereich seiner Verantwortung gerecht zu werden und sich für mehr Arbeitsplätze in Deutschland einzusetzen. Zur weiteren Verbesserung der Rahmenbedingungen ist auch die Tarifpolitik gefordert. Die Lohnentwicklung muß sich an der Leistungskraft der Unternehmen orientieren. Das heißt, beschäftigungsgefährdende Kostenimpulse müssen vermieden werden. Ein weiteres Problem sind die 1,8 Milliarden Überstunden pro Jahr in Deutschland. Bei verbesserter Konjunktur wird diese Zahl eher noch ansteigen. Dies ist bei einer hohen Arbeitslosigkeit auf Dauer nicht hinzunehmen. Es muß möglich sein, daß ein Teil in neue Arbeitsplätze umgewandelt wird. ({16}) - Das ist keine Aufgabe, die wir allein zu lösen haben. ({17}) - Meine Redezeit ist gleich zu Ende. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dann machen Sie das bitte. Dann hätte ich die Zeit, dies weiter auszuführen. Ich möchte noch die Bekämpfung der Schwarzarbeit ansprechen. Ich denke, dies kann wesentlich dazu beitragen, Menschen in Arbeit zu bringen. Aber dazu dient vor allem auch die Umsetzung der Steuerreform, um die unteren Einkommensschichten steuerlich zu entlasten und es Menschen zu erleichtern, in eine versteuerte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung einzutreten. Dann würde die finanzielle Differenz zwischen den Nichtarbeitenden, die Sozialhilfe oder Arbeitslosenunterstützung beziehen, und denjenigen, die arbeiten, größer, ohne daß dem einen etwas weggenommen und dem anderen etwas gegeben wird. Damit würde es interessanter werden, in ein Arbeitsverhältnis mit daraus folgender Steuerpflicht einzutreten. ({18}) Lassen Sie mich zum Schluß bemerken: Die Stabilität der öffentlichen Einnahmen, die Rückführung der Staatsverschuldung und eine weitere Senkung der Abgabenquote sind zwingend notwendig. Nur so können wir die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen und damit die künftige Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Deutschland sichern. Neue Arbeitsplätze entstehen nur dort, wo günstige Rahmenbedingungen für Investitionen vorgefunden werden. Nur wer international wettbewerbsfähig ist, kann Arbeitsplätze und Wohlstand sichern. Wir sollten unseren Beitrag dazu leisten. Recht herzlichen Dank. ({19})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Rexrodt, man könnte fast Mitleid mit Ihnen haben: Da sind Sie geknebelt durch einen Haushalt, an dem Sie nichts mehr rühren, regeln oder verändern können, und müssen sich völlig handlungsunfähig hierherstellen und erzählen, wie Sie darunter leiden, daß Ihnen dieser Haushalt zugemutet wird. Aber Sie erklären mir als Haushaltsberichterstatterin munter, heiter und voller Stolz, daß Sie es endlich geschafft haben, für das Aktionsprogramm Lehrstellen Ost 1997 in den Einzelplan 09 einen Titel mit identischer Zweckbestimmung wie bei dem von Herrn Rüttgers im Einzelplan 30 eingestellt zu haben. Das erläutern Sie mir voller Stolz. Ich gehe davon aus, daß Sie dann an die Lehrlinge Buttons verteilen werden. Auf den Buttons der einen Sorte wird stehen: „Liebe Leute, Lehrstellen gesponsert von der CDU. Wählt Rüttgers!" Auf dem anderen wird stehen: „Liebe Leute, Lehrstellen gesponsert von der F.D.P. Wählt Rexrodt!" Es ist eigentlich wie im Buddelkasten: Der eine möchte das haben, was der andere auch hat. Sie machen dieselben Aktionen in zwei Ministerien mit zwei verschiedenen Etats, weil in dieser Koalition keiner dem anderen über den Weg traut. ({0}) Sie versuchen damit, auf eine - wie ich finde - ausgesprochen dümmliche Weise zu verhehlen, daß Ihr Ministerium, Herr Rexrodt, zunehmend einen Bedeutungsverlust erleidet. Sie führen im Prinzip nur noch ein Subventionsdurchreichungsministerium, das in dieser Republik einen Branchensozialismus - wie ich das immer nenne - fördert und unterstützt, ohne wirklich auf Handlungsspielräume in der Wirtschaftsförderung einzugehen. Dann stellen Sie sich hierher und sagen, Ihnen seien die Hände gebunden, Sie könnten nichts ändern. Sie hatten sieben Jahre Zeit, um in den fünf neuen Bundesländern zu sehen, wie man es anders machen kann. Dort waren wir gezwungen, anders zu handeln. Wir haben dort eine andere Industriestruktur. Es gibt dort keine Großunternehmen in der Form mehr, wie Sie sie hier haben. Wir haben schon veränderte Unternehmens- und Betriebsgrößen. Wir richten uns darauf ein, regionaler zu wirtschaften, weil die Globalisierung sowieso zunächst einmal von den größeren Unternehmen in Anspruch genommen werden wird. Darauf gehen Sie aber nicht ein. Sie haben überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, daß nach der Wende die Chance bestand, Ihre Wirtschaftsstruktur zu modernisieren. Sie haben dies unterlassen, weil Sie Angst vor dem Streit mit Ihrer eigenen Bevölkerung hatten. ({1}) Statt dessen blähen Sie das inzwischen fast bedeutungslos gewordene Wirtschaftsministerium noch dadurch auf, daß Sie die Postregulierungsbehörde mit hineingenommen haben. Dies ist eine Personalaufblähung, was Sie selbst auch zugegeben haben. Bis zum Juni, also bis zur Sommerpause, hatten Sie Unternehmensberater im Haus. Ich habe das sehr wohlwollend verfolgt. Ich habe mich gefreut: Der schlanke Staat sollte im Wirtschaftsministerium vorexerziert werden. Sie wollten Unterabteilungen auflösen. Es sind sehr vernünftige Handlungen vorgeschlagen worden. Blubb, bekommen Sie die Regulierungsbehörde mit hinein, und Ihre ganzen Anstrengungen waren umsonst. Sie erzählen mir, daß Sie jetzt erst einmal ein Organisationskonzept für die Regulierungsbehörde machen müssen, wozu Sie eine ganz neue Abteilung in Ihrem Ministerium brauchen, weil Sie „völlig überraschend" zu dieser RegulierungsbeAntje Hermenau hörde gekommen sind. Das konnten Sie im Juni dieses Jahres ja noch nicht wissen. Herr Rexrodt, Sie gehören für mich zu den Ministern, die auf gefährliche Art und Weise mit dem Vertrauen in den Staat spielen. Sie sind einer von den Ministern, die mit der Verläßlichkeit der Politik spielen. Sie gehören zu den Ministern, deren Ministerium schleichende Zahlungsunfähigkeit zugeben muß. Die Außenhandelskammern beschweren sich, daß es nicht möglich ist, das im Sommer auf Ihre Versprechungen von Zuwendungen hin eingestellte Personal zu halten, weil Sie nicht in der Lage sind, diese Zuwendungen zu geben. Wenn es eine effektive Institution gibt, dann ist das die Institution der Außenhandelskammern, die nur 25 Prozent Bundeszuschuß braucht - und damit weniger als die meisten anderen Zuwendungsempfänger. Um so schwieriger ist es für mich, nachzuvollziehen, daß wir uns im Ausland so darstellen und den Eindruck hinterlassen, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht pünktlich zahlt. Was für ein Bild geben wir denn dort ab? ({2}) Dasselbe stellt sich auch im Inland heraus. Die Investitionstätigkeit ist sehr gering; das wissen Sie selbst. Das hat auch damit zu tun, daß man nicht weiß, in welcher Form denn jetzt die Steuerreform kommt. Man ist sich auch hinsichtlich der Rahmenbedingungen des Euros nicht sicher. Also hält man sein Geld privat und geschäftlich zurück. Das ist ja einigermaßen logisch. Sie können dann aber nicht von einer Konjunkturerholung sprechen und suggerieren, daß sich die Beschäftigungslage verbessern werde. Sie wissen ganz genau, daß diese Konjunkturerholung vor allen Dingen auf der Exportwirtschaft beruht. Das ist aber nicht beschäftigungswirksam, zumal wir uns nicht mehr in den klassischen Zyklen befinden, wonach bei einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im Bereich von 2,5 Prozent automatisch Beschäftigungseffekte einsetzen. Das wissen Sie so gut wie ich. Es finden zwar starke strukturelle Veränderungen in den Unternehmen statt. Aber ich halte es für gefährlich, jetzt zu suggerieren, daß die Arbeitslosenzahlen ganz von selbst sinken werden. Ich glaube, daß das ein Trugschluß ist. Sie untergraben damit weiterhin `das Vertrauen der Menschen in diesen Staat. Das Vertrauen in die Regierung ist ohnehin schon untergraben; das halte ich nicht für weiter untergrabbar. ({3}) Die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland sind auf einem noch nie dagewesenen Tiefstand. Das stellt sozusagen eine historische „Bestleistung" der Wirtschaftsförderung in der Bundesrepublik Deutschland dar. Wir haben eine Reihe von Vorschlägen gemacht; Sie haben sie ja eingeklagt. Ich bin Ihnen gerne dabei behilflich, einmal ein paar Gedanken zu erwägen. Sie können sie ja dann mit ihren Beamten besprechen. Vielleicht fällt Ihnen dazu auch einmal selbst etwas ein. ({4}) - Man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Wir haben zum Beispiel erst gestern einen Vorschlag zur Änderung der Handwerksordnung eingebracht, weil wir der Meinung sind, daß wir in diesem Bereich dringend alte Zöpfe vergangener Jahrhunderte abschneiden müssen, so etwa im Bereich des Zunftdenkens. Die Gesellen sollen nach drei Jahren ununterbrochener Tätigkeit die Möglichkeit haben, sich in die Handwerksrolle einzutragen und eigene Betriebe zu gründen. Dabei kann man einige Handwerker ausnehmen, zum Beispiel die Installateure auf Grund der Gefahrengeneigtheit ihrer Arbeit. Im Prinzip ist das durchaus möglich. Nach zweijähriger erfolgreicher Arbeit soll es möglich sein, daß Gesellen auch ohne Meisterbrief Lehrlinge ausbilden. Das wäre ein Beitrag, um mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze zu schaffen. Diesen Vorschlag haben wir gemacht. ({5}) Als nächstes haben wir einen Vorschlag gemacht - die Berufsbildung spielt ja diese Woche eine große Rolle -, wie man im Prinzip dazu beitragen kann, die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft zu fördern. Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der vor allen Dingen darauf abzielt, einen Ausgleich zwischen kapital- und arbeitsplatzintensiven Branchen herzustellen. Wir beziehen unsere Umlage auf den Umsatz und nicht auf die Bruttolohnsumme und entlasten damit den Faktor Arbeit. Das sind zukunftsweisende Vorschläge.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Hermenau, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber sicher.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hermenau, würden Sie mir bitte erklären, warum sich die Grünen aus den verbindlichen Gesprächen innerhalb der verschiedenen Parteien und Fraktionen, in denen es speziell um die Neufassung der Anlage A der Handwerksordnung ging, ausgeklinkt haben? Ist das vielleicht so zu erklären, daß man seitens der Grünen dem Handwerk überhaupt keine Bedeutung beimißt? ({0})

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damit haben Sie eine Vermutung ausgesprochen, die absolut nicht zutrifft; das wissen Sie auch. Aber vielleicht haben wir festgestellt, daß Gespräche mit Ihnen immer nur Gesprächsrunden sind, die oft nicht zu Ergebnissen führen. Soviel Zeit können wir uns dafür einfach nicht nehmen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage? - Bitte. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heißt das, daß Sie auch bei den noch folgenden Gesprächen nicht dabeisein und immer durch Abwesenheit glänzen werden, was speziell vom Handwerk so gedeutet wird, daß man zu faul sei, eine solche Arbeit zu leisten?

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist wiederum Ihre Interpretation. Sie wissen, daß das Handwerk die Arbeit der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu schätzen weiß. ({0}) Ich komme auf unseren Gesetzentwurf zur Umlagefinanzierung zurück. Wenn es uns gelingt, die kapitalintensiven Branchen, die zum großen Teil neuere Branchen sind, mit in die Berufsbildung einzubeziehen, retten wir das duale System, und es gelingt uns, den Strukturwandel entscheidend zu beeinflussen und zu fördern. Das halte ich für eine ganz wichtige Handlungsweise, die wir an den Tag legen müssen, um die Zukunft für uns zu erobern. Herr Wirtschaftsminister, wir haben Ihnen auch Vorschläge dazu gemacht, wie man die fatale Abhängigkeit der Unternehmer vom Verhalten der Banken einschränken kann. Denn das Verhalten der Banken führt dazu, daß unternehmerische Kreativität blokkiert wird. Ich halte auch das für falsch. Das ist eine Innovationsblockade, die dadurch entsteht, daß Banken und Unternehmer unterschiedlich gelagerte Interessen haben. Weil Sie in der Regierung so stolz auf Ihr Programm zur Berufsbildung sind, habe ich noch einmal nachgelesen: Seit sieben Jahren kommt jedes Jahr bzw. alle zwei Jahre ein neues Sofortprogramm der Bundesregierung zur Lehrstellensituation, die immer erst in dem jeweiligen Jahr auf einmal ganz dramatisch ist. Die Kompetenz für die Vorlage dieses Programms war zunächst bei Herrn Blüm angesiedelt. Dann ist sie zu Herrn Rüttgers abgewandert. Danach haben sich Rexrodt und Rüttgers um die Zuständigkeit gekloppt, damit sie beide in entsprechenden Debatten erscheinen können. So entsteht der Eindruck, als handelten sie. Aber das tun sie überhaupt nicht. Sie handeln gar nicht. ({1}) Sie müßten eigentlich mittelfristige Lösungen anstreben. Sie hätten die Möglichkeit dazu gehabt. Sie sind lange genug an der Regierung, um langfristige Veränderungen in Ihrem Haushalt vorzunehmen. Statt dessen ist es beim Durchreichen der Subventionen geblieben. Es wird von einer neuen Gründerzeit gesprochen. Vergleichen wir einmal die Situation mit der früheren Gründerzeit, auf die Sie sich wahrscheinlich gedanklich beziehen. Damals wurde eine neue Infrastruktur aufgebaut; das war die Eisenbahn. Heute könnte vielleicht Telekommunikation oder Informatik dafür stehen; das muß man noch herausfinden. Es ist vielleicht tatsächlich so, daß wir jetzt in ein neues technisches Zeitalter eintreten. Damals fanden Investitionen in Wissenschaft und in Bildung statt. Das vermisse ich allerdings heute, obwohl es immer mehr Stimmen gibt, die der Meinung sind, daß wir das ändern müssen. Damals gab es einen sehr lebendigen Kapitalmarkt, der das Risiko nicht scheute. Davon kann man heute in Deutschland nichts erkennen; ich finde, das ist einer der dringendsten Punkte, bei denen wir anfangen müssen. Damals gab es große Technikbegeisterung, starke Willenskraft und Stehvermögen bei den jungen Unternehmern. Dieser Unternehmergeist scheint auch heute noch zu existieren; sonst gäbe es keine Gewerbeanmeldungen. Aber er scheint mir nicht mehr so verbreitet zu sein, weil es offensichtlich viel angenehmer und leichter ist, sich gut bezahlte Jobs im mittleren Management oder im öffentlichen Dienst zu suchen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich durch die Verschlankung des Staates und die Globalisierung der Unternehmen wirklich etwas ändern wird. Ich frage mich, ob nicht genug lukrative Jobs erhalten bleiben, die die Leute davon abhalten, sich selbständig zu machen. Ich denke, daß das bestehende Insolvenzrecht in Deutschland ein massives Hemmnis ist. Denn wenn man einmal eine Niederlage mit einer Unternehmung erlitten hat, ist man in Deutschland im Prinzip „gestorben" und wird nicht ermutigt, aus seinen Fehlern zu lernen. Das halte ich für fatal. ({2}) Herr Wirtschaftsminister, Sie haben gesagt, der Osten Deutschlands liege Ihnen besonders am Herzen. Es gibt - da sind wir übrigens gar nicht so weit auseinander - Diskussionen darüber, endlich zu einer Basisförderung überzugehen und nicht mehr zu versuchen, auf einzelne kleine Probleme und Symptome hin zu fördern, sondern den noch bestehenden infrastrukturellen Nachteil auszugleichen. Das halte ich im Prinzip für richtig. Es gibt auch andere Instrumente, um gezielt bestimmte Wirkungen zu erreichen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie endlich das Instrument Ökosteuer zur Anwendung brächten; das würde enorm viel bringen. Im Bereich Umwelttechnologie haben wir große innovative Möglichkeiten, gerade im Osten. Wir könnten vielleicht das nachholen, was Sie hier versäumt haben, zum Beispiel die Entwicklung der Photovoltaik zur Massenproduktionsreife. Das würde, glaube ich, im Osten eine Reihe von Leuten sehr interessieren. Sie haben uns sowieso in die Nischen abgedrängt. Sie haben uns die klassischen Industriegüter nicht zugestanden, weil Sie diese Märkte nicht hergeben wollten. Dann lassen Sie uns aber diese Nischen wirklich ausfüllen und ausnutzen! Dann erlauben Sie uns wirklich, diese Spitzentechnologien innovativ herzustellen! Das muß natürlich erst einmal gefördert werden, bis es sich selber trägt. Was wäre jetzt eigentlich wirtschaftspolitisch angesagt, zumindest für die fünf neuen Länder, aber auch, wie ich es einschätze, immer mehr für das Altbundesgebiet? Angesagt wäre eigentlich, daß wir wie verrückt klotzen. Alle Regionen in Europa scharren mit den Füßen, weil sie in den nächsten Jahren ihre Startpositionen einnehmen müssen. Es geht darum, den potentiellen Investoren klarzumachen, wo eigentlich das günstigste Investitionsklima ist und die besten Investitionsvoraussetzungen herrschen. Auch in Deutschland müßte eine solche Aufbruchstimmung erzeugt werden. Statt dessen schlagen Sie sich innerhalb ihrer Regierung untereinander die Köpfe über den Euro ein und suggerieren, das sei eine ganz gefährliche Angelegenheit. Keiner traut sich mehr, von Chancen zu sprechen. Ich finde das fatal. So zieht man keine Gründergenerationen heran und bekommt keinen Gründergeist. So erzeugt man nur eine diffuse Angst vor der Zukunft. ({3}) - Zur Meinung der Grünen zum Euro sage ich: Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die einzige Fraktion in diesem Haus, die wirklich unverbrüchlich hinter einer fristgerechten und ordentlichen Einführung des Euros steht. ({4}) - Das sagen eigentlich alle in unserer Fraktion. ({5}) - Sind Sie mit dem Begriff der Individualität nicht vertraut, Herr Westerwelle? Wir gestehen den Menschen ihre individuelle Meinung zu. Das ist ihr gutes Recht. Herr Schulz hat immer gesagt, daß seine Äußerungen zum Euro seine individuelle Meinung darstellten. Insofern müßten Sie wissen, was das bedeutet. Wir müßten jetzt also eigentlich klotzen: Europa 2000 - etwas in der Art. Aber das ist in den Regionen leider nicht zu spüren. Es wird überall, zum Beispiel bei Infrastrukturmaßnahmen, ein bißchen abgeknapst. Die Leute haben nicht das Gefühl, daß es jetzt wirklich um die Wurst geht. Aber das müßten wir alle miteinander deutlich sagen: Leute, es geht jetzt wirklich um die Wurst. Wir müssen jetzt wirklich in die Puschen kommen. - Aber genau das wird nicht suggeriert. Man tut so, als könne man das Schiff ohne große Mühe umsteuern. Das halte ich wirklich für falsch. Ich glaube, daß wir uns selber keinen Gefallen tun, wenn wir der Bevölkerung nicht klaren Wein einschenken und das Ganze nicht mit Zuversicht und Mut angehen. Denn der zivilisatorische Prozeß in Europa ist in den letzten Jahrhunderten nicht fatal verlaufen. Ich bedanke mich. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Margareta Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Hinsken! Sehr geehrte Frau Hermenau! Ich möchte mich auf das beziehen, was Herr Hinsken gesagt hat, ob es sein könne, daß die Grünen aus der interfraktionellen Arbeitsgruppe wegen Faulheit ausgetreten sind. Herr Kollege Hinsken, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß der Minister vorhin in seinem bahnbrechenden Beitrag darauf hingewiesen hat, daß es einen erheblichen Deregulierungsbedarf in Deutschland gebe und daß man alles dafür tue, die Deregulierung tatsächlich voranzutreiben. Herr Kollege Hinsken, ich denke, daß Sie in der Arbeitsgruppe, die seit nunmehr über einem Jahr existiert, die Möglichkeit gehabt hätten, im Gewerberecht zu deregulieren. Ihnen ist vielleicht nicht entgangen, daß wir in Deutschland das strengste und überregulierendste Gewerberecht im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern haben. Wir werden nur noch gefolgt von Luxemburg. Österreich, von dem man weiß, daß es vorher gewerberechtlich ähnlich wie wir strukturiert war, hat begonnen, mit der Perspektive zu deregulieren, 50 000 neue Existenzgründungen im nächsten Jahr zu erreichen. Sie reden immer davon, daß Sie eine Existenzgründungswelle auslösen wollen. Aber ich sehe in dem, was Sie tatsächlich tun, überhaupt keine Ansätze dafür. Ich bin aus der interfraktionellen Arbeitsgruppe, die übrigens erst seit Ende Mai tagt, mit der Begründung ausgestiegen, daß Ihr Vorhaben, Novellierung der Handwerksrolle, viel zuwenig zur Deregulierung führt. Reden Sie doch einmal mit Angehörigen der neuen Berufe, die nach den Worten Ihres Ministers und von uns allen die Zukunftsberufe, zum Beispiel im Bereich neue Medien, sein sollen! Reden Sie doch einmal mit Angehörigen der Bereiche, die bei Siemens/Nixdorf outgesourcet werden! Sie müssen jetzt eine Meisterprüfung machen, um eine Existenzgründung vorzunehmen. Reden Sie doch einmal mit Angehörigen der neuen Druckereiberufe! Sie behindern mit dieser Art der Novellierung der Handwerksrolle, Anlage A, den Weg zu mehr Existenzgründungen. Margareta Wolf ({0}) Ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Wir alle wollen - ich dachte immer, daß wir das wollten - ein wirtschaftlich starkes Europa. Die Voraussetzung für eine konzertierte, ökonomische Schlagkraft in Europa liegt tatsächlich darin, daß wir sukzessive harmonisieren und nicht immer den Sonderstatus der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen. Von daher setzen wir auf Deregulierung in der Handwerksrolle. Wir sagen, man muß unterscheiden zwischen gefahrengeneigten und nicht gefahrengeneigten Berufen. Sie werden sich mit unserem Gesetzentwurf noch auseinandersetzen dürfen. Danke. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Hinsken, jetzt ist der nächste Redner an der Reihe. Sie haben nachher in Ihrer eigenen Rede noch Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. ({0}) - Dann nehmen Sie jetzt nur zu dem Punkt, den Frau Wolf angesprochen hat, kurz Stellung.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, selbstverständlich. Ich möchte hier nur ganz kurz antworten. Denn das, was Frau Kollegin Wolf hier von sich gegeben hat, entspricht einfach nicht der Wahrheit. Deshalb bedarf es einer Richtigstellung. Frau Kollegin Wolf, die Verbesserung der Handwerksnovelle durch die angesprochene Anlage A ist darauf ausgerichtet, das Handwerk weit über das Jahr 2000 hinaus fit zu machen und dem Handwerk im gemeinsamen Europa mit offenen Grenzen eine Perspektive zu geben. Deshalb lassen wir uns von dem Gedanken tragen, daß die Deregulierung das Gebot der Stunde ist. Deshalb wollen wir darauf hinarbeiten, daß von den 127 Handwerksberufen gegebenenfalls nur noch zwei Drittel übrigbleiben, um mehr Leistungen aus einer Hand erbringen zu können. Deshalb haben wir gerade in den letzten Tagen und Wochen insbesondere mit den Elektrikern, den Druckern, Mediengestaltern und anderen Berufen einige Anhörungen durchgeführt, um in Erfahrung zu bringen, wo der Schuh drückt und wo man Berufe zusammenfassen kann. Leider waren Sie dort nicht zur Stelle. Sie haben sich ausgeklinkt. Sie sind Ihrer Aufgabe als Parlamentarierin in dieser interfraktionellen Arbeitsgruppe nicht nachgekommen. Darauf möchte ich hinweisen. Das ist zum Schaden des Handwerks. Man kann nicht auf der einen Seite hier kritisieren und auf der anderen Seite nicht bereit sein, dort mitzugestalten, wo eine Möglichkeit dazu gegeben ist. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner in der Debatte Dr. Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Zu dieser kurzen Debatte soeben ein kurzer Beitrag von mir: Ich rate zur Vorsicht bei neuen Berufsbildern in der Handwerksordnung. Ich rate aber ebenso zur Vorsicht, den großen Befähigungsnachweis und die Meisterprüfung, obwohl das eine Berufszugangsbeschränkung ist, abschaffen zu wollen, weil das duale Ausbildungssystem ein Wert an sich ist. ({0}) Frau Wolf, das kann man nicht damit kritisieren, daß es so etwas in anderen europäischen Ländern nicht gebe. Dort gibt es eben auch nicht die duale Ausbildung, die wirklich ein Vorzug des deutschen berufsbildenden Systems ist. ({1}) Ich habe mich gewundert, daß Frau Hermenau nicht die Industriemeister aus ihrer Region und deren spezielle Interessen erwähnt hat. Diese sollten wir allerdings berücksichtigen und ihnen eine Lehrlingsausbildung ermöglichen - wenigstens denjenigen, die schon vor der Wende Industriemeister gewesen sind. ({2}) Noch ein paar kurze Bemerkungen zu dem, was hier vorgetragen wurde. Man kann nun beim besten Willen den Bundeswirtschaftsminister und den Haushalt des Ministeriums nicht dafür kritisieren, daß zuviel Subventionen durch dieses Ministerium verteilt werden, und gleichzeitig nach mehr Subventionen in einzelnen Etatposten rufen. Eines geht nur. Mir sind einige der Subventionen wahrlich zuviel, insbesondere - Herr Buwitt hat recht - im Kohlebereich. ({3}) Aber die Diskussion darüber und die Kritik daran müssen dann schon in sich stimmig sein. Ich freue mich darüber, daß die Regulierungsbehörde für die Post beim Bundeswirtschaftsministerium, das dem Wettbewerb verpflichtet ist, angesiedelt wird. Denn daß auch die Deutsche Telekom versuchen wird, ihre Monopolposition aufrechtzuerhalten, liegt völlig in der Natur der Sache. Ich nehme es ihr nicht einmal übel. Aber eine Regulierungsbehörde muß - wie in allen Ländern, die die Post und die Telekommunikation privatisiert haben - auf diesem Gebiet aufpassen und für Wettbewerb sorgen. ({4}) Die Konjunkturerholung, so Frau Hermenau, finde nur im Export statt und schaffe keine Arbeitsplätze. - Die jüngsten Zahlen der Internationalen Automobilausstellung und deren Folgen für die Arbeitsmärkte sagen genau das Gegenteil. Ob das ausreicht, um den Trend in der Entwicklung unserer Arbeitslosigkeit umzukehren, weiß ich nicht. Aber die Feststellung, die Sie getroffen haben, ist jedenfalls falsch. Meine Damen und Herren, es muß ein ganz neues Sommergefühl für die SPD gewesen sein. Die Bühne war besetzt, und Sie saßen im Parkett. Aber haben Sie die Ihnen zugestandene Ruhe eigentlich genutzt? ({5}) Immerhin haben sich der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Herr Schröder, und der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine, die Zeit genommen, ihre Männerfreundschaft an der Saarschleife demonstrativ zur Schau zu stellen. ({6}) Immerhin hat der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen die Zeit genutzt, eine Sommerreise durch das Land zu unternehmen. Vielerlei populistische Sprüche säumten seinen Weg. ({7}) - Wenn Sie schon diese Feststellung kritisieren, verehrte Kollegen, dann will ich Ihnen mit einem Zitat antworten: Das Problem am Schröderschen Populismus ist, daß er nicht nur moralisch anfechtbar, sondern auch noch taktisch dumm ist. So ein Mitglied der SPD-Grundwertekommission, ({8}). nämlich Herr Johano Strasser in der „Abendzeitung", München. Recht hat er! Eindeutig besser wäre es gewesen, Herr Schröder und Herr Lafontaine hätten die Stellungnahmen der vielen unabhängigen Institute, Forschungsinstitute und Wissenschaftler gelesen, die Reformen in Deutschland, insbesondere eine große Steuerreform in Deutschland, fordern: der Sachverständigenrat, die Bundesbank, die Forschungsinstitute, OECD, G7 usw. ({9}) Der Wirtschaftsexperte der SPD hätte dabei auch erfahren, daß die Reformvorschläge seiner Partei - besser: die Nicht-Reformvorschläge - wenig Unterstützung finden. Ausnahmen bilden - auch das will ich zitieren - das DIW, der Altgenosse - mein früherer Kollege - Herbert Ehrenberg und Professor Hickel von der Universität Bremen. Ansonsten läßt sich weit und breit keine Stimme finden, die die steuerpolitischen Gedanken der SPD mitträgt. Das ist auch kein Wunder. Die SPD hat es in ihrer Spitze nicht geschafft, sich aus der Gedankenwelt der 70er Jahre zu befreien. Sie orientiert sich an den Konzepten des Keynesianismus, an der Nachfragepolitik. Die Entwicklung der Wirtschaftspolitik und die Erfahrungen anderer Länder werden ignoriert. Es gibt Zeichen dafür, daß einige von Ihnen in der SPD durchaus erkannt haben, was an Reformen notwendig ist. Was der Kollege Jens in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" geschrieben und was Herr Mosdorf bei der Ludwig-Erhard-Stiftung gesagt hat, zeigt dies deutlich. Aber die große sozialistische Volkspartei bietet für wirtschaftlichen Sachverstand kein Forum. Die Spitze der SPD ist stur. Aus Taktik? Oder aus Unwissen? Oder gibt es die SPD inzwischen wirtschafts-, steuer- und sozialpolitisch zweimal? Was war das gestern in Dresden? Gibt es jetzt eine Lafontaine-SPD und eine Schröder-SPD? Tatsache ist - das hätte die Spitze der SPD in der Sommerpause bei den Sachverständigen nachlesen können -, daß Nachfragepolitik, verehrte Frau Fuchs, heute nicht hilft. Sie hat auch in den 70er Jahren nicht geholfen. ({10}) Sie hat nur in höhere Staatsdefizite geführt. Wo soll denn die höhere Massenkaufkraft herkommen? Aus höheren Staatsausgaben mit höheren Steuern? ({11}) Das ist der indirekte Weg zu mehr Arbeitslosigkeit. Aus höheren Löhnen zur Steigerung der Massenkaufkraft? Das ist der direkte Weg zu mehr Arbeitslosigkeit. Die F.D.P. bedauert, genauso wie wir alle - denn das ist ja eine volkswirtschaftliche Größe -, daß die Verbraucherausgaben heute schwach sind. ({12}) Aber die Wahrheit ist, daß diese Schwäche nicht durch Mittel der Nachfragepolitik erfolgreich bekämpft werden kann. ({13}) Die Schwäche der Nachfrage hat ihre Ursache vor allem in der unakzeptabel hohen Arbeitslosigkeit, den hohen Steuern und Abgaben und den Fehlern der Tarifpolitik. Nur die Mittel der Angebotspolitik, marktwirtschaftliche Reformen, ({14}) Steuersenkungen, Reform der Sozialversicherungssysteme, Privatisierung und Deregulierung ermöglichen mehr Investitionen und weniger Arbeitslose. Das finanzielle Ergebnis einer solchen Politik - wenn sie denn nicht blockiert würde - wäre: erstens mehr Geld für Konsum und Sparen für den einzelnen, zweitens eine geringere Belastung der Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Arbeitslosenversicherung, und drittens höhere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen als Folge höherer Beschäftigungszahlen. Über die heute in der Presse zu lesenden Gedanken der Schröder-SPD kann man übrigens diskutieren. Nachahmen ist die höchste Form des Lobes. Also beklage ich mich nicht, daß die Schröder-SPD die Bürgergeld-Idee der F.D.P. abgeschrieben hat. Das ist schon in Ordnung. Die Konzepte der Lafontaine-SPD für die Bundesebene sind hingegen trostlos. Man glaubt, die erodierende Steuerbasis zu verteidigen, indem man die Steuerbelastung erhöht. Doch gerade die hohe Steuerbelastung ist die Ursache der Erosion. Die nahezu konfiskatorischen Steuersätze erfordern das Ventil der vielen Ausnahmen, um den Kessel unter dem Druck der hohen Steuerpflicht nicht zum Platzen zu bringen. ({15}) Viele Ausnahmen, Frau Fuchs, die die jetzt so häufig zitierten Millionäre in Anspruch nehmen, sind mit den Stimmen der SPD beschlossen worden. ({16}) Hat die SPD etwa gegen die Sonderabschreibung in den neuen Bundesländern gestimmt? - Das ist der Hauptfaktor für die Erosion bei den Steuereinnahmen. Die Quittung bekommen wir - nicht nur die Koalition, sondern auch die Opposition und die Bundesländer - durch den geringeren Anstieg der Steuereinnahmen als erwartet. Die Steuerschätzung im Mai war herb enttäuschend, und auch die im November wird vermutlich keinen Hoffnungsschimmer bieten. Wir sind an einem Punkt, an dem wir die Steuerschraube nicht weiter anziehen können. ({17}) Die Steuerergiebigkeit sinkt ständig. Der Bürger lebt nach der Devise: Rette sich, wer kann! Es gibt zur Angebotspolitik keine vernünftige Alternative. Unvernünftige Alternativen gibt es natürlich zu allem und jedem. Die Senkung der Steuersätze beim Abbau der zahlreichen steuerlichen Ausnahmen wird zu mehr Wachstum und mehr Steuereinnahmen führen. Entgegen vielen Behauptungen hat der Grundsatz der Laffer-Kurve in den USA, aber auch in Westdeutschland, in den 80er Jahren doch funktioniert. Angebotsorientierte Steuerpolitik ist die einzige Lösung, um mehr Investitionen, mehr Beschäftigung und mehr Steuern auf Dauer zu sichern. Wer statt dessen, wie die SPD, die Steuersätze nicht senken, aber die Ausnahmen abschaffen will, treibt Exportförderung für Arbeitsplätze, Umverteilung statt Effizienz. ({18}) Das ist der eine Unterschied zwischen Ihnen und uns. Der andere ist: Die SPD will das Geld soweit wie möglich beim Staat behalten. Wir wollen es soweit wie möglich in den Taschen unserer Bürger lassen. ({19}) Eine Steuer- und Abgabenquote von fast 50 Prozent konfisziert ein Stück Freiheit der Menschen in unserem Lande. ({20}) Völlig verblüfft kann man nur auf die Vorschläge von Herrn Lafontaine zur Einführung eines Mindeststeuersatzes von 20 bis 25 Prozent reagieren. Will er damit eine Kopfsteuer einführen? Das hat Margaret Thatcher in Großbritannien 1989 mit der Poll Tax versucht. Sie mußte sie nach heftigen Protesten zurückziehen. Tritt Herr Lafontaine dort in die Fußstapfen von Frau Thatcher, wo sie in die Irre ging? Die Koalition will den Grundfreibetrag auf etwas über 13 000 DM pro Person anheben. Der Eingangssteuersatz soll dann 15 Prozent betragen. Bedeutet der Vorschlag Oskar Lafontaines, daß er statt dessen - ohne Berücksichtigung des Existenzminimums - dem Bürger ein Viertel aus der Tasche ziehen will? Was macht er mit Familien mit Kindern? Was macht er mit dem selbständigen Einzelhändler, der in diesem Jahr froh ist, plus/minus Null über die Runden zu kommen? Was macht er mit dem Arzt in den neuen Bundesländern, der für den Kauf seiner Praxis die steuerlichen Möglichkeiten in Anspruch genommen hat? Das sind Fragen, die Sie freundlicherweise einmal beantworten müssen. Was sagt dazu eigentlich Gerhard Schröder, Ihr Wirtschaftsexperte? ({21}) Ich höre eine Menge kesser Sprüche, auch gestern in Dresden. ({22}) - Ich kann ja lesen, lieber Herr Schwanhold. - Wieweit steht die SPD dahinter? Warum fordert die Schröder-SPD eine Senkung der Unternehmenssteuern, die die Lafontaine-SPD ablehnt? ({23}) Warum berühmt sich Herr Schröder, er habe die Vermögensteuer abgeschafft, während Oskar Lafontaine diesen Vorgang eine unsoziale Bereicherung von Millionären schimpft? ({24}) Wenn man sieht, wie flink die SPD ihre Positionen zum Thema Bürgerrechte im Spannungsfeld der Ausländerkriminalität räumt, wird man den Genossen keine mangelnde Flexibilität vorwerfen können. Herr Schröder hat vorgeschlagen, die Strafmündigkeit mit zwölf Jahren beginnen zu lassen, ist es dann noch verwunderlich, daß man den Namen Haider in diesem Zusammenhang erwähnt? Gibt es in der Rechtsstaatpartei SPD überhaupt niemanden, der offen dagegen aufsteht? - Niemanden? ({25}) Meine Damen und Herren, zum Thema Ausbildungsplatzabgabe mit den sehr verschiedenen Positionen brauche ich hier nichts mehr auszuführen. Das Doppelspiel, das der staunenden Öffentlichkeit vorgeführt wird, ist nicht glaubwürdig. Oskar mit der roten Ballonmütze und dem schwarzen DouglasHemd, Gerhard im wirtschaftsnahen Nadelstreifen - das ist das Bild, das die SPD zur Zeit bietet. Was ist denn nun die Position des Herrn Schröder in der Steuerpolitik? Wie verhielt sich denn das Land Niedersachsen im Bundesrat? Ist mein Eindruck richtig, daß Herr Schröder in der Sommerpause in Sachen Steuern wie ein Hase mit angelegten Löffeln in der Ackerfurche gelegen hat, um den Wind aus Saarbrücken über sich hinwegwehen zu lassen? ({26}) Was denkt denn der Notar Voscherau, wenn er den privaten Spitzensteuersatz beibehalten will? Weiß er nicht, daß der private Spitzensteuersatz auch für Freiberufler gilt? Weiß er nicht, daß in einem Notariat - auch in seinem - Arbeitsplätze geschaffen werden? Was soll eigentlich die Feindseligkeit der SPD gegen Freiberufler und Selbständige? ({27}) Es ist unsere feste Überzeugung, daß durch die Blockadehaltung der SPD im Bundesrat niemand gewinnt, auch nicht die SPD. Auch auf sie schlägt der Unmut der Bürger zurück. Wir sind erstarrt in Taktik vor der nächsten Wahl. Nicht gewinnen werden Bund und Länder, deren Wirtschaft auf die nächste Konjunktur hofft. Nicht gewinnen können die Arbeitslosen. Ihre. Hoffnung auf neue Arbeitsplätze durch mehr Wachstum und mehr Investition wird enttäuscht. Wir sollten versuchen, in der zweiten Runde des Vermittlungsausschusses zur Steuerreform zu Lösungen zu kommen, die den Bürger überzeugen. Herr Schröder kann dann im Vermittlungsausschuß zeigen, ob seine gestrigen Reden Schall und Rauch waren oder ob sie ernst gemeint sind. Meine Damen und Herren, ich würde mir gerne noch die Zeit nehmen, Ihnen einiges zu sagen; aber ich habe sie nicht. Ich habe die SPD-Positionen seit 1949 verfolgt. ({28}) Neid und Blockade haben in keiner Situation Ihrer Partei jemals zum Erfolg geführt. Als Herbert Wehner 1982 sagte - Herr Scharping, Sie sitzen auf dem Stuhl eines bedeutenden Vorgängers; er war höchst umstritten, aber ein bedeutender Mann war er -, es dauere 15 Jahre, hat er damit nicht gemeint, daß Sie 15 Jahre verschlafen sollten, sondern daß Sie die Erneuerung vornehmen sollten, die er seinerzeit der SPD verordnet hat. ({29}) Nichts davon ist zu sehen, gar nichts. ({30}) Aber zur Zeit machen wir doch mit dem Stillstand, den wir uns leisten, allesamt den Wahlkampf für die fast größte Partei: für die Nichtwähler. ({31}) Herr Waigel hat ja recht - und ich danke ihm, daß er meine Bemerkung in der „Süddeutschen Zeitung" aufgenommen hat -, daß unsere Institutionen Ihnen das Recht geben zu blockieren. Aber ob das politisch auf Dauer für unser Gemeinwesen erträglich ist, das bleibt eine ganz große Frage. Ich glaube, daß hier Änderungen notwendig sind. ({32}) Alle demokratischen Parteien sollten ihr Interesse an der demokratischen Legitimation haben. Reformen für Deutschland statt Taktik im vermeintlichen Interesse einer Partei - das sollte unsere Devise sein. ({33}) Wenn wir uns dazu aufraffen könnten, dann könnten wir wenigstens in einen Wahlkampf gehen, in dem sich die Auseinandersetzung lohnt und in dem wir unsere Positionen darstellen können. ({34}) So wie es hier in diesen Tagen gelaufen ist, wird es die Bürger im Lande nicht überzeugen. Wir werden Mühe haben, sie dazu zu bringen, überhaupt ihre Stimme abzugeben. ({35})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist völlig klar, daß die Reden und gedruckten Texte zu den Haushaltsberatungen sich immer an den aktuellen Daten und Entwicklungen messen lassen müssen. Der Haushalt, so wird gesagt, sei in Zahlen gegossene Politik. Nimmt man dies zum Maßstab, so wird deutlich, wie sehr die Politik der Koalition gescheitert ist. 4,4 Millionen offiziell erwerbslos gemeldete Menschen sind allein Beweis genug. Nichts deutet darauf hin, auch im Haushalt für 1998 nicht, daß es Signale für eine beschäftigungspolitische Trendwende gibt. Angesichts der Zahlen, die aus der Bundesanstalt für Arbeit gegeben werden, angesichts der Zahlen, die von verschiedenen Wirtschaftsforschungsinstituten zur Entwicklung der Arbeitsmarktlage gegeben werden, verstehe ich die Argumentation von Herrn Rexrodt überhaupt nicht, wenn er hier für 1997 eine Trendwende beschwört. ({0}) Festzustellen ist: Mit dem vorgelegten Entwurf für das Wirtschaftsministerium hat die unseriöse Haushaltspolitik eine neue Qualität erlangt. Kollege Weng beteuerte vorgestern, mit dem Haushaltsrechts-Fortentwicklungsgesetz würden die Rechte des Parlaments nicht grundsätzlich eingeschränkt. Ich kann jedoch bisher nur neue Schlupflöcher für Haushaltsakrobatik der Exekutive entdecken. Die ungedeckten Schecks von globaler Minderausgabe über „Effizienzrendite aus Ausgabenflexibilisierung" - man beachte die Kreativität bei der Wortschöpfung - bis zu über verschiedenste Etats gespreizten Ausgaben und fälligen, aber ungedeckten Verpflichtungsermächtigungen summieren sich im 16-MilliardenDM-Etatansatz von Minister Rexrodt bisher auf eine halbe Milliarde DM. Für die Schaffung von Ausbildungsplätzen sind 224 Millionen DM eingeplant, 44 Millionen DM im Haushalt von Herrn Rexrodt und 180 Millionen DM im Haushalt von Herrn Rüttgers. Jetzt sagte Herr Rexrodt aber, er übernehme 50 Prozent dieser Summe. Es gehört keine höhere Mathematik dazu, herauszubekommen, daß 44 Millionen nicht 50 Prozent von 224 Millionen sein können. Ich frage deshalb auch, wie es zu solchen eigenartigen Zahlenkonstruktionen kommt. Vor diesem Hintergrund muß auch klar gesagt werden: Wenn die Bundesregierung die wochenlange Debatte um die Investitionsförderung Ost jetzt mit zusätzlichen 200 Millionen DM Barmitteln im Jahr 1998 beenden will, so ist dies keineswegs ein Zugeständnis, wie allerorten verlautbart wird, sondern schlicht und einfach die Erfüllung der Pflichten eines ordentlichen Kaufmannes; denn zur Deckung der eingegangenen und fälligen Verpflichtungsermächtigungen fehlen im bisher vorgelegten Entwurf 193 Millionen DM. Die PDS wird in den Haushaltsberatungen die Aufstockung der bisherigen Mittelansätze für die Gemeinschaftsaufgabe Ost um 352 Millionen DM und für die Gemeinschaftsaufgabe West um 200 Millionen DM beantragen. Das ist keine Forderung nach dem Motto: höher, weiter, besser. Im Osten würde damit nur der mit den Bundeshaushaltsgesetzen 1995 bis 1997 verbriefte Ermächtigungsrahmen für 1998 von 3,1 Milliarden DM erfüllt. Im Westen - jeder weiß, daß es auch hier Strukturprobleme gibt - würden so wenigstens die Ausgaben von 1996 erreicht. Dabei geht es uns auch darum, die milliardenschweren Antragshalden in den Ländern endlich und vor allem beschäftigungswirksam abzubauen. Wenn diese Gelder nicht fließen, dürften hoffnungsvolle Ansätze für integrierte Standortkonzepte - ich nenne hier nur zwei Beispiele aus Brandenburg: im Umfeld des Halbleiterwerkes Frankfurt/Oder und in der Zellstoffabrik in Wittenberge - von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. ({1}) Wie sonst wollen wir, außer mit wohlfeilen Reden, politische Weichen für die von Finanzminister Waigel beschworene neue Zeit stellen? Die geforderten 552 Millionen DM, die ohne Änderung der Rechtsgrundlagen und ohne neuen Verwaltungsaufwand im kommenden Jahr zusätzlich fließen können, hätten, legt man die Berechnungen der Bundesregierung zugrunde, einen Beschäftigungseffekt von mindestens 17 000 Arbeitsplätzen zur Folge. Ich will an dieser Stelle die konkrete Frage an Herrn Rexrodt anschließen: Bedeutet Ihre Aussage zur Sicherheit der Fördermittel, daß sich die Haushaltssperre nicht, wie auch von der thüringischen Ministerin Frau Lieberknecht befürchtet, auf das „Sonderprogramm Forschung und Entwicklung Ost" auswirken wird? Neue Arbeitsplätze sind auch auf einem anderen Gebiet möglich. Geradezu lächerlich ist der Betrag von 18 Millionen DM, der 1998 für die Förderung von Einzelmaßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien vorgesehen ist. Angesichts des hohen technischen Standards und der vorhandenen Fertigungskapazitäten, die es hierzulande für die Technologien der Solar-, Windkraft- und Biomasseenergiegewinnung sowie der Geothermie gibt, und angesichts der bisher maßgeblich durch die Steuerpolitik dieser Regierung abgewürgten Binnennachfrage wären - davon gehen solide Berechnungen aus - 500 Millionen DM notwendig und angemessen, was mindestens 20 000 neue Arbeitsplätze brächte. Um zukunftsfähige Arbeitsplätze, um nichts anderes, muß es auch im Etat des Wirtschaftsministers gehen. ({2}) Bisher aber steht auch dieser Entwurf völlig unter dem Kuratel der Maastricht-Kriterien. Dabei bekennt jeder Experte, daß es für die Weichheit oder Härte des Euro völlig unerheblich ist, ob drei oder mehr Prozent Neuverschuldung zu Grunde liegen. Ihre Kriteriendebatte, auf der Sie von der Regierungskoalition Ihre ganze Haushaltspolitik aufbauen und der sich leider auch alle anderen Parteien angeschlossen haben, ist nichts anderes als ein Placebo für das Volk. Sie versuchen damit, von dem eigentlichen Problem des bisherigen Maastricht-Prozesses abzulenken: der Ausschaltung des Souveräns. Sie wedeln so oft mit unserem Grundgesetz. Schauen Sie einmal nach, was dazu in der Präambel steht! Dies empfehle ich Ihnen. Hier wird über eine Schicksalsfrage entschieden. ({3}) Sie gehen einen Weg, der bisher durch bewußten Verzicht auf Politik, dafür um so mehr durch das Setzen auf den Markt als Allheilmittel vorgezeichnet ist. So aber werden alle erarbeiteten und erstrittenen Sozial- und Umweltstandards ins Rutschen kommen. Die Zeche dafür zahlt die große Mehrheit der Menschen, die Sie aus diesem Entscheidungsprozeß ausschließen. Gerade weil wir für ein vereintes Europa freier Völker und gegen jeden Nationalismus sind, lehnen wir diesen Euro ab. Maastricht kann und darf nicht länger Basis der Haushaltspolitik sein. ({4}) Unsere Vorschläge zur Ausweitung einzelner Titel - zwei nannte ich schon - sind finanziell seriös untersetzt. Die Bundesrohölreserve, die netto über 1 Milliarde DM wert ist, darf nicht für das Phantom Maastricht verpulvert werden. ({5}) Seit Herbst 1995 hat unsere Gruppe in Anträgen und Reden, in Ausschüssen wie im Plenum, wieder und wieder die Hebung dieser Reserve für zukunftsfähige Arbeitsplätze verlangt. Immer wurde es abgelehnt. Seit Juni dieses Jahres will nun plötzlich die Koalition diesen Schatz heben, um den finanziellen Bankrott ihrer Politik notdürftig zu kaschieren. Frau Matthäus-Maier hat das vorgestern zu Recht kritisiert. - Ich frage Sie: Wäre der Einsatz dieser Reserve für den ökologischen Umbau unserer Volkswirtschaft nicht eine gute Wiederanlage dieser von der sozialliberalen Koalition aufgebauten „Zukunftsvorsorge"? Ich frage die Herren Rexrodt und Waigel: Wo sind eigentlich die mindestens 265 Millionen DM Strafen abgeblieben, die das Bundeskartellamt schon bis Juni gegen das Starkstromkabelkartell verhängt hatte? Diese tauchen weder im Nachtragshaushalt 1997 noch im Haushalt 1998 auf, obwohl sie inzwischen rechtskräftig sind. Man kann nur vermuten, daß es eventuell noch schwarze Kassen gibt. Zum Schluß eine Bemerkung zum ablebenden Postministerium. Minister Rexrodt beerbt bekanntlich Minister Bötsch. Ob die Auflösung des Postministeriums inhaltlich überhaupt sinnvoll ist, was der Vorsitzende der Postgewerkschaft, van Haaren, im „Focus" vom 1. September bezweifelt, kann und will ich hier nicht bewerten. Ausgelöst durch den kleinen Artikel in der „Wirtschaftswoche" vom 17. Juli mit der Überschrift „Waigel erbt" haben wir uns genauer die vorläufigen Ansätze für die Übernahme von Aufgaben des bisherigen Postministeriums durch Wirtschafts- und Finanzministerium angeschaut. Während sich Minister Waigel hier mit dramatisch sinkenden Personalausgaben brüstet, spricht bisher alles dafür, daß die Auflösung des Postministeriums mehr kostet als sein Fortbestand. So sollen im neuen Jahr der Präsident und der Vizepräsident der neuen Regulierungsbehörde 128 000 DM teurer kommen, als heuer Minister Bötsch und Staatssekretär Laufs kosten. Solche phänomenale Kostenvermehrung setzt sich im höheren Dienst fort. Meine Kollegin Frau Professor Luft sprach vorgestern bereits Kollegen Weng auf solche Ungereimtheiten an. Er sagte bekanntlich Beratung und Klärung im Haushaltsausschuß zu. Darauf bin ich wirklich gespannt. Selbst Kollegen Graf Lambsdorff macht die vorgesehene Größe der Regierungsbehörde Sorgen. So jedenfalls habe ich Ihre Bemerkung, Herr Lambsdorff, auf einer öffentlichen Veranstaltung des Europäischen Forums auf dem Petersberg verstanden. ({6}) Lösen können das Problem aber wohl eher die kleineren Parteien in diesem Haus. Denn bei der Besetzung der neuen Chefetagen sitzen die sogenannten großen Volksparteien in einem Boot. ({7}) Herr Minister Rexrodt, Ihr Etatentwurf ist aus unserer Sicht so nicht beratungsfähig. Wir wünschen und ich persönlich wünsche Ihnen morgen eine schöne Geburtstagsfeier. Wir erwarten aber, daß Sie ab Montag in Ihrem Haus an die Überarbeitung des Planes gehen, ({8}) selbst wenn es der letzte ist, den Sie zu verantworten haben. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wir setzen die Debatte fort mit dem Kollegen Rolf Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat am 8. September 1997 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Programm marktwirtschaftlicher Erneuerung gegen Arbeitslosigkeit, Bürokratie und Verkrustung veröffentlicht. Über den Inhalt dieses Programmes mag man an anderer Stelle streiten. Für mich ist allerdings eines bezeichnend. Das Thema wirtschaftlicher Aufbau in den neuen Bundesländern kommt in diesem Artikel nicht vor. Ja, noch nicht einmal mit einem einzigen Wort kommen die neuen Bundesländer überhaupt in diesem Artikel vor. Sie werden nicht erwähnt. Ich halte das für symptomatisch. ({0}) Es ist geradezu eine Freudsche Fehlleistung, man könnte sagen: eine Freudsche Unterlassung. Sie chaRolf Schwanitz rakterisiert das Handeln dieses Ministers auf das typischste. Ich will das an einigen Punkten belegen. Meine Damen und Herren, anstatt sich dafür einzusetzen, daß die Wirtschaftsförderung für die neuen Bundesländer im Jahre 1997 trotz der Haushaltssperre des Finanzministers unvermindert aufrechterhalten bleibt, läßt es Minister Rexrodt zu, daß diese absolut notwendigen Finanzmittel für die neuen Länder gegenüber dem Haushaltssoll um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Mit dieser unverantwortlichen Politik verschärfen Sie, Herr Minister Rexrodt, die Krise in den neuen Ländern. Wären Sie, Herr Rexrodt, ein Sachwalter ostdeutscher Interessen, dann hätten Sie an dieser Stelle beim Bundeskanzler mit dem Bruch der Koalition gedroht und nicht bei der Absenkung des Solidaritätszuschlags. ({1}) Nennen wir einige Beispiele aus dem Haushaltsentwurf Ihres Hauses, Herr Minister, aus denen klar wird, daß mit diesem Entwurf ostdeutsche Interessen abermals grob mißachtet werden. Erstes Beispiel: Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Alle wissen, das ist eine der entscheidendsten Säulen der Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern. Sie war notwendig. Auf mittlere Sicht bleibt sie existentiell notwendig, wenn der wirtschaftliche Aufbau in Ostdeutschland gelingen soll. Doch was geschieht? Sie lassen es zu, daß die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe in den nächsten drei Jahren mehr als halbiert werden. Praktisch wird die GA in den nächsten Jahren auslaufen. Sie soll quasi still liquidiert werden. Für Ostdeutschland ist dies jedoch eine reine Katastrophe. Das wissen auch alle. Damit nicht genug! In den Sommermonaten fällt dem Bundesfinanzminister ein, er könnte ja diese stille Liquidation der GA noch beschleunigen, und er sperrt sich gegen die Auszahlung von 709 Millionen DM Fördermittel in den Jahren 1997 und 1998. Dem stellt sich der Bundeskanzler nicht in den Weg und erst recht nicht der Bundeswirtschaftsminister. Statt dessen wird ein Kompromiß ausgehandelt, den die Landesregierungen der neuen Länder zähneknirschend mitmachen mußten. Das Ergebnis ist völlig klar: Der unverantwortliche Kahlschlag bei der regionalen Wirtschaftsförderung wird beschleunigt. Sie, Herr Minister, lassen es zu, daß 1997 noch einmal 200 Millionen DM an Fördermitteln in der GA gekürzt und weitere 500 Millionen DM auf die nächsten Jahre gestreckt werden müssen. ({2}) Der Preis dafür liegt auf der Hand: ein milliardenschwerer Ausfall von Investitionen und eine erneute Verfestigung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. ({3}) Zweites Beispiel: ökologische Erneuerung und Sanierung in den neuen Bundesländern. Der Bundeswirtschaftsminister hatte ursprünglich für die Altlastenfreistellung Verpflichtungsermächtigungen für 1998 in einer Höhe von 313 Millionen DM eingeplant und stellt nun in den Etat 1998 nur 116 Millionen DM ein. Das ist eine glatte Halbierung der Ansätze. Die Haushaltsansätze für die Wismut GmbH, die bekanntlich die höchst gefährlichen Altlasten des DDR- Uranbergbaus beseitigen muß, werden 1998 um 50 Millionen DM gekürzt. Was macht es für einen Sinn, die Beseitigung von ökologischen Altlasten zu verschieben, wenn dadurch diejenigen, die auf Grund dieser Tätigkeit noch Beschäftigung haben, gerade in benachteiligten Regionen, in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und die infrastrukturelle Entwicklung beispielsweise in Ronneburg, in Aue, in Schlema oder in Königstein weiterhin verzögert wird und dort erneut Arbeitsplätze nicht entstehen können? ({4}) Von den Einschnitten bei der Sanierung von Braunkohlegebieten will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Erneut werden bei diesem gesamten Komplex die ökologische Sanierung und das vitale Interesse des Ostens vernachlässigt, und es wird gegen Ostdeutschland entschieden. Drittes Beispiel: Förderung von Forschung und Entwicklung in ostdeutschen Unternehmen. Wir wissen doch alle, wie wichtig Innovationen gerade im wirtschaftlichen Aufbauprozeß sind. Wenn die Wirtschaft in den neuen Ländern eine Zukunft haben soll, dann müssen wirkliche Chancen für die nächsten Jahre eröffnet werden; dann müssen ostdeutsche Unternehmen mit neuartigen Produkten und modernen Produktionsverfahren ihren eigenen Weg gehen können und auf internationalen Märkten Felder erobern. Dafür ist eine Wirtschafts- und Forschungspolitik notwendig, die die Innovationskraft der ostdeutschen Unternehmen entscheidend fördert und verbessert. Wir müssen aus Ostdeutschland die Innovationswerkstatt des Landes machen; das ist die Aufgabe. Doch es geschieht zur Zeit das genaue Gegenteil: Die Hilfen für Forschung, Entwicklung und Innovationen werden zusammengestrichen. Es ist doch geradezu aberwitzig, die F-und-E-Hilfen des Bundeswirtschaftsministeriums wie das Programm „Marktvorbereitende Industrieforschung" oder die Personalkostenfinanzierung im laufenden Haushaltsjahr um 20 Prozent zu kürzen. Das ist purer Unsinn, und es zeigt, daß der Bundeswirtschaftsminister seiner Aufgabe einfach nicht gewachsen ist. ({5}) Wenn ich dann noch im Haushaltsentwurf des Jahres 1998 lese, daß die Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovationen im Osten von 525 Millionen DM im Jahre 1997 auf 470 Millionen 1998 gekürzt wird, dann bleibt man ob dieses Unverstandes schlicht und einfach sprachlos. ({6}) Ein weiteres kleines, aber bezeichnendes Beispiel. Der Bundeskanzler sonnte sich am 1. September im Glanz der Eröffnung einer Messe, die die Vermarktung ostdeutscher Produkte verbessern soll. Gleichzeitig wird aber bekannt, daß die absatzfördernden Maßnahmen der Bundesregierung im nächsten Jahr um ein Drittel gekürzt werden sollen. So weit klaffen Wirklichkeit und Anspruch bei dieser Bundesregierung auseinander. ({7}) Meine Damen und Herren, vorgestern veröffentlichte die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitsmarktzahlen für den August. Sie sind für Deutschland insgesamt erschreckend, für Ostdeutschland sind sie jedoch katastrophal. Gegenüber dem Vorjahresmonat ist die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern im August 1997 um knapp 23 Prozent gestiegen. Dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ist im wesentlichen, wenn nicht sogar überhaupt durch die Politik dieser Bundesregierung verursacht worden. Während die Bundesregierung einerseits der ostdeutschen Bauwirtschaft eine massive Schrumpfungskrise verordnet hat, wurden andererseits arbeitsmarktpolitische Maßnahmen radikal zusammengestrichen. Während die Anzahl der Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im August gegenüber dem Vorjahr um 241000 zurückgeschraubt wurde, stieg die registrierte Arbeitslosenzahl im gleichen Zeitraum um 257 000 Personen an. ({8}) Es ist also genau das eingetreten, was wir der Bundesregierung vor einem Jahr vorgeworfen haben. ({9}) Die Kürzungen bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den neuen Bundesländern haben direkt die Zahl der Arbeitslosen erhöht. ({10}) Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern innerhalb eines Jahres um fast ein Viertel ist das unmittelbare Resultat der Politik der Bundesregierung. Sie sind dafür verantwortlich. Dies ist die Wahrheit. ({11}) Meine Damen und Herren, seit über einem Jahr befinden sich die neuen Bundesländer in einer Krise. Es ist nicht nur eine konjunkturelle Krise, sondern es ist eine Krise des wirtschaftlichen Aufbaus überhaupt. Die Wachstumsraten der Wirtschaft liegen unter denen Westdeutschlands. Wir sind seit 1995 im zweiten Jahr mit kontinuierlich steigender Arbeitslosigkeit. Nach wie vor ist über ein Drittel der Arbeitsfähigen in den neuen Bundesländern ohne reguläre Arbeit - und dies mit wachsender Tendenz. Das entscheidende Problem, vor dem Ostdeutschland steht und das die jetzige Bundesregierung verdrängt, lautet: Das bisherige Bündel an wirtschafts-, finanz- und arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und Hilfen garantiert keinen weiteren entscheidenden Fortschritt mehr beim wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern. Wir brauchen deshalb eine Neuorientierung des wirtschaftlichen Aufbaukonzeptes in Ostdeutschland, an dem Kapitalgeber, Unternehmensmanagement, Betriebsräte, Gewerkschaften, die öffentlichen Hände, die Europäische Union und die Bundesbank beteiligt werden müssen. Wir brauchen dazu eine umfassende Bilanz der bisherigen Förderpolitik, eine ungeschönte Bewertung der Förderinstrumentarien, eine schonungslose Aufdeckung von Fehlentscheidungen und Mißständen beim wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland. ({12}) Dazu ist diese Bundesregierung jedoch weder bereit noch in der Lage. Wir brauchen deshalb einen politischen Neuanfang. Glauben Sie mir: Die Menschen im Lande, insbesondere in den neuen Bundesländern, spüren dies. Es ist deshalb Zeit für einen Wechsel. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Kollege Dr. Paul Krüger.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei allen Horrorszenarien, die hier gemalt werden - wenn wir betrachten, was 40 Jahre Sozialismus uns hinterlassen haben, stellen wir fest, daß wir beim Aufbau in den neuen Ländern enorm vorangekommen sind. ({0}) Neben dem, was jeder sehen und wahrnehmen kann, will ich heute einmal ein paar andere Fakten nennen. Wir haben eine enorme Existenzgründerwelle gehabt. Wir haben im Saldo etwa 500 000 neugegründete Existenzen. Wir haben die Eckrenten von 536 DM auf 1598 DM erhöht. Wir haben 375 000 neue Wohnungen gebaut und die Hälfte des Bestandes bereits saniert. Wir haben die Wohneigentumsquote von 24 Prozent auf heute 29 Prozent erhöht und damit die Vermögenssituation in den neuen Ländern enorm verbessert. Das Wachstum, meine Damen und Herren, hat sich im letzten Jahr leider etwas verlangsamt, kommt jedoch, Gott sei Dank, wieder in Fahrt. Besonders wichtig sind dabei das verarbeitende Gewerbe und die Dienstleistungen. Wir freuen uns, daß sowohl im Jahr 1996 als auch im Jahr 1997 in beiden Bereichen ein Wachstum von zirka 6 Prozent konstatiert werden kann. Ich glaube, das ist ganz besonders wichtig für die zukünftige Entwicklung. Trotz der insgesamt positiven Entwicklung - das haben alle Redner hier zum Ausdruck gebracht; dem kann ich mich nur anschließen - ist unser Hauptproblem die enorm hohe Arbeitslosigkeit, auch angesichts der aktuellen Zahlen, die uns gestern erreichten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gab und gibt einen breiten Konsens, daß wir dieses Problem nur lösen können, daß wir ihm nur begegnen können, wenn wir den sich wandelnden globalen und demographischen Bedingungen durch eine konsequente Reformpolitik Rechnung tragen. Die Bundesregierung hat hierzu bereits seit 1995 wichtige Maßnahmen eingeleitet und diese im wesentlichen auch umgesetzt. Ich darf hierzu nur einige Beispiele nennen: Die Steuerbelastung der wirtschaftlich Aktiven wurde spürbar verringert durch die vollständige Abschaffung von Substanzsteuern, nämlich der Vermögensteuer für Unternehmer und - aktuell in diesen Tagen - der Gewerbekapitalsteuer. ({1}) Für die Unternehmen in den neuen Bundesländern war es ganz besonders wichtig, daß diese Substanzsteuern, die der wirtschaftlichen Ansiedlung entgegenstehen, nicht eingeführt wurden. ({2}) Darüber hinaus haben wir Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Eindämmung der Lohnnebenkosten geschaffen. Wir müssen auf diesem Gebiet noch mehr tun, aber angesichts der Neuregelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und der dritten Stufe der Gesundheitsreform haben wir - gegen den Widerstand aus Ihren Reihen - schon Erhebliches durchsetzen können. Das Arbeitsrecht wurde beschäftigungsfreundlicher gestaltet, zum Beispiel durch die Neuregelung des Kündigungsschutzrechtes. ({3}) Darüber hinaus ist die Arbeitsförderung nun verstärkt auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet. Allein mit dem Instrument von Lohnkostenzuschüssen für die gewerbliche Wirtschaft, meine Damen und Herren von der SPD, konnten innerhalb von vier Monaten 15 000 Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern induziert werden. ({4}) Damit wurden die Chancen der Betroffenen auf eine dauerhafte Beschäftigung im Sinne von „learning by doing" verbessert. Gleichzeitig konnten die Unternehmen von Kosten - insbesondere von viel zu hohen Lohnkosten - entlastet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, statt ständig über die Reduzierung von ABM-Stellen zu palavern, hätten Sie sich lieber für die breite Umsetzung der Instrumente des AFRG einsetzen sollen. Dann wären wir, so glaube ich, einen erheblichen Schritt weiter. ({5}) Die Blockade der SPD hat dazu geführt, daß die Umsetzung um drei Monate verzögert wurde und die neuen Instrumente erst am 1. April im Markt greifen konnten. Durch diese Verzögerung sind wahrscheinlich einige tausend Arbeitsplätze verhindert worden. Die Koalition hat den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland von Anfang an kontinuierlich begleitet. Die Bundesregierung hat sich immer wieder dazu bekannt, daß dies so bleiben muß. Im Bündnis für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland haben sich Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften auf eine gemeinsame Initiative verständigt, um dem Aufbau Ost zusätzliche Schubkraft zu geben und die Beschäftigungslage in den neuen Bundesländern zu verbessern. Sie beinhaltet unter anderem - das ist beispielgebend auch für die alten Bundesländer - eine Flexibilisierung tarifvertraglicher Regelungen sowie die Steigerung des Einkaufs von Produkten aus den neuen Bundesländern. Die Düsseldorfer Messe hat jüngst sehr erfolgreich dazu beigetragen, daß Produkte aus den neuen Bundesländern besser in die Märkte kommen. Die Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten für Wachstumsinvestitionen ist ein weiteres Beispiel aus diesem Programm, genauso wie die Konzentration der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik auf die Eingliederung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. Ich habe dazu bereits eine Zahl genannt; dieses Instrument hat sich hervorragend bewährt. Wir werden verstärkt Investoren werben und nicht zuletzt die Infrastruktur in den neuen Bundesländern gezielt und kontinuierlich ausbauen. ({6}) Besondere Bedeutung kommt in dieser Initiative der verstärkten Innovationsförderung in den neuen Ländern zu. Diese Förderung ist - das hat Herr Schwanitz vergessen zu sagen - bereits auf einem enorm hohen Niveau. Fast 50 Prozent aller Tätigkeiten im Bereich der Industrieforschung in den neuen Bundesländern werden über staatliche Maßnahmen finanziert. Diese beträchtliche Leistung wird immer wieder verschwiegen. Deshalb sind Ihre Vorwürfe hier völlig deplaziert. Um eine größere Breitenwirkung zu entfalten, brauchen wir in diesem Feld allerdings neue Instrumente. Um eine größere Breitenwirkung zu erzeugen, haben wir uns seit Jahren für eine Innovationszulage, also eine steuerliche Fördermaßnahme, eingesetzt. ({7}) Ich werde nicht hinnehmen, daß im Haushalt 1997 eine Bewilligungssperre in Höhe von 25 Prozent im Bereich der Personalförderung Ost enthalten ist. ({8}) Wir werden massiven Druck machen, um diese Sperre aufzuheben. Denn wir müssen den ohnehin zu wenigen Unternehmen in den neuen Bundesländern mehr Rechtssicherheit in diesem Bereich geben. Wir haben im übrigen durchgesetzt, daß die Innovationsförderung auf dem bisherigen Niveau bis zum Jahr 2001 fortgesetzt wird, und das, obwohl wir in diesem Bereich Riesenschwierigkeiten im Haushalt des Wirtschaftsministers haben. Von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, brauchen wir daher wahrhaftig keine Belehrungen. Wer hat denn den Druck auf den Haushalt des Wirtschaftsministers ausgeübt, so daß er zugunsten der Kohleförderung quasi indirekt auf Mittel der Innovationsförderung verzichten mußte? Es waren doch, Herr Schwanitz, Ihre Genossen Lafontaine und Scharping, ({9}) die auf der B 9 die Bergarbeiter aufgehetzt haben. Dabei ging es genau um das Geld, was uns jetzt bei der Innovationsförderung fehlt bzw. was wir mit großer Mühe irgendwoher nehmen müssen. Sie sind auf keinen Fall eine Innovationspartei. ({10}) Wir haben keine Belehrungen nötig, weder von Herrn Scharping noch von Herrn Schröder. Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD hat uns gestern einige wichtige und wesentliche neue Erkenntnisse offenbart. Er formulierte in seinem Reformkonzept in Dresden: Innovationsfähigkeit und -geschwindigkeit sind der Schlüssel aller Modernisierungsstrategien. Sehr richtig, Herr Schröder. Die Frage ist nur: Warum ist Herr Schröder nicht bereit, diese Erkenntnisse auch in praktische Politik umzusetzen? Warum hat er den Fonds zur Förderung innovativer Mittelständler in Niedersachsen seit 1990 um mehr als die Hälfte gekürzt? Warum hat er das Landesdarlehensprogramm in Niedersachsen, mit dem Anreize für Unternehmensneugründungen gegeben werden sollen, von 152 Millionen DM auf 50 Millionen DM zusammengestrichen? ({11}) Warum hat er das Technologieprogramm von 80 Millionen DM auf 23 Millionen DM gekürzt? In diesem Zusammenhang muß man auch fragen: Warum versucht die SPD immer wieder, technische Fortschritte zu blockieren, selbst dann, wenn wie beispielsweise beim Transrapid die Vorteile für Mensch und Umwelt auf der Hand liegen? Die SPD-Blockade in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bezüglich des Transrapid ist ein beredtes Beispiel. Man muß weiter fragen: Warum, Herr Schwanitz, haben die SPD-Finanzminister in den neuen Ländern verhindert, daß eine Innovationszulage für die neuen Länder bereits in diesem Jahr verabschiedet werden kann? Das ist im wesentlichen am Widerstand der Finanzminister der SPD aus den neuen Bundesländern gescheitert. Herr Schwanitz, ich finde es gut, daß Sie auf das Trittbrett gesprungen sind und sich mit dem Programm, das Sie unlängst vorgestellt haben, zur Innovationszulage, für die wir seit drei Jahren kämpfen, bekannt haben. Machen Sie dann aber auch bitte Druck auf Ihre Finanzminister, damit wir in diesem wesentlichen Bereich vorankommen, um endlich mehr für die Innovation in den neuen Bundesländern tun zu können. ({12}) Ein besonderer Schwerpunkt für die neuen Länder ist die Förderung von Investitionen, wie wir sie mit dem neuen Investitionszulagengesetz vor der Sommerpause verabschiedet haben. Wir haben wesentliche Incentives für weitere Investitionen in den neuen Ländern gesetzt. Wir haben uns dabei auf das verarbeitende Gewerbe und produktionsnahe Dienstleistungen sowie auf die Modernisierung und Sanierung von Wohnraum konzentriert. Im wesentlichen haben wir die Fördersätze verdoppelt, und wir haben erreicht, daß die wirtschaftlich Aktiven unabhängig von ihrer Ertragssituation gefördert werden. Gerade das gibt den Unternehmen in den neuen Bundesländern mehr Planungssicherheit. Wir haben dieses Programm über einen sehr langen Zeitraum, bis zum Jahre 2004, angelegt. Dahinter steht ein Gesamtvolumen von zirka 30 Milliarden DM. Angesichts dieser Situation, Herr Schwanitz, hätte ich nicht ganz so laut geschrien, als es um die Gemeinschaftsaufgabe ging. Wir werden die Gemeinschaftsaufgabe in den folgenden Jahren auf dem notwendigen Niveau weiter fördern. Lassen Sie mich zu dem, was Sie bezüglich des Sommerstreits gesagt haben, einiges klarstellen. Die GA-Förderung der regionalen Wirtschaftsstrukturen war keine Kürzung, sondern der Finanzminister hat hier bezüglich einer Bugwelle, das heißt bezüglich der aufgelaufenen Mehrverpflichtungen, die eingegangen worden sind, gesagt: Wir müssen uns erst darüber unterhalten, wie das finanziert werden kann. Es geht also nicht um eine Kürzung, sondern um einen Aufwuchs an Mitteln im Bundeshaushalt. Man hat sich geeinigt, man hat einen Lösungskompromiß mit den Ländern gefunden. Was ich besonders bedauerlich finde, sind die scheinheiligen Appelle der SPD in diesem Zusammenhang. Sie waren völlig überflüssig. Die SPD hatte nämlich in Ihren eigenen Landeshaushalten keine Vorsorge zur Komplementärfinanzierung dieser Gemeinschaftsaufgabe getroffen; denn 50 Prozent müssen von ihnen bereitgestellt werden. Bisher ist übrigens in Sachsen-Anhalt die Komplementärfinanzierung im Landeshaushalt immer noch nicht untersetzt, um überhaupt sicherzustellen, daß die Mittel, die vom Bund bereitgestellt werden, abfließen können. Deshalb hat meiner Meinung nach die Sommerdebatte von der SPD in erheblichem Maße einen scheinheiligen Charakter gehabt. Wenn man in den letzten Tagen die Reden der Opposition verfolgt hat, so muß man einfach sagen: Dort konnte man sehr viel Scheinheiligkeit erleben. ({13}) Da wurde von Gerechtigkeit geredet und mehr Gerechtigkeit angemahnt. ({14}) - Ich weiß, daß Ihnen das weh tut, das soll es auch. - Gerechtigkeit, meine Damen und Herren von der SPD, ist aber zunächst für diejenigen notwendig, die Arbeitsplätze in Deutschland im Wettbewerb der Bedingungen zwischen den Standorten Europas und der Welt schaffen oder erhalten wollen. ({15}) Nur damit schaffen wir am wirkungsvollsten für diejenigen Gerechtigkeit, die heute arbeitslos sind oder um ihren Arbeitsplatz bangen müssen. ({16}) Liebe Kollegen von der Opposition, kämpfen Sie doch zunächst mit dafür, daß sich die sozialen und ökologischen Bedingungen in möglichst vielen Ländern der Welt unseren höchsten Standards annähern! ({17}) Dann, Frau Fuchs, werden wir sofort wettbewerbsfähig sein. Dadurch würden Investoren motiviert werden, wieder mehr in Deutschland zu investieren. ({18}) Mit welchem Recht beklagen Sie die hohe Arbeitslosigkeit angesichts Ihrer Blockadehaltung? Schauen Sie sich an, wie es in den Ländern aussieht, in denen Sie selbst regieren. ({19}) - Schauen Sie sich doch an, wie hoch die Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg und in Bayern ist. Dort ist sie am niedrigsten in der Bundesrepublik. Im Saarland und in anderen Flächenländern wie Niedersachsen sind sie am höchsten. ({20}) Dieser Trend - das ist das bedauerliche - setzt sich in den neuen Bundesländern schon fort. Die höchsten Arbeitslosenquoten haben wir in Sachsen-Anhalt. ({21}) Wenn wir Brandenburg von den drei Prozent Einpendlern nach Berlin bereinigen, ist auch dieses Land mit auf dem Trip. ({22}) Am niedrigsten ist die Quote zur Zeit Gott sei Dank in Sachsen, dort, wo die CDU regiert.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Mit welchem Recht mahnen Sie eine solide Haushaltspolitik an? Schauen Sie sich doch an, wie es in den Ländern aussieht, wo Sie Haushaltspolitik zu verantworten haben. Da haben wir den gleichen Trend. Das Saarland ist pro Kopf der Bevölkerung viermal so hoch verschuldet wie Bayern. ({0}) In den neuen Ländern ist Brandenburg in der Haushaltsverschuldung jetzt schon wieder deutlich Spitzenreiter, während Sachsen einsam am Ende liegt. Bei der Kreditfinanzierung - ich will mir das aus Zeitgründen sparen - sieht es ähnlich aus. Wir haben von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, keine Belehrung notwendig. Wir wußten schon in der DDR: Die SPD kann nicht mit Geld umgehen. ({1}) Auch für die neuen Länder ist die wichtigste Reformaufgabe zur Schaffung neuer Arbeitsplätze die Realisierung der großen Steuerreform. Gerade in unserer Situation in den neuen Ländern ist es besonders wichtig, Steuern zu senken, um Spielräume für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu eröffnen und die Ansiedlung von Investitionen zu ermöglichen. Es schadet deshalb besonders dem Interesse der neuen Länder, daß die SPD trotz vielfacher Einladung und Angebote bisher weder zum sachlichen Gespräch bereit war noch eigene konkrete Vorschläge für ein beschäftigungswirksames Steuerrecht vorgelegt hat. Ihr Verhalten hier im Bundestag dokumentiert das eindeutig. ({2}) Noch haben wir dank des angelaufenen zweiten Vermittlungsverfahrens die Chance einer Einigung. Wie wichtig es ist, diese Chance zu nutzen, sagen uns nicht nur die führenden Wirtschaftssachverständigen aller Couleur und unsere internationalen Partner in der OECD oder der G-7-Gruppe. Auch Sie in der Opposition wissen doch ganz genau, daß das private Kapital unser Land als Investitionsstandort zur Zeit meidet, da die Steuersätze im europäischen Vergleich nicht wettbewerbsfähig sind. Auch Sie wissen, daß es notwendig ist, die Einkommensteuer in allen Tarifgruppen zu senken. Wenn wir am Biertisch zusammensitzen, sagen auch Sie das. Auch Herr Schröder, Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, hat das gestern in Dresden ausdrücklich eingeräumt. Herr Schröder bestätigt damit den Ansatz der Koalition zur Steuerreform und erkennt damit zugleich indirekt die Verantwortungslosigkeit seines eigenen Blockadeverhaltens im Bundesrat an, wie Herr Lambsdorff das heute zu Recht aufgezeigt hat. ({3}) Wenn Herr Schröder zugleich sagt, die notwendigen Reformen erst nach der Bundestagswahl 1998 angehen zu wollen, offenbart er damit eindeutig seine wirkliche Motivation. Ihm geht es nicht um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ihm geht es um blanke Wahltaktik, nämlich zu verhindern, daß diese Regierung ein weiteres, für die Schaffung von Arbeitsplätzen besonders wichtiges Reformvorhaben umsetzt. Herr Scharping hat gestern der Bundesregierung vorgehalten, dem Nutzen des deutschen Volkes verpflichtet zu sein. Hierin sind wir uns einmal einig. Deshalb appelliere ich an die Kollegen von der Opposition: Wenn wir wissen, daß zur Schaffung von Arbeitsplätzen die Steuerreform dringend notwendig ist, dann geben Sie endlich Ihre Blockade der Steuerreform auf, zum Nutzen des deutschen Volkes. Sonst wird Ihnen dieses Volk die Quittung geben. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort für eine Kurzintervention hat die Kollegin Luft, PDS.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrter Herr Kollege Krüger, der erste Punkt: Sie haben Ihren Beitrag mit der Feststellung eingeleitet, man könne, wenn man über die ostdeutschen Probleme rede, nicht außer acht lassen, was hinterlassen worden sei. Damit stimme ich überein. Ich meine, gerade wir, die aus der früheren DDR kommen, wissen über das, was es an Problemen und Defiziten gegeben hat, sehr gut Bescheid. Aber Sie können doch diesem Hohen Hause und all denen, die uns heute am Fernseher zuschauen, überhaupt nicht klarmachen, was das Thema Massenarbeitslosigkeit mit der früheren DDR zu tun hat. Denn die alte Bundesrepublik, in der es seit Mitte der 70er Jahre Massenarbeitslosigkeit gibt, hat ja nun einmal keine Planwirtschaft gehabt. Nur daran kann es also doch nicht gelegen haben. Der zweite Punkt: Was man mit den früheren Zuständen in der DDR überhaupt nicht in Verbindung bringen kann, ist die Ausbildungsplatzmisere. In der DDR hat jeder junge Mensch eine, wie sich zeigt, fachlich gute Ausbildung bekommen. Das kann doch wohl niemand bezweifeln. Westliche Manager, die heute Unternehmen in den neuen Bundesländern leiten, bestätigen, wie gut die berufliche Qualifikation der jungen Leute war. Mich beunruhigt es zutiefst, daß Sie hier denen, die uns zuschauen, den 152 000 jungen Menschen, die in West und vor allen Dingen in Ost eine Lehrstelle suchen, nicht den Anflug eines Tips gegeben haben, was in diesem Jahr von der Koalition noch zu erwarten sei. Mit den Kamingesprächen, die der Kanzler führt, läßt sich das Ganze wohl nicht mehr regeln. Auch mit solchen Sprüchen, es sei eine nationale Schande, daß wir in diesem Lande eine solche Ausbildungsplatzmisere haben, läßt sich das Problem nicht lösen. Ich bin zutiefst beunruhigt, wenn mir junge Menschen sagen: Es hat doch überhaupt keinen Sinn mehr; wir steigen aus, oder wenn ältere Menschen - das fängt heute ja schon mit über 50 Jahren an - sagen: Ein Glück, daß ich schon so alt bin und nicht mehr allzulange diese Misere mitzumachen habe. Glauben Sie nicht, Herr Kollege Krüger, daß Sie auch zu diesen Dingen etwas hätten sagen müssen? Die Floskel, wir sollten auf die DDR zurückschauen, bringt heute nichts mehr. Denen, die zugeschaut haben, werden Sie heute keine neue Hoffnung gemacht haben. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Eine weitere Kurzintervention, Herr Kollege Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Krüger, ich empfinde es als außergewöhnlich töricht, daß Sie wie andere Kollegen aus der Koalition den Wirtschaftsstandort Deutschland herunterreden. Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist ausgezeichnet. Wir haben hervorragende Bedingungen. Es gibt leider einen Standortnachteil, den wir im Moment nicht überwinden können. Das ist die amtierende Bundesregierung. Aber das wird sich im nächsten Jahr ändern. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Krüger.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Luft hat die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern angesprochen und den Schluß gezogen, daß die Ursachen dafür nicht in dem vergangenen System liegen. Dem muß ich entschieden widersprechen. Natürlich liegen die wesentlichsten Ursachen dort. Sie liegen darin, daß wir ganz andere Strukturen hatten, daß viele Prozesse, die in der Marktwirtschaft einfach notwendig sind, dort überhaupt nicht bekannt waren. Sie liegen darin - das kann man eigentlich mit wenigen Worten zusammenfassen, ohne darüber stundenlang zu philosophieren -, daß letztlich der Strukturwandel eines sozialistischen Systems, von einer Planwirtschaft, die zu 100 Prozent vom Staat dirigiert wird, in der alle Initiative über Jahrzehnte zerstört worden ist, wesentlich komplizierter ist, als wir uns das ursprünglich vorgestellt haben. Dieses Problem kann man wahrhaftig nicht nur, wie es heute zum Teil den Anschein hat, mit Geld lösen. Es sind vielmehr umfassende, komplexe Prozesse zu realisieren, die sehr, sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, mehr, als wir, wie ich schon sagte, eigentlich wollten. Wichtig dabei ist auch, daß wir den Menschen in den neuen Bundesländern immer wieder sagen, daß diese Strukturwandelprozesse von umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen begleitet werden. Sie werden natürlich auch von Maßnahmen begleitet, die dazu führen, daß die Menschen qualifiziert werden und sich auf diesen Strukturwandel einstellen können. Das Problem der Ausbildungsplatzsuchenden, das Sie angesprochen haben, beschäftigt diese Bundesregierung und diese Koalition seit Monaten intensiv. Wenn Sie die Zeit aufmerksam verfolgt hätten, hätten Sie gewußt, daß wir bereits im März dieses Jahres als Gruppe der ostdeutschen Unions-Abgeordneten einen Vorschlag zur Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation unterbreitet haben, dem sich die Bundesregierung dann durch ein Sonderprogramm angeschlossen hat. Frau Luft, ich war gerade in der letzten Woche im Arbeitsamt in meinem. Heimatort Neubrandenburg und habe mich über die Ausbildungsplatzsituation im dortigen Arbeitsamtsbezirk informiert. Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, daß die Horrorzahlen, die jetzt durch die Gazetten geistern, nicht realistisch sind. Sie sind eindeutig überhöht. ({0}) Ich habe keine Lust gehabt, in meiner Rede den Menschen bezüglich dieser Entwicklung jetzt auch noch Angst zu machen, wie Sie das immer wieder versuchen. Wir werden dort in diesem Jahr - das kann ich Ihnen als Ergebnis unseres Gesprächs sagen - insbesondere durch das Sonderprogramm der Bundesregierung für die betriebsnahe Ausbildung wieder garantieren können, daß jeder Ausbildungsplatzsuchende einen Ausbildungsplatz zur Verfügung hat. Das gilt zumindest für den Bereich, über den ich mich informiert habe. ({1}) - Vielleicht lassen Sie mich ausreden. Ich halte es für schlimm, wenn Sie die Jugendlichen in den neuen Bundesländern auf diese Weise zusätzlich verunsichern. Gerade wenn Sie gestern die Reden des Bundeskanzlers und vieler anderer gehört haben, ({2}) können Sie die Bundesregierung nicht verdächtigen, daß sie für die Schaffung von Ausbildungsplätzen zuwenig tut. Wir werden auch im nächsten Jahr - das ist hier zu Recht gesagt worden - wieder ein Programm auflegen, weil uns dieser enorm wichtige Bereich so sehr am Herzen liegt. Ich gehe im Gegensatz zu Ihnen davon aus - wir können uns am Jahresende gern wieder unterhalten -, daß wir trotz aller Schwierigkeiten die Misere meistern. Die Behauptung, Frau Luft, daß ich auf die Ursachen nicht eingegangen wäre, zeugt wahrlich von Ihrer wirtschaftspolitischen Kompetenz. ({3}) Denn eigentlich müßten auch Sie wissen, daß der wichtigste Indikator für eine gute Ausbildungsplatzsituation eine gedeihliche Wirtschaft ist. Wenn es uns gelingt, die Wirtschaft in den neuen Bundesländern wieder anzukurbeln, werden damit nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Ausbildungsplätze geschaffen. Genau zu diesem Thema habe ich heute gesprochen. Wenn Sie nicht in der Lage sind, diese Verbindung herzustellen, sollten Sie sich Ihr wirtschaftspolitisches Lehrgeld wiedergeben lassen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende, ich möchte nur noch kurz auf Herrn Schily eingehen. Herr Schily, ich glaube nicht, daß ich den Standort Deutschland heruntergeredet habe. Das habe ich sonst nie getan, und das werde ich heute auch nicht tun. Der Standort Deutschland hat - bis auf wenige - hervorragende Bedingungen. Diese wenigen nicht hervorragenden Bedingungen habe ich angeprangert. Diese wenigen Bedingungen drücken sich in dem Reformstau aus, der in dieser Debatte allenthalben eine Rolle spielt, insbesondere beim Steuerrecht. Ich glaube; wir sind auf dem richtigen Weg, das, was notwendig ist, zu tun. Solange wir aber diese Bedingungen haben und die sozialrechtlichen Bedingungen in der Welt so weit hinter unseren herhinken, sollte es unsere vornehmste Aufgabe sein, an allen Stellen der Welt ähnliche sozialrechtliche und wirtschaftliche Bedingungen herzustellen wie hier. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Krüger, bitte.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Bereich - darin sind wir uns wohl einig - haben wir sehr ausgewogene Bedingungen bzw. ist der Standort Deutschland wieder hinreichend wettbewerbsfähig, um neue Arbeits- und Ausbildungsplätze zu schaffen. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Schwanhold, SPD.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, sich einmal einen Moment lang die Ausgangssituation dieser Debatte vorzustellen. Es gibt Menschen, die jetzt am Fernseher oder vor einem Rundfunkgerät sitzen und darauf achten: Was sagt diese Regierung, was sagt dieses Parlament zur Überwindung der Probleme? 4,4 Millionen Menschen arbeitslos, 150 000 junge Menschen suchen einen Ausbildungsplatz. Es gibt Unternehmer, die darauf warten, ein Signal, eine Aufbruchstimmung vermittelt zu bekommen. Man muß die Reden der Regierung und der Regierungskoalition einmal an diesem Anspruch messen. Wo ist ein Stückchen Hoffnung vermittelt worden? - Nirgendwo. Herr Krüger sagt in der Kontinuität seines Dankes an alle Regierenden: Die Regierung hat alles richtig gemacht. Herr Rexrodt sagt: Wir haben mit dem, was wir eingeleitet haben, schon große Erfolge erzielt. Dies alles ist doch nicht das, was die Menschen erwarten. Die Menschen erwarten von uns, daß wir die Reformen benennen, daß wir Fehler benennen und daß wir sie überwinden. Dazu werde ich Ihnen einige Beispiele nennen. ({0}) Lassen Sie mich rückwärtsgewandt doch noch einmal die Frage stellen, Herr Rexrodt, was denn aus Ihrem 50-Punkte-Programm geworden ist. Ich habe Herrn Henkel und Herrn Franzen angeschrieben, also die Vertreter der großen Spitzenverbände, und sie gefragt, wie viele Arbeitsplätze denn durch die sozialpolitischen Kürzungsvorhaben und die Verlängerung der Arbeitszeit entstanden sind. Sie haben versprochen, mit der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten würden Sie 20 Milliarden DM zusätzlicher Kaufkraft aktivieren. Zur Zeit klagt der ganze Handel darüber, daß die Kaufkraft zurückgegangen ist und die Umsätze stagnieren. Gar nichts ist erfolgt. ({1}) Alle Spitzenverbände schrieben mir - ich stelle Ihnen das gerne zur Verfügung; Sie können ganz sicher sein, daß ich es in den nächsten Monaten in schöner Regelmäßigkeit immer wieder abfragen werde -: Es hat keine Effekte gegeben. Das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, sagt: Alle diese Einzelmaßnahmen haben bisher keinerlei Effekt erzielt. Sie rühmen sich, Sie hätten Ihr 50-Punkte-Programm umgesetzt und es gelte, nur an einem Punkt noch Veränderungen vorzunehmen; dann breche das Paradies auf dem Arbeitsmarkt aus. Was wollen Sie den Leuten, die Angst um die Zukunft ihrer Kinder und um ihren eigenen Arbeitsplatz haben, und den Unternehmern, die Angst um ihr eingesetztes Kapital haben, weil noch in keinem Monat die Zahl der Pleiten so hoch gewesen ist wie im vergangenen Monat, eigentlich noch zumuten? Was wollen Sie denen noch zumuten? ({2}) Diese Debatte wird um den Haushalt geführt. Der Haushalt ist Beleg dafür, welche Kraft Sie aufwenden, um die Schwierigkeiten zu überwinden. Schauen Sie sich doch einmal die Investitionsquote des Haushalts von 1991 bis 1996 an. Sie ist von 16,1 Prozent auf 13,5 Prozent zurückgegangen. Das scheint relativ wenig zu sein, aber wirkt sich in bezug auf Beträge und Arbeitsplätze erheblich aus. Sie sorgen dadurch, daß Sie nicht die Kraft finden, die Investitionen in diesem Haushalt zu stärken, für zusätzliche Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Welcher Unternehmer soll denn investieren, wenn noch nicht einmal ein Signal aus dem Bundeshaushalt kommt? ({3}) Damit wir uns nichts vormachen: Das verhält sich nicht nur prozentual so, sondern auch in absoluten Zahlen. Es kommt ja auch noch die Preissteigerungsrate hinzu. Nichts haben Sie in dieser Richtung zuwege gebracht. Herr Rexrodt, es wäre Ihre Aufgabe gewesen zu sagen: Ich habe mich bei der Debatte um den Haushalt nicht durchsetzen können, weil die Sparapostel Oberhand bekommen haben. Aber es ist doch nicht Ihre Aufgabe zu sagen: Ich lege einen Haushalt vor, der konjuktur- und arbeitsmarktgerecht ist. Es handelt sich um einen in der augenblicklichen Situation beschämenden Haushalt. Sie reichen Ihre Hand dazu, daß weiterhin der falsche Weg beschritten wird. ({4}) Dabei bin ich weit davon entfernt zu meinen, die Probleme ließen sich nur über öffentliche Ausgaben lösen. Wir werden uns andere Dinge noch einmal sehr genau anschauen; ich werde auch ein paar Worte dazu sagen. Wenn man sich aber die Ansätze in den Einzelhaushalten anschaut, findet man folgende Zahlen: Existenzgründungen 165 Millionen DM minus; GA Ost 112 Millionen DM minus; GA West 145 Millionen DM minus; Absatz Ost 10 Millionen DM minus, das entspricht 33 Prozent. Währenddessen ißt der Bundeskanzler Bratwürste aus Thüringen und sagt, die Leute sollten sie auch essen. Diese Inititiative finde ich richtig und gut. Daß sich Sozialdemokraten daran beteiligt haben, finde ich auch gut. Nur, das ist nicht das Problem. Die produzierende Industrie muß Marktzugang finden. Man muß sie dabei unterstützen, daß sie sich, insbesondere auch der Mittelstand, auf den Weltmärkten bewähren kann. ({5}) Noch viel schlimmer ist das Minus von 55 Millionen DM bei Forschung und Entwicklung; das sind 10,5 Prozent. Es geht also nicht nur daum, daß dieser Haushalt keine Zukunftsimpulse setzt, sondern auch darum, daß Sie dabei sind, mit diesem Haushalt schon Zukunftschancen der nächsten Jahre zu verspielen, weil Sie die Haushaltsansätze in Forschung und Entwicklung ständig kürzen und damit keine Qualifikation und Ausbildung von Arbeitskräften ermöglichen. ({6}) Darunter fallen auch solche Forschungsinstitute der AIF, die in ihrer Existenz bedroht sind und vorzügliche Arbeit geleistet haben. Ich könnte Ihnen erneut die Kürzungen der Mittel für die mittelständische Wirtschaft vorhalten: 140 Millionen DM; das sind „nur" 9 Prozent. Ihr Haushalt, Herr Wirtschaftsminister, wird überproportional gekürzt. Man muß sich dies einmal vorstellen: In einer Situation, in, der 4,4 Millionen Menschen arbeitslos sind und die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Impulse erwarten, wird dieser Haushalt gekürzt. ({7}) Das ist ein Stück aus dem Tollhaus, und der Finanzminister hört sich dies nicht einmal an. ({8}) Lassen Sie mich auf ein paar Punkte eingehen, wo bei uns ein Reformstau besteht. Herr Minister, wir fördern zur Zeit noch immer Beton ({9}) mehr als Menschen, die bereit sind, ihr Kapital in schnellwachsenden Technologieunternehmen ({10}) als Risikokapital anzulegen. ({11}) - Herr Schauerte, stellen Sie sich ins Ruhrgebiet und an die Saar, ({12}) reden Sie mit den Kolleginnen und Kollegen und erfahren Sie, welche Vorleistungen sie gebracht haben, wenn der Abbau dort vorgenommen wird, um eine sanfte Landung zu erreichen. Auch das hat etwas mit sozialer Sicherheit und mit Verläßlichkeit von Rahmenbedingungen zu tun. ({13}) Zweitens. Sie haben den Kohlepfennig kappen lassen, haben keinen Ausgleich dafür herbeigeführt und beschweren sich darüber, daß es plötzlich zum Aufwuchs im Haushalt kommt - weil Sie nicht Vorsorge getroffen haben. Sie hätten Vorsorge treffen können. ({14}) Lassen Sie es sein, Arbeitsplätze gegeneinander auszuspielen. Wir haben nämlich nicht die Situation, in der man leichtfertig sagen könnte: Diese oder andere Arbeitsplätze können wir opfern. Es gibt in diesem Land zuwenig Arbeitsplätze. Lassen Sie uns froh sein, wenn wir Arbeitsplätze am Markt erhalten und eine sanfte Landung erreichen können. Denn sonst landen alle bei Blüm, und am Ende des Jahres müssen Sie den Zuschuß an Blüm noch erhöhen. Dann wundern Sie sich, daß Sie mit den grundgesetzlichen Vorgaben nicht mehr zurechtkommen, wie in der Vergangenheit. Die Investitionsrate liegt nämlich auf Grund dieser falschen Entwicklung und Ihrer mangelnden Vorsorgepolitik längst unterhalb der Kreditaufnahme. ({15}) - Lassen Sie mich, Graf Lambsdorff, mit zwei Sätzen zu Ihrer Rede kommen. Ich ' komme gleich auf die Beispiele zurück. Ich kann mich nicht erinnern - ich bin nicht so lange hier, sieben Jahre; ich habe mir aber auch früher schon Reden von Politikern angehört -, Graf Lambsdorff, daß Sie jemals zum Bundeshaushalt des Wirtschaftsministers so eine erbärmliche Rede gehalten hätten, ({16}) in der Sie nur dargelegt haben, wie Differenzen in der SPD zu beurteilen seien, anstatt einen eigenen konstruktiven Vorschlag zu machen, wie man aus dieser Situation herauskommt, und darauf hinzuweisen, welcher Stau bei Ihnen in bestimmten Bereichen vorhanden ist, wo Sie sich bei Veränderungen gegenseitig blockieren. ({17}) Kein einziger Vorschlag! Es war erbärmlich, und es war insbesondere Ihrer nicht würdig. Wir haben hier schon andere Debatten gehabt. Ich will an das Thema Existenzgründungen anknüpfen. Natürlich freue ich mich, daß wir eine leichte Belebung des Wachstums haben; gar keine Frage. Wir müssen sie verstärken. Sie ist zur Zeit darauf zurückzuführen, daß der Export läuft, weil wir eine schwache D-Mark haben. Das ist ein wesentlicher Teil. Aber es ist auch darauf zurückzuführen, daß Gewerkschaften, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ort und die Kolleginnen und Kollegen mit den Betriebsleitungen zusammen ein hohes Maß an Flexibilität an den Tag gelegt haben, um den Herausforderungen des Weltmarktes gerecht zu werden. Ich finde, Sie sollten nicht die Gewerkschaften beschimpfen, sondern sich ausdrücklich dafür bedanken, daß sie konjunkturgerechte Lohnpolitik gemacht haben und daß sie insbesondere dafür gesorgt haben, daß die Flexibilität ermöglicht wird und innerErnst Schwanhold halb der Betriebe Arbeitsplätze gesichert werden und Zukunft gewonnen wird. Das ist ein wichtiger Punkt. ({18}) Lassen Sie mich auf das Risikokapital zurückkommen. Privat läuft hier kaum etwas. Junge Menschen gehen heute lieber nach Belgien, nach Holland oder in andere Länder, um sich die Finanzierung ihres Wachstumsunternehmens in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern. Das liegt daran, daß Sie nicht den Mut aufbringen, Risikokapital steuerlich so zu stellen, daß es sich für die Menschen lohnt, darin zu investieren, um zunächst einmal eine Kultur des Wagniskapitals entstehen lassen. ({19}) Dazu ist von Ihrer Seite nichts gekommen. Sie reden darüber. Im März 1995 haben wir Ihnen einen Antrag dazu vorgelegt, den Sie abgelehnt haben, dem Sie nicht zugestimmt haben; Sie sind diesen Weg nicht mitgegangen. Der zweite Punkt ist - da, finde ich, kann man in Amerika viel lernen -: Natürlich gibt es in den schnell wachsenden Industrien, in den Zukunftstechnologien die Notwendigkeit der Neuansiedlung. Natürlich ist es notwendig, Ausgründungen aus dem Hochschulbereich vorzunehmen. Was haben Sie dafür getan, daß wir Kapital und das Wissen der jungen Leute zusammenbringen, um daraus Arbeitsplätze und Produkte und Angebote für den Markt der Zukunft zu machen? Ich kann nicht erkennen, daß Sie irgendwo eine Initiative gestartet hätten. Ich kann nicht erkennen, daß in diesem Haushalt eine Initiative enthalten wäre. Auch den Bereich der Mittelstandspolitik muß man sich einmal sehr genau anschauen. Sie reden von Steuersenkungen. Graf Lambsdorff, mir kann jede Steuerdebatte und jede Veränderung gestohlen bleiben, die am Ende nicht zu dem Erfolg führt, daß wir die mittelständische Wirtschaft in die Lage versetzen, ihr eigenes Wachstum zu finanzieren, und daß das, was sie hier produzieren will, auch von den Menschen in diesem Land gekauft werden kann oder auf den Weltmärkten angeboten werden kann. Ihre Debatte über die Steuerreform ist eine ganz andere. ({20}) Ihre Debatte zielt darauf, die großmäuligen Erklärungen einiger Verbandsvertreter von Unternehmen, die längst mit ihren Steuerzahlungen unterhalb derer eines jeden Mittelständlers sind, mit der Aussage nachzuahmen: Wir müssen die Spitzensteuersätze nach unten anpassen. - Die Unternehmen, die weltweit operieren, zahlen hier kaum noch Steuern oder sehr wenig Steuern. Wenn wir. eine Steuerreform wollen, dann heißt das: Diese Unternehmen müssen mehr Steuern bezahlen und die mittelständische Wirtschaft muß entlastet werden. Dies ist ein wichtiger Punkt. ({21}) Der zweite Punkt. Die mittelständische Wirtschaft ist in aller Regel beschäftigungsintensiver. Sie hätten mit uns längst haben können, daß die Lohnnebenkosten, die in der Bilanz der Unternehmen genauso wirken wie andere Abgaben und Steuern, gesenkt werden können. ({22}) Das hätte zur Folge gehabt: Sie würden den Druck zur kurzfristigen Rationalisierung, um sich auf den Weltmärkten zu behaupten, von den Unternehmen und den Zeitdruck aus dieser gegenwärtigen Debatte nehmen. Wir würden dadurch ein Stückchen Zeit gewinnen. Das ist die erste Bemerkung. Die zweite Bemerkung. 50 Prozent von dem, was wir an Lohnnebenkosten einsparen, würden bei den Unternehmen landen, um ihre eigene Zukunft zu finanzieren, und 50 Prozent würden bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern landen, so daß endlich die Kaufkraft in dieser Bevölkerungsgruppe gesteigert wird, weil die Differenz zwischen Brutto- und Nettolohn geringer wird. Diese Botschaft hätte man haben können; das hätte man machen können. Daran wirken Sie aber nicht mit. Lassen Sie mich einen letzten Punkt zum Bereich des Mittelstandes sagen, von dem ich glaube, daß er Ihnen überhaupt nicht bewußt ist. Sie haben keine Initiative unternommen, aus dem Förderwirrwarr mit Anlaufstellen für viele Förderprogramme wenige Programme mit einer Anlaufstelle zu machen, so daß ein mittelständischer Unternehmer, der sich Sorgen um die Zukunft seines Unternehmens macht und der Wachstum finanzieren will, den Überblick über die Fördermaßnahmen behält. Nach wie vor fahren Sie mit Ihrem alten Kurs fort: hier ein kleines Programm, dort ein kleines Programm. Seit Monaten haben wir Ihnen eine Konzeption vorgelegt. Wir sagen: Der Staat und die Wirtschaftspolitik muß sich auch als Dienstleister für die mittelständische Wirtschaft verstehen. Dazu gehört eben eine Anlaufstelle. Nein, Sie gehen Ihren Weg weiter. Sie machen weiterhin Staatssekretärsprogramme mit zweifelhafter Wirkung. In den Kernbereichen, in denen es darauf ankäme, kürzen Sie und setzen nicht die Zeichen der Zeit, die notwendig wären, damit die Unternehmen Hoffnung schöpfen. Minister Rexrodt, ich möchte Ihnen zum Abschluß zwei Dinge sagen, von denen ich glaube, daß Sie sehr ernsthaft darüber nachdenken sollten. Die Aufgabe des Wirtschaftsministers in diesem Land ist es nicht, eine falsche Politikrichtung zu verfolgen und zu verteidigen. Die Aufgabe des Wirtschaftsministers in diesem Land ist es, den Unternehmen den Boden zu bereiten, daß sie expandieren und Arbeitsplätze anbieten können. Das haben Sie bisher in Ihrer Amtszeit versäumt. Für entsprechende Bemühungen haben Sie bisher keinen Beleg geliefert. Die Zahlen sprechen insgesamt gegen Sie: 2,9 Prozent Wachstum im letzten Vierteljahr sind erreicht worden, obErnst Schwanhold wohl Sie Minister sind - obwohl und nicht weil. Das ist die erste Bemerkung. ({23}) - Nein, das ist überhaupt keine Polemik, sondern der Hinweis darauf, daß Sie sich mit den Zahlen und den Ergebnissen Ihrer Politik auseinandersetzen sollten und nicht den Versuch unternehmen sollten, Ihre eigene Unfähigkeit dem deutschen Volk als Unfähigkeit der Opposition zu verkaufen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Achten Sie bitte auf die Zeit, Herr Kollege.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es glaubt Ihnen sowieso niemand mehr, wie die Umfragen ergeben. Die zweite Bemerkung, Herr Minister Rexrodt, werde ich aus persönlicher Achtung vor Ihnen später privat machen, nicht jetzt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Zur Kurzintervention die Kollegin Fuchs.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein Kollege Schwanhold hat sich zu Recht mit dem Wirtschaftsminister darüber unterhalten, wie wir Verläßlichkeit und Zukunftsorientierung miteinander vereinbaren. ({0}) Herr Kollege Rexrodt, ich muß Ihnen sagen: Wie Sie als Mitglied des Kabinetts, das der Kohlepolitik zugestimmt hat, bei jeder Diskussion über Geld das Stichwort „Kohle" in die Welt rufen, halte ich für unerträglich. ({1}) Es hat über diese Frage Konsens gegeben. Man mag zu Kohlesubventionen stehen, wie man will. Aber es geht nicht an, daß es der für die Umsetzung dieser Vereinbarung zuständige Wirtschaftsminister an Verläßlichkeit mangeln läßt. Denn Sie wissen wie ich, wie schwierig der Prozeß in den nächsten Jahren werden wird. Das will ich allen deutlich machen. Er bedeutet nämlich, daß wir 40 000 Arbeitsplätze abbauen, daß wir die Strukturen verändern, um das zu erhalten, was, mit moderner Technologie versehen, auch für die Zukunft taugt. Ich muß Ihnen sagen: Es ist eine Disziplinlosigkeit, daß ein Kabinettsmitglied die Verläßlichkeit der Vereinbarungen in Frage stellt. ({2}) Das zweite: Mein Kollege Schwanhold hat zu Recht auf die Rede von Graf Lambsdorff Bezug genommen. Graf Lambsdorff, wenn Ihre These richtig ist, daß die Angebotsseite ausschlaggebend ist für die Höhe der Beschäftigung, dann müßten in der DDR eigentlich sehr viel mehr Arbeitsplätze vorhanden sein als bei uns. ({3}) Denn die Löhne sind 30 Prozent niedriger. Die Tarifbindung ist sehr viel geringer. Die Jahresarbeitszeiten sind sehr viel länger, und der Krankheitsstand ist geringer. Diese Zahlen beweisen Ihnen, daß es Unsinn ist, wenn Sie meinen, eine einseitige sozial unverträgliche Politik werde für mehr Arbeitsplätze sorgen. Richtig ist vielmehr, daß wir wie immer einen Policy-Mix brauchen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Kollegin Fuchs, Sie bauen hier Szenarien auf, die fern von der Realität sind. Ich habe - es ist ein Sachverhalt, den ich beschrieben habe - darauf hingewiesen, daß aus meinem Haushalt, der eine Größenordnung von 16,1 Milliarden DM hat, 8,7 Milliarden DM in die Subventionierung der Kohle fließen. ({0}) Ich habe gesagt, daß das eine Größenordnung ist, die uns Spielräume nimmt, an anderen Stellen Förderpolitik so zu betreiben, wie wir uns das wünschen, und daß eine Konsequenz daraus ist, diesen Betrag bis zum Jahre 2005 auf 4,5 Milliarden DM abzubauen. Das ist ein Sachverhalt. Wenn der Kollege Schwanhold in diesem Zusammenhang sagt, wir investierten in Beton und nicht in das, was wir technologisch eigentlich wollen, dann ist doch wohl der Hinweis erlaubt, daß Beton und Kohle insoweit dicht beieinander liegen. ({1}) Frau Kollegin Fuchs, es kommt darauf an, daß eine Bundesregierung verläßlich ist. ({2}) Es hat noch nie - das wissen auch die Menschen aus dem Ruhrgebiet und von der Saar - einen Zweifel daran gegeben, daß wir getroffene Zusagen einhalten und Zuwendungsbescheide herausgeben. ({3}) Es wird aber wohl erlaubt sein, darauf hinzuweisen, daß bei aller Anerkennung dessen, was an Ruhr und Saar geschehen ist, hier eine Förderung stattfindet, die einer konsequenten Rückführung bedarf, damit wir Mittel freibekommen, um Technologiepolitik zu betreiben und das zu verwirklichen, was im Interesse des Mittelstands und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze notwendig ist. ({4}) Verläßlich zu sein, aber die Dinge beim Namen zu nennen - das wird von einem Bundesminister verlangt. So ist das üblich, und das wollen die Menschen draußen im Lande hören. Wir stehen zu unseren Vereinbarungen. Aber wir machen eine klare Politik zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich der Hochtechnologie und für die Zukunft. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Graf Lambsdorff, bitte.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, vielen Dank. Herr Kollege Schwanhold, Sie haben mit Recht gesagt: Wir brauchen Arbeitsplätze am Markt. Aber die Arbeitsplätze im Bergbau sind wahrlich keine Arbeitsplätze am Markt. Man kann darüber diskutieren, ob diese Subventionierung notwendig und richtig ist. Aber Arbeitsplätze am Markt sind dies nicht. Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte die Gewerkschaften kritisiert. Ich habe sie heute gar nicht erwähnt. Aber es gehört zu Ihrem Bild von mir, daß ich die Gewerkschaften kritisiere. ({0}) - Das ist nicht absolut falsch. Zwar nicht so total, wie Sie es meinen; aber jeder hat sein Bild und seine Vorstellungen. Sie meinten, die Gewerkschaften hätten konjunkturgerechte Lohnabschlüsse vertreten. Ich erinnere an den Metallabschluß 1995, der zur Stärkung der Arbeitslosigkeit gewaltig beigetragen hat. ({1}) Heute wissen wir doch - niemand bestreitet das mehr -, daß die Lohnpolitik in den neuen Bundesländern mit dazu beigetragen hat, daß der Anschluß nicht gefunden worden ist. Es nutzt doch nichts, Frau Fuchs, wenn Sie darauf hinweisen - übrigens, wir sind uns doch hoffentlich einig, daß es die DDR nicht mehr gibt -, ({2}) daß die Löhne dort so niedrig sind, wenn Sie nicht gleichzeitig erwähnen, wie niedrig die Produktivität noch immer ist und daß die Wettbewerbsfähigkeit auf diese Weise nicht zustande kommen kann. Wir brauchen Risikokapital; da bin ich mit Ihnen einig, Herr Schwanhold. Aber dann müßten Sie diese primitive Art der Shareholder-Value-Kritik bleiben lassen. Denn Aktionäre sind diejenigen, die Risikokapital zur Verfügung stellen. Wenn Sie das von denen brauchen, können Sie sie nicht gleichzeitig beschimpfen. ({3}) Sind Sie bereit, bei der Steuerpolitik dafür zu sorgen, daß zum Beispiel Veräußerungsgewinne bei Venture-Capital-Gesellschaften nicht mehr besteuert werden? Dann sind Sie einen guten Schritt weiter. ({4}) Ich sehe da bisher keine Zustimmung bei Ihnen. Sie haben, glaube ich, beim zweiten und dritten Finanzmarktförderungsgesetz zugestimmt. Das können Sie nicht einfach unter den Tisch fallen lassen und so tun, als sei für die Verbesserung der Rahmenbedingungen des Risikokapitals nichts geschehen. Mittelständische Wirtschaft und Steuern: Richtig, viele Großunternehmen zahlen heute auf Grund verschiedener Umstände niedrigere Steuern. Aber dann sorgen Sie bei mittelständischen Unternehmen - das sind häufig Kommanditgesellschaften, Einzelkaufleute und offene Handelsgesellschaften - endlich dafür, daß diese unsinnige Debatte der Rechtsformneutralitätsverweigerung bei Ihnen aufhört. Das geht so nicht. Sie können nicht sagen: Die GmbH und die AG besteuere ich, und sonst helfe ich mir mit der Krücke der gewerblichen Einkünfte. Ich habe überhaupt vermißt, daß Sie ein paar Fragen, die ich gestellt habe - Sie haben ja behauptet, ich hätte gar nichts gesagt -, nicht beantwortet haben. ({5}) - Sie sagen, ich hätte hier nichts vorgeschlagen. Frau Fuchs kritisiert, daß die Thesen, die ich aufgestellt habe, alle falsch seien. Nur einer von Ihnen kann recht haben. Letzte Bemerkung. Ob, verehrter und lieber Herr Kollege Schwanhold, meine Ausführungen heute „erbärmlich" waren, schaue ich morgen in der Presse nach und werde versuchen, das nachzulesen. Aber wenn Sie schon das Wort „erbärmlich" benutzen, liegt das nahe bei christlichem Erbarmen, und für diese Absicht bedanke ich mich. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich gebe nur noch einmal einen Hinweis, weil es bei solchen Beiträgen zwischendurch immer wieder mal den einen oder anderen juckt, sich zu melden. Die Regeln sind so, daß es Kurzinterventionen nur auf Redebeiträge gibt, nicht auf Kurzinterventionen. Daran muß ich mich halten; so ist die Geschäftsordnung. ({0}) Jetzt frage ich Sie, Herr Kollege Schwanhold: Es gibt noch eine Kurzintervention. Wenn wir die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose vorziehen, gebe ich Ihnen nachher fünf Minuten im Zusammenhang. ({1}) - Also, dann Herr Schauerte, bitte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schwanhold, Sie haben in weiten Teilen Ihrer Ausführungen den Eindruck zu erwecken versucht, als sei Ihre Position und die Position Ihrer Partei das Heil für den Mittelstand. ({0}) Die zentrale Frage, die den Mittelstand bewegt, ist die große Höhe der Staatsquote, Abgaben und Steuern zusammen. Beide wirken verheerend in dieser Höhe. Ich höre in all Ihren Beiträgen, in all Ihren Ansätzen lediglich Vorschläge, die Anteile von der Sozialversicherung in die Steuer oder von der Steuer in die Sozialversicherung zu verschieben, aber leider an keiner Stelle einen nennenswerten Beitrag, um das Niveau insgesamt zu senken. Nur das aber würde helfen. Das wäre wirkliche Mittelstandspolitik. Was meinen Sie, wie „froh" der Mittelstand wäre, wenn Sie - das ist letztlich Ihr Programm, und das bieten Sie uns ernsthaft an - in den Einsparungskonzepten, zum Beispiel strukturelle Senkung bei Rentenversicherungsbeiträgen etc., nichts tun, sondern nur hingehen und sagen: Wir nehmen ein Prozent Beitrag heraus und erhöhen die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt. ({1}) Ich sage Ihnen: Der Mittelstand wird sich vor Freude gar nicht fassen können, daß er nun endlich eine höhere Mehrwertsteuer - mit all den verheerenden Auswirkungen auf die Beschäftigung, etwa in Form von Schwarzarbeit - bekommt. ({2}) - Herr Kollege Schwanhold wird doch sicher Manns genug sein, all das, was Sie wissen, nachher vorzutragen. - Nein, Sie kommen nicht weiter, wenn Sie nicht gleichzeitig Kostensenkung und Einsparung mit auf die Reise geben. ({3}) Sonst leisten Sie keinen sinnvollen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in Deutschland. Das weiß der Mittelstand. Erkundigen Sie sich deswegen einmal bei allen, die in mittelständischen Organisationen arbeiten, Herr Schwanhold. Fragen Sie die Herrschaften, ob sie meinen, daß unsere Steuersenkungskonzeption richtig und notwendig ist, oder ob man bei Ihrer Konzeption verbleiben soll. Sie werden auf breiter Ebene nur die Mitteilung bekommen: Um Gottes willen, Sozialdemokraten, gebt eure Blockade auf, macht eine wirkliche Reform der Steuerbelastung in Deutschland mit. ({4}) Das ist die Stimmung im Mittelstand. Sie könnten wertvolle Beiträge zur Stärkung des Mittelstandes leisten. Beschäftigen Sie sich nicht mit vielen Randproblemen, gehen Sie an den Kern der Sache heran. Senken Sie die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland. Eröffnen Sie dazu Wege! Das wäre hilfreich. Alles andere ist dummes Gerede. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Schwanhold.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Graf Lambsdorff, wenn ich im Eifer des Gefechts „erbärmlich" gesagt habe, dann nehme ich das ausdrücklich zurück und sage: „Enttäuschend" war gemeint. Ich stehe überhaupt nicht an, solch einen Begriff nicht zu revidieren. Ich finde, Erbarmen haben Sie nicht nötig, Graf Lambsdorff. Das wäre falsch. Aber nun zur Sache. Lassen Sie mich anfangen mit Herrn Schauerte, der ja von der SPD plötzlich redet, als ob sie der Mehrwertsteuererhöher sei. Ich kann mich eigentlich nur daran erinnern, daß der verehrte - hier hat Herr Kollege Fischer gesagt: „designierte Ex-Finanzminister" - Herr Waigel diese Debatte mit Freundlichkeiten hochgezogen hat und daß sie in Ihren Reihen auf das heftigste geführt worden ist, so daß sich der Kollege Westerwelle und der Kollege Gerhardt massiv dagegen wenden und den Bruch der Koalition antreten müßten. Das war doch das Sommertheater, oder war ich in irgendeinem Märchen? Wer hat das eigentlich gemacht? ({0}) Insofern, Herr Schauerte: Quatsch, daneben, sechs. ({1}) Das war die erste Bemerkung. Ich sage Ihnen aber noch zwei Dinge zu der Frage, was die Mittelständler denn tatsächlich von uns erwarten. Gehen Sie einmal zu den Händlern und fragen Sie sie doch mal, was das Wirtschaftsministerium mit der sechsten Kartellrechtsnovelle anrichten wird, was den Mittelstand und seine Chancen in der Zukunft angeht. Sie werden sehen, welche „Dankesbriefe" sie Ihnen schreiben und welche Bittbriefe sie uns schreiben, um für Unterstützung dafür zu sorgen, daß im Bereich des mittelständischen Handels auch noch eine Zukunft für die Restbestände bleibt, die angesichts des beschriebenen Prozesses noch da sind. Dies ist eine wichtige Frage, über die wir zu reden haben. Im Zusammenhang mit dem Mittelstand haben wir über eine weitere wichtige Frage zu reden. Das ist nicht die Frage der Handwerksordnung - das ist auch eine wichtige Frage, aber nicht die allerzentralste Frage. Die wichtigste Frage ist: Welche Chancen eröffnen wir den mittelständischen Unternehmen eigentlich angesichts des gnadenlosen Verdrängungswettbewerbs gegenüber diesen Unternehmen? Das hat etwas mit Steuern zu tun. Das hat aber insbesondere etwas mit Technologietransfer zu tun, das hat etwas mit Marktzugangshilfen zu tun, und das hat etwas mit Orientierung an den Weltmärkten zu tun. Dazu erkenne ich keinen Ansatz. Dies habe ich an Beispielen des Haushaltes deutlich gemacht. ({2}) Nun, Graf Lambsdorff, eine letzte Bemerkung zu den konjunkturgerechten Lohnabschlüssen: Es ist richtig, daß in Ostdeutschland die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Grund der Situation, die dort vorherrscht - hohe Arbeitslosigkeit, schlechter Zugang zu den Märkten, geringe Absatzchancen -, mit etwas Druck freiwillig auf einen Lohn verzichtet haben, der ihnen ein auskömmliches Leben unter Gleichheit der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen würde. Damit haben sie einen großartigen Beitrag dazu geleistet, daß die Unternehmen, die sich dort selbständig gemacht haben, auch in Zukunft eine Chance haben. Aber daß konjunkturgerechte Lohnpolitik natürlich auch etwas damit zu tun hat, daß die Produktivitätszuwächse verteilt werden und daß man nicht allzu weit entfernt bleibt von dem, was an Wertschöpfung zusätzlich in den Unternehmen gewonnen wird, ist auch klar. Wir hatten in den letzten Jahren Reallohneinbußen. Das ist ein Teil der Probleme, die wir haben; denn daraus resultiert keine Nachfrage. ({3}) Wenn Sie Menschen an anderen Stellen der Erde fragen, unter welchen Aspekten sie investieren, dann fragen die: Was ist mit dem Markt? Dann fragen sie: Was ist mit dem Humankapital, wie sind die Leute ausgebildet, was ist mit der Infrastruktur? Dann fragen sie: Was ist mit Shareholder Value oder mit Steuern? Das werden sie aber in dieser Reihenfolge fragen; die Steuern sind das letzte. Ich sage Ihnen: Wir haben in unserem Land eine Schwäche des Marktes. Wer soll eigentlich hier investieren, wenn der Markt völlig gesättigt ist und nichts mehr aufnimmt? ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Mosdorf, war das eine Meldung zu einer Kurzintervention? - Dann müssen Sie bitte sagen, auf welchen Redner Sie sich beziehen wollen.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, es bezieht sich auf den Bundeswirtschaftsminister, der in seiner Rede von Verläßlichkeit gesprochen hat.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Mosdorf, genau das ist das Problem. Es war eine Erwiderung auf eine Kurzintervention, und dazu gibt es keine erneute Kurzintervention. Es tut mir leid. Ich muß mich an die Regeln halten, die sich das Haus gegeben hat. Ich bin dazu da, dafür zu sorgen, daß sie eingehalten werden. Der nächste Redner ist der Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU. - Bitte, Herr Kollege. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich verschiedene Kurzinterventionen deute und vor allen Dingen die Rede des Kollegen Schwanhold analysiere, dann stelle ich fest, daß er die letzten zweieinhalb Stunden anscheinend nicht hier im Raum gewesen ist. Es wurden genau die Probleme angesprochen, die uns momentan wirtschaftlich bewegen und die vor allen Dingen den vielen Mittelständlern, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, auf den Nägeln brennen. Herr Kollege Schwanhold, wenn Sie hier Krokodilstränen um den Mittelstand weinen, dann sollten Sie sich dessen erinnern, was jüngst Ihr Kollege Rixe, ein Handwerksmeister, gesagt hat: Das große Problem der SPD ist, daß sie in dem Unternehmer den Ausbeuter sieht; diesen Makel werden wir einfach nicht los. ({0}) - Das tut weh, Frau Kollegin Matthäus-Maier, aber er hat das nun einmal gesagt. Das kann nicht wegdiskutiert werden. Ich habe das erwähnt, weil ich meine, daß er recht hat. ({1}) Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in den letzten zwei Jahren war bei solchen Debatten hier immer ein besonderer Gast zur Stelle. Er fehlt heute auf der Bundesratsbank. Es ist der Ministerpräsident ({2}) von Niedersachsen, Herr Schröder. ({3}) - Herr Stoiber war erst jüngst wieder da. Er kommt öfter, als es Ihnen vielleicht lieb ist. Herrn Schröder hat anscheinend der Bannstrahl Ihrer Fraktion getroffen. Sie haben ihm offensichtlich Hausverbot erteilt, so daß er bei Wirtschaftsdebatten nicht sprechen darf, obwohl er für sich in Anspruch nimmt, ein exzellenter Wirtschaftsfachmann zu sein. Das läßt ganz tief blicken. Ich frage mich nur, wie lange es noch dauern wird, bis er wieder kommen darf. Wenn Sie die Meßlatte hier so hoch gelegt haben, daß er erst in seinem Land vernünftige Daten vorweisen muß, bevor er wieder kommen darf, dann dauert das sicher noch zehn Jahre. ({4}) Als genauso erfolglosen Ministerpräsidenten wie Herrn Schröder empfinde ich Herrn Lafontaine, Ihren Parteivorsitzenden, der ja mit Herrn Schröder um das Amt des Kanzlerkandidaten buhlt. Gestern kam er zu uns, versuchte, eine große Rede zu halten, und wollte alles besser wissen, ging aber mit keinem einzigen Wort auf die miserable Lage seines Landes, des Saarlandes, ein. ({5}) Vielmehr läßt er sich von Blockade, koste es, was es wolle, leiten. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Herr Stihl, hat doch recht, wenn er sagt, mit der Blockade der Steuerreform treibe Lafontaine unser Land in die Kreisklasse. Herr Kollege Schwanhold, nehmen Sie sich auch das zu Herzen und reden Sie einmal mit Herrn Stihl. Meine Damen und Herren, mancher hat sich bei der gestrigen Rede von Lafontaine sicherlich gefragt, für wie dumm er die meisten Mitbürger hält. Ich bin aber davon überzeugt, daß sie ihm sicherlich nicht auf den Leim gehen. Ein altes Sprichwort sagt: Zeige mir, was du kannst, und ich werde dich dann belohnen. Ich meine daher, sagen zu müssen: Gnade allen Mitbürgern unserer Republik, wenn Versager in ihren Ländern führende Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland übernähmen. ({6}) Meine Damen und Herren, unseren Bürgern ist bewußt, daß wir in einer Zeit großen Umbruchs leben, in einer Zeit, in der ökonomische Barrieren und Grenzen fallen und andere Volkswirtschaften aufholen. ({7}) Die Globalisierung zieht immer größere Kreise. Schließlich sind wir mitten in der dritten und vierten industriellen Revolution. ({8}) Wissen, vor allem neues Wissen wird zum dominierenden Produktionsfaktor. Nachhaltigkeit rückt in den Vordergrund. Herr Fischer, auf Sie komme ich nachher noch ganz kurz zu sprechen. ({9}) Vieles ist nicht mehr so, wie es einmal war. Vieles ist nicht so, wie es sein sollte. Ich verweise nur auf das gesellschaftspolitische Problem Nummer eins: die unbefriedigende Beschäftigungslage. Wir haben es mit Zeiten der Bewährung zu tun, sowohl die Wirtschaft als auch den Standort Deutschland betreffend. „Fit werden für die Zukunft" ist die große Herausforderung für uns alle. Für uns, für die Politiker, bedeutet dies mehr noch als früher, die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln konsequent zu verbessern, also für bürokratieberuhigte Zonen zu sorgen, zur Kostendämpfung beizutragen und Leistung, Investitionen und Innovationen zu fördern. Für die Unternehmen geht es darum, sich im harten Wettbewerb zu behaupten und verstärkt mit neuen Produkten und Dienstleistungen, mit neuen Betrieben in neue Märkte hineinzustoßen. Unser Staat und unsere Gesellschaft braucht eine Frischzellenkur. Wir brauchen junge Unternehmer mit Mut, Phantasie und dem Willen, die Welt des 21. Jahrhunderts mitgestalten zu wollen. Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland viele Bill Gates, wir brauchen viele Existenzgründer. ({10}) Wir brauchen Hunderttausende von Betriebsübernehmern. 300 000 Betriebe stehen bis zum Jahr 2000 zur Übergabe an. Viele davon haben heute noch keinen Nachfolger. ({11}) Deshalb möchte ich mich bei Bundeswirtschaftsminister Rexrodt und insbesondere auch bei Bundesfinanzminister Dr. Waigel bedanken. ({12}) Sie haben nämlich die Grundlage dafür geschaffen, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm ausgeweitet werden konnte und auch von Betriebsübernehmern in Anspruch genommen werden kann. Das ist Politik für die Zukunft. ({13}) Das kam nicht von Ihnen, das kam von uns, weil wir die Zwänge gesehen haben. ({14}) - Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Kollege Schwanhold. Sonst stehlen Sie mir die Zeit. Es muß doch jedem zu denken geben, wenn ein Kommentator der holländischen Zeitung „De Telegraaf" jüngst schrieb: Den Deutschen fällt die Veränderung schwer. Während die Welt sich mit hoher Geschwindigkeit wandelt, versuchen die Deutschen mit viel Energie, alles beim alten zu lassen. Weg mit der Dampfmaschine, zurück zum Pferd - lautet ihre Devise. ({15}) Ich meine, da muß er wohl die Politik der Opposition im Blick gehabt haben; denn wir Koalitionsparteien halten es eher mit der Weisheit Dantes, der sagte: Der eine wartet, bis die Zeit sich wandelt - der andere sieht die Chance und handelt. Davon lassen wir uns in erster Linie tragen und lenken. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich nehme natürlich mit Freude zur Kenntnis, daß gerade gestern die Wirtschaftsinstitute der Bundesrepublik Deutschland für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich zirka 2,5 Prozent konstatiert haben. Und ich hoffe, daß das, was erhofft wird, wirklich eintritt, nämlich daß das Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr 3 Prozent betragen wird. ({16}) Ich darf in diesem Zusammenhang darauf verweisen, daß die gesamtwirtschaftliche Entwicklung natürlich insbesondere vom Auslandsgeschäft getragen wird. Die Achillesferse dagegen stellen nach wie vor die Investitionen dar, die sich schwächer entwickeln als in vergleichbaren Phasen früherer Konjunkturzyklen. Vieles, um nicht zu sagen: alles, hängt davon ab, wie weit es uns gelingt, die Investitions- und Innovationsfähigkeit der heimischen Wirtschaft zu verbessern ({17}) und die Bereitschaft in- und ausländischer Investoren, sich am Standort Deutschland zu engagieren, zu stärken. ({18}) Nur mehr Neuinvestitionen schaffen mehr neue Arbeitsplätze. Mehr Arbeit und damit mehr Einkommen belebt den privaten Konsum und füllt die öffentlichen Kassen. ({19}) Die Steuer- und Abgabenlast kann schrittweise abgebaut werden. Das fördert wiederum Investitionen, Wachstum und Beschäftigung. Der Aufschwung trägt sich dann selbst. Das ist der richtige Weg zum Ziel. ({20}) Alles andere, verehrte Kolleginnen und Kollegen, führt auf den Holzweg. ({21}) Wir haben finanzielle Schwierigkeiten, und diese können nicht wegdiskutiert werden. Aber die geplanten Steuern und sozialpolitischen Probleme müssen zu einem guten Abschluß gebracht werden.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich gerne, Frau Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hinsken, Sie sagten gerade, daß die Niederländer immer darauf hinweisen, bei uns bliebe alles beim alten. Ich habe an Sie zwei Fragen. Erstens: Haben Sie Ihre Bäckerei bzw. Konditorei tatsächlich jeden Tag bis 20 Uhr und auch sonntags geöffnet? Zweitens: Können Sie vor dem Hintergrund, daß bei uns alles beim alten bleibt, im Rahmen der Handwerksordnungsnovelle dafür votieren, daß nicht nur die beiden Berufe Konditor und Bäcker als Meisterberufe erhalten bleiben und nicht zusammengelegt werden, sondern daß auf Ihre Intervention hin auch noch der Beruf des Pfefferküchlemeisters eingeführt wird? War das eine Initiative für die Innovation an unserem Standort Deutschland?

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Hinsken, bevor Sie antworten, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie Ihre Zeit schon überschritten haben. Sie müssen also auch den Schluß Ihrer Rede in die Antwort packen, sonst muß ich Sie abklingeln. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, so etwas haben wir noch nicht erlebt.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das war eine freundliche Bemerkung.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich verstehe vieles, aber ich verstehe nicht, daß fünf oder sechs Kurzinterventionen zugelassen werden und den einzelnen Rednern dadurch mehr Zeit eingeräumt wird als dem, der jeweils von der Fraktion gemeldet wird. Ich kann in der Kürze der Zeit diese Fragen natürlich nicht in meine Antwort packen, die ich noch geben möchte. Auch verschiedene andere Fragen, die im Laufe dieser Debatte von Bedeutung waren, kann ich nicht beantworten. Deshalb möchte ich bitten, Herr Präsident, daß ich diese gestellte Frage ganz kurz individuell beantworten darf.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich wollte Ihnen eine Brücke bauen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Wolf, zum ersten: Sie können in meinem Betrieb nicht bis 20 Uhr einkaufen, weil ich meinen Betrieb auf Belieferung und Verschickung umgestellt habe. Sie können sich von mir jede Menge der guten Produkte schicken lassen, die in meinem Betrieb hergestellt werden. ({0}) Zum zweiten: Wir haben uns gerade bei der Neufassung der Anlage A der Handwerksnovelle mit den Themen auseinandergesetzt, die Sie jetzt noch einmal in Form dieser Frage einbringen. Wir wollen das Handwerk so ausrichten, daß es auch in Zukunft Bestand hat. Um das Problem Pfefferküchle zu nennen: Wir wollen eine Grundlage schaffen, daß diejenigen, die bisher diesen Beruf ausgeübt haben, diesen auch weiterhin mit der Bezeichnung ausüben können. Aber das wissen Sie natürlich alles nicht, weil Sie bei der Anhörung zu diesen Problemen durch Abwesenheit immer geglänzt haben. Leider Gottes muß ich das sagen. ({1}) Verehrter Herr Präsident, ich möchte mich deshalb Ihrer Aufforderung entsprechend dem Schluß zubewegen und möchte verschiedene Sachen, die mich bewegen, hier nicht mehr besonders ansprechen. Aber eines sei mir doch gestattet, nämlich zur Lehrstellensituation noch ein paar Worte sagen zu dürfen. Niemand bildet mehr aus als der Mittelstand. Deswegen gehört er auch gepflegt und gestützt, so daß er dieser Ausbildungsbereitschaft nachkommen kann. Herr Kollege Fischer, Ihre Zwischenrufe von vorhin verstehe ich gar nicht. Sie tun ja gerade so, als würden Sie von Berufsausbildung etwas verstehen. Wenn ich im Handbuch des Deutschen Bundestages nachlese, was Sie gelernt haben, dann kann man dort lesen: Staatsminister a.D. Deshalb fehlt mir dafür jedes Verständnis. Also würde ich Ihnen empfehlen, sich zunächst zu informieren, bevor Sie sich wieder einmal hierzu äußern. ({2}) Im großen und ganzen meine ich, daß gerade diese Bundesregierung hervorragende Wirtschaftspolitik in harten Zeiten, in einer Zeit der Globalisierung betrieben hat und weiterhin betreiben wird. Wenn dieser Weg von uns gegangen und wenigstens ein bißchen von Ihnen, der Opposition, unterstützt und nicht weiter blockiert wird, dann ist mir nicht bange, daß wir die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft bewältigen werden. Die Wähler werden hoffentlich wissen, auf wen sie zu setzen haben. Ich gehe davon aus, daß diese Botschaft übergekommen ist, und hoffe, daß Sie von der SPD diesen Appell gehört haben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft liegen nicht vor. Wir kommen jetzt zum Einzelplan 11, Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Das Wort hat Herr Minister Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren jetzt über den Einzelplan 11, Soziales. Es liegt nahe, daß wir in dieser Debatte eine große Rentenschlägerei veranstalten. Das geht. Sie können es; wir können es; ich kann es. Ich frage nur: Wem nutzt es? Ich habe zu einer solchen Rentenschlägerei keine Lust. Eigentlich ist es traurig, meine Damen und Herren. Sie wollen das Rentensystem erhalten; wir wollen das Rentensystem erhalten. Sie wollen den Bundeszuschuß erhöhen; wir wollen ihn erhöhen. Dennoch gibt es keine Einigung. Gewinner dieses Streits, die lachenden Dritten werden diejenigen sein, die das System überwinden wollen. Verlierer sind die Rentner; Verlierer ist die Rentenversicherung - sie wird Vertrauen verlieren. Ich sage auch jetzt den Satz: Die Rente ist sicher. Aber sie bleibt nicht sicher, wenn wir nicht handeln. Rentensicherheit ist kein Naturereignis; sie fällt nicht vom Himmel, und sie fällt uns nicht in den Schoß. Wir müssen Antworten geben auf neue Herausforderungen. Von der Hand in den Mund zu leben und Rentenpolitik bis zur nächsten Straßenecke zu betreiben, das ist kein Beitrag zur Rentensicherheit. ({0}) Immer nur mehr Ausgaben zu fordern, das ist ebenfalls kein Beitrag zur Rentensicherheit. Diese Rechnungen erinnern mich an Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz, dessen Haushalt auch immer ausgeglichen war, weil er nur die Ausgaben zählte. Zur Rentensicherheit gehört auch, eine langfristige Politik mit erträglichen, verkraftbaren Beiträgen und anständigen Renten zu machen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wollen mit der einen Hand den Bundeszuschuß um 13 Milliarden DM erhöhen; mit der anderen Hand wollen Sie Einschränkungen beim Rentenbezug zurücknehmen, nämlich die Verkürzung der anzurechnenden Ausbildungszeit. Ferner wollen Sie eine gewisse Mindesthöhe der Rente garantieren. Das allein kostet schon 18 Milliarden DM. Was Sie mit der einen Hand unter Beifall als Maßnahme zur Rentensicherheit durchführen, nämlich den Bundeszuschuß zu erhöhen, das machen Sie mit der anderen Hand wieder zunichte. Zur Umfinanzierung sage ich ausdrücklich ja; ich bekenne mich dazu, auch deshalb, weil bei der Sozialleistungsquote der Beitragsanteil gestiegen und der Steueranteil zurückgegangen ist. Diese Entwicklung geht in die falsche Richtung. Darin stimmen wir überein. Aber nur eine Umfinanzierung ohne entlastende Umstrukturierung vornehmen zu wollen, das halte ich für Flucht aus der Verantwortung. ({1}) Was ist richtig, was ist wichtig? Ich verweise noch einmal auf die beiden Begriffe „Rentensicherheit" und „Rentengerechtigkeit". Die Lebenserwartung steigt. Sie steigt jetzt. Die Rentner des Jahres 1997 beziehen im Durchschnitt zwei Jahre länger Renten als die Rentner des Jahres 1980. Das ist ein Anstieg um zwei Jahre in 17 Jahren. Die Beitragszahler des Jahres 1980 haben zwei Jahre weniger Rentenlaufzeit finanzieren müssen. Gemessen an den geleisteBundesminister Dr. Norbert Blüm ten Beiträgen bekommt der Rentner des Jahres 1996 aus den laufenden Beiträgen ein wesentlich höheres Rentenvolumen ausgezahlt als der Rentner des Jahres 1980. Das ist ein Verstoß gegen das in der Rentenversicherung geltende Prinzip der Beitragsgerechtigkeit. Gleichen Beitragsleistungen sollten gleiche Rentenleistungen gegenüberstehen. Ich nehme das Wort „Gerechtigkeit" ernst; es ist für mich nicht nur ein abstrakter Oberbegriff. Ich meine die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Der Sinn des Generationenvertrags ist, daß keine Generation auf Kosten der anderen lebt, die Jungen nicht auf Kosten der Alten und die Alten nicht auf Kosten der Jungen. Deshalb brauchen wir eine demographische Formel, mit deren Hilfe wir die Lasten gerecht verteilen können. Wenn Sie darauf erwidern: „Wir werden erst im Jahre 2015 auf die demographische Veränderung antworten" , dann sage ich: Das verstehe ich überhaupt nicht. Die Lebenserwartung steigt nicht erst im Jahre 2016; jetzt steht das Thema an. Das ist so ähnlich, als wenn Sie bei steigender Flut sagen würden: Wir bauen die Dämme 2015. Wenn Sie das an der Oder gemacht hätten, wären alle weggeschwommen. Eine Antwort muß jetzt gegeben werden. ({2}) Diese demographische Formel wird mit dem Vorwurf der Rentenkürzung attackiert, weil das Rentenniveau sinkt. Ich gebe zu: Unser Rentenchinesisch ist schwer verständlich. Mit Rentenkürzung hat die Formel gar nichts zu tun, sondern: Die Renten steigen nicht mehr so steil wie in der Vergangenheit. Ein Durchschnittsbeitragszahler erwirbt heute mit einem Jahresbeitrag einen Rentenanspruch von 47 DM. 2030 werden es für einen Jahresbeitrag 109 DM sein. Durch diese Rentenreform werden es aber nicht mehr 109 DM, sondern 103 DM sein; das ist ein Unterschied von 6 DM. Aus einer Rente von 2000 DM wird in 30 Jahren eine Rente von 4544 DM. Mit dieser Reform werden es nicht 4544 DM sein, sondern 4310 DM. Eine Steigerung können Sie doch nicht als Kürzung bezeichnen. Ich habe noch keinen Gewerkschaftler gehört, der eine Lohnsteigerung um 1,50 DM statt um 2 DM, die er gefordert hat, zu einer Kürzung erklärt hat. Anfang der 70er Jahre hat das Rentenniveau 64 Prozent nie überschritten - ein Niveau, das wir 2030 erreichen wollen. 1971 lag das Niveau sogar bei nur 61 Prozent. Die Versicherten hatten damals weniger Beitragszeiten als heute. Bei den Rentenzugängen der letzten Jahre haben sich die Beitragszeiten erhöht. Niemand hat zu Zeiten Brandts behauptet, ein Rentenniveau von 61 Prozent treibe die Rentner in die Armut. Was 1971 von der SPD nicht gesagt wurde, das darf auch 1997 von ihr nicht gesagt werden. Wir haben es 1971 nicht gesagt. ({3}) Zur Erwerbsunfähigkeit. Da besteht „Regelungsbedarf"; das ist auch so ein technisches Wort. Dazu, daß hier Veränderungen vorgenommen wurden, sagen Sie ausdrücklich: dem Grunde nach ja. Das ist die SPD-Politik: dem Grunde nach ja. Konsequenz: nein. Das ist Radio Eriwan: im Prinzip ja. Doch: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! " Daß die Rentenversicherung heute Risiken übernimmt, die eigentlich in die Arbeitslosenversicherung gehören - wenn kein entsprechender Arbeitsplatz vorhanden ist -, ist doch eine klassische Fremdleistung. Sie reden von morgens bis abends über Fremdleistungen. Risiken der Arbeitslosenversicherung gehören nicht in die Rentenversicherung. Da bedarf es einer klaren Trennung der Zuständigkeiten. Wir arbeiten nicht mehr nach dem Alles-odernichts-Prinzip. Wir arbeiten mit einer Teilerwerbsunfähigkeitsrente, die durch Teilzeitarbeit ergänzt werden muß. Dafür haben wir im übrigen ein Teilarbeitslosengeld eingeführt. Wir werden in dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, die Regelungen zur Erwerbsunfähigkeit und bei Schwerbehinderten - auch auf Grund der Diskussionen - variieren. Wir werden die Abschläge mildern. Die Zurechnungszeiten werden erhöht. Wir machen eine Politik mit Augenmaß. Wir wollen auch Diskussionsergebnisse berücksichtigen. Zu den Kindererziehungszeiten. Meine Damen und Herren, das ist für mich keine Frage der Barmherzigkeit. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. ({4}) Es gibt eine schöne Geschichte von Johann Peter Hebel aus dem „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes". Auf die Frage des Fürsten, wie er sein Einkommen verbraucht, sagt der Bauer: ein Drittel für mich, ein Drittel zur Entschuldung und ein Drittel zur Kapitalisierung. Das versteht der Fürst nicht. Der Bauer erklärt es ihm: ein Drittel für mich, ein Drittel für die Alten, ein Drittel für die Jungen. Bei den Älteren Entschuldung, bei den Jüngeren Investition in die Zukunft. So muß auch die Rentenversicherung funktionieren. Sie ist kein Zweigenerationenvertrag - drei Generationen tragen sie. Wenn wir die Kindererziehungszeiten auf das Niveau des Durchschnittslohns aufwerten, ist das für mich nicht nur eine Aufwertung in Mark und Pfennig, sondern das ist die Anerkennung, daß Kindererziehung etwas bedeutet, daß sie nicht weniger bedeutet als der Durchschnittsverdienst. Dahinter steckt Anerkennung. ({5}) Natürlich kann die Kindererziehung nicht vollständig beim Staat abgerechnet werden. Kinder sind nicht nur Lasten - dann müßten wir sie der Unfallversicherung übergeben und abschreiben. ({6}) Es handelt sich um eine Anerkennung, eine Unterstützung, aber keineswegs darum, Kinder als eine Art Schaden zu betrachten, den man beim Staat abrechnen muß. Zur Hinterbliebenenrente. Ich habe schon einmal gesagt: Das Splitting, das seinen Platz in der gescheiterten Ehe hat, nehmen Sie jetzt in bestehende Ehen hinein. Wenn es damit einmal ernst wird, müssen wir das richtig in Paragraphen ausformulieren. Sie behandeln einen Beitragszahler abhängig davon, ob er einen Trauschein hat oder nicht. Was hat das mit der Rentenversicherung zu tun? Diejenigen, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften wohnen, können dann noch zwischen der neuen und der alten Form wählen. Das ist ja geradezu eine Privilegierung; die Verheirateten können nicht wählen. Wissen Sie, die nichteheliche Lebensgemeinschaft toleriere ich; aber man muß sie ja nicht fördern. Das steht jedenfalls nicht im Grundgesetz. ({7}) Zur Umfinanzierung sage ich ausdrücklich ja. Mit der Reform der Rentenversicherung wollen Sie nichts zu tun haben. Dann machen Sie doch bei der Umfinanzierung mit. Es geht darum, die Beitragszahler zu entlasten. Sagen Sie jetzt: Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Lassen wir die Taktik beiseite: Sollen die Beitragszahler entlastet werden - und zwar dauerhaft und nicht vorübergehend - oder nicht? Ihre Umfinanzierung ist vorübergehend. Ich wollte mich ja heute zurückhalten. Deshalb sage ich nur ganz sachlich: Ihr Vorschlag ist asymmetrisch: Die Steuererhöhung wirkt dauerhaft, während die Beitragsentlastung wieder zurückgeht. Deshalb die klare Frage: Gibt es in diesem Feld keine Einigungsmöglichkeit? Ihr Vorschlag ist im übrigen nicht nur gegen die Beitragszahler, sondern sogar gegen die Rentner gerichtet. Denn eine Beitragssenkung erhöht die Rentenanpassung des folgenden Jahres. Das ist das Prinzip der Nettorente. Also: Die Verweigerung einer Beitragssenkung mit Hilfe einer Umfinanzierung wegen irgendwelcher technisch-dogmatischer Fragen führt dazu, daß Beitragszahler und Rentner höher belastet werden. Ich bleibe dabei: Laßt uns die Diskussion nicht verschärfen, sondern den Versuch machen, eine Einigung herbeizuführen. Es versteht kein Mensch, wenn das nicht möglich ist. Deshalb wiederhole ich die Frage, die der Fraktionsvorsitzende gestern hier gestellt hat: Machen Sie bei einer handfesten, dauerhaften Beitragsentlastung mit, oder bleiben Sie mit allen möglichen Ausflüchten bei Ihrem Nein? Ich sehe der Debatte trotz all der strittigen Fragen - Polemik und Demagogie müssen beiseite bleiben - relativ ruhig entgegen. Die Rentner wissen: Die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Die meisten Rentner haben Enkel und bringen deshalb Verständnis dafür auf, daß ihre Enkel nicht Beiträge zahlen können, unter denen sie zusammenbrechen. Spielt also nicht eine Generation gegen die andere aus, macht keinen plumpen Wahlkampf, sondern bleibt bei dem alten Prinzip! ({8}) Die Rentner im Osten wissen, daß es ihnen bessergeht als Honecker ({9}) - als zu Honeckers Zeiten. - Entschuldigung, Honekker ist es natürlich bessergegangen. Der hat in Wandlitz besser gelebt als die Rentner. Richtig ist: Vor der deutschen Einheit beliefen sich die Rentenzahlungen im Osten auf 16,7 Milliarden Mark. In diesem Jahr sind es 76,1 Milliarden DM. Da können Sie soviel reden, wie Sie wollen: Den Rentnern geht es besser als zu Zeiten Honeckers. Das haben sie auch verdient; sie haben ein schweres Leben gehabt. ({10}) Zum Arbeitsmarkt nur soviel - das ganze Thema ist ja heute morgen behandelt worden -: Wir können nicht um die schlimme Nachricht herumreden, daß es mehr als vier Millionen Arbeitslose gibt. Aber ich habe mir einmal überlegt: Was wäre eigentlich passiert, wenn die Generation, die die Zeit nach 1945 erlebt hat - eine Zeit mit noch schlimmeren Nachrichten -, nur geklagt und nur Forderungen an den Staat gestellt hätte? Etwas von dieser Gesinnung - nicht alles vom Staat zu verlangen - täte heutzutage gut. Natürlich kann sich der Staat nicht aus dem Staub machen. Aber man muß wissen, daß wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen angeboten haben. Von dem größten Manko wissen die wenigsten: Im BMA haben wir eine Telefonaktion gestartet, in deren Zuge es 12 000 Gespräche - die Hälfte davon mit Arbeitgebern - gab. Die meisten Arbeitgeber haben gar nicht gewußt, was wir alles anbieten: Trainingsmaßnahmen, Eingliederungsbeihilfen, Lohnkostenzuschüsse. Ich frage mich: Was machen eigentlich die Verbände, die uns in einem Übereifer mit Klagen und Forderungen überziehen? ({11}) Das scheint eine verbandserhaltende Kraft zu sein. Aber durch das Übermaß von Klagen und Forderungen haben sie keine Zeit, ihren Mitgliedern - dem Handwerksmeister, dem Arbeitgeber - zu sagen, welche neuen Möglichkeiten es gibt, Einstellungen zu erleichtern. Deshalb: Wir brauchen nicht ständig neue Paragraphen auf altem Papier. Wir brauchen mehr Macher und weniger Jammerer in dieser Republik. Lassen Sie uns nicht immer alles vom anderen verlangen! ({12}) Den Höhepunkt hat allerdings die SPD geliefert. Sie fordert sogar Sachen, die sie selbst abgelehnt hat. Vom Schröder habe ich heute morgen gelesen, die Kriterien der Zumutbarkeit müßten voll ausgeschöpft werden. Ja, meine Damen und Herren, die Zumutbarkeitskriterien haben Sie doch abgelehnt. Mister Veränderung läßt sich auf Unternehmertagungen feiern, und seine Haustruppe hier macht alles kaputt, was er in Festreden behauptet. Das ist sozialdemokratischer Maskenball, aber keine normale Politik. ({13}) Der von mir verehrte Kollege Scharping sagte gestern, die Arbeitsmarktpolitik müßte lokalisiert werden. Ja, es steht im Arbeitsförderungsgesetz, daß ab dem nächsten Jahr mehr Entscheidungen vor Ort zu treffen sind. Wer hat die Lokalisierung und Regionalisierung abgelehnt? Dreimal dürfen Sie raten. Es war dieselbe SPD, die sie gestern gefordert hat. Sie stellen Forderungen, die schon erfüllt sind. Sie stellen Forderungen, die Sie selber abgelehnt haben. Zum Schluß möchte ich noch eines ganz kurz ansprechen. Die größte Erfolgsgeschichte - ich will ja nicht nur klagen - ist die Pflegeversicherung. 80 Prozent der Menschen sind damit zufrieden, 64 Prozent haben sie als Ansporn verstanden. Es wächst eine Infrastruktur von Nachbarschaftshilfen und nahen Hilfen. Statt 300 Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen gibt es jetzt 6000. Statt 4000 Sozialstationen gibt es jetzt 11 000. Das ist der größte Erfolg. Ich habe die Pflegeversicherung nie nur als Geldverteilungsmaschine gesehen. Sie ist der größte Erfolg. Die Anträge auf Heimunterbringung gehen zurück. Die Menschen können länger in den vier vertrauten Wänden bleiben, in denen sie ihr Leben lang gewohnt haben. Das verstehe ich unter Subsidiarität: nicht den Menschen allein lassen, sondern ihm in seinem Schicksal zusammen mit den Angehörigen helfen. Deshalb bin ich stolz, daß wir die Pflegeversicherung gemeinsam eingerichtet haben. Auch das gehört zu den Nachrichten dieses Tages. ({14}) Langer Rede kurzer Sinn - Schlagabtausch hin, Schlagabtausch her -: Laßt uns die Chancen der Einigung nicht vertun, laßt sie uns im Interesse unserer Rentenversicherung nicht vertun. Die Leute werden das Schwarze-Peter-Spiel nicht verstehen. Laßt uns an der guten alten Tradition der Rentenversicherung festhalten, die Einigung erhalten; denn das Rentenzutrauen hängt nicht nur von der Höhe der Leistungen ab, es hängt auch davon ab, ob die Rentenversicherung eine breite Basis hat. Darum bitte ich auch in dieser Debatte. ({15})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler, SPD.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Vorredner hat gerade eine zentrale Frage gestellt. Er hat das in der ihm eigenen Art formuliert. Die Frage lautete: Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Da ich weiß, daß die Prognosen des Sozialministers mittlerweile nicht mehr in Tagen, Wochen oder Monaten gemessen werden, sondern in Stunden, ({0}) muß ich heute feststellen, daß offenbar auch sein Gedächtnis nur noch in Stunden zählt. ({1}) Vor zwei Wochen hat die SPD-Bundestagsfraktion mit den SPD-regierten Ländern einen Gesetzentwurf in dieses Haus eingebracht, der die parlamentarische Opposition befähigte, Ihnen anzubieten, die Zusatzkosten, die auf dem Faktor Arbeit liegen, um 29 Milliarden DM zu senken. Wir waren bereit, unsere Stimme für 29 Milliarden DM Gegenfinanzierung zu geben. Sie haben das niedergestimmt. Ich sage Ihnen, Herr Blüm: Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Der Gesetzentwurf steht zur Abstimmung. ({2}) Was ist das für eine Debatte? Wie weit ist diese Regierung verkommen, daß sie einen Gesetzentwurf, der vor 14 Tagen eine Senkung der Lohnnebenkosten um 29 Milliarden DM ermöglichte, hier kalt ablehnen läßt und sich heute hinstellt und uns fragt: Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Herr Blüm, fragen Sie doch Ihren eigenen Laden, ob er endlich will, aber nicht uns. Wo sind wir denn? ({3}) - Reden Sie doch nicht so einen Stuß. Dieser Vorschlag kommt doch von Ihrer Regierung. Himmelherrgott nochmal! Sie haben doch vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um die Kosten zu senken. Das ist doch lächerlich! Wenn wir dem zustimmen, kommen Sie heute an und sagen, dies sei nicht logisch. Orientieren Sie sich doch einmal an Ihren eigenen Vorschlägen! Sie blicken wohl nicht mehr durch. ({4}) Wenn man sich auf Debatten vorbereitet, kann es hin und wieder von Nutzen sein, sich die Bedeutung von Wörtern, die die Regierung ständig im Munde führt, bewußt zu machen. Wenn die sozialpolitisch relevanten Teile des Bundeshaushalts für das kommende Jahr auf ihre Substanz und Wirksamkeit geprüft werden, so kann schon ein Blick ins Taschenlexikon helfen, um zu einer sachgerechten Würdigung der Politik der Bundesregierung zu kommen. Dort steht unter dem Stichwort „Sozialpolitik" folgendes: „Sozialpolitik ist die Planung" - ich wiederhole: die Planung - „und Durchführung staatlicher Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Bevölkerung". Wenden wir diese Beschreibung auf die tatsächlichen Ergebnisse regierungsamtlicher Politik an, so kann es nur ein Urteil geben: Sozialpolitik findet nicht statt.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geißler?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geißler, kann ich diesen Zusammenhang noch erläutern? Wir kommen dann gleich ins Geschäft. Schon die erste Voraussetzung ist nicht erfüllt: die Planung. Angewendet auf die aktuelle Lage der Rentenversicherung sieht die Planung bei CDU/CSU und F.D.P. wie folgt aus: Der Gesetzentwurf der Koalition vom Frühjahr dieses Jahres, die sogenannte Rentenreform, kommt - so steht es da - 1999. Beschluß der Koalition im Bundestag im August dieses Jahres: Die sogenannte Rentenreform kommt 1998. Verabredung der Unionsspitzen eine Woche später im Kloster Andechs: Die sogenannte Rentenreform kommt doch nicht schon 1998, sondern erst 1999. Festlegung des CDU/CSU-Fraktionschefs Dr. Schäuble von Anfang dieser Woche: Die sogenannte Rentenreform, die 1999 kommen sollte, dann auf 1998 vorgezogen wurde und dann abermals auf 1999 datiert wurde, kommt nun doch schon 1998. Das ist Planung, wie sie leibt und lebt, gleichsam Planung in Vollendung: lehrbuchhaft, beständig und verläßlich. Das einzig Kontinuierliche in der politischen Planung dieser Regierung ist offenkundig ein heilloses Durcheinander. ({0}) Bitte schön, Herr Kollege Geißler.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dreßler, nachdem Sie gerade „Himmelherrgott nochmal" gesagt haben, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Anrufung des Namen Gottes den christlich-demokratischen Parteien vorbehalten ist? ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geißler, ich muß Ihnen gerade in dieser Minute mein vollstes Verständnis zum Ausdruck bringen; denn diese Regierung hat nur noch diese Möglichkeit, beim Herrgott um Hilfe zu rufen. ({0}) Ich hatte an und für sich vor, heute den Chef der Planungsfirma CDU/CSU und F.D.P., Herrn Kohl, einmal zu fragen, was denn jetzt gilt, vor allen Dingen wessen Wort gilt. Das ist nun wichtig für die kommenden Stunden - so muß man es einmal sagen -, wenn heute nachmittag wieder der Vermittlungsausschuß tagt. Gilt nun das Wort des Bundeskanzlers, die Rentenreform kommt 1999? Gilt das Schäuble-Wort, die Rentenreform kommt 1998? Vom federführenden Sozialminister haben wir dazu soeben nicht ein einziges Wort gehört. Daraus folgt: Wie immer die Verhältnisse in dieser Koalition nun liegen mögen, finde ich: Es muß mit diesem unsäglichen Geschwätz, mit den Spekulationen und mit diesen Haken und Ösen Schluß sein. Herr Blüm, unser Land braucht Klarheit und Berechenbarkeit. Diese wollen wir hier von Ihnen referiert bekommen. ({1}) Sozialpolitik - so sagt die eben zitierte Definition - sei dazu da, die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Die Politik dieser Koalition - das ist die Bestandsaufnahme für einen Haushalt von über 140 Milliarden DM - hat durch drastische Anhebung der Selbstbeteiligung kranker Menschen, durch Leistungsausgrenzungen und -kürzungen die gesundheitliche Versorgung nachhaltig verschlechtert, hat Hunderttausende von Rehabilitationsmaßnahmen gestrichen und damit sogar die Lage kranker Kinder verschlechtert. Sie hat durch arbeitsmarktpolitische Abstinenz und durch Zerstörung der Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes die Lage am Arbeitsmarkt dramatisch verschlechtert. Die Politik dieser Koalition will zukünftig - das geht aus diesen Zahlen hervor - die Lebensarbeitszeit der Menschen abermals verlängern, und zwar unabhängig von der bedrohlichen Arbeitsmarktlage. Noch nicht einmal vor den Schwerbehinderten macht diese Regierung dabei halt. Sie will durch manipulative Eingriffe in die Rentenformel das Rentenniveau kürzen. Sie will die Absicherung gegen das Risiko der Erwerbsunfähigkeit in der Rentenversicherung weitgehend beseitigen und so privatisieren. Ich frage: Sozialpolitik als Verbesserung der Verhältnisse der Menschen? Schon die wenigen hier angeführten Beispiele belegen: Diese Regierung betreibt das Gegenteil von Sozialpolitik. Sie betreibt eine Politik der systematischen Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Wenn ich dann in diesem Zusammenhang höre, die Notwendigkeit einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit müsse zu einer Bereinigung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme, zu einer Entschlackung genutzt werden, mehr Eigenverantwortung sei geboten, dann muß ich fragen: Wer bestreitet denn die Notwendigkeit von Eigenverantwortung? Wer regiert eigentlich seit 15 Jahren und ist verantwortlich dafür? Man kann dieses Land, Herr Blüm, nicht 15 Jahre regiert haben und sich im 16. Jahr vor das Plenum des Bundestages hinstellen und den Eindruck erwekken, als habe man mit diesem Zustand überhaupt nichts zu tun. ({2}) Er ist durch Ihre Regierungstätigkeit entstanden. Sie waren doch von der ersten Minute bis jetzt dabei. Mehr Eigenverantwortung? Dazu sage ich: Richtig. - Aber Eigenverantwortung meinen CDU/CSU und F.D.P. doch gar nicht. Sie wollen mit diesem Begriff doch nicht etwa etwas beschreiben, sondern sie wolRudolf Dreßler len etwas denunzieren. Sie wollen unsere solidarischen Sicherungssysteme als bürokratische Umverteilungs- und Entmündigungsmaschinerie darstellen. Das ist der eigentliche Zweck. Denn wer hätte allen Ernstes etwas gegen Eigenverantwortung? Vor allem erwecken die F.D.P. und der CDU/CSU- Wirtschaftsrat den Eindruck: Wenn Herr X im Monat 800 DM in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt, um die Ansprüche für seine Altersvorsorge zu sichern, sei das kollektive Entmündigung. Wenn aber Frau Y den gleichen Betrag Monat für Monat in der privaten Versicherungswirtschaft zum gleichen Zweck anlegt, dann sei das individuelle Eigenverantwortung. Das ist doch ideologischer Dünnpfiff, Frau Dr. Babel. Und das wissen Sie ganz genau. ({3}) Denn, Frau Dr. Babel, wenn Herr X und Frau Y in gleichem Maße handeln, nämlich eigenverantwortlich, dann sorgen sie beide für ihr Alter vor. Wieso das eine für den Wettbewerb schädlich und das andere förderlich sein soll, das können Sie niemandem erklären, Frau Dr. Babel. ({4}) - Das ist das, Herr Louven, was Sie zur Zeit ablassen. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dreßler, ich habe immer angenommen, es handele sich bei Ihnen bei aller Polemik doch um einen Rentenexperten. Das, was Sie jetzt vorgetragen haben, daß nämlich das, was man in eine Sozialkasse einzahlt, und das, was man in eine Privatversicherung einzahlt, dasselbe an Eigenvorsorge wäre - jetzt werden Sie mir sicher zustimmen -, stimmt ja nicht. In einer Sozialversicherung zahlen Sie mit Ihren Beiträgen die Renten der alten Generation. Eine Eigenvorsorge wird nicht an irgend jemanden ausgezahlt, sondern sie ist da und brütet hoffentlich viele goldene Eier. Damit ist das erfüllt, was wir mit Eigenvorsorge für sich selbst wollen. Warum wollen wir das? Weil es dazu beiträgt, daß alles zusammen stimmt.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frage, Frage!

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Können Sie also bestätigen, daß Sie Vorsorge im Sinne einer eigenen privaten Versicherung und Vorsorge im Sinne von solidarischem Verhalten in einer Sozialversicherung in Ihren Ausführungen nicht auseinandergehalten haben? ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Dr. Babel, ich glaube schon, daß ich das auseinandergehalten habe und daß das noch nicht einmal etwas mit Programmatik zu tun hat, sondern mit dem ersten Semester volkswirtschaftlicher Interdependenz. ({0}) - Ja, da können Sie gespannt sein. - Denn Ihre Zwischenbemerkung deutet darauf hin, daß Sie sich diesem Thema offensichtlich noch nicht näher gewidmet haben. Oder sollte Ihnen unbekannt sein, daß das, was in eine private Versicherung eingezahlt wird, faktisch und in the long run den gleichen Weg geht wie das, was Sie in eine Altersversorgung eingezahlt haben? ({1}) Das Geld, das Sie heute einzahlen, wird genausowenig auf ein Nummernkonto, Frau Dr. Babel, hinterlegt, damit Sie es 40 Jahre später abrufen, wie das, was ich in die Rentenversicherung einzahle und was im nächsten Monat an die Alten ausgezahlt wird. Frau Dr. Babel, ich bin noch nicht fertig. Das Geld, das Sie heute einzahlen, muß in dem Moment, in dem Sie es in 30 oder 40 Jahren herausbekommen, von einer nachwachsenden Generation wieder eingezahlt werden, damit Sie es herausbekommen können. Insoweit ist das Prinzip völlig logisch. ({2}) - Beruhigen Sie sich doch. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, müßten Sie den doch durch die Gespräche, die Sie mit der privaten Versicherungswirtschaft geführt haben, bekommen haben. Die einfache Frage: Möchten Sie unser Rentensystem übernehmen? - das ist Ihre Philosophie -, wird von denen strikt verneint, weil sie genau wissen, daß sie dann die gleichen Probleme haben, wie wir sie heute in der Rentenversicherung zu lösen haben. Wenn Ihnen dieser Zusammenhang nicht klar ist - was offensichtlich der Fall ist -, dann wird mir auch klar, daß Sie gar nicht gemerkt haben, welchen Unsinn Sie in Ihren Rentengesetzentwurf hineingeschrieben haben. Darin liegt wohl die eigentliche Begründung. ({3}) Der Sozialstaat habe den Standort Deutschland in Not gebracht, höre ich von dieser Regierung und den sie tragenden Fraktionen. Dann höre ich vom Statistischen Bundesamt, daß die Volkswirtschaft am Standort Deutschland im laufenden Jahr einen RekordRudolf Dreßler überschuß im Außenhandel von mindestens 110 Milliarden DM erreiche. Meine Damen und Herren, das paßt nicht zusammen. Dann höre ich von der Bundesregierung, die Steuern und vor allem die Abgaben in Deutschland seien im Vergleich zu unseren Konkurrenten, vor allem in Europa, viel zu hoch. Dann höre ich vom statistischen Amt Eurostat bei der Europäischen Union, daß Deutschland von den erfaßten EU-Ländern in der Steuer- und Abgabenbelastung an drittletzter Stelle liege, deutlich hinter den von Ihnen so viel beschworenen Wunderländern Niederlande und Schweden. Das paßt wohl auch nicht zusammen. Wir würden gerne mit der Koalition um den bestmöglichen Weg zur Sicherung des Standortes und zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit streiten. Aber das geht nun einmal nur auf der Basis von Fakten und nicht auf der Basis von regierungsamtlicher Tatsachenverdrehung. Das ist der Punkt, der uns trennt. ({4}) Auch hier hat die von der Koalition und der Regierung geführte Diskussion sehr wenig mit der tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Lage und den Erfordernissen, Veränderungen herbeizuführen, zu tun. Es geht in Wahrheit um etwas ganz anderes. Die Sekundanten dieser Diskussion in den Verbandsetagen von Industrie, Handwerk und Handel von Herrn Henkel bis Herrn Stihl lassen kaum einen Zweifel: Es geht ihnen um eine Neuverteilung der gesellschaftspolitischen Gewichte. Es geht ihnen um andere Machtverhältnisse in unserem Land. Jetzt, wo die marktwirtschaftlich orientierten Systeme nicht mehr beweisen müssen, daß sie nicht nur ökonomisch effektiver, sondern auch sozialer und humaner als die untergegangenen Kommandosysteme sind, sollen deren soziale Attribute beiseite gelegt werden. Jetzt, wo Marktwirtschaft mangels Systemkonkurrenz nicht mehr sozial zu sein braucht, geht es um Markt pur. Das ist das eigentliche Ziel. Diesem Ziel gilt unser entschlossener Widerstand. Auch nach dem Zusammenbruch der Kommandowirtschaft bleibt die deutsche Sozialdemokratie bei der sozialen Marktwirtschaft. ({5}) Dieses scheint den federführenden Minister nicht zu berühren, obwohl er die Zusammenhänge sehr genau kennt. Er fährt mit dem Versuch fort, auch noch dem letzten gesellschaftspolitischen Mist aus der Gruselkammer bestimmter Verbände durch seine politische Zustimmung einen Hauch von Sozialflair zu geben. Dabei hat er erkennbar - das ist die eigentliche Tragik dieser Debatte - nichts mehr zu sagen. Die politische Mitgestaltung und die Durchsetzungsfähigkeit von Herrn Blüm sind Null. Was in der Sozialpolitik dieser Koalition zu geschehen hat, bestimmt nicht er, das bestimmt Herr Schäuble. Die aktuelle Rentengesetzgebung beweist dies eindrucksvoll. Wie sehr sich Herr Blüm dabei mittlerweile verhaspelt hat, ist nachweisbar. Da beschließt die Koalition gegen seinen Rat das Vorziehen der Rentengesetzgebung um ein Jahr auf 1998 und in Konsequenz dessen auch eine Nullrunde für Westdeutschland im nächsten Jahr. Herr Blüm macht deutlich, er trage das mit und läßt zwischen den Zeilen erkennen, eigentlich sei er wie die SPD dagegen. ({6}) Herr Blüm, gegen eine Nullrunde zu sein, stellt man nicht durch halböffentliche Proklamationen auf Verbandsveranstaltungen unter Beweis, wie Sie es vorige Woche beim VdK und beim Reichsbund getan haben, sondern durch Handaufheben in den Gremien, in denen man Sitz und Stimme hat, also in Kabinett und Fraktion. Genau das, Herr Blüm, haben Sie nicht getan. ({7}) Die neueste Variante des Sozialministers lautet, daß die Rentengesetzgebung nur dann auf 1998 vorgezogen werden könne, wenn die SPD in Bundesrat und Vermittlungsausschuß der Mehrwertsteuererhöhung und der von der Union gewünschten Form ihrer Verwendung zustimmt. Was auf gut deutsch nichts anderes heißt, als daß Sie nur dann für eine Nullrunde bei den Westrenten sind, wenn auch die SPD dafür ist. Herr Blüm, ich muß schon sagen, das ist ein echtes Angebot aus dem politischen Panoptikum. Sollten Sie es immer noch nicht begriffen haben: Sie können sich auf den Kopf stellen und jodeln, aber ein Ja der SPD zu einer Nullrunde bei den Renten ist nicht zu haben. Ende der Fahnenstange, meine Damen und Herren! ({8}) Wir werden, Herr Blüm, um in Ihrer Sprache zu bleiben, nicht Schmiere stehen, wenn Sie den Rentnern ans Leder wollen. Die Folgen Ihrer katastrophalen Rentenpolitik auszubaden ist Ihre Sache, nicht die Sache der parlamentarischen Opposition. ({9}) Wir sind bereit, abermals über eine Senkung der Lohnnebenkosten durch Rückführung sowohl des Renten- wie auch des Arbeitslosenversicherungsbeitrages um je einen Prozentpunkt zu reden. Wir sind bereit, die dazu notwendige Gegenfinanzierung in Form einer maßvollen Anhebung der Mineralölsteuer und einer Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt mitzutragen. Sollten Sie es überlesen oder überhört haben, führe ich zum wiederholten Male an: in der von mir genannten Reihenfolge. Mit Ihrer Rentenpolitik, Herr Blüm, Ihrem sogenannten Rentenreformgesetz 1999 oder 1998 oder vielleicht doch 1999, wahrscheinlich vielleicht doch unter Umständen allenthalben 1998, haben wir nichts, aber auch gar nichts zu tun. Es gibt mit der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion und mit der Sozialdemokratischen Partei - wenn Sie glauben, Sie könnten hier eine Lücke erkennen - keinen Rentenkonsens auf der Basis von Nullrunden, NiveaukürRudolf Dreßler zungen, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit von Schwerbehinderten oder der Abschaffung von Erwerbsunfähigkeitsrenten. ({10}) Herr Blüm, wenn Debatten einen Sinn haben sollen und das, was Sie hier zum Schluß geäußert haben: „Laßt uns doch zusammenarbeiten!", ernsthaft gemeint ist, fordere ich Sie zum wiederholten Male auf. Stehen Sie auf, kommen Sie hierhin und sagen Sie uns, wo diese Koalition in den von mir genannten Essentials endlich kompromißwillig und -fähig ist! Bis zu dieser Stunde haben Sie immer nur gesagt: „Laßt uns!" und haben Ihren Rentengesetzgebungsvorschlag nicht in einem Punkt zur Verhandlung gestellt. Solange Sie die Bevölkerung weiter so um die Fichte führen, gibt es bei uns ein klares Nein, ob in Unterkommissionen, in Hauptkommissionen, im Vermittlungsausschuß oder hier. Kommen Sie hierhin und sagen Sie, in welchen Punkten Sie verhandlungsfähig sind, Herr Blüm! Hören Sie endlich auf, Ihre feuilletonistischen Ausflüge zu machen. ({11})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die Bundesregierung hat jederzeit das Recht zu sprechen. Herr Minister, wenn Sie jetzt sprechen wollen, bitte. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will klarstellen: Einen Rentenkonsens nur mit Umfinanzierung gibt es mit uns in der Tat nicht. ({0}) Wenn Sie allerdings andere Vorschläge zur Entlastung der Rentenversicherung haben, nennen Sie sie; dann diskutieren wir, welche dieser Vorschläge besser sind. Aber eine bloße Umfinanzierung ist keine Lösung, um die Renten auf Dauer zu sichern. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich werte das als Kurzintervention. Somit gibt es die Möglichkeit zu erwidern. Bitte, Herr Kollege Dreßler.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe der Bundesregierung in der Person von Herrn Blüm soeben eine konkrete Frage gestellt. Die Antwort lautete, so wie sie immer gelautet hat: Die Basis Ihres Gesetzentwurfes wäre das, worauf wir uns zu verständigen haben; die Basis unseres Gesetzentwurfes ist für sie inakzeptabel. ({0}) Dies ist nicht verfassungswidrig, aber es ist ein Standpunkt, Herr Blüm, der nach dem Grundsatz verfährt: Die Verfassung der Bundesrepublik ist gleichbedeutend mit der Hausordnung des CDU-Parteihauses. Dieses läuft mit uns nicht. Wenn Sie glauben, Sie könnten mit der parlamentarischen Opposition Schlitten fahren und könnten hier erklären, nur Ihr Entwurf sei das Gelbe vom Ei und unserer sei in seinen Essentials nicht verhandelbar, ({1}) dann gibt es keine Verständigung. Ich habe Ihnen gesagt: Niveaukürzungen, Privatisierung der Erwerbsunfähigkeitsrenten und Verlängerung der Lebensarbeitszeit von Schwerbehinderten, um drei Essentials zu nennen, müssen Sie zur Verhandlung stellen. Genau dieses haben Sie wiederum nicht getan. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Eine Kurzintervention der Kollegin Fischer. - Ich sage vorsorglich: Wir müssen bei Kurzinterventionen jetzt etwas zurückhaltend sein. Wir sind enorm in Zeitverzug. Ich lasse das jetzt noch zu, aber dann werde ich etwas zögerlicher sein. - Bitte.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich werde versuchen, es ganz prägnant zu machen. Auch wir halten die Umfinanzierung der Rentenversicherung mit einer stärkeren Steuerfinanzierung für außerordentlich wichtig. Wir sind bereit, über die Art der Steuer zu reden, auch wenn wir selber die Ökosteuer für die sachgerechteste Form halten. Aber es geht nicht, daß wir mit in Haftung genommen werden für Verzweiflungstaten des Bundesministers, der offensichtlich nicht mehr Herr des Verfahrens ist; dieser Eindruck entsteht, wenn man sich die Äußerungen der letzten Tage anschaut. Für unsere Seite kann ich auch sagen: Die Bedingung dafür, daß darüber überhaupt zu reden ist, ist, daß die Fragen der Erwerbsunfähigkeitsrenten und des Rentenzugangsalters für Schwerbehinderte von Ihrer Seite wieder zur Disposition gestellt werden und daß man über Neuordnung im gesamten Leistungsbereich redet. Wir haben da andere Vorstellungen als Sie. Deswegen müßte man einen neuen Prozeß beginnen und nicht sagen, nur Ihr Gesetzentwurf ist die Geschäftsgrundlage. Zweiter Punkt. Trotz aller Verzweiflung, Herr Minister Blüm, können Sie nicht das Loblied der Pflege in diesen schrillen Tönen singen. Sie dürfen sagen, daß das ein Fortschritt für viele ist. Aber Sie dürfen nicht davon absehen, daß das für viele auch einen Rückschritt bedeutet hat. Wir sind, seitdem auch die zweite Stufe der Pflegeversicherung eingeführt ist, mit einer Menge Erfahrungsberichten konfrontiert worden. Sie wissen mit Sicherheit selber so gut wie wir, daß es das Problem der Behinderten, das ProAndrea Fischer ({0}) blem der Eingangsstufe und das Problem der Behinderten in Pflegeheimen gibt. ({1}) Wir drohen einen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten zu erleben, in eine reine Verwahrung und Betreuung von Behinderten. Deswegen ist die Pflegeversicherung nicht einfach nur eine Erfolgsstory.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Jetzt der Kollege Fuchtel, CDU/CSU.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Gerade die letzte Wortmeldung des Kollegen Dreßler läßt mich die Frage aufwerfen: Wie viele Arbeitslose braucht Deutschland eigentlich noch, ({1}) bis die SPD ihre Blockadehaltung aufgibt? ({2}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die amerikanischen Wahlkampfberater, die Sie beschäftigen, sollten doch wissen: ({3}) Der deutsche Bürger honoriert überhaupt nicht, wenn Parteien auf seinem Rücken an die Macht kommen wollen und aus diesem Grund vernünftige Politik verhindern. Meine Damen und Herren, egal, wo wir etwas nachlesen: Uns Deutschen wird von Sachverständigen empfohlen, Reformen durchzuführen. Unser parlamentarisches System ist etwas komplizierter als das anderer Länder. Deswegen können wir dies nur unter Mitwirkung der SPD tun. Wir haben unsere Konzepte alle hier im Deutschen Bundestag verabschiedet, und wir warten in vielen Fragen auf die Mitwirkung der SPD. Das ist die Wahrheit. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Fuchtel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich. ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fuchtel, Ihre gerade geäußerte These möchte ich in einen Zusammenhang stellen mit einer Äußerung des ehemaligen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden,

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte in Frageform!

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- der auch Kanzlerkandidat war, der vor wenigen Tagen in der „Welt" gesagt hat: Die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. blockiert sich selbst. Wie bewerten Sie diese Aussage eines Insiders Ihrer Firma im Zusammenhang mit dem, was Sie gerade hier geäußert haben?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bewerte die Dinge, wie sie sind. ({0}) Sie sind so, daß wir in diesem Bundestag eine Reihe von wichtigen Reformwerken durchgebracht haben und es jetzt ausschließlich an der SPD liegt, daß diese zum Wohle unserer Bevölkerung umgesetzt werden können. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

So viele er will.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fuchtel, nach dem, was Sie gerade gesagt haben: Können Sie mir wenigstens bestätigen, daß die Rentengesetzgebung, die Sie vorhaben, von uns gar nicht blockiert werden kann und auch ihre Finanzierung über die Mineralölsteuer von uns nicht blockiert werden könnte? Wie kommen Sie also dazu, indirekt oder direkt zu behaupten, wir würden die Rentengesetzgebung blokkieren?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Dreßler, es ist geradezu schade, daß der Herr Ministerpräsident Schröder heute nicht unter uns ist. Schöner könnten wir den Konflikt zwischen Ihnen und Herrn Schröder nicht aufzeigen. Schröder hat nämlich gesagt, daß die Mineralölsteuererhöhung wohl das schlechteste sei, was man im Augenblick tun könnte, um die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge gegenzufinanzieren. Er gehört noch zu Ihrer Partei. ({0}) - Warum setzen Sie sich Herr Dreßler? Warum stellen Sie nicht noch eine dritte Frage, damit wir bei diesem Thema bleiben können?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fuchtel, nachdem Sie jetzt zum drittenmal eine Äußerung gemacht haben, die offensichtlich nicht den Tatsachen entRudolf Dreßler spricht, möchte ich Sie folgendes fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der hier eingebrachte Gesetzentwurf der SPD und der A-Länder, der die Vorschläge zur Mineralölsteuer beinhaltet, federführend vom niedersächsischen Ministerpräsidenten erarbeitet worden ist? ({0}) Sind Sie unter diesen Umständen jetzt bereit - ich frage zum drittenmal -, zuzugestehen, daß Sie offensichtlich nicht auf der Höhe der Zeit sind? ({1})

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wissen Sie, Herr Schröder spricht heute so und morgen so. Genau das, was Sie uns vorhin vorgehalten haben, können Sie an Ihrer Partei selber am besten bewundern. Eine Gegenfinanzierung muß über die Erhöhung der Mehrwertsteuer erfolgen, wenn sie vernünftig im Sinne unserer volkswirtschaftlichen Entwicklung gemacht werden soll. ({0}) Sie muß auch mit entsprechenden Einsparungsmaßnahmen einhergehen, sonst kann das Ganze keinen Sinn machen. Nichts anderes sieht unser Konzept vor. ({1}) Lassen Sie mich noch auf folgendes hinweisen: Wenn Sie nachlesen, was uns Deutschen von Sachverständigen empfohlen wird, oder wenn Sie sich anschauen, was in anderen Ländern getan wird, dann müssen Sie sich doch in Wahrheit so vorkommen wie der berühmte Heizer auf der E-Lok. Hier muß etwas getan werden, wozu Sie nicht bereit sind. Sie fahren praktisch nur noch mit, ohne daß Sie Konzepte haben, die in die Zukunft zeigen. Heute steht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein sehr schönes Beispiel aus Schweden. Ein sozialdemokratischer Ministerpräsident wird folgendermaßen zitiert: Nach drastischen Einsparungen, Verzicht und Entbehrungen hat sich die Lage gewendet. Wir haben die Wohlfahrt gerettet. - Das könnten wir auch in Deutschland haben. Aber dazu brauchen wir eine Aufgabe der Blockadehaltung der SPD. ({2}) Sie können Ihre Blockadepolitik mit noch so viel Argumenten, die dem Sozialneid entspringen, kaschieren - der Kollege Schreiner wird uns sicher nachher wieder einige Beispiele dafür geben -, den 4,3 Millionen Arbeitslosen, den Ausbildungsplatzsuchenden, unseren Mittelständlern und unseren Unternehmern hilft nur eine eindeutige Reformpolitik. Ihre Haltung ist nicht nur gegenüber diesen Menschen verantwortungslos, sondern auch gegenüber den Staatsfinanzen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Fuchtel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das mußte ja so kommen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fuchtel, nachdem Sie mich soeben angesprochen und von einer eindeutigen Reformpolitik gesprochen haben, möchte ich Sie, weil Sie die Mehrwertsteuer im Gefolge des Konzeptes von Herrn Blüm erhöhen wollen, fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß heute morgen in der Wirtschaftsdebatte der CDU- Kollege Schauerlich nachdrücklich vor einer Erhöhung der Mehrwertsteuer gewarnt und gesagt hat, dies sei der Untergang des Mittelstandes? Ich möchte Sie ferner fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß vor rund einem dreiviertel Jahr hier im Parlament auf eine Frage des Kollegen Fischer von den Grünen an den Bundeskanzler dieser ausdrücklich sagte, er lehne für die laufende Legislaturperiode die Erhöhung der Mehrwertsteuer kategorisch ab. Nun frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Meinung, daß es in der Koalition drunter und drüber geht?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner. Ich nehme die Gelegenheit gerne wahr, Ihnen Sachaufklärung zu geben. Der Kollege Schauerte hat vorhin tatsächlich gesagt, man könne die Mehrwertsteuer nicht isoliert erhöhen. Aber genauso klar ist: Wenn wir dies in einem Zusammenhang mit der Umstrukturierung tun und dadurch eine Absenkung der Belastung erreichen, dann ist der Kollege Schauerte mit mir und mit der gesamten Koalition einer Meinung. Da gibt es überhaupt keinen Dissens. So die Lage. ({0}) - Sie Quakfrosch brauchen sich hier nicht auch noch einzumischen. Ich möchte noch auf die Haushaltsfrage als solche zu sprechen kommen. Sie verweigern hinsichtlich der Steuerreform mit dem Hinweis auf vermeintliche Steuerausfälle von 30 Milliarden DM einen großen Wurf. Auf der anderen Seite finden Sie gar nichts dabei, wenn wir in den Jahren 1997 und 1998 fast 30 Milliarden DM an die Bundesanstalt für Arbeit überweisen müssen. Anstatt mit Mut durch Reformen die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze zu gestalten - so wie wir dies erreichen wollen -, müssen wegen Ihrer Verweigerungshaltung immer höhere Schulden zu Lasten der Zukunftschancen der jungen Generation geHans-Joachim Fuchtel macht werden. Das alles müßte nicht sein, wenn wir zusammenkommen würden. Hinter der Zahl von 4,3 Millionen Arbeitslosen stehen so viele Einzelschicksale, daß wir wirklich jede Chance nutzen sollten, um zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen, und hier nicht immer nur den Wahlkampf im Hinterkopf haben sollten. ({1}) Die Koalition ist zu einer Zusammenarbeit bereit - dies möchte ich hier auch in Absprache mit Wolfgang Schäuble noch einmal klar sagen -, wenn das Ergebnis nicht nur ein Verschiebebahnhof ist, sondern wenn tatsächlich auch ein Umbau des Sozialstaates stattfindet. Wolfgang Schäuble hat gestern hierzu ein klares Angebot gemacht. Er hat gesagt: Bitte stimmen Sie zu, die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zu erhöhen, und diesen einen Prozentpunkt zu nutzen, um bei der Rentenfinanzierung eine Reduzierung zu erreichen. Ihre Antwort darauf fehlt. Sie eiern hin und her. Sie könnten einen wesentlichen Schritt tun, wenn Sie zustimmen würden. Dies würde noch lange nicht bedeuten, daß Sie die anderen Bemühungen der Koalition im Rentenbereich unterstützen. Wie Sie wissen, sind die anderen Fragen nicht zustimmungspflichtig. Wir könnten also durchaus eine Lösung finden, die zum einen die Problematik löst und zum anderen auch Sie Ihr Gesicht wahren läßt. Das ist ein klares Angebot. Ich sage nochmals: Solange Sie dieses Angebot nicht annehmen, müssen wir davon ausgehen, daß Sie die Reformbemühungen blockieren. ({2}) Ich habe bewußt „Umbau des Sozialstaates" gesagt. Herr Scharping hat gestern so getan, als ob es den Sozialstaat nicht mehr gebe. Wenn aber nicht weniger als 32 Prozent der Mittel des Bundeshaushalts nach wie vor in den Sozialhaushalt fließen, dann muß mir einmal jemand klarmachen, warum wir plötzlich keinen Sozialstaat mehr haben sollen. Meine Damen und Herren, wir haben nach wie vor einen Sozialstaat, der unserer Bevölkerung eines der höchsten Wohlstandsniveaus der Welt gewährt. Wir wollen alles tun, daß es so bleibt. ({3}) Wer so viele Falschinformationen streut, der sagt natürlich auch kein Wort über die Pflegeversicherung. Diese ist die bisher erfolgreichste Umbaumaßnahme der deutschen Sozialpolitik. ({4}) Wir haben dadurch allein in der Sozialhilfe Einsparungen in Höhe von 10 Milliarden DM. Dies ist eine dringende Entlastung für die kommunale Ebene. In jedem Landkreis, in jeder Stadt wird dies sichtbar und hilft, die Gemeindefinanzen zu sanieren. ({5}) Die Pflegeversicherung schafft Arbeitsplätze. Auch hierzu eine Zahl: Allein von 1993 bis 1996 hat sich die Zahl von 214 000 festangestellten Vollzeitkräften um 75 000 auf über 289 000 erhöht. Das ist eine wichtige Aussage, weil es zeigt, daß durch diese Umbaumaßnahmen in einem neuen Bereich der Dienstleistungen Arbeitsplätze gesichert und weitere geschaffen werden konnten. ({6}) Wenn eine solche Entwicklung im Bereich der hauswirtschaftlichen Tätigkeit, bei den in privaten Haushalten Beschäftigten noch fehlt, dann wird es darum gehen, daß wir uns erneut damit beschäftigen. Das Beschäftigungspotential auf diesem Gebiet wird mit 400 000 Arbeitsplätzen prognostiziert. Wir haben bisher gerade 34 000. Wenn diese Zahl sich nicht in nächster Zeit verändert, werden wir nochmals darüber nachdenken müssen, ob wir das Haushalts-Scheckverfahren und die Rahmenbedingungen nicht weiter verändern, damit diese Maßnahme die Wirkung zeigt, die wir beispielsweise in Frankreich haben. ({7}) Weil Frankreich immer wieder dafür gelobt wird, daß neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, möchte ich darauf hinweisen, daß dort nicht weniger als eine Million Arbeitsplätze im Haushalt, also im Bereich der privaten Beschäftigung, entstanden sind - eine riesige Zahl. Wenn wir nur einen Bruchteil davon erreichen, haben wir sehr viel zur Verbesserung der Chancen vieler Arbeitsloser in Deutschland getan. ({8}) Wir erwarten positive Wirkungen von der Reform des Arbeitsförderungsgesetzes. Für die Langzeitarbeitslosen wird es durch die neuartigen Eingliederungsverträge sicher mehr Chancen geben. Denn die Bundesanstalt trägt künftig in den ersten sechs Monaten Risiken, wie beispielsweise das der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, daß Existenzgründern attraktive Zuschüsse gewährt werden, wenn sie Arbeitslose einstellen. Wie bereits erste Ergebnisse zeigen, steigert die Änderung der Zumutbarkeitsanordnung die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme nachhaltig. Es war überfällig in Deutschland, daß die Zumutbarkeitsanordnung entsprechend geändert wurde. ({9}) Im Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern möchte ich darüber hinaus einmal klarstellen: Von vielen Arbeitgebern wird die mangelnde Bereitschaft mancher Arbeitsloser zur Arbeitsaufnahme beklagt. Die gesetzliche Regelung ist klar: Wer Arbeit nicht aufnimmt, erhält eine Sperre von Arbeitslosengeld. Diese Regelung kann aber nur angewandt werden, wenn der Sachverhalt vom Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitsamt auch eindeutig benannt wird. Es mangelt an diesem Punkt sehr. Es wird seitens der Arbeitgeber oft und viel geschimpft, aber es wird zuwenig entsprechend gehandelt. Wir würden sehr viele Klarstellungen bekommen, wenn entsprechend gehandelt würde. Unbefriedigend ist für uns die Besetzung offener Stellen. Wir haben im Jahresdurchschnitt zirka 360 000 offene Stellen. 1993 dauerte es durchschnittlich 57 Tage, bis eine freie Stelle besetzt wurde. Trotz stark angestiegener Arbeitslosigkeit waren es 1996 noch immer 45 Tage. Meine Damen und Herren, es dauert angesichts einer so hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland zu lange, bis eine offene Stelle wiederbesetzt wird. ({10}) Wenn wir diesen Zeitraum auf die Hälfte reduzieren würden, würden wir Einsparungen in Höhe von über 4 Milliarden DM erzielen. Ich kündige deswegen hier für die CDU/CSU zu diesem Punkt eine Initiative an. Gleiches gilt für die Arbeitslosenhilfe. Es hat eine Steigerung auf nunmehr 25,5 Milliarden DM stattgefunden. Zusätzlich gibt es 50 Milliarden DM Sozialhilfe. Dies ist nicht länger hinnehmbar. Das ist mehr als der gesamte Landeshaushalt Baden-Württembergs. Es muß deswegen ernsthaft geprüft werden, ob Arbeitsfähige bis 45 Jahre, die keine Kinder zu erziehen haben und die nicht krank sind, bei Leistungsbezug nicht innerhalb einer Woche in eine Arbeitsmöglichkeit geführt werden können. Darüber muß in den nächsten Monaten ernsthaft gesprochen werden. ({11}) Das zweite große Thema ist die Rente. Viel zuwenig Menschen wissen - deswegen möchte ich das hier noch einmal sagen -, daß der Bund bereits heute mehr als die Hälfte des Sozialetats an die Rentenversicherung weitergibt. Im Haushalt ist diesmal ein Anstieg von nicht weniger als 3,6 Milliarden DM vorgesehen - selbstverständlich finanziert; denn dies sind wir unserer älteren Generation schuldig. Jetzt wird der Bundeszuschuß also 87 Milliarden DM betragen. Jeder, der über versicherungsfremde Leistungen spricht, muß das wissen. Wenn wir die Ausgaben der Rentenversicherung stabilisieren wollen, dann genügt nicht einfach eine Umfinanzierung - ich sage das hier noch einmal -, sondern dann muß die demographische Entwicklung in der Rentenformel berücksichtigt werden. Nur so ist die Sache sinnvoll. ({12}) Ich sage zum Abschluß noch einmal deutlich: Die CDU/CSU ist bereit, zur zusätzlichen Finanzierung 1 Prozent Mehrwertsteuer einzusetzen, wenn dies verbunden wird mit einer Berücksichtigung der demographischen Entwicklung, das heißt, mit entsprechenden Umstrukturierungsmaßnahmen. Der Bund gibt dann 103 Milliarden DM. Die Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge wäre eine wichtige Komponente auf dem Weg zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Sie ist deswegen ein Bestandteil unseres Gesamtkonzeptes. ({13}) In England sind solche Überlegungen populär, meine Damen und Herren von der SPD. In Deutschland wollen Sie sein wie Tony Blair. Aber leider machen Sie nur Blabla. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Minister Blüm hat vorhin die Debatte damit eröffnet, daß er über ein Verfahren rund um die Rentenreform lamentiert hat, das er selbst nicht mehr im Griff hat. Ich habe vor ein oder zwei Tagen in der Zeitung die Schlagzeile gelesen: Der Minister erwartet die Reform nicht mehr in dieser Legislaturperiode. Welches Armutszeugnis soll man denn einer Regierung noch ausstellen, außer daß der zuständige Minister nicht mehr der handelnde Part ist? Statt dessen heißt es: Er erwartet die Reform nicht mehr in dieser Legislaturperiode. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, ja.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, sind Sie bereit, Hilfe anzunehmen, damit Sie nicht weiteren Irrtümern unterliegen? Ich habe nie gesagt, daß die Reform nicht in dieser Legislaturperiode kommt. Wir beschließen sie in dieser Legislaturperiode. Die Diskussion bezieht sich nur auf das Inkrafttreten. ({0}) Sie haben also die Gelegenheit, in dieser Legislaturperiode, vor der Bundestagswahl, Farbe zu bekennen. ({1})

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Blüm, ich habe nicht behauptet, daß die erwähnte Schlagzeile in einer Tageszeitung ein Zitat von Ihnen war. Aber es entspricht der Einschätzung der Öffentlichkeit, daß Sie offensichtlich nicht mehr Herr dieses Verfahrens sind. Das liegt auch an Schwierigkeiten in Ihren eigenen Reihen. Die Frage, ob Sie eine Nullrunde der Renten im Wahljahr in Kauf nehmen, oder ob Sie deswegen, weil Sie auf das kurze Gedächtnis des Wahlvolks setAnnelie Buntenbach zen, diese Nullrunde um ein Jahr verschieben, ist eine der interessanten Fragen, die deutlich machen, daß Sie offensichtlich genau an dieser Stelle das Verfahren nicht mehr steuern. ({0}) Es ist doch klar, daß die ganze Politik dieser Regierung - das zeigt der Haushalt ganz deutlich - auf das kurze Gedächtnis der Leute setzt, die diese Regierung wiederwählen sollen, was sie hoffentlich nicht tun. In diesem Jahr soll Ruhe sein. Es soll keine Belastungen, keine Einschnitte mehr geben. Alle wissen, daß diese Regierung nach der Wahl genauso weitermachen würde, wenn sie denn dazu die Chance hätte. Sie wird die immensen Probleme nicht lösen. Vielmehr werden die Probleme genauso wie bisher bestehen, wenn nicht ein zentraler Politikwechsel passiert. Die Arbeitslosenzahlen steigen von einem tragischen Rekordstand auf den nächsten. Im August waren 4,37 Millionen Menschen als arbeitslos registriert. Das ist eine trockene Zahl; aber Sie alle wissen, daß die wirkliche Joblücke viel größer ist. Das ist auch das Ergebnis der falschen Politik dieser Bundesregierung. Die kann auch Herr Fuchtel mit seinen Krokodilstränen nicht vom Tisch wischen. ({1}) Diese Regierung hat nur noch Werbekampagnen und Schönfärberei der traurigen Fakten zu bieten. Sie hoffen, daß die schöne Farbe auf dem durchgerosteten Wagen bis zum Wahltag hält. Sie haben natürlich auch den immer wieder vorgebrachten Blockadevorwurf an die SPD zu bieten. Herr Fuchtel, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die SPD nicht in der. Bundesregierung ist. Leider hat diese Bundesregierung trotz des immer wieder vorgebrachten Blockadevorwurfes eine Menge an Gesetzen durchsetzen können, und diese Gesetze sind in genau die falsche Richtung gelaufen. Der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft hat keine neuen Arbeitsplätze gebracht. Im Gegenteil, immer mehr Menschen sind ohne Job. Wo sind denn all die neuen Arbeitsplätze, die Sie im vorigen Jahr versprochen haben, als Sie hier trotz massiver öffentlicher Proteste die Deregulierung mit der Brechstange und die Durchlöcherung der sozialen Sicherungssysteme beschlossen haben? Wo sind denn die vielen Arbeitsplätze, die die Aufweichung des Kündigungsschutzes gebracht hat? Ich sehe nur die Entlassungen. Wo sind die neuen Arbeitsplätze auf Grund der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten? Damit meine ich jetzt nicht die 610-DM-Verträge - die haben ohne Zweifel rasant zugenommen -, sondern die vernünftig abgesicherten, von denen man auch leben kann. Wo sind denn trotz Dienstleistungsscheck und steuerlicher Privilegierung die vielen neuen Jobs im Haushalt, die Sie uns immer wieder als ganz große Chance angekündigt haben? Sie, Herr Fuchtel, sprachen wieder von der 1 Million Arbeitsplätze, die in Frankreich entstanden sind, und halten uns das hier als Mohrrübe her. Die Bilanz der Bundesregierung in dieser Frage ist - das wissen Sie genausogut wie ich - einfach erbärmlich. Aber wahrscheinlich lag das wieder nicht an der Bundesregierung, sondern an der SPD. Wo sind denn all die Ausbildungsstellen für die vielen Jugendlichen, die erst gar keinen vernünftigen Einstieg in das Arbeitsleben finden können? Statt hier mit einer Ausbildungsumlage endlich politisch einzugreifen, ermüden Sie seit Jahren Ihre Umwelt mit folgenlosen Selbstverpflichtungen und hilflosen Appellen an die Arbeitgeber sowie, versteht sich, mit Werbekampagnen. Entgegen Ihrer vollmundigen Ankündigung, die Arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende zu halbieren, sind heute mehr Menschen als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Arbeit. Gerade im Osten ist die Situation schlicht dramatisch. Die Talsohle der Arbeitslosigkeit ist noch lange nicht erreicht. Wir alle hier wissen, daß aktive Arbeitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen kann und daß dafür ein ganzes Bündel von Maßnahmen nötig wäre: ökologischer Umbau, Arbeitszeitverkürzung, Förderung von Beschäftigung in ökologisch und sozial sinnvollen Bereichen, eine andere Wirtschaftspolitik. Aber wenn Sie in einer Situation, in der so viele Menschen arbeitslos sind, aktive Arbeitsmarktpolitik auch noch zurückfahren, dann muß das gerade den Menschen im Osten doch als Hohn erscheinen. Zur Zeit sind 300 000 Menschen weniger als im Vorjahr in Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung; allein im Osten sind es 220 000 weniger. Der negative Beschäftigungseffekt dieser Absenkung des Niveaus der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist erheblich größer. Von jeweils zehn Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hängen ungefähr vier Stellen vom sogenannten ersten Arbeitsmarkt ab. Der Kahlschlag im Osten wird weitergehen, obwohl die Arbeitslosenquote dort inzwischen in einer Reihe von Regionen höher als 20 Prozent ist, weil die Mittel nicht ausreichen und weil im AFRG grundfalsche Strukturentscheidungen getroffen worden sind. Vielleicht hätten die Ost-Abgeordneten aus den Regierungsfraktionen bei ihrer Zustimmung zum AFRG zu Nebenwirkungen und Risiken doch die Gebrauchsanweisung im Haushalt lesen sollen. ({2}) Zu den falschen Grundentscheidungen im AFRG gehört, daß Erfolg künftig nur noch in Eingliederungsbilanzen gemessen werden soll. Das verstärkt die Tendenz, daß sich Arbeitsförderung auf diejenigen konzentriert, die leichter integrierbar sind, und die anderen aus den Augen verliert. Wir haben die Benachteiligung von Frauen sehr deutlich kritisiert und auf die Benachteiligung von Behinderten aufmerksam gemacht. Nach einem langen Hin und Her und einem lauten Aufschrei der Betroffenen und ihrer Lobbyverbände ist inzwischen der Rechtsanspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen zwar wiederhergestellt; aber Sie stellen keine ausreichenden Mittel dafür zur Verfügung. Zur Zeit werden die Mittel für Rehabilitation beim Arbeitsamt aus dem ABM-Topf genommen. In manchen Orten sind fast die gesamten Mittel für das letzte Quartal dafür schon verplant. Da gibt es dann überhaupt keine Chance auf AB-Maßnahmen. Gruppen werden gegeneinander ausgespielt und in den Wettbewerb der Schwächsten gedrängt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Grund?

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte sehr.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Buntenbach, Sie sprechen offensichtlich die Maßnahmen gemäß § 40 c AFG betreffend Rehabilitation und Berufsanfänger an. Nun weiß ich nicht, ob ich falsche Zahlen habe oder ob Sie falsche haben. Stimmt es, daß wir im Jahre 1997, also in diesem Haushaltsjahr, für diese Maßnahmen 60 Millionen DM mehr aufgewandt haben, nach dem Mittelabfluß von 1995 und 1996 sogar 170 Millionen DM, und daß die Zahl der behinderten Jugendlichen, die im Jahre 1997 auf Grund von § 40c AFG eine Ausbildung begonnen haben, gegenüber dem Jahre 1996 urn 20 Prozent gestiegen ist? In absoluten Zahlen sind das 7000 Jugendliche mehr. - Das widerspricht doch dem, was Sie eben gesagt haben. Habe ich falsche Zahlen, oder haben Sie falsche Zahlen?

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auch Sie wissen doch, daß Sie im Bereich der Rehabilitation versucht haben, eine Einsparung vorzunehmen. Sie hatten zunächst den Rechtsanspruch abgeschafft bzw. eingeschränkt, haben ihn dann aber wieder eingesetzt. Dabei ist die Einsparvorgabe für den Bereich der Rehabilitation von Ihnen aufrechterhalten worden. Das ergibt die Situation, daß die Rehabilitationsmaßnahmen, die glücklicherweise vor Ort noch stattfinden, zu Lasten von anderen Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktförderung gehen. - Das ist das eine Problem. Das andere Problem ist: Die Kalkulierbarkeit gerade für diejenigen, die auf die Rehabilitationsmaßnahmen angewiesen sind, muß doch sichergestellt werden, indem für diese Maßnahmen auch die entsprechenden Gelder zur Verfügung gestellt werden. Es dürfen nicht die schwächsten Gruppen am Arbeitsmarkt gegeneinander ausgespielt werden. ({0}) Gerade jetzt, wo die Ausbildungsmisere so offen zutage getreten ist und die Jugendarbeitslosigkeit so erschreckend zunimmt, ist der Konkurrenzkampf um Jobs besonders hart. Das bedeutet immer auch, daß nach besseren bzw. schlechteren Abschlüssen sortiert wird. Da müssen wir gegensteuern. Ich finde schon, daß nach dem ganzen Durcheinander um den Rechtsanspruch auf Reha-Maßnahmen Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, jetzt in der Pflicht sind, die entsprechenden Mittel sicher zur Verfügung zu stellen und sie nicht gegen andere Mittel auszuspielen, damit dieser Rechtsanspruch verläßlich eingelöst werden kann. Der Haushalt 1997 war - das beziehe ich keineswegs nur auf den Einzelplan des Arbeitsministeriums - ein einziges Chaos. Von Löchern kann man kaum sprechen: Abgrund um Abgrund hat sich aufgetan. Daß es einen Nachtragshaushalt geben mußte, weil Sie die Zahlen jenseits jeder sachlichen Grundlage schöngerechnet haben, war schon vor einem Jahr klar. Das haben wir Ihnen auch deutlich gesagt. Sowohl die SPD als auch wir hatten schon im Frühjahr, als klar war, daß die katastrophalen Arbeitslosenzahlen den Etat sprengen würden, einen Antrag auf Nachtragshaushalt eingebracht. Jetzt haben wir noch immer keinen. Aber immerhin: Er ist in Arbeit. Die Haushälter der Regierungsfraktionen wollen noch die nächste Steuerschätzung abwarten. Ihr Vertrauen in das eigene Finanzministerium ist offensichtlich nicht sehr groß, was ich wie viele hier und draußen im Lande ausgesprochen gut verstehen kann. Damit möchten sie sich sicherlich weitere Peinlichkeiten ersparen. Der sicherste Termin für den Nachtragshaushalt wäre dann allerdings der 31. Dezember. Daß der Nachtragshaushalt erst jetzt kommt, obwohl allen klar war, daß er kommen mußte, war gegenüber den Arbeitslosen völlig unverantwortlich. Sie haben der Bundesanstalt eine fatale Auflage gemacht. Sollten die Arbeitslosenzahlen nämlich höher sein, als von Ihnen geschätzt, was angesichts Ihrer Schönrechnereien regelmäßig der Fall ist, sollten die Pflichtleistungen der BA steigen; das sollten die Arbeitsämter aus ihren eigenen Mitteln für die aktive Arbeitsförderung ausgleichen. ({1}) Abgesehen davon, daß die Logik schlicht absurd ist, dann weniger aktive Arbeitsförderung anzubieten, wenn mehr Leute darauf angewiesen sind, sind die Maßnahmen unter dieser Voraussetzung schlicht nicht mehr planbar. Das hat dazu geführt, daß in Ostdeutschland zum Beispiel 60 000 AB-Stellen eingebrochen sind. Von dieser Stelle aus muß sichergestellt werden, daß die beschlossenen Mittel für aktive Arbeitsförderung auch wirklich dafür zur Verfügung stehen. Es muß Schluß sein mit der quartalsweisen Anweisung von Geldern an die Arbeitsämter. ({2}) Wenn nämlich nichts planbar ist, leiden darunter nicht nur die Qualität und die Effektivität der MaßAnnelie Buntenbach nahmen, was Sie anschließend immer besonders gern kritisieren; vielmehr wissen die Betroffenen oft bis zum letzten Tag nicht, ob eine Maßnahme nun bewilligt wird oder nicht. Keinen Job zu haben ist hart genug. Man muß die Leute nicht noch der unwürdigen Situation aussetzen, in ständiger Unsicherheit leben zu müssen und überhaupt keine Auskunft zu bekommen. Im vorliegenden Haushaltsentwurf - an dem hohen Werbeetat erkennt man, daß es der Haushaltsentwurf für das Wahljahr 1998 ist - ist endlich eine zwar zu geringe, aber wenigstens halbwegs diskutable Summe als Zuschuß für die Bundesanstalt eingestellt. Dabei haben Sie ja noch im sogenannten Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung vom April 1996 angekündigt, daß der Zuschuß der BA für 1997 und für alle künftigen Jahre auf null gesetzt würde. Hätten Sie das jetzt im Wahljahr wirklich getan, dann hätte dies zweierlei bedeuten können: entweder eine Menge der bekannten Peinlichkeiten und eine Wiederholung des jährlichen Haushaltschaos mitten im Wahlkampf oder aber weitere rabiate Einschnitte ins soziale Netz. Genau damit wird es nach der Wahl aber weitergehen, wenn hier ab September 1998 nicht endlich eine andere, nämlich eine rotgrüne, Regierung steht. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, in der Debatte um den Etat des Bundesarbeitsministers krachen die Gegensätze der politischen Auffassungen immer am lautesten aufeinander, und das, obwohl wie jedes Jahr die Zahlen belegen, daß knapp ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts im Sozialhaushalt steckt. ({0}) Wenn die Höhe der Geldausgabe ein Signal für die Wichtigkeit der hier zu lösenden Aufgaben ist, dann spiegelt der Bundeshaushalt wider, daß wir in einem Sozialstaat leben, und zwar in einem sehr teuren. ({1}) Die Frage, um die aber eigentlich gestritten wird, ist gar nicht die, ob der Anteil der Sozialausgaben am Gesamthaushalt unbedingt größer sein sollte und ob wir gut daran täten, unbedingt mehr Geld auszugeben, obwohl ich von der Opposition viele solcher Hinweise gehört habe. Nein, die Frage ist eigentlich, wie die Lage aussieht, ob man aus sozialpolitischer Sicht das Richtige tut. Da will ich zunächst einmal zugeben: Die heutige Situation auf dem Arbeitsmarkt ist nicht gut. Zeichen der konjunkturellen Erholung des zögerlichen Wirtschaftswachstums wirken sich noch nicht auf den Arbeitsmarkt aus. Die Einnahmen in den Sozialkassen wie auch in der Staatskasse sind unzureichend. Lehrstellen fehlen, Investitionen fehlen; aber woran es nicht fehlt, ist an Appellen. Mehr als in anderen Politikbereichen gilt für die Sozialpolitik: Die Arbeitsplatzfrage ist die Schlüsselfrage. Hier entscheidet sich, ob sozialpolitische Aufgaben, die ja vielfältig sind - das gilt nicht unbedingt für alle auf diesem Sektor -, bewältigt werden können. Gerade von der Sozialpolitik muß man einen Beitrag erwarten in bezug auf die Senkung der Arbeitskosten, die Entlastung des Arbeitsmarktes von unnötigen Vorschriften - Stichwort Deregulierung - und die Senkung von Lohnnebenkosten. In Zusammenhang mit der Senkung der Lohnnebenkosten steht die Rentenreform. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Es geht uns darum, daß wir den Beitrag langfristig unter 20 Prozent stabilisieren, also den Faktor Arbeit entlasten, um damit zu einem neuen und fairen Generationenvertrag zu kommen. Mit dem schon fast zum Glaubenssatz erhobenen Satz „Die Renten sind sicher" wollen wir ein neues, sicheres Fundament schaffen. Deswegen ist die Reform nötig. Nötig ist auch, daß sie schnell kommt, im Jahre 1998, um schnell wirken zu können. Die F.D.P. steht zu diesem Beschluß vom 5. August dieses Jahres. Die Reformpolitik erfordert Energie, Mut und Zuversicht. Das Oszillieren des Koalitionspartners um die Daten 1998, 1999 ließ das kürzlich etwas vermissen. ({2}) Mit dem Inkrafttreten der Rentenreform 1998 - das will ich hier noch einmal sagen; denn die Rentner erwartet ein Schwall von Sprache - entgehen einem Rentner mit einer durchschnittlichen Rente ungefähr 6 DM.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischer?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, könnten Sie uns hellen, weil wir doch inzwischen alle verwirrt sind, weil wir jeden Tag etwas anderes in der Zeitung lesen? Sie wollen, daß die Reform schnell kommt. Welche Finanzierung schlägt denn jetzt die F.D.P. vor, damit die Reform schnell kommen kann? ({0})

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte gern darauf verweisen, daß ich das nachher natürlich noch genauer ausführen werde. Ich ziehe das aber jetzt als Antwort auf Ihre Frage vor, damit es keinen Zweifel gibt. Ich stehe durchaus auch in dieser Beziehung zu dem Beschluß vom 5. August, in dem ja steht, daß wir die Mehrwertsteuer erhöhen - dazu brauchen wir die Zustimmung der SPD; das ist klar; dazu komme ich noch - und mit diesem Geld den Bundeszuschuß erhöhen wollen, um den Beitragssatz zu senken. ({0}) - Er hat den Beschluß vom 5. August nicht bis zum Ende gelesen; seien Sie ein bißchen milde. Das ist ja das Rentenkonzept, das die Bundesregierung und die Koalition vorgelegt haben. Sie wissen es. Die Zwischenfrage war nur eine Aufforderung, etwas Ihnen schon Bekanntes noch einmal zu wiederholen. Ich bin froh, daß dieser Beschluß wieder bestätigt wurde. Handelt jetzt!, sagt der Bürger. Erst kürzlich wieder habe ich das auf einer Versammlung gehört: Handelt jetzt, und setzt euch nicht selbst dem Vorwurf der Blockade aus, den ihr gegenüber der SPD erhebt! In der Tat muß die Koalition zeigen, wie ernst es ihr mit der Rentenreform ist. Auf alle Fälle muß die Strukturreform mit den Sparelementen kommen. Sie ist unverzichtbar. ({1}) Die Zustimmung der SPD zur Mehrwertsteuererhöhung hängt, wenn ich es recht sehe - hier war ein bißchen Nebel -, zum großen Teil an der Frage, welche Funktion der erhöhte Bundeszuschuß Ihrer Meinung nach haben sollte. Ihr Vorschlag ist ja, drei versicherungsfremde Leistungen herauszunehmen und sie gezielt zu bezahlen. Meine Position ist, daß sie durch den jetzigen Bundeszuschuß, der in diesem Jahr 67 Milliarden DM beträgt, bereits bezahlt sind. ({2}) Der Kerngedanke des SPD-Vorschlags ist aber so falsch nicht. Er könnte einen Prozeß hin zu mehr Transparenz in bezug auf den Bundeszuschuß einleiten und eines Tages vielleicht dazu führen, daß wir uns alle in diesem Haus darüber klar werden, welche Funktion der Bundeszuschuß denn hat. Es heißt, er habe eine Garantiefunktion. Aber ich frage: Zu welchem Preis? Wir hatten die Garantiefunktion schon bei Sätzen von 12 Prozent, von 15 Prozent, von 18 Prozent und 20 Prozent. Wieviel wollen wir dafür ausgeben? Eine weitere Möglichkeit wäre, zu sagen, daß der Bundeszuschuß zur Stützung und langfristigen Sicherung eines erträglichen Beitragsniveaus dient. Insofern sehe ich diesen Ansatz als nicht so ganz aussichtslos an. Aber ich kann Sie ja nun nicht dauernd loben, so daß Sie weiterhin so ruhig bleiben. Ich komme also jetzt zur SPD und ihrem Reformverständnis. ({3}) Die politischen Auseinandersetzungen in dieser Haushaltswoche sind ja oft geprägt von düsteren Prophezeiungen. Sie stellen sich vor, wie schrecklich wir scheitern werden; wir stellen uns vor, wie furchtbar es wäre, wenn Sie an die Macht kämen. ({4}) Auch ich möchte jetzt eine dieser düsteren Prophezeiungen aufstellen. Die Frage, wie man auf die längere Lebenserwartung der Rentner reagieren soll, wird Sie einholen, und zwar bald. Alle Industrienationen, nicht nur die Deutschen, ({5}) haben das Problem der Verteuerung der Alterssicherung durch längeren Rentenbezug und weniger Geburten. Das kann man nicht einfach durch Einnahmeverbesserungen wie die Einführung der Rentenversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte oder Scheinselbständige oder durch mehr Steuergeld lösen. Mit dieser Beschwichtigungspolitik nach dem Motto „Wir müssen nicht sparen; wir holen uns das fehlende Geld" treiben Sie ein schlimmes Spiel. ({6}) Die Bürger durchschauen das auch; da bin ich ganz sicher. Auf das, was Sie sonst noch an Wohltaten in Ihrem Rentenkonzept versteckt haben, will ich jetzt gar nicht eingehen. Das haben wir ja schon einmal gehabt; diese Vorstellung wird sich wiederholen. Ich will aber auf ein Thema zu sprechen kommen, das hier auch schon sehr oft angesprochen worden ist und das ich mittlerweile für einen wichtigen Longseller der Politik halte, das sind die 610-DM-Verträge. Die SPD und leider auch der Bundesarbeitsminister werden nicht müde, die Versicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte zu fordern und sich davon Geld, Gerechtigkeit und die Lösung aller Probleme zu erhoffen. ({7}) Dabei ist unstrittig, daß jedenfalls langfristig die Sozialsysteme dadurch nicht entlastet werden und daß der dann erreichte zusätzliche Versicherungsschutz oft auch gar nicht erforderlich ist. ({8}) Das Ganze ist arbeitsmarktfeindlich, arbeitnehmerfeindlich ({9}) und eigentlich auch unsozial. ({10}) Es sind gerade Personen mit niedrigem Einkommen, die auf diesen Zusatzverdienst angewiesen sind; Studenten, Hausfrauen, Rentner. ({11}) Wenn auf diese Verträge eine Sozialversicherungspflicht gelegt wird, wird es sie bald nicht mehr geben. ({12}) Die F.D.P. sieht sich wohl als letzte Schutzpatronin der 610-DM-Verträge und wird an diesem Punkt nicht mit sich reden lassen. ({13}) Meine Damen und Herren, die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nicht gut. Die Opposition fordert wie gehabt mehr Arbeitsmarktpolitik. Wir haben das große Experiment in Deutschland gemacht. Ich will auch nicht sagen, daß es eine Alternative gab. Aber eines wissen wir heute doch noch besser als vor fünf Jahren, nämlich daß diese Arbeitsmarktpolitik nicht der gerade Weg zu mehr Arbeitsplätzen ist, daß die Strukturprobleme des Ostens nicht gelöst werden konnten, daß es eben nicht der wirkungsvolle Schubs oder Ruck - wie man heute sagt - ist, den wir brauchen, um im Osten neue Arbeitsplätze für die Zukunft zu entwickeln. Gerhard Schröder, der ganz neue Sozialexperte der SPD, kommt auf die Idee - es steht heute in der Zeitung -, das Arbeitslosengeld für die Subventionierung von Löhnen zu verwenden. Gut daran ist, daß der so Beschäftigte in einem Betrieb am Wertzuwachs beteiligt wird. Fragwürdig daran ist, daß eine solche Politik die Lohnfindung - dazu müssen sich die Gewerkschaften äußern - sehr verändern wird. Immerhin haben wir in Ostdeutschland auf etwas schmalerer Basis - zeitlich eingeschränkt, abhängig von der Betriebsgröße und der Personenzahl - so etwas gestartet. Sie wissen vielleicht auch, daß dieses Modell mittlerweile in Brüssel geprüft wird - wegen des Verdachts der Wettbewerbsverzerrung. Das ist vielleicht auch nicht das, was man von europäischer Beschäftigungspolitik erwartet hat. Meine Damen und Herren, ich will zum Schluß nochmals bekräftigen: Die Sozialpolitik muß die Aufgabe der Senkung von Lohnnebenkosten anpacken und lösen. ({14}) Hier ist viel geschehen, und hier wird noch viel geschehen. Das, was die Opposition vorträgt, ist die schrille Beschreibung einer gewiß kritischen Lage. Sie bietet aber keinen Weg an, aus dieser herauszufinden. Einen solchen Weg haben die Koalition und die Bundesregierung eingeschlagen. ({15}) Wir müssen ihn tapfer gehen. Ich bedanke mich. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Blüm, ich kann gut verstehen, daß Sie in Ihrer Situation nichts zur Arbeitslosigkeit gesagt haben. Aber ich muß ehrlich sagen: Politisch ist das für einen Arbeitsminister in diesem Land wirklich ein Skandal. ({0}) Ich werde mich auf dieses Thema konzentrieren und dazu zunächst unser aller Bundeskanzler bemühen. Der hat nämlich zum Antritt seiner Amtszeit vor nunmehr 15 Jahren erklärt: Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, was damals, 1982, recht war, müßte heute eigentlich billig sein. ({1}) Heute, 1997, gibt es in diesem Land mehr Arbeitslose als jemals zuvor. Die soziale Sicherheit ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Die öffentlichen Kassen sind so leer, daß Finanzminister Waigel keinen Bock mehr aufs Regieren hat. Anders der Bundesarbeitsminister: Der findet noch immer, daß sein Haushalt ein Dokument sozialer Behutsamkeit und Verantwortung ist und führt als Beleg dafür an, daß jede dritte Mark des Bundesetats für Soziales ausgegeben wird. Frau Dr. Babel hat es hier wiederholt - wie jedes Jahr. Sie verschweigen dabei nur eines, Frau Dr. Babel: daß durch Ihre Sparoperationen seit 1982 100 Milliarden DM weniger in den Sozialkassen sind - und das bei einer ungeheuren Zunahme der zu lösenden sozialen Probleme. Was könnten wir alles an Beschäftigungsprogrammen in diesem Lande auflegen, wenn Sie diese 100 Milliarden DM nicht weggespart hätten! ({2}) Keines Ihrer Versprechen zum Abbau der Arbeitslosigkeit konnten Sie bisher einlösen. Wirtschaftsminister Rexrodt hat es in der vorherigen Debatte noch einmal bestätigt: Das 50-Punkte-Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist komplett umgesetzt worden. Er bekennt gleichzeitig: leider noch ohne Wirkung auf den Arbeitsmarkt. Wenn das nur stimmte! Das Programm hat aber Wirkungen auf den Arbeitsmarkt gehabt, nämlich eine halbe Million Arbeitslose mehr. Das haben Sie verursacht. Das versuchen Sie nun auch noch als Erfolg umzudeuten. Das nehmen Ihnen die Leute aber nicht mehr ab. Die haben doch längst begriffen, daß Ihre Sozialraubgesetze durch die Bank beschäftigungspolitisch Fehlanzeige sind und mit dazu geführt haben, bei den Arbeitslosenzahlen neue Negativrekorde aufzustellen. Das Fazit der „taz" kann man nur unterstreichen: Operation gelungen - Patient arbeitslos. Tag für Tag werden die Pleiten Ihrer Politik sichtbar: Die Aufweichung des Kündigungsschutzes und die Einschränkung der Lohnfortzahlung haben keinen neuen Arbeitsplatz gebracht. Die Kürzungen bei Rehabilitation und Prävention haben dazu geführt, daß in diesem Bereich 24 Prozent weniger Menschen eine Arbeit finden. Auf der Strecke bleiben vor allem die Frauen. Die Veränderung der Ladenöffnungszeiten hat nur eines bewirkt: eine massive Umwandlung von Vollzeitarbeitsplätzen in Mini-Jobs. Jeder zweite Teilzeitarbeitsplatz im Handel ist inzwischen sozialversicherungsfrei. Das ist aus Ihrer vielgelobten Teilzeitarbeitsoffensive geworden. Und das gelobte AFRG? - Die volle Orientierung auf die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt hat nahezu fatale Folgen, insbesondere in den neuen Ländern. Tausende von Arbeitsplätzen in Sanierungs- und Beschäftigungsgesellschaften in Ostdeutschland gehen über den Deister. Auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt es dafür überhaupt kein Äquivalent; das wissen Sie auch ganz genau. Nicht einmal die Rechnung mit Ihrem beschäftigungspolitischen Lieblingskind - Dienstleistung im Haushalt. - ist aufgegangen. Es ist ja vorhin von Herrn Fuchtel schon gesagt worden: Ganze 34 000 Arbeitsplätze - statt der von Ihnen angestrebten halben Million - entstanden in diesem Bereich. Das ist wirklich eine Pleite für sich. Heute, nach 15 Jahren Kohl-Regierung, fehlen Erwerbsarbeitsplätze für sieben bis acht Millionen Menschen. Das sind Menschen, denen es verwehrt ist, am wirtschaftlichen und sozialen Leben teilzuhaben, Menschen, die sich nutzlos und überflüssig vorkommen, die öfter krank sind als Menschen in Lohn und Brot, Menschen, denen Sie mit Ihrer fatalen Politik die Zukunft verbauen. Dabei ist Erwerbslosigkeit nicht nur für die Betroffenen ein Drama - es ist hier schon 25mal gesagt worden -, die Massenarbeitslosigkeit ist auch die Hauptursache für die immer größer werdenden Löcher im Haushalt. Weil Sie mit Ihrem Haushalt nicht die bitter notwendige Trendwende auf dem Arbeitsmarkt einleiten, Herr Minister Blüm, ist der Einzelplan 11 kein Dokument sozialer Verantwortung, sondern Ausdruck politischer Verantwortungslosigkeit. ({3}) Am Dienstag, bei der Verkündung der Arbeitslosenzahlen für August, hat auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, festgestellt, daß der weitere Anstieg der Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr im Zusammenhang mit der Kürzung der Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik zu sehen ist. Das ist das unrühmliche Ergebnis Ihrer falschen Weichenstellung, und genau die wird im Einzelplan 11 fortgesetzt. Daß der Nachtragshaushalt noch immer auf sich warten läßt und die Arbeitsämter vor Ort noch immer nicht wissen, welche Gelder ihnen für das nächste Vierteljahr zur Verfügung stehen, ist schlicht verantwortungslos. Im August waren - das ist hier gerade schon gesagt worden - 300 000 Menschen weniger in Beschäftigungsförderungsmaßnahmen als voriges Jahr. Der größte Brocken ging zu Lasten der Menschen in Ostdeutschland: Dort waren 220 000 Menschen weniger in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Wieder einmal sind es vor allen Dingen die Frauen, auf deren Kosten diese Entwicklung geht. Das will ich Ihnen hier einmal ganz genau vorrechnen: Nach Veröffentlichungen des IAB - der Kollege Krüger hat es ja vorhin als Gazette bezeichnet; ich wünschte, Sie würden Ihre eigenen Institute etwas ernster nehmen - waren im Mai 1997 in Ostdeutschland 72 000 Frauen weniger in beschäftigungspolitischen Maßnahmen. Im gleichen Zeitraum ging die Anzahl der Fördermaßnahmen für Frauen um 63 000 zurück. Um ein kurzes - und schlechtes - Fazit zu ziehen: 90 Prozent der Anzahl derjenigen Frauen in Ostdeutschland, die zusätzlich arbeitslos geworden sind, gehen auf die Kürzungen in der Arbeitsmarktpolitik zurück. Das muß man sich wirklich einmal durch den Kopf gehen lassen. Für viele Menschen klingt es inzwischen mehr als Bedrohung denn als Versprechen, wenn Sie verkünden, die Arbeitsförderung konsequent fortsetzen zu wollen. Von dem Bekenntnis, die Arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende halbieren zu wollen, sind Sie nun schon selber abgerückt. Ihre arbeitsmarktpolitischen Eckdaten weisen ja auch für das Jahr 2000 noch 3,8 Millionen Arbeitslose aus. Wieso Sie den Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit trotzdem gänzlich streichen wollen, das müssen Sie einmal den Menschen erklären. Im kommenden Jahr wollen Sie 100 000 Arbeitslose weniger haben, davon 10 000 weniger in Ostdeutschland. Ich frage Sie: Wo bleibt die Einlösung des Versprechens des Bundeskanzlers, allein in Ostdeutschland 100 000 Arbeitsplätze für 1998 zu schaffen? Einmal mehr hat sich das als Sprechblase erwiesen. Sie stehen zudem mit Ihren Prognosen gänzlich allein. Das DIW, der DGB, selbst das IAB gehen für 1998 nicht von weniger, sondern von mehr Arbeitslosen aus. Deshalb wird auch der bis jetzt als einigermaßen realistisch beurteilte Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 14,1 Milliarden DM nicht ausreichen, wenn es wirklich um eine beschäftigungspolitische Trendwende mit einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik gehen soll. Auch die 25,5 Milliarden DM für die Arbeitslosenhilfe sind ausgesprochen fragwürdig, wenn man Ihre eigenen Zahlenangaben und Berechnungen zugrunde legt. Ihr Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose, das 750 Millionen DM in 1998 umfaßt, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Ist Ihnen denn entgangen, was das IAB berechnet hat, daß inzwischen

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie müssen wirklich aufhören.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- ich komme zum Schluß - der Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit an der Erwerbslosigkeit auf 58,3 Prozent angestiegen ist? Hier muß doch endlich etwas passieren. Wir müssen uns diesem Problem widmen. Insofern fordern wir, daß vom Bundeshaushalt 1998 wirkliche beschäftigungspolitische Signale ausgehen, die den Menschen im Land Hoffnung machen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ottmar Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht wird es jetzt ein wenig munterer, aber mir ist sehr daran gelegen, mit den Kolleginnen und Kollegen der Koalition in einen Dialog zu treten; denn es gibt eine ganze Reihe von offenen Fragen am Ende der Debatte über Wirtschaft und Soziales. Zunächst eine Bemerkung zur Rentenpolitik. Ich glaube, es handelt sich hier, Herr Kollege Blüm, um ein wirklich unwürdiges taktisches Spiel. Sie haben gesagt: Wir wollen eigentlich die Rentenreform der Koalition - im Klartext: die Kürzung der Renten - auf Grund der demographischen Entwicklung bereits im Jahre 1998 durchsetzen, können das aber nicht tun, solange die SPD nicht bereit ist, der Erhöhung der Mehrwertsteuer zuzustimmen, dann werden wir das in 1999, also ein Jahr später, tun. Wer sagt Ihnen denn, daß die SPD dann bereit ist, einer Erhöhung der Mehrwertsteuer in diesem Zusammenhang zuzustimmen? Allein dieser Sachverhalt belegt, daß es sich ausschließlich um eine taktische Maßnahme handelt: Sie wollen die Zustimmung der SPD zur Erhöhung der Mehrwertsteuer in diesem Zusammenhang, um im nächsten Jahr durch die Lande zu ziehen und die SPD für ein Rentenkonzept mitzuverhaften, das wir kategorisch ablehnen. Das ist der eigentliche Beweggrund Ihrer ganzen taktischen Geschichten. ({0}) Über die Erhöhung der Mehrwertsteuer kann man ja reden. Ich will Sie aber daran erinnern, daß die Koalition heute morgen in Gestalt des Abgeordneten Schauerlich, der gerade noch hier war, ausdrücklich vor einer Anhebung der Mehrwertsteuer gewarnt hatte, indem er ausführte, eine Anhebung der Mehrwertsteuer sei gewissermaßen der Untergang des deutschen Mittelstands. Ich will Sie daran erinnern, daß der Bundeskanzler vor einem guten Jahr in diesem Parlament auf die ausdrückliche Frage des Abgeordneten Fischer, Bündnis 90/Die Grünen, an ihn, ob er kategorisch ausschließen könne, daß es in dieser Legislaturperiode zu einer Anhebung der Mehrwertsteuer kommen könnte, geantwortet hat, er schließe dies kategorisch aus. Jetzt hören wir von Herrn Blüm und anderen, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer offenkundig die einzig denkbare Finanzierungsgrundlage im Rahmen seines Konzeptes ist. Das würde bedeuten, daß Sie den Bundeskanzler erneut zum Umfallen treiben, daß der Bundeskanzler erneut zum Lügner gemacht wird. Herr Blüm, es ist nicht verantwortlich, daß Sie Ihren Bundeskanzler zum Lügner machen. Das geht nicht, das müssen wir als Opposition mit vermeiden. ({1}) - Auch in der SPD gibt es viele Christen. ({2}) Es ist ein grundlegendes Mißverständnis von Herrn Geißler, wenn er die Christen allein in der CDU/ CSU-Fraktion ortet. Ich vermute, daß es bei uns mehr Leute gibt, die sich gewissen Grundhaltungen der christlichen Lehre verhaftet fühlen, als dies bei der CDU/CSU der Fall ist. ({3}) Ich orte bei der CDU/CSU überwiegend eine Ansammlung von Heuchlern und Pharisäern. Derjenige, der vor 2000 Jahren die Heuchler und Pharisäer aus dem Tempel herausgetrieben hat, würde, wenn er heute in diesem Parlament wäre, dafür sorgen, daß es auf der rechten Seite dieses Hauses ziemlich leer wäre. Aber das nur am Rande. Ich will das Thema nicht ausführen. ({4}) Zum zweiten. Frau Kollegin Babel hat auf die 610- DM-Arbeitsverhältnisse hingewiesen. Sie betrachtet die Idee, diese ungeschützten, sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse der Sozialversicherungspflicht zu unterziehen, als eine arbeitsmarktpolitische Katastrophe. Das würde zum Verschwinden dieser Verhältnisse führen. Ich sage Ihnen: Manchmal ist man ganz froh, wenn gewisse Entwicklungen zum Verschwinden von bestimmten Verhältnissen führen. Wenn sie zum Verschwinden dieser Verhältnisse führten ({5}) - zum Verschwinden sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse -, dann wäre sehr viel erreicht. Es gibt innerhalb der Europäischen Union, Frau Dr. Babel, so gut wie kein einziges Land, in dem es einen ähnlichen Mißstand wie in Deutschland gibt. ({6}) Wir haben in den letzten Jahren einen dramatischen Zuwachs an 610-DM-Beschäftigungsverhältnissen zu verzeichnen, weil viele reguläre Arbeitsverhältnisse klein gestückelt worden sind, damit die Arbeitgeber in den Genuß sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse kommen. Das ist glatter Mißbrauch des deutschen Sozialversicherungsrechts. Hier müßten wir dringendst einen Riegel vorschieben. Im übrigen: Das Land, was Sie uns gewissermaßen spiegelbildlich immer wieder vorführen, nämlich Holland mit einer außergewöhnlich hohen Teilzeitquote, hat unter anderem deshalb eine außergewöhnlich hohe Teilzeitquote, weil es dort keine sozialversicherungsfreien Mini-Teilzeit-Arbeitsverhältnisse gibt. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schreiner, einen Moment. Frau Babel möchte eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie diese zu?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn sie sinnvoll ist und weiterführt. Bitte.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hoffe, meine Frage genügt Ihren Qualitätsansprüchen, Herr Schreiner. Könnten Sie sich vorstellen, daß die Ursache - nun haben wir dieses kleine Stückchen Freiheit mit 610- DM-Verträgen im Arbeitsmarkt -, ({0}) für das Anwachsen der Zahl der 610-DM-Verträge - genau erforscht ist es nicht - in der Steigerung der Lohnnebenkosten liegen könnte, die in den letzten Jahren insgesamt über 5 Prozent betragen hat? Ein reguläres Arbeitsverhältnis in Deutschland ist eben teurer als in allen anderen Ländern, so daß ein 610- DM-Vertrag so etwas wie ein kleines Ventil ist, mit dem man die Möglichkeit hat, Arbeit zu Preisen zu organisieren, die sich lohnen. Sind Sie bereit, zumindest diesen Zusammenhang bei Ihrer Bewertung mit ins Kalkül zu ziehen?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dr. Babel, wenn ich Ihrer Auffassung folgen - ich tue es einmal - und sagen würde, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Zuwachs an 610-DM-Arbeitsverhältnissen und den gestiegenen Lohnnebenkosten der letzten Jahre, dann muß ich sagen: Was haben wir für eine Regierung, die in den letzten Jahren maßlos die Lohnnebenkosten erhöht hat, um Dinge zu finanzieren, die mit den Lohnnebenkosten überhaupt nichts zu tun haben! Das geht voll mit Ihnen nach Hause. ({0}) Wir haben seit 1991 immer wieder darauf hingewiesen, daß ein erheblicher Teil der einheitsbedingten Leistungen, gegen die wir im Prinzip überhaupt nichts einzuwenden haben, von Ihnen mißbräuchlicherweise über die Lohnnebenkosten, und zwar bis zur Stunde, finanziert wird. Meine Güte, da müssen Sie sich schon - mit Verlaub gesagt - an die eigene Nase oder an die von Herrn Rexmann, Herrn Blüm oder anderen fassen. Aber das können Sie doch nicht gewissermaßen als einen Vorgang der Opposition darstellen. Seit Jahren finanzieren Sie über die Lohnnebenkosten Dinge, die mit den Lohnnebenkosten nichts zu tun haben. Wir haben Ihnen die Vorgänge genannt: Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Ich bin sehr dafür, die Leistungen an die Menschen in der ehemaligen DDR auszuzahlen. Aber was hat das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz mit den Beitragszahlern zur Rentenversicherung zu tun? Ich könnte die Beispiele fortsetzen. Es bringt nichts. ({1}) Ich will Ihnen dann noch einige Sätze zu Ihrer Bemerkung sagen: Ein Drittel des Bundeshaushalts geht in soziale Leistungen. Ich höre dieses Argument aus den Reihen der Koalition immer wieder. Es wird seit Jahr und Tag gewissermaßen als Entlastungsargument gebraucht, um weitere Kürzungen propagandistisch vorzubereiten. Wir haben seit Jahrzehnten - das galt damals schon für Westdeutschland - eine Sozialleistungsquote von etwa einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Die Sozialleistungsquote ist in den letzten Jahren, bezogen auf Westdeutschland, deutlich abgesunken. Wenn Sie auf ein Drittel hinweisen, müssen Sie dazusagen, daß die Zahl derjenigen Menschen, die mit sozialen Leistungen über Wasser gehalten werden, in den letzten 15 Jahren dramatisch zugenommen hat. Vergleichen Sie die Arbeitslosenzahlen zu Beginn der 80er Jahre mit denen von heute! Vergleichen Sie die Zahl von Sozialhilfeempfängern von 1982 mit der Zahl von heute! Allein 300 000 Jugendliche und Kinder unter 18 Jahren sind in Deutschland auf die Sozialhilfe angewiesen. Meine Güte! Deshalb sind diese Hinweise auf ein Drittel abstrakt und ohne jede Aussagekraft. ({2}) Nächster Punkt - das ist der eigentliche Punkt, zu dem ich etwas sagen wollte -: Meine Damen und Herren, bei nahezu 4,4 Millionen registrierten Arbeitslosen - ein Zuwachs von fast einer halben Million im Verhältnis zum Vorjahresmonat August - ist die Koalition sowohl in der Wirtschaftsdebatte heute morgen wie auch in der Arbeits- und Sozialdebatte am späten Vormittag und in der Mittagszeit jeden Hinweis schuldig geblieben, was Sie zu tun gedenken, um diese dramatisch hohe Arbeitslosenzahl abzusenken. ({3}) Jeden Hinweis sind Sie schuldig geblieben. Wenn wir miteinander ins Gespräch kommen wollen, könnten wir uns vielleicht zunächst einmal im Rahmen einer kritischen Bestandsaufnahme verständigen, daß Ihre bisherige Strategie, nämlich über eine rigorose Kürzungspolitik im Sozialbereich mehr Beschäftigung zu schaffen, nicht nur gescheitert ist und tiefere soziale Gräben in der Bundesrepublik aufgerissen hat, als wir sie jemals hatten, sondern die Arbeitslosigkeit von Jahr zu Jahr sogar noch erhöht hat. Wenn Sie auch nur ansatzweise bei Ihrem alten Lehrvater Nell-Breuning nachlesen würden, dann würden Sie sehr schnell merken, daß es geradezu der falscheste Weg ist, in konjunkturell schwierigen Zeiten in den sozialen Bereichen massiv zu kürzen. Sie nehmen den Menschen die Kaufkraft weg. Der dümpelnde Binnenmarkt, die dümpelnde Binnenkonjunktur ist seit vielen Jahren unser Problem. Diese Strategie ist rigoros gescheitert. Ebenso gescheitert ist eine Strategie, die annahm, über eine Deregulierung - das heißt im Klartext: über die Abschaffung bzw. über Eingriffe in soziale Schutzrechte der Arbeitnehmerschaft - mehr Beschäftigung zu schaffen. Das war Ihr Kernargument in den Debatten im vorigen Jahr. Sie, die Kollegen Geißler, Blüm und Rexrodt, haben uns hier immer wieder gesagt, Sie schnitten nicht gerne in den Kündigungsschutz ein, Sie griffen nicht gerne in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein, aber Sie müßten es tun, denn dies bringe Hunderttausende von zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen. ({4}) Sie haben nicht ein einziges zusätzliches Beschäftigungsverhältnis auf Grund dieser gesetzlichen Eingriffe vorzuweisen. Sie haben eine miserable Bilanz vorzuweisen: Anstieg der Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum um rund eine halbe Million. ({5}) Das heißt, Ihre bisherigen Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind restlos, ohne jede Ausnahme, gescheitert. Wenn wir uns auf diese kritische Bestandsaufnahme verständigen könnten, dann könnte man vielleicht weitersehen. ({6}) Im übrigen: Sie sind auch nicht das Opfer von Sachzwängen. Arbeitslosigkeit ist kein schicksalhafter Vorgang, der von Ihnen nicht politisch beeinflußbar wäre. ({7}) All dies ist nicht der Fall. Blicken Sie um sich in die Europäische Union! Es wird immer wieder mit dem Finger auf Holland, auf Großbritannien, auf Frankreich und auf Dänemark gezeigt. ({8}) In keinem Land der Europäischen Union ist die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren so dramatisch gestiegen wie in Deutschland. Schon das, für sich genommen, zeigt, daß wir es hier nicht mit schicksalhaften Entwicklungen zu tun haben, sondern mit politisch beeinflußbaren Größen. ({9}) Nun will ich Ihnen sagen - wenn Sie auch das nachvollziehen könnten -, daß allein der Zuwachs bei den Arbeitslosen innerhalb von Jahresfrist um rund eine halbe Million nicht das Ergebnis von Wirtschaftsverläufen oder von konjunkturellen Entwicklungen ist, sondern der Zuwachs - eine halbe Million mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist - ist ausschließlich das Ergebnis von unmittelbar von Ihnen zu verantwortenden politischen Fehlentscheidungen. ({10}) Diese werde ich Ihnen jetzt im einzelnen auflisten, damit hier einmal klar wird, wer wen blockiert. Ihr ehemaliger Kanzlerkandidat Barzel hat völlig recht: Sie blockieren sich selbst. ({11}) Der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker hat völlig recht: Ihnen geht es primär um Machterhalt; Konzeptionen haben Sie keine. ({12}) Wenn Sie also solche Zwischenrufe riskieren, denken Sie daran: Sie adressieren Ihre Zwischenrufe auch an Ihren ehemaligen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Barzel und an den ehemaligen Bundespräsidenten. Ich will Ihnen sagen, warum die halbe Million Arbeitslose zusätzlich ausschließlich auf politisch zu verantwortenden Fehlentscheidungen beruht. Es ist ein Debakel, das Sie selbst angerichtet und zu verantworten haben. Die Kollegin Buntenbach hat darauf hingewiesen, daß allein vom August vorigen Jahres bis zum August dieses Jahres die Zahl der Arbeitslosen um rund 300 000 Menschen gestiegen ist, weil Sie in diesem Ausmaß Menschen aus den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik herausgenommen haben. Die rigide Kürzungspolitik bei der Arbeitsmarktpolitik ist eine wesentliche zentrale Ursache für den neuerlichen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit um mehrere Hunderttausend innerhalb der letzten zwölf Monate. Meine Güte, man faßt sich an den Kopf: Hätten Sie damals bei fast 4 Millionen Arbeitslosen unser Arbeits- und Strukturreformgesetz, das Sie hier mit Geifer abgelehnt haben, das Sie als ABM-Sozialismus denunziert haben, angenommen, hätten wir heute, ein Jahr später, nicht 300 000 Arbeitslose mehr, sondern 500 000 Arbeitslose weniger. Das war die erklärte Zielsetzung des Arbeits- und Strukturreformgesetzes. ({13}) Nun können Sie sagen, der SPD fällt gar nichts anderes ein als Arbeitsmarktpolitik. Meine Güte! Bei 4 Millionen Arbeitslosen - der Stand im vorigen Jahr - haben wir, bescheiden wie wir sind, vorgeschlagen, die Arbeitsmarktpolitik einzusetzen, um die Zahl der Arbeitslosen um 500 000 zusätzlich zu verringern. Mehr war dies nicht. Das war ein bescheidener Anspruch. Heute sitzen Sie bei fast 41/2 Millionen Arbeitslosen. Was ist das für eine Politik, die jetzt, ein Jahr später, einen Nachtrag in Höhe von 21 Milliarden DM zur Finanzierung von zusätzlicher Arbeitslosigkeit beschließen muß? Das ist das Resultat Ihrer Politik: Sie brauchen 21 Milliarden DM zusätzlich zur Finanzierung des von Ihnen erzwungenen Nichtstuns. ({14}) Was ist das für ein Leistungsbegriff der deutschen Konservativen? Sie finanzieren Nichtstun. Wir haben vorgeschlagen, die Menschen zu aktivieren, ihnen Lohnkostenzuschüsse zu geben, damit sie eine reguläre Arbeit bekommen. Weiter haben wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen vorgeschlagen. 1,5 Millionen Menschen sind langzeitarbeitslos. Hier haben wir im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von über 20 Prozent zu verzeichnen. Der Bundeskanzler höchstpersönlich wies gestern darauf hin, daß über die Hälfte dieser Langzeitarbeitslosen ohne berufliche Qualifikation sei.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Schreiner, einen kleinen Moment.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gleichzeitig haben Sie, Herr Blüm, die Ausgaben für Weiterbildung gegenüber dem Vorjahr in einer Größenordnung von 145 000 DM gekürzt. Welchen Sinn macht diese Politik? Herr Blüm, können Sie mir zugestehen, daß Ihre Politik auch den letzten Rest von Rationalität verloren hat? ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Schreiner, gestatten Sie dem Kollegen Blüm, daß er jetzt eine Zwischenfrage stellt?

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, ist Ihnen bekannt, daß die von der Bundesanstalt für Arbeit zur Verfügung gestellten Lohnkostenzuschüsse noch nicht einmal alle abgeholt wurden? Wieso sagen Sie, wir würden zu wenig Zuschüsse zahlen? ({0}) - Es ist doch gesagt worden, wir hätten die Lohnkostenzuschüsse zusammengestrichen, sie wären nicht mehr vorhanden. Sie werden noch nicht einmal alle abgeholt! Also liegt es nicht allein an den Instrumenten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist das eine Zwischenfrage, oder ist das eine Predigt?

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist Ihnen bekannt, daß wir insgesamt 21,9 Milliarden DM - außer für ABM und FuU - für weitere neue Instrumente zur Verfügung gestellt haben, die aus Ihrer Betrachtung völlig herausgefallen sind? Das sind beispielsweise Lohnkostenzuschüsse für Existenzgründer und die Maßnahmen nach § 249k in erhöhter Auflage in den Betrieben. Wenn Sie mir Zeit geben, erkläre ich es Ihnen. Oder soll ich es Ihnen schriftlich geben?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist beides recht, denn beides ist im Ergebnis Unfug. Ich werde es Ihnen gleich belegen. Herr Kollege Blüm, es ist richtig, daß ein Teil der Maßnahmen nicht abgerufen wird - das ist ganz einfach zu erklären -, weil die Konditionen der Maßnahmen so sind, daß Sie keine Träger finden, die in der Lage sind, die finanziellen Ergänzungsmittel aufzubringen. ({0}) Jetzt gebe ich Ihnen einen heißen Tip: Gehen Sie einmal mit mir zusammen zum Bischof von Trier. Das ist der für meine Region zuständige Bischof. ({1}) Dann fragen wir einmal den Bischof von Trier, warum die Einrichtungen der katholischen Kirche bei uns in der Region, die bislang Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen getragen haben, jetzt bei weitem nicht mehr in der Lage sind, das zu tun. Dann wird man Ihnen sagen: Uns fehlen die ergänzenden Mittel. Der Blüm, dieser merkwürdige Minister, hat die Bedingungen so zugeschnitten, daß das in der Realität alles nichts mehr bringt. Das ist die reale Lage. Es wäre hin und wieder einmal ganz gut, Sie würden sich von Ihrem Schreibtisch erheben und vor Ort inspizieren, was Sie mit Ihren pausenlosen Gesetzesänderungen angerichtet haben. ({2}) Ich komme zu einem anderen Punkt: Lohnkostenzuschüsse Ost. Ich habe den Kollegen Paul Krüger im vorigen Jahr in einem seltenen Anflug von Polemik einen Maulhelden genannt, weil Paul Krüger hier in einer Debatte gesagt hat, die Warnungen der SPD, daß die von Ihnen damals vorgetragenen Veränderungen im Arbeitsförderungsrecht zu massiven Einschnitten im Bereich der Arbeitsmarktpolitik Ost führen würden, seien Humbug, weil die Koalition über neue Instrumente entsprechende Auffangnetze aufbauen wolle. Zu den neuen Instrumenten gehörte unter anderem der Lohnkostenzuschuß Ost. Gehen Sie in das nächste Arbeitsamt in Ostdeutschland und fragen Sie danach. Man wird Ihnen dort sagen, daß die Lohnkostenzuschüsse Ost aber auch nicht annähernd das aufgefangen haben, was dort im übrigen an Instrumenten kaputtgemacht worden ist. ({3}) Die Zahl von 300 000 zusätzlichen Arbeitslosen auf Grund des Rückzugs aus den aktiven Arbeitsmarktinstrumenten ist eben genannt worden. Von dieser Zahl 300 000 geht deutlich mehr als die Hälfte zu Lasten Ostdeutschlands. Das heißt, Sie haben mit Ihrer rigiden Kürzungspolitik im Bereich der Arbeitsmarktinstrumente für einen weiteren dramatischen AufOttmar Schreiner wuchs der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland gesorgt. ({4}) - Bitte sehr, das müßte Ihnen eigentlich bekannt sein. Jetzt sitzen Sie da wieder wie der Leibhaftige und drehen Däumchen. Es ist aber so.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schreiner, es möchte noch jemand eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie auch die Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, Sie sprachen eben das Arbeitsförderungs-Reformgesetz an. Es ist Ihnen sicher bekannt, daß die neuen Instrumentarien auf dem zweiten Arbeitsmarkt erst seit 1. April dieses Jahres in Kraft sind und daß die Instrumentarien, die der Minister angesprochen hat, im Arbeitsamtsbereich Sachsen-Anhalt/ Thüringen 15 000 neue Arbeitsplätze in mittelständischen Unternehmen und im Arbeitsamtsbereich Sachsen 11 000 neue Arbeitsplätze auf den Weg gebracht haben. Das kompensiert nicht ganz den Rückgang, der bei FuU und Regie-ABM, wo zum Teil auch Gelder herausgeschmissen wurden, eingetreten ist. Es sind aber Arbeitsplätze entstanden, die viel näher am ersten Arbeitsmarkt liegen. Wir sollten uns einmal in einem. Jahr darüber unterhalten, wieviel Arbeitsplätze davon in reguläre Beschäftigung gemündet sein werden. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Grund, ich bin ja gerne bereit, diese Fachdebatte im Ausschuß oder anderswo fortzusetzen. ({0}) Man wird dann zum Beispiel nachfragen müssen, wie hoch die Mitnahmeeffekte sind, so wie ich es immer wieder höre. ({1}) Aber das ist gar nicht mein Problem. Entscheidend ist die folgende Betrachtung - auch der Herr Bundeskanzler sagt ja immer, entscheidend ist, was hinten herauskommt - : Präsident Jagoda hat vor wenigen Tagen gesagt, daß die Arbeitslosenzahl im August 1997 um 300 000 Arbeitslose höher liegt als 1996 -nur auf Grund der Einschränkungen im Bereich der Arbeitsmarktinstrumente. ({2}) Er hat hinzugefügt: Die Konsequenzen dieser Einschränkungen gehen mehrheitlich zu Lasten Ostdeutschlands. Das ist die Saldorechnung, Herr Kollege Grund. Wollen Sie es denn nicht begreifen? Ich komme zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich hätte Ihnen noch eine ganze Reihe anderer politischer Maßnahmen Ihrer Seite vortragen können, die im Ergebnis zu einer deutlich höheren Arbeitslosenquote geführt haben. ({3}) Es ist ein politisches Fiasko, das Sie zu verantworten haben. Sie haben hier eine Altersteilzeitregelung verabschiedet, die nicht im geringsten in der Lage ist, die Entlastungsfunktion der alten Vorruhestandsregelung, die zugegebenermaßen in einzelnen Fällen mißbräuchlich in Anspruch genommen wurde, auch nur einigermaßen angemessen zu übernehmen. Das Ergebnis ist, daß die Einstiegskorridore für junge Menschen immer enger und schmaler werden; wir haben es zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik mit einer in der Tat dramatischen Jugendarbeitslosigkeit zu tun. ({4}) Über eine halbe Million junger Menschen unter 25 Jahren in Deutschland hat weder einen Ausbildungs- noch einen Arbeitsplatz. Ich habe von dieser Regierung und von dieser Koalition im Rahmen dieser Haushaltsdebatte nicht einen einzigen Satz über die Perspektive dieser ausgegrenzten jungen Menschen gehört. Diese Situation ist unter keinen Umständen hinnehmbar. Nichts, aber auch gar nichts ist von Ihnen dazu gesagt worden. Es sind keine Perspektiven aufgezeigt worden. Ich sage Ihnen nur eines: Eine Gesellschaft - eine der reichsten dieser Erde -, die Hunderttausende ihrer jüngeren Männer und Frauen ohne Perspektive läßt, läßt einen Teil ihrer jungen Generation verkommen und verrotten. Das fällt insgesamt auf uns zurück, in Formen, die uns alles andere als lieb sein werden. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Schreiner - Ottmar Schreiner ({0}): Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon mehr als eine Minute überschritten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Redezeit ist beendet. Dann danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf die nächste Debatte. Ich habe noch genügend Manuskriptseiten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schreiner, die beiden Kollegen, die Sie vorhin Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer namentlich genannt haben, heißen richtig „Herr Minister Rexrodt" und „Herr Schauerte". ({0}) Herr Schauerte bekommt jetzt das Wort zu einer Kurzintervention.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, Sie haben in dem, was Sie eine Rede nennen, den Wirtschaftsminister „Herrn Rexmann" genannt und aus meinem Namen, Schauerte, „Schauerlich" gemacht. Wenn ich einen Namen hätte wie Sie, bei dem man durch das Weglassen eines einfachen „n" Ihrem Redestil sehr nahekäme, dann würde ich in einer solchen Gefahrensituation solche schweren Fehler nicht machen. ({0}) Lassen wir es in Zukunft bei dem Namen, den Ihnen Ihre Eltern und mir meine Eltern gegeben haben. Wir sind darauf im übrigen sehr stolz. Jetzt zur Sache: Sie haben, obwohl Ihnen der Kollege Fuchtel das schon erklärt hatte, meine Bemerkung zur Mehrwertsteuer und zur Rente noch einmal falsch zitiert und fehlinterpretiert. ({1}) Damit auch Sie das begreifen - so unbelehrbar können Sie gar nicht sein -: ({2}) Die Position der Koalition ist ganz eindeutig. Natürlich ist jede Steuererhöhung - also auch eine Mehrwertsteuererhöhung, auch eine solche zur Umschichtung - ein schwerwiegender Vorgang; niemand macht das leichtfertig. Man kann ihn bei einer Umschichtung nur dann verantworten, wenn gleichzeitig ein Beitrag zur Entlastung der Staatsquote geleistet wird, der eine Reduzierung wenigstens im Ansatz ermöglicht. Deswegen müssen diese beiden Dinge gemeinsam angepackt werden. ({3}) Das ist die Linie, die wir vertreten, die wir durchziehen. So werden wir auch entscheiden. ({4}) Sosehr Sie auch dagegen anrennen, begreifen Sie das doch endlich! Nur mit Umschichtung werden wir den Standort Deutschland nicht nach vorne bringen. ({5}) Beide Dinge gehören untrennbar zusammen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ebenfalls zur Kurzintervention Herr Geißler.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich verzichte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Schreiner, möchten Sie antworten?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Das war so überzeugend. Das war alles in Ordnung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gut. Das verstehen wir so. Ich gebe jetzt das Wort dem Abgeordneten Hermann Kues.

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schreiner, ich war am Anfang etwas hoffnungsvoll, als Sie sagten, Sie wollten in einen Dialog eintreten. Ich finde, das stände einem Parlament gut zu Gesicht. Ich habe heute die Zeitungen studiert und weiß, daß wir Grund hätten, gemeinsam darüber nachzudenken. Die erste Voraussetzung ist allerdings, daß Sie sich bei der Wortwahl etwas prüfen. Wenn Sie die ganzen Kollegen aus der Unionsfraktion als „Heuchler" und „Pharisäer" bezeichnen, weiß ich nicht, ob Sie es mit dem Dialog so ernst meinen. ({0}) - Sie haben mich ausgenommen? Das ist schon etwas Schönes. Ich weiß, daß Sie in Konkurrenz zu Herrn Dreßler stehen. ({1}) Aber Sie sollten die Konkurrenz nicht in erster Linie darauf erstrecken, daß Sie versuchen, ihn in der Lautstärke und in der Wortwahl zu übertönen. Ich glaube, das ist eine falsche Konkurrenz. ({2}) Mir fällt übrigens auf, wenn ich die heutige Debatte verfolge, daß bei den Sozialdemokraten und auch bei den Grünen kein Haushaltspolitiker zu Wort kommt. Ich hätte der Kollegin Wegner, die hier sitzt, gewünscht, daß auch sie heute hier etwas hätte sagen können. Das müssen Sie aber selber organisieren. Das wird aber dann zu einem Problem, wenn Sie es in der Weise angehen, daß Sie zwar gerne darüber reden wollen, wo man etwas ausgeben könnte, daß Sie aber nicht darüber reden wollen, wie man das Ganze finanziert. Das ist symptomatisch für alle Ihre Vorschläge und Ihre Beiträge, die Sie hier leisten. ({3}) Mir ist auch aufgefallen, Herr Schreiner, daß Sie gerne an Nell-Breuning erinnern. Auch ich tue das ganz gerne; das verbindet uns vielleicht sogar. Er war ein großer Mann der christlichen Soziallehre. Aber er kann sich gegen das, was Sie über ihn sagen, nicht mehr wehren, da er leider seit einigen Jahren nicht mehr lebt. Ich habe von Nell-Breuning gelernt, daß es einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Sicherheit gibt. ({4}) Das heißt: Wer sich nur mit der einen Seite, mit den sozialen Aspekten, mit den sozialen Sicherungssystemen, beschäftigt und sich nicht fragt, wie das jeweils finanziert werden soll - etwa dadurch, daß man anderswo etwas wegnimmt -, springt zu kurz. Gleiches gilt für den, der sich nur mit wirtschaftlichen Zusammenhängen beschäftigt. Nell-Breuning hat einmal auf einer Veranstaltung auf die Frage, ob die Politiker den Menschen nicht zuviel versprechen, geantwortet: Nein. - Es gab Unruhe, weil man schon damals, Anfang der 80er Jahre, meinte, die Politiker versprächen zuviel, was sie auch in einem nicht geringen Umfange tun. - Er hat hinzugefügt: Sie müssen ihnen nur sagen, daß sie alles selbst bezahlen müssen. Das ist eine Grundeinsicht, die ich von Nell-Breuning gelernt habe und die auch Sie zugrunde legen sollten. ({5}) Viele Ihrer Argumente gehen immer davon aus, daß im Prinzip Geld genug da sei. Wenn ich etwa Ihre Vorschläge zur Rentenreform sehe, dann stelle ich fest, daß Sie sagen: Natürlich muß der Beitragssatz gesenkt werden, und der Staat muß die Differenz zuschießen. Sie versuchen natürlich, zu verschweigen - das merken die Rentnerinnen und Rentner, vor allen Dingen auch die Beitragszahler -, daß auch dieses Geld irgendwo herkommen muß. Das heißt: Sie wollen schlicht umverteilen. Damit lösen wir die Probleme nicht. Ich möchte ganz gerne auch auf eine Bemerkung von Frau Fuchs eingehen. Sie hat sich heute morgen auf das Kirchenpapier bezogen. Ich habe es dabei.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte im Moment weiter meine Gedanken ausführen. Sie hat gesagt, sie hätte sich erhofft, daß wir dieses Papier zur wirtschaftlichen und sozialen Lage ernst nehmen würden und daß es dazu beitragen könnte, zu einem Konsens zu kommen. Auch ich bin der Meinung, daß das so sein kann. Das setzt nur voraus, daß wir aus dem Kirchenpapier nicht nur das herauspikken, was uns gerade paßt. Sie betreiben Rosinenpikkerei und laufen Gefahr, das Papier für parteipolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Damit machen Sie es sozusagen kaputt; damit erfüllt es nicht mehr seine Funktion. In dem Papier steht eine Menge über Gerechtigkeit und Solidarität. Das eine oder andere muß auch uns nachdenklich stimmen. Das sage ich ausdrücklich. Es steht aber auch eine Menge über Eigenverantwortung darin. Sie sollten darüber nachdenken, wie man die Systeme entsprechend umgestaltet. ({0}) Ohnehin ist es so, daß die soziale Qualität einer Gesellschaft nicht davon abhängt, wieviel Geld man ausgibt und wofür man es ausgibt. Das hängt von ganz anderen Dingen ab. Als Haushaltspolitiker sage ich aber, daß es mich schon mit Sorge erfüllt, wenn ich den Anstieg der Zahlungen für Arbeitslosenhilfe wie auch den Anstieg des Zuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit sehe. Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie man Verhältnisse umstrukturiert. Ich selbst habe mit einigen Freunden vorgeschlagen, daß wir uns Veränderungen überlegen. Ich kann nicht einsehen, weshalb man einem 27 jährigen - wir haben, bezogen auf den Februar dieses Jahres, in der Bundesrepublik, ungefähr 100 000 Menschen in dieser Altersgruppe -, der arbeitsfähig ist und der nicht durch Erziehungsarbeit beansprucht wird, nicht sagen soll: Du bekommst von uns Unterstützung, wenn du keine Arbeit gefunden hast, nämlich Arbeitslosenhilfe. Aber du mußt dafür arbeiten. - Ich bin sehr dafür, daß wir uns über Strukturveränderungen Gedanken machen, weil ich meine, daß man sogar mit weniger Geld eine bessere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik machen kann. Das muß unser Ziel sein. ({1}) Wir können feststellen, daß allenfalls 30 Prozent der freien Stellen beim Arbeitsamt gemeldet werden, daß aber die restlichen 70 Prozent durchaus aufgespürt werden können, wenn man Klinkenputzen geht. Es wäre gut, wenn wir uns Gedanken darüber machen würden, wie man es durch eine stärkere Einbeziehung der Kommunen hinbekommt, geeignete Arbeitsplätze für diejenigen zu organisieren, die keine Arbeit finden. Es ist nämlich zuwenig, den Menschen lediglich Geld zu geben. Auch der Ansatz des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes - dies haben Sie ja auf polemische Weise abgelehnt -, daß die Arbeitsämter über 10 Prozent der zugewiesenen Eingliederungsmittel frei verfügen können und Haushaltsreste auf das nächste Jahr übertragen können, ist richtig. Daran müssen wir weiter arbeiten. Diese Bundesregierung ist, so glaube ich, mit ihrer Arbeitsmarktpolitik, bei der sie sich über Einsparpotentiale Gedanken macht, aber gleichzeitig auch sagt, in welchem Bereich man mehr tun kann, auf einem richtigen Wege. Ich fordere Sie, wenn Sie das, was Sie heute morgen gesagt haben, ernst meinen, auf, in einen Dialog darüber einzutreten, wie man diese Politik noch besser betreiben kann. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung liegen nicht vor. Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 5 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksache 13/1685 - ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 13/8340 ({2}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 13/8488 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Geis Dr. Herta Däubler-Gmelin Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache die Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf namentlich durchführen werden. Nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes ist zur Annahme die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Hansgeorg Hauser das Wort.

Hansgeorg Hauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000832

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend über die Änderungen der Art. 28 und 106 des Grundgesetzes. Diese Änderungen sind erforderlich, damit das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform in Kraft treten kann. Auf Grund der langen Vorgeschichte dieses Entwurfs darf ich mich kurz fassen und nur einige wichtige Eckpunkte ansprechen: Durch die Änderung des Art. 106 des Grundgesetzes wird erstmalig eine obligatorische Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden im Grundgesetz festgeschrieben. Damit wird den Gemeinden nach Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer eine neue einnahmestarke Finanzierungsquelle zugewiesen. Die Ertragshoheit der Gemeinden an der verbleibenden Gewerbeertragsteuer wird durch die ausdrückliche Verankerung des Wortes „Gewerbesteuer" in Art. 106 GG mit Verfassungsrang abgesichert. Die Kommunen haben damit die Sicherheit, daß der Wegfall der Gewerbekapitalsteuer nicht zum Anlaß genommen werden kann, den Gemeinden die Ertragshoheit an der Gewerbeertragsteuer abzuerkennen. Durch die Ergänzung des Art. 28 des Grundgesetzes wird ein weiterer Beitrag geleistet, um die kommunale Finanzautonomie durch die Gewerbesteuer oder auch durch eine andere Steuer zu gewährleisten. Ich glaube, es ist unser aller Anliegen, daß die Finanzautomonie der Gemeinden auf jeden Fall erhalten bleibt und daß es den Kommunen auch weiterhin möglich sein muß, durch eine kommunale Steuererhebung, versehen mit einem Hebesatzrecht, eine eigene Steuerquelle zu haben. Allein die Zuweisung von Anteilen anderer Steuern kann nicht das Ergebnis unserer Beratungen sein. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Deswegen gingen alle Schuldzuweisungen, wir wollten die Ertragshoheit der Gemeinden aushöhlen, vollkommen am Thema vorbei. ({0}) Auch eine andere Steuer müßte danach an die Wirtschaftskraft der am Wirtschaftsleben in der jeweiligen Gemeinde Beteiligten anknüpfen. Die rechtliche Entscheidungsfreiheit auch künftiger Bundesgesetzgeber hinsichtlich der gebotenen Sicherheit der kommunalen Finanzen bleibt im Rahmen dieser Grundgesetzänderung mithin erhalten. Sobald diese Grundgesetzänderungen in Kraft getreten sind, wird auch die dritte Stufe der Unternehmenssteuerreform wirksam. Mit ihr wird die Voraussetzung für eine steuerliche Entlastung der Unternehmen und somit für die erforderliche und deutliche Verbesserung des Standortes Deutschland - auch in den Augen ausländischer Investoren - geschaffen. Mit dem Wegfall der Gewerbekapitalsteuer wird nach der Vermögensteuer endlich eine weitere arbeitsplatzschädliche Substanzsteuer abgeschafft. Zudem wird die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern auch in diesem Jahr nochmals ausgesetzt; diese Steuer wird Gott sei Dank endgültig nicht eingeführt. Die Betriebe in den neuen Länder werden also überhaupt nicht mit Gewerbekapitalsteuer belastet. Das ist natürlich für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern ein wichtiger Erfolg. Mit dieser Gewerbesteuerreform geht eine Gemeindefinanzreform einher, nach der die Gemeinden als Ausgleich für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer ab 1998 einen Anteil von 2,2 Prozent am Aufkommen der Umsatzsteuer und damit 750 Millionen DM jährlich mehr, als ursprünglich in unserem Entwurf vorgesehen, erhalten. Insgesamt ergibt sich somit für die Gemeinden bis zum Jahr 2001- bis zu diesem Jahr erstreckt sich unser Finanzplanungszeitraum - eine Überkompensation von immerhin fast 2 Milliarden DM. Eine aufkommensneutrale Gegenfinanzierung für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer ist insbesondere über den Ausschluß von Rückstellungen für Drohverluste und über den Ausschluß mißbräuchlicher Gestaltungen der steuerlichen Verrechnung von Verlusten sichergestellt. Außerdem sind noch weitere Maßnahmen vorgesehen, damit das erforderliche Aufkommen erreicht werden kann. Im Verlauf der Beratungen sind immer wieder Diskussionen über die Größenordnung der Gegenfinanzierung aufgekommen. Wir sind der Meinung, daß die von uns vorgelegten Zahlen stichhaltig sind. Aber im Vermittlungsverfahren wurde immer wieder nachgebessert, so daß ich ganz persönlich der Meinung bin, daß hier eine Überdimensionierung der Gegenfinanzierung entstanden ist. Die einzelnen Elemente der Unternehmenssteuerreform sind einschließlich ihrer verfassungsrechtlichen Bestandteile Gegenstand von intensiven Beratungen im Vermittlungsausschuß gewesen. Gott sei Dank konnten wir gegensätzliche Meinungen überbrücken, so daß es gelungen ist, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Das ist eine gute Lösung für den Standort Deutschland. Wir geben hiermit ein wichtiges Signal für in- und ausländische Investoren und leisten einen Beitrag zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Thema Gewerbeertragsteuer, also die verbleibende Steuer, wird sicherlich auf der Tagesordnung bleiben. Die Gewerbeertragsteuer ist eine wettbewerbsverzerrende Steuer: nicht nur gegenüber den ausländischen Wettbewerbern - denn dort kennt man eine solche Steuer nicht -, sondern auch im Inland. Der Vorschlag, einfach die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, ist vollkommen untauglich. Denn einen Nachteil bei einer solchen Besteuerung heilt man nicht dadurch, daß man ihn gleichmäßig auf alle verteilt. Statt dessen müssen wir dafür sorgen, daß die Gewerbeertragsteuer per Saldo durch eine andere Besteuerungsgrundlage ersetzt werden kann. ({1}) Ich glaube, das ist die Aufgabe, die wir in der nächsten Zeit haben werden. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jahren, eigentlich seit Jahrzehnten, steht eine umfassende Reform der Gemeindefinanzen hier im Bundestag ebenso wie in den Ländern und Gemeinden auf der Tagesordnung, eigentlich auch eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt. Seit Jahren geschieht jedoch nichts. Im Gegenteil, die Städte, Gemeinden und Kreise sind in ihrer Finanzautonomie, auf die sie als eigenständige Ebene im föderativen Aufbau unseres Staates Anspruch haben, durch die Politik des Bundes in den letzten Jahren zunehmend ausgehöhlt worden. ({0}) Alle wichtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen wirken sich folgenschwer auf der Ebene der Gemeinden aus; aber deren Möglichkeiten, diese Folgen zu bewältigen, halten mit dem Zuwachs an Problemen schon lange nicht mehr Schritt. Natürlich wirkt sich der katastrophale Verfall der steuerlichen Einnahmebasis der Staatsfinanzen unmittelbar auch auf die Gemeindehaushalte aus, obwohl mit kommunalen Mitteln nichts gegen diesen Trend ausgerichtet werden kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr . Kollege Schultz, Herr Schauerte möchte eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie die zu?

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gern.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben gerade zum wiederholten Male vorgetragen, daß die Steuerpolitik des Bundes die Finanzkraft der Gemeinden beeinträchtigt oder zerstört habe. Stimmen Sie mir zu, daß sich in den letzten fünf Jahren das Aufkommen bei der Steuer um 20 Prozent zugunsten der Bundesländer verschoben hat, zu 14 Prozent zu Lasten des Bundes und zu 8 Prozent zu Lasten der Gemeinden? Würden Sie mir zustimmen, daß die Länder ihre Finanzausstattung auf Grund ihrer starken verfassungsrechtlichen Stellung bei allen Reformen erheblich verbessert und den Gemeinden von diesen ihren Verbesserungen nichts haben zukommen lassen? ({0})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stimme Ihnen zu, daß es in der Tendenz eine Verschiebung in den Finanzbeziehungen zugunsten von Ländern und Gemeinden gegeben hat. Dabei vergessen Sie aber, daß durch Kürzung und Abschaffung von Leistungsgesetzen durch den Gesetzgeber sowie durch andere Maßnahmen - zum Beispiel im Bereich der Sozialhilfe, wenn ich an die Gemeinden denke, oder aber durch den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz - eine solche Fülle zusätzlicher Aufgaben hinzugekommen ist, daß die Ausgaben insgesamt leider höher waren als durch die geringfügige strukturelle Verbesserung in den Finanzbeziehungen Mittel zur Verfügung standen. ({0}) Sie haben recht, daß die Länder, die ja über so gut wie keine einzige eigenständige Einnahmequelle verfügen, auf Grund dieser Entwicklung gezwungen sind, in ihrem Gemeindefinanzausgleich kürzer zu treten, weil sie einen Teil der Rücknahme von Leistungsgesetzen oder der Übernahme von Aufgaben Reinhard Schultz ({1}) durch den Bundesgesetzgeber mitfinanzieren müssen. Deswegen wird die Forderung nach Reformen dieser Finanzbeziehungen immer drängender. Diese Reformen müssen sicherstellen, daß die Gemeinden auf Dauer finanziell angemessen ausgestattet sind und über eigenständige, wirtschaftsbezogene Steuerquellen verfügen, daß die Finanzausstattung und Aufgabenwahrnehmung der drei Ebenen im föderativen Staat in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen und daß die Aufgaben den Gemeinden vom Gesetzgeber - auf direkte oder indirekte Weise - nur noch dann aufgebürdet werden dürfen, wenn die Aufgabenfinanzierung durch denselben Gesetzgeber abschließend geklärt ist. ({2}) Die Aufhebung oder Einschränkung von Leistungsgesetzen führt zu einer Ausgabenexplosion in den Gemeinden und wird auf Dauer dazu führen, daß es nicht nur zu großem politischen Verdruß, auch in den Reihen der Kommunalpolitiker der beiden großen Volksparteien, kommt - ich richte das ausdrücklich an die CDU/CSU -, sondern auch zum finanziellen Kollaps in vielen Gemeinden. Vor diesem Hintergrund war und ist es für die SPD eine Frage des Grundrechtsschutzes dieser dritten Ebene, nämlich der Städte, Gemeinden und Kreise, einseitige Eingriffe des Bundesgesetzgebers in die einzige bedeutende eigenständige Gemeindesteuer, nämlich die Gewerbesteuer, abzuwehren. Natürlich wissen auch wir seit langem, daß die Gewerbekapitalsteuer den Nachteil hat, die Substanz von Unternehmen - unabhängig von Gewinnen - zu belasten. Das hat auch in unseren Diskussionen immer eine Rolle gespielt. Was uns davon abgehalten hat, den Vorstoß der Koalition, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen, mit fliegenden Fahnen mitzutragen, war die unverblümte Ankündigung von F.D.P., CDU und CSU in ihrer Koalitionsvereinbarung, die Gewerbesteuer in Gänze abschaffen zu wollen. ({3}) Unter massivem Druck der F.D.P. hat bis in die jüngsten Beratungen hinein die Ankündigung der Koalition, an diesem Ziel festzuhalten, eine Einigung zwischen Regierung und Opposition, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verhindert. Die SPD hat ihre Bedingungen für eine Zustimmung zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer seit mindestens anderthalb Jahren immer wieder eindeutig formuliert: Ein voller Ausgleich für die Gemeinden muß sichergestellt sein und in der Verfassung abgesichert werden. Die verbleibende Gewerbesteuer muß politisch und rechtlich abgesichert werden. Der Anspruch der Gemeinden auf eine eigenständige, wirtschaftskraftbezogene Steuer mit Hebesatzrecht muß, auch in Hinblick auf weitere Reformüberlegungen, im Grundgesetz abgesichert werden. ({4}) Das waren unsere Ausgangsbedingungen, mit denen wir in die Diskussion gegangen sind und an Hand deren wir das Ergebnis des Vermittlungsausschusses positiv bewerten können. Über Monate und Jahre hat sich die Koalition mit Händen und Füßen gewehrt, diese Bedingungen zu akzeptieren. Zwar wurde den Gemeinden immer eine angemessene Beteiligung am Umsatzsteueraufkommen in Aussicht gestellt. Was das aber letztendlich in Mark und Pfennig heißen sollte, wie der Ausgleich sowohl in der Übergangszeit als auch auf Dauer garantiert werden sollte oder wie den Gemeinden in den neuen Bundesländern eine Art fiktiver Ausgleich für die Nichteinführung der Gewerbekapitalsteuer zuteil werden sollte, blieb sehr lange im dunkeln. Der Finanzminister hat sich über zig Finanzausschußsitzungen geweigert, hierzu halbwegs präzise und tragfähige Modellrechnungen vorzulegen. Deswegen waren wir, die Länder und die Gemeinden, nicht in der Lage, die Vorstöße der Regierung in Mark und Pfennig zu bewerten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schultz, anstatt sich über die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und das Vermittlungsergebnis zu freuen, schimpfen Sie auf das Ergebnis. ({0}) Stimmen Sie mir zu, daß es keine direkten Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Kommunen gibt, und stimmen Sie mir zu, daß es den kommunalen Finanzen genau dort am schlechtesten geht, wo die SPD in den Ländern regiert? ({1})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war wirklich ein typischer Michelbach; ich nehme den Zuruf von Herrn von Larcher gerne auf. Man kann es weiß Gott nicht so sagen, wie es Herr Michelbach hier behauptet hat. Ich bin ein aufmerksamer Leser der kommunalpolitischen Blätter Ihrer Kommunalpolitikerorganisation. Die CDU-Kommunalpolitiker beklagen in ihren eigenen Reihen zutiefst, daß sich die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern wegen der Überbürdung mit Aufgaben durch Kürzung von gesetzlichen Leistungen strukturell immer mehr zu Lasten der Gemeinden verschlechtern. Das sagen die CDU-Kommunalpolitiker genauso wie die SPD-Kommunalpolitiker. Nur wollen Sie es auf dieser Ebene nicht wahrnehmen. Daß die F.D.P. es nicht wahrnimmt, ist kein Problem. Die hat ja gerade ihren neuen Kommunalpolitikerkongreß einberufen und dafür eine TelefonReinhard Schultz ({0}) zelle angemietet. Die F.D.P. kann das nicht wahrnehmen. Aber in CDU und SPD wird das auf kommunaler Ebene ähnlich beurteilt; das wissen Sie so gut wie ich. ({1}) Aber ich will mich ja wirklich freuen, Herr Michelbach; denn die Hürden, die Sie über Monate aufgebaut haben, sind nun abgeräumt worden. Die Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer in Höhe von 2,2 Prozent des Aufkommens ist ein Kompromiß, der den Vorstellungen der SPD und der kommunalen Spitzenverbände sehr nahekommt. Dort ist ein Ausgleich materiell geschafft, auch wenn es lange genug gedauert hat, darüber zu verhandeln. Die Absicherung der Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer in Art. 106 des Grundgesetzes macht diesen Ausgleichsmechanismus, der zu gleichen Teilen zu Lasten der Länder und des Bundes geht, politisch krisenfest, und zwar auch gegen die Kollegen der F.D.P. Ich halte das für einen ganz wichtigen Punkt. Die drohende Abschaffung der Gewerbesteuer in Gänze ist zunächst einmal jedenfalls vom Tisch. Wer sie abschaffen will, muß eine andere wirtschaftskraftbezogene Gemeindesteuer mit eigenem Hebesatzrecht erfinden, auf die die Gemeinden einen Anspruch haben werden. Es ist ein großer Fortschritt, den die Verankerung dieses Anspruchs in Art. 28 des Grundgesetzes mit sich bringt; denn die Gewerbesteuer ist damit so lange auch vor den Übergriffen der Koalition geschützt, solange nicht zum Beispiel im Rahmen einer Gemeindefinanzreform ein neues, zumindest gleichwertiges Finanzierungsinstrument gefunden wird. ({2}) Diese Absicherung hat die Koalition über Monate gescheut wie der Teufel das Weihwasser. Nicht zuletzt die F.D.P. hat sich im Vermittlungsausschuß gegen diesen Kompromiß gestemmt. Sogar in den Beratungen im Finanzausschuß war es auch nur mit der Brechstange möglich, dem Justizministerium halbwegs wasserdichte Formulierungshilfen zu entlokken, wie man die grundgesetzlich abzusichernden Ansprüche der Gemeinden in der Verfassung verankern kann. Es gab auf allen Seiten dieses Hauses Stimmen, die von „verfassungsästhetischen Bedenken" bis zu dem Vorwurf reichten, eine solche Einzelfallregelung im Grundgesetz sei verfassungswidrig. Das wurde auch in großen Artikeln beschrieben. Ich bin froh, daß sowohl die ernstgemeinten als auch die absurden Bedenken überwunden werden konnten. Damit wurde nicht nur ein Kompromiß in der Sache gefunden, der zeigt, daß wir auch im Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat durchaus handlungsfähig sein können. Darüber hinaus wurde die verfassungsrechtliche Absicherung der Finanzautonomie der kommunalen Selbstverwaltung nachhaltig gestärkt. Wir wollen nicht nur eine Steuerquelle für die Gemeinden, über die sie weitgehend selbst bestimmen können. Wir wollen eine Einnahmequelle, die die Städte und Gemeinden ermuntert, sich um die Wirtschaftsentwicklung vor Ort, um Unternehmen und Unternehmensansiedlungen sowie den Arbeitsmarkt auch mit kommunal- und regionalpolitischen Mitteln zu bemühen, ({3}) anstatt däumchendrehend auf die Zuteilung aus Einkommen- und Umsatzsteuer oder auf die Finanzzuweisungen der Länder zu warten. Das Bekenntnis zur wirtschaftskraftbezogenen Gemeindesteuer ist auch das Bekenntnis zur Infrastrukturpolitik, zur Wirtschaftsförderung, für den Einsatz um Arbeitsplätze in der örtlichen Gemeinschaft. Die Abschaffung einer solchen Steuer würde dazu beitragen, daß die Kommunen im täglichen Einsatz um Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze als Akteure früher oder später weitgehend ausfielen. Sehr geehrte Damen und Herren, eine weitere spannende Frage war und ist die der Gegenfinanzierung dieses Pakets: Wie sollte das Geschenk an die Wirtschaft, die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der damit verbundene Wegfall des Umsatzsteueranteils für Bund und Länder, in einer Größenordnung von 4 bis 5 Milliarden DM finanziert werden? Die Koalition wollte die Entlastung von nur 18 Prozent der Unternehmen, nämlich der kapital- und exportstarken Häuser, dadurch finanzieren, daß für alle Unternehmen die Investitionen teurer werden. ({4}) Die degressive Abschreibung sollte gesenkt werden, was die Investitionsbereitschaft der Unternehmen in dieser schwierigen Wirtschaftslage noch weiter gelähmt hätte. Das kam für die SPD nicht in Frage. Die gefundene Lösung ist ehrlich. Die Streichung von Rückstellungen für Verluste aus schwebenden Geschäften schließt endgültig den Verschiebebahnhof für den Cash-flow der Unternehmen zu Lasten des Fiskus. Tatsächlich eintretende Verluste können natürlich weiterhin als Kosten steuerlich geltend gemacht werden. Der Verdacht allein aber reicht nicht aus, sich selbst über Jahre hinweg zinslose Darlehen aus der Staatskasse zu bewilligen; nichts anderes war dies in der Praxis. Ähnliches gilt für die Unterbindung von Mißbrauchsfällen beim Verlustvortrag, die zum Beispiel dazu geführt haben, daß Firmen die Verluste pleite gegangener Firmen übernehmen, nur um Steuern zu sparen. Das ist ein unmöglicher Zustand, der jetzt abgestellt werden kann. Die durch diese Maßnahmen einnehmbaren Mittel sind - das muß man zugeben - Deckungsmittel, die die Koalition gerne für die Finanzierung weiterer Steuergeschenke im Rahmen ihrer angeblich größten aller Steuerreformen eingesetzt hätte. Allein die Tatsache, daß diese Mittel zur Deckung von Einnahmeausfällen im Zusammenhang mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer schon heute teilweise verbraucht werden müssen, zeigt, wie kurz die Decke geworden ist. Eine Steuerreform mit Bodenhaftung Reinhard Schultz ({5}) kann nur Schritt für Schritt Steuerschlupflöcher schließen, Steuergerechtigkeit und damit auch Wettbewerbsgerechtigkeit herstellen und - das unterstreiche ich ausdrücklich - den Zusammenbruch der Staatsfinanzen verhindern helfen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Michelbach, ich denke, ich kann Sie beruhigen; denn auch wir sagen: Na endlich! Es ist so eine Art Stoßseufzer, der uns mehr oder weniger flockig und locker aus der Kehle kommt. Das ist auch kein Wunder angesichts des Gezerres der letzten zwei Jahre und Ihrem Versuch, die Kommunen über den Tisch zu ziehen. ({0}) Das ist die Wahrheit, die dahintersteckt: Sie wollten den Kommunen die Kompensation nicht in der Form gewähren, wie sie notwendig ist. Durch die lange Diskussion haben Sie es im Prinzip, was die Situation der Kommunen im Osten anbetrifft, geschafft, den Kommunen gerade in den neuen Bundesländern die Einnahmen so lange vorzuenthalten. Das muß man in diesem Zusammenhang einmal sehen. Ich will auch nicht verhehlen, daß dies symptomatisch ist für die Unfähigkeit dieser Koalition, eine tatsächliche Steuerreformpolitik zu betreiben. Dies ist nur ein einziger Mosaikstein, der in dieser Legislaturperiode gesetzt werden konnte. Ich finde es, was das Gezänk um die Kompensation der Steuerausfälle durch eine ausreichende Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer anbetrifft, ganz gut, daß wir es geschafft haben - es war in den letzten zwei Jahren unsere Aufgabe, hier aufzupassen -, daß die Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer, die ursprünglich mit 1,9 Prozentpunkten vorgesehen war, jetzt auf 2,2 Prozentpunkte angehoben wurde. Das ist schon ein Erfolg. Es muß auch gesagt werden, daß die Bundesregierung versucht hat, den Kommunen das Recht auf eine eigene wirtschaftskraftbezogene Steuer, die im Grundgesetz festgeschrieben ist, zu verweigern, was selbstverständlich damit zusammenhängt, daß im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und F.D.P. nach wie vor der Wunsch verankert ist, auch die Gewerbeertragsteuer abzuschaffen. Die F.D.P. sagt sowieso immer wieder, sie will Steuern senken. Sie will auch, daß die Unternehmen in diesem Land keine Steuern mehr zahlen müssen. Am liebsten würde sie auch noch den Sozialstaat abschaffen, anstatt den Kommunen ausreichende finanzielle Mittel für ihre wichtigen Aufgaben in unserem Gemeinwesen zu gewährleisten. Das wundert uns nicht; denn die F.D.P. ist flächendeckend in der Bundesrepublik Deutschland kaum kommunalpolitisch verankert. Deswegen hat sie selbstverständlich überhaupt kein Interesse, etwas Positives für die Kommunen zu leisten. Sie will letztendlich auch die Leistungen der Kommunen für die öffentliche Wirtschaft nicht zur Kenntnis nehmen. Es war eine konfuse Politik in den letzten zwei Jahren, die verhindert hat - dies ist sehr fatal für diese Bundesregierung -, daß wir eine tatsächliche Gemeindefinanzreform bewerkstelligen können. Wir haben keine Gemeindefinanzreform. Vielmehr haben wir einen einzigen Baustein, nämlich die Gewerbekapitalsteuer, jetzt abgeschafft. Wir haben aber die Aufgabe der Neuordnung des gesamten Finanzgefüges, wobei die Aufgabenzuschreibung im Prinzip mit finanziellen Mitteln für die Kommunen zukünftig abgesichert werden müßte, bislang nicht angehen können. Ich finde das äußerst problematisch, wenn man sieht, in welcher finanziellen Situation die Kommunen heute stehen. Es muß im kulturellen und sozialen Bereich gekürzt werden, und Sie setzen von dieser Seite aus immer noch einen drauf. Das bedeutet - dies sei abschließend gesagt -, die Unternehmenssteuerreform darf sich nicht in der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer erschöpfen. Die Gewerbe- wie die Körperschaft- und Einkommensteuer müssen grundsätzlich reformiert werden. Da sind wir uns ja einig. Wir müssen vor allem sehen, daß Bilanzierungsgrundsätze sowohl steuerlich als auch handelsrechtlich die tatsächliche Ertrags- und Gewinnsituation der Unternehmen wiedergeben. Wir müssen die Spielräume für Steuersatzsenkungen schaffen, indem wir gerade in diesem Bereich über eine saubere Bilanzierung die Ausnahmen regeln und die Schlupflöcher schließen. Letztendlich bleibt es selbstverständlich unser Wunsch, daß diese Regierung 1998 abgelöst wird, daß sie den Weg frei macht für einen Neuanfang, so daß wir dann das tun können, was zwingend notwendig ist, nämlich die Versäumnisse dieser Koalition nach 1998 wettzumachen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Frick.

Prof. Gisela Frick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002656, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dem Wortbeitrag der Grünen, der Christine Scheel, kann ich mich im Anfang anschließen, im Stoßseufzer „na endlich". ({0}) Das ist eine Sache, die wir als F.D.P. nun wirklich lange genug betrieben haben. Zwei Jahre sind noch untertrieben; seit fünf Jahren bemühen wir uns, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Dem Abschluß Ihrer Rede kann ich selbstverständlich nicht zustimmen. Ich bin nicht der Meinung, daß die Ablösung dieser Regierung ein wirklicher Neuanfang wäre, schon gar nicht im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik. Es wäre zwar ein Neuanfang, aber es wäre ein verheerender, den wir nur fürchten könnten und mit uns natürlich auch alle vernünftigen Kräfte, die in der Wirtschaft und damit für die Arbeitsplätze das Sagen haben. Da können wir selbstverständlich nicht zustimmen. ({1}) Zur Sache. Wir verhandeln heute die Grundgesetzänderung. Ich kann nicht verhehlen, daß uns als F.D.P. die Zustimmung zu dieser Grundgesetzänderung, insbesondere was den Art. 28 betrifft, nicht leichtfällt, aber aus dem Stoßseufzer „na endlich" heraus. In den Verhandlungen haben wir auch gemerkt, daß ohne eine Änderung des Art. 28 im Bereich der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer überhaupt nichts läuft. So haben wir, wenn auch knurrend, hier zugestimmt. Die Änderungen des Art. 106 kann die F.D.P. wesentlich besser mittragen. In bezug auf die Änderungen beim Art. 28 halte ich es, wie gesagt, für mehr als einen Schönheitsfehler - das gilt auch für meine gesamte Fraktion -, daß hier noch einmal unsere Verfassung mißbraucht wird, um dort Dinge hineinzuschreiben, die mehr oder weniger selbstverständlich sind. Die bisherige Fassung von Art. 28 Abs. 2 Satz 3 des Grundgesetzes hätte unserer Meinung nach gereicht. Aber entscheidend für uns ist - das hat uns die Zustimmung zu dieser Änderung auch erleichtert -, daß mit dieser Änderung die verbleibende Gewerbeertragsteuer keineswegs festgeschrieben wird. Vielmehr ist auch die SPD der Meinung - das haben wir ja Gott sei Dank auch von Ihnen, Herr Schultz, gehört; das geht auch aus der Begründung zu dieser Grundgesetzänderung hervor -, daß weiterhin auch andere Lösungen denkbar sind. Für diese anderen Lösungen steht die F.D.P. durchaus. Leider sind im Moment Herr Poß und Herr von Larcher nicht im Raum, die mir sonst üblicherweise die Frage stellen, ob denn die F.D.P. nach wie vor bei ihrem Programm bleibt, die Abschaffung der Gewerbesteuer insgesamt zu betreiben. - Da kommt Herr von Larcher. Ich nehme die Frage also schon vorweg und beantworte sie wie folgt: Wir bleiben nach wie vor bei unserem Programm ({2}) - das steht ja auch, wie gesagt, in der Koalitionsvereinbarung -, die Gewerbesteuer insgesamt abzuschaffen. Wir sind fest davon überzeugt - wir haben das sowohl in der Begründung im Gesetzentwurf zur Grundgesetzänderung als auch heute noch einmal durch den Redebeitrag der Opposition erfahren -, daß eine andere Lösung, die das Interesse der Kommunen an der Ansiedlung von Betrieben erhält - das scheint uns wichtig zu sein -, durchaus noch gesucht werden kann und daß sie durch diese Grundgesetzänderung nicht blockiert wird. Von daher tragen wir die Grundgesetzänderung mit. Wie gesagt, wir sind der Meinung, daß bei uns im Moment die Verfassung sehr stark strapaziert wird. Aber wenn es nun nicht anders geht und da uns das Ziel so wichtig ist, die Gewerbekapitalsteuer in den alten Bundesländern abzuschaffen und sie in den neuen Bundesländern gar nicht erst einzuführen, gehen wir auch diesen Schritt. Deshalb stimmen auch wir heute zu. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Uwe-Jens Rössel.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundestagsgruppe der PDS billigt, daß die Gewerbekapitalsteuer als Substanzsteuer abgeschafft und den Kommunen per Grundgesetz dafür ein finanzieller Ausgleich gewährt wird. Gerade für ostdeutsche Unternehmen und Handwerksbetriebe mit ihrer in der Regel geringen Eigenkapitaldecke wäre die Einführung dieser Steuer eine nicht zu verantwortende Belastung gewesen. Insbesondere die Ergänzung des Art. 28 des Grundgesetzes, die eine wirtschaftsbezogene, mit Hebesatzrecht der Gemeinden ausgestattete Steuer grundgesetzlich garantiert, dokumentiert einen Erfolg der Opposition. Denn immerhin brauchte die Regierungskoalition zwei Jahre, um nach der weitgehend unstrittigen Debatte um Art. 106 des Grundgesetzes dieser Forderung der Opposition zu entsprechen. Durch die Ergänzung des Art. 28 wird das Band zwischen Rathaus und ortsansässiger Wirtschaft nicht zerschnitten, wie es die F.D.P. wollte. Das ist verhindert worden. Das, meine ich, ist ein wichtiges Ergebnis. Die Unternehmen bleiben gegenüber den Kommunen in der Pflicht. Dennoch bleibt festzustellen: Erstens. Den Gemeinden wird in .der bereits am 5. August beschlossenen einzelgesetzlichen Ausführungsregelung aber nur ein Anteil von 2,2 Prozent an der Umsatzsteuer zugestanden. Die kommunalen Spitzenverbände hatten nachgewiesen, daß mindestens 2,3 Prozent erforderlich gewesen wären. Der Ausfall beträgt immerhin 500 Millionen DM jährlich. Zweitens bekräftigt die PDS ihre Forderung - und zwar als einzige der hier vertretenen Fraktionen und Gruppen -, daß ostdeutsche Städte und Gemeinden endlich einen angemessenen Ausgleich für die 2,5 Milliarden DM erhalten sollten, die ihnen durch die Nichterhebung der Gewerbekapitalsteuer seit 1991 entgangen sind. ({0}) Diese 2500 Millionen DM - ich möchte die Zahl wiederholen: 2500 Millionen DM - fehlen den ostdeutschen Gemeinden jetzt akut für die Finanzierung der Daseinsvorsorge, vor allem auf sozialem und kulturellem Gebiet. Als Ausgleich schlagen wir die Wiederbelebung einer Investitionspauschale des Bundes vor, die von ihm unbürokratisch in die Gemeinden fließt. Neue Kreditprogramme, wie von Minister Waigel beabsichtigt, sind angesichts der hohen Pro-KopfVerschuldung der Ostkommunen ungeeignet. Die Gemeinden brauchen sofort Bargeld und keine neuen Schulden. ({1}) Überhaupt ist jetzt die Zeit für eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung, die die Kommunen stärkt und die kommunale Selbstverwaltung wiederbelebt, gekommen. Das, was heute entschieden wird, ist nur ein einfacher Ausgleich für die Gemeinden und keine Kommunalfinanzreform. Herr Staatssekretär Hauser, das möchte ich Ihnen ausdrücklich sagen. Die Kommunalfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland muß endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Notwendig ist dazu die sofortige Einsetzung einer Expertenkommission von Bundestag und Bundesrat, wofür die PDS und danach auch die SPD bereits entsprechende Anträge an das Hohe Haus gestellt haben. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt als letzter vor der Abstimmung der Abgeordnete Dietrich Mahlo.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dem Ringen um eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland werden wir heute einen Punkt vorankommen. Durch eine Abänderung der Verfassung wird der Weg für die Abschaffung des Steuerfossils namens Gewerbekapitalsteuer freigemacht. Die Genugtuung darüber, einen Schritt vorwärtszukommen, wird aber durch die Feststellung gedämpft, daß es in diesem Lande tatsächlich einer vierjährigen Debatte bedurfte, bevor sich endlich die erforderlichen Stimmen bei der Opposition im Hause fanden, eine anachronistische Steuer zu beseitigen. ({0}) Diese Steuer ist kompliziert, ohne soziale Treffsicherheit, wettbewerbsverzerrend und leistungshemmend. Die Gewerbekapitalsteuer ist eine Arbeitsplatzvernichtungssteuer. Etwa 50 000 zumeist unterkapitalisierte Unternehmen in den neuen Bundesländern wären durch ihre Einführung mit etwa 800 Millionen DM belastet worden. Nun hat eine Diskussion darüber begonnen, wie einzelne Formulierungen der Verfassungsänderung zu deuten sind: ob deklaratorisch oder konstitutiv, ob ein Unterschied besteht zwischen „wirtschaftsbezogen" und „wirtschaftskraftbezogen" usw. Ich beabsichtige nicht, mich hier an einer juristischen Fliegenbeinzählerei zu beteiligen. Wir brauchen keine Diskussion über Semantik. Für jeden Einsichtigen ist klar, daß hier nicht die Finanzverfassung des Grundgesetzes geändert und auch keine Ewigkeitsgarantie für die Gewerbeertragsteuer gegeben wird. Wohl aber wird eine substantielle Beteiligung der kommunalen Ebene an der Umsatzsteuer sichergestellt und zugleich gewährleistet, daß die verbleibende Gewerbeertragsteuer jedenfalls nicht ersatzlos wegfallen kann. Das ist die Botschaft. Dabei verhehle ich für meine Fraktion nicht, daß wir das Vollstopfen der Verfassung mit immer mehr Einzelbestimmungen, denen Grundsatzqualität abgeht, für den falschen Weg ansehen. Von der Beteiligung an der Umsatzsteuer werden zum Teil Kommunen profitieren, die gar keine nennenswerten Gewerbekapitalsteuerausfälle haben. Es liegt daher an den Ländern, bei denen die Kompetenz und die Verantwortung hierfür verbleibt, dafür Sorge zu tragen, daß die Kommunen, die der Wegfall der Gewerbekapitalsteuer besonders hart trifft, im Wege einer Fondslösung auch überdurchschnittlich an dem Ausgleich beteiligt werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Larcher?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Herr Kollege, machen Sie es kurz, dann mache auch ich es kurz.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, da Ihnen Ihre eigene Fraktion nicht zuhört und im Haus ein hoher Lärmpegel herrscht, möchte ich Sie fragen: Was heißt „Gewerbekapitalsteuer" auf chinesisch?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Ich finde, die Frage ist aber auch nicht sonderlich förderlich für diese Debatte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Larcher, für Ruhe zu sorgen ist eigentlich meine Aufgabe. Ich versuche das, so gut es geht. Herr Kollege Mahlo, Sie haben wieder das Wort.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich appelliere - um diesen Gedanken zu Ende zu bringen - an die Länder, bei der Handhabung dieses Ausgleiches Fairneß und nicht Parteibuchdenken walten zu lassen. Mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1999 und der Nichteinführung in den neuen Bundesländern haben wir ein weiteres Stück Aufräumarbeit zur Herstellung eines attraktiveren Standortes getan. ({0}) Noch ist es so, daß die internationalen Investitionsmilliarden in großem Bogen an Deutschland vorbeifließen. Vergangenes Jahr haben ausländische Investoren erstmals Kapital in Höhe von 5,6 Milliarden DM aus Deutschland, der größten Volkswirtschaft in Europa, abgezogen - ein einmaliger Vorgang. Dagegen helfen keine Sprüche. Niemand kann sich auf die Dauer den Erfordernissen verschließen, wie sie sich aus Wiedervereinigung, globaler Abhängigkeit und technischem Wandel unabweisbar ergeben. Wir werden daher auf dem eingeschlagenen Weg weitergehen: die Unternehmenssteuerlast erleichtern, die Allpräsenz des Staates einschränken, überzogene Sozialstandards abbauen, um den Sozialstaat zu sichern. Andere Völker, auch in Europa, haben uns den Weg einer erfolgreichen Fitneßkur längst gewiesen. Auch in diesem Lande kann niemand ungestraft sein Machtinteresse dauernd über das Wohl seines Landes stellen. ({1}) Wir haben als Mitglieder dieses Hauses nicht die Aufgabe, jederzeit das zu tun, was kurzfristig gefällt, sondern die Aufgabe, das zu tun, was langfristig unserem Volke nützt. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie den Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. eingebrachten Entwürfe zur Änderung des Grundgesetzes; Drucksachen 13/8340, 13/1685 und 13/8488. Die Kollegin Birgit Homburger hat nach § 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung zur Abstimmung abgegeben, die wir zu Protokoll nehmen.*) Der Rechtsausschuß hat die Gesetzentwürfe in seiner Beschlußempfehlung zu einem Gesetzentwurf zusammengefaßt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden, soweit ich sehen konnte, mit den Stimmen des ganzen Hauses. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich weise darauf hin, daß zur Annahme des Gesetzentwurfs eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Das wären mindestens 448 Stimmen. *) Anlage 2 Es ist namentliche Abstimmung verlangt werden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Darf ich fragen, ob noch ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimmkarte nicht eingeworfen hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*) Wir setzen jetzt die Beratungen zum Haushalt fort. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Einzelplan 30. Das Wort hat der Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1998 beträgt der Haushalt des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 14,95 Milliarden DM. Er steigt also um 132 Millionen DM und ist damit der einzige Haushalt, der de facto über mehr Geld für neue Projekte verfügt. ({0}) Sie können sich vorstellen, daß meine Einschätzung deshalb nicht nur bei dieser Debatte, sondern den gesamten Sommer über sehr positiv war. Das ist nicht nur so, weil wir bei diesem Haushalt heute einen Erfolg vorweisen können, sondern auch deshalb so, weil sich inzwischen herausstellt, daß sich die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung in Deutschland in den letzten drei Jahren entscheidend verbessert haben. Ich habe natürlich einmal darüber nachgedacht, was die verehrte Opposition heute vortragen wird. Wenn man sich an die Debatten in den letzten Jahren erinnert, dann war klar, daß im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahmen auch im Einzelplan 30 gespart werden mußte. Aber während die SPD in der Vergangenheit immer nur über das Budget geklagt hat, immer nur gesagt hat, es sei zuwenig Geld da, hat die Bundesregierung die Zeit genutzt, um eine moderne Innovationspolitik zu konzipieren und umzusetzen. Die Erfolge können sich sehen lassen. ({1}) Wir haben bei den Patenten inzwischen einen Rekordzuwachs, ein Plus von 22,6 Prozent im ersten Halbjahr 1997. Wir haben im deutschen Risikokapitalmarkt einen Gründerboom. Allein im Programm meines Hauses wurden 1996 300 Millionen DM für Kapitalvermittlung im Bereich des Risikokapitals ein- *) Seite 17173 A gesetzt. Wir haben 565 Millionen DM privates Risikokapital für Biotechnologie und für Firmen im Zusammenhang mit dem „BioRegionen"-Wettbewerb eingesammelt. Forscher, die ins Ausland gegangen sind, kommen inzwischen zurück. Ausländische Firmen investieren wieder in Deutschland in Forschung und in Technologie. ({2}) Für die neuen Bundesländer stehen auch weiterhin 3 Milliarden DM zur Verfügung. Wir haben inzwischen in den neuen Bundesländern eine Forschungslandschaft, die international wettbewerbsfähig ist. ({3}) Für kleine und mittlere Unternehmen wird 1998 erstmals die Schallmauer von 600 Millionen DM durchbrochen werden, damit viele kleine innovative Firmen unterstützt werden. ({4}) Im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses stehen inzwischen 1,2 Milliarden DM zur Verfügung. Allein im Bereich der Helmholtz-Zentren werden wir 500 neue Stellen für Nachwuchswissenschaftler schaffen. ({5}) Im Zusammenhang mit den Leitprojekten ist uns etwas gelungen, was viele überhaupt nicht für möglich gehalten haben: Durch bessere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft werden wir den Innovationszyklus, der früher in Deutschland traditionellerweise 30 Jahre betragen hat, wahrscheinlich bis auf zehn Jahre verkürzen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, all das schafft Arbeit. All das sichert Zukunft. Während die SPD und auch die Grünen in den vergangenen Jahren immer nur über angeblich fehlendes Geld geklagt haben, haben wir Kräfte freigesetzt, haben Chancen eröffnet und haben Neues möglich gemacht. Das ist, glaube ich, ein Beweis für die Richtigkeit dieser Politik. ({6}) Wer es nicht geglaubt hat, der konnte spätestens den Beweis in einem Manifest lesen, das die SPD im Mai dieses Jahres vorgelegt hat. In diesem Manifest der SPD stand viel Gutes und viel Neues. Nur, leider war das Gute nicht neu, und das Neue war nicht gut. Denn alles, was daran richtig war - dies kann ich Ihnen hier belegen -, hat die SPD aus Projekten des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie abgeschrieben. ({7}) Ein offeneres Kompliment, eine bessere Beschreibung der Richtigkeit dieser Politik kann man eigentlich gar nicht bekommen. Aber trotz dieser Erfolgsbilanz werden wir jetzt die Hände nicht in den Schoß legen. Jetzt fangen wir erst richtig an. ({8}) Ich sehe für die Zukunft vier große nationale Herausforderungen: Erstens. Deutschland muß High-TechLand werden. Zweitens. Wir brauchen 500 000 neue Existenzgründer. Drittens. Wir brauchen das beste Bildungssystem der Welt für unser Land. Viertens. Jedem jungen Menschen muß auch in Zukunft, wenn er kann und will, eine Lehrstelle angeboten werden. ({9}) Deutschland wird High-Tech-Land werden, wenn wir konsequent auf Innovation setzen. ({10}) Wir diskutieren in diesen Tagen - gestern in der großen Debatte und am Dienstag - über die Frage, wie wir mit dem Problem Arbeitslosigkeit fertig werden, ein Problem, das uns alle bedrängt und für das wir nach Lösungen suchen. Wir wissen: Deutschland ist ein Land mit hohen Kosten. Aber wir werden gar nicht so viel sparen können, um über die Kosten den internationalen Wettbewerb mit unseren Konkurrenten in Asien oder Lateinamerika gewinnen zu können. Die meisten neuen Arbeitsplätze werden im innovativen Bereich entstehen. Sie werden nicht da entstehen, wo die alten verlorengehen. Deshalb ist es sehr wichtig, konsequent auf Forschung und Technologie, auf High-Tech zu setzen. Ich will das an zwei Beispielen ganz kurz deutlich machen. Nehmen wir den Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik. Früher, als ich hier noch mit dem Kollegen Glotz von der SPD diskutiert habe, hat er gesagt, das sei ein Bereich, wo wir ganz weit hinter den anderen seien, wo die anderen viel weiter seien, wo wir eigentlich den Anschluß verpaßt hätten. Die Wahrheit ist inzwischen eine völlig andere. Bei der Infrastruktur für die Wissensgesellschaft stehen wir im weltweiten Vergleich hervorragend da. Man kann das alles belegen. Was mir sehr wichtig ist, sind die 100 000 Kilometer Glasfaserkabel, die 17 Millionen Anschlüsse für das Fernsehkabelnetz. Noch wichtiger ist eine andere Zahl: Wir haben 1996 bei den Internet-Anschlüssen, also da, wo das Internet praktisch genutzt wird, in Deutschland eine Zuwachsrate von 72 Prozent gehabt. Das heißt, die Menschen steigen jetzt in die Informationsgesellschaft ein. Wir haben mit dem deutschen Forschungsnetz inzwischen das weltweit leistungsfähigste Netz für Forschung und Technologie, das es überhaupt gibt. In Amerika wird über Internet II geredet, in Deutschland gibt es das bereits. Wir haben mit dem Multimediagesetz vorbildlich klare, offene, liberale Rahmenbedingungen geschaffen. Mit unseren Projekten „Senioren ans Netz" und „Schulen ans Netz", mit Teleservice und all den anderen sorgen wir dafür, daß dieser Trend weitergeht. Was dort passiert - das ist das Gravierende für neue Arbeitsplätze -, ist: Wir bauen damit die Infrastruktur für das nächste Jahrhundert, so wie im vergangenen Jahrhundert mit Straßen, Kanälen und Eisenbahnen die Infrastruktur für die Industriegesellschaft geschaffen worden ist. Nehmen Sie ein zweites Beispiel: Biotechnologie und Gentechnik. ({11}) Das ist nun wirklich eine Erfolgsgeschichte, die weltweit ihresgleichen sucht. ({12}) Vor zwei Jahren hieß es, wenn man irgend jemanden fragte: Gentechnik geht in Deutschland nicht. Inzwischen ist Deutschland das Land mit der größten Dynamik in Europa. Die Anzahl der Bio-Tech-Firmen in Deutschland hat sich von 1995 auf 1996 verdoppelt. Wir werden es wahrscheinlich schaffen, von 1996 auf 1997 die Anzahl noch einmal zu verdoppeln, trotz des höheren Niveaus. ({13}) Ich bin sicher, daß wir das Ziel, Deutschland im Jahre 2000 zur Nummer eins in Europa im Bereich der Biotechnologie zu machen, erreichen. ({14}) - Ich weiß, Herr Kiper, Sie haben immer gesagt: Das geht nicht, das klappt nicht, das ist alles nicht möglich. Ich weiß auch, wie schwer Sie es haben. Sie sind ja eigentlich dafür. Das Problem ist nur Ihre Politkommissarin, die immer mitkommt und Sie aus Gründen der Political correctness daran hindert, Ihre eigene Meinung zu sagen. ({15}) All das schafft Arbeitsplätze. Multimedia sichert in Deutschland 1,2 Millionen Arbeitsplätze und schafft 210 000 neue Arbeitsplätze in den nächsten Jahren. In der Biotechnologie arbeiten heute in Deutschland 40 000 Menschen. Nach seriösen Schätzungen werden es bis zum Jahr 2000 110 000 Menschen sein. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Umwelttechnik kann bis zum Jahr 2000 um 150 000 steigen. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb haben wir in diesen drei Bereichen - Multimedia, Biotechnologie und Umwelt - die Mittel auch im Haushalt 1998 auf fast 1 Milliarde DM pro Bereich erhöht. Diese Technologiefelder haben natürlich etwas mit der zweiten großen Herausforderung zu tun, nämlich der Erhöhung der Zahl der Selbständigen. Nach jüngsten Erhebungen der Europäischen Kommission sind nur 9,4 Prozent der rund 36 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland selbständig. In Frankreich und Großbritannien liegt diese Zahl bei 16 Prozent. Wenn wir nur den OECD-Durchschnitt erreichen wollen, müssen wir 500 000 neue selbständige Betriebe schaffen. Ich glaube, daß das auch geht. Ich habe vor einigen Wochen eine Studie über das MIT gelesen. Um das MIT herum haben die Absolventen dieser Universität bislang 4000 Unternehmen mit mehr als 1,1 Millionen Beschäftigten gegründet. Das Umsatzvolumen dieser Unternehmen beträgt zusammen 232 Milliarden US-Dollar pro Jahr. ({17}) Jährlich kommen 150 neue Unternehmen hinzu. Wären nur diese Unternehmen eine Volkswirtschaft, würde diese bei der Auflistung der Volkswirtschaften der Welt an 24. Stelle stehen. Natürlich weiß ich, daß man so schnell kein MIT aufbauen kann. Aber sehen Sie sich die Universitäten in Aachen, Dortmund, Kaiserslautern oder München an, und stellen Sie sich vor, daß sich jede deutsche Universität um Unternehmensgründungen etwas mehr bemüht, als es heute üblich ist. Das könnte Tausende und aber Tausende neue Firmen mit vielen Arbeitsplätzen schaffen, nicht nur im High-Tech-Bereich, sondern auch darunter. Insofern ist es ein realistisches Ziel, das wir jetzt angehen. ({18}) Damit bin ich auch schon bei der dritten nationalen Herausforderung: Wir brauchen das beste Bildungssystem der Welt. Es ist ein großer Erfolg, daß es uns gelungen ist, eine Einigung zwischen Bund und Ländern über das neue Hochschulrahmengesetz zu erreichen. Ich gebe zu, daß ich persönlich darauf auch ein wenig stolz bin. ({19}) Mit diesem neuen Hochschulrahmengesetz wird der Grundstein für die Universität des 21. Jahrhunderts gelegt. Der eine oder andere von Ihnen war dabei, als ich bei der Hochschulrektorenkonferenz gesagt habe: „Nach meiner Einschätzung ist Humboldts Universität tot." Natürlich habe ich damit nicht gemeint, daß wir von Humboldts Idee der Einheit von Forschung und Lehre Abstand nehmen sollen. Natürlich habe ich damit nicht gemeint, daß wir gute alte deutsche Traditionen über Bord werfen sollen. Ich habe damit gemeint, daß es nicht richtig sein kann, im nächsten Jahrhundert eine Hochschullandschaft aufzubauen, in der alle Hochschulen, politisch vorgegeben, gleich sein müssen. Eine Massenuniversität mit 60 000 Studenten ist nun einmal etwas anderes als eine Universität mit 3000, 4000 oder 5000 Studenten. Beide sind notwendig. Beide können einen unverwechselbaren Dienst für die Studenten und unser Land leisten. Aber beide müssen auch die Chance haben, ein unverwechselbares Profil zu entwickeln. Ich glaube, daß das neue Hochschulrahmengesetz dies mit seinen Leitlinien „DifferenzieBundesminister Dr. Jürgen Rüttgers rung, Leistung, Wettbewerb, Deregulierung und internationale Wettbewerbsfähigkeit" möglich macht. Ich möchte heute hinzufügen: Ich bin davon überzeugt, daß diese Reform durch eine BAföG-Reform ergänzt werden muß. In der nächsten Woche gehen die Gespräche mit den Ländern weiter. Ich will hier ganz deutlich sagen: Ich bin für eine BAföG-Reform und werde alles tun, um diese Gespräche zu einem positiven Ergebnis zu bringen. ({20}) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu einer aktuellen Debatte machen. Deutschlands Universitäten müssen sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Es kann eben nicht sein, daß unsere Universitäten zu Regionalhochschulen verkommen. ({21}) Dazu brauchen wir viele ausländische Studenten in Deutschland. Es macht mir große Sorge, daß immer weniger Studenten aus Asien und Amerika nach Deutschland kommen. Deshalb müssen wir alles tun, um Studieren in Deutschland interessant zu machen. ({22}) Das ist, wie wir wissen, weniger eine Frage des Geldes - weil inzwischen auch viele ausländische Studenten sogar bereit wären, für ihr Studium zu bezahlen - als eine Frage des Klimas an unseren Hochschulen. Es ist eine Frage von bürokratischen Hemmnissen. Deshalb müssen wir für ausländische Studierende alle bürokratischen Hemmnisse abbauen. ({23}) Wir flankieren diesen Weg mit der Einführung des Programms „Internationale Studiengänge", die jetzt im Wintersemester an 13 Hochschulen anfangen. 30 Millionen DM stehen dafür zur Verfügung. Weil dort ausländische und deutsche Studierende zusammen in einem Studiengang arbeiten und sich kennenlernen werden, wird damit eine positive Signalwirkung nicht nur für die Internationalität unserer Hochschulen, sondern auch für den Standort Deutschland gegeben werden. Daß dieses durch die 2,5 Milliarden DM, die wir für den Hochschulbau im Wege des Optionsleasings freigesetzt haben, erleichtert wird, ist, glaube ich, evident. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur um die Hochschulen, sondern um das ganze Bildungssystem. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir in Deutschland eine Bildungsreform brauchen. Es kann nicht so bleiben, wie es jetzt ist. Das beginnt bei den Schulen. Obwohl jeder von uns hier im Saal und jeder in Deutschland weiß, daß die Lehrerkollegien immer älter werden und die Zahl der Schüler steigt, geschieht zu wenig, um wenigstens quantitativ - von Qualität ist noch gar nicht zu reden, obwohl die Bildungsreform eine qualitative sein muß - die Unterrichtsversorgung zu sichern. Im vergangenen Schuljahr ist die Zahl der Schüler in Deutschland um rund 190 000 gestiegen. Eine positive Meldung: Es gibt junge Leute, es gibt Kinder in Deutschland. Aber es wurden insgesamt nur 1300 neue Lehrer eingestellt. Das bedeutet einen Lehrer auf 150 neue Schüler. Jetzt könnte ich Ihnen hier einmal an Hand von ein paar Zahlen darstellen, was SPD-Politiker, die in den Medien von Chancengerechtigkeit, Innovation und ähnlichem reden, unternehmen, wenn sie selber Verantwortung tragen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Gerne, Frau Kollegin Odendahl, bitte.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Rüttgers, darf ich Ihren Überlegungen zu einer Reformierung des Schulsystems entnehmen, daß von seiten der Bundesregierung in diesem Bereich eine Grundgesetzänderung geplant ist?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Verehrte Frau Kollegin Odendahl, Sie wissen, daß ich Sie persönlich schätze, aber das war jetzt nun wirklich ein typisches Beispiel für die bürokratische Denkweise der SPD. Wenn man über ein inhaltliches Problem redet, reden Sie über Zuständigkeiten. Ja, wo sind wir denn eigentlich? Da geht es um Kinder und nicht um Zuständigkeiten. Es kann uns doch nicht in Ruhe lassen, wenn ein neuer Lehrer auf 150 neue Schüler kommt. ({0}) Nehmen Sie als Beispiel doch einmal Niedersachsen, Frau Kollegin Odendahl: Dort nimmt die Zahl der Schüler in diesem Jahr um 20 000 zu. Herr Schröder streicht aber 700 Lehrerstellen. Was heißt das denn? Hat das etwas mit Zukunft oder Innovation zu tun? Das sind vergeudete Chancen. Es ist furchtbar, wenn so etwas passiert. Nehmen wir einmal Hessen unter einer rot-grünen Landesregierung. Dort gibt es 18 200 neue Schüler, aber 200 Lehrer weniger. Auch ich kenne den Zustand der öffentlichen Kassen; auch ich weiß, wie schwierig das alles ist. Aber es handelt sich um eine Frage der Prioritäten und der Posterioritäten. ({1}) Es war auch nicht einfach, den Ansatz für diesen Haushalt angesichts der Lage zu erhöhen. Wir haben es trotzdem gemacht. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch ein Bildungssystem, das denjenigen gerecht wird, die sich für das duale Bildungssystem entscheiden. Ich will nicht verhehlen, daß mir die auBundesminister Dr. Jürgen Rüttgers genblickliche Lage am Lehrstellenmarkt Sorge macht. Wir müssen zur Zeit noch von einer Lücke von 35 000 Lehrstellen ausgehen. Es gibt leider - oder Gott sei Dank, wie man will - keinen Königsweg, um mit diesem Problem fertig zu werden. Wer bei jungen Leuten jetzt den Eindruck erweckt, man könne das Problem auf einen Schlag lösen, der belügt sie; das muß man ganz klar sagen. Der Weg ist steinig, aber wir müssen ihn gehen. Wir müssen alles tun, damit diese 35 000 neuen Lehrstellen auch geschaffen werden. Das ist nicht nur eine Frage der Bereitschaft der Betriebe, sondern auch eine Frage der Einstellung der jungen Leute. Man weiß zum Beispiel, daß sich 60 Prozent der Bewerber zur Zeit auf sieben Berufe konzentrieren und nur diese sieben Berufe nachfragen, während es in 200 Berufen noch mehr Lehrstellen als Bewerber gibt. Diese beiden Zahlen zeigen, daß wir noch mehr Aufklärungsarbeit leisten müssen. Das hat dann auch wieder etwas mit den Schulen zu tun. Die Schulbuchstudie, die ich veranlaßt habe, hat ja gerade wieder gezeigt: Wenn junge Leute in den Schulen nichts von betrieblicher Wirklichkeit lernen und ein Berufsbild und eine Arbeitswelt vermittelt bekommen, in der noch der Bauer hinter dem Pflug hergeht, wenn sie auf der anderen Seite lange Zeit über die Frage der Agglomeration von Kapital unter marxistischem Gesichtspunkt nachdenken mußten, ({3}) wenn also eine solche Wirklichkeit dort vermittelt wird, muß man sich nicht wundern, wenn die Ergebnisse so sind, wie sie sind. Deshalb ist es wichtig, daß auch dieses wieder im Zusammenhang gesehen wird. Das Beispiel zeigt, daß das nicht nur ein Mengenproblem ist, sondern auch ein qualitatives Problem. Wir haben deshalb von Anfang an - Sie wissen, daß wir das seit Monaten mit Akribie machen; ich renne persönlich jeder einzelnen Lehrstelle hinterher - den Versuch gemacht, alle ausbildungshemmenden Vorschriften wegzunehmen, neue Berufe einzuführen, dafür zu sorgen, daß der Berufsschulunterricht flexibel organisiert wird. Viele Maßnahmen - Lehrstellenentwickler in den neuen Bundesländern, Sonderprogramme in den neuen Bundesländern - haben dazu geführt, daß viele Tausende Lehrstellen neu entstanden sind. Die Lage wäre noch viel schlimmer, wenn wir diesen Weg nicht gegangen wären. Ich will deutlich machen, daß das Ziel völlig klar ist, trotz aller Schwierigkeiten. Es bleibt dabei - das ist die Meinung der Bundesregierung -: Auch in diesem Jahr müssen wir es schaffen - und wir werden es schaffen -, jedem jungen Mann und jeder jungen Frau, der bzw. die kann und will, eine Lehrstelle anzubieten. Wir werden nicht nachlassen. Das ist eine nationale Herausforderung. Jeder in den Betrieben und auch jeder von den jungen Leuten muß so wie die Politik, seinen Beitrag leisten, dieses Ziel zu erreichen. ({4}) Wir müssen gerade in diesen Wochen herausgehen und um jede Lehrstelle kämpfen. Da hilft es nicht, wenn die SPD - in dieser Woche im Präsidium, in der nächsten Woche in der Fraktion - sagt: Wir haben den Lösungsweg; er heißt Ausbildungsplatzabgabe. Ich bitte Sie herzlich: Sie wissen genau wie jeder andere in diesem Saal, daß Sie zwar an Gesetzentwürfen einbringen können, was Sie wollen, daß aber dieser Gesetzentwurf keine einzige neue Lehrstelle in diesem Lehrjahr bringen wird. Das hilft den jungen Leuten in diesem Lehrjahr keinen Deut weiter; sie bleiben durch diesen Weg auf der Straße. Stellen Sie Ihren innerparteilichen Streit ein! Sie haben nicht einmal eine Mehrheit im Bundesrat für den Gesetzentwurf, den Ihre Fraktion jetzt beschließen wird. Bringen Sie ihn in den Bundesrat ein! Dann wollen wir einmal sehen, was geschieht, nachdem Herr Schröder, Herr Clement, Herr Steinbrück, Herr Höppner - und wie sie alle heißen - gesagt haben: Mit mir nicht! Es gibt nicht einmal im Bundesrat eine Mehrheit für die Ausbildungsplatzabgabe und im Deutschen Bundestag auch nicht, weil sie kontraproduktiv ist, weil sie ein bürokratisches Monstrum ist und keinem jungen Menschen hilft. ({5}) Ich setze mehr darauf, daß wir diejenigen, die mit gutem Beispiel vorangehen, unterstützen. ({6}) Sie wissen, daß ich vor wenigen Tagen beim Autohaus Yvel in Köln gewesen bin. Das ist ein kleiner mittelständischer Autohändler. ({7}) - Das ist für mich wirklich ein Held. ({8}) - Wenn Herr Lafontaine nicht gestern vom Präsidenten kritisiert worden wäre, würde ich Sie mit dem gleichen Wort bezeichnen. ({9}) Dieses Autohaus Yvel hat bei 71 Angestellten 23 Lehrlinge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Ausbildungsquote bei einem Mittelständler von 32 Prozent. Ich habe gesagt: Ich werde auch einmal Leute benennen, die das anders machen. Wenn ich zum Beispiel an die Firma Porsche denke, deren Vorstandsvorsitzender in letzter Zeit mit klugen Ratschlägen an die Politik von sich reden macht, dann, finde ich, sieht sie im Vergleich dazu verdammt alt aus: Porsche hat nur eine Ausbildungsquote von 2,8 Prozent. Das muß einmal benannt werden. Ich habe Hochachtung vor dem Mittelständler, und was ich von dem anderen Herrn halte, sage ich jetzt nicht. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer ausbildet, der soll belohnt werden. Deshalb hat das Bundeskabinett beschlossen, daß die Unternehmen, die ausbilden, in Zukunft bei der Vergabe öffentlicher Aufträge des Bundes bevorzugt werden. Ich fordere die Länder und die Kommunen auf, sich dem anzuschließen. ({11}) Kurzum: Es gibt keinen Stillstand in Deutschland, allenfalls in einigen Köpfen der SPD. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn, SPD.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Herren und Damen! Ich wünsche den Tag herbei, an dem in diesem Bundestag Taten und Reden übereinstimmen. ({0}) Vor drei Jahren trat die Regierungskoalition mit dem Versprechen an, die Ausgaben für Bildung und Forschung überproportional zu steigern. Damals, 1994, belief sich das Haushaltssoll einschließlich der damals noch im Einzelplan 60 eingestellten Mittel auf rund 15,79 Milliarden DM. Für das kommende Jahr sieht der Regierungsentwurf rund 14,95 Milliarden DM vor, mithin 844 Millionen DM weniger als zu Beginn der Amtszeit von Herrn Rüttgers. ({1}) Daß man diese Sparpolitik auch noch als schönen Erfolg verkauft, auf den Herr Dr. Rüttgers zu Recht stolz sein könne, zeigt, wie weit der Realitätsverlust in der Koalition vorangeschritten ist ({2}) und wie ernst Sie Ihre eigenen Koalitionsvereinbarungen von 1994 nehmen. Die mittelfristige Finanzplanung entlarvt die Vereinbarung vollends als hohle Phrase. Vorgesehen ist, daß der BMWF-Haushalt bis zum Jahre 2001 auf 14,36 Milliarden DM um 4 Prozent gekürzt werden soll, während der Bundeshaushalt insgesamt um 4,1 Prozent steigen soll. ({3}) Selbst nominal lägen dann die Ausgaben für Bildung und Forschung im Jahre 2001 deutlich niedriger als in jedem anderen Jahr seit der deutschen Einheit. Das - und nicht irgendwelche Sonntagsreden - zeigt, welche Wertschätzung die Bundesregierung Bildung und Ausbildung, Forschung und Innovation einräumt. ({4}) In keiner Regierungsperiode ist der Bildungs- und Forschungshaushalt so heruntergewirtschaftet worden wie unter dieser Bundesregierung. Von 1982 bis 1998 sinkt der Anteil des BMWF am Bundeshaushalt von 4,7 Prozent auf 3,2 Prozent. Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann man nicht einfach mit allgemeinen Haushaltsproblemen erklären. ({5}) Seit 1982 weisen die Forschungsausgaben keinerlei reales Wachstum mehr auf, und das, obwohl die Anstoßwirkung staatlicher Förderung auf innovative, risikoreiche Forschungs- und Entwicklungsleistungen eindeutig nachgewiesen worden ist. Wo staatliche Gelder versiegen - das wissen wir -, zieht sich die Wirtschaft zurück - mit verheerenden Auswirkungen für die Arbeitsplätze. Wenn wir in Deutschland unser Lohnniveau und unseren sozialen Standard halten wollen, wenn wir unseren Kindern und Enkelkindern eine lebenswerte Zukunft eröffnen wollen, dann haben wir keine andere Wahl - ich hoffe, daß das endlich jeder begreift -, als wieder mehr in Bildung und Ausbildung, in Wissenschaft und Forschung zu investieren. ({6}) Zukunftsinvestitionen sind Investitionen für die Zukunft, aber sie sind keine Investitionen - so verfahren Sie -, die irgendwann in der Zukunft getätigt werden müssen. Sie müssen vielmehr jetzt getätigt werden, damit sie in der Zukunft Früchte tragen. Sicherlich müssen wir sparen. Wir müssen Haushaltsdefizite, aber auch die Steuer- und Abgabenlast zurückführen. Es ist aber kein Zeichen der Zukunftsvorsorge, wenn die F- und E-Ausgaben und die Bildungsausgaben, so wie geschehen, kontinuierlich abgesenkt werden und auch jetzt wieder real nicht steigen. Die Einsparungen im Bildungs- und Forschungshaushalt waren schon in den 80er Jahren grundfalsch. In Anbetracht der Globalisierung der Märkte, des sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs, angesichts überalterter Industriestrukturen, die wir in der Bundesrepublik haben, angesichts einer skandalös hohen Massenarbeitslosigkeit, angesichts der aktuellen Lehrstellenkrise, die wir in diesem Jahr haben, und angesichts der fortschreitenden Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen ist dieses Verhalten, das Sie an den Tag legen, katastrophal. Es ist grundfalsch. ({7}) Bildung und Qualifikation, Wissenschaft und Forschung leisten den entscheidenden Beitrag zur Unterstützung des Strukturwandels und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Globalisierung stellt uns vor neue Aufgaben und Fragen, für die Wissenschaft und Forschung zukunftsweisende und gesellschaftlich tragfähige Antworten entwickeln müssen. Dazu bedarf es eines staatlichen Innovationsprogramms, das Hochschul- und Forschungseinrichtungen endlich einmal in die Lage versetzt, diese Aufgaben auch adäquat zu bearbeiten. Es ist doch nicht zu fassen, daß die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Kreativität und ihr Know-how nicht ausreiEdelgard Bulmahn chend für die Lösung der Probleme, vor denen wir stehen, ausschöpfen. ({8}) Die Politik der Bundesregierung konterkariert die Notwendigkeit, endlich das zu nutzen, was wir an Ressourcen in der Bundesrepublik haben. Jeder und jede weiß, daß Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Forschung zentrale Elemente der Zukunftssicherung und Zukunftsgestaltung sind. Aber ich muß einfach feststellen, daß dieser Haushalt weder von seinem Umfang noch von seinen Weichenstellungen her diesem Anspruch genügt. Er stellt die Weichen falsch. Er steht zudem im deutlichen Widerspruch zu den Reden und Ankündigungen des Bildungs- und Forschungsministers. ({9}) In öffentlichen Verlautbarungen beklagt der Minister, daß Deutschland vom ersten Platz im Welthandel mit Umweltgütern verdrängt worden sei. Sie haben vorhin selbst gesagt, daß Sie in diesem Bereich Weltspitze sein wollen. Ich stimme Ihnen zu: Das Ziel ist richtig. Aber in der Realität, bei den haushaltspolitischen Entscheidungen, werden die Ausgaben für die Umweltforschung und für die Umweltschutztechnologie erneut abgesenkt. ({10}) Was ist das eigentlich für eine Politik? Die Projektförderung im Bereich der erneuerbaren Energien soll mit 240 Millionen DM abermals deutlich unter das Niveau von 1982 fallen, als noch 300 Millionen DM dafür ausgegeben wurden. Sie sagen, Herr Minister Rüttgers, in der Biotechnologie wollen wir Spitze sein; in der Forschung sind wir es schon lange. Aber wenn ich mir die Arbeitsplätze in diesem Bereich anschaue, dann muß ich angesichts der Zahlen, die Sie genannt haben, feststellen, daß es schon vor drei Jahren 45 000 Arbeitsplätze in dieser Branche gab. Wo ist da der große Fortschritt? Zum Bereich Multimedia. Wir von seiten der SPD haben immer gesagt: Das ist eine Schlüsseltechnologie; hier müssen wir Forschungsanstrengungen konzentrieren. Es kommt entscheidend darauf an, daß wir in diesem Bereich weltweit an der Spitze stehen, weil dies Effekte für die gesamte Volkswirtschaft hat. Wenn Sie hier zitieren, daß wir 62 Prozent mehr Internetanschlüsse haben, dann finde ich das gut. Es ist an der Zeit, daß dies so ist. Nur, um ganz offen zu sein, das ist nicht Ihr Verdienst. ({11}) Ich kann nur sagen: Ich bin froh, daß die Bevölkerung nicht so immobil ist wie diese Bundesregierung. ({12}) Zu den Posterioritäten zählt der Minister - zumindest in Presseerklärungen - die Ausgaben für Kernenergie. Tatsächlich weisen die Ausgaben für die Kernenergie die höchste Zuwachsrate überhaupt auf, da für den neu geschaffenen Haushaltstitel „Gesetzliche Endlageraufwendungen" allein im kommenden Jahr 65,8 Millionen DM vorgesehen sind. ({13}) Insgesamt sollen für diesen Zweck bis 2001 im Vergleich zur bisherigen Finanzplanung zusätzliche Mittel in Höhe von 275,8 Millionen DM - dies bei insgesamt geringeren Mitteln für diesen Haushalt - bereitgestellt werden. Dies, Herr Minister Rüttgers, ist die einzige Priorität, die Sie in diesem Forschungshaushalt setzen. ({14}) Was das mit Forschung und Entwicklung zu tun hat, kann nicht nur ich nicht nachvollziehen. Das versteht niemand - weder hier in diesem Hause noch in der Republik. ({15}) Zu Recht wird in den Erläuterungen zum Haushaltsentwurf darauf hingewiesen, daß die Leistungsfähigkeit der industriellen Produktion auch künftig unsere Wettbewerbsfähigkeit, unseren Lebensstandard und unsere Lebensqualität wesentlich bestimmen wird und zur Sicherung der Arbeitsplätze zwingend notwendig ist. Doch welche Konsequenz zieht der Minister aus dieser Einsicht? Die Ausgaben erreichen nicht einmal das Niveau der 80er Jahre. Nur noch mit ideologischer Verbohrtheit ist die aktuelle erneute Kürzung im Bereich der Technikfolgenabschätzung zu erklären. Die Bundesregierung ignoriert einfach, daß Technikfolgenabschätzung die Chancen neuer Entwicklungen ausloten und technologische Fehlentwicklungen vermeiden kann und dabei sowohl gesellschaftliche als auch wirtschaftliche Entwicklungslinien aufzeigt. Ich finde, daß wir uns gerade in Zeiten knappen Geldes Fehlentwicklungen nicht leisten können und daß deshalb dieser Forschungsbereich Unterstützung verdient. Faktisch halbiert haben sich in den letzten Jahren die Mittel für die Forschung im Bereich Arbeit und Technik. Dabei hat unsere Anhörung im Ausschuß bewiesen - unter Fachleuten ist das sowieso unumstritten -, daß die Forschung und Entwicklung einer menschengerechten und innovativen Arbeits- und Technikgestaltung einen erheblichen Beitrag zur Bewältigung der Beschäftigungskrise leisten kann. ({16}) An der instrumentellen Schieflage im Haushalt ändert sich abermals nichts. Während die institutionelle Förderung erneut zulegen kann, geht die Projektförderung weiter zurück. Seit 1982 ist ihr Anteil am Haushalt von 41,1 Prozent auf 28,9 Prozent gesunken. Diese Entwicklung ist nicht länger vertretbar. Sie verschärft nämlich erheblich die Umsetzungsprobleme, die wir in der deutschen Volkswirtschaft haben, und läßt angesichts fehlender Handlungsspielräume ein flexibles Reagieren auf neue Problemlagen, nämlich ein Setzen neuer Schwerpunkte und ein Aufgreifen neuer Themen, nicht zu. Was bleibt, sind Immobilität, mangelnde Innovationsfähigkeit, das Verwalten und das Stopfen von Haushaltslöchern. ({17}) Eine wirklich kaum noch zu ertragende Verkalkung zeigt die Bundesregierung bei der Reform des BAföG. Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich hier in aller Klarheit fest - mein Kollege Tilo Braune wird darauf näher eingehen -, daß die Reform der Hochschulen und die Fragen der Hochschul- und der Ausbildungsfinanzierung untrennbar miteinander verknüpft sind. Ich fordere den Bundesbildungsminister unmißverständlich auf: Herr Minister Rüttgers, arbeiten Sie endlich konstruktiv in der Bund-LänderArbeitsgruppe mit, und tragen Sie selber auch persönlich Sorge dafür, daß die Verhandlungen endlich auch seitens des Bundes mit der nötigen Kompetenz und der gebotenen Sachlichkeit zügig vorangebracht werden! ({18}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn zukünftig alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz erhalten sollen, dann muß jetzt gehandelt werden. ({19}) Am vergangenen Montag mußte Bundesminister Rüttgers allerdings einräumen, daß noch immer 152 000 Lehrstellen fehlen. Im Haushalt schlägt sich dies so nieder, daß die Ausgaben für berufliche Bildung um 11,8 Prozent gekürzt werden sollen. 152 000 Jugendliche ohne Lehrstellen, das ist die größte Lehrstellenkrise in der Nachkriegszeit. Sowohl der Deutsche Bundestag, das heißt wir, wie auch die Bundesregierung stehen in der Verantwortung gegenüber den Jugendlichen, alles zu tun, damit alle Ausbildungsplatzsuchenden einen Ausbildungsplatz erhalten. Ich finde es gut, Herr Rüttgers, daß Sie diese Verantwortung hier auch deutlich formuliert haben. Aber ich muß gleichzeitig feststellen, daß zum Beispiel die SPD bereits vor zwei Jahren vorgeschlagen hat, ausbildende Betriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu bevorzugen. ({20}) Es wäre doch angebracht, gelegentlich etwas schneller zu reagieren und zu agieren. Notwendig - das ist völlig unbestritten - sind die Weiterentwicklung von Strukturreformen, die Schaffung neuer Berufe, die Modernisierung bereits bestehender Berufe, die Unterstützung und Schaffung von Ausbildungsverbünden, die qualitative Verbesserung der dualen Ausbildung, eine bessere Abstimmung zwischen Berufsschule und Betrieb und auch das persönliche Werben um Ausbildungsplätze. All dies ist wichtig, und all das ist von der SPD immer wieder gefordert und angemahnt worden. Ich muß aber leider feststellen, daß alle Bemühungen und Veränderungen nicht dazu geführt haben, daß genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Im Gegenteil, die Situation hat sich von Jahr zu Jahr verschärft. Die Ausbildungsbereitschaft in der Wirtschaft nimmt ab, während andererseits die Zahl der Jugendlichen zunimmt. Deshalb hat die SPD einen Gesetzentwurf erarbeitet, mit dem den Arbeitgebern massive Anreize gegeben werden sollen, neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Nur wenn es uns gelingt, mehr Betriebe dazu zu bringen, ihre Ausbildungskapazitäten wirklich auszuschöpfen und neue Ausbildungsplätze zu schaffen, wird das Ziel, allen Jugendlichen eine Ausbildungsstelle zu gewährleisten, erreicht. Das ist unser Ziel. ({21}) Nur wenn die Arbeitgeber nicht von sich aus ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, gelangt das Gesetz zur Anwendung. ({22}) Sobald eine ausgeglichene Bilanz vorliegt, ruht das Gesetz. Die Arbeitgeber, Herr Kampeter, haben es von daher selbst in der Hand, ob das Gesetz angewandt wird oder nicht. ({23}) Sollten zuwenig Ausbildungsplätze angeboten werden, so werden die Arbeitgeber, die nicht oder zuwenig ausbilden, zu einer Abgabe herangezogen. Die Betriebe, die überdurchschnittlich ausbilden, erhalten dagegen einen Bonus. Wir wollen damit endlich erreichen, daß eine überdurchschnittliche Ausbildungsleistung anerkannt und belohnt wird, was nämlich zur Zeit nicht der Fall ist, was ich für skandalös halte. ({24}) Über die näheren Einzelheiten in unserem Gesetz werden wir in diesem Hause sicherlich ausführlich beraten und miteinander diskutieren. Es geht uns um das Ziel, allen Jugendlichen eine Ausbildungsstelle zu gewährleisten und sicherzustellen. Wir sind es den Jugendlichen schuldig, daß eine vorurteilsfreie sachliche Prüfung aller Vorschläge stattfindet. Scheuklappen anzulegen und einen erfolgversprechenden Weg aus rein ideologischen Gründen abzulehnen ist verantwortungslos. ({25}) Wir wollen die Jugendlichen nicht im Stich lassen, und ich hoffe, auch Sie nicht. Deshalb müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen. Vielen Dank. ({26})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/CSU.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch die engagiert vorgetragenen Worte meiner Vorrednerin können nicht darüber hinwegtäuschen: Der Etat des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, ForSteffen Kampeter schung und Technologie 1998 ist höher als der Etat 1997. Das ist eine gute Botschaft. ({0}) - Mehr ist mehr; daran wird auch ein wütender Zwischenruf der Opposition nichts ändern. Der Etat 1998 wird sich von der Qualität her in der Beratung unter der Generalmaxime beurteilen lassen müssen: Können wir auch in diesem Bereich vom konsumtiven Sektor hin zu mehr Investitionen umschichten? Das ist die Generallinie, mit der wir an diesen Etat herangehen. Frau Kollegin Bulmahn, Ihre Rede war Jörg Tauss [SPD]: Gut!) nicht sprachgleich, aber von der Anlage her identisch. Sie haben rund zehn Minuten auf die Regierung eingeprügelt, ohne irgendein Alternativkonzept zu unserer Politik vorzulegen. ({1}) Bei einem Begriff bin ich allerdings stutzig geworden. Sie haben ein staatliches Innovationsprogramm gefordert. Das scheint mir der grundlegende Unterschied zu sein, daß Ihnen die Aufgabenverantwortlichkeiten für den Prozeß, wie man aus Innovationen Arbeitsplätze schafft, nicht ganz klar sind. ({2}) Auf der einen Seite gibt es den unternehmerischen Bereich, wo es um Innovationen und deren Umsetzung in Arbeitsplätze geht. Auf der anderen Seite gibt es den staatlichen Bereich, der die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen hat, daß dieser Transformationsprozeß rasch vonstatten gehen kann. Mit Ihrer irrigen Annahme, der Staat sei der eigentliche Innovator bzw. derjenige, der sozusagen aus Forschungsgeldern direkt Arbeitsplätze zu schaffen hat, führen Sie die Leute in die Irre. Es liegt an uns, nicht nur mit Haushaltsmitteln, sondern auch durch unsere Gesamtpolitik im Bereich Bildung und Forschung dazu beizutragen, daß in den Unternehmen Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies ist auch schon in der Vergangenheit das Anliegen unserer Politik gewesen. ({3}) Wir können das auch an einigen Bereichen aus Forschung und Bildung illustrieren, auf die ich jetzt eingehen möchte, beispielsweise am Bereich der Hochschulen. Es ist hier ja allgemeiner Common sense, daß die Hochschulen dringend Reformimpulse brauchen. Der bisherige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Hans-Uwe Erichsen, hat in einem Interview festgestellt - das sollten Sie sich übrigens hinter die Ohren schreiben, Frau Bulmahn - : Wer jammert, bewegt nichts. ({4}) Unsere staatliche Aufgabe - vom Haushalt her betrachtet - ist die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, mit 1,8 Milliarden DM nicht reichlich, aber doch ausreichend ausgestattet. Man mag nun darüber streiten, ob die Gemeinschaftsaufgaben in einer zukünftigen Finanzverfassung überhaupt noch Bestand haben werden. Aber eines ist meine politische Grundüberzeugung: Das Hochschulrahmengesetz und die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes, die mit großem Einsatz von Minister Rüttgers vorangetrieben worden ist und die jetzt schnell und ohne Scheingefechte verabschiedet werden muß, nützen den Hochschulen viel mehr als manche D-Mark, die wir in Beton investieren, und mobilisieren mehr Innovationskapital und Humankapital, als wir jemals aus dem Haushalt finanzieren werden können. ({5}) All diejenigen, die wirklich etwas tun wollen, müssen beides machen: Sie müssen sich für einen soliden Hochschulbau und natürlich für die Hochschulrahmengesetzgebung und ihre Novellierung einsetzen. Ein weiterer Hinweis: Die Junge Gruppe in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - der Kollege Rachel sitzt hier ja - hat sich intensiv mit dem Aspekt Globalisierung und Hochschule auseinandergesetzt. Im Etat 1998 investieren wir erstmals Geld in die Internationalisierung von Studiengängen, damit Hochschulen nicht ein nationales Relikt sind, sondern international operieren. Globalisierung hat auch in diesem Bereich viel verändert. Wir werden in den Haushaltsberatungen einiges zur Überprüfung der Arbeit in den Fachhochschulen leisten. Einige Hinweise zum Bereich der institutionellen Förderung - dieser macht ungefähr ein Drittel des Haushaltes aus - : Hier haben wir eine Steigerung von 2,2 Prozent vorzuweisen; das ist im Vergleich zum Gesamthaushalt überproportional. Besonders gut ausgestattet werden DFG und MPG mit einem Zuwachs von 5 Prozent. Ich möchte ausdrücklich die Bemühungen der Max-Planck-Gesellschaft hervorheben, die bei der Restrukturierung im Westen einiges vorantreibt und gleichzeitig beim Ausbau ihrer Aktivitäten im Osten Großartiges vorzuweisen hat. ({6}) Auch die Fraunhofer-Gesellschaft kann sich mit einem überproportionalen Zuwachs zufrieden zeigen. Sorge bereitet mir allerdings die Situation in den Großforschungseinrichtungen, die jetzt schon im siebten Jahr überwälzt werden. Im Rahmen der Flexibilisierung und der wettbewerbsorientierten Forschungsleitlinien müssen da neue Chancen genutzt werden. Der Einzelplan 30 bietet diese Flexibilisierungsmaßnahmen wie kaum ein anderer Etat. Es gilt, Effizienzrenditen zugunsten von Forschung und Entwicklung zu mobilisieren. ({7}) Die noch geringe Begeisterung der Länderfinanzminister für diese Flexibilisierung würde ich als steigerungsfähig charakterisieren. Für die Großforschungseinrichtungen gilt aber: Weniger Bürokratie bedeutet weniger Kosten und daher mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ich weise auch ausdrücklich darauf hin, daß für die Helmholtz-Zentren 500 neue befristete Stellen ausgewiesen werden. Das heißt, wir haben hier eine zusätzliche Möglichkeit, gerade jungen Nachwuchswissenschaftlern einen Einstieg in das Berufsleben zu geben; dies als Belohnung für das Nutzen von Flexibilität. ({8}) Einige Hinweise zu den Projektförderungsmitteln: Wir halten fest an der Förderung der beruflichen Bildung, zum Beispiel in den überbetrieblichen Handwerksbildungszentren oder durch unseren bedarfsgerechten Fortbau und Ausbau der Maßnahmen im Bereich des Meister-BAföG. Trotzdem muß das flankiert werden, beispielsweise durch die kontinuierliche Modernisierung von Ausbildungsberufen oder durch mehr Flexibilisierung im Berufsschulalltag. Hierzu sind bereits Hinweise von den Fachpolitikern gegeben worden. Wir wollen überprüfen, ob im Bereich der maritimen Projekttechnologien nicht noch zusätzliche Anstrengungen erforderlich sind. Insgesamt ist festzuhalten, daß die von Jürgen Rüttgers vorangetriebene Orientierung auf Leitprojekte der Projektförderung guttut. Wir müssen stärker von vielen Kleinprojekten wegkommen und zu begründet zusammengefaßten Projektgruppen hinkommen, die man sicherlich auch in der Öffentlichkeit besser darstellen kann. Einiges zum Bereich Energie und Umwelt; die Kollegin Bulmahn hat bereits darauf hingewiesen. Insgesamt stehen für diesen Bereich 778 Millionen DM zur Verfügung. Die Diskussion um die Windenergie zeigt, daß wir hier mit unserer Forschungsförderung der Vergangenheit eine Erfolgsgeschichte begründet haben. Es war auch richtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Windtechnologie zum Zeitpunkt ihrer Marktreife aus dem Forschungsetat hinauszunehmen und in den Markt zu entlassen. Die Diskussion um das Stromeinspeisungsgesetz zeigt, daß hier durchaus ein Markt vorhanden ist. Wir müssen uns dafür einsetzen, daß auch in mittleren Lagen eine rentable Produktion von Windenergie erfolgt. ({9}) Aber man muß auch in denjenigen Bereichen sehr sorgsam prüfen, in denen auf absehbare Zeit keine zusätzlichen technologischen Sprünge mehr zu erwarten sind. Ich nenne beispielsweise die Solarversorgung. Die regenerativen Energien müssen wettbewerbsfähig bleiben. Die Photovoltaikforschung müssen wir insbesondere stärker auf die Gesichtspunkte Wirkungsgrad und Preissenkung konzentrieren. Markteinführungsprogramme wie beispielsweise ein 200 000-Anlagen-Programm, die jetzt auch aus dem politischen Raum wieder gefordert werden, bringen für die Solartechnologie wirklich nichts. Abschließend ein Wort zum großen Bereich der internationalen Zusammenarbeit; hierbei will ich mich auf die Raumfahrt konzentrieren. Die europäische Raumfahrtpolitik befindet sich auf einem Weg der Konsolidierung. 1995 haben wir mit der Ministerkonferenz in Toulouse das politisch und finanziell Mögliche beschrieben. Für die europäische Raumfahrtpolitik und den deutschen Beitrag bedeutet das, daß wir uns an dem Bau der internationalen Raumstation beteiligen wollen. Gleichwohl gilt es, die Fortentwicklung der Ariane V zu betreiben. ({10}) Ziel muß es sein, den deutschen Beitrag zur europäischen Raumfahrt stabil zu halten. Jenseits der Raumstation muß auch ein deutscher Beitrag mit Anwendungsbezug möglich sein. Die Perspektiven in diesem Bereich hat der kürzlich verabschiedete Kabinettsbericht aufgezeigt. Im nationalen Bereich das wird in diesem Haushalt jetzt auch manifest - müssen wir uns ebenfalls stärker konzentrieren. Die Zusammenführung von DLR und DARA ist ein richtiger Schritt. Hier gilt es, Synergien zu mobilisieren, damit wir nicht unnützen Bürokratien verhaftet bleiben. Insgesamt läßt sich festhalten, daß der Etat 1998 für den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie ein Haushalt des Aufwuchses ist. Er ist gleichwohl solide finanziert und Grundlage für eine gute Zukunft. Im Rahmen der Haushaltsberatungen werden wir alle Möglichkeiten prüfen, die Investitionen zu steigern. Ich lasse mich auch von keinem überbieten, wenn es darum geht, den Etat dabei über die magische Grenze von 15 Milliarden DM zu bringen. Allerdings muß es auch finanzpolitisch machbar sein. ({11}) In diesem Sinne werden wir den Einzelplan 30 beraten. Herzlichen Dank. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich gebe zwischendurch das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermitteltete Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Es war die Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 13/1685, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, sowie über den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/ CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/8340, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}). Die Beschlußempfehlung befand sich auf Drucksache 13/ 8488.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

620. Mit Ja haben gestimmt 618, mit Nein hat niemand gestimmt, Enthaltungen zwei. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen. ({0}) Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 620; davon ja: 618 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten Dr. Wolf Bauer Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({1}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Rudolf Braun ({2}) Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({3}) Hartmut Büttner ({4}) Manfred Carstens ({5}) Peter Harry Carstensen ({6}) Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Horst Eylmann Anke Eymer Ilse Falk Jochen Feilcke Ulf Fink Dirk Fischer ({7}) Klaus Francke ({8}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis Dr. Heiner Geißler Michael Glos Wilma Glücklich Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund Horst Günther ({9}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({10}) Gerda Hasselfeldt Otto Hauser ({11}) Hansgeorg Hauser ({12}) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise Detlef Helling Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze Josef Hollerith Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Peter Jacoby Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork Michael Jung ({13}) Ulrich Junghanns Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder Peter Keller Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler ({14}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus Wolfgang Krause ({15}) Andreas Krautscheid Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn Dr. Karl A. Lamers ({16}) Karl Lamers Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Vera Lengsfeld Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach Walter Link ({17}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({18}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({19}) Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer Dr. Michael Luther Erich Maaß ({20}) Dr. Dietrich Mahlo Erwin Marschewski Günter Marten Dr. Martin Mayer ({21}) Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Rudolf Meyer ({22}) Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Elmar Müller ({23}) Engelbert Nelle Bernd Neumann ({24}) Johannes Nitsch Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({25}) Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold Anton Pfeifer Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau Helmut Rauber Peter Rauen Otto Regenspurger Christa Reichard ({26}) Klaus Dieter Reichardt ({27}) Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder Dr. Erich Riedl ({28}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({29}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Roland Sauer ({30}) Ortrun Schätzle Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({31}) Andreas Schmidt ({32}) Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz ({33}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Dr. Dieter Schulte ({34}) Gerhard Schulz ({35}) Frederick Schulze ({36}) Diethard Schütze ({37}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Horst Seehofer Marion Seib Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Gerhard Stoltenberg Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser Dr. Susanne Tiemann Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt ({38}) Dr. Horst Waffenschmidt Dr. Theodor Waigel Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke Kersten Wetzel Hans-Otto Wilhelm ({39}) Gert Willner Bernd Wilz Willy Wimmer ({40}) Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller SPD Brigitte Adler Gerd Andres Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Klaus Barthel Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig Arne Börnsen ({41}) Anni Brandt-Elsweier Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({42}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann Karl Diller Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen Freimut Duve Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Elke Ferner Lothar Fischer ({43}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs ({44}) Katrin Fuchs ({45}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Günter Gloser Uwe Göllner Günter Graf ({46}) Angelika Graf ({47}) Dieter Grasedieck Achim Großmann Karl Hermann Haack ({48}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein Klaus Hasenfratz Dr. Ingomar Hauchler Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch Reinhold Hiller ({49}) Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({50}) Frank Hofmann ({51}) Ingrid Holzhüter Erwin Horn Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang. Ilte Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({52}) Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel Konrad Kunick Christine Kurzhals Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann ({53}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({54}) Winfried Mante Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({55}) Ursula Mogg Jutta Müller ({56}) Christian Müller ({57}) Volker Neumann ({58}) Gerhard Neumann ({59}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick Rudolf Purps Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer Dieter Schanz Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Günter Schluckebier Horst Schmidbauer ({60}) Dagmar Schmidt ({61}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({62}) Dr. Emil Schnell Walter Schöler Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({63}) Brigitte Schulte ({64}) Reinhard Schultz ({65}) Volkmar Schultz ({66}) Ilse Schumann Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({67}) Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold Bodo Seidenthal Lisa Seuster Erika Simm Johannes Singer Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss Dr. Bodo Teichmann Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Günter Verheugen Ute Vogt ({68}) Hans Wallow Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({69}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({70}) Jochen Welt Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({71}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz Berthold Wittich Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({72}) Heidi Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Gila Altmann ({73}) Elisabeth Altmann ({74}) Marieluise Beck ({75}) Volker Beck ({76}) Angelika Beer Matthias Berninger Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Andrea Fischer ({77}) Joseph Fischer ({78}) Rita Grießhaber Gerald Häfner Antje Hermenau Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller ({79}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Egbert Nitsch ({80}) Cem Özdemir Gerd Poppe Simone Probst Halo Saibold Christine Scheel Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({81}) Ursula Schönberger Werner Schulz ({82}) Christian Sterzing Manfred Such Ludger Volmer Margareta Wolf ({83}) F.D.P. Ina Albowitz Hildebrecht Braun ({84}) Jörg van Essen Dr. Olaf Feldmann Horst Friedrich Rainer Funke Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({85}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Walter Hirche Dr. Burkhard Hirsch Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Detlef Kleinert ({86}) Roland Kohn Dr. Heinrich L. Kolb Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Sabine LeutheusserSchnarrenberger Uwe Lühr Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters Dr. Klaus Röhl Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Jürgen Türk Dr. Wolfgang Weng ({87}) Dr. Guido Westerwelle PDS Wolfgang Bierstedt Petra Bläss Maritta Böttcher Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi Dr. Gregor Gysi Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke Gerhard Jüttemann Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Heidemarie Lüth Dr. Günther Maleuda Manfred Müller ({88}) Rosel Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Klaus-Jürgen Warnick Gerhard Zwerenz Fraktionslos Kurt Neumann ({89}) Enthalten PDS Eva Bulling-Schröter Dr. Winfried Wolf Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarats und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU Abgeordnete({90}) Antretter, Robert, SPD Augustin, Anneliese, CDU/CSU Dr. Eid, Uschi, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Fischer ({91}), Leni, CDU/CSU Irmer, Ulrich, F.D.P. Dr. Probst, Albert, CDU/CSU Schloten, Dieter, SPD Schmidt ({92}), Christian, CDU/CSU Schmidt ({93}), Ulla, SPD Schmidt, ({94}), Wilhelm, SPD Terborg, Margitta, SPD Zierer, Benno, CDU/CSU Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Kiper, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Manuel Kiper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002697, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Rüttgers hat sein Ministeramt mit den Vorschußlorbeeren eines Zukunftsministers begonnen ({0}) und ist dann im Kabinett Kohl zu einem Verpakkungskünstler mutiert. Heute hat er sich als Märchenminister profiliert. Ich möchte das ganz kurz an drei Beispielen verdeutlichen. Das erste Beispiel: Herr Minister, Sie haben jahrelang den Forschungs- und Technologiestandort Deutschland schlechtgeredet. Nun plötzlich ist er genesen. Ich möchte bloß die Zahlen bezüglich Ihres Steckenpferdes, der Biotechnologie, in Erinnerung rufen: In den 80er Jahren waren neun der weltweit führenden Forschungszentren in Deutschland angesiedelt. Heute sind es immerhin noch acht. Wo ist da Ihr Verdienst? Zweitens. Sie sprechen von 500 000 Existenzgründungen. Herr Minister, wunderbar, wir sind auch für Existenzgründungen; das ist genau der richtige Weg. Dann aber können Sie nicht Ihre Biotechnologie hochbooten. Denken Sie doch nur einmal an die 150 Existenzgründungen, die bislang auf diesem Sektor erfolgt sind, und an den Kapitaleinsatz! Jahr für Jahr wird über eine Milliarde DM an Förderungsgeldern aus dem Bundeshaushalt dafür ausgegeben. In diesem Bereich aber werden Arbeitsplätze abgebaut, weil es eine Rationalisierungstechnologie ist. Selbst die Prognos AG hat Ihnen das bestätigt. Sie müssen das nur einmal lesen. Von daher ist das das zweite Märchen. Drittes Märchen: Herr Minister, Sie spielen sich hier als Erfinder auf, indem Sie sagen, daß man als Wissenschaftler ins Ausland geht, aber auch wieder nach Deutschland zurückkehren kann. Dann ist der Haushalt, den Sie uns hier vorstellen, wirklich ein begnadetes Ergebnis Ihrer Politik. ({1}) Es trägt aber nun wirklich nicht dazu bei, diesen Standort zukunftsfähig zu machen. Dieses Land braucht keine bessere Verpackung. Es braucht keine Märchenerzähler. Dieses Land braucht endlich tragfähige und zukunftsfähige Technologieentscheidungen. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, 28 Milliarden DM bindet diese Bundesregierung mit dem Eurofighter; das ist Verschwendung. 10 Milliarden DM bindet diese Bundesregierung mit dem Transrapid; das ist ein sinnloses Demonstrationsvorhaben. Selbst die FAZ sprach von einem „huschenden Milliardengrab". ({3}) 320 Millionen DM binden Sie allein mit dem Stellarator Wendelstein, noch mehr Millionen durch die Fusionsforschung insgesamt. Das wird 15 Milliarden DM für ITER kosten. Das ist perspektivisch der verkehrte Weg. Die Solarenergie - wir haben es gerade gehört - läuft auf Sparflamme weiter. Sonnenenergie aber bleibt eine der entscheidenden Zukunftstechnologien, wo Grundlagenforschung heute eigentlich überhaupt erst anfängt bzw. anfangen müßte. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Dr. Kiper, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Manuel Kiper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002697, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn von Ihnen jedes Jahr der Transrapid angesprochen wird, darf ich Sie, Herr Kollege, zum wiederholten Male fragen, wie es möglich war, daß die rot-grüne Koalition in Hessen dem Transrapid im Bundesrat zugestimmt hat.

Dr. Manuel Kiper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002697, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Kollege Koppelin, es ist auch für die Grünen nicht einfach, ({0}) die eigene Position in rotgrünen Landesregierungen durchzusetzen. ({1}) Sie haben sicher die Erfahrung gemacht und machen sie in den letzten Wochen immer wieder, ({2}) daß die F.D.P. - manchmal sogar zum Glück - mit ihren Vorstellungen auf der Strecke bleibt. ({3}) Von daher ändert dies überhaupt nichts an unserer Position. Auch in Kassel sagen wir: Es ist nicht richtig und nicht machbar, daß wir mit 10 Milliarden DM, die letztlich aus dem Bundeshaushalt kommen, diese Strecke finanzieren. Wenn es eine Zukunftstechnologie ist, dann muß sie sich auf dem Weltmarkt verkaufen, und dann können wir nicht die Referenzstrecken in Deutschland bauen. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, am 16. Juli 1997 kam es zur Kabinettszustimmung zur bemannten Raumstation Alpha. Dadurch werden bis zum Jahr 2004 2,5 Milliarden DM für die bemannte Weltraumfahrt gebunden. Statt dessen aber sollte endlich auf die unbemannte Weltraumfahrt gesetzt werden. Die Politik von seiten der Regierungskoalition bedeutet keine Orientierung auf Nachhaltigkeit, keine Orientierung auf zukunftsfähige Technologien. Es ist plumpe Wettlaufideologie und Prestigehascherei. Herr Minister, Sie wollen erreichen, daß Deutschland endlich High-Tech-Land wird. Aber Deutschland muß nicht Spitze in der bemannten Weltraumfahrt sein. Deutschland muß nicht vorne liegen beim Eurofighter. Deutschland braucht keinen Fusionsreaktor. Deutschland muß auch nicht die Nummer eins in der Gentechnik werden. Wir wollen kein Soja auf dem Eßtisch. Wir brauchen das nicht. Fragen Sie die Leute im Lande. Es ist völlig überflüssig. Wir brauchen keine Pflanzen auf den Äckern, die mehr Gift vertragen. Wir brauchen keine zweifelhaften Gentherapien. Nötig wäre verstärkte Gesundheitsprävention. Ich möchte deutlich sagen: Wir brauchen sehr wohl biotechnologische Forschung in diesem Land. Der Bioregio-Wettbewerb war im Hinblick auf die Vernetzung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik durchaus eine bemerkenswerte Leistung. Die Wirkung von Bioregio verpufft aber durch die Einengung auf Gentechnik. Statt vor allem auf Genmanipulation zu setzen, sollten wir viel mehr von der. Natur lernen und ausgeklügelte biotechnologische Verfahren entwickeln, was von Ihrem Ministerium vernachlässigt wird. Herr Rüttgers, neben der Gentechnologie ist ja Ihr zweites Standbein die Informationstechnologie. Das Förderkonzept läßt aber auf sich warten. Vor allem fehlen die Lehren aus den bisherigen Förderkonzepten. Ihre bisherigen Förderstrategien mögen zwar einzelnen Weltkonzernen nutzen, sie gehen aber am Markt vorbei. Sie unterstützen damit nämlich gerade nicht Existenzgründer. Ich erinnere an SAP, an Utimaco und an Star Division. Die großen Firmen, die Existenzgründer der letzten Jahre, sind alle nicht durch die Förderprogramme aus Ihrem Hause groß geworden. Neue Arbeitsplätze finden sich in neuen Nischen, bei unkonventionellen Lösungen, vor allem in der Softwarebranche. Dafür müssen die Grundlagen gelegt werden. Das ist aber aus Ihrem neuen Programm nicht erkennbar. Wie sieht es mit Ihrem dritten großen Steckenpferd aus, der Wissensgesellschaft? Ich möchte nur ein paar Schlaglichter anführen. BAföG wurde gegen die Wand gefahren. Ihre Leitlinien in der Hochschulpolitik gipfeln im Slogan: Auf nach Germany. Die Hochschulen sollen für Ausländer attraktiver werden, was ausgesprochen zu begrüßen ist. Aber der Innenminister plant aktuell eine erschwerte Aufenthaltsgenehmigung für Studenten und Doktoranden. Das paßt doch nicht zusammen. Die neue Gründerzeit aus den Hochschulen wird zur Zeit konterkariert durch die neue Handwerksordnung, wodurch selbst im Computerbereich Unternehmensgründer wieder zumachen sollen, weil Sie noch keinen Meisterbrief haben. Ist das die Innovationsoffensive? ({5}) Meine Damen und Herren, Herr Minister, in Japan werden die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis zum Jahre 2000 verdoppelt. Dagegen sieht der BMBF alt aus. Aber es ist in der Tat nicht nur das Geld, was zählt. Es geht um die Qualität der Bildung. Es geht um die Problemorientierung der Forschung. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in diesem Lande. Die Schuldenpolitik dieser Bundesregierung und Ihre technologiepolitischen Weichenstellungen lasten als ungeheure Hypothek auf der nächsten Generation. Ihre Aufgabe wäre die Pflege der Forschungs- und Wissenschaftslandschaft in der ganzen Breite. ({6}) Ihre Aufgabe wäre eine systematische Pflege des wissenschaftlichen Nachwuchses. Dieses Land verdient endlich eine problemorientierte nachhaltige Forschungs-, Bildungs- und Technologiepolitik, statt Märchenstunden, wie Sie sie uns, Herr Minister, heute geboten haben. Ich danke. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Guttmacher, F.D.P.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Steigerung des Bildungs- und Forschungshaushaltes um 132 Millionen DM auf 14,95 Milliarden DM läßt die Bundesregierung zweifellos erkennen, daß es ihr Ernst ist, die Koalitionsvereinbarung, die wir eingegangen waren, zu verwirklichen und zumindest die Forschung überproportional zu fördern. ({0}) Der Forschungsminister hat heute also allen Grund zu strahlen. - Ich spreche jetzt den Forschungsminister an. Nach Jahren des Sparens und Abspeckens treffen diese zusätzlichen Forschungsmittel nun auf eine leistungsfähige und von Verkrustungen befreite Forschungslandschaft. Die flächendeckende Implementierung des Wettbewerbsgedankens in die gesamte Forschungslandschaft zeigt spürbare Wirkungen. Der Bioregio-Wettbewerb hat zu einem großen Erfolg geführt. Ich möchte die Bündelung der Mittel am Beispiel einer kleinen Region in den neuen Ländern, die ein Sondervotum erhalten hat, aufzeigen. In der Bioregion Jena werden durch diese Maßnahme etwa 124 kleine und mittelständische Betriebe Beschäftigung finden. Die Bioregion ist für uns ein Musterbeispiel für die Entkoppelung der Höhe der Forschungsförderung von ihrem Erfolg. Die F.D.P. begrüßt und unterstützt die Erhöhung und die Fokussierung der Forschungsförderung auf die Themenfelder Gesundheit und Biotechnologie, die mit 927 Millionen DM gefördert werden, sowie auf Information, Kommunikation und Multimedia, die mit 970 Millionen DM gefördert werden. Liebe Frau Bulmahn, wenn Sie meinen, daß es uns doch wichtig sein sollte, Schwerpunkte zu setzen und Multimedia in besonderem Maße zu fördern, dann erinnere ich daran, daß wir genau den Etat zur Förderung von Multimedia aufgestockt haben. Auch im Bereich der Umweltforschung und vor allem der Umwelttechnologie, gefördert mit einem Gesamtvolumen von 778 Millionen DM, sind verstärkte Anstrengungen erforderlich, um insbesondere die Berücksichtigung der Umweltbelange bereits bei der Planung zu beachten. Der produktionsintegrierte Umweltschutz entpuppt sich an den Stellen, wo er praktiziert wird, auch als ökonomischer Renner. Ich nehme als Beispiel die integrierten Bioprozesse, die am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart untersucht und demonstriert werden. Es ist dort gelungen, aus dem Abfallstoff Molke in einem hocheffizienten Produktionsprozeß den Industrierohstoff Milchsäure zu produzieren. Konventionelle Verfahren, die zu dem gleichen Ergebnis führen, sind ungleich teurer als dieser Prozeß. Auf der anderen Seite fragt man sich dann natürlich: Warum fehlen die Mittel, um dieses an einem Molkereistandort zum Beispiel in den neuen Bundesländern in einem größeren Produktionsmaßstab zu demonstrieren? Ich nenne Ihnen dieses Beispiel, um deutlich zu machen, daß selbst bei einer Prioritätensetzung die Mittel eines einzelnen Etats oft nicht ausreichen, um von der Idee bis hin zur Anwendung aus einem Fördertopf eine adäquate Förderung anzubieten. Es muß deshalb noch intensiver in den einzelnen Ressorts an einer kooperativen Lösung der Probleme gearbeitet werden. Wenn ich einmal bei diesem Beispiel bleiben darf, bedeutet dies, daß der Forschungsminister ein Interesse daran hat, die mit seinen Geldern entwickelten Verfahren zur Anwendung kommen zu lassen, der Landwirtschaftsminister ein Interesse an der sinnvollen wirtschaftlichen Verwertung des Abfallprodukts Molke hat und die Umweltministerin großes Interesse daran haben müßte, daß die Molke zukünftig nicht über den Umweg über das Schwein zur Gülle wird, sondern als nachwachsender Rohstoff unter minimalem Energieeinsatz als Wertstoff in den Produktionsprozeß zurückgespielt wird. Ich schildere dieses Beispiel, um deutlich zu machen, daß die singuläre Betrachtung der Problemfelder, wie sie diese Einzelplanberatung nun einmal vorgibt, für die Lösung der Probleme nicht ausreichend ist. Gäbe es noch einen Bildungsminister wie in den letzten Legislaturperioden, so würde er heute sicher mit betretener Miene hier sitzen. ({1}) Die Kürzungen bei den Bildungsausgaben werden auch wir von der F.D.P. in dieser Form nicht so mittragen. Herr Minister Rüttgers, Sie sprechen von den gesetzlichen Zwängen beim BAföG. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir selber alle Parlamentarier sind und am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind. Es ist allerdings richtig, daß wir auf die Mithilfe und die Mitarbeit der Länderkammer angewiesen sind. Wir haben in dieser Legislaturperiode dringend eine neue BAföG-Reform auf den Weg zu bringen. ({2}) Sie machen berechtigterweise eine Rechnung auf, die erkennen läßt, daß 1998 möglicherweise 67 Millionen DM weniger BAföG-Mittel abgerufen werden. Wir halten es für richtig, daß diese Fördermittel einbehalten werden und daß sie entweder für eine neue Reform eingesetzt werden, wenn es uns gelingt, diese auf den Weg zu bringen, oder, wenn uns dies nicht gelingt, wenigstens für die Anhebung der elterlichen Freibeträge und der BAföG-Sätze verwendet werden.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Uhr!

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke. - Wir haben mit unseren Haushältern bereits gesprochen. Wir werden seitens der F.D.P. darauf drängen, eine Zulage von 50 Millionen DM für die Bildungsaufwendungen in den Haushalt aufzunehmen. Ich danke Ihnen. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Elm, PDS.

Dr. Ludwig Elm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002646, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorgelegte Haushalt, aber auch die ihm zugrundeliegenden oder ihm fehlenden Gedanken bestätigen die in den vergangenen Tagen bereits mehrfach zitierte Einschätzung des Altbundespräsidenten von der Ideen- und Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung nachdrücklich. Ein Musterbeispiel für die Ideenlosigkeit, aber auch für den Versuch, betriebswirtschaftliches Denken am falschen Ort und am ungeeigneten Objekt einzuführen, sind die von Dr. Rüttgers auf der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz im April vorgetragene und heute prinzipiell bekräftigte Todeserklärung für die Humboldtsche Universitätsidee und der Versuch ihrer Ersetzung durch ein betriebswirtschaftliches Optimierungskalkül, das vom Bundesminister anmaßend und irreführend „Hochschulreform" genannt wird. Der Minister hat off en-bar bemerkt, daß bei der Abwicklung an der Humboldt-Universität Anfang der 90er Jahre der Namenspatron dieser Berliner Hochschule übersehen worden ist. In seinem Ehrgeiz will er das jetzt nachholen. Irgendwie ist die Relegation Wilhelm von Humboldts aber auch folgerichtig. Seine Ideen der Vereinigung der verschiedenen Disziplinen, der Universitas litterarum, der Einheit von Forschung und Lehre und der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden hatten auch einen emanzipatorischen Zug. Ihm lag in bestimmter Weise auch ein geschichtsoptimistisches Menschen- und Gesellschaftsbild zugrunde. Wenn man solche und weitere Stichworte nennt, ist es nicht allzu überraschend, wenn man feststellt: In der heutigen offiziellen Politik gibt es sehr wohl den Ansatz, sich von solchen Politiktraditionen zu verabschieden. Das hieße, die Fortentwicklungsfähigkeit der Humboldtschen Universitätsidee auch in bezug auf ihren emanzipatorischen Ansatz für unsere Zeit zu leisten. Das heißt damit auch, Zugänge zu finden für die Jugend, für Angebote, die wirklich zukunftsträchtig sind. Leistungen in Forschung und Lehre zu privatisieren, sie vor allem nach dem Marktwert zu taxieren und an Meistbietende und Gruppen zu verkaufen ist ziemlich genau das Gegenteil jener Humboldtschen Leitidee. ({0}) Die bloße Ersetzung von Ideen durch ein betriebswirtschaftlich inspiriertes Maßnahmebündel von A wie Auswahlrecht bis Z wie Zugangshürden wiederspricht seiner Idee erst recht. Es geht um strategische Weichenstellungen. Deshalb, glaube ich, ist im Vorfeld der Beratung einer Novellierung des Hochschulrahmengesetzes zu veranlassen, diese Fragen mit anzusprechen. Es könnte sehr wohl sein, daß Traditionen, Potentiale und Kulturinstitutionen beeinträchtigt werden, wobei die Korrekturen und die Rückkehr zu Bewährtem später überaus schwer werden könnten. Insbesondere die politische Führung dieses Landes und dieses Ressorts, ihre Defizite an zukunftsgestaltenden Leitbildern sind verantwortlich dafür, daß die Potentiale an Wissenschaft und Bildung unzureichend für die Lösung der dringendsten Probleme eingesetzt werden, beispielsweise für solche Schlüsselfragen unserer Gesellschaft wie die Probleme hinsichtlich der Lebenschancen und -perspektiven der jungen Generation, der Zukunft der Arbeit als ein menschenrechtlicher Anspruch, der nachhaltigen und ökologischen wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten in unserem Land, der Völker Europas und der Welt, aber auch die Probleme des dauerhaften Abbaus der Ursachen und Triebkräfte von Rüstung, Spannungsherden und militärischen Konflikten. Die Schlagworte von Exzellenz und Effizienz sind vor allem an Leistungen auf diesen Hauptfeldern zu messen. Die Begriffe „Eurofighter", „Transrapid" und Atomenergie" stehen umgekehrt für die destruktiven und kontraproduktiven Linien gegenwärtiger Forschungs- und Technologiepolitik. ({1}) Wie vieles aus dem Hause Rüttgers erweist sich auch die Hochschulreform bzw. die absehbare Novellierung des Hochschulrahmenrechts vorwiegend als Etikettenschwindel. Positiv formuliert heißt das, daß auf eine Sammlung von Einzel- und Ersatzteilen ein Etikett geklebt wird, wobei unter den Einzelvorschlägen durchaus vieles legitim - wenn auch überfällig - ist und wir dies bei den künftigen Beratungen auch unterstützen können. Das ändert nichts an unserer prinzipellen Kritik und Ablehnung der sich abzeichnenden HRG-Novelle, die im Kern die Umgestaltung der Hochschule zu einem Marktflecken zum Inhalt hat, die wichtige geistes-, bildungs- und kulturgeschichtliche Traditionen des deutschen höheren Bildungswesens aufgibt und damit vor allem die notwendige gesamtgesellschaftliche Kompetenz und Verantwortung für die Zukunft aufkündigt. Wir werden unsere Forderungen in einem Antrag einbringen und versuchen, möglichst mit anderen Kräften zusammen die Dinge in eine Richtung zu bewegen, die in einem höheren Maße den Namen „Reform" verdienen könnte. Ich bekräftige die kritischen Aussagen dieser Tage zur Lehrstellensituation und erinnere an unsere früheren Initiativen auf diesem Gebiet. Ebenso erinnere ich daran, daß die Wissenschaftler der ehemaligen DDR, die aus dem Wissenschaftler-Integrationsprogramm und aus vielen anderen Maßnahmen Ende 1996 aus Arbeitsverhältnissen ausgeschieden sind, unverändert auf ihre Chance auf innovative und kreative Aufgaben warten. Wir erhalten zunehmend Zeugnisse darüber, daß sich das, was mit „Umbau der Forschungslandschaft" beschrieben wird und in Teilbereichen mit positiven Entwicklungen verbunden ist, für viele effektiv als ein Schrumpfungsprozeß darstellt. Wenn es beispielsweise schon in dem Institut für Polymerforschung in Dresden, einem Institut, das sowohl von seinem Forschungsgegenstand als auch von der Qualifikation seines wissenschaftlichen Potentials und den Leistungen bei der Drittmittelwerbung gegenüber industriellen Partner zu jenen gehört, denen man eine Chance geben sollte, kritische und existentielle Fragen gibt, sind wir aufgerufen - das ist ein Appell dieses Institutes an uns im Parlament, an unseren Ausschuß -, entsprechende Anstrengungen neu zu unternehmen. Zum Schluß: Das notwendige Umsteuern ist weniger eine Frage der Veränderung dieser oder jener Einzelpositionen des Haushaltes oder gar von Retuschierungsarbeiten. Damit kommen wir immer wieder auf dieselben Fragestellungen zurück. Es geht vor allem um eine grundsätzlich andere Politik und um Reformen, die diesen Namen verdienen, wie zum Beispiel vor knapp 200 Jahren die Reformen Wilhelm von Humboldts, die einen geschichtlichen Platz erlangt haben und deren progressive Leistungen nicht mehr bestritten werden. Danke. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Tilo Braune, SPD.

Tilo Braune (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002635, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister, das Bild, das Sie in Ihrer Eingangsrede gebrauchten und uns eine angebliche Erfolgsstory weismachen sollte, gleicht sehr den Werbetexten Ihrer Hochglanzbroschüren, ({0}) hat für mich irgendetwas von Beschwörungsformeln, von Pfeifen im Walde, aber mit der Realität hat das wohl wenig zu tun. Die Vorschläge, die Sie uns immer wieder machen, betreffen nicht in erster Linie Ihr Ressort, sondern die Länderhaushalte. Da ist es natürlich trefflich leicht, Vorschläge zu machen. Ihre Erfolgszahlen in Sachen Biotechnologie erinnern mich ein wenig an meine Schulzeit in Ostdeutschland. Da lernten wir vom postrevolutionären Rußland auch immer, daß die Stahlproduktion jährlich 1000 prozentige Steigungsraten aufwies. Irgendwie kommt mir das sehr bekannt vor. ({1}) Die Frage ist doch, wessen Gesetzentwurf die Firmen, deren Rückkehr Sie jetzt feiern, vor 1995 vertrieb? - Ein Gesetzentwurf dieser Bundesregierung. Da Sie sich mit Ihren Erfolgen bei der Absprache mit den Ländern zum Hochschulrahmengesetz brüsten, muß ich sagen: Sie haben in Ihren Entwurf ja nur das aufgenommen, was in verschiedenen sozialdemokratisch geführten Ländern längst Alltag, längst Praxis ist. ({2}) Ich möchte Sie davor warnen, daß das Verfahren - ich höre immer wieder, es sei ein Schnellverfahren - so weiterläuft wie bisher. Ich denke, wir haben die hohe Pflicht, einen solch wichtigen Gesetzestext in aller Ruhe und Gründlichkeit zu beraten. Das, was auf dem Tisch liegt, ist ein interessanter Ausgangspunkt für die Debatte, aber die Debatte wird hier im Parlament, und zwar in aller Gründlichkeit, zu führen sein. Der Haushalt des Ressorts, den wir heute zu besprechen haben, ist nicht besser und kann nicht besser sein als der Haushalt dieser kraft- und phantasielosen ausgebrannten Bundesregierung. ({3}) Der sogenannte Zukunftsminister, seinerzeit mit vielen Vorschußlorbeeren vom Kanzler ins Rennen geschickt, hat es bis heute nicht einmal geschafft, die Vergangenheit seines Hauses zu bewältigen, geschweige denn, ernstzunehmende Akzente zu setzen. Der Anteil des BMBF am Bundeshaushalt sank von 1982 auf 1998 von 4,7 auf 3,2 Prozent. Preisbereinigt liegt er im Jahre 1998 um 15,7 Prozent unter den Ausgaben von 1982. Das ist doch die wirkliche Bilanz dieses Ministers und dieser Bundesregierung. Die SPD dagegen will eine Innovationsoffensive in Staat und Wirtschaft auslösen. Wir werden in diesen Bereich mehr Geld investieren, wir werden wichtige Impulse für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands setzen. Das, was wir heute in die Köpfe der Menschen, in Bildung und Forschung investieren, sichert morgen den Wohlstand des einzelnen und unserer Gesellschaft. Die ausgelaugte Bundesregierung hat das scheinbar immer noch nicht begriffen. Sie verspielt leichtsinnig die Zukunft unseres Landes. ({4}) Wir Sozialdemokraten stehen für eine verläßliche, zukunftsoffene Politik ohne ideologische Barrieren. Wir sichern den Aufbruch ins neue Jahrtausend. Sie, Herr Rüttgers, behaupten, das Budget Ihres Haushalts würde um 132 Millionen DM steigen. Richtig ist aber, daß die Haushaltsansätze um 36 Millionen DM sinken und Sie lediglich über eine geringere globale Minderausgabe im Vergleich zum Vorjahr einen gewissen Aufwuchs haben. In Wirklichkeit stehen 1998 rund 700 Millionen DM weniger zur Verfügung als bei Ihrem Amtsantritt 1994. Was sind diese 132 Millionen DM? ({5}) Diese Summe - man führe sich das vor Augen - von 132 Millionen DM entspricht gerade mal den Kosten eines Eurofighters, und zwar ohne Bewaffnung. Das ist die Rüttgerssche Weichenstellung, das ist die Zukunftsgestaltung dieser Bundesregierung. Auch heute haben Sie wieder versäumt klarzustellen, daß Sie entgegen vollmundigen Erklärungen über die Notwendigkeit von Bildung und Qualifikation bei den ausgewiesenen Bildungsausgaben 2,6 Prozent kürzen. Der Titel für berufliche Bildung - eine der dringendsten Aufgaben - wird gekürzt. Die Einsparungen beim BAföG für Studierende sind mit 83 Millionen DM der größte Negativposten Ihres gesamten Haushalts. - Ich merke, wie brennend der Minister an der Debatte zu seinem Haushalt interessiert ist. Er hört wie üblich nicht zu. ({6}) Die Kürzungen beim BAföG für Studierende sind absolut unangemessen. - Ich merke, der Minister ist nun bereit, der Debatte zu folgen. Die Kürzungen beim BAföG sind für uns nicht hinnehmbar und stehen für uns als ein weiteres typisches Zeichen unerträglicher Umverteilungspolitik dieser Bundesregierung. Teile des unterfinanzierten BMBF-Haushalts quasi von den Studierenden bezahlen zu lassen und ihnen, da sie dann zuarbeiten müssen, im Gegenzug noch zu lange Studienzeiten vorzuwerfen, halte ich für unredlich. Hier werden Aufgaben von heute nicht angepackt. ({7}) In der Forschungspolitik sind ebenfalls keine Prioritätensetzungen zu sehen; denn sie manifestieren sich nicht in appellierenden Hochglanzbroschüren. Vom antizyklischen Investieren in die Zukunft ist keine Rede. Nicht umsonst, Herr Minister, gelten Sie in der wissenschaftlichen Community als Ankündigungsminister. Mit Ihren Buchungstricks und dem Verschieben von Haushaltstiteln setzen Sie keine neuen Akzente. Das ist lediglich Etikettenschwindel, und auch den glaubt Ihnen mittlerweile keiner mehr. ({8}) Wir Sozialdemokraten fordern eine schrittweise Anhebung der Bildungs- und Forschungsaufgaben. Das betrifft vor allem den Hochschulbau, die erneuerbaren Energien, Umwelttechnologien, die Klimaforschung, F- und E-Sonderprogramme in den neuen Ländern, eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung für mehr Fördergerechtigkeit, die Wiedereinführung der steuerlichen F- und E-Förderung und Stärkung der mittelstandsorientierten F- und E-Förderung, die Reform der Organisationsstrukturen, mehr Flexibilität und Eigenverantwortung, Innovationsverbünde von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Verbesserung des Transfers und von Forschungsergebnissen, Verbesserung der administrativen und gesetzgeberischen Rahmenbedingungen für innovative Technologieentwicklung. Der Haushalt dieses Ministeriums ist keine Weichenstellung in die Zukunft. Er ist keine Weichenstellung für mehr Innovation und eine Modernisierung unserer Volkswirtschaft. Ihr Haushalt, Herr Rüttgers, ist keine Weichenstellung für mehr Beschäftigung, keine Antwort auf die Herausforderung der ostdeutschen Entwicklung. ({9}) Als Chef im Stellwerk für Bildung und Forschung taugen Sie meiner Meinung nach nichts. Vor einem Jahr, am 12. September 1996, erläuterten Sie zum gleichen Thema - übrigens an dieser Stelle sehr richtig - die Notwendigkeit zur Innovation: Nur für die besten Produkte kann man auch hohe Preise nehmen. Schaut man sich unter diesem Aspekt Ihr Produkt Haushalt 1998 an, so kann man nur sagen: Ihr Produkt ist unverkäuflich. Gehen Sie nach Hause, und überlassen Sie dieses wichtige Feld denen, die mit Herz und Verstand gestalten können und wollen: uns, den Sozialdemokraten. Wie sagte doch einst unser Kollege Cato im römischen Senat: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam. Oder auf die heutige Situation übersetzt: Diese Bundesregierung muß weg. Ich danke Ihnen. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie liegen nicht vor. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Einzelplan 17. Das Wort hat die Frau Ministerin Claudia Nolte.

Claudia Nolte (Minister:in)

Politiker ID: 11001621

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gehört nur mittelbar zu meinem Geschäftsbereich, aber vielleicht darf ich - weil es jetzt um die Familien geht - der Abgeordneten Maria Eichhorn herzlich zum Geburtstag gratulieren. ({0}) Für mich war in diesem Haushaltsjahr wichtig, gleichermaßen Prioritäten zu setzen, wichtige Ansätze zu halten und dennoch einen Sparbeitrag leisten zu können, was nach der Natur der Sache nicht leichtfällt. Das Gesamtvolumen für mein Ressort beträgt 11,7 Milliarden. Der größte Teil ist, wie all die Jahre schon, gesetzlich gebunden. Der Rückgang um 2,5 Prozent beruht vor allen Dingen auf dem Auslaufen von Übergangsregeln beim Kindergeld und der Minderung beim Ansatz des Unterhaltsvorschußgesetzes. Wir haben bei dem Zuzug von Aussiedlern einen deutlichen Rückgang, weiterhin auch weniger Kriegsdienstverweigerungsanträge, wodurch wir Einsparungen von jeweils 27 und 40 Millionen DM haben. Auf der anderen Seite ist es mir gelungen, die freiwillige Rückkehr von bosnischen Flüchtlingen auch im nächsten Jahr mit über 12 Millionen DM zu fördern. Es war ursprünglich geplant, dieses Programm nur ein Jahr laufen zu lassen. Aber mir war es wichtig, dieses erfolgreiche REAG-Programm auch darüber hinaus noch fortzusetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel meiner Politik besteht darin, mitzuhelfen, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das von Solidarität, von Wärme und von einem guten Miteinander der Generationen geprägt ist. Ob jung, ob alt, jeder soll die Möglichkeiten haben, sich in dieser Gesellschaft entfalten und einbringen zu können. Dabei können wir Anregungen geben und Signale setzen. In der Seniorenpolitik sehe ich einen Schwerpunkt darin, Wohnkonzepte zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen und Lebenslagen älterer Menschen orientieren und dabei ihre Wohnbedingungen und die notwendigen Infrastruktureinrichtungen berücksichtigen. Dem dient das Modellprogramm: „Wohnkonzepte der Zukunft für ein selbstbestimmtes Leben im Alter" , weil wir eben wissen, daß viel auch von der örtlichen Siedlungsstruktur abhängt, ob Menschen in ihrer gewohnten Umgebung, wie sie es wünschen, bleiben können, was Hilfsnetze und Selbstbestimmung bei den Senioren stärkt, private Hilfsnetze aktiviert und damit auch ehrenamtliches Engagement fördert. Wir haben gerade im Seniorenbereich in den Seniorenbüros ganz wichtige Ansätze geschaffen, die dazu dienen, daß Seniorinnen und Senioren Anlaufstellen haben, in denen sie sich betätigen und ehrenamtlich engagieren können. Wir fördern zur Zeit 37 dieser Einrichtungen. Aber was ich besonders schön finde, ist, daß sich außerhalb dieses Bundesmodells 50 weitere solcher Büros gebildet haben, was zeigt, daß dies angenommen wird und daß dies ein Impuls ist, der Menschen zusammenführt. ({1}) Was bei solchen Bundesmodellen oft nicht gelang, hier aber sehr erfolgreich gelungen ist, ist, daß auch nach Auslaufen der Bundesförderung, die wir 1998/ 99 vornehmen müssen, die Weiterführung dieser Seniorenbüros zu 90 Prozent auf Dauer abgesichert ist. Wie bei den Älteren so ist es auch bei den Jüngeren: Sie wollen sich gesellschaftlich engagieren. Sie wollen sich einbringen und wissen, daß sie gebraucht werden. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig es für junge Menschen ist, daß sie Bewährungsfelder haben. Auch sie brauchen Ansprechpartner und Unterstützung, wenn sie sich einbringen wollen. Ich denke, optimal sind die Freiwilligen Jahre, die wir dafür geschaffen haben. Es ist richtig, daß wir noch nicht ganz gewährleisten können, daß alle Nachfragen nach dem Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Freiwilligen Ökologischen Jahr abgedeckt werden, obwohl wir im nächsten Jahr erstmals über die 10000-Stellen-Grenze kommen werden und wir damit in den letzten vier Jahren das Platzangebot für das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr verdoppelt haben. Ich werde dieses Programm deshalb mit 1,8 Millionen DM aufstocken, so daß wir bei 21,5 Millionen DM sind. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich den Ländern und den Trägern danken, die an der Erfolgsgeschichte dieser Freiwilligen Jahre mitgewirkt haben. Sie waren dafür notwendig. So wie wir erwarten, daß sich junge Menschen für die Gesellschaft engagieren, genauso ist auch die Gesellschaft in der Verantwortung, jungen Menschen Lebensperspektiven zu eröffnen. Dabei stehen Ausbildungs- und Arbeitsplätze ganz oben an. Es ist gar keine Frage: Die beste Jugendpolitik kann die negativen Folgen nicht wegbügeln, die auf Grund von Nichtzurverfügungstellung von Ausbildungsplätzen und den daraus folgenden Konsequenzen entstehen. Ein junger Mensch darf bei seiner ersten Berührung mit der Erwachsenenwelt nicht die Erfahrung machen, nicht gebraucht zu werden. Deshalb genießt dieses Thema für uns oberste Priorität. Alles, was die Bundesregierung, was Politik in einem dualen Ausbildungssystem für mehr Ausbildungsplätze tun kann, hat sie getan. Mein Haus bemüht sich mit einem neuen Projekt der Jugendsozialarbeit darum, gerade schwervermittelbaren Jugendlichen eine Chance zu geben. Denn das ist das Hauptdilemma: Ohne Qualifizierung ist die Chance sehr, sehr gering, späterhin einen Arbeitsplatz zu finden. Wir wissen, daß 80 Prozent aller arbeitslosen Jugendlichen keine Ausbildung haben. Deshalb ist mir das Thema so ernst. Ich kann Sie von der Opposition beim besten Willen nicht aus der Verantwortung entlassen. Alles, was Ihnen einfällt, ist eine Ausbildungsplatzabgabe, staatliches System, obwohl wir wirklich genügend Erfahrung haben, gerade aus alten Zeiten, wie hervorragend man seitens des Staates am Markt vorbei planen und fördern kann. Mit Ihrer Dauerblockade im Bundesrat verhindern Sie, daß wir Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäftigung durchsetzen können, wie zum Beispiel die Steuerreform ({3}) das war das Thema der letzten Tage -, wo es sich gezeigt hat, daß Sie nicht in der Lage sind, zu erkennen, daß wir dramatische Veränderungen erleben und daß wir darauf mit Veränderungen, mit Reformen, reagieren müssen. Andere Länder machen uns das vor: Sie verbessern ihre Wettbewerbssituation. Es wird Zeit, daß auch wir das tun. Deshalb sage ich: Sie tun doch uns keinen Gefallen damit. ({4}) Vielmehr sollten Sie an die jungen Leute denken, ({5}) die eine Ausbildung brauchen. Lassen Sie sich für die jungen Menschen in die Pflicht nehmen, daß wir in den Reformen vorwärtskommen. ({6}) - Nein, das gehört genau zu diesem Thema, wenn es darum geht, den jungen Menschen Zukunftschancen zu eröffnen. Ganz sicher spielt diese Frage auch bei dem anderen vieldiskutierten Thema eine Rolle, nämlich bei der Kinder- und Jugendkriminalität. Auch da wird sehr häufig das Argument Ausbildungs- und Arbeitsplätze angeführt. Ich möchte allerdings davor warnen: Es gibt keine Monokausalität zwischen Jugendarbeitslosigkeit, Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Denn es muß weiterhin gelten: Auch schwierige Lebenslagen sind kein Grund und keine Rechtfertigung für Gewalt und kriminelles Handeln. Es muß jedem klar sein, daß man sich auch in schwierigen Lebenssituationen an das Gesetz halten muß. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe guter, erfolgreicher Projekte vor Ort, wo es gerade um die Verknüpfung von Jugendhilfe, Polizei und Justiz geht, um Jugendkriminalität zu verhindern. Wir haben beim Deutschen Jugendinstitut eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die die Vielzahl der Einzelmaßnahmen, die es in diesem Bereich inzwischen gibt, evaluieren und sie einem breiten Nutzerkreis zur Verfügung stellen soll, damit wir nicht doppelt arbeiten müssen. Ich habe letzte Woche, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an Sie gedacht. Ich bin neugierig, was Sie zu den Überlegungen eines Ihrer Kanzlerkandidaten sagen, das Strafmündigkeitsalter auf zwölf Jahre herabzusetzen. Ich habe von Ihnen keinen Widerspruch gehört. ({7}) Ich bin sehr neugierig, wie viele Wendungen Sie bis zum 27. September nächsten Jahres noch machen möchten. Ich halte es trotzdem für angemessen, daß auch Sie eine sachliche Debatte in dieser Frage führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten Wochen viel darüber gehört, daß Kinder und Jugendliche Täter sind. Die Realität ist aber: Sie sind wesentlich häufiger Opfer. Es muß uns allen ein großes Anliegen sein, ihnen Schutz zu geben. Für mich ist besonders der Schutz vor sexuellem Mißbrauch, Kinderpornographie und Kinderprostitution wichtig. ({8}) Deshalb dränge ich auch auf die notwendige Verschärfung des Sexualstrafrechts. Wir sind uns über die vereinbarten Maßnahmen und die Notwendigkeit dieser Maßnahmen wie schnellere Sicherungsverwahrung, Heraufsetzung von Mindest- und Höchststrafen und schärfere Voraussetzungen für vorzeitige Haftentlassungen einig. Dann lassen Sie uns diese auch schnell verabschieden. Es tut nicht gut, diese an andere Dinge zu knüpfen und es damit eventuell zu verzögern. ({9}) Für mich ist jedoch klar: Eine Verschärfung des Strafrechts allein genügt nicht. Deshalb habe ich die in meinem Haushalt für Aufklärung und Prävention zur Verfügung stehenden Mittel für 1998 fast verdreifacht. Wir werden schwerpunktmäßig den Aufbau eines Krisentelefonnetzes für Kinder und Jugendliche in den neuen Ländern weiter fördern. ({10}) Wir werden verstärkt die Kinderschutzverbände unterstützen und Multiplikatoren in der Jugendarbeit fördern und entsprechende Literatur erstellen. Dicht daran angelehnt ist der Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt. Mein Haus wird im RahBundesministerin Claudia Nolte men der nationalen Umsetzung der Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonferenz eine repräsentative Umfrage zu dem Thema „Gewalt gegen Frauen" durchführen. Es gibt hier ein unwahrscheinlich hohes Dunkelfeld. Eine Rechtstatsachenuntersuchung zur richterlichen Zuweisung der Ehewohnung bei Getrenntlebenden ist inzwischen in Auftrag gegeben. Ich werde auch das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt fortführen. Wir werden eine Koordinierungsstelle für Frauenhäuser einrichten. Gerade weil es ein wichtiges Thema ist, müssen konzentriert Maßnahmen erfolgen. Entsprechend dem Ziel der nationalen Strategie muß es außerdem gelingen, Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Frauen sind gerade in den neuen Bundesländern immer noch stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer; deshalb hier auch unsere besondere Anstrengung, sie auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Dem dient vor allen Dingen unser Projekt „Neue Wege der Arbeitsplatzbeschaffung". Wir werden dies unter finanzieller Beteiligung der neuen Länder bis 1998 verlängern. Es ist schon ein innovativer Ansatz, hier die Aktivitäten der Wirtschafts- und Strukturpolitik der Landkreise mit frauenpolitischen Orientierungen und Zielsetzungen zu verzahnen, womit wir vor Ort ganz neue Entwicklungsprozesse erleben. Gleiche Rechte und gleiche Chancen müssen zum Lebensalltag von Frauen und Männern, in Familie und Beruf und Gesellschaft gehören. Deshalb brauchen wir nicht nur eine akademische Diskussion, die die Fachverbände und die Politik führen - wir brauchen uns nicht überzeugen zu lassen -, sondern wir brauchen darüber eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Diese soll unterstützt werden durch unseren Ideenwettbewerb „Frauen gefragt", der sowohl Teil der bundesweiten Kampagne zur Umsetzung der Beschlüsse der 4. Weltfrauenkonferenz als auch Teil dieses Dialogs ist. Partnerschaft und Teilhabe ist bei uns nicht ein Thema allein für Frauen. Wir brauchen auch Männer, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Dem wird die 6. Gleichberechtigungskonferenz im Januar 1998 dienen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, daß ein Schwerpunkt meiner Arbeit die Familie ist: die Stärkung unserer Familien, die Förderung und Stärkung ihrer Leistungsfähigkeit. Ich finde, daß der Ansatz richtig ist, daß es vor allen Dingen um die Schaffung eines kinder- und familienfreundlichen Klimas vor Ort geht. Dort leben die Familien, dort werden die Lebensbedingungen von Familien gestaltet und viele Entscheidungen getroffen, die auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Familien besonderen Einfluß haben. Sie wissen, ich habe in diesem Jahr mit den kommunalen Spitzenverbänden den Bundeswettbewerb „Kinder- und familienfreundliche Gemeinde" durchgeführt. Ich fand es sehr beachtlich, was dieser für eine Mobilität in Gang gesetzt hat, wie engagiert vor Ort daran mitgearbeitet worden ist, um gute Beiträge für diesen Wettbewerb zu liefern. Es war mir persönlich in der letzten Woche eine große Freude, hervorragende Konzepte auszeichnen zu können. Ein weiteres Ziel dieses Wettbewerbs hat sich bestätigt: Wir haben daraus einen Meinungs- und Erfahrungsaustausch über kinder- und familienfreundliche Maßnahmen initiieren können. ({11}) Ich glaube schon, daß es sich angesichts der dramatischen Veränderungen im Aufbau der Altersstruktur unserer Bevölkerung zunehmend als Standortfaktor für die Kommunen erweisen wird, ob sie ein kinder- und familienfreundliches Klima aufweisen können. Deshalb sind nicht nur der Bund, sondern gerade auch Länder, Kommunen, Schulen, Arbeitgeber, Städteplaner, Vermieter und Architekten gefordert, in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich Familien zu fördern. Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung waren und sind weitere wichtige Kernbereiche bei der Unterstützung der Familien. Hierzu zähle ich auch die für 1998 geplante Rentenreform mit der vorgesehenen besseren Anerkennung von Erziehungsleistungen in der Rente. ({12}) Erwerbsarbeit und Familienarbeit sind gleichwertig. Dieser Vorgabe dient das Ziel der 100prozentigen Anrechnung der Erziehungsjahre. Mit dem neuen Familienleistungsausgleich entlasten wir Familien jetzt um jährlich 13 Milliarden DM zusätzlich. Wir werden in diesem Jahr rund 50 Milliarden DM im Rahmen von Kindergeld und Kinderfreibeträgen aufwenden. Ohne Zweifel, liebe Kolleginnen und Kollegen - das geht mir nicht anders als anderen auch -, fällt mir in diesem Zusammenhang vieles ein, was man in meinem Ressortbereich noch alles machen könnte, wenn man Geld hätte. ({13}) Ich finde aber, wir können uns nicht der Tatsache verschließen, daß man in Zeiten, wo nicht soviel Geld da ist, sparsam haushalten muß, um eben nicht auf Kosten nachwachsender Generationen zu leben. Sparen bedeutet, daß man nicht alles, was man sich in einem engen zeitlichen Rahmen gewünscht hätte, verwirklichen kann. Ich erinnere nur an die Erhöhung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld, die notwendig ist und die ich gerne gesehen hätte. Ich sehe hier Handlungsbedarf, sobald wieder finanzielle Spielräume vorhanden sind. Mich ärgert in diesem Zusammenhang aber schon maßlos, was ich hier manchmal an Heuchelei von Ihnen von der SPD erfahre. ({14}) Gerade in diesem Rahmen wird hier immer wieder gefordert, die Einkommensgrenzen und das Erziehungsgeld zu erhöhen und was weiß ich nicht alles. Sie stellen hier Forderungen an den Bund auf, aber in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, kürzen Sie entweder das Landeserziehungsgeld oder schaffen es wie in Rheinland-Pfalz gleich ganz ab. Das finde ich schlicht und ergreifend unredlich. ({15}) Wenn gespart werden muß, muß man es ehrlich bekennen. Man kann nicht auf der einen Seite Forderungen aufstellen und sagen, daß man es machen muß, und auf der anderen Seite klammheimlich die Leistungen an die Familien zurückschrauben. Das ist schlicht und ergreifend unredlich. ({16}) Auch in der Haushaltsdebatte ist das ja deutlich geworden: In der Generalaussprache und gegenüber dem Finanzminister sagen Sie noch, wir nähmen zu viele Schulden auf und sparten zu wenig. In den Beratungen der einzelnen Ressorts - so verlief es jedenfalls an den letzten beiden Tagen - wird dann der jeweilige Fachminister dafür kritisiert, daß er zu viel einspart. Ich denke, daß diese Taktik nicht aufgeht und die Bürgerinnen und Bürger das erkennen werden. ({17}) Auch hier gilt: Für Familien ist das Erwerbseinkommen die Haupteinnahmequelle. Man kann es durch keine staatlichen Transferleistungen irgendwo ersetzen. Deshalb ist es so entscheidend, daß wir Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß Familien wieder mehr Chancen haben, um ihren eigenen Unterhalt zu erwirtschaften, und daß wir mehr Beschäftigungsmöglichkeiten haben. Dazu brauchen wir niedrigere Steuern und niedrigere Abgaben. ({18}) Deshalb schadet Ihre Blockadepolitik im Bundesrat den Interessen der Familien. ({19}) Ich kann nur hoffen, daß Sie diese destruktive Haltung gerade um der Familien willen aufgeben. ({20}) Ich fürchte nur, daß wir damit nicht viel Erfolg haben werden. Wir werden aber dafür sorgen, daß die Menschen es erfahren. Vielen Dank. ({21})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Christel Hanewinckel, SPD.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vielen Menschen in unserer Gesellschaft geht es gut. Aber es gibt Menschen, die Hilfe und Förderung brauchen und die einen Anspruch auf Chancengleichheit haben. Hierfür zu sorgen ist die zentrale Aufgabe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. ({0}) Die SPD hat stets davor gewarnt, dieses Ressort zu einer Alibiveranstaltung verkommen zu lassen. Unsere Befürchtungen sind eingetreten. Es gibt kaum Fortschritte für die Zielgruppen dieses Ressorts, dafür aber an vielen Stellen Rückschritte. Zur gegenwärtigen Lage. Die Bilanz der Jugendpolitik ist bedrückend. In der Shell-Studie steht: Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht. Das größte Problem für die Jugendlichen ist die fatale Situation bei den Ausbildungsplätzen und die drohende Arbeitslosigkeit danach. Die Bundesregierung und die Wirtschaft tragen die Verantwortung dafür, daß für viele Jugendliche der erste Schritt ins Berufsleben mit der Arbeitslosigkeit beginnt. Mit dem Schlagwort „Vorfahrt für die Jugend" ist es nicht getan. Niemand kann der Jugend Werte glaubhaft vermitteln, wenn die jungen Leute spüren müssen, daß man sie nicht für wertvoll hält, und wenn die Aktien höher im Kurs stehen als die Jugendlichen. So wird zunehmende Gewaltbereitschaft erklärbar. Aber nicht nur die Jugend nimmt Schaden; das schadet unserer Gesellschaft insgesamt und schmälert auch unsere wirtschaftlichen Perspektiven. Die Reaktion der Jugendministerin darauf: Appelle und lautes Nachdenken, ob man die Vergabe von Aufträgen an Unternehmen an deren Ausbildungsbereitschaft koppeln sollte, - wie wir in der vorigen Debatte gehört haben - eine alte Forderung der SPD. Aber die Frau Ministerin ließ sich prompt vom Bildungsminister zurückpfeifen. Daß es nun doch eine Bevorzugung ausbildender Betriebe geben soll, hat das Kabinett beschlossen. Ich bin sehr gespannt, was am Ende dabei herauskommt. Meine Damen und Herren, die Frauen fragen sich: Wann wird endlich die Ergänzung von 1994 in Art. 3 des Grundgesetzes umgesetzt? Tatsächlich werden nämlich die Frauen zunehmend aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt, müssen außerdem Einbußen bei der Rente und durch die Gesundheitsreform hinnehmen. Die Familien schließlich tragen die Lasten der knappen Kassen, und die sogenannte Seniorenpolitik ist aus diesem Haus auf Herrn Blüm übergegangen. Die Ministerin beteiligt sich an der Politik zu Lasten derer, die sie eigentlich zu vertreten hat. Schauen wir uns den Etat des Ministeriums und die Kompetenzen von Frau Nolte an, dann wird deutlich: Frau Nolte muß mithelfen, die Politik dieser BundesChristel Hanewinckel regierung zugunsten der Gutgestellten zu kaschieren; das ist ihre Hauptaufgabe. ({1}) - Sie werden gleich hören, wo das überall stimmt. Die Gesetzentwürfe der Bundesregierung zur Steuerreform sind eine familien- und frauenpolitische Nullnummer. Statt die Familien zu fördern, das Kindergeld, wie es notwendig wäre, auch 1998 zu erhöhen, wird weiterhin mit Milliarden die Hausfrauenehe subventioniert. Von Frau Nolte sind keine Gegenkonzepte und nicht einmal laute Proteste zu hören. Sie schweigt, wenn Familien, ältere Menschen, Frauen und Jugend benachteiligt werden, während die mit den dicken Taschen wie Hamster immer noch mehr erhalten. ({2}) Die Folgen lassen sich nicht mehr verdecken. Die Armut in der Bundesrepublik und insbesondere in den neuen Bundesländern nimmt zu. Vor allem in den östlichen Bundesländern zeigt sich ein bedrückendes Bild. „Menschen im Schatten" - so haben die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie ihre Untersuchung vom Mai 1997 genannt. Schwarz auf weiß wird hier die alarmierende Situation in den neuen Ländern dokumentiert. Auch wenn der größere Teil der Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensbedingungen erreicht hat, muß eine rapide steigende Zahl von alleinerziehenden Frauen, Familien mit mehreren Kindern und jungen Menschen von Sozialhilfe leben. Sie bilden eine neue Schicht von entmutigten Menschen. Sie werden durch diese Bundesregierung hilfsbedürftig gemacht und damit aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Wie sieht es nun mit Frau Noltes Zusagen und Versprechungen aus? Frau Ministerin, zu Beginn dieser Legislaturperiode haben Sie zum Beispiel angekündigt, die Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld anzuheben. Sie wollten 1995 den Zustand von 1986 wieder erreichen. Damals, bei der Einführung des Erziehungsgeldes - ich erinnere Sie -, erhielten noch fast neun von zehn der jungen Eltern das volle Erziehungsgeld. Heute sind es höchstens noch vier von zehn. Nun legen Sie den Haushalt für 1998 vor, und es zeigt sich: In dieser Legislaturperiode werden die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld nicht erhöht werden; denn in diesem Titel ist nichts von Ihnen vorgesehen. Sie haben einen der wenigen Bereiche, in denen Sie eine Gesetzgebungskompetenz haben, einfach nicht genutzt. ({3}) Frau Ministerin, Sie haben außerdem in Ihrer Rede zum Haushalt 1995 öffentlich versprochen, Verbesserung beim Unterhaltsvorschuß für Alleinerziehende zu erreichen und für eine familienfreundliche Anpassung des Wohngeldes zu sorgen. Nichts davon haben Sie eingehalten. Heute reden Sie nur noch davon, Sie wollten mithelfen. Ich denke, Sie sind Ministerin und haben etwas zu entscheiden und zu sagen. Von „Mithelfen" kann dann nicht die Rede sein, wenn es darum geht, Veränderungen in diesem Lande wirklich herbeizuführen. Ihr Argument - wer soll das bezahlen? - sticht einfach nicht. Bekämpfen Sie die immer unverschämtere Steuerhinterziehung, stopfen Sie endlich die Steuerschlupflöcher und beseitigen Sie vor allen Dingen die Steuerungerechtigkeit! ({4}) Sie werden dann Finanzmittel haben, um das Kindergeld zu erhöhen, um das Erziehungsgeld zu retten und um die Kinder von Alleinerziehenden finanziell zu sichern. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob es Frau Nolte mehr an Ideen oder an Durchsetzungskraft mangelt. ({5}) Auch Ihr Haus scheint in dieser schwierigen Lage nicht helfen zu können. Jetzt veranstalten Sie wieder und wieder öffentliche Wettbewerbe, um zum Beispiel frauenpolitische Ideen an Land zu ziehen. Manchmal erinnert mich das an Zeiten der DDR, an die berühmte Messe der Meister von morgen. ({6}) Schmücken Sie sich nicht mit fremden Federn der familienfreundlichen Betriebe oder Gemeinden! Nehmen Sie die Feder in die Hand, schreiben Sie Ihren Haushalt neu! Oder noch besser: Geben Sie die Feder aus der Hand! Mit Ideen kann Ihnen die SPD-Fraktion schnell und zuverlässig helfen. Daran ändern auch Ihre Sprüche von der Blockadepolitik nichts. Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch. Ich nenne nur als Beispiele: Elterngeld und Elternurlaub, eigenständige soziale Sicherung der Frau, Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, Umlagefinanzierung von Ausbildungsplätzen, Ausweitung der Frauenförderung auf die Wirtschaft und ein Renten- und Steuerkonzept, das Frauen und Familien nicht benachteiligt. Aber Frau Nolte tut ja selbst dann nichts, wenn es nichts kostet. Sie machen nicht einmal den Versuch, durch konzeptionelle Sacharbeit in den eigenen Reihen etwas zu bewegen und öffentlich auch da zu überzeugen, wo es nichts kostet. Sie sind nicht bereit, mit uns zusammen die körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder zu ächten, wenn sie von Eltern ausgeht. Wie soll ein Kind eigentlich zwischen erlaubten und unerlaubten Schlägen und Bedrohungen unterscheiden können? Kämpfen Sie doch mit uns für ein Züchtigungsverbot! Das wäre eine weChristel Hanewinckel sentliche Präventionsmaßnahme gegen die Gewalt in der Gesellschaft. ({7}) Beziehen Sie mit uns die geringfügig Beschäftigten in die Sozialversicherung ein! Betroffen sind vor allem Frauen, besonders die Frauen, die dank Ihres Arbeitsförderungsgesetzes keine Förderung mehr erfahren. Das wäre eine Maßnahme, die eine mittelbare Diskriminierung von Frauen unmittelbar beseitigen würde. Sie hätte vor allen Dingen den Charme, daß sie die Bundesregierung nichts kostet und hätte zudem den Vorteil, die notleidenden Kassen Ihres Kollegen Arbeitsministers etwas aufzubessern. Die Behauptung, daß die Frauen ohne Sozialversicherung nur ein bißchen hinzuverdienen wollen, bleibt ein Märchen. Vielmehr haben sie oft überhaupt keine andere Wahl. Die Rechnung müssen sie dann später bezahlen, wenn sie durch die immer größer werdenden Löcher des sozialen Netzes fallen. Zugegeben: Die Kompetenzen des Ministeriums könnten größer sein. Es gibt aber Bereiche, wo die Ministerin und die Bundesregierung bei sich selbst anfangen könnten. Aber noch nicht einmal das geschieht. Drei Jahre nach Inkrafttreten des Frauenfördergesetzes, das einstmals als Durchbruch in der Frauenförderung gefeiert wurde, haben noch immer nicht alle Bundesministerien einen Frauenförderplan, obwohl sie dazu verpflichtet wären. Ausgerechnet ihre Vorgängerin und Urheberin des Frauenfördergesetzes, Frau Merkel, hat noch keinen solchen Plan in ihrem jetzigen Ressort. Seit Inkrafttreten des Frauenfördergesetzes ist dort der Frauenanteil in den Leitungspositionen sogar gesunken. Auch im Amt des Herrn Bundeskanzlers, der gerne die Frauenförderung auf seine Fahnen schreibt, ist bis heute kein Frauenförderplan in Kraft. Frau Ministerin, fordern Sie endlich die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung bei Ihren Kabinettskollegen ein! Ziehen Sie endlich die Konsequenzen aus den Erfahrungen, die Sie in den Ministerien und auch in Ihrer Partei machen mußten! Sie sind an der Reihe, und es ist an der Zeit, daß Sie endlich die Quote einführen; denn ohne Quote gibt es keinen Fortschritt. Wir sind weit von einer Gesellschaft entfernt, die den Kindern und Jugendlichen faire Zukunftschancen einräumt, Familien schützt, der älteren Generation die erfOrderliche Würdigung ihrer Lebensleistung und Sicherung bietet und die berufliche sowie persönliche Entwicklungschancen für Frauen und Männer gerechter verteilt. Der Umbau von der männlichen zur menschlichen Gesellschaft steht weiterhin aus. Frau Nolte, Sie haben sich mit diesen Ungerechtigkeiten längst arrangiert. Ich empfinde Ihr Nichtstun als eine weitere Zumutung für unsere Demokratie. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Wilfried Seibel, CDU/CSU.

Wilfried Seibel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002147, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Etat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erfaßt nur einen sehr geringen Teil der familienpolitischen Realität und Probleme in unserer Gesellschaft. ({0}) Ich denke, es ist wichtig, daß wir in den anstehenden Beratungen der Ausschüsse darauf achten und uns bewußt sind, daß immaterielle Themen notwendigerweise im Zusammenhang mit hier zu diskutierenden materiellen Fragen angesprochen werden müssen. Ich bin erfreut darüber, daß die Entscheidung zur Gründung einer Familie bei jungen Menschen so deutlich und stark zugenommen hat. Noch vor wenigen Jahren gab es Anlaß, sehr ernsthaft über Tendenzen zur Auflösung der Familie nachdenken zu müssen. In allen Umfragen nach dem eigenen Lebensziel steht bei Jugendlichen der Wunsch nach einer Familie obenan. Aber es gilt leider auch festzustellen, daß jede dritte Ehe nach wenigen Jahren in Scheidung endet. Weil diese Meinung so deutlich hervortritt und der Wunsch, eine Familie zu gründen, so klar ist, sind wir aufgefordert, uns im Steuerrecht, im Wohnungswesen, bei den Einrichtungen der sozialen Betreuung und Fürsorge mit der Frage zu beschäftigen, ob die Rahmenbedingungen, in denen Familiengründungen geschehen, den Bedürfnissen entsprechen. Eine familienpolitische Generaldebatte über all diese Inhalte können wir hier heute leider nicht führen. Aber ich denke, es ist gut, wenn wir die Notwendigkeit artikulieren und jeder für sich selbst im Hinterkopf behält, daß die Fragen aus den hier angesprochenen Themenkreisen unauflöslich zu den zu diskutierenden Haushaltstiteln hinzugehören. Ebenso wichtig wird es sein, den Diskussionsprozeß über die Wechselbeziehungen zwischen Kindern und Gesellschaft, über das Verhalten des einen gegenüber dem anderen, wachzuhalten. Das altbekannte Schild „Kindern ist das Spielen auf dem Rasen verboten!" gehört noch nicht der Vergangenheit an. Vergleichbare Sachverhalte lassen sich in beliebiger Reihenfolge und Menge mit immer schlimmeren Pressionen aufzählen. Aber es gilt auch, daß das Verhalten von Kindern untereinander und gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen rücksichtsloser, härter und leider auch gewaltbereiter geworden ist. Ich selber halte mich für eine stabile Mannsfigur, die unerschrocken dort steht, wo sie steht, und selten zurückweicht. Aber jugendliche Fußballfans im Zugabteil sind eine Erscheinungsform, die mir zumindest Zurückhaltung auferlegt. Die reine Angst bei anderen Reisenden ist deutlich zu spüren. Natürlich gehören Erziehungsfragen in das Elternhaus. Aber ich denke, wir haben auch ein Recht, eiWilfried Seibel nen Beitrag auf gesellschaftliche Erziehung von der Schule einzufordern, die sich nicht darauf beschränken kann, Wissensvermittlung zu betreiben. Die Situation in den Schulen, auf den Schulhöfen und um die Schulen herum ist ein so deutliches Warnzeichen, daß man sich wünscht, daß Eltern, Verantwortliche in den Schulen und die Kultusministerien der Länder bei diesem Thema mehr Entschlossenheit an den Tag legen, als es bisher offensichtlich ist. ({1}) Eines wird in diesen Tagen allenthalben betont - ich will die Liste der berechtigten Mahnungen nicht unnötigerweise verlängern; aber ein Satz dazu gehört auch in diese Debatte -: Es ist der Appell, der hier schon von jedem Redner angeführt wurde, an alle, die dafür Möglichkeiten bieten können, allen Jugendlichen eine Chance auf einen Ausbildungsplatz zu geben. Wer gesellschaftlich einfordert, daß nur eine gute Schulbildung die Grundlage für eine gesicherte berufliche Laufbahn sein kann, darf junge Menschen nicht enttäuschen, wenn sie nach Abschluß der Schule einen Ausbildungsplatz suchen. ({2}) Als Mittelständler sage ich aber ebenso deutlich: Der Appell an die Wirtschaft, Ausbildungsplätze bereitzustellen, muß mit der ernsthaften Bereitschaft einhergehen, im dualen System Ausbildungswege zu verschlanken und von unnötigem Ballast zu befreien. Ich kann Handwerksmeister sehr gut verstehen, die weniger Ausbildungsplätze bereitstellen, wenn ihnen die örtliche Berufsschule klarmacht, daß die Schulstunden nicht an einem Berufsschultag vermittelt werden können, sondern daß der Auszubildende zum Beispiel zur Ableistung von zwei weiteren Schulstunden an einem weiteren Tag in die Berufsschule kommen muß. ({3}) Daß eine solche nicht bewältigte Stundenplanproblematik die Frage nach der Zeit der Abwesenheit im Betrieb provoziert, sollte auch den Schulen klar sein. Frau Kollegin Hanewinckel, lassen Sie mich das sagen: Wenn Sie eben gesagt haben, diese Problematik sei eindeutig Schuld der Regierung und der Wirtschaft, kann man sich nur wundern, daß das so einfach sein soll. Ich halte Ihnen entgegen: So ist das nicht. Die Gründe sind diffiziler, und wir alle müssen auf allen Ebenen daran arbeiten. ({4}) Daß Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit erheblichen Gefährdungen ausgesetzt und Gegenstand zum Teil ekelerregender Geschäftemacherei sind, sollte nicht unerwähnt bleiben. Die Gemeinden, die Verbände, die Sportvereine, die Kirchen und andere gesellschaftliche Gruppen sind weiterhin aufgefordert, ihren großen Anteil am außerschulischen Angebot für die Freizeit von Kindern und Jugendlichen zu leisten. In diesem Zusammenhang sind Sie, Frau Ministerin Nolte, wie auch der Finanzminister, vertreten durch die Staatssekretärin, lobend zu erwähnen, daß im Kinder- und Jugendplan im Haushalt 1998 die Höhe der Mittel erhalten geblieben ist, die auch 1997 gewährt wird. ({5}) Ein gravierendes Problem für junge Familien ist die Suche nach einer passenden Wohnung oder der Erwerb eines preiswerten eigenen Hauses. Das Preisniveau, das sich beim Einfamilienhausbau als marktüblich eingependelt hat, stellt für die meisten jungen Familien nicht mehr leistbare Größenordnungen dar. Zinsen und Tilgungen, die darauf anfallen, sind schlicht und ergreifend nicht zu verdienen. Die Bemühungen des Bundesministers Töpfer sind zu unterstützen, der sich intensiv bemüht, zusammen mit der Bauwirtschaft und der Wissenschaft Vorschläge und Initiativen für dem Bau preiswerter Einfamilienhäuser durchzusetzen. ({6}) Aber auch Städte und Gemeinden sind aufgefordert, preiswertes Bauland zur Verfügung zu stellen und sich nicht durch Baulandvorratserwerb als Makler zu betätigen und ihre Stadtsäckel durch ordentliche Aufschläge auf billig erworbenes Land, das dann als teures Bauland weiterverkauft wird, aufzubessern. Die materielle Situation junger Familien hat sich gegenüber nicht verheirateten Paaren leicht verbessert. Ich persönlich meine, der Abstand ist nicht groß genug und weitere Verbesserungen sind einzufordern. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle, daß dem in diesem Einzelplan etatisierten Erziehungsgeld große Bedeutung dafür zukommt, daß sich Ehepaare für Kinder entscheiden und ihnen diese Entscheidung erleichtert wird. Leider - ich habe das eingangs erwähnt - steht dem starken gesellschaftlichen Trend zur Familie die Tatsache gegenüber, daß ein Großteil der Ehen bereits nach wenigen Jahren geschieden wird. Wir werden voraussichtlich noch in diesem Monat im Deutschen Bundestag das Kindschaftsrechtsreformgesetz, das Beistandsgesetz und das Erbrechtsgleichstellungsgesetz verabschieden. Ich bin sicher, wir sind einig darin, daß diesen Reformen große Bedeutung zukommt und daß ihre Umsetzung die Chance vergrößert, Störungen, die zur Trennung führen, beseitigen zu helfen bzw. Trennungsfolgen zu mildern. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich mich in einem so kompetenten Umfeld wie dem der übrigen Kolleginnen Berichterstatterinnen dieses Einzelplans, der Ministerin und der auch zumeist weiblichen Mitglieder des Ausschusses zu Fragen der Frauenpolitik enthalte und ohne Umschweife zu ein paar Aspekten der Jugend- und Seniorenpolitik komme. Meinungen habe ich zu diesem Thema schon; keine Sorge. Da es zum eingeübten Chor der gesellschaftspolitischen Stimmung gehört, daß Gefahren für die Jugend und unglaubliche Dinge, die von der Jugend ausgehen, immer wieder beklagt werden, ist es auch einmal geboten, in einer Debatte wie dieser zu sagen, daß wir stolz auf die Jugendlichen in unserem Lande sein können. ({7}) Sie sind gut gebildet, tolerant, weltgewandt, international erfahren, mobil und überaus selbstbewußt. Wenn in dieser Woche im Deutschen Bundestag so vielstimmig das Leid geklagt wird, was in diesem Lande alles nicht gelungen ist, will ich versuchen, wenigstens ein dünnes Stimmchen dagegenzuhalten, und zu sagen: Die deutschen Jugendlichen sind ihren Eltern, den Schulen und ihrem sozialen Umfeld gelungen, müssen keinen Vergleich scheuen, sind leistungsbereit. Es wäre zu wünschen, daß diese Leistungsbereitschaft - wie zuletzt beim Hochwasser an der Oder - öfter eingefordert wird. ({8}) - Haben Sie Geduld. - Wenn dies nicht in Überforderung endet, bin ich sicher, daß die Jugendlichen jederzeit bereit sind, ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft zu leisten, wie es zum Beispiel in Bundeswehr und Zivildienst geschieht. ({9}) Gleichermaßen haben wir eine gesunde, mit größerem Wohlstand als vorher versehene, überaus mobile, selbstbewußte Generation von Senioren, die nach Pensionierung und Renteneintritt, ebenso wie ich es gerade von den Jugendlichen gesagt habe, in dieser Gesellschaft soviel Gutes leisten, daß man das nicht oft genug erwähnen kann. Weil viele von ihnen sich nach einem Berufsleben weiterhin engagieren, ist die Gesellschaft auch in der Pflicht, denjenigen, die im Alter durch Krankheit von der Gesellschaft isoliert und in vielen Fällen sehr einsam sind, beizustehen und dafür Sorge zu tragen, daß ältere Menschen auch bei Krankheit mit Würde, in Gemeinschaft und mit guter Versorgung leben können. Die Einführung der Pflegeversicherung hat sich bewährt. ({10}) Auf den gesellschaftspolitischen Feldern für Jugend, Frauen, Senioren und Familie ist die Situation nicht so schlecht, wie sie zuweilen dargestellt wird. Ganz im Gegenteil: Sie ist besser. Dennoch, es gibt eine Fülle von Themen, die der Regelung bedürfen. Ich hoffe, daß diejenigen, die sich dieser Fragen in diesem Parlament - leider an verschiedenen Stellen - annehmen, weiterhin intensiv bemüht sind, aktuelle Probleme lösen zu helfen. Zum Etat des Ministeriums möchte ich an dieser Stelle drei Wünsche anmelden: Erstens. Die Zahl der Zivildienstleistenden ändert sich von Jahr zu Jahr; das ist logisch. Gleichwohl haben die Zivildienstleistenden Anspruch darauf, daß die Verwaltung ihrer Tätigkeit durch das Bundesamt in einer Qualität geschieht, daß sie sich vom Staat angenommen und nicht abgelehnt fühlen. Ich wäre dankbar, wenn alle Parteien in den Ausschußberatungen mit dazu beitragen könnten, daß Stellen aus dem Innenministerium - dort gibt es noch ein paar überschüssige - nach dort umgesetzt werden können, um die Arbeitsbelastung im Bundesamt für den Zivildienst mildern zu helfen. Zweitens. Das Ministerium leistet Zahlungen an Zuwendungsempfänger, 29 an der Zahl, 60 Millionen DM. Ohne die Arbeit, die dort geleistet wird, im Einzelfall abwerten oder kritisieren zu wollen, geht mein Appell an das Ministerium, aber auch an die Zuwendungsempfänger, dafür Sorge zu tragen, daß sehr darauf geachtet wird, daß von einer gegebenen Mark für den Zuwendungszweck nicht große Prozentsätze in der Verwaltung des Empfängers stekkenbleiben. ({11}) Schlanke Verwaltung und Abbau von Personalüberhängen dürfen auch bei den Zuwendungsempfängern keine Fremdwörter sein. Ich hoffe sehr, die zuständigen Stellen des Ministeriums werden hier mit der gleichen Intensität die Dinge in der Diskussion halten und ändern, wie sie es im eigenen Hause notwendigerweise tun wollen oder schon tun. Drittens. Die Zuständigkeit für die Spracherziehung der Aussiedler ist heute verteilt auf vier Bundesministerien: das Arbeitsministerium, das Innenministerium, das Forschungsministerium und das Familienministerium. Ich denke, es ist an der Zeit, gerade bei sinkenden Aussiedlerzahlen, die Beratungen darüber aufzunehmen, wie Dinge vereinheitlicht werden können, wie Kosten eingespart werden können und gleichzeitig eine bessere und vor allen Dingen vereinheitlichte Spracherziehung für Aussiedler, insbesondere für jugendliche Aussiedler, im Herkunftsland sowie bei Ankunft sichergestellt wird. ({12}) Die Aspekte der sozialen Integration müssen stärker einbezogen werden. Ich glaube, wir sollten vom Parlament aus diese Initiative ergreifen und schon jetzt Sorge dafür tragen, daß sich die Dinge im Haushalt 1999 effektiver darstellen. Die angesprochenen Ministerien werden es mir nachsehen, wenn ich glaube, daß das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gut geeignet ist, diese Arbeit konzentriert leisten zu können. Weil zu einer Haushaltsdebatte auch ein paar Zahlen gehören, noch die wenigen zum Schluß: Die Minderausgaben im Einzelplan 17 für 1998 gegenüber 1997 in Höhe von 322 Millionen DM beziehen sich im wesentlichen auf die gesetzlichen Leistungen. Im Zivildienst sind es 40 Millionen DM weniger wegen der angepaßten Zahlen der Zivildienstleistenden. Beim Kindergeld sind es 213 Millionen DM weniger wegen Auslaufens der alten Kindergeldregelung. Beim Unterhaltsvorschuß sind es 30 Millionen DM weniger wegen Anpassung an den tatsächlichen Bedarf. Schließlich - ich bedauere das sehr; das ist eine bittere Pille, die wir hier schlucken sollen, vielleicht nicht schlucken müssen - sind es bei der Stiftung Mutter und Kind 20 Millionen DM weniger wegen Zurückführung auf die im Gesetz vorgesehene Einlage. Kürzungen, das ist oft gesagt worden, sind leider auch für diesen Haushalt notwendig. Die Art und Weise, wie sie im Einzelplan 17 umgesetzt worden sind, wird dem Stellenwert der Familienpolitik gerecht. Eine Beschädigung in Leistungssubstanz und Leistungsstruktur ist nicht verursacht. Herzlichen Dank. ({13})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich gebe das Wort jetzt der Abgeordneten Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war ja schon nicht berauschend, was die Regierung zu Beginn dieser Legislaturperiode für die Familien und die Frauen angekündigt hat. Bei der vagen Formulierung, daß sie sich für eine kinder- und familienfreundlichere Gesellschaft einsetzen will, war schon zu befürchten, daß nicht viel Konkretes dabei herausspringen würde. Immerhin wollte der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Arbeit der Familien finanziell besser anerkennen. Ein ganz besonderes Lob und Anerkennung sprach er den „Müttern und Vätern, die ja zu Kindern sagen und ihnen Geborgenheit und Zukunft schenken" aus. Viel Lob, wenig Geld: In diesen drei Jahren sind zu den mageren Versprechungen noch etliche Kürzungen hinzugekommen. Frau Nolte, wir alle wissen, daß der finanzielle Spielraum äußerst gering ist. Auch wir haben nicht erwartet, daß Sie ein Füllhorn von Wohltaten ausschütten könnten und würden. Aber was Sie uns geboten haben, zeigt neben Unfähigkeit einfach auch Unwillen, auf gesellschaftliche Veränderungen einzugehen, weil Sie oder Ihr Kabinett immer noch in veralteten Vorstellungen verhaftet sind. ({0}) Sie haben Kürzungen in einem Bereich beschlossen, die für die Betroffenen zynisch sind und Ihrer eigenen Ideologie Hohn sprechen: bei den Müttern. Ich nenne dafür drei Beispiele: Sie haben die Lohnfortzahlung für die Schwangeren gekürzt. Sie haben - Herr Seibel hat es beklagt - die Mittel für die Bundesstiftung Mutter und Kind gekürzt. Schließlich schränken Sie den Bezug von Erziehungsgeld und Arbeitslosenhilfe ein; das tritt zum 1 Januar nächsten Jahres in Kraft. Frau Ministerin, Sie wollten in besonderem Maße die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern. Waren Sie sprachlos, als Ihr Kollege Blüm die Zumutbarkeitsregelungen für die Arbeitswege erhöht hat, oder ist Ihnen nur entfallen, wie die Öffnungszeiten in einem deutschen Regelkindergarten aussehen? Nein, meine Damen und Herren, diese Regierung will angesichts der wachsenden Arbeitslosenzahlen einfach nicht mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Mütter schon gar nicht. Da sie nicht weiß, wie es vorwärtsgeht, versucht sie es mit einer Rolle rückwärts. Es wird zwar nicht explizit ausgesprochen, daß sich die Frauen doch lieber wieder aufs Kinderzimmer beschränken sollten, statt auf den Arbeitsmarkt zu drängen. Den Frauen wird die Formel von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie vorgebetet, und gleichzeitig werden die Rahmenbedingungen dafür verschlechtert. ({1}) In der Familienpolitik war es schon abenteuerlich, wie Sie sich beim Kindergeld gewunden haben. Es war nicht Ihre Idee, nein, die Familien mußten sich vor dem Bundesverfassungsgericht erstreiten, daß Sie das Kindergeld in den Familienleistungsausgleich umgestaltet haben. Aber wir wissen doch, daß es noch längst nicht ausreicht. Daß es in 14 Jahren einer christlich-liberalen Regierung dazu gekommen ist, daß in dieser Republik Kinder zum Armutsrisiko Nummer eins geworden sind, ist eine Schande. ({2}) Tun Sie doch bitte nicht so, als wäre alles nur eine Frage des Geldes. Das ist es auch; aber es ist genauso eine Frage der Prioritäten, die man politisch setzt. Wir haben es mit unserem Steuerkonzept und mit einem einheitlichen Kindergeld von 300 DM für jedes Kind gemacht. Aber Sie verweigern nicht nur die finanzielle Anpassung beim Erziehungsgeld - die Kollegin Hanewinckel hat es schon ausgeführt -; auch dort, wo es nicht ums Geld geht, beim sogenannten Erziehungsurlaub zum Beispiel, sind Sie nicht bereit, die Weiterentwicklung zu einem flexiblen Zeitkonto in Angriff zu nehmen. Das ist primär eine ideologische Frage. In Ihren Vorstellungen gehört die Mutter die ersten drei Jahre ins Haus, basta! ({3}) Wir wollen, daß die Eltern flexibler auf die Bedürfnisse ihrer Kinder und auf die Anforderungen der Gesellschaft reagieren können, und bieten mit dem Zeitkonto eine bedarfsgerechte Lösung dafür. Da die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch auf dem Rücken von Frauen funktioniert, ist auch zu fragen, was denn aus dem Kanzlerwort bei der Regierungserklärung wurde, wo er es auch als Aufgabe des Staates beschrieben hat, nicht die Familien der Arbeitswelt, sondern die Arbeitswelt den Familien anzupassen. Ich nehme an, er hat dabei nicht einmal an sein eigenes Haus und an seine Vorbildfunktion für die Gesellschaft gedacht. Wie sonst können Sie uns erklären, warum diese Regierung ihr eigenes Gleichberechtigungsgesetz nicht umgesetzt hat? Dabei haben Sie sich mit diesem Gesetz ein Instrument zur Frauenförderung maßgeschneidert, das sich in lauter Möchte-, Könnte-, Sollte-Vorschriften erschöpft, das keinerlei verbindliche Vorgaben kennt, und haben noch nicht einmal dies in Ihren Ministerien umgesetzt. ({4}) Was die Regelung der Arbeitszeiten in den einzelnen Ministerien betrifft, scheint die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch nicht im Vordergrund. Wie sonst hätte sich der Petitionsausschuß mit dieser Frage befassen müssen, weil es für die Frauen nicht ausreicht? Mit diesem Unwillen und dieser Unfähigkeit - das ist das Bittere - demonstrieren Sie der Wirtschaft eindrücklich, welchen Wert die berufliche Förderung von Frauen bei Ihnen hat. Meine Damen und Herren, die Familien werden von dieser Regierung zunehmend im Stich gelassen. Sie leisten Hervorragendes, und zwar trotz aller Schwierigkeiten, und sie haben es nicht verdient, daß ihnen zunehmend die Schuld an der zunehmenden Kinder- und Jugendkriminalität zugewiesen wird. Sie brauchen mehr als symbolische Politik, die sich in Preisverleihungen und Studien erschöpft. Die Frauen sind flexibel wie nie zuvor und zahlen zu einem großen Teil den Preis für den sozialen Kitt dieser Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, daß ihr vielseitiges Engagement in ihrem gesellschaftlichen und politischen Einfluß endlich seine Entsprechung findet. Es reicht nicht, sie zu befragen. Nicht nur das: Wenn die Politik nicht in der Lage ist, die zunehmende Individualisierung in allen sozialen Sicherungssystemen zu berücksichtigen, werden Mütter, Kinder und Jugendliche zu den größten Verlierern dieser Gesellschaft. Während wir einen immer größeren Schuldenberg anhäufen, betreibt Ihre Politik den Ausstieg aus all den Strukturen, die Kinder schützen und stärken und ihnen echte Perspektiven bieten. Das ist unverzeihlich. Vielen Dank. ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bild, das Sie, Frau Kollegin Grießhaber, eben gezeichnet haben - aus Sicht der Opposition ist es vielleicht noch nachvollziehbar -, geht wirklich nicht nur haarscharf, sondern sehr deutlich an dem vorbei, was Zustand in unserer Gesellschaft ist. ({0}) Natürlich können wir gemeinsam beklagen, daß es im Haushalt von Frau Minister Nolte eine Kürzung von 0,25 Prozent gibt, daß sie jetzt nur über 11,6 Milliarden DM verfügt. Aber sie kommt damit natürlich nicht nur gesetzlichen Verpflichtungen nach. Sie hat auch noch Gestaltungsmöglichkeiten, um Akzente zu setzen. - Sehr viel mehr - das sage ich aus meinem liberalen Verständnis heraus - will ich in vielen Bereichen nicht. Ich will nicht, daß ein Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Gesellschaft vielleicht auch noch Lebensentwürfe vorgibt und versucht, diese mit Geldern durchzusetzen. ({1}) Das möchte ich nicht. Ich denke, daß es wichtig ist, da, wo es notwendig ist, Anreize zu schaffen, auch Modellprojekte zu fördern und durchzuführen, durch Untersuchungen gesicherte Erkenntnisse über Veränderungen in unserer Gesellschaft zu ermitteln, die dann Grundlage für politische Entscheidungen sind, die hier getroffen werden müssen. Dies geht aber häufig, ohne daß es finanzieller Mittel bedarf, indem, wie es die Kindschaftsrechtsreform deutlich macht, politische und gesellschaftliche Entscheidungen getroffen werden, die auf Veränderungen in unserer Gesellschaft reagieren, aber auch Veränderungen, die wir uns wünschen, vorgreifen, zum Beispiel wenn es um das Sorgerecht von nicht verheirateten oder geschiedenen Eltern geht.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Niehuis?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte schön.

Dr. Edith Niehuis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001609, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte mich darauf beziehen, daß Sie sagten, daß Frau Grießhaber meinte, Lebensentwürfe vorschreiben zu müssen. ({0}) Meinen Sie nicht, daß das jetzige Gesetz zum Elternurlaub, das den Müttern - sie nehmen ihn überwiegend in Anspruch - vorschreibt: „nur drei Jahre", „in den ersten drei Jahren", „nicht zeitlich gestreckt" und „nicht mehr als 19 Stunden Arbeit, wenn Kinder da sind" eine starre Lösung ist und daß das, was die Opposition vorschlägt, eine flexible Lösung ist, die den Familien Raum für eigene Planungen läßt? ({1})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Niehuis, Sie wissen doch viel besser als ich, daß wir am 22. September im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Fragen des Erziehungsurlaubs, möglicherweise auch zum Zeitkonto mit denjenigen eine Anhörung durchführen, die das, wenn man Änderungen vornehmen wollte, umsetzen und deshalb auch damit umgehen müssen. Wir machen das, weil wir diese Frage für wichtig halten. Ich weiß heute noch nicht, wie das Ergebnis aussehen wird. Von daher ist das nun wirklich kein überzeugender Beweis, um das, was ich hier gesagt habe, zu widerlegen. ({0}) Das Ressort von Frau Nolte umfaßt wichtige gesellschaftliche Bereiche. Es lebt von den Generationen, auch von den Spannungen zwischen den Generationen, nicht aber vom Kampf zwischen diesen. Deswegen ist es meiner Meinung nach ganz wichtig, sich im nächsten Jahr ganz besonders mit dem Themenfeld der Jugend insgesamt zu beschäftigen. Ich will hier nicht auf die Kinder und das Züchtigungsrecht, das Sie, Frau Hanewinckel, hier angesprochen haben, eingehen. Wir alle gemeinsam wissen, daß wir in zwei Wochen verabschieden werden, daß körperliche und seelische Mißhandlung unzulässig ist. ({1}) Ich freue mich persönlich darüber, weil es mein Gesetzentwurf war, der 1994 diese Formulierungen vorsah. Wir haben es damals nicht geschafft, aber jetzt haben wir uns darauf verständigen können. Also: Wenn auch nicht immer mit der nötigen Geschwindigkeit, so kommt es doch sehr wohl zu richtigen Veränderungen und Weiterentwicklungen in diesem Bereich. ({2}) - Ja, das ist gerade der Kompromiß, den wir zusammen mit den Vertretern der SPD, auch mit Frau von Renesse, geschlossen haben. Ich weiß, daß es hier sehr wohl noch andere Wünsche gibt. Aber man sollte, wenn man nach vielen Jahren so weit gekommen ist, das Ergebnis nicht kleinreden, sondern anerkennen, was es wirklich ist, nämlich ein sehr guter Fortschritt. ({3}) Er war, das gebe ich gerne zu, überfällig. Wir mußten das auch wirklich tun. Lassen Sie mich ein Wort gerade zu den Jugendlichen sagen. Sie haben die Shell-Studie soeben schon erwähnt. Natürlich muß es uns alle mit Sorge erfüllen, daß bei den 12- bis 24 jährigen an erster Stelle die Angst vor Arbeitslosigkeit steht. Ich brauche die Diskussion von gestern und heute nicht zu wiederholen. Hier gibt es eben vollkommen unterschiedliche Vorstellungen. Aber wenn wir uns doch wenigstens in einem einig sind, daß es nämlich erstens kein Patentrezept gibt und daß es zweitens das Entscheidende ist, auf die zu setzen, die das Ganze schließlich verwirklichen müssen, nämlich die Wirtschaft, die Gesellschaft und das Handwerk, dann, so denke ich, wäre das schon einmal etwas, das nicht nur streitig in die Öffentlichkeit getragen würde. Was mich aber besorgt macht, ist die Entwicklung im Bereich der Kriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden. Es sind nicht so sehr die Zahlen; denn wenn man sie sich einmal ganz genau anschaut, stellt man fest, daß sie zwar steigen, aber nicht so besorgniserregend sind wie teilweise dargestellt. Mich erfüllt mehr mit Sorge, wie mit diesem Thema umgegangen wird, gerade jetzt zu Wahlkampfzwecken. Ich denke nur an Hamburg. Jugendkriminalität wird als d i e Gefahr an die Wand gemalt, und Gutachten, die man selbst bestellt hat, die eine sachliche Darstellung geben, werden schlechtgemacht, und man will von ihnen nichts hören. ({4}) Man muß wohl einmal ein klares Wort sagen: Mit schärferen Gesetzen, mit der Verschärfung des Jugendstrafrechts, mit der Zwangseinweisung in geschlossene Heime - Gott sei Dank haben wir das seit unserer Änderung des KJHG seit 1991 nicht mehr - geben wir den Jugendlichen doch keine Hilfe. Sie brauchen gerade dann, wenn sie in einer Gesellschaft auffällig werden - was viele Ursachen hat, natürlich auch soziale Ursachen haben kann -, eher Hilfe und Unterstützung, statt daß wir in erster Linie nur an Repression denken. Wenn die Justiz eingreifen, wenn sie reparieren muß, hat die Kinder- und Jugendhilfe versagt. Es muß einen mit Sorge erfüllen, daß in den letzten Jahren die Aufwendungen für Jugendhilfe in den Kommunen um 20 bis 30 Prozent zurückgegangen sind. Ich denke, da anzusetzen und zu sehen, wie wir hierauf mehr Gewicht legen können - und zwar alle gemeinsam, ohne Schuldzuweisungen an einzelne Parteien -, würde vor allen Dingen den Jugendlichen in unserem Land und damit unserer Gesellschaft helfen. Vielen Dank. ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Rosel Neuhäuser, PDS.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wenn die Jugend in unserer Gesellschaft eine Perspektive hätte, bräuchten wir uns nicht über solche Fragen wie Jugendkriminalität und über andere Dinge in diesem Kontext zu verständigen. Auch im Haushalt 1998 bleibt wie in den vergangenen Jahren die Kinder- und Jugendpolitik, die Frauen-, Familien-, Alten- und Behindertenpolitik der Bundesregierung eine Politik der Randgruppen, die in den Waigelschen Haushaltslöchern nahezu untergeht. Frau Nolte, Sie haben vorhin gesagt, um wieviel Prozent Ihr Haushaltstitel gekürzt wird, nämlich im Durchschnitt um 2,5 Prozent. Ich finde schon fatal, daß der Titel für die Jugendpolitik zum Beispiel im vergangenen -Jahr um über 10 Prozent und in diesem Jahr schon wieder um knapp 4 Prozent gekürzt wurde. Kürzungen, Einschränkungen, Umschichtungen und sogar geringfügige Mittelerhöhungen in Einzeltiteln, was Herr Waigel und Frau Nolte einen gelungenen Sparhaushalt nennen, ist lediglich der Versuch, grundsätzlich falsche Schwerpunkte und eine ganze Liste von Versäumnissen der Bundesregierung notdürftig zu kaschieren. Die kleinen Anhebungen bzw. geschickten Umverteilungen im Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend täuschen aber nicht darüber hinweg, daß die Bundesregierung und mit ihr die zuständige Ministerin zentrale Probleme des gesellschaftlichen Wandels verkennt und dringenden Handlungsbedarf ignoriert. Das haben meine Vorredner hier schon zum Ausdruck gebracht. Folgerichtig bleibt jede notwendige Kurskorrektur aus. Deutlich wird auch: Die Bundesrepublik bleibt eine gespaltene Gesellschaft, gespalten in Arm und Reich, Vermögende und Nicht-Vermögende. Immer mehr junge Menschen besitzen faktisch nichts - keinen Ausbildungsplatz, keinen Job, kein Einkommen, kein Vermögen. Das Beschämende daran ist die Tatsache, daß Bundesregierung und Koalitionsparteien Augen und Ohren vor diesen Realitäten verschließen. Das hat auch die Debatte zum Haushalt des Ministeriums von Herrn Rüttgers deutlich gemacht. Ungeachtet aller unermüdlichen Beteuerungen werden auch für 1998 weitere soziale Ungerechtigkeiten zementiert. Als kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Gruppe der PDS empört es mich außerordentlich, wie sich die Bundesministerin Frau Nolte mit dem Einzelplan des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Sparwettbewerb beteiligt - mag der Etat auch noch so klein sein - und ihn dem zügellosen Rotstift von Herrn Waigel jedes Jahr aufs neue preisgibt. Kraftvolles Gerede - wie Sie, Frau Nolte, es vorhin in Ihrer Begründung des Einzelplans 17 wieder vorgebracht haben ({0}) über die Werte der Familie, die Hochachtung vor dem Alter, die Verantwortung für die Kinder und die Jugend, für Frauen und Behinderte, Ausländerinnen und Ausländer wird so eindeutig ad absurdum geführt. Die Situation im Jugendbereich zeigt beispielhaft, wohin eine solche Politik führt. Seit Jahren delegiert der Bund immer mehr Verantwortung auf die Kommunen, ohne dafür Sorge zu tragen, daß die Kommunen mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Vor dem Hintergrund immer knapper werdender Ressourcen brechen dort bei der Erstellung der Haushaltspläne erbitterte Verteilungskämpfe aus. Bevorzugte - weil scheinbar disponible - Einsparbereiche in kargen Zeiten sind immer wieder die Jugendhilfe und insbesondere die Jugendarbeit. Hier wird oft nach dem Rasenmäherprinzip pauschal gestrichen. Aktive, zukunftsbezogene Entwicklung und Gestaltung von Jugendhilfe und Jugendarbeit sind aber unter dem Handikap kurzfristiger, ungesicherter und auf Bestandsabbau ausgerichteter Finanzausstattung nicht denkbar. Hier werden rechtliche Grundsätze aus dem KJHG eindeutig unterlaufen. Mehr noch: Es zeichnet sich eine weitere Aushöhlung des Grundgesetzes ab, weg von der Sozialpflicht des Eigentums, hin zum Ausverkauf des öffentlichen Eigentums und zu stetiger Neuverschuldung. Lassen Sie mich noch kurz ein Wort zu den Kürzungen bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Kinder- und Jugendbereich sagen. Frau Nolte, Sie wissen genau, daß die Chancen für eine langfristige und kontinuierliche Kinder- und Jugendarbeit, besonders in den neuen Bundesländern, sehr schlecht stehen. Die Ursachen dafür liegen darin, daß die Kinder- und Jugendarbeit eben vorrangig über ABM und § 249 h AFG finanziert wird. Das heißt, die Mittel für die Personalkosten in diesem Bereich kommen nicht aus den Jugendhilfehaushalten der Kommunen, sondern aus Mitteln des Bundes und des Landes. Jeder hier weiß, daß diese Quellen in Zukunft versiegen werden. Als Gruppe der PDS fordern wir deshalb eine langfristige, kontinuierliche Finanzierung von Arbeit im Kinder- und Jugendbereich durch Regelfinanzierung statt ABM und die zusätzliche Einrichtung eines Fonds für die Arbeit im Kinder- und Jugendbereich. ({1}) Außerdem brauchen wir neue Finanzierungmodelle, wie zum Beispiel Jugendfördertöpfe mit Langzeitcharakter, oder auch Experimentiertöpfe, mit denen Ideen von jungen Menschen und Kindern schnell realisiert werden können. Wir fordern gerechte Verteilungsmodalitäten für die Ausstattung freier und öffentlicher Träger, um die Vielfalt vor allen Dingen vor Ort zu erhalten. Frau Nolte, ich möchte Sie auch heute noch einmal daran erinnern, daß Sie endlich Ihr Versprechen einlösen sollten, die Regularien für die Fördermittelbeantragung und die Fördermittelvergabe zu vereinfachen und handhabbarer auch für kleine freie Träger zu machen. Eine Bemerkung zum Schluß: Die Bundesregierung behauptet immer wieder, daß der Sozialismus auch wegen seiner unrentablen Vollbeschäftigung untergegangen ist. Ich denke, Sie sollten sich auch darüber Sorgen machen, daß das marktwirtschaftliche System an seinem überrentablen Mangel an bezahlter Beschäftigung zusammenbrechen könnte. Vielen Dank. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort der Abgeordneten Siegrun Klemmer, SPD-Fraktion.

Siegrun Klemmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Offenbarungseid hat viele Vorboten. Manch Aufrichtiger versucht, ihn lange unter äußerster Anstrengung abzuwenden, und nimmt dazu Rezepte und Ratschläge auch von außerhalb des eigenen Lagers an. Im schlechtesten Fall steht am Ende das ehrliche Eingeständnis: Wir sind mit unserem Latein am Ende. Frau Ministerin Nolte geht mit ihrem vorliegenden Entwurf für den Einzelplan 17 einen anderen Weg. Nach verheerenden Kürzungen im letzten Jahr soll nun ein Totstellreflex helfen, die chronische Misere der Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik über die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl zu retten. Anders ist es nicht zu interpretieren, daß die wichtigsten Ausgabetitel nominal dort eingefroren werden, wo sie schon zuvor einen einmaligen Tiefststand erreicht hatten. Wir haben in den letzten beiden Jahren bei der Einbringung des Haushaltes über genau die gleiche Misere am gleichen Ort debattieren müssen. Allerdings, Frau Ministerin: Dieser Logik der neuen Genügsamkeit werden wir uns verweigern. ({0}) Wir bezweifeln das geflügelte Wort: „Wer schläft, sündigt nicht." ({1}) Wer den sozialen Wandel ein weiteres Jahr lang verschläft, Handlungsbedarf ausblendet und die überfällige Prioritätensetzung der vagen Hoffnung auf eine Verschnaufpause nach der Wahl unterordnen will, der arbeitet gegen die Menschen in unserem Land. Wer die alarmierenden Botschaften der freien Träger, die auch bei Ihnen gelandet sind, der Kirchen und vieler gesellschaftlicher Gruppen über neue Armut, Frustration und Zukunftsangst der bei ihnen Hilfesuchenden in den Wind schlägt und als Panikmache diffamiert, der handelt fahrlässig. Wer den Wind der sozialen Verwerfungen nicht spürt, wird den Sturm nicht bändigen können. Ich denke mir: Sie werden auch gar nicht mehr dazu kommen, diesen Sturm zu bändigen. Konkret: Wer zu geringe Haushaltsansätze nominal fortschreibt, macht es nicht nur nicht besser, sondern macht es schlimmer. ({2}) Jede Preissteigerung vernichtet ungebremst letzte noch verbliebene Spielräume. Ich habe hier vor einem Jahr festgestellt, daß der Einzelplan 17 nach den damaligen Kürzungen im Kern gar nicht mehr beratungsfähig war. Auch heute besteht die zu bewältigende Logik für uns Berichterstatter darin, dieser Bankrotterklärung mit jeder Erläuterung eines Einzelaspektes sozusagen durch die Hintertür die Etatreife zu bescheinigen. Wo der Einzelplan durchgängig unterhalb der fachlich zu verantwortenden Ansätze angekommen ist, sehen sich die Haushälter auf Pfennigfuchser reduziert. 93,4 Prozent der Gesamtausgaben dieses Einzelplanes werden für Personal- und Sachkosten der Verwaltung und gesetzliche Leistungen veranschlagt. Interessant ist, was übrigbleibt: Um 120 Millionen DM sind die allgemeinen Bewilligungen seit 1996 zurückgegangen, also die Mittel, die für gestaltende Fachpolitik sowie für die Förderung der subsidiären Träger zur Verfügung stehen. Wer erwartet hatte, Frau Nolte, daß Sie diesem Frontalangriff des Finanzministers auf Ihr Haus der Generationen Paroli bieten würden, der sah sich wieder mal bitter enttäuscht. Statt dessen hat Theo Waigel Ihr Haus sozusagen in einer feindlichen Übernahme unter seine Ägide gebracht. ({3}) Eine Studie der beiden größten Wohlfahrtsverbände bringt das Versagen dieser Politik auf den Punkt. Unter den problembeladenen Menschen, die die sozialen Dienste von Caritas und Diakonie, vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, in Anspruch nehmen, sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung - das wundert uns eigentlich schon gar nicht mehr - mehr junge Menschen, mehr Frauen, mehr Alleinerziehende. Einen überzeugenderen Beleg für das Scheitern der Jugend-, Frauen- und Familienpolitik kann es gar nicht geben. ({4}) Der Jahresbericht 1996 der Bundesregierung wiederholt gebetsmühlenartig die zentrale Rolle der Familienförderung innerhalb des Aufgabenkatalogs von Frau Nolte. Die Frau Ministerin hat es hier eben nochmals als ihre Herzensangelegenheit bezeichnet, Familien zu fördern. Doch welche Familie kann das noch glauben, wenn sie hört, was Sie hier heute vorgetragen haben? Der rituelle Verweis auf den Familienleistungsausgleich soll den Eindruck erwecken, als habe die Bundesregierung hier ihre Hausaufgaben auf Jahre im voraus gemacht. Doch der Lehrplan hat sich geändert. Der Leistungsausgleich, selbst das von der SPD durchgesetzte erhöhte Kindergeld, bleibt hinter den Erfordernissen zurück. Es ist schon gesagt worden - ich will es wiederholen, weil es leider wahr ist in diesem reichen Land -: Kinder gelten mittlerweile als Armutsrisiko. Die reale Kaufkraft der Familien ist dramatisch erodiert. Dies gilt besonders für Ostdeutschland. Wieder sagen Caritas und Diakonie: Auf 10 Sozialhilfeempfänger kommen 17 verdeckt Arme. Besonders hoch ist der Anteil bei Haushalten mit mehreren Kindern. Das Drama des Erziehungsgelds ist notorisch. Kollegin Hanewinckel hat bereits vorgetragen, daß sich seit 1996 nichts verändert hat. Ein wenig Bewegung in die Verhältnisse hat nun unser Insistieren gebracht; denn Frau Nolte hat sich des Themas bemächtigt und tönt öffentlich, eine Erhöhung der Einkommensgrenzen wäre erforderlich - immerhin. Gleichzeitig aber nickt sie am Kabinettstisch einen Beschluß ab, der Leistungsverbesserungen und damit auch die Anhebung der Einkommensgrenzen für den gesamten Rest der Legislaturperiode kategorisch ausschließt. ({5}) Frau Nolte, ich befürchte, nein, ich hoffe, diesen Fall von politischer Schizophrenie werden die Wählerinnen und Wähler für nicht therapiefähig halten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zu den Aussiedlern. Junge Aussiedler sind die Leidtragenden auch dieses Haushalts. Immer noch reduzieren sie sich für die Bundesregierung auf eine homogene kalkulatorische Größe in einer simplen Rechnung, die lautet: weniger Zuwanderer gleich weniger Ausgaben. Die Rechnung geht fehl. Der Anteil der jungen Menschen innerhalb der Neubürger steigt. Gleichzeitig sinken bei den Spätaussiedlern tendenziell die Sprachkompetenzen sowie die Kenntnisse von Gesellschaft und Kultur. Vor allen Dingen kommen sie in einer Zeit, in der die Katastrophe des ersten Arbeitsmarktes ihre Integration in ein selbständiges Erwerbsleben so gut wie ausgeschlossen macht. Es liegt also auf der Hand, daß die staatlich finanzierten Beratungs- und Integrationsangebote auf keinen Fall analog der Zuwandererzahl zurückgefahren werden können. ({6}) Die globale Minderausgabe im Haushalt 1997 wurde in Höhe von 35 Millionen DM bei dieser Gruppe abgeladen, wahrscheinlich deshalb, weil man wußte, daß hier artikulierte Gegenwehr am wenigsten zu erwarten ist. Die erneute Kürzung von Betreuungs- und Beratungsaufwendungen um 4 Millionen DM sowie die Reduzierung des Garantiefonds um 20 Millionen DM ist daher für uns völlig inakzeptabel. ({7}) Der Bundeskanzler, damals noch Oppositionsführer, hat im Jahre 1980 mit politisch kalkulierter Entrüstung die Latte aufgelegt, an der er sich heute messen lassen muß. Er hat damals gesagt - die Damen und Herren der Regierungsparteien sollten zuhören -: Eine Regierung, die einen Schuldenberg in dieser gigantischen Höhe auftürmt, muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht dabei ist, unserer Jugend das Recht auf ihre Zukunft zu nehmen und sich am Selbstbestimmungsrecht späterer Generationen zu versündigen. Hört! Hört!, muß man da sagen. Angesichts der Bilanz Ihrer Regierungszeit müßte Ihnen eigentlich die Schamesröte ins Gesicht steigen. ({8}) 1980 betrug die Neuverschuldung 27,6 Milliarden DM. Im laufenden Haushalt 1997 sind es 71,2 Milliarden DM, und immer noch stehen zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres Zehntausende von jungen Menschen unversorgt auf der Straße. Das sind junge Menschen, Frau Nolte, von denen Sie hier vor 20 Minuten gesagt haben, daß Sie ihnen unbedingt Lebensperspektiven zur Verfügung stellen möchten. Welche Folgen die hilflosen Appelle der Bundesregierung an die Wirtschaft haben, hat die Kollegin Hanewinckel ausgeführt. Ich will mir das wegen der Kürze der Zeit ersparen. Die Shell-Jugendstudie hat nicht nur in bedeutender Klarheit diagnostiziert, daß die gesellschaftliche Krise die Jugend und bereits auch die Kinder erreicht und zu massiven Zukunftsängsten geführt hat. Sie hat auch eine erschreckende Entfremdung von den Institutionen der Demokratie aufgedeckt. Wenn verdienstvolle Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International in der Gunst der jungen Menschen ganz oben rangieren, dann mag das zunächst optimistisch stimmen. Parlament, Regierung und Parteien jedoch am anderen Ende der Skala notiert zu sehen, verlangt nach einer Antwort. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich, im Kinder- und Jugendplan des Bundes ausgerechnet bei der politischen Bildung sowie bei den Jugendverbänden eine Stagnation zu verordnen. Die demokratiestabilisierende Arbeit der Bildungsträger sowie die demokratische Selbstorganisation der Verbände werden damit endgültig in die Lähmung geführt. Ihre Sonntagsappelle, Frau Ministerin Nolte, sollen vermuten lassen, daß es sich bei der immer schärferen Benachteiligung großer Gruppen unserer Gesellschaft sozusagen um eine Form höherer Gewalt handelt. Das ist falsch. Es dokumentiert nicht nur Ihre Hilflosigkeit, sondern leider auch Ihre Verantwortungslosigkeit. ({9}) Die Instrumente einer präventiven und ausgleichenden Familien- und Jugendpolitik liegen in Ihrer Hand. Nutzen Sie sie, und regieren Sie! In der vorliegenden Fassung ist dieser Haushalt nicht nur ein Dokument für die fachpolitische Ratlosigkeit, sondern auch für Stillstand und Agonie der Koalition. „Nichts geht mehr" in Bonn, hat der „Spiegel" jüngst festgestellt. Dies gilt in besonderem Maße für die Querschnittaufgabe, für die Frau Nolte verantwortlich zeichnet. Ich fordere Sie eindringlich auf, Frau Ministerin, dieses Zahlenwerk und damit Ihre gesamte Arbeitsgrundlage für 1998 zu überarbeiten. So werden wir diesen Regierungsentwurf nachdrücklich ablehnen. ({10})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen nicht vor. Vizepräsidentin Michaela Geiger Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, dem Einzelplan 10. Ich erteile dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert, das Wort.

Jochen Borchert (Minister:in)

Politiker ID: 11000233

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Einzelplan 10 des Bundeshaushaltes, den wir jetzt beraten, sind für 1998 rund 11,6 Milliarden DM vorgesehen. Das sind 1,8 Prozent weniger als im laufenden Jahr. Damit leistet der Agrarbereich auch im kommenden Haushaltsjahr wieder seinen Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Die erforderlichen Einsparungen sind schmerzlich. Selbstverständlich ist es angenehmer und leichter, Zuwächse zu verteilen, als Sparmaßnahmen vorzunehmen. Aber der jetzt vorliegende Entwurf setzt auch ein deutliches Zeichen. Er beweist, daß die Bundesregierung auch in Zeiten knapper Kassen zu unserer bäuerlichen Landwirtschaft steht. Wir haben die schwierige wirtschaftliche Situation, in der sich ein Teil der Betriebe, vor allem die Futterbaubetriebe, befindet, bei den Haushaltsberatungen berücksichtigt und bei den Sparmaßnahmen Augenmaß bewahrt. Die Einsparungen sind so gestaltet, daß sie für die Land- und Forstwirtschaft vertretbar sind. Das war angesichts der angespannten Finanzsituation nicht einfach. Der Haushalt gibt den Bauern in Nord und Süd, in Ost und West Planungssicherheit und eröffnet Zukunftsperspektiven. ({0}) So bleibt der Bundeszuschuß zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung auch 1998 mit 615 Millionen DM wieder stabil. ({1}) - Solange wir regieren. Das würde sich sicher ändern, wenn wir einmal nicht mehr regieren. ({2}) Die Bundesregierung setzt damit ihren Weg fort, die Mittel prioritär dort einzusetzen, wo sie bei den Bäuerinnen und Bauern unmittelbar ankommen und kostenentlastend für die Betriebe wirken. Die Kostenentlastung durch die Agrarsozialpolitik trägt in vielen Betrieben maßgeblich dazu bei, Eigenkapital zu bilden, das für betriebliche Investitionen und für die Zukunftssicherung der Betriebe benötigt wird. Wie in allen Bereichen unserer Wirtschaft brauchen wir auch in der Landwirtschaft Investitionen zur Sicherung von Arbeitsplätzen. Wer sich für den Beruf des Landwirts entscheidet, muß eine gehörige Portion Idealismus mitbringen. Aber vom Idealismus allein können unsere Bäuerinnen und Bauern nicht leben. Auch wenn der Gedanke so manchem Agrarromantiker nicht behagt: Landwirtschaft muß sich lohnen. Die Betriebe müssen ordentliche Gewinne abwerfen, um den Familien ein angemessenes Einkommen zu sichern, aber auch um Investitionen für die betriebliche Weiterentwicklung finanzieren zu können. Wie jeder Unternehmer muß auch ein Landwirt die Chancen und Risiken abschätzen können, wenn er Investitionsentscheidungen trifft. Mit einem Stallneubau oder der Anschaffung neuer Maschinen wird nun einmal viel Kapital gebunden und die betriebliche Ausrichtung langfristig festgelegt. Damit unsere Bauern auf Jahre hinaus nachhaltig planen können, muß Agrarpolitik langfristig angelegt und verläßlich sein. Deshalb bleibe ich dabei: Es ist nicht zumutbar, unseren Bäuerinnen und Bauern alle paar Jahre eine neue Agrarpolitik überzustülpen - erst recht nicht in solchen Bereichen, in denen sich die bisherige Agrarpolitik bewährt hat. ({3}) Die Vorschläge zur zukünftigen Gemeinsamen Agrarpolitik, die die Kommission Mitte Juli mit der Agenda 2000 vorgelegt hat, werden diesem Anspruch aber nicht gerecht. ({4}) Genau das habe ich in meiner ersten Reaktion zur Agenda bemängelt. ({5}) Wie sich erst vor wenigen Tagen bei einem informellen Agrarministertreffen in Luxemburg wieder gezeigt hat, haben die meisten Mitgliedstaaten ebenso wie wir erhebliche Probleme mit den Vorstellungen der Kommission. ({6}) Bevor man in die Diskussion um die Details dieser Agenda einsteigt, muß man sich über den Maßstab zur Beurteilung der Vorschläge im klaren sein. Deshalb müssen wir zunächst die Frage beantworten, welche Aufgaben die Landwirtschaft in Zukunft zu erfüllen hat. Anders ausgedrückt: Welche Leistungen erwartet die Gesellschaft von der Landwirtschaft? Ich denke, wir sind uns einig: Was unsere Landwirtschaft im Vergleich zu den Farmen in anderen Teilen der Welt besonders auszeichnet, ist ihre Multifunktionalität. Bei uns in Europa ist Landwirtschaft weitaus mehr als die möglichst effiziente Produktion von Agrarrohstoffen. Natürlich ist und bleibt die Erzeugung von Nahrungsmitteln zur Versorgung der Verbraucher in Europa, aber auch zur Versorgung einer weltweit wachsenden Bevölkerung, auch in Zukunft die zentrale Aufgabe der Bauern. Aber dabei geht es nicht nur um die Sicherung einer Grundversorgung. Die Landwirtschaft muß sich auch bemühen, den immer anspruchsvoller werdenden Erwartungen im Hinblick auf Produktsicherheit und -qualität, Gesundheitsschutz, Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit der Produktion sowie artgerechte Tierhaltung gerecht zu werden. Darüber hinaus erwartet man von der Landwirtschaft, daß sie auch weiterhin gesellschaftliche Leistungen erbringt, die bisher quasi als Koppelprodukt der Landbewirtschaftung anfallen, für die es aber keinen Markt gibt. Das sind zum Beispiel die Pflege und Erhaltung der Kulturlandschaft, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Stabilisierung des ländlichen Siedlungs- und Wirtschaftsraumes. Für mich steht zweifelsfrei fest: Diese Ziele lassen sich am besten mit einer leistungsfähigen und umweltorientierten Landwirtschaft erreichen. Genau das ist unsere bäuerliche Landwirtschaft, so wie sie aus der Tradition der nachhaltigen Bewirtschaftung des Familienbetriebes erwachsen ist. Dieses bäuerliche Selbstverständnis ist heute in Betrieben ganz unterschiedlicher Größe und Rechtsform anzutreffen. Was die Zielvorstellungen angeht, besteht zwischen uns und der Kommission kein Dissens. Aber sind die Vorschläge der Agenda 2000 wirklich geeignet, diese Ziele zu erreichen? Daran habe ich erhebliche Zweifel. Diese Ziele sind die entscheidenden Kriterien für die Beurteilung aller Vorschläge zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik - auch zur Beurteilung der Agenda 2000, die die Kommission Mitte Juli präsentiert hat. Für uns sind die Kommissionsvorschläge in ihrer jetzigen Form in weiten Teilen unannehmbar, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens, weil sie faktisch nicht die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft fördern. Denn Wettbewerbsfähigkeit erreicht man nicht, indem man die Preise senkt, sondern indem man die Kosten senkt, das heißt, billiger produziert. Zweitens, weil die Umsetzung der Vorschläge in der vorliegenden Form vielfach zu einer einseitigen Benachteiligung der bei uns in Deutschland vorherrschenden Produktionsverfahren und damit zu erheblichen Einkommenseinbußen für die Bauern in Deutschland führen würde. Drittens, weil sie Bauern noch abhängiger von staatlichen Transferleistungen machen würden - und das, obwohl schon heute die Agrarausgaben oft im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik stehen. Wir müssen alles tun, damit Landwirte auch in Zukunft den Hauptteil ihres Einkommens über den Markt erwirtschaften. ({7}) Viertens, weil sich die Kommission damit praktisch von den bewährten Prinzipien der Agrarreform von 1992 verabschiedet. Hinzu kommt noch: Falls die Kommissionsvorschläge so, wie sie jetzt auf dem Tisch liegen, umgesetzt würden, hätte das eine weitere Ausdehnung des europäischen Agrarhaushaltes und eine weitere Verschlechterung unserer Nettozahlerposition zur Folge. Dies kann nicht in unserem Interesse liegen. ({8}) - Nach den eigenen Vorschlägen und Berechnungen der Kommission bedeutete dies Mehrausgaben für den europäischen Agrarhaushalt von 8 Milliarden DM, das heißt, dies wäre keine Senkung des Anteils der Agrarausgaben am europäischen Haushalt, sondern eine Erhöhung. Auch die Begründung der Kommission für ihre Vorschläge - der Hinweis auf die nächste WTO- Runde ab 1999 und die möglichen Überschußprobleme nach dem Jahr 2000 - sind wenig überzeugend. Was die nächste WTO-Runde angeht, halte ich es für falsch, schon heute ohne Not Verhandlungsspielraum preiszugeben. Die Kommission tut so, als stünden die Ergebnisse der nächsten Welthandelsrunde schon fest. Man kann nicht, ohne daß diese Runde überhaupt begonnen hat, geschweige denn die Ergebnisse feststehen, heute bereits Positionen zur Diskussion stellen. Der richtige Weg besteht darin, daß wir in der Europäischen Union unsere eigenen Verhandlungsziele festlegen. Dabei sollten wir nicht nur über Marktöffnung, über den Abbau von Agrarförderung oder über Liberalisierung des Handels sprechen, sondern unsere Forderungen auch in den Bereichen festlegen, in denen es um die Durchsetzung verbindlicher Standards im Hygiene- und Umweltbereich sowie eines vorbeugenden Verbraucherschutzes geht. ({9}) Wir müssen erreichen, daß wir die Anforderungen an unsere Produkte, die sich aus den Vorschriften, die wir in Europa haben, ergeben, auch an Importprodukte stellen. Wenn wir in Europa den Einsatz von Hormonen etwa in der Rindfleischproduktion verbieten, kann es nicht angehen, daß wir Fleisch, das mit dem Einsatz von Hormonen produziert worden ist, importieren sollen. Die gleichen Bedingungen müssen auch für Importprodukte gelten. ({10}) Wir müssen diese Ziele und Forderungen im Laufe der Verhandlungen energisch vertreten. Erst wenn der Ausgang der Verhandlungen absehbar ist, erst wenn die notwendigen Schlußfolgerungen für unsere eigenständige Agrarpolitik in Europa gezogen werden können, erst dann können wir Veränderungen einleiten, wie wir dies auch bei den GATT-Verhandlungen 1992 getan haben. Auch die pessimistischen Erwartungen der Kommission bezüglich neuer Überschüsse sind aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, vor allem nicht im Getreidesektor. Hier sind sich nahezu alle Marktexperten einig: Die weltweite Nachfrage nach Nahrungsmitteln wird in den kommenden Jahren zunehmen. Die Weltbevölkerung und die Kaufkraft wachsen weiter. Deswegen gehen die meisten Institutionen und Marktexperten davon aus, daß das PreisniBundesminister Jochen Borchert veau im Getreidesektor auf dem Weltmarkt auf oder oberhalb der Höhe der Interventionspreise der Europäischen Union liegen wird, wie wir dies auch in den vergangenen Jahren erlebt haben. ({11}) Auf dem Rindfleischmarkt besteht dringender Handlungsbedarf. Hier müssen wir - unabhängig von der Agenda 2000 - Veränderungen möglichst schnell beschließen. Wir brauchen Maßnahmen zur Marktentlastung, damit die Probleme im Interesse der Produzenten und im Interesse der Steuerzahler gelöst werden können. Die Beratungen über den Agrarteil der Agenda 2000 werden im Mittelpunkt der agrarpolitischen Diskussionen in den vor uns liegenden Monaten stehen. Hier werden entscheidende Weichen für die Zukunft unserer bäuerlichen Landwirtschaft weit über das Jahr 2000 hinaus gestellt. Für mich sind bei den weiteren Beratungen folgende Eckpunkte maßgebend: Die bewährten Prinzipien der Agrarreform von 1992 sind beizubehalten und müssen behutsam weiterentwickelt werden. Soweit bei bestimmten Produkten eine Rücknahme des Stützungsniveaus erforderlich ist und dadurch Einkommensverluste entstehen, müssen diese vollständig und nicht nur zum Teil ausgeglichen werden. Diese Ausgleichszahlungen müssen langfristig abgesichert sein. Es darf nicht dazu kommen, daß wir Jahr für Jahr bei den Preisverhandlungen um die Höhe der Ausgleichszahlungen feilschen müssen. Wir werden auch in der kommenden Woche bei der Agrarministerkonferenz der Länder über die Agenda 2000 beraten. ({12}) - In Husum, Herr Kollege. Wir freuen uns auf die Beratungen in Schleswig-Holstein. - Ich bin zuversichtlich, daß die Länder meine Verhandlungslinie unterstützen werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Interesse unserer Bäuerinnen und Bauern müssen wir in Brüssel mit einer Stimme sprechen und dürfen nicht den Eindruck vermitteln, als könne man uns auseinanderdividieren. Wir müssen unseren Bäuerinnen und Bauern im Hinblick auf die Zukunft der Gemeinsamen Agrarpolitik genauso Planungssicherheit verschaffen, wie wir es mit dem Haushalt 1998 für das nächste Jahr tun. Dabei setze ich auf Ihre Unterstützung! Herzlichen Dank. ({13})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Horst Sielaff, SPD- Fraktion.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „So kann es nicht weitergehen" - diese Titelüberschrift des ,,Spiegel"-Gesprächs der Woche mit Altbundespräsident Richard von Weizsäkker ({0}) trifft, wie ich meine, voll und ganz auf die Agrarpolitik dieser Bundesregierung zu. ({1}) Wenn man die vielen, teilweise sogar schönen Reden des verantwortlichen Landwirtschaftsministers liest oder hört, sieht das ganz anders aus. Natürlich werden da die Verdienste des Ministers hervorgehoben und großgeschrieben. ({2}) Es scheint dann teilweise sogar so, als wäre Borchert der Erfolgsgarant überhaupt. ({3}) - Nur, in Bayern hat man das offensichtlich noch nicht ganz gehört, lieber Kollege Michels, denn die Realität ist natürlich ganz anders. Das wissen auch die Bäuerinnen und Bauern. Wo sollten sie auch Erfolge feststellen, wenn sie auf ihrem Rindfleisch sitzenbleiben, die Auszahlungspreise für Milch immer geringer werden, ein Fleischskandal den anderen ablöst und Kontroll- bzw. Qualitätssicherungssysteme erst dann eingeführt oder verbessert werden, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist? ({4}) Meine Damen und Herren, über weite Strecken ist diese Politik Ideen- und konzeptionslos. Das zeigt auch dieser Haushalt. Offene konzeptionelle Pionierarbeit ist Fehlanzeige. ({5}) Herr Borchert, ich habe den Eindruck, Sie entwikkeln sich zum bockigen Neinsager innerhalb der EU. ({6}) Schon 1991/92 wollte diese Bundesregierung die EU- Agrarreform verhindern. 1997 blockieren Sie, wenn es um die Agenda 2000 geht. Heute wie damals wird alles abgelehnt, was die EU-Kommission vorschlägt. ({7}) So zu tun, als ob durch einen Verzicht auf Reformen alles beim alten bliebe, kommt einer Lüge gleich. ({8}) So schrieb Kommissar Fischler in der FAZ vom 27. August dieses Jahres. ({9}) Eigene Vorstellungen, wie die Zukunft der Landwirtschaft zu bewältigen ist, hat der verantwortliche Minister nicht. Auch heute ist dazu nichts Konkretes gesagt worden. Er sagt nicht, wie die sichtbaren Fehlentwicklungen der Agrarreform von 1992 korrigiert werden sollen. Er hat kein tragfähiges Konzept für die bevorstehenden WTO-Verhandlungen, wie wir auch heute wieder spürten. Er hat kein Konzept für die bevorstehende, von allen politischen Kräften befürwortete Osterweiterung der Europäischen Union. Meine Damen und Herren, natürlich stehen die Ergebnisse der WTO-Verhandlungen noch nicht fest. Aber man muß doch ein eigenes Konzept haben, und man muß es doch im Parlament und im zuständigen Ausschuß diskutieren. Auch da weigert sich diese Bundesregierung, so daß man davon ausgehen muß, daß sie kein Konzept hat. ({10}) Natürlich wollen wir gleiche Umweltstandards. Das haben wir immer gefordert. Auch wir wollen, daß die Ökologie gleichermaßen Standardwert in der WTO wird. Aber wir hören nicht, daß Sie dies deutlich wollen und einbringen. ({11}) Meine Damen und Herren, heute wie auch schon vor der Agrarreform 1992 hält diese Bundesregierung an der Mengensteuerung fest. Sie ist gegen Stützpreissenkungen. Sie setzt weiterhin vorwiegend auf Mengenbegrenzungen. Sie setzt im Grunde auf Planwirtschaft. ({12}) Sie mißtraut marktwirtschaftlichen Kräften. ({13}) Sie mißtraut den unternehmerischen Landwirten. Herr Borchert, trauen Sie den Landwirten eigentlich gar nichts mehr zu? Mir scheint, Sie unterschätzen den Willen der Landwirtschaft, den Weg hin zu einer umweltverträglichen und marktorientierten Produktion zu gehen. Unterstützung von Ihrer Seite ist nicht erkennbar. Ein ganz trauriges Spiel treibt die Bundesregierung hinsichtlich der Auswirkungen der Agenda 2000 auf die Einkommen der Landwirtschaft - so sie denn umgesetzt wird. Am 17. Juli 1997 prognostizierte Herr Borchert auf einer Pressekonferenz 15 bis 20 Prozent Einkommensverluste für die deutsche Landwirtschaft. Am 11. August 1997 teilte er dem Parlament jedoch auf Grund einer Anfrage mit, hierzu keine Aussagen machen zu können. Seitdem wiederholt er seine Unkenrufe über die 15- bis 20prozentigen Einkommensverluste bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Nun pfeifen es allerdings die Spatzen vom Dach, daß der Einkommensrückgang in Deutschland bei Inkrafttreten der Agenda 2000 nach anderen Berechnungen glücklicherweise im Durchschnitt lediglich 2 bis 4 Prozent betragen soll. Allerdings gibt es zum Teil starke betriebsgruppen- und regionsspezifische Unterschiede. Wissenschaftler, die auf der Lohnliste des BML stehen, haben das berechnet.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter Sielaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Deß?

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sielaff, wie bewerten Sie die Aussage des SPD-Landwirtschaftsministers Funke aus Niedersachsen, der am 18. Juli 1997 in einer Presseinformation mitgeteilt hat: Agrarmaßnahmen der Agenda 2000 sind Kampfansage an den ländlichen Raum.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Deß, es ist richtig, daß das eine oder andere heftig diskutiert oder kritisiert werden kann. ({0}) Auch wir kritisieren, daß der Ansatz der Agrarreform nicht durchgesetzt worden ist. Aber Sie wissen genau, daß sich diese Aussage auf einen einzigen Punkt konzentriert, der wahrscheinlich jetzt in Husum verhandelt wird, und nicht auf die gesamte Agrarreform. Sie wissen, daß wir Sozialdemokraten immer die Reform der Agrarreform gefordert haben. ({1}) Meine Damen und Herren, wir wollen, daß die Berechnungen des Agrarministers endlich auf den Tisch gelegt werden und daß die Berechnungen der Wissenschaftler dazukommen; denn nur so können wir, Parlament, Berufsvertretungen und Betroffene, in einem offenen Dialog die Vorstellungen der EU- Kommission zur Agenda 2000 analysieren, wenn erforderlich, Änderungen in Brüssel eingeben und, wenn möglich, gemeinsam durchzusetzen versuchen. ({2}) Aber, wenn wir die Informationen nicht auf dem Tisch liegen haben, geht das wohl nicht. ({3}) Ihre Taktik, Herr Borchert, ist zu durchsichtig: Brüssel in der Öffentlichkeit als Buhmann hinstellen und in der Hoffnung draufschlagen, die Bauern würden das am Wahltag honorieren. Zu guter Letzt stimmen Sie aber doch zu, genauso wie bei der Agrarreform 1992 Ihr Vorgänger Ignaz Kiechle. Vollends unverständlich und offensichtlich vom Wahlkampffieber mitgenommen verhält sich der Bundeskanzler. Laut „Berliner Zeitung" vom 8. September 1997 hat er Allgäuer Milchbauern zugesagt - ich zitiere -: ... sich offenbar persönlich gegen die geplante Agrarreform in der Europäischen Union einzusetzen. ... Kohl habe außerdem Planungen für eine bäuerliche Modellregion im Allgäu in Auftrag gegeben. Dort sollten unabhängig von Brüsseler Regelungen neuartige Prämien- und Subventionspraktiken erprobt werden. Wie mit einer solchen Politik die von Kohl favorisierte Osterweiterung der Europäischen Union realisiert werden soll, steht in den Sternen: weniger Geld in den Kassen, mehr Aufgaben und die Osterweiterung - da paßt einiges, meine ich, nicht zusammen. ({4}) Es gibt eine ganze Menge Zitate. Ich könnte auch noch die ,,Passauer Nachrichten" und andere Zeitungen zitieren, wonach der Bundeskanzler die Landwirte sogar auffordert, ein Konzept vorzulegen. Wörtlich zitiert: Kohl habe die Bauern aufgefordert, auch unter Mißachtung etwaiger rechtlicher Hürden Vorschläge zu unterbreiten, wie die Situation der Grönlandbetriebe verbessert werden könne. Er, Kohl, werde dafür sorgen, daß das Konzept auch die Zustimmung dann der Brüsseler finde. - So redet draußen die Regierungskoalition, und hier legt sie nichts auf den Tisch; hier tut sie so, als wäre sie nicht beteiligt. ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, nach der Presseschau, die Sie hier veranstalten ({0}) von FAZ, über „Berliner Zeitung" bis hin zu den „Passauer Nachrichten", möchte ich fragen: Wann werden wir in Ihrer Rede nun erfahren, was die Sozialdemokraten wollen?

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein lieber Kollege, wenn Sie a) schon zugehört hätten, hätten Sie einige sehr brisante Aussagen gehört, ({0}) und b) werden Sie weitere hören, wenn Sie bereit sind zuzuhören, und nicht nur zählen, wieviel Zeitungen zitiert werden. Diese Zitate zeigen, daß der Landwirtschaftsminister in der Tat hier etwas völlig anderes erzählt als das, was beispielsweise der Kanzler draußen erzählt. Ich würde Ihnen als Koalitionspartner raten, genauer zu lesen, was Ihr Kanzler draußen den Bauern alles verspricht. ({1}) Dann legen Sie einmal das Finanzierungskonzept vor. Das ist schon interessant. ({2}) Mit einem Nein zur Weiterführung der EU-Agrarreform steuern die Bundesregierung und der verantwortliche Minister geradezu, wie ich meine, in die Isolation, worauf die „Wirtschaftswoche" hinweist. Recht hat sie, wie ich meine. ({3}) Wir Sozialdemokraten unterstützen die Grundzüge der Agenda 2000, ({4}) die Rückführung der Stützpreise und den entsprechenden Ausgleich über direkte Einkommensübertragungen, die wir allerdings - wo irgend möglich - nach ökologischen und sozialen Kriterien vergeben sehen wollen. ({5}) Landwirtschaft braucht zur Erhaltung der Subventionen die Akzeptanz der Gesellschaft. Auch die WTO-Verhandlungen verlangen von uns neue Ideen. Zuletzt darf eine verantwortliche Agrarpolitik auch die Interessen der Dritten Welt nicht aus den Augen verlieren. Fehlentwicklungen, wie die auf afrikanische Märkte geworfenen EU-Rindfleischüberschüsse, müssen zukünftig dringend verhindert werden, wenn wir nicht wollen, daß dort weiter gewachsene Strukturen zerstört werden. ({6}) Wir teilen nicht in allen Einzelheiten die Vorstellungen der EU-Kommission. Die Ausgleichszahlungen müssen green-box-fähiger werden. Das System muß einfacher werden. Daher halten wir nichts von der Einführung neuer Einzelprämien, wie der geplanten Kuhprämie. Wir treten für eine Prämie ein, die sowohl Ackerland als auch Grünland umfaßt und die die Beschäftigungssituation in den ländlichen Räumen berücksichtigt. Eine Reform der Strukturfonds halten wir ebenfalls für dringend geboten. Allerdings treten wir für ein eigenständiges Ziel zur Entwicklung der ländlichen Räume und der Agrarstruktur bzw. der Landwirtschaft ein. So dürfte es eher möglich sein, das Konzept einer nachhaltigen und damit umweltverträglichen Landwirtschaft sowie eine nachhaltige integrierte Entwicklung ländlicher Räume durchzusetzen. Zu meinem Bedauern ist die Bundesregierung in keiner Weise lernfähig. ({7}) Die Milchgarantieregelung ist dafür ein Beispiel. Die Quote wurde 1984 auf Druck der Bundesregierung mit dem Ziel eingeführt, die Milchmengen zu begrenzen. Hohe Erzeugerpreise sollten dadurch gesichert werden. Die Mengenbegrenzung gelang trotz hohen Finanzaufwands nicht. ({8}) In Europa haben wir 15 bis 20 Prozent zuviel Milch. Seit 1989 sind die Milchpreise im Sinkflug, ohne daß bisher eine weiche Landung absehbar ist. Die in 13 Jahren vorgenommenen über 30 Änderungsverordnungen zur Grundverordnung der deutschen Ausbringung der Garantiemengenregelung Milch sprechen für sich. Der planwirtschaftliche Ansatz dieser Bundesregierung ist gescheitert. ({9}) Trotzdem setzt sie weiter auf die gleiche Politik. Sie nimmt nicht zur Kenntnis, daß bereits heute gut entwickelte Milchviehbetriebe nahezu zu Weltmarktbedingungen produzieren könnten, ({10}) - hören Sie zu -, wenn die Kapitalkosten für Kauf, Pacht und Leasing von Quoten bei sinkenden Milchauszahlungspreisen nicht derart hoch wären. In der Tat, in der Landwirtschaft ist die Diskussion, wie ich meine, sehr unterschiedlich und differenziert. Aktive Milcherzeuger benötigen keine Mengenbegrenzung, die durch politische Festlegung einen Wert erhält, gehandelt wird und die Einkommen wegen hoher Kapitalkosten verringert. Wenn Mengenbegrenzung, dann in Zukunft nur als Lieferrecht, also als ein Recht, das zeitlich begrenzt vergeben wird ({11}) und zurückzugeben ist, wenn die Produktion eingestellt wird. Wir können bei leeren Haushaltskassen in Brüssel und Bonn nicht weiter Eigentum subventionieren und die Einkommenspolitik zugunsten der Landwirte sozialisieren. Die Agrarpolitik dieser Bundesregierung ist ideenund konzeptionslos. Das trifft im besonderen für die national zu bestimmende Förderpolitik zu. Dazu ein Beispiel: Mit diesem Haushaltsentwurf werden die Bundesmittel zur Förderung von Investitionen in der Landwirtschaft und in den Dörfern erneut gekürzt. Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, verhindern damit wichtige Investitionen zur Verbesserung der Wettbewerbssituation in landwirtschaftlichen Unternehmen. Sie verhindern damit die Verbesserung der Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen. Dieser Finanzabbau ist nicht zuletzt ein Beitrag zur Verschlechterung der Beschäftigungssituation insbesondere in schwach strukturierten ländlichen Gebieten. Wie die Situation aussieht, zeigen die Zahlen in Bayern, wo beispielsweise im Jahre 1996 nur noch 9,6 Prozent der gesamten Mittel für neue Bewilligungen für Investitionen zur Verfügung standen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Köhler? Ihre Redezeit ist nämlich gleich vorbei; deshalb muß ich sie noch vorher fragen.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte keine Zwischenfrage mehr zulassen. Dieser Anteil betrug in Baden-Württemberg 12,4 Prozent. Aktive Politik zugunsten von landwirtschaftlichen Unternehmen und ländlichen Räumen ist in diesen Ländern nicht mehr möglich. Auch das ist ein Ergebnis der Ideen- und konzeptionslosen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser Bundesregierung in den letzten Jahren. Meine Damen und Herren, wir haben auch gefordert, daß alle Ausgaben und Hilfen, die im Haushaltsentwurf vorgesehen sind, einmal überprüft werden sollen. Dies ist im Ausschuß zugesagt worden. Wir warten noch auf das Ergebnis. Wir wollen damit nicht Gelder kürzen. Aber wir wollen feststellen, wo wir die Mittel effektiv und zielgenauer einsetzen können, weil wir alle wissen, daß nicht mehr Mittel für die Landwirtschaft zur Verfügung stehen werden. Also müssen wir sie zielgerecht und sinnvoll einsetzen. Wir sind dazu bereit. Herr Minister, legen Sie endlich konkrete Vorschläge auf den Tisch, so daß wir entscheiden können, wo wir gemeinsam sinnvoll zukunftsträchtige Agrarpolitik betreiben können. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein, CDU/CSU-Fraktion.

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf die unvorstellbaren Aussagen von Horst Sielaff eingehe, ({0}) lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ich halte es, nachdem das Kabinett den Haushaltsentwurf vorgelegt hat und der Agrarhaushalt um 1,8 Prozent gekürzt wurde, für richtig, daß die Bauern in der Bundesrepublik Deutschland zur Konsolidierung der schwierigen Finanzen beitragen. Aber nach den Ausführungen von Horst Sielaff - ich dachte, ich wäre auf einer anderen Veranstaltung Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein muß ich Sie einmal fragen, lieber Horst Sielaff, ob Sie überhaupt einmal an einer Bauernversammlung teilgenommen haben. ({1}) Ich muß folgendes feststellen. Wir haben in diesem Jahr in Teilbereichen eine ausgesprochen gute Ernte gehabt. Wir haben hervorragende Ergebnisse bei den Veredlungsbetrieben - auch das muß einmal gesagt werden -, und wir haben große Probleme bei Rindfleisch und Milch. Lieber Herr Sielaff, Sie sprachen von Fleischskandalen. Dann dürfen Sie aber nicht dem Kabinett oder dem Parlament irgendeinen Vorwurf machen, ({2}) sondern müssen die Händler, die im Augenblick englisches - Rindfleisch über verschiedene dubiose Kanäle auf dem Schwarzmarkt kaufen, kontrollieren und beobachten. ({3}) - Eventuell auch Tony Blair, ({4}) der verantwortlich ist und mit seinem Landwirtschaftsminister dafür Sorge tragen sollte, daß dies verhindert wird. ({5}) Sie haben gesagt, Herr Sielaff, daß der Minister überhaupt kein Konzept habe und sich negativ zur Agenda 2000 ausgesprochen habe. ({6}) - Und abgelehnt hat. - Gott sei Dank hat er dies getan. Denn die augenblicklichen Vorstellungen in dem Kommissionspapier sind für die deutsche Landwirtschaft nicht tragbar. Ich bringe einmal ein Beispiel. In diesem Jahr - das muß der Bevölkerung einmal gesagt werden - sind die Getreidepreise schon um 10 bis 15 Prozent zurückgegangen. Zum erstenmal liegt in der Bundesrepublik der Preis bei Roggen unter 20 DM pro Doppelzentner. Wir sind in diesem Bereich wettbewerbsfähig und tun etwas. Im Papier der Kommission steht unter anderem, daß Betriebe, die hier funktionsfähig sind und eigentlich die Landwirtschaft in Zukunft aufrechterhalten sollen, die gut geführten landwirtschaftlichen Betriebe, die mit über 5000 Liter Milch pro Kuh alles in Ordnung haben, in Zukunft dafür bestraft werden, daß sie ihre Betriebe gut strukturiert haben. Wir sind in großen Teilen dieser Bundesrepublik wettbewerbsfähig. Auch darauf ist der Minister klar und deutlich eingegangen. Wenn wir von Subventionen sprechen, lieber Herr Sielaff, dann müssen wir natürlich auch die Subventionen anschauen, die in Amerika, in Japan und in anderen Ländern, die nicht in der Europäischen Gemeinschaft sind, gezahlt werden. Es ist sehr wichtig, auch darauf einmal einzugehen. Festzustellen ist, daß die Ausgaben im Bereich der landwirtschaftlichen Sozialpolitik jährlich drastisch steigen und aus diesem Grund für andere Aufgaben, wie zum Beispiel die Verbesserung der Agrarstruktur, Gelder in Zukunft knapper werden. Ich werde gleich darauf eingehen. Die Agrarsozialpolitik war aber seit Anfang der 50er Jahre auch eine wichtige Säule nationaler Agrarpolitik. Eine wirksame soziale Flankierung des rasant ablaufenden agrarstrukturellen Wandels wird auch in Zukunft notwendig sein, um den inneren Frieden in unserem Land zu bewahren, der ein wesentlicher Eckpfeiler unseres Wohlstandes ist und bleiben wird. Wir müssen uns bei immer weniger Haushaltsmitteln aber entscheiden, ob wir den Sozialstaat reformieren oder den Niedergang der Volkswirtschaft verwalten wollen. ({7}) - Ich will dir gerade einmal sagen, lieber Horst, wer diesen Satz gesagt hat - der Satz ist sehr bedeutend -, ich habe ihn schon viele, viele Male auf großen Veranstaltungen in der Sommerpause gesagt -, nämlich ein berühmter Sozialdemokrat und der jetzige Premierminister in England, Tony Blair. Das heißt: Knappe Kassen werden immer Anlaß geben, die finanzielle Ausstattung der landwirtschaftlichen Sozialpolitik kritisch zu prüfen. ({8}) Dabei sind - dies liegt auf der Hand - die Mittel für die gesetzlich nicht abgesicherten Ausgaben natürlich eher gefährdet. Ich denke hier auch an die Unfallversicherung - 615 Millionen DM für die Berufsgenossenschaftsbeiträge - und darf mich ganz herzlich bei unserem Minister und unserem Kanzler bedanken, daß die 615 Millionen DM 1998 gezahlt werden. ({9}) Agrarsozialpolitik ist auch langfristig finanzierbar, wenn folgende Grundsätze beachtet werden: Erstens. Die Notwendigkeit, die Abgabenbelastung der Bürger zurückzuführen, und immer knapper werdende Spielräume öffentlicher Haushalte zwingen auch die landwirtschaftliche Sozialversicherung dazu, die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit noch stärker zu beachten. Zweitens. Die Ausgabenentwicklung der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger ist besonders transparent zu machen und ständig zu überprüfen. ({10}) Drittens. Angesichts eines zukünftig weiter steigenden Finanzierungsanteils des Bundeshaushalts am Alterssicherungssystem der Landwirte gilt es, noch mehr als in der Vergangenheit Mißbräuche zu verhindern. Viertens. Die Bundesregierung, vertreten durch den BML, muß deshalb als Hauptfinanzier des AdL danach drängen, aufsichtsrechtliche Zuständigkeiten und Zuständigkeiten bei der Genehmigung des Haushalts und der Stellenpläne zu erhalten. Dies ist auch die Forderung - Frau Janz weiß es - des Bundesrechnungshofes. Dieser Sachverhalt bedarf gesetzlicher Änderungen. Darüber muß schnellstens nachgedacht werden. Ich rate allerdings den landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträgern, sich möglichst sehr schnell zusammenzusetzen, um zu überlegen, wie wir eine schlankere Organisationsstruktur ermöglichen können. ({11}) Für mich heißt Schlankmachen allerdings nicht nur Strukturverbesserung in EDV-Zusammenlegungen. Ich habe mit vielen in der Bundesrepublik klare Signale gegeben. Ich akzeptiere nicht mehr, wenn in Bayern fünf und in Niedersachsen drei Berufsgenossenschaftsstandorte vorhanden sind und keine Bereitschaft besteht, in Zukunft gemeinsam etwas zusammenzulegen. ({12}) Unsere wenigen Haupterwerbsbetriebe sind nicht in der Lage, in Zukunft die riesigen, immensen Verwaltungseinheiten und auch die Menschen, die darin arbeiten, zu finanzieren. Wenn ich jetzt zu den Gemeinschaftsaufgaben komme, bedauere ich sehr, daß durch die Dynamik der Sozialausgaben die verbleibenden Spielräume für Marktstrukturverbesserungen und Ausgleichszulagen zunehmend enger werden. Bedingt durch die drastischen Mittelkürzungen haben sich die Neubewilligungsmöglichkeiten natürlich erheblich verschlechtert. 1998 liegen die Altverpflichtungen laut Angaben der Länder schon bei 1,17 Milliarden DM bei einem Plafond von 1,7 Milliarden DM. Das heißt, daß praktisch schon 69 Prozent des Gesamthaushalts festgelegt sind. In Zukunft ist aus meiner Sicht sehr wichtig, daß man sich im Planmarkt darüber einig wird, wie man die immer weniger werdenden Mittel gewissenhaft und gewinnbringend für die landwirtschaftlichen Betriebe einsetzen kann. Generell möchte ich zu den Gemeinschaftsaufgaben am Schluß sagen, daß wir uns in der Koalition überlegen, wie wir in diesem Bereich nachbessern können. Denn ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß es ganz, ganz wichtig ist, daß wir für die Bauern im investiven Bereich und auch zur Standortsicherung der vor- und nachgelagerten Unternehmen weitere Möglichkeiten eröffnen müssen. Lassen Sie mich noch zu einem Punkt kommen, und zwar zu den Kosten der Gemeinschaftsaufgaben. Diese Kosten werden wir traditionell erst zur Bereinigungssitzung ansprechen und lassen sie bis dahin offen. Zum Schluß lassen Sie mich noch etwas zu den Selbstbewirtschaftungsmitteln sagen. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung verfügt über Selbstbewirtschaftungsmittel in Höhe von 1,13 Milliarden DM, die sie in erster Linie zur Finanzierung der Warengeschäfte einsetzt, zum Beispiel für Interventionen und nationale Bevorratungen. Soweit die Selbstbewirtschaftungsmittel für diesen Zweck nicht vollständig ausgeschöpft werden, werden sie zur Spitzenfinanzierung von EU-Marktordnungsausgaben verwendet. Angesichts der auf Grund der angespannten Haushaltslage immer enger werdenden Handlungsspielräume bin ich der Auffassung, daß die haushaltsmäßigen Voraussetzungen geschaffen werden sollten, diese Mittel im Haushaltsjahr 1998, Herr Minister, eventuell für das Haushaltsjahr 1999 zu verwenden, insbesondere auch deswegen, weil die SPD seit Jahren beklagt, lieber Horst Sielaff, daß diese Mittel als Schattenhaushalt im Einzelplan 10 zur Verfügung stehen. Daher gehe ich davon aus, daß auch Sie als Opposition der Rückführung dieser Mittel zustimmen werden, die wenig Chancen haben, eingesetzt zu werden. Lieber Herr Sielaff, weil Sie gesagt haben, die Bauern würden im nächsten Jahr bei den vielen Landtagswahlen und bei der Bundestagswahl der Koalition eine Quittung erteilen, kann ich Ihnen nur versichern: In den acht Wochen der Sommerpause habe ich viele Veranstaltungen besucht. Ich gehe mit der felsenfesten Überzeugung, ja, mit der Gewißheit in die nächsten Landtagswahlen und in die Bundestagswahl, daß die Bauern mit der Agrarpolitik dieses Landwirtschaftsministers und unseres Kanzlers sowie der Arbeitsgruppe und der gesamten CDU/CSU- Fraktion einverstanden sind ({13}) und dies bei den Wahlen, liebe Opposition, honorieren werden. ({14}) - Darüber machen Sie sich keine Sorgen! Dieser Haushalt ist gut finanziert. Er ist zugunsten der Landwirtschaft ausgerichtet. Herzlichen Dank. ({15})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß nicht, ob die Bauern die Koalitionsfraktionen noch einmal wählen werden. Die Bauern sind ja schlecht organisiert und merken alles sehr spät. Aber da Sie ja selber dazu beigetragen haben, daß sie so wenige geworden sind, dürfte das auch nicht mehr so viel bringen. Zu den Bundeszuschüssen zur Unfallversicherung muß man sagen, daß das tatsächlich eine tragische Angelegenheit ist. Norbert Schindler ist gerade nicht im Saal. Wir stehen hier vor der Situation, daß versucht werden muß, von der Bundesseite Finanzen auszugleichen, die durch Organisationsfehler und Organisationschaos in den Ländern den Berufsgenossenschaften verlorengehen. Die Bauern müssen bis zu 300 Prozent mehr zahlen, und wir haben die Bundeszuschüsse zu tragen. Der Agrarhaushalt ist von einer weiteren Einschränkung der Handlungsspielräume für die gestaltende Politik geprägt. Reduziert wird bei allen Kosten, die die Wirtschaftskraft der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes stärken könnten. Dazu gehört beispielsweise die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz, deren Mittel ein weiteres Mal abgesenkt werden. Dazu kommen immer die Komplementärmittel aus den Ländern, die ebenfalls dem ländlichen Raum nicht mehr zur Verfügung stehen. In den letzten zwei Jahren fehlen schon über eine halbe Milliarde DM allein an Komplementärmitteln. Natürlich haben die Länder kein Geld mehr. Das ist ja auch dieser Finanzpolitik zu verdanken. ({0}) Zwei andere Beispiele sind die nachwachsenden Rohstoffe oder die Investitionsförderungsmittel, die ebenfalls kaum mehr zur Verfügung stehen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber ja.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte schön.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ich möchte noch einmal auf die Gemeinschaftsaufgabe zurückkommen. Nehmen wir einmal an, wir könnten es in einer gemeinsamen Beratung zum Agrarhaushalt schaffen, für die Gemeinschaftsaufgabe doch noch eine Anhebung vorzunehmen. Können Sie mir dann garantieren, daß die Länder ihren Anteil tatsächlich erbringen? Wenn ich mir zum Beispiel das Land Schleswig-Holstein mit der rot-grünen Koalition ansehe, habe ich erhebliche Zweifel, daß dieser Anteil erbracht wird. Es hat ja keinen Zweck, wenn wir uns hier die allergrößte Mühe gäben, die Länder aber nicht ihren Anteil erbringen könnten. Ich frage Sie also direkt: Können Sie mir zusichern, daß die Länder ihren Anteil dann auch erbringen werden?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Länder können dann ihren Anteil erbringen, wenn es eine Finanzpolitik gibt, die sie nicht ihrer Finanzen beraubt; ({0}) denn nur dann können sie diese Mittel aufbringen. Mit ein paar Haushaltstricks wird mit Blick auf die Konvergenzkriterien für die Einführung des Euros verhindert, daß die haushaltspolitische Wahrheit ans Licht kommt. Die Überführung der Mittel der Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft ist nämlich eine Scheintransaktion: Es sind Mittel, die für die Zwischenfinanzierung der EU-Programme und der Intervention ohnehin aufgebracht werden müssen, aber im gesamten Haushaltsplan schlichtweg verschwiegen werden. Hier würde ich ganz gern einmal den Schattenhaushalt aufgelistet sehen. Statt dessen müssen diese Summen über Kredite finanziert werden, deren Zinsen - das sollen immerhin 57 Millionen DM jährlich sein - wiederum dem Agrarhaushalt angelastet werden. Das ist der pure Wahnsinn der Buchungstricks. Der Agrarhaushalt ist im Grunde zu einem Sozialhaushalt geworden, der von Minister Blüm zu verwalten wäre. Minister Borchert hat kapituliert, träumt von alten Zeiten und winkt, wie es auch in den Zeitungen heißt, aus dem politischen Nirwana. Da muß es langsam eng werden. Die Beschwörungen der Unterstützung der bäuerlichen Landwirtschaft klingen inzwischen mehr wie Hohn und Spott. Mit Realität hat dieser Haushaltsplan nicht mehr viel zu tun. Die EU-Kommission hat mit ihrer Agenda 2000 ihre Ausrichtung in den Förder- und Strukturprogrammen längst auf die Osterweiterung umgestellt. In der deutschen Agrarpolitik läßt sich im nationalen Haushaltsplan nicht die mindeste Andeutung einer Zukunftsorientierung finden. Zu der Agenda 2000 haben wir sicherlich kontroverse Einschätzungen. Ich bin der Auffassung, daß die Agenda 2000 durchaus nicht geeignet ist, die Zukunftsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft oder der europäischen Landwirtschaft zu gewährleisten. Man muß aber auch dazusagen, Herr Minister Borchert: Sie haben der Agenda 2000 bereits im Agrarministerrat als Grundlage der weiteren Diskussionen zugestimmt. Dann aber, denke ich, ist es doch etwas infam, sich hier vor die deutsche Öffentlichkeit zu stellen und sie heftig zu kritisieren. ({1}) Wenn die prognostizierten Einkommensverluste zu gering geschätzt wurden, Herr Sielaff, wird doch davon ausgegangen, daß sie national ausgeglichen werden, was dann im nationalen Haushalt ausgewiesen werden muß. Das, was hier von der europäischen Ebene aus betrieben wird, ist Planwirtschaft. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine Niedrigpreispolitik mit staatlichen Ausgleichsleistungen, von Gnaden der jeweiligen Finanzminister, und das auch noch jährlich.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Abgeordnete, ich muß noch einmal unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Borchert?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Jochen Borchert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000233, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich habe eben zu meiner großen Verblüffung gehört, daß ich der Agenda 2000 im Agrarrat zugestimmt habe. Können Sie mir bitte mitteilen, wann das gewesen sein soll? Ich habe in den letzten Jahren an allen Sitzungen des Agrarrates teilgenommen und habe in keiner davon der Agenda 2000 zugestimmt. Es muß also offensichtlich eine Sitzung des Agrarrats gewesen sein, an der ich nicht teilgenommen habe. Insofern interessiert mich, wann diese stattgefunden haben soll.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bundesregierung hat der Agenda 2000 als Grundlage der weiteren Entscheidungen zugestimmt. ({0}) - Gut, dann war es nicht im Agrarrat." Auf jeden Fall aber werden Sie nachweisen müssen -

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Borchert, Frau Abgeordnete? - Bitte schön, Herr Abgeordneter Borchert.

Jochen Borchert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000233, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, der Agenda 2000 ist in keinem Rat, weder in dem Agrarrat noch in einem anderen, zugestimmt worden. Die Kommission hat die Agenda zur Beratung vorgelegt. Die Beratungen haben begonnen. Insofern interessiert mich, in welchem anderen Rat der Agenda zugestimmt worden ist.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Agenda ist als Diskussionsgrundlage das Votum der Bundesregierung beigegeben worden. Sie können doch nicht sagen, daß sämtliche Ihrer Kollegen, die dies verkündet haben, plötzlich auf einer anderen Veranstaltung waren. Wir werden sehen und hören, was aus dieser Agenda wird. Sie mögen persönlich der Auffassung sein, daß sie nicht zustimmungswürdig ist. Das glaube ich Ihnen sogar. Aber Ihre Kollegen sind doch offensichtlich insgesamt einer anderen Auffassung. ({0}) - Dann müssen Sie Ihre Wirtschaftspolitiker einmal genauer fragen. Bis heute hat die Bundesregierung die notwendigen Schutzmaßnahmen für die Landwirtschaft und die Verbraucher und Verbraucherinnen in bezug auf die Rinderseuche BSE nicht ergriffen. Weder Herkunftskennzeichnungen noch die Sicherheitsmaßnahmen der europäischen Tiermehlfabriken sind umgesetzt worden. Gleichzeitig betreibt die von der Bundesregierung geförderte CMA durch eine völlig verwirrende Gütezeichenpolitik weitere Verbrauchertäuschungen. Das heißt, die schlechte Einkommenssituation im Milch- und Rindfleischbereich geht zu einem guten Teil auch auf das Konto der Bundesregierung, und zwar durch unterlassene Hilfeleistung. Obwohl die Möglichkeiten der gestaltenden Politik für die Landwirtschaft, den Küstenschutz und den ländlichen Raum bis auf die Schmerzgrenze eingeschränkt wurden, gibt es einen Bereich, für den lokker noch Geld da ist. Über 2 Millionen DM sollen für eine umfangreiche Kampagne mit Hochglanzbroschüren und Videos für die Jugendlichen und Verbraucher zur Verbesserung der Akzeptanz der Gentechnik ausgegeben werden. Es ist wirklich ein Skandal, daß hier die knappen Finanzmittel auch noch dazu zweckentfremdet werden, der chemischen Industrie die Werbungskosten für Gentechprodukte, die die Verbraucher und Verbraucherinnen nicht wollen und die Landwirtschaft sicher nicht braucht, in den Schlund zu werfen. ({1}) Es spricht für sich, daß die Verbraucherzentralen, die sich im übrigen beim BML durch eine der Gentechnik gegenüber kritische Position unbeliebt machen, gleichzeitig finanziell ausgeblutet werden. Beispiel Rheinland-Pfalz: 1996 standen der Verbraucherzentrale für Energieberatung noch 140 000 DM zur Verfügung. Im Jahr 1997 bzw. nach der Sperre des Finanzministeriums sind es noch 73 000 DM. Mit einer solchen Finanzausstattung kann die Beratung nicht mehr vorgenommen werden. Die möglicherweise notwendige und sinnvolle Eigenfinanzierung der Verbraucherzentralen kann nicht geleistet werden, weil Sie ihnen überhaupt keine Möglichkeit geben, eine solche Umstellung zu gewährleisten. Angesichts dieses Desasters ist eine neue Bundesregierung notwendig - am besten schon jetzt und nicht erst in einem Jahr -, die nicht auf Absatzmärkte in China hofft, sondern den regionalen und europäischen Markt erschließt und für eine umweit- und tiergerechte Produktion von Lebensmitteln die Voraussetzungen schafft. Einer solchen neuen Marktnachfrage nach gesunden Lebensmitteln muß in Zukunft mit einer entsprechenden Förderpolitik Rechnung getragen werden. Danke. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Bredehorn, F.D.P.-Fraktion.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erneute Reduzierung des Agraretats um weitere 1,8 Prozent ist eine bittere Pille für die Landwirtschaft. Die F.D.P.-Fraktion bekennt sich aber dazu; denn die KonsoliGünther Bredehorn dierung der Staatsfinanzen hat für uns Priorität. Sie muß Priorität haben, wenn wir unser Land zukunftsfähig halten wollen. ({0}) Sparzwänge können ja bei allem Ärger und aller Kritik darüber auch etwas Positives haben. Sie zwingen uns, Schwerpunkte zu setzen und zu fragen, ob wir die nicht unbeträchtlichen Mittel im Agraretat immer effektiv genug einsetzen, ob wir für die Zukunftsgestaltung der modernen unternehmerischen Landwirtschaft genug tun. ({1}) Leider beantwortet der vorliegende Etatentwurf diese Frage in einem Bereich unbefriedigend. ({2}) Es wird ein falscher Schwerpunkt gesetzt, wenn rund 200 Millionen DM in der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz gekürzt werden. In Wirklichkeit sind es ja gegenüber dem Haushaltsansatz 1997 sogar über 500 Millionen DM. ({3}) Dies kann und wird die F.D.P. so nicht mittragen. ({4}) Es ist nicht zu verantworten, daß 1998 in den meisten Bundesländern überhaupt keine neuen Bundesmittel für die einzelbetriebliche Förderung zur Verfügung stehen. Schon jetzt beträgt der Antragsstau teilweise zwei bis drei Jahre. Statt unsere Betriebe fit zu machen für den europäischen Wettbewerb, besteht die Gefahr der Resignation. Statt in der Gemeinschaftsaufgabe zu kürzen, sollten wir vorhandene Haushaltsmittel in die investiven Bereiche umschichten. Die F.D.P. ist bereit, alle Titel unvoreingenommen zu prüfen. Für uns ist kein Titel sakrosankt. ({5}) Ich habe mit Interesse gehört, daß Sie, Herr Sielaff, für die SPD erklärt haben, Sie seien bereit, an dieser Arbeit mitzuwirken. Wir sollten gemeinsam versuchen, hier noch etwas für unsere Bauern zu erreichen. ({6}) Wir sollten jedenfalls nicht unbedingt mit Geldern aus dem Bundeshaushalt neue Modellregionen schaffen, wie es in Bayern gemacht wird. Auch die erheblichen Mittel, die wir für den Küstenschutz zur Verfügung stellen, müssen erhalten bleiben, und wir sollten sie möglichst effektiv einsetzen. ({7}) Der Agrarausschuß - viele von Ihnen waren ja dabei - konnte sich im Juli an der niedersächsischen Nordseeküste von der Notwendigkeit sicherer Deiche zum Schutz von Leib und Leben, Hab und Gut der Menschen überzeugen. Wir mußten aber auch feststellen, daß für den eigentlichen Deichbau immer weniger Mittel eingesetzt werden können, weil immer mehr für Ausgleichsmaßnahmen verbraucht werden. Zwar erklärten uns die Vertreter der Niedersächsischen Landesregierung, daß sie für Ausgleichsmaßnahmen nur rund 5 Prozent der gesamten Mittel einplanen, aber in den Gesprächen mit den Vertretern der Deichverbände wurde uns an Hand des konkreten Beispiels einer Deichverstärkungsmaßnahme dargestellt, daß von den rund 70 Millionen DM Gesamtkosten 14 Millionen DM für Ausgleichsmaßnahmen ausgegeben werden müssen. Hier müssen wir einmal überprüfen, ob der erhebliche Anteil an Bundesmitteln, immerhin 70 Prozent, wirklich sinnvoll und effektiv verwendet wird. Unsere Landwirte brauchen Wahrheit und Klarheit. Sie müssen ihre unternehmerischen Entscheidungen langfristig planen und finanzieren. Der Agraretat sollte daher im wesentlichen aus drei Blöcken bestehen. Als ersten möchte ich die investive Förderung nennen, die ich mit der Gemeinschaftsaufgabe hier schon angesprochen habe. Die Hilfe zur Selbsthilfe für landwirtschaftliche Betriebe und Vermarktungsunternehmen muß verstärkt werden. Für die F.D.P. sind die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit, die Stärkung der Unternehmerlandwirtschaft sowie Marktorientierung die wichtigsten Aufgaben einer ausgewogenen Agrarpolitik. Der zweite wichtige Ausgabenblock ist die landwirtschaftliche Sozialpolitik, die bereits ein sehr großes Volumen erreicht hat. Für 1998 sind das 7,94 Milliarden DM, 68,5 Prozent des Einzelplans 10. Damit werden der sich fortsetzende Strukturwandel sozial abgefedert und die Risiken des Strukturwandels vom Bundeshaushalt übernommen und damit auch unternehmerische Spielräume für die aktiven Betriebe geschaffen. Der dritte Ausgabenblock muß in Zukunft stärker auf Erwerbs- und Einkommensalternativen außerhalb der Landwirtschaft ausgerichtet werden. Wir brauchen eine aktive Politik für den ländlichen Raum. Hierzu müssen auch die EU-Strukturfonds genutzt werden. Wahrheit und Klarheit für unsere Landwirte - das muß auch für die EU-Agrarpolitik gelten. Diese muß langfristig angelegt und verläßlich sein. Die jetzt von der EU-Kommission vorgelegten Reformvorschläge im Rahmen der Agenda 2000 verändern die Agrarpolitik erheblich. Die Politik der Preissenkungen gegen Einkommensausgleich soll verstärkt fortgesetzt werden. Die Mengenbegrenzungen sollen aufgehoben werden. Die EU-Kommission will sich mit dieser Politik auf die Osterweiterung der EU und die kommenden Welthandelsrunden einstellen und die Überschüsse vermindern. Auch wenn die Agrarvorschläge der Kommission in den Verhandlungen der Agrarminister und der Regierungen noch erheblich geändert und verbessert werden, sollten wir aber die zukünftigen Entwicklungen sehen, nämlich eine weitere Liberalisierung und Globalisierung, eine stärkere Entkoppelung von Preis- und Einkommenspolitik, die gezielte Entlohnung ökologischer und landschaftspflegerischer Leistungen und den weiteren Strukturwandel. Das Zusammenspiel einer so gestalteten europäischen Agrarpolitik mit einer nationalen Agrarpolitik, bei der die staatlichen Aufwendungen in der von mir beschriebenen Weise ausgerichtet sind, wird der deutschen Landwirtschaft die Zukunft sichern. Ich danke Ihnen. ({8})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Dr. Günther Maleuda, PDS.

Dr. Günther Maleuda (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002730, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute wird hier viel über die Agenda 2000 gesprochen. Hauptthema ist eigentlich der Agrarhaushalt 1998. Minister Borchert hat einleitend dargestellt, daß die Sparmaßnahmen, die im Bereich der Landwirtschaft durchgeführt werden sollen, mit Augenmaß durchgeführt würden. Ich möchte gerade diese Bewertung in Frage stellen und etwas dazu sagen. Man muß der Bundesregierung sicher zugestehen: Ihre Politik zeichnet sich durch ein hohes Maß an Kontinuität aus, allerdings durch eine Kontinuität, die jährlich zu einer Kürzung des Agrarhaushaltes führt und damit immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit und zu den Anforderungen und Interessen der Landwirtschaft verliert. ({0}) Wenn man den Planansatz für 1998 einbezieht, stellt man fest, daß in dieser Legislaturperiode eine Kürzung des Agrarhaushaltes um etwa 1 Milliarde DM erfolgt. Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe werden im gleichen Zeitraum auch um etwa 1 Milliarde DM reduziert. Das entspricht einer Kürzung um 37 Prozent. 1996 hieß es noch, die einzelbetriebliche Förderung sei das wichtigste agrarpolitische Instrument für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Agrarbetriebe. Mit dem Plan 1998 - ich meine, Kollege Bredehorn hat dazu bereits sehr prinzipiell argumentiert - stehen unter Berücksichtigung der in der Vergangenheit auf Grund von Pflichtaufgaben getroffenen Zusagen so gut wie keine Mittel für Neuvorhaben mehr zur Verfügung. Ich möchte auch darauf verweisen, welche Wirkungen es in den Bundesländern letzten Endes gibt. Beispielsweise weist Agrarminister Brick in Mecklenburg-Vorpommern darauf hin, daß durch die Kürzungen der Agrarmittel ein Haushalt von nur noch etwa 800 Millionen DM zur Verfügung steht. Er formuliert, daß damit die untere Schmerzgrenze erreicht ist. Fragen des Augenmaßes stehen hier tatsächlich zur Diskussion. Ich darf hier noch einmal auf den Besuch des Agrarausschusses an der Küste verweisen, wo wir uns mit Fragen der Hochsee- und Küstenfischerei und des Küstenschutzes beschäftigt haben. Wir sind von allen Seiten, von den Verbänden, den Deichbauern, den Bäuerinnen und Bauern, eindringlich darauf hingewiesen worden, alles zu unternehmen, in diesem Planbereich keinerlei Kürzungen vorzunehmen. Meine Damen und Herren, wenige Tage nach dieser Nordsee-Bereisung kam von der Oder die Meldung: Land unter. Wer nun gehofft hatte, daß auch auf Grund dieser dramatischen Verhältnisse an der Oder und im Zusammenhang mit den Deichschutzmaßnahmen in dem Plan für 1998 entsprechende Maßnahmen festgelegt werden würden, der ist mit dem vorgelegten Plan eines Besseren belehrt worden. Den Menschen an den Deichen ist ihr ärgster Feind bekannt: die Sturmflut und das Hochwasser. Hier werden die Mittel gekürzt. In Bereichen, wo der Feind politisch-militärisch nicht auszumachen ist, werden die Mittel festgezurrt, werden Mittelerhöhungen vorgenommen. Ich bin mir natürlich darüber im klaren, daß Anforderungen, die wir an den Agrarhaushalt stellen, nicht im Rahmen einer Umschichtung innerhalb dieses Planes erfüllt werden können. Aber vielleicht stehen ja auch Rüstungsfragen zur Diskussion. Wir werden im Ausschuß sicherlich noch eine prinzipielle Diskussion zu führen haben. Wir sind auf jeden Fall gegen eine Kürzung der Mittel für Gemeinschaftsaufgaben. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist ganz offensichtlich: Die Landwirte in Deutschland und in der ganzen EU müssen mit einem noch härteren Wettbewerb rechnen. In Zukunft ist sicher der Rückzug des Staates aus der Marktpolitik zu erwarten. Entsprechende Vorschläge - auch das ist hier schon gesagt worden - enthält die bereits zitierte Agenda 2000. Danach sollen Preiskürzungen nur teilweise durch Ausgleichszahlungen abgefangen werden. Bekannt ist, daß im Rahmen der Agenda kein voller Ausgleich gewährt werden soll. Zu erwarten ist außerdem, daß diese Ausgleichszahlungen das Schicksal jener teilen, die im Zusammenhang mit den letzten Währungsturbulenzen versprochen wurden. Als es im Haushalt eng wurde, fielen sie zum Teil dem Rotstift zum Opfer. Mindestens zwei Konsequenzen müssen aus dieser Regierungspolitik gezogen werden. Die erste Konsequenz hat der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Herr Sonnleitner, unseres Erachtens richtig formuliert: Die Kooperation und Zusammenarbeit mit anderen landwirtschaftlichen Unternehmen wird entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland sein. Für mich steht ohne Zweifel fest, daß überbetriebliche Zusammenarbeit, das konsequente Ausschöpfen aller Gewinnreserven und das Erschließen neuer Einkommensquellen zu den zukunftsorientierten Themen in unseren Betrieben gehören werden.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Günther Maleuda (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002730, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. Wir werden die Beratungen im Agrarausschuß dazu nutzen, eigene Vorschläge einzubringen, die zur weiteren Präzisierung des Agrarhaushalts 1998 führen könnten. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zum letzten Redebeitrag im Rahmen dieses Einzelplans. Ich gebe der Abgeordneten Ilse Janz, SPD, das Wort. ({0})

Ilse Janz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Extra in grün. ({0}) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem Haushalt, Herr Bundesminister - das muß ich einmal so formulieren -, entwickeln Sie eine erstaunliche Kreativität. Daß der Haushalt nur eine geringe Reduzierung hinnehmen mußte, stimmt ja nicht ganz; denn Sie erhöhen ganz flugs die Einnahmen, indem Sie sich 1,135 Milliarden DM von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung leihen. Das kostet übrigens Zinsen, die Sie auch in diesen Haushalt einstellen müssen. Und dann haben Sie noch die schöne Effizienzrendite aus der Flexibilisierung der Ausgaben. Das soll gut 8 Millionen DM bringen. Ich nenne das zwar flexible Buchführung, aber im negativen Sinne. ({1}) Von Sparen in anderen Bereichen gibt es kaum eine Spur. Wenn ich mir die außer- und überplanmäßigen Ausgaben der letzten Jahre ansehe, dann weiß ich - im Jahre 1997 betrugen sie bis jetzt 350 Millionen DM -, daß uns hier noch einige Millionen ins Haus stehen. Auch Sie wissen das. Im Haushalt 1997 war der Ersatzbau für zwei Fischereischutzboote, nämlich „Frithjof" und „Warnemünde", mit insgesamt 11 Millionen DM, über mehrere Jahre verteilt, vorgesehen. Wir haben, Herr Minister, gemeinsam für die Umsetzung gekämpft, aber leider auch gemeinsam gegen den Finanzminister verloren. Jetzt wird nur ein Ersatzbau vorgenommen; drei Schutzboote sollen sich in Nord- und Ostsee die Arbeit teilen. Von der inhaltlichen Frage abgesehen, die ich jetzt nicht erörtern will, die aber an anderer Stelle dringend erörtert werden muß, werden Sie auf lange Sicht nur bei den Fahrzeughaltungskosten sparen. Nach Ihrem Haushaltsentwurf für 1998 sind das rund 900 000 DM jährlich. Die Kosten für die Besatzungsmitglieder in Höhe von 5,5 Millionen DM fallen weiter an, bis diese Mitarbeiter in Rente gehen oder in anderen Bereichen überplanmäßig untergebracht werden. Gibt es eigentlich einen Sozialplan? Welche Kosten bedeutet das? Das sind alles noch Fragen, die in diesem Haushalt noch nicht geklärt sind. Bei dem Stichwort „kluge Politik" würde ich gern weitermachen und auf die Bundesforschungsanstalten eingehen. Da hatten Sie im letzten Jahr mit großem öffentlichen Aufwand ein neues Konzept, wie Sie es nannten, vorgestellt, das dafür sorgen sollte, daß gerade in diesem Bereich kräftig eingespart wird. Einrichtungen sollten geschlossen werden - ob sinnvoll oder nicht -, Personal sollte um jährlich 3 Prozent abgebaut werden. Wir haben damals von Ihnen, Herr Minister, ein sinnvolles Konzept verlangt, in dem deutlich herausgearbeitet wird, in welchen Bereichen das BML seine Forschungsschwerpunkte setzt und in welchen Bereichen die Forschung auch in Einrichtungen außerhalb des Bundes erfolgen kann. Das haben wir leider nicht erhalten. ({2}) Nun stehen Sie vor der Frage, wo dringend erforderliche Forschung durchgeführt werden kann. Bundesinstitute sollen aufgelöst bzw. verlegt werden. Dafür müssen an anderen Instituten Neubauten entstehen. Bundesforschungsaufträge müssen nach außen vergeben werden. Eine Berechnung darüber, ob das tatsächlich kostengünstiger ist, wurde von Ihrem Haus bisher nicht vorgenommen. Als Berichterstatterin für diesen Einzelplan habe ich bis heute noch nicht die angekündigten Unterlagen für das Gespräch, Herr Minister, das wir nächste Woche mit Ihnen haben, erhalten. ({3}) Das heißt, ich kenne bis zum jetzigen Zeitpunkt den Umsetzungsstand nicht. Ich finde, das ist eine Unverschämtheit. ({4}) Nun die Zahlen: Die Gesamtausgaben - Soll 1997 -betragen 758 Millionen DM, 1998 - man höre und staune - 767 Millionen DM. Im Personalbereich im Soll ein Aufwuchs; einige wenige kw-Vermerke. Aber glauben Sie nicht, hier wäre jetzt planvoll weitergearbeitet worden! Es ist keine Veränderung ersichtlich, außer daß bei den Auszubildenden die Soll-Zahl von 136 auf 105 Stellen zurückgeführt wurde. Dies ist angesichts der unlängst auch von der Bundesregierung dargestellten Ausbildungsproblematik, über die wir heute ja diskutiert haben, ein Skandal und macht die Unflexibilität des Apparates deutlich. ({5}) Herr Minister, wenn Ihr Haus mir mitteilt, für die alten angebotenen Ausbildungsberufe ohne große Zukunftschancen seien keine Bewerber zu finden, wie wäre es dann mit neuen Berufen? Eine Ausbildung im wichtigen Forschungsbereich kann doch nur sinnvoll und auch in Ihrem Sinne sein. Im übrigen haben ohne Neuausbildung auch Bundesforschungsanstalten in der Zukunft Existenzprobleme. Lassen Sie mich noch kurz auf das leidige Thema Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz eingehen. Die Ist-Ausgabe in 1996 von 2,3 Milliarden DM ist inzwischen auf 1,9 Milliarden DM in 1997 durch zusätzliche Einsparungen gesunken. Jetzt haben Sie eben - wie vorhin schon gesagt -1,709 Milliarden DM ausgewiesen. Das ist in einem kurzen Zeitraum eine Kürzung von einer halben Milliarde. Das ist keine vernünftige Planung und bedeutet, daß es auch für die Zukunft keine vernünftige Planung mehr gibt; denn für 1998 - das hat der Kollege gesagt - sind schon 69 Prozent Altverpflichtungen da. Nur noch 31 Prozent der Mittel könnten für neue Verpflichtungen zur Verfügung stehen. Wie unter diesen Voraussetzungen die von Ihnen so gepriesene und auch von uns befürwortete „konsequente einzelbetriebliche Förderung" noch möglich sein soll, bleibt wohl auch Ihnen ein Rätsel. ({6}) - Ja, Herr Koppelin, es ist gerade das Problem, daß Sie das nicht richtig durchschauen.- Hier sind gerade für die zukünftigen Haushalte Belastungen vorgegeben, die weitere Neubewilligungen so gut wie unmöglich machen. Wenn der Kollege von Hammerstein sagt, daß er mit uns über Verbesserungen reden will, dann kann er sicher sein, daß wir uns mit ihm darüber unterhalten werden. Aber wir sollten uns dann bitte, was diesen Haushalt betrifft, auch über weitere Risiken - siehe diese „kreativen" Einnahmen - unterhalten. Sie senken in den letzten Jahren ständig die Mittel in diesem Haushalt ab. Ich hoffe, daß das, was Sie jetzt mit uns machen wollen, eine gemeinsame Erhöhung im Bereich der GA, nicht schon unter Wahlkampf zu verbuchen ist. ({7}) Kreativität - das sagte ich - kann ich Ihnen leider nicht bescheinigen, eher Resignation. Sie arbeiten nach dem Motto: Irgendwie komme ich schon über die Runden, und nach den Wahlen 1998 lasse ich es doch die Sozialdemokraten richten. ({8}) Herr Minister, ich versichere Ihnen, wir werden es mit Freuden und wesentlich besser tun. ({9})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten liegen nicht vor. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit, dem Einzelplan 15. Ich erteile dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf des Gesundheitshaushaltes 1998 umfaßt ein Volumen von 712 Millionen DM. Das ist gegenüber dem laufenden Haushaltsjahr ein Rückgang von 1,9 Prozent. Obwohl wir bei einigen Positionen maßvolle Abstriche durchführen müssen, möchte ich zuallererst feststellen, daß wir mit diesem Haushaltsentwurf genügend Mittel zur Verfügung haben, um alle wichtigen und notwendigen Maßnahmen der Gesundheitspolitik auch im Jahre 1998 zu finanzieren. Dazu bedurfte es einiger neuer Prioritäten. Ich verschweige nicht, daß wir in einigen Bereichen, wie ich sagte, maßvolle Abstriche durchführen müssen, die ich absolut mitverantworte. Aber das heißt nicht, daß in diesen Bereichen, beispielsweise der Psychiatrie, die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung nicht mehr durchgeführt wird, wenn die Bundesregierung Modellvorhaben der Psychiatrie nicht mehr fördert, sondern das heißt, daß die Modellphase zu Ende geht und daß es zu einer Regelfinanzierung kommt, für die dann anschließend die Bundesländer, die nach der Verfassung für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung verantwortlich sind, aufkommen werden. Ich möchte exemplarisch die wichtigsten Schwerpunkte nennen, die wir neu setzen und wo es entweder zu gleichbleibenden oder sogar zu verstärkten Haushaltsmitteln kommt. Ein Bereich ist unsere Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die bei Aufklärungsbedarf zu aktuellen gesundheitspolitischen Themen mit großem Erfolg eingesetzt wird. Dort haben wir im laufenden Jahr wegen deutlicher Sparmaßnahmen die größten Schwierigkeiten. Ich bin sehr froh, daß wir gegenüber 1997 jetzt die Mittel für die gesundheitliche Aufklärung unserer Bevölkerung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, um etwas mehr als 1,7 Millionen DM erhöhen können. Ich möchte bei dieser Gelegenheit - nachdem ich vor kurzem eine Aufklärungsausstellung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eröffnet und besucht habe - auch einmal herausstellen, daß die Arbeit dieser Zentrale außerordentlich gut ist und daß die Arbeit von der Bevölkerung in großem Maße angenommen wird. ({0}) Zur Aidsbekämpfung. Die Aidsbekämpfung behält einen sehr hohen Stellenwert. Das ist auch notwendig, um die großen Erfolge, die wir bei der epidemiologischen Entwicklung in Deutschland zu verzeichnen haben, aufrechtzuerhalten. ({1}) Ich freue mich, daß der Ansatz für Aidsaufklärung auf 16 Millionen DM erhöht wird. Das ist ein Plus von 17 Prozent. Damit kann die Arbeit der Deutschen Aids-Hilfe - eine sehr segensreiche Arbeit - weiterhin gut unterstützt werden. Es freut mich besonders, daß es trotz der Sparzwänge gelungen ist, den AnBundesminister Horst Seehofer satz für die Aidsforschung von heute 3,8 Millionen DM auf 4,2 Millionen DM zu erhöhen. Nachdem der Blutplasmaskandal schon wieder etwas in Vergessenheit geraten ist, ist es gut, daß wir mit den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses Ernst machen und uns intensiv darum kümmern, daß wirksame Maßnahmen zur Verbesserung der Selbstversorgung mit Blut und Blutprodukten in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden, damit wir die Selbstversorgung mit Blut und Blutprodukten in der Bundesrepublik Deutschland möglichst bis Ende dieses Jahrhunderts erreichen. Denn es ist nach wie vor ein unguter Zustand, daß wir gerade beim Blutplasma fast die Hälfte des nationalen Bedarfs aus dem Ausland einführen müssen. Deshalb ist es gut, daß dafür Geld in der Größenordnung von 2 Millionen DM neu in den Haushalt eingestellt wird. Das ist ein neuer Titel; bisher wurde das überhaupt nicht aus dem Bundeshaushalt finanziert. Ein weiterer positiver Punkt ist, daß wir für 1998 die Maßnahmen der medizinischen Qualitätssicherung deutlich verstärken konnten. Denn wir werden ein hochwertiges deutsches Gesundheitswesen auf Dauer nur aufrechterhalten können, wenn wir umfassende Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle sicherstellen. Das sind wichtige Prioritäten, die in diesem Haushalt gesetzt werden. Ich möchte, obwohl es nicht in unserem Haushaltsplan, dem Einzelplan 15, sondern im Bundeshaushalt insgesamt veranschlagt ist, nicht unerwähnt lassen, daß wir im Bundeshaushalt trotz der schwierigen Haushaltssituation nach wie vor und ungeschmälert jährlich 700 Millionen DM für Bauinvestitionen im Zusammenhang mit Krankenhäusern in den neuen Ländern bereitstellen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Akt der Solidarität zwischen Ost und West. ({2}) Ich halte fest: Der Bundeshaushalt 1998 gewährleistet, daß wir alle wichtigen und notwendigen Maßnahmen der Gesundheitspolitik auch künftig finanzieren können. Der Einzelplan 15, der Gesundheitshaushalt, ist relativ klein. Dabei ist dieses Ministerium in der Gesetzgebung im wesentlichen für zwei Bereiche zuständig, die Krankenversicherung und die Sozialhilfe. Deshalb möchte ich zu diesen beiden Punkten einige Bemerkungen machen. Zunächst zur Sozialhilfe. Wir haben die Sozialhilfe - das Bundessozialhilfegesetz - reformiert und können heute die erfreuliche Feststellung machen, daß im abgelaufenen Jahr 1996 zum erstenmal seit Bestehen des Bundessozialhilfegesetzes, also seit 1962, die Sozialhilfeausgaben in der Bundesrepublik Deutschland rückläufig sind. Dafür gibt es mehrere wesentliche Ursachen. Zunächst einmal liegt das an der Einführung der Pflegeversicherung, die am 1. Juli des letzten Jahres in Ihrer Gänze, also auch für den stationären Bereich, in Kraft getreten ist. Ich meine, das ist eine wichtige Botschaft. Wir haben damit nicht nur umfassende zusätzliche Hilfe für pflegebedürftige Menschen ins Leben gerufen, sondern auch die Kommunen in, wie wir heute wissen, umfassender Weise von Pflegegeldleistungen entlastet. Ich sage es noch einmal: Das erste Mal seit 35 Jahren haben wir in der Bundesrepublik Deutschland rückläufige Sozialhilfeausgaben, insbesondere durch diese Pflegeversicherung. Dieser Trend wird sich fortsetzen; denn im nächsten Jahr gilt die Pflegeversicherung im stationären Bereich zum erstenmal für das ganze Jahr und wird die Kommunen zusätzlich um 4 bis 5 Milliarden DM entlasten. Aber es ist auch die Sozialhilfereform, die für die Entlastung der Kommunen, insbesondere durch die Budgetierung, die Deckelung der Pflegesätze in den Einrichtungen, sorgt. Hier hatten wir in der Vergangenheit zweistellige Steigerungsraten. Diese sind deutlich zurückgegangen. Was ich auch nicht unerwähnt lassen möchte, ist die Deckelung der Bedarfssätze in der Sozialhilfe. Es konnte nicht so weitergehen, daß die Sozialhilfebedarfssätze - wie in den vergangenen Jahren - stärker steigen als die Nettolöhne der Arbeitnehmer. Dies war eine gute Reform. Sie hat ihre Wirkung, und sie zeigt, daß man sparen und trotzdem ein hohes Niveau an Sozialhilfeversorgung in der Bundesrepublik Deutschland erreichen kann. ({3}) Das gleiche gilt für das Asylbewerberleistungsgesetz. Dies wird die Kommunen um über 1 Milliarde DM entlasten. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, daß man durch lange Verhandlungen viel Geld umsonst ausgeben kann. Die Blockade des Bundesrates hat über ein Jahr gedauert. Es hat ungeheuer lange gedauert, bis wir zu einem Konsens kamen. Der Konsens war richtig und wichtig. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß Asylbewerber, die sich im Asylverfahren befinden, nicht von der ersten Minute an gleich hohe Sozialleistungen erhalten müssen wie Bürger, die in der Bundesrepublik Deutschland berufstätig sind. ({4}) Ich bin froh, daß uns dies gelungen ist. Aber wir haben damit die Kommunen mit 1 bis 2 Milliarden DM mehr belastet, als es notwendig gewesen wäre, wenn wir uns schon vor über einem Jahr auf diesen Vorschlag verständigt hätten. Die Sozialhilfereform hat also Erfolg. Ich möchte hier ankündigen, daß wir in allernächster Zeit im Vollzug dieser Sozialhilfereform noch zwei wichtige Punkte angehen werden. Dies bedarf keines Gesetzes, sondern nur des Vollzuges der Sozialhilfereform. Wir wollen gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, daß die Kommunen die jetzt angelaufenen Anstrengungen bei der Hilfe zur Arbeit weiter verstärken. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland viele positive Beispiele dafür, daß Kommunen Sozialhilfeempfänger, gerade jüngere Sozialhilfeempfänger, in Arbeit vermitteln und entsprechend fördern. Es hat sich in der Realität herausgestellt, daß sich dies unter dem Strich für die Kommunen rechnet. Sie müssen zwar vielleicht im Moment mehr Mittel aufwenden, sie werden aber auf Dauer weniger Sozialhilfeempfänger haben, weil mehr Menschen in Arbeit vermittelt werden. Es ist immer noch besser, Arbeit zu subventionieren, als Sozialhilfe zu zahlen. Das ist das eine, das wir noch stärker fördern wollen. ({5}) Wir überlegen im Moment und führen intensive Gespräche darüber, das, was unter dem Stichwort „Kombilohn" in der öffentlichen Diskussion ist, durch eine Verordnung der Bundesregierung in der Weise zu unterstützen, daß wir den Kommunen in stärkerer Form als bisher erlauben wollen, Sozialhilfeempfängern, die eine Arbeit in den Niedriglohngruppen aufnehmen, einen Teil ihres erzielten Erwerbseinkommens zu belassen, damit ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme entsteht und sich beim Sozialhilfeempfänger nicht der Eindruck verfestigt: „Wenn ich eine Arbeit aufnehme, wird mein erzieltes Einkommen sofort auf die Sozialhilfe angerechnet" und so der Arbeitsanreiz zerstört wird. Ich nehme an, daß wir Ende September bzw. Anfang Oktober in der Lage sind, nachdem wir mit den Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern, gesprochen' haben, diese Verordnung der Öffentlichkeit vorzulegen und im Herbst 1997 zu verabschieden. Zur gesetzlichen Krankenversicherung: Die gesetzliche Krankenversicherung ist leistungsfähig wie eh und je. Sie ist auch preiswert. Die Gesundheitsreform wird dazu führen, daß wir Ende dieses Jahres jedenfalls im Westen der Bundesrepublik Deutschland eine ausgeglichene Bilanz im Gesundheitswesen erreichen werden, wenn der Sparwille, der sich seit einigen Monaten in der Selbstverwaltung zeigt, in den nächsten Monaten weiter umgesetzt wird. Jedenfalls hat die Selbstverwaltung unsere volle politische Unterstützung, sparsam und wirtschaftlich mit den Beitragsmitteln umzugehen. ({6}) Wir können heute feststellen, daß zum erstenmal - auch dies ist ein Novum - nach der deutschen Einheit die Ausgaben im deutschen Gesundheitswesen rückläufig sind. Das gab es nicht einmal nach Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes 1993. Damals hatten wir zwar einen Milliardenüberschuß; aber wir dürfen nicht übersehen, daß damals die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung anwuchsen und nur deshalb ein Überschuß entstand, weil es satte Grundlohnzuwächse gab, die beispielsweise im Westen bei 5 Prozent lagen. Bemerkenswert finde ich, daß der Rückgang der Gesundheitsausgaben vor Inkrafttreten der Gesundheitsreform stattgefunden hat. Es gibt ja jetzt Zauberer, die die Wirksamkeit der Gesundheitsreform mit dem aktuellen Defizit in Verbindung bringen. Dieses Defizit ist vor Inkrafttreten der Gesundheitsreform trotz sinkender Leistungsausgaben entstanden. Es ist deshalb entstanden, weil wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der moderaten Lohnabschlüsse, die wir ja aus gesamtwirtschaftlichen Gründen wollen, die Einnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung stagnieren bzw. in den neuen Ländern rückläufig sind. Deswegen erwarten wir realistisch, daß sich die Situation durch Zuzahlung und weitere Sparmaßnahmen im zweiten Halbjahr in den alten Bundesländern unter der Voraussetzung, daß Sparsamkeit in der Selbstverwaltung weiterhin an der Tagesordnung bleibt, stabilisieren wird. Zu den neuen Bundesländern möchte ich noch sagen: Wir werden in den nächsten Wochen mit den Krankenkassen, den Bundesländern und den Leistungserbringern Gespräche führen. Ich bitte, diese Gespräche verantwortungsvoll in der Öffentlichkeit zu begleiten; denn wir haben es mit einer historischen Sondersituation in den neuen Bundesländern zu tun, und historische Sondersituationen rechtfertigen auch besondere Antworten. Da kann man nicht mit den Antworten Bismarcks aus dem letzten Jahrhundert kommen, sondern man muß auf die Sondersituation dieses Jahrzehnts eingehen. Wir werden hier aber Lösungen finden. Wie sehr man neben der Realität liegen kann, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Opposition, zeigen die Ausführungen des Kollegen Kirschner an diesem Pult bei der letzten Haushaltsdebatte am 12. September 1996, fast auf den Tag genau vor einem Jahr, daß wir, wenn ich weiter in der Regierung bliebe, 1997 ein Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung von über 20 Milliarden DM erreichen würden. Herr Kirschner, ich gebe Ihnen anschließend das Protokoll. Es zeigt, wie groß die Treffsicherheit der SPD ist, insbesondere wenn es um Zukunftsprognosen geht. ({7}) Insgesamt lassen wir uns bei unserer Gesundheitspolitik davon leiten, daß wir erstens die Qualität erhalten, zweitens den sozialen Schutz für kranke Menschen gewährleisten und drittens auch den medizinischen Fortschritt fördern wollen. Dem dient auch dieser Haushalt. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerhard Rübenkönig.

Gerhard Rübenkönig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002767, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Schluß der heutigen Debatte steht der Gesundheitshaushalt und damit die Gesundheitspolitik der Bundesregierung auf der Tagesordnung. Lassen Sie mich zu Beginn hierzu folgendes grundsätzlich feststellen: Seit dem Amtsantritt dieser Regierung ist das Gesundheitswesen vor allem von ständigen Haushaltskürzungen, steigenden Beitragssätzen sowie immer stärkeren Belastungen für die Versicherten und Patienten durch Leistungskürzungen und Zuzahlungsregelungen geprägt. Ich denke, das ist an dieser Stelle einmal zum Haushalt grundsätzlich festzuhalten. ({0}) Diese Politik wird auch im Haushalt 1998 fortgesetzt und zeigte bereits bei der Festsetzung der globalen Minderausgabe in Höhe von 26 Millionen DM für den Haushalt 1997 seine Wirkung. Auf der Basis dieser globalen Minderausgabe wurden allein im Präventionsbereich Kürzungen zwischen 25 und 60 Prozent durchgeführt. Auch der vorliegende Haushaltsentwurf 1998 macht wiederum deutlich, daß präventive und solidarische Gesundheitssicherung für diese Bundesregierung überhaupt kein Thema ist. ({1}) Er ist mit einem Volumen von 712 Millionen DM für das Haushaltsjahr 1998, bezogen auf 1997, einschließlich der globalen Minderausgabe um 1,9 Prozent und, gemessen an 1994, um zirka 17 Prozent heruntergefahren worden. ({2}) Der Ausgabenrückgang im vorliegenden Finanzplan 1997 bis 2001 liegt bei 7,5 Prozent. Die Kürzung im Vergleich der Jahre 1994 und 2001 macht somit 22 Prozent aus. Gemessen an dieser Haushaltsperspektive könnte man nach den Erfahrungen der letzten Jahre wieder zur Tagesordnung übergehen. Überzogene Interessen der Haushaltssanierung bestimmen die Richtung in der Gesundheitspolitik. Dies kann und darf aber nicht die Grundlage für eine moderne und präventive Gesundheitspolitik sein. ({3}) Ich möchte an dieser Stelle in nur einigen Bereichen deutlich machen, in welcher Höhe von 1994 bis 1998 bei der Aufklärungs- und Präventionsarbeit gekürzt wurde: in der Psychiatrie um 77,5 Prozent. Hier wurde das Modellprogramm Psychiatrie für die Entwicklung und Erprobung neuer Arbeitsformen und Organisationsstrukturen zur Reform der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung gekürzt. Bei der Krebsbekämpfung wurde um 70,2 Prozent gekürzt, obwohl - da höre man gut zu - die Erkrankungen im Krebsbereich nachweislich zunehmen. Hier wurden die Zuschüsse zur Förderung von Modellen zur onkologischen Zusammenarbeit und die Zuschüsse zur Errichtung, Erweiterung und Ausstattung von klinischen Krebsregistern gekürzt. ({4}) - Sie können das nicht verstehen? Vielleicht kennen Sie den Haushalt nicht. Ich zitiere nur die Aussagen in Ihrem Haushalt. ({5}) Bei der Aidsbekämpfung wurde um 45,6 Prozent gekürzt. Gekürzt wurden die Aufklärungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Aidsbekämpfung und die Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Erkennung und Bekämpfung von Aids. Bei der Drogenbekämpfung wurde um 32,6 Prozent gekürzt. Obwohl wir im Berichterstattergespräch - Herr Sauer, Sie wissen das noch - im vorigen Jahr zum Haushalt 1997 einvernehmlich der Auffassung waren, daß hier ein Aufwachs von mindestens 1 Million DM erforderlich war, wurde auch hier eine Reduzierung beschlossen. Herr Minister Seehofer, ich fordere Sie auf: Machen Sie endlich eine Gesundheitspolitik, die in die Zukunft weist und auf präventive Maßnahmen ausgerichtet ist, damit nicht die Aidskranken, die Krebskranken, die chronisch Kranken, die Suchtkranken und die Kranken in der Psychiatrie, um nur einige zu nennen, immer wieder die Leidtragenden Ihrer Politik sind! ({6}) Diese kontraproduktive Politik finden wir auch im Beitragsentlastungsgesetz wieder. Dort ist die Streichung wesentlicher Inhalte des Auftrages der Krankenkassen - Prävention und Gesundheitsförderung ({7}) verankert. Ich denke, daß ein vernünftiges Gesundheitssystem seine Rechtfertigung nicht allein aus möglichst vielen Krankheiten, die es zu heilen gilt, ableiten darf, sondern auch aus der Gesundheit in unserer Gesellschaft ableiten muß. Deshalb fordere ich Sie, Herr Minister Seehofer, noch einmal auf: Setzen Sie endlich einen Schwerpunkt in der Gesundheitspolitik auch auf die Prävention! Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung aufgefordert, den Rechtsanspruch der Versicherten auf Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung unverzüglich im Fünften Buch des Sozialgesetzbuches zu verwirklichen und ein Gesamtkonzept „Prävention und Gesundheitsförderung in der gesetzlichen Krankenkasse " vorzulegen. Denn Präventionsmaßnahmen und gesundheitsfördernde Programme senken die Gesundheitskosten und sind Investitionen in die Zukunft. ({8}) Es ist aber offensichtlich - das zeigen auch Ihre Zwischenrufe -, daß die Koalition nicht bereit ist, das Gesundheitswesen grundlegend zu reformieren und damit die Solidarfunktion der gesetzlichen Krankenversicherung durch neue, flexible Instrumente abzusichern. Kolleginnen und Kollegen, die SPD tritt mit dem Gesundheitsstrukturgesetz II dem Reformstillstand der Bundesregierung und der Zweiklassenmedizin in unserem Lande entgegen. ({9}) Denn die. Versicherten und Patienten in diesem Lande brauchen ein Gesundheitswesen, ({10}) das auf Solidarität zwischen Gesunden und Kranken sowie zwischen Mehr- und Wenigerverdienenden aufgebaut ist. ({11}) Die Voraussetzung hierfür ist natürlich eine durchschlagende Wachstums- und Beschäftigungspolitik zur wirksamen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. ({12}) Eines steht fest - dies ist auch die Meinung aller Sachverständigen -: Nicht der Sozialstaat verursacht die enormen Belastungen. Vielmehr ist die steigende Massenarbeitslosigkeit der Kostenfaktor Nummer eins. ({13}) In der Gesundheitsdebatte des Deutschen Bundestages im Juni 1997 klagten Sie selbst, Herr Seehofer - ich zitiere wörtlich -: „Wir haben im deutschen Gesundheitswesen keine Leistungskrise, sondern Finanzierungsprobleme." - Dann stellten Sie im September 1997 zu den veröffentlichten Defiziten der gesetzlichen Krankenkassen fest: „Wir haben keine Krise im Gesundheitswesen, sondern am Arbeitsmarkt." - Ich sage Ihnen, Herr Seehofer: Dieses Gesundheitswesen steckt tatsächlich in einer tiefen Krise, weil diese Regierung, ({14}) der Sie angehören, in allen Bereichen - im Gesundheitsbereich, am Arbeitsmarkt und bei den Finanzen - eine katastrophale Politik betreibt. ({15}) Bevor ich nun zum Schluß komme, zitiere ich den Präsidenten des Sozialverbandes VdK, Walter Hirrlinger, der in diesen Tagen eindeutig forderte: Die unvermindert hohe Arbeitslosigkeit als Hauptursache der wachsenden Verluste in der Krankenversicherung darf trotz der massiven Einschnitte nicht den Kranken und Rentnern aufgeladen werden. Die Koppelung von Beitragsanhebung und Zuzahlungserhöhungen muß unverzüglich aufgehoben werden. ({16}) Dem ist nichts hinzuzufügen. Dieses Vorhaben wird die SPD massiv betreiben. Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Herr Minister Seehofer, Sie verabschieden sich mit diesem Haushalt endgültig von der präventiven und solidarischen Gesundheitspolitik. Die Folgen Ihrer Politik werden ausschließlich auf dem Rücken der Kranken und Versicherten in unserem Lande ausgetragen. Schönen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Roland Sauer.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich meine, der Kollege Gerhard Rübenkönig hat wieder einmal in bekannter Art und Weise ({0}) schwarz in schwarz gemalt. Man könnte meinen, das deutsche Gesundheitswesen sei dabei zusammenzubrechen. Sozialer Kahlschlag, Zweiklassenmedizin und das Ausbluten des Gesundheitswesens sind Ihre Schlagworte, die Sie nun wiederholt bemühen, die aber nicht zutreffen. Wenn Sie mit starken Worten das Herunterfahren des Gesundheitshaushaltes beklagen, übersehen Sie geflissentlich - obwohl es Ihnen gerade vorher Herr Minister Seehofer schon einmal gesagt hat - die 700 Millionen DM, die wir seit 1995 jährlich an die Länder zehn Jahre lang aus dem Einzelplan 60 für investive Ausgaben im Krankenhausbereich überweisen. ({1}) Dies übersehen Sie völlig. Das versetzt auch die neuen Länder in die Lage - was sie jetzt gemacht haben; auch das wollen Sie nicht begreifen -, auslaufende Modellprojekte in die Regelfinanzierung zu übernehmen und weiterzuführen. ({2}) Wenn Sie das nicht begreifen, dann kommen Sie natürlich zu solchen Ergebnissen, die Sie uns gerade vorgeführt haben. Im übrigen starren Sie wie gebannt nur auf den Gesundheitshaushalt und sehen die Steigerungen der Leistungsausgaben im deutschen Gesundheitswesen überhaupt nicht. ({3}) - Die Zahlen nenne ich Ihnen nachher. Auch im Bereich der Krankenversicherungsträger wird in großem Umfang Präventionsarbeit geleistet. Wir haben allerdings dafür gesorgt, daß diejenige Präventionsarbeit, die der einzelne Bürger eigenverantwortlich auch selber leisten kann, nicht mehr unRoland Sauer ({4}) bedingt von den Krankenversicherungsträgern zu bezahlen ist. ({5}) Sie haben von einem schlechten System gesprochen. Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß sich die Menschen in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in Frankreich, um nur wenige Staaten zu nennen, glücklich schätzen würden, wenn ihr Gesundheitswesen medizinisch und pflegerisch auf einem solch hohen Niveau stehen würde wie das deutsche. ({6}) Wenn wir nicht zu Reformen fähig sind - Sie von der SPD sind offensichtlich nicht dazu fähig -, ({7}) dann ist dieses sozialste Gesundheitssystem der Welt auf Dauer nicht mehr zu bezahlen. ({8}) Mit Ihrer totalen Dauerblockade ist die Zukunft der Krankenversicherung sicher nicht zu gestalten. ({9}) - Schreien Sie doch nicht so. „Wer schreit, hat unrecht" sagt ein altes Sprichwort. Seien Sie ein bißchen ruhiger, und hören Sie gelassen zu! Sie haben nachher noch die Möglichkeit, mir zu antworten. Natürlich muß auf Grund des allgemeinen Sparzwanges auch im Etat des Bundesgesundheitsministeriums im Jahre 1998 wieder ein Beitrag zur Haushaltskonsolidierung geleistet werden. Da das BMG für das Haushaltsjahr 1997 bereits mit massiven Einsparungen in Höhe von 64 Millionen DM mit fast 8 Prozent zur Sanierung des Haushaltes beigetragen hat, sind die Ausgabenkürzungen, die wir jetzt für das Jahr 1998 vornehmen müssen, verhältnismäßig gering. Die noch zu finanzierenden Maßnahmen sind, wenn man sie zielgerecht einsetzt, zu vertreten. So haben wir bei der Aidsbekämpfung, der gesundheitlichen Aufklärung, der medizinischen Qualitätssicherung sowie in der Forschung im Vergleich zum laufenden Jahr gar keine oder nur ganz geringe Kürzungen zu verzeichnen. Größter Ausgabenposten ist mit rund 27 Millionen DM erneut der Bereich der Bekämpfung des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs. Die Modellprojekte zur Suchtbekämpfung, wie beispielsweise die nachgehende Sozialarbeit, die Drogennotfallprophylaxe sowie die Selbsthilfeprojekte, werden in vollem Umfang fortgeführt. Für Aufklärungsmaßnahmen stehen 12 Millionen DM zur Verfügung, mit denen noch etwas Sinnvolles erreicht werden kann, wenn man die Aufklärung, so wie sie die Bundeszentrale betreibt, effizient macht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wodarg?

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte dies im Zusammenhang darstellen, vielleicht später. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn im Bereich der Prävention gegen den Mißbrauch von Alkohol, Drogen und Nikotin jene geringen Kürzungen nicht vorzunehmen gewesen wären. Aber zu Ihrer Beruhigung: Da befinden wir uns in guter Gesellschaft mit den SPD-geführten Ländern. Ich könnte Ihnen, wenn es uns nicht langweilen würde, einmal die vergleichbaren Zahlen der Länder Hamburg, Saarland, Hessen und auch Niedersachsen vortragen. Ich habe sie hier vor mir. Aber lassen wir das. ({0}) Wir befinden uns also hinsichtlich der Kürzungen in guter Gesellschaft. Ein großer Stellenwert kommt im Haushalt 1998 der Bekämpfung von Aids zu. Dies gilt für Aufklärung und Forschung. So werden die Ausgaben für die Aidsaufklärung von 14,2 Millionen DM im lauf enden Jahr auf 16,6 Millionen DM erhöht, und der Ansatz für die Aidsforschung wird sogar auf 4,2 Millionen DM angehoben. Völlig neu - der Minister hat es bereits gesagt - ist der Titel für Maßnahmen zur Verbesserung der Selbstversorgung mit Blut und Blutprodukten in Höhe von 2 Millionen DM. Ziel ist einerseits, in Deutschland die Mengen an Blut und Plasma zu erhöhen, andererseits aber auch den Sicherheitsstandard zu verbessern. Wir haben vor, dies in Modellvorhaben umzusetzen. Ausgabenschwerpunkte liegen weiter mit 263 Millionen DM bei den Personalkosten und mit 117 Millionen DM bei den Verwaltungsausgaben, die wir aber auch in diesem Jahr - das ist sicher richtig - ebenso wie in den letzten Jahren stark zurückgefahren haben. Hier kam es zu Einsparungen, die vielleicht auch von Ihrer Seite akzeptiert werden können. Was den Personalhaushalt angeht, so gab es einige wichtige Verbesserungen. Davon haben Sie gar nichts gesagt, Herr Kollege Rübenkönig. So konnten beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 66 befristete Stellen verlängert und 16 befristete Stellen neu geschaffen werden. Alle diese Stellen werden durch Einnahmen finanziert. Die bislang aus Projektmitteln der Ressortforschung finanzierten 43 Ost-Stellen des Robert-KochInstituts werden nun in den Stellenplan eingebracht. Damit wird diesen hochqualifizierten Personen eine dauerhafte Perspektive geboten und zugleich eine Forderung des Haushalts und des Gesundheitsausschusses erfüllt. Roland Sauer ({1}) Es handelt sich insgesamt um 181 Stellen, die neu geschaffen oder gesichert werden. Ich halte dies für einen großen Erfolg, den wir in diesem Jahr erzielen können und der sowohl den Stelleninhabern als auch dem deutschen Gesundheitswesen zugute kommt. ({2}) Nicht verschwiegen werden sollte natürlich, daß wir auch im Bereich des Gesundheitsetats bei den Personalstellen wiederum 1,5 Prozent der Stellen abbauen müssen. Nach wie vor tragen wir diesmal mit 64 Millionen DM in großem Umfang zum Auf- und Ausbau des internationalen Gesundheitswesens bei. Allein 57 Millionen DM entfallen dabei auf den WHO-Beitrag, der, wie gesagt, erneut der größte Einzelposten des Etats ist. Ich habe schon im letzten Jahr hier eine gewisse Zurücknahme des WHO-Beitrags gefordert. Dies ist bis jetzt noch immer nicht geschehen, weil man von seiten der Regierung in Verhandlungen steht. Aber wir sollten auch in anderen Bereichen der Ressorts im Jahr 1999 zumindest eine Einfrierung der Beiträge an die internationalen Organisationen durchsetzen. ({3}) Große Herausforderungen haben wir im Bereich des Gesundheitssystems zu bewältigen. Wir haben angesichts der über vier Millionen Arbeitslosen ein erstklassiges Gesundheitssystem zu erhalten, aber gleichzeitig die Lohnzusatzkosten und damit die Arbeitskosten - von denen haben Sie auch gesprochen, Herr Kollege Rübenkönig - zu senken. Wir haben zweitens der gestiegenen Lebenserwartung und damit der geänderten Altersstruktur Rechnung zu tragen und gleichzeitig für ältere Menschen eine gute medizinische Versorgung zu gewährleisten und es nicht zur Rationierung kommen zu lassen, wie es zum Beispiel in Großbritannien der Fall ist. ({4}) Wir haben drittens den medizinisch-technischen Fortschritt, der für die hohe Qualität des deutschen Gesundheitswesens Voraussetzung ist, durch neue Finanzierungsmechanismen möglich zu machen. Als letzte große Herausforderung - die Sie von der linken Seite offensichtlich auch nicht begreifen -: Wir haben durch mehr Selbst- und Eigenverantwortung die persönliche Verantwortung bei der Absicherung des Krankheitsrisikos zu stärken. Hier geht es auch darum, sich auf das medizinisch Notwendige zu konzentrieren. Nur so, Herr Kollege Rübenkönig, ist Solidarität für den sozial Schwachen auch weiterhin zu praktizieren. ({5}) Nur so ist unser solidarisches Prinzip aufrechtzuerhalten. Wo sind die Antworten der SPD zu diesen Herausforderungen? ({6}) Da kann ich nur sagen - ich wiederhole mich -: Fehlanzeige, Totalblockade. Ihr Veto im Bundesrat hat im vergangenen Jahr eine umfassende Strukturreform, insbesondere auch im größten Ausgabensektor, dem Krankenhaus, verhindert. ({7}) Mit der Budgetierung, die unweigerlich zur Rationierung führt, ist unser Problem im Gesundheitswesen jedenfalls nicht zu lösen. ({8}) Wir haben gegen den Widerstand der Opposition diese Gesetze durchgesetzt. Die dritte Stufe der Gesundheitsreform konnte planmäßig am 1. Juli in Kraft treten. Unser Ziel ist es dabei, die Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit unserer GKV auf eine solide Grundlage zu stellen. Der in der letzten Woche bekanntgewordene Fehlbetrag von knapp 4 Milliarden DM bei der GKV ({9}) zeigt drastisch die Notwendigkeit der von uns angegangenen Reformen. Nur mit diesen Reformen sichern wir stabile Beiträge und leisten damit einen Beitrag gegen einen weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten. ({10}) Ein Wort zum Ausbluten unseres Gesundheitswesens - auch so ein Schlagwort von Ihnen -: Wenn Sie einen Blick in die Leistungsausgaben der GKV der letzten sechs Jahre werfen würden, dann würden Sie, wie auch wir, sehen, daß die Leistungsausgaben der GKV in den letzten sechs Jahren um 35 Prozent angestiegen sind. Sie betragen damit mittlerweile insgesamt 243 Milliarden DM. ({11}) Wenn man da noch vom Zusammenbrechen des deutschen Gesundheitswesens spricht, dann kann man - ich hoffe, ich bekomme keinen Ordnungsruf - nur noch bescheuert sein. In Ihrem jüngsten Bericht kritisiert die OECD die Verschwendung im deutschen Gesundheitswesen. Deutschland sei mit seinen gesundheitspolitischen Reformgesetzen auf dem richtigen Weg, so die OECD. Es gebe vor allem im Krankenhausbereich und bei den Medikamenten noch genügend Einsparpotentiale. ({12}) So würden im Vergleich zu vielen anderen Ländern viel zu viele Medikamente verschrieben, und es gebe in Deutschland überdurchschnittlich lange Krankenhausaufenthalte. Verbesserungen seien, so die OECD, zu erwarten, wenn die Krankenkassen miteinander konkurrieren würden. Gerade dies haben wir mit unserer Gesundheitsreform vor. Nun frage ich Sie: Wie passen diese Aussagen der OECD zu den Behauptungen der SPD, in diesem Land würde der Ausverkauf des Gesundheitswesens betrieben? ({13}) Ich wollte jetzt noch eine größere Passage zu den Drogen sagen, aber meine Zeit ist um. ({14}) - Als Redner. Ich darf mich herzlich bedanken. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielen Dank für die Zeitdisziplin. Das Wort hat jetzt die Kollegin Marina Steindor.

Marina Steindor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002809, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesundheitshaushalt ist so geschrumpft, daß er in einer großen deutschen Zeitung überhaupt nicht mehr aufgeführt worden ist. Ich möchte mich hier lieber der Politik widmen, die mit diesem Geld gemacht wird. Das NOG II ist nun in Kraft, und Sie sind stolz darauf. Aber von seiner vorgeblichen Problemlösungskapazität ist nichts zu spüren. Abbau staatlicher Reglementierungen und die Stärkung der Eigenverantwortung der Selbstverwaltung - das sind Ihre Slogans. Aber die Krankenkassen und die Anbieterverbände sind doch so in ihren Eigeninteressen verhaftet, daß sie überhaupt keine übergeordnete Rationalität für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen entwickeln können. Im Gegenteil: Sie müssen erleben, daß einige Kassenärzte die von Ihnen als Versichertenwahlrecht gemeinte Kostenerstattung zu einem Arztwahlrecht umdeuten. Sie müssen erleben, daß Ärzte mit dem NOG II im Rücken jetzt anfangen, den gesetzlichen Leistungskatalog auszuhöhlen, um mehr Geld durch private Abrechnungen mit Kassenpatienten zu verdienen. Geben Sie doch zu: Insgeheim fangen Sie doch schon wieder an, Gesetzeswerke zu ersinnen, wie sie jetzt ein weiteres gesetzliches „SelbstverwaltungsSitting" machen können, weil Ihnen die Ereignisse aus dem Ruder laufen. Bei dem bestehenden Defizit helfen die NOGs den Kassen wenig. Diese Gesetze bewirken keine Neuorientierung der GKV, sondern belasten einseitig die Krankenversicherten. Jahrelang, sehr geehrter Herr Minister Seehofer, haben Sie hier von diesem Platz aus über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen doziert und diese falsche Analyse zur Grundlage Ihrer Gesundheitspolitik gemacht. Am 3. September jedoch verblüfften Sie die Öffentlichkeit nicht nur mit einer neuen Frisur, sondern auch mit einer argumentativen 180Grad-Wendung. ({0}) Plötzlich problematisierten Sie die Einnahmesituation der gesetzlichen Krankenversicherung. Nun wissen wir zwar ziemlich genau, daß Ihre Haare wieder nachwachsen werden. Aber wie ist das mit der neuen Erkenntnis, die Sie gewonnen haben? Wenn Sie nämlich diese Erkenntnis beibehalten, müssen Sie daraus Konsequenzen ziehen. In Ihrer Presseerklärung stehen Sätze, die glatt aus einem bündnisgrünen Antrag stammen könnten: Es gibt keine Krise im Gesundheitssystem, sondern ein Einnahmenproblem verursacht das Defizit. ({1}) Sie geben zu, daß Sie bereits vor der Verabschiedung der NOGs das dramatische Kassendefizit in den Ostkrankenkassen gesehen haben. Damit haben Sie bewußt in Kauf genommen, daß durch die absehbaren, gesetzlich vorgeschriebenen Beitragserhöhungen die Menschen im Osten schlagartig mit hohen Zuzahlungen belastet würden. Wenn Sie wegen der strategischen Umgehung des Bundesrats an der kostenträchtigen Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung eben nicht gesetzgeberisch gearbeitet haben, dann müssen Sie doch wissen, daß Ihre Beitragserhöhungsabschreckung in diesem Fall ins Leere läuft. Sie haben mit Ihrer Politik die soziale Spaltung in diesem Lande verstärkt, ({2}) und zwar einmal durch die erhöhten Zuzahlungen und auf der anderen Seite zwischen Ost und West. ({3}) Im SGB V stehen die Übergangsregelungen zur Angleichung von Ost- und Westkassensystemen. Da aber die Grundlöhne in Ost und West weiter auseinanderdriften und auch die Arbeitslosigkeit unterschiedlich hoch ist, verschiebt sich das Erreichen der legendären Bezugsgröße von 80 Prozent bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Dauerkredite können Sie laut SGB V rechtsstaatlich nicht tolerieren; Sie haben in diesem Sinne ja auch einen Brief geschrieben. Bei der Beachtung der Rechtsnormen müssen Sie die Ostkrankenkassen zur Erhöhung von Beitragssätzen zwingen, was immense Zuzahlungserhöhungen für die Menschen im Osten nach sich zieht. Sie reden hier immer von einer historischen Sondersituation und beginnen mit Geheimdiplomatie. Aber ich frage Sie: Haben Sie vor, sich mit den ostdeutschen Sozialministern in einer Art Gemeinschaft zur Unterlaufung des SGB V zusammenzufinden? Das hätte sicherlich strategisch den Vorteil, daß Sie wegen der bunten politischen Landschaft im Osten auf einen Schlag fast alle Parteien in diesen Deal eingebunden hätten. ({4}) Die Abwärtsspirale im Osten betrifft alle Kassenarten und nicht nur die AOK, wie wir es immer in der Zeitung lesen. Allerdings muß man deutlich machen, daß der verdeckte Finanztransfer in den Osten für die Ersatzkassen wesentlich einfacher als für die AOKs zu bewerkstelligen ist. Wir vertreten weiterhin die Auffassung, daß man mit einem Ideenwettbewerb in der GKV ohne diesen ökonomischen Kassenwettbewerb eine Fortentwicklung hätte bewerkstelligen können. Wir sind weiterhin der Auffassung, daß der ökonomische Kassenwettbewerb unserem Gesundheitssystem schadet. Wenn Sie aber weiterhin diesen Wettbewerb aufrechterhalten wollen, dann müssen Sie zwangsläufig den Risikostrukturausgleich weiterentwickeln. Sie waren politisch auch schon einmal weiter; denn Sie haben in Ihrem GKV-Weiterentwicklungsgesetz genau dies mit dem Stichtag des 1. Januar 1999 vorgehabt und wollten einen bundesweiten Risikostrukturausgleich schaffen. Vielleicht paßt es jetzt ja nicht mehr in die großpolitische Wetterlage. ({5}) Einigkeit herrscht in Ihren Reihen auch nicht. Der scheidende brandenburgische Fraktionschef fordert den bundesweiten Risikostrukturausgleich. Gleichzeitig schürt die bayerische Sozialministerin den West-Ost-Sozialneid. Hier zeigt sich exemplarisch, daß wir mit den Bestimmungen des SGB V weiterhin eine soziale Mauer in Deutschland haben. Allerdings muß man auch richtigstellen, daß eine abrupte Einführung des bundesweiten Risikostrukturausgleichs zu einer paradoxen Schieflage im Westen führen würde. ({6}) Deshalb muß er abgefedert werden. Aber auch für einen AOK-internen Finanzausgleich brauchen Sie Gesetze. ({7}) So, wie Sie sich derzeit verhalten, daß Sie sich nämlich hinter einer historischen Sondersituation verschanzen, ohne irgend etwas zu tun, kommen wir nicht weiter. Wenn Sie unserer Problemanalyse folgen, wie Sie es öffentlich dargelegt haben, dann müssen Sie eigentlich die Konsequenz ziehen und Ihre Politik neu orientieren; denn Sie haben auf die Frage, wie in dieser historischen Situation unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit die Sozialsysteme finanziert werden müssen, keine Antwort gegeben. Der Griff in die Taschen der Krankenversicherten ist nicht genug. In der Diskussion über eine Wertschöpfungssteuer wird versucht, einen analogen Mechanismus zur lohnbezogenen paritätischen Finanzierung zu liefern. Wir fordern die Einbeziehung weiterer Besserverdienender und haben neben den Reformprojekten der einzelnen Sozialsysteme - ich komme gleich zum Schluß - ein sehr ausgefeiltes Ökosteuerkonzept zur Entlastung der Lohnnebenkosten vorgetragen. Ihre Politik geht in Richtung Krankenkassenpleiten und wird das Vertrauen in die bundesdeutsche Gesundheitsgesetzgebung zerstören. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! .Der Einzelplan, den uns der Bundesgesundheitsminister vorgelegt hat, drückt in vernünftiger Weise die Schwerpunkte aus, auf die wir uns in der Koalition verständigt haben. Er ermöglicht die Gestaltung dessen, was wir verabredet haben. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten bei den verschiedenen Gelegenheiten der Beratung der von uns eingebrachten und durchgesetzten Reformgesetze dargelegt, welche Erwartungen wir mit diesen Gesetzen und damit auch mit der von uns vertretenen Politik verbinden. Zugegebenermaßen fangen diese Gesetze erst in Teilen an zu wirken; das wissen wir. Die ersten Anzeichen aber deuten darauf hin, daß wir mit unseren Erwartungen richtig liegen. ({0}) Insofern möchte ich hier für die Freien Demokraten sagen, daß wir diesem Einzelplan in seinen Grundzügen zustimmen und die Politik, die der Gesundheitsminister im Kabinett in dieser Legislaturperiode vertreten hat, nachdrücklich unterstützen. Wir glauben, daß wir hier gemeinsam einer zentralen Herausforderung vernünftig Rechnung tragen, ({1}) nämlich dem Gesundheitswesen als Wachstumsbereich unserer Volkswirtschaft. Dies wird ein Wachstumsbereich bleiben. ({2}) Dort werden eher mehr Menschen tätig werden, dort wird eher mehr Geld ausgegeben werden: Die Menschen werden immer älter, weil der medizinische Fortschritt dies ermöglicht, und sie wollen hier den Schwerpunkt setzen, weil ihnen dieser Bereich so wichtig ist. ({3}) Die Finanzierung aber wird nicht auf dem früher üblichen Wege erfolgen können, nämlich ausschließJürgen W. Möllemann lich über die Gemeinschaft. Wenn den Menschen ihre Gesundheit so viel wert ist - und das ist zu begrüßen -, wir aber gleichzeitig nicht die Lohnzusatzkosten unbeschränkt weiter ansteigen lassen wollen, dann kann es den alten Mechanismus nicht mehr geben, jede zusätzliche Anforderung einfach auf die Löhne zu verlagern. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Witz ist: Wenn wir wie hier im kleinen Kreis zusammensitzen und uns in Einzelgesprächen unterhalten, gibt es über diesen Grundsatz einen breiten Konsens. Wir alle wissen, daß nicht weiter so verfahren werden kann, ({5}) daß wir jede Mehraufwendung für die sozialen Sicherungssysteme automatisch hälftig auf die Produktions- und Lohnkosten umlegen. Da es aber gleichzeitig keine Rationierung, keine Zuteilung staatlicherseits geben soll, bleibt nur die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen solidarischer Absicherung dessen, was solidarisch abgesichert werden muß, und der Finanzierung in Eigenverantwortung, durch eigene Beiträge. Es ist immer eine unangenehme Aufgabe, das neu zu bestimmen, weil es natürlich jeder gut findet, wenn zunächst und auch weiterhin alles von der Gemeinschaft bezahlt wird. ({6}) Ich hatte aber bei den Beratungen dieser Tage das Gefühl, daß ein Teil der Debatten die Leute draußen deswegen so anödet - darum schalten auch immer mehr ab -, weil wir hier, nur weil im nächsten Jahr und am 21. dieses Monats in Hamburg Wahlen sind, so tun, als könne man bestimmte ökonomische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Das ist absoluter Quatsch. Wir versuchen, diesen Gesetzmäßigkeiten mit unserem Konzept Rechnung zu tragen. Es geht um stärkere Eigenverantwortung; das geht nur mit mehr Transparenz. Wir haben unseren Weg vorgetragen, ihn im Parlament durchgesetzt, und nun wird er wirken. Ich möchte zum Schluß von dieser Stelle aus dem Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses, unserem Kollegen Thomae, ich denke, in unserer aller Namen gute Besserung wünschen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Den letzten Worten schließt sich das ganze Haus durch den Applaus auch an. Jetzt hat die Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Seehofer, es bleibt immer eine Frage, von welcher Interessenseite man eine Sache betrachtet oder bewertet. Aus meiner Sicht hat der bisherige Verlauf der Haushaltsdebatte einmal mehr unterstrichen, die Lösung der drängenden Probleme des Landes ist von dieser Regierung nicht mehr zu erwarten. Das gilt - ganz im Gegensatz zu Ihren Ausführungen - besonders auch für das Gesundheitswesen. So hat die gerade in Kraft gesetzte Reform die finanziellen Belastungen der Patienten und Versicherten in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß erhöht. Mit Kostenerstattungen, Selbstbehalten oder Beitragsrückgewähr wurden ohne jede Not Regelungen in die gesetzliche Krankenversicherung eingebaut, die früher oder später zur Aushöhlung und Zerstörung des Solidarausgleichs führen müssen, egal, was von anderer Seite behauptet wird. Wieder wurde kein einziger der wirklichen Treibsätze für die Kosten im Gesundheitswesen entschärft. Minister Seehofer aber tritt die Flucht nach vorn an und erklärte vor wenigen Tagen, ohne die erhöhten Selbstbeteiligungen wäre die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung bereits im Herbst und Winter diesen Jahres in Frage gestellt. Das ist nichts anderes als ein beschämendes öffentliches Eingeständnis des Scheiterns der Regierung auf dem Feld der Gesundheitspolitik. Hinzu kommt, daß es bereits ab nächstem Jahr schon deshalb zu erneuten Kostensteigerungen kommen wird, weil die Koalition die bestehenden Ausgabenbegrenzungen bei Arzneimitteln und Arzthonoraren deutlich gelockert hat. Das ist um so schlimmer, weil die seit langem bekannten relativen Einnahmeausfälle der Kassen wegen steigender Arbeitslosigkeit und niedrigeren Lohn- und Rentenzuwächsen erstmals zur Stagnation der Einnahmen im Westen und zu ihrem absoluten Rückgang im Osten geführt haben. Viele Fachexperten und alle Oppositionsparteien haben immer wieder auf diese bedrohliche Entwicklung hingewiesen. Von der Koalition wurde sie jedoch bis in die jüngste Zeit hinein hartnäckig geleugnet. Wer erinnert sich nicht: Für den Minister war die Sache immer ziemlich eindimensional. Mal waren es allein die Krankenhäuser oder Kureinrichtungen, mal die Versicherten in ihrem Anspruchsdenken und dann wiederum die Krankenkassen, die als Sündenböcke für die Defizite herhalten mußten. Aber noch gibt es Zeichen und Wunder. Vor wenigen Tagen wurde dem staunenden Publikum eine völlig neue Variante der Monokausalität angeboten. Nun sind es plötzlich nur noch die zurückbleibenden Einnahmen, denen allein die Schuld an der fortgesetzten Finanzmisere der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuschreiben ist. Wahrlich, ein neuer Salto mortale des Ministers. ({0}) Aber in Ihrer Einseitigkeit leider auch eine neue Fehldiagnose. Denn die großen Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen und das damit verbunDr. Ruth Fuchs dene Ausgabenproblem gibt es nach wie vor. Daran konnten weder die Leistungskürzungen des Beitragsentlastungsgesetzes noch die Zuzahlungserhöhungen der dritten Reformstufe etwas Substantielles ändern. Deshalb bleibt es dabei: Es ist gerade die zunehmende Überlagerung beider Problemseiten, auf die die Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung schon in den vergangenen Jahren zurückzuführen waren und heute noch sind. Bekanntlich erklärt sich auch so die besonders dramatische Situation, in die die Kassen in den neuen Bundesländern gekommen sind. Dabei zeigt sich erneut, wie kurzsichtig es war, sämtliche kostentreibenden Strukturen des bundesdeutschen Gesundheitswesens blindlings und völlig kritiklos auf die neuen Länder zu übertragen. ({1}) Wie hilfreich wäre es jetzt, könnte man beispielsweise auf die dort früher einmal gewachsenen Formen ärztlicher und berufsübergreifender Kooperation zurückgreifen. Ich glaube, die Polikliniken waren keine schlechte Einrichtung und hätten sehr viele Kosten gespart. ({2}) Nun aber ist guter Rat teuer; denn im Osten drohen Beitragserhöhungen auf über 15 Prozent, die tatsächlich - darin sind wir uns, glaube ich, alle einig - weder sozial- noch wirtschaftspolitisch zu verantworten sind. Zweifellos wäre eine vernünftige Lösung, die bisherige Trennung des Risikostrukturausgleichs nach Ost und West vorzeitig aufzuheben. Mindestens aber sind entsprechende Übergangslösungen dringend notwendig. Herr Minister, Sie haben heute die Notwendigkeit solcher Lösungen selbst eingefordert. Hoffentlich bleibt es nicht bei dem allerorts bekannten Ausspruch eines berühmten Fußballstars aus Ihrem Bundesland, nach dem Motto: Schau'n wir mal, mal sehen, was dann kommt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als letzte Rednerin in dieser Debatte erteile ich das Wort der Abgeordneten Waltraud Lehn.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wissen Sie, was man in Bayern unter „waigeln" versteht? ({0}) - Ganz genau; das werde ich Ihnen jetzt verraten, Herr Möllemann. Wenn ein Mann sich für ein altes Auto neue AluFelgen kauft und auf Nachfrage seiner Frau sagt: „Etwas mehr als 10 DM haben die gekostet" - obwohl der eigentliche Preis 2000 DM ist -, dann heißt es im Volksmund inzwischen: Er hat ein bißchen „gewaigelt". ({1}) Wird das Volk Sie, Herr Minister Seehofer, demnächst den Wunderprediger aus Ingolstadt nennen? Bereits in einem Jahr könnte es zu folgendem politischen Nachruf kommen: Er glaubte an das Wunder, durch Nichtstun oder falsches Tun das Gesundheitssystem zu verbessern. ({2}) Alle hier konnten sich gerade darüber wundern, wie der Minister aus einem katastrophalen Minushaushalt ein Trugbild der Zukunft hervorzuzaubern bemüht war. Er empfahl den chronisch oder psychisch erkrankten genauso wie den alten Menschen, an das Wunder einer Selbstheilung zu glauben, wenn das Portemonnaie die Bezahlung notwendiger Medikamente und Hilfsmittel nicht mehr möglich macht. Ob er in die Annalen des Bundestages als Wunderprediger eingehen wird, das weiß ich nicht, aber sicher bin ich, daß es in fünf Jahren niemanden mehr wundern wird, warum es den Gesundheitsminister Seehofer schon seit vier Jahren nicht mehr gibt. ({3}) Mit der Vorlage des Haushaltsentwurfs 1998 für den Einzelplan 15 hat Herr Seehofer endgültig vor seinem Parteichef, Bundesfinanzminister Waigel, kapituliert und erneut jede vernünftige Gesundheitspolitik zunichte gemacht. ({4}) Bereits Anfang des Jahres, als der Finanzminister mal wieder nicht weiterwußte in seinem finanzpolitischen Chaos und als er bei den einzelnen Ressorts nach Einsparungsmöglichkeiten suchte, eilte Herr Seehofer, wie wir erleben mußten, als Musterschüler voran und bot von sich aus stolz eine globale Minderausgabe für seinen Haushalt in Höhe von 26 Millionen DM an. Hauptsächlich betroffen von dieser Rotstiftpolitik, wie wir inzwischen aus dem Haushaltsplan ersehen können, waren die Aufklärungs- und Präventionsarbeit mit einem Volumen von über 15 Millionen DM, wobei für Forschung und Modellvorhaben noch einmal rund 6 Millionen DM hinzukommen. ({5}) Von dieser Basis ausgehend, rechnet er jetzt ein paar Mark drauf und gibt das als Gewinn aus. Das ist nun wirklich nicht nur Schönfärberei, sondern das möchte ich als ({6}) unverschämt bezeichnen. ({7}) Diese Politik setzt sich mit dem Haushaltsentwurf 1998 nun nahtlos fort. Entweder ist dieser Gesundheitsminister der Auffassung, daß Prävention und Gesundheitsförderung reine Privatangelegenheiten sind, oder er hat seinen klammheimlichen Beitrag zur Kabinettsumbildung geleistet und das Finanzressort bereits übernommen. ({8}) Ich wage allerdings zu bezweifeln, daß Sie, Herr Seehofer, als Finanzchef auch nur einen Deut besser aussehen könnten als Herr Waigel. Denn Ihre Gesundheitspolitik ist nicht nur menschenfeindlich, Herr Seehofer, sie ist auch ökonomisch höchst unsinnig. Schon einem Kind im Kindergartenalter wird heute beigebracht, daß es besser ist, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, wenn man anschließend nicht zahnkrank werden will und viel Geld beim Zahnarzt lassen möchte. Sie, Herr Gesundheitsminister, sind von diesem Stadium frühkindlicher Lebenserfahrung offensichtlich noch weit entfernt. Wie anders ist es zu erklären, daß gesundheitliche Aufklärung und Prävention bei Ihnen so gut wie nicht mehr stattfinden? Geradezu verräterisch sind die Erläuterungen zu der Neuorientierung der Aufgaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die man im Haushalt übrigens nur im Kleingedruckten wiederfindet. Bei den Schwerpunkten ist die Gesundheitsförderung überhaupt nicht mehr aufgeführt. ({9}) - Das ist wirklich wahr, Herr Möllemann. Man müßte in der Tat aus Scham stillschweigen. Dann würde ich Ihnen aber ersparen, sich das anzuhören. Das möchte ich dann doch nicht. Wer nicht weiß, was krank macht, wer nicht forscht, wie Krankheiten zu heilen sind, wer nicht alles tut, um Krankheiten zu verhindern, der vermeidet wirklich alles, was man mit den Begriffen „kostengünstig" und „effektiv" umschreiben könnte. Man mag miteinander darüber streiten, welche Form der Aufklärung, zum Beispiel über die Gefahren des Rauchens, am wirkungsvollsten ist. Man mag darüber streiten, wie die Darstellung des Gebrauchs von Kondomen zur Vermeidung von Aids am eindrucksvollsten erfolgen kann. Nicht darüber streiten kann man, daß Aufklärung notwendig ist und daß der Verzicht auf Aufklärung uns viel zu teuer zu stehen kommt. ({10}) Für Ihre unökonomische Sichtweise sprechen die von Ihnen vorgenommenen Abstriche im Gesundheitswesen ganze Bände. Bei den vier großen Schwerpunkten Krebsbekämpfung, Aidsbekämpfung, Maßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs und Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie wird, wie in den letzten fünf Jahren - mein Kollege hat das ausgeführt -, weiter gekürzt. Wenn ein Bauarbeiter, der 40 Jahre alt ist, einen Herzinfarkt bekommt, frühzeitig aus dem Krankenhaus muß, dann zur Vermeidung von erheblichen Einkommenseinbußen zu früh wieder arbeiten geht, sich eine Kur wegen der Zuzahlung nicht leisten kann, ({11}) dann einen Reinfarkt bekommt, schließlich berufs- und erwerbsunfähig wird, fällt er nicht nur durch das Loch in den kommunalen Kassen - er wird nämlich Sozialhilfeempfänger -, sondern er wird auch zum Nichtsteuerzahler, produziert vom verantwortlichen Gesundheitsminister. Weil es eben nicht nur im Einzelfall, sondern wie wir bereits jetzt erkennen, in einer Vielzahl von Fällen dazu kommt, daß Menschen nach ernsthafter Erkrankung zu früh wieder arbeiten gehen, daß Menschen aus Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes trotz Erkrankung arbeiten gehen, daß Kuren aus eben diesem Grund, oder weil man sie sich nicht leisten kann, nicht mehr angetreten werden, muß man sagen, daß Sie, Herr Seehofer, Ihren ganz eigenen Beitrag zur Verschlechterung der Finanzsituation dieses Landes leisten, ({12}) schlimmer noch: zur Verschlechterung der Lebenssituation der betroffenen Menschen. ({13}) Ökonomisch unsinnig und gesundheitspolitisch schädlich nenne ich Ihr Handeln - das sich in diesem Haushalt ganz konsequent wiederfindet - für den Arbeitsmarkt Gesundheitswesen. Diesen Markt, Herr Möllemann, auf einen Wachstumsmarkt zu reduzieren ist einer der zentralen Fehler, den Sie machen. Sie schaffen es nicht, die Arbeitslosigkeit in diesem Land zu bekämpfen, weil Sie nicht verstehen, daß Wachstum nicht nur keine Garantie für zusätzliche Beschäftigung ist, sondern daß Wachstum in ganz bestimmten Kombinationen Arbeitsplätze vernichten kann. Die Ausgaben im Gesundheitswesen wurden durch keine Ihrer Taten gebremst, aber Arbeitsplätze wurden konkret vernichtet bzw. sind akut und ernsthaft gefährdet. Ich nenne hier beispielhaft den Kurbereich. Mehr als die Hälfte der Kur- und Rehaeinrichtungen steht heute vor dem Ruin. Die bereits beschlossenen Kürzungen führten zu einem Belegungsrückgang von bis zu 60 Prozent. Mehr als 80 000 hochqualifizierte Arbeitsplätze drohen verlorenzugehen. 20 000 sind bereits weg. Herr Sauer, da stellen Sie sich hier hin und prahlen mit 181 Arbeitsplätzen. Da frage ich Sie: In welchen Relationen leben Sie denn gegenüber diesen Zigtausenden, die bereits verlorengegangen sind? ({14}) Während Sie, Herr Seehofer, die Zahl der Arbeitslosen durch Ihre Maßnahmen signifikant erhöht haben, haben Sie gleichzeitig - das ist besonders perfide - einzelne Ärzte und die Pharmaindustrie mit Geldgeschenken überhäuft. ({15}) Durch die Abschaffung der Vermögensteuer haben Sie sichergestellt, daß die Anhäufung von Geld nicht etwa zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben verwendet wird. Wer auf die Durchführung von Modellvorhaben verzichtet, wer die Mittel für die Forschung zusammenstreicht, ({16}) der schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland, ({17}) und er vernichtet auch hier erneut und in nennenswerter Zahl besonders zukünftige Arbeitsplätze. Das mag Ihnen nicht gefallen, aber das ist die bittere Wahrheit. ({18}) Ich fordere Sie auf: Ändern Sie Ihre krankmachende Politik, machen Sie die von Ihnen beschlossene Reduzierung der sozialen Krankenversicherung auf eine Minimalversorgung rückgängig. ({19}) Beenden Sie den Griff ins Portemonnaie der Kranken, der Alten und der Familien! Stellen Sie ausreichend Mittel zur Verfügung, damit sich die Qualität der Gesundheitsversorgung in unserem Land weiterentwickeln kann! Handeln Sie zukunftsweisend, indem Sie Arbeitsplätze erhalten, ja, sogar Chancen für neue eröffnen! Beenden Sie Ihre Demontagepolitik! ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Ich berufe darum die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. September 1997, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Morgen geht es weiter.