Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/9/1995

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir zwei Mitglieder für den Rundfunkrat und ein Mitglied für den Verwaltungsrat der Deutschen Welle wählen. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Mitglied für den Rundfunkrat der Deutschen Welle den Kollegen Dr. Joseph-Theodor Blank vor, die Fraktion der SPD den Kollegen Günter Verheugen. Für den Verwaltungsrat der Deutschen Welle schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Johannes Gerster ({0}) vor. Sind Sie mit den Vorschlägen einverstanden? Ich bitte um Zustimmung durch Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit sind die Vorschläge bei einigen Enthaltungen und Gegenstimmen angenommen. Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung ist vorgesehen, daß Mitglieder des Europäischen Parlaments an den Sitzungen des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen können. Die Zahl und die Zusammensetzung sind in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und müssen daher vom Plenum festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt elf mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSU fünf Mitglieder, auf die SPD fünf Mitglieder und auf BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ein Mitglied. Sind Sie mit den Vorschlägen einverstanden? Ich bitte um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Vorschlag bei drei Enthaltungen angenommen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Vereinbarte Debatte zur Strukturreform der ARD in Verbindung mit 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Arne Börnsen ({1}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Garantie des Bestandes der ARD - Drucksache 13/396 - ({2}) 3. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Sicherung des Verbraucherschutzes bei Rindfleischimporten - Drucksache 13/403 4. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Hochwasserkatastrophe - Hilfen und Möglichkeit vorbeugender Maßnahmen 5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Cern Özdemir, Kerstin Müller ({3}), Volker Beck ({4}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts ({5}): - Drucksache 13/423 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Angelika Beer, Christian Sterzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschaffung der Tiefflüge - Drucksache 13/406 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Hubert Hüppe, Monika Brudlewski, Wolfgang Bosbach und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des ungeborenen Kindes - Drucksache 13/395 8. Erste Beratung des von den Abgeordneten Christina Schenk, Petra Bläss und der weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unantastbarkeit der Grundrechte von Frauen - Ergänzung des Grundgesetzes ({6}) und entsprechende Änderungen des Strafgesetzbuches - Drucksache 13/397 9. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz - Drucksache 13/399 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({7}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Selbstbestimmungsrecht der Frauen - Drucksache 13/ 409 - 11. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beteiligung des Bundes an einem Aktionsprogramm zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung nach dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz - Drucksache 13/412 - Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 7, Kernenergiepolitik der Bundesregierung, und den Tagesordnungspunkt 12g, Antrag zur VN-Konferenz in Berlin, abzusetzen. Der Gesetzentwurf zur Änderung des Urheberrechts, Tagesordnungspunkt 9, soll ohne Beratung an die Ausschüsse überwiesen werden. Die Tagesordnungspunkte ohne Beratung werden unmittelbar nach der Debatte zur Hochwasserkatastrophe aufgerufen. Die Fragestunde beginnt voraussichtlich um 17.20 Uhr. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Des weiteren mache ich auf geänderte Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 15. Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. 01. 1995 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur federführenden Beratung überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr dem Ausschuß für Gesundheit federführend überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner und der weiteren Abgeordneten der PDS: Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern - Drucksache 13/275 - Der in der 13. Sitzung des Deutschen Bundestages am 20. 01. 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Klimaschutz - Erste Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention vom 28. März bis 7. April 1995 sowie Umsetzung des nationalen CO2-Minderungsprogramms - Drucksache 13/232 - Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Es gibt keinen Widerspruch. Wir verfahren so. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3a bis 3c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1995 der Bundesregierung - Drucksache 13/370 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({8}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 1994/95 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 13/26 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({9}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht zum Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland - Drucksache 12/8090 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({10}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Zum Jahreswirtschaftsbericht liegt ein Entschließungsantrag der PDS auf Drucksache 13/420 vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Herr Bundesminister Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht 1995 ist der 28. Bericht, den die Bundesregierung auf Grund des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes vorlegt. Dieses Gesetz wurde im Jahre 1967 während der Amtszeit von Professor Dr. Karl Schiller verabschiedet. Karl Schiller war ein überzeugter Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn wir heute entschieden für weniger Staat und mehr Marktwirtschaft eintreten, dann nicht zuletzt auf der Grundlage seiner Ideen. Seinem Erbe sind wir gemeinsam - über Parteigrenzen hinweg - verpflichtet, und dies gilt auch über die tagespolitische Auseinandersetzung hinaus. ({0}) Meine Damen und Herren, der Jahresbericht ist Bilanz und Prognose zugleich. Wir stellen fest: 3 % Wachstum 1994 und etwa die gleiche Rate auch für 1995. Dies ist nicht Verdienst der Regierung allein; das ist das Ergebnis der wirtschaftlichen Aktivität unseres ganzen Landes. Darin spiegeln sich die Entscheidungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, großer gesellschaftlicher Institutionen wider, und es gibt auch außenwirtschaftliche Einflüsse. Aber, meine Damen und Herren, so schlecht kann ja auch die Wirtschaftspolitik nicht gewesen sein, wenn es gelingt, innerhalb von anderthalb Jahren die tiefste Rezession der Nachkriegszeit zu überwinden, den Aufbau in den neuen Ländern in Gang zu bringen und strukturelle Veränderungen in unserem Land einzuleiten. ({1}) Da sind Weichenstellungen und Entscheidungen in unserer Wirtschaftspolitik vorgenommen worden, die dieser Entwicklung wichtige Impulse gegeben haben. Aber, meine Damen und Herren, Vergangenheitsbewältigung ist heute nicht das Thema. Nur ein Rückblick auf die letztjährige Debatte sei gestattet: Da wurde unser vorsichtiger Optimismus von der Opposition wiederholt als „Schönrechnerei", ({2}) als „unseriöses Gerede" - so Herr Jens - abgetan. Die Bundesregierung versuche, so hieß es, die Konjunktur gesundzubeten. Und was ist Faktum, was ist richtig? Richtig ist, daß die SPD versucht hat, die Konjunktur krankzubeten, weil sie ihre Wahlkampfstrategie darauf gebaut hat. Diese Strategie ist nicht aufgegangen. Wie sollte sie auch, meine Damen und Herren? ({3}) Wir haben auch im Wahljahr Realitätssinn bewiesen und auf langfristige Strukturveränderungen hingearbeitet. Jeder weiß - auch wir, meine Damen und Herren -, daß ein Arbeitsloser sich von beeindruckenden Wachstumsraten des Sozialprodukts nichts kaufen kann, aber wir haben ein Konzept zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und zur Rückführung der Arbeitslosigkeit. Der Kern dieses Konzepts ist unser Standortprogramm. Dieses Standortprogramm findet überall breite Zustimmung. Ich habe noch niemanden gesehen, der eine ernsthafte Alternative dazu entwickelt hat. ({4}) Wir setzen auf eine neue Dynamik bei Forschung und Entwicklung, auf Kostensenkung in den Unternehmen, auf Rückführung der Steuern, auf Flexibilisierung der Arbeitswelt, auf weniger Bürokratie und mehr Privatinitiative. Hinter diesen Begriffen stehen zahlreiche Maßnahmen und Projekte, und zwar in der Verantwortung der Wirtschaft, in der Verantwortung der Tarifparteien und selbstverständlich auch in der Verantwortung der Politik. Daß diese Projekte, daß diese Maßnahmen politische Realität werden, darin liegt jetzt unsere gemeinsame Aufgabe. Ich sage noch einmal: Zum Konzept unserer Wirtschaftspolitik gibt es keine Alternative. ({5}) Sie, meine Damen und Herren, können zwar darüber beraten, ob wir den einen oder anderen Haushaltstitel anheben oder nicht, ob ABM ausgeweitet oder reduziert werden sollen, ob der Familienleistungsausgleich so angelegt wird oder so, ob ein Ersatz für den Kohlepfennig eingeführt wird oder nicht - das alles zu bewerten liegt im Auge des Betrachters. Nur, meine Damen und Herren, eine neue Politik, ein neues Konzept ist dies nicht. Das wissen Sie auch, und deshalb ist Oppositionspolitik in diesen Jahren so schwer. ({6}) Die deutsche Wirtschaft befindet sich auf klarem Expansionskurs, und zwar ohne inflationäre Spannungen. Die Bundesregierung erwartet auch 1995, ob Sie das nun mögen oder nicht, ein Wachstum von 3 %; und zwar ein spannungsfreies Wachstum, weil wir eine geringe Preissteigerungsrate in der Größenordnung von 2 % erwarten. Besonders erfreulich in diesem Zusammenhang ist der Zuwachs von 8 bis 10 % in Ostdeutschland. Das entspricht den Prognosen der überwältigenden Mehrheit der Konjunkturauguren. Das entspricht auch den Erwartungen des Sachverständigenrates, dem ich auch von dieser Stelle aus für seine hervorragende Arbeit danken möchte. Vor diesem Hintergrund ist es allmählich langweilig, wenn Herr Jens unsere Projektion mit Grimms Märchen vergleicht. Im letzten Jahr haben Sie sie als ein Wintermärchen bezeichnet. Der beste Märchenerzähler sind Sie, Herr Jens, mit Ihrem ständigen Hinweis darauf, daß wir schönrechnen und gesundbeten. Das Gegenteil ist der Fall. Wir übertreffen das, was wir projiziert haben. Sie sind der Märchenerzähler; so wird ein Schuh daraus. ({7}) Auch jüngste Daten zeigen eine erhebliche konjunkturelle Dynamik. Im vierten Quartal 1994 war die Industrieproduktion in Westdeutschland um 5,7 % höher als im Vorjahr; die Kurzarbeit ist fast vollständig abgebaut. In diesem Jahr wird die wirtschaftliche Dynamik im Durchschnitt 300 000 neue Arbeitsplätze bringen, etwa gleich verteilt auf Ostdeutschland und auf Westdeutschland. Entsprechendes gilt für die Verringerung der Arbeitslosenzahl. Jahreszeitlich bedingte Schwankungen, die in diesem wie in jedem Jahr im Januar auftraten, ändern nichts an diesem eindeutigen Trend. Die Wende am Arbeitsmarkt kann nicht mehr weggeredet werden, ({8}) und die aktuelle Situation, auf die Sie sich heute mit Verve stürzen, hat ausschließlich saisonale Ursachen. Es bleibt dabei: In diesem Jahr wird es 300 000 Arbeitslose weniger und 300 000 Arbeitsplätze mehr geben, meine Damen und Herren. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ja, bitte.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, würden Sie bitte eine Stellungnahme abgeben zu folgendem, was ich Ihnen aus der „Kreiszeitung" von Mittwoch, dem 8. Februar, vorlese: Der Arbeitsmarkt im Altkreis Diepholz war zum Jahresanfang starken Belastungen ausgesetzt. Jahreszeitliche Einflüsse und strukturbedingte Anpassungsprozesse ließen die Arbeitslosigkeit kräftig ansteigen. Des weiteren wirkte sich der Kündigungstermin für Angestellte zum vorangegangenen Quartalsende aus. Auch machten sich Arbeitslosmeldungen von älteren Arbeitnehmern und Berufsabsolventen bemerkbar. Wie paßt das zu dem, was Sie hier vortragen?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Haargenau, Herr Kollege. Das ist das, was ich hier gesagt habe; das ist dort niedergelegt. So ist das. ({0}) Jahreszeitlich bedingte Einflüsse, nicht zuletzt der Kündigungstermin zum Ende des letzten Quartals, haben dazu geführt - richtig vorgelesen, Herr Kollege -, daß wir im Januar eine höhere Arbeitslosenzahl hatten als vorher. Dies steht aber nicht im Widerspruch dazu, daß wir im gesamten Jahr 1995 300 000 Arbeitslose weniger erwarten. Was wollen Sie eigentlich, meine Damen und Herren? ({1}) Jeder weiß, daß am Beginn eines Aufschwungs die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zunächst gering sind. In allen Konjunkturaufschwüngen der letzten Jahrzehnte ist das so gewesen. Deshalb kommt es jetzt darauf an, den Konjunkturaufschwung in ein dauerhaftes, spannungsfreies Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum überzuleiten. Dies hat in der Zeit von 1983 bis 1992 in Westdeutschland zu über 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen geführt. Die Arbeitslosigkeit ist in dieser Zeit zwar nur um eine halbe Million zurückgegangen. Aber diese beiden Entwicklungen, meine Damen und Herren, machen deutlich, daß das Wort von der kontinuierlich steigenden Sockelarbeitslosigkeit irreführend ist. Es verdeckt die eigentliche Situation: Wir haben zwar eine hohe Arbeitslosigkeit, wir haben gleichzeitig aber auch eine hohe Beschäftigung. Mit 29 Millionen Erwerbstätigen in Westdeutschland haben wir jetzt mehr Arbeitsplätze als je zuvor in der alten Bundesrepublik. Die Zahl der Arbeitslosen ist trotzdem zu hoch, vor allem weil in den letzten Jahren enorm viele Menschen auf den Arbeitsmarkt drängten; weil wir hohe Zuwanderungen hatten und die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter gestiegen ist und weil mehr Frauen in das Berufsleben drängten. Ich sage das ohne Kritik, meine Damen und Herren. Es ist keine Klage, sondern nur eine Erklärung dafür, daß heute sehr viel bessere Aussichten am Arbeitsmarkt bestehen als zuvor. Die Situation hat sich nämlich insofern wesentlich geändert. Nach Ansicht sämtlicher Fachleute wird der Andrang auf dem Arbeitsmarkt nachlassen. Deshalb kann sich die positive Beschäftigungsentwicklung in einem entsprechend hohen Rückgang der Arbeitslosigkeit niederschlagen. Das ist eine Analyse, mit der Sie sich anfreunden sollten, meine Damen und Herren. ({2}) Der Jahreswirtschaftsbericht sagt ungeschminkt: Mit der Überwindung der Rezession sind die strukturellen Probleme längst nicht gelöst. Die Ausgangsbedingungen für eine Runderneuerung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems aber sind durch den Aufschwung erheblich besser geworden. Ich warne davor, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen auf die lange Bank zu schieben. Die Bundesregierung jedenfalls geht diese Aufgabe gemeinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften an. Das hat bereits zu ersten Ergebnissen geführt. Die erste Runde beim Bundeskanzler im Januar hat konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit vorgesehen. Für 180 000 Arbeitslose werden wir neue Beschäftigungsfelder schaffen. ({3}) Für die Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit brauchen wir zudem neue Instrumente. Ich freue mich sehr, daß Herr Schröder unserem Vorschlag zu mehr Beschäftigung in privaten Haushalten aufgeschlossen gegenübersteht. ({4}) Leider polemisieren die meisten in Ihrer Partei immer noch gegen das sogenannte Dienstmädchenprivileg, ({5}) eine Terminologie, eine Denkweise der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. ({6}) Es geht hier nicht um Privilegien, es geht um mehr Beschäftigung. Diese wird es nur dann geben, wenn mehr Beweglichkeit entsteht, auch in Ihren Köpfen, meine Damen und Herren. ({7}) Ich werde den Dialog mit Unternehmensverbänden und Gewerkschaften fortsetzen mit einer Serie von Wirtschaftsgesprächen, zu einzelnen Branchenproblemen, aber auch zu übergreifenden Themen wie Innovationstechnologien und Dienstleistungen. Das erste Gespräch findet Mitte März mit der Automobilindustrie und ihren Zulieferern statt. ({8}) - Ach, mein Freund mit der Stentorstimme ohne Inhalt. ({9}) Meine Damen und Herren, wir gehen langfristige Strukturverbesserungen im Dialog an. Das ist besser als der kurzatmige Aktionismus der SPD. Ich will ein Beispiel nennen: die „Abwrackprämie". Sie, Herr Schröder, sollten die Meldungen aus der Automobilindustrie zur Kenntnis nehmen, die Ihnen klargemacht haben müßten, wie widersinnig Ihr Vorschlag der Abwrackprämie war. In Sachen „Abwrackprämie" empfehle ich Ihnen die französische Erfahrung als Anschauungsunterricht; ich komme gerade aus Frankreich. Als Folge des inzwischen heruntergebrannten Strohfeuers droht jetzt in Frankreich ein deutlicher Einbruch der Nachfrage. Prompt gerät die französische Regierung unter Druck, die Absatzsubventionen weiter zu erhöhen. So etwas wollen wir nicht. Deshalb war und ist dieser Vorschlag widersinnig. ({10}) Statt auf industriepolitischen Interventionismus zu setzen, sollten Sie mit uns für einen schlanken Staat, für Steuerentlastung und für Kostensenkung eintreten. Vor allem in der Folge der Wiedervereinigung ist der Zugriff des Staates auf das Bruttosozialprodukt stark gestiegen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ja, eine gestatte ich noch. - Ach, mein Freund, ja. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gegen Freunde kann man sich nicht immer wehren, Herr Minister. - Ist Ihnen zum Thema Automobilindustrie bekannt, daß im Jahre 1988 Herr Steinkühler an einen Ihrer Vorgänger im Amt, Bangemann, einen Brief mit der dringenden Bitte geschrieben hat, in einen Dialog über die Automobilindustrie zu treten, ({0}) und daß Ihr Parteifreund damals gesagt hat, dies sei nicht notwendig, über die Probleme der Automobilindustrie müsse in diesem Lande nicht diskutiert werden, so daß bis heute der von Ihnen angekündigte Dialog nicht stattfand? Ist Ihnen dieser Sachverhalt noch gegenwärtig?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Wissen Sie, was mir vor allem gegenwärtig ist? Daß wir mit der Automobilindustrie allein in meiner zweijährigen Amtszeit mindestens drei Gespräche geführt haben, ({0}) daß meine Mitarbeiter fast täglich Gespräche und Diskussionen mit der Automobilindustrie führen. Was denken Sie sich eigentlich, wie wir Politik machen? Wir sitzen nicht da und lesen Zeitungen vor, die das bestätigen, was ich sage, sondern wir machen aktive Wirtschaftspolitik, u. a. mit der Automobilindustrie. ({1}) Meine Damen und Herren, unbestreitbar ist - dem müssen wir uns widmen -, daß die Steuer- und Abgabenlast zu hoch ist. Der Jahreswirtschaftsbericht bestätigt unser Ziel, die Staatsquote von 50 % auf 46 % am Ende dieses Jahrzehnts zu senken; denn dies ist die Voraussetzung für Abgabensenkung und damit für mehr Investitionen und für mehr Arbeitsplätze. Gerade der Mittelstand, der die meisten Arbeitsplätze schafft, leidet unter den hohen Abgaben. Deshalb liegt der wichtigste Beitrag, den die Politik zur Verbesserung der Standortqualität leisten muß, in der Senkung der Steuer- und Abgabenlast. Wir haben unsere Vorschläge klar auf den Tisch gelegt. ({2}) Wir haben einen Fahrplan - ich werde Ihnen das darstellen -: erstens Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1996 und zum gleichen Zeitpunkt eine mittelstandsfreundliche Senkung der Gewerbeertragsteuer; selbstverständlich bei einem fairen Ausgleich für die Kommunen. ({3}) - Ich sage ja, daß wir das machen werden. ({4}) - Das werden wir Ihnen sagen, wenn es soweit ist. ({5}) - Machen Sie doch Vorschläge! - Es ist zum 1. Januar 1996 soweit. Ein klares Prinzip, ein klares Konzept, aber von Ihnen nichts außer semantischen Geräuschen, meine Damen und Herren. ({6}) Zweitens. Die Vermögensteuer in Ostdeutschland bleibt bis Ende 1998 ausgesetzt. Drittens. Die Steuerfreistellung des Existenzminimums ist eine Selbstverständlichkeit, und davon sollen - im Gegensatz zur Absicht der SPD - alle Steuerpflichtigen profitieren. Viertens gehört zu unserem Fahrplan auch die jährliche Prüfung des Solidarzuschlages, der so bald wie möglich abgebaut werden muß. ({7}) Auch der hessische SPD-Ministerpräsident plädiert für die Abschaffung des Solidaritätszuschlages, allerdings nur für die Bezieher niedriger Einkommen. Scheinbar weiß er nicht, daß ein Niedrigverdiener, der entsprechend wenig Lohn- oder Einkommensteuer zahlen muß, z. B. ein Verheirateter mit zwei Kindern und einem monatlichen Einkommen von etwa 4 000 DM, schon heute keinen Solidaritätszuschlag zahlt. Mich wundert außerdem, daß die SPD aus Herrn Scharpings kläglichem Scheitern in dieser Sache offensichtlich nichts gelernt hat. ({8}) Es geht hier um zusätzliche Arbeitsplätze. ({9}) Über Umverteilungsdebatten erreichen wir dieses Ziel nicht. Wir brauchen Wachstum. Wenn wir Wachstum haben, dann können wir auch verteilen. Darauf konzentrieren wir unsere Anstrengungen, meine Damen und Herren. Was hohe Wachstumsdynamik ausmacht, das sehen wir z. B. in den neuen Ländern. Dort haben die Menschen mit ihrer Eigeninitiative entscheidend zum wirtschaftlichen Aufbau beigetragen. Wir haben für konsequente Privatisierung gesorgt. Wir haben Investitionsanreize zur Verfügung gestellt, niedrige Steuern vereinbart und außerdem die Genehmigungsverfahren beschleunigt. Wir haben die wirtschaftliche Erneuerung mit erheblichen Finanztransfers unterstützt. Das zahlt sich jetzt aus: mit Wachstumsraten von nahezu 10 %, mit Rekordinvestitionen und vor allem mit einer erkennbaren Trendwende am Arbeitsmarkt. ({10}) Fast 500 000 mittelständische Existenzen mit rund 3,2 Millionen Beschäftigten bilden eine wirtschaftspolitische Bilanz, auf die wir stolz sind und die sich sehen lassen kann. Im Osten Deutschlands hat ein Mittelstandswunder stattgefunden; das ist das Ergebnis auch unserer Politik, und darauf sind wir stolz. ({11}) Die Fortführung wichtiger Förderprogramme für den Aufbau Ost bleibt unverzichtbar; denn Ostdeutschland hat erst den halben Weg hinter sich. Von Normalität kann noch nicht die Rede sein. Vor allem die industrielle Basis ist zu schmal. Die Industrie in Ostdeutschland trägt lediglich 17 % zur Wertschöpfung bei - und damit 8 % weniger als die in Westdeutschland. Wir werden daher das Förderinstrumentarium in Zukunft stärker auf die Industrie konzentrieren. Wir straffen die Förderung, gestalten sie deutlich degressiv, und wir werden sie weiter schrittweise zurückführen. Damit ist gleichzeitig eines klar: Einen solchen West-Ost-Transfer kann und wird es nicht ewig geben. Ostdeutschland muß die Aufholjagd zunehmend aus eigener Kraft schaffen. Bis dahin heißt die Devise aber nach wie vor: Der Aufbau Ost hat Vorrang vor dem Ausbau West. ({12}) Meine Damen und Herren, ich sage ganz klar: Ich halte nichts davon, das Thema Subventionsmißbrauch im Osten zu instrumentalisieren. Wo es Subventionen gibt, gibt es leider auch Subventionsmißbrauch. Das ist kein Thema Ost, das ist ein Thema der besseren Kontrolle, ein Thema, das wir ernst nehmen müssen und dem wir uns mit ganzer Kraft widmen werden. ({13}) Meine Damen und Herren, wenn die Opposition den Aufschwung auf die Exportkonjunktur zurückführt, dann klingt das, als ob das etwas Verwerfliches wäre oder uns die Exporterfolge in den Schoß fielen. Nein, darin äußert sich die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Die deutschen Exporterfolge verdanken wir der Initiative, der Leistung und der Kreativität von Unternehmern und Arbeitnehmern sowie der Vernunft der Tarifparteien. Wir bemühen uns um den weltweiten Abbau von Subventionen und Protektionismus. Wir öffnen Türen für unsere Unternehmen im Ausland: mit dem Hermes-Instrumentarium, mit finanzieller Unterstützung der Auslandshandelskammern, mit sogenannten Deutschen Häusern und mit umfassender Beratungshilfe. Deshalb fahre ich mit einer Delegation der deutschen Wirtschaft im April nach Malaysia, nach Vietnam, nach Indonesien, Ende des Jahres nach China und im nächsten Jahr nach Australien und nach Südafrika. ({14}) Meine Damen und Herren, das sind Reisen, wie wir sie mit großem Erfolg auch 1993 und 1994 gemacht haben und von denen wir Milliardenaufträge für die deutsche Wirtschaft und damit für Arbeitsplätze mitgebracht haben. ({15}) Ein zentrales Standortthema ist auch die Energiepolitik. Gerade hier sind gemeinsame Entscheidungen Voraussetzung für langfristig tragfähige Lösungen. In der letzten Legislaturperiode hatten wir einen vielversprechenden Anlauf genommen. Ich bedaure sehr - ich habe das wiederholt gesagt -, daß Herr Schröder damals von seiner eigenen Partei ausgebremst worden ist. Nun müssen wir einen neuen Anlauf nehmen. Wer auf unserer Seite, Herr Schröder, die Gesprächsführung haben sollte, darüber zerbrechen Sie sich mal nicht den Kopf. Das Thema ist viel zu wichtig, ({16}) als daß wir parteitaktische Spielereien damit treiben könnten. Ich werde in Kürze zusammen mit der Kollegin Merkel einladen, und ich suche den Dialog mit allen, die ohne Vorbedingungen dazu bereit sind. ({17}) Ich suche eine breite Übereinstimmung für kostengünstige, sichere und möglichst umweltverträgliche Energieversorgung ({18}) durch Nutzung aller Energieträger, und dies ist nicht verhandelbar, meine Damen und Herren. ({19}) Das ist das einzige, was nicht verhandelbar ist: durch Nutzung aller Energieträger. ({20}) Es geht hier nicht um den Ausstieg aus der Atomenergie, es geht darum, wann und wie vorhandene Kernkraftwerke abgeschaltet werden sollen und können. Aber die Option auf die friedliche Nutzung der Kernenergie muß offenbleiben, und das ist nicht verhandelbar, meine Damen und Herren. ({21}) Die rot-grüne Verhinderungspolitik am Standort Hanau ist im übrigen ein Beispiel für Ihre unverantwortliche Politik. ({22}) Sie ist Gift für unsere Industrie, unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und für unser Ansehen in der Welt. Meine Damen und Herren, ich blicke zuversichtlich in das vor uns liegende Jahr. Die wirtschaftliche Entwicklung geht in die richtige Richtung. Bei allen Beteiligten ist das Bewußtsein für die Notwendigkeit des Wandels deutlich gewachsen. Viele Gewerkschaftsvertreter, nicht zuletzt der DGB-Chef selbst, sind der Opposition in diesem Hause weit voraus, wenn es darum geht, höhere Flexibilität am Arbeitsmarkt zu schaffen und strukturelle Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft zu einem gemeinsamen Anliegen zu machen. Die Gespräche mit Verbänden und Gewerkschaften in der letzten Woche und in den Wochen zuvor haben deutlich gemacht, daß die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln vorhanden ist. Ich setze auf einen konstruktiven Dialog. Wir haben gute Chancen, meine Damen und Herren, dieses Land weiterzuentwickeln. Wir haben hervorragende Chancen für Wachstum, für Investitionen und Arbeitsplätze, Chancen für einen lang anhaltenden Wachstumsprozeß in diesem Land. Es liegt an uns, diese Chancen gemeinsam zu nutzen. Wir setzen dabei auf Kooperation, aber auch auf Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit, wenn es um die Grundpfeiler unseres Landes geht und wenn es um den wichtigen, unverzichtbaren Grundpfeiler geht, die Soziale Marktwirtschaft. Auch die ist für uns nicht verhandelbar, meine Damen und Herren. ({23})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder. Ministerpräsident Gerhard Schröder ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das muß eine der bedeutenderen Parlamentsreden gewesen sein; ({1}) am Beifall konnte man das jedenfalls merken. Lieber Herr Rexrodt, Ihre Reisepläne kennen wir jetzt, Ihre Steuerpläne bleiben leider im dunkeln. ({2}) Das ist das Problem einer Auseinandersetzung, die ein bißchen viel mit Eigenlob zu tun hat und ein bißchen wenig mit den ökonomischen Problemen, vor denen wir stehen. ({3}) Ich denke, unser zentrales Problem ist, daß wir gegenwärtig von der Exportkonjunktur leben. Das steht übrigens auch im Jahreswirtschaftsbericht. ({4}) - Es hat auch niemand behauptet, daß das ein Fehler sei, aber was verschwiegen worden ist und was man wohl in der Auseinandersetzung scheut, ist der Zustand der Binnenkonjunktur, meine Damen und Herren, die weit mehr Probleme hat, als Herr Rexrodt hier öffentlich zugeben wollte. Der entscheidende Punkt bei der Schwäche der Binnenkonjunktur hat mit der Entwicklung der Kaufkraft zu tun, d. h. mit der Entwicklung von Löhnen und Gehältern in den letzten drei, vier Jahren. Wir haben einfach zur Kenntnis zu nehmen, daß es insbesondere im Bereich des Konsums - und damit in einem der zentralen Bereiche der Binnenkonjunktur - eine enge Beziehung zwischen dem realen Sinken von Löhnen und Gehältern auf der einen Seite und zuwenig Nachfrage nach Dienstleistungen und Gütern auf der anderen Seite gibt. Ich hätte mir schon gewünscht, daß der Bundeswirtschaftsminister diesen Zusammenhang herausstellt und sagt, was er denn in dieser so zentralen Frage meint. Sollen die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung auch in den nächsten Jahren - das klingt nämlich an im Jahreswirtschaftsbericht - auf die reale Erhöhung ihrer Löhne und Gehälter verzichten? ({5}) Will die Bundesregierung weiter, z. B. durch Abgabenerhöhungen auf allen Ebenen, zur Senkung der realen Löhne beitragen, oder will sie hier wirklich eine Wende? Dann wird davon geredet - auch Herr Rexrodt hat es getan -, die Abgabenquote sei zu hoch. Volkswirtschaftlich gesehen ist das zweifellos richtig. ({6}) Nur, irgendeiner muß doch dafür verantwortlich sein. ({7}) Es ist schon merkwürdig, meine Damen und Herren: Wer beispielsweise gestern Gelegenheit hatte, die Debatte über die ARD im Fernsehen anderswo zu verfolgen, der sah eine Koalition, die die Bürgerinnen und Bürger davor schützen wollte, zu hohe Gebühren zu bezahlen. ({8}) Das ist in Ordnung. Aber das Argument war dann, daß die Belastungsgrenzen erreicht seien. ({9}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({10}) Durch diese Debatte wollen Sie verwischen, daß Sie es doch sind, die die Belastungsgrenzen auf eine nie gekannte Höhe gebracht haben, ({11}) und daß die erreichten Belastungsgrenzen, die in Teilen überschritten sind, inzwischen nicht nur ein soziales, nein, auch ein ökonomisches Problem von erheblicher Tragweite sind. Meine Damen und Herren, das Problem liegt doch einfach darin, daß Sie zu Ihrer politischen Verantwortung nicht stehen wollen, nicht deutlich machen wollen - es gibt ja auch Gründe dafür -, daß und warum die Staatsquote gegenwärtig so hoch ist, und nicht die Verantwortung dafür übernehmen wollen. Statt dessen führen Sie Ablenkungsdebatten zum Schaden der politischen Kultur und zum Schaden der Diskussion, ({12}) weil Sie die Abgabenquote in nie erreichte Höhen getrieben haben. Es gibt dafür auch ein paar objektive Ursachen. ({13}) - Hat jemand bestritten, daß die Transferleistungen als Folge der deutschen Einheit etwas mit dieser Abgabenquote zu tun haben? Niemand hat das bestritten. Aber Sie tun doch so, als seien Sie dafür gar nicht verantwortlich. Das ist doch der Fehler, meine Damen und Herren. ({14}) Ich sage noch einmal: Dies drückt inzwischen auf Konsum, auf Nachfrage und damit auch auf die Entwicklung der Binnenkonjunktur, die, egal in welcher Branche - hier ist z. B. über Autos geredet worden -, eben nicht in dem Zustand ist, den Sie alle Welt glauben machen wollen. An diesem Punkt setzt die Initiative des hessischen Kollegen Eichel an, der sagt: Wenn wir etwas tun wollen ({15}) für die Kaufkraftentwicklung, für die Fähigkeiten der breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung, Güter und Dienstleistungen zu kaufen, dann müssen wir im unteren Bereich mit Entlastungen anfangen. ({16}) Dieser Ansatz ist nicht nur sozial gerecht, er ist auch ökonomisch vernünftig und entspricht im übrigen den Versprechungen, die Sie bei den Beratungen des Solidarpaktes selber gemacht, aber schnöde gebrochen haben. ({17}) Denn in den Vereinbarungen stand ausdrücklich, daß man im Zuge der Gesetzgebung für eine weitgehende Entlastung der unteren Einkommensschichten sorgen wolle, sorgen werde. Fehlanzeige, das war Wortbruch, meine Damen und Herren, was Sie da geliefert haben. ({18}) Ich will noch kurz erwähnen, daß all diejenigen, die die Binnenkonjunktur gesundbeten - das hat der Bundeswirtschaftsminister, jedenfalls in Teilen, auch wieder versucht - etwas zu dem für die Entwicklung der Konjunktur besorgniserregenden Zinsanstieg hätten sagen müssen, im internationalen, aber auch im nationalen Maßstab. Wer also glaubte, Kaufkraftprobleme auf der einen Seite und der Zinsanstieg auf der anderen Seite seien keine Gefährdungen für die Binnenkonjunktur, über sie könne man einfach einmal hinweggehen, der irrt, jedenfalls nach meiner Auffassung. Wir werden uns darüber zu unterhalten haben. Weil zu diesen wichtigen Problemen nichts gesagt worden ist, fehlt es - jedenfalls in wesentlichen Bereichen - auch in dem Teil, der sich mit dem befaßt, was man gelegentlich Strategie nennt. Zunächst einmal fällt auf, daß auch in diesem Jahreswirtschaftsbericht wieder gegen das angebliche Übel staatlicher Intervention polemisiert wird. Wer indessen die Wirklichkeit in der Bundesrepublik und die Wirklichkeit der Wirtschaftspolitik gelegentlich auch im Bund, jedenfalls in allen Ländern, betrachtet, weiß, daß der Streit, ob man intervenieren darf oder nicht, bestenfalls eigentlich noch in Diplomarbeiten ausgetragen werden kann. Wir haben eine Staatsquote von mehr als 50 %. Angesichts dieser Staatsquote stellt sich doch nicht die Frage, ob der Staat interveniert, sondern nur die, ob er intelligent oder weniger intelligent interveniert. ({19}) In einigen Teilbereichen ziehen Sie ja auch Konsequenzen daraus, z. B. wenn Sie sagen: Staat und Wirtschaft müssen auf den Wachstumsmärkten in Südostasien - das ist gesagt worden; ich würde hinzufügen: auch in Südamerika; das steht im Bericht - auch in Konkurrenz zu anderen - die es ja gibt - miteinander auftreten, gemeinsam dafür sorgen, daß die deutsche Wirtschaft, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei uns von Exporterfolgen profitieren, daß Exporterfolge umgesetzt werden in Einkommen und Auskommen durch Arbeit, die hier im Land gemacht werden kann. - So weit, so gut. Ministerpräsident Gerhard Schröder ({20}) Danach loben Sie sich aus Anlaß des Gesprächs, das Sie mit Herrn von Pierer geführt haben, und sagen, Sie würden nun endlich darangehen, die Präsenz der deutschen Wirtschaft in diesem wichtigen Raum - in anderen hoffentlich auch - auszubauen, z. B. bei der Hilfe, die den Handelskammern gewährt wird, um dort präsent zu sein, z. B. bei der Messeförderung, insbesondere für mittelständische Unternehmen. Wer dann aber, Herr Rexrodt, in Ihren Haushalt schaut, findet außer Ankündigungen nichts, jedenfalls nichts Zusätzliches. Wer nun erwartet hätte, daß den großen Worten wie Außenhandelsförderung auch Taten folgen würden, den muß man leider enttäuschen. Der Ansatz z. B. bei der Außenhandelsförderung oder der Messeförderung ist exakt der gleiche wie im vorigen Jahr. Da müssen Sie wohl noch etwas nachhelfen, oder ich muß Ihnen vorwerfen, daß Sie es mit der Ankündigung genug sein lassen wollen, daß Taten indessen nicht folgen. Meine Damen, meine Herren, ein anderes Problem wird mit dem Hinweis darauf abgetan, daß man ein Gutachten bei der OECD in Auftrag gegeben habe. Es geht hier um die besorgniserregende Frage, wie man, insbesondere auf die osteuropäischen und südosteuropäischen Länder bezogen, des Sozialdumpings Herr werden kann, also vermeiden kann, daß durch wirklich rigoroseste Ausbeutung vor unserer Haustür und durch entsprechend geringere Sozialstandards Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet werden. Der Jahreswirtschaftsbericht versucht, sich damit auseinanderzusetzen, sagt dann aber, handelspolitisch könne man leider nichts machen, jedenfalls so lange nicht, wie das bei der OECD in Auftrag gegebene Gutachten noch nicht vorliege. Das, Herr Rexrodt, ist genau der Vorwurf, den wir Ihnen machen, daß Sie den Versuch unternehmen anzukündigen, blumig zu reden. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man, daß diesen Ankündigungen keine Taten folgen - oder erst dann, wenn die Opposition Sie dorthin getrieben hat. ({21}) - Entschuldigen Sie einmal, ich kann Ihnen das ja beweisen. Exakt über das Problem der Präsenz in Südostasien haben wir vor einem halben Jahr hier debattiert. Ich erinnere mich noch ganz genau daran. Was da zu hören war, war leider nur der Hinweis, das sei in erster Linie Sache der Wirtschaft. Daß Sie binnen eines halben Jahres gelernt haben, freut mich. Ich sage: „Weiter so!" Es beweist aber die These, meine Damen und Herren, daß erst der Druck in Richtung Vernunft Sie zur Vernunft bringt. ({22}) Interessant ist im übrigen auch, was zur Haushaltskonsolidierung gesagt wird. Hier muß ich einmal etwas aus der Sicht eines desjenigen anmerken, der einen Landeshaushalt - leider auch einer, der nicht besonders toll aussieht - zu verantworten hat. ({23}) - Das ist so. - Sie sagen auf der einen Seite, der Konsolidierungskurs über alle Ebenen des Staates muß fortgesetzt werden. Richtig so, sage ich. Dann gibt es seit kurzem eine Debatte darüber, daß er, jedenfalls was den Bau und die Finanzierung von Kindergartenplätzen angeht, nicht fortgesetzt werden dürfe. Übrigens auch richtig. Aber, meine Damen und Herren, was soll ich davon halten, wenn mir auf der einen Seite gesagt wird: „Du mußt, koste es, was es wolle, konsolidieren", und auf der anderen Seite vom Bund an die Länder und Gemeinden Forderungen gestellt werden, die nur unter Verlassen des Konsolidierungskurses erfüllbar sind? Ein bißchen mehr Konsequenz in der eigenen Argumentation würde ich Ihnen schon wünschen. ({24}) Sie brauchen keine Angst zu haben, wir werden den ernsthaften und ernstgemeinten Versuch machen, diesen Rechtsanspruch bis zum Jahr 1996 zu erfüllen. Aber wenn wir das tun, was gewaltige Anforderungen an die Länderhaushalte und an die Gemeinden bedeutet, möchten wir nicht vorgeworfen bekommen, daß wir damit das Konsolidierungsziel aus den Augen verlieren. Sie müssen sich schon entscheiden, welchen Vorwurf Sie erheben wollen. ({25}) Ich fand es im übrigen richtig - eine uralte Forderung aus der SPD -, daß Sie jetzt sagen: Ich mache Branchendialog. - Früher wäre das Teufelswerkzeug gewesen. Das wissen wir alles noch, wir haben alles noch im Ohr, was damals erzählt worden ist. Sie haben gesagt, Sie machen jetzt Branchendialog in der Automobilindustrie, in der Zulieferindustrie. Das ist sehr gut. Ist Ihnen eigentlich zur Kenntnis gelangt, daß die Probleme in der Automobilindustrie, die Probleme zwischen den Automobilproduzenten und den Zulieferern in ihrer vollen Bedeutung seit drei, vier Jahren diskutiert werden, daß die Krise, die es in diesen Beziehungen auf Grund der Notwendigkeit zur strukturellen Anpassung gegeben hat, seit drei, vier Jahren in nie gekannter Deutlichkeit auf dem Tisch liegen? In der Zwischenzeit herrschte Schweigen im Walde. Jetzt, wo man durch Branchendialoge, die die Länder organisiert und veranstaltet haben, ({26}) erhebliche Stücke weiter ist, was ein neues Verständnis voneinander angeht, kommt der Bundeswirtschaftsminister und sagt: Jetzt mache ich Branchendialog. ({27}) Das ist sehr interessant. Sie sind immer etwas zu spät und immer etwas zu zögerlich, was kraftvolle Politik angeht. Das ist das Problem, das wir mit Ihnen haben. ({28}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({29}) Sie haben über Energiepolitik geredet. Natürlich ist das ein wichtiges Feld. Aber ich hätte es dann ganz gerne, daß Sie, wenn Sie sagen, Sie wollen einen Dialog neu beginnen, Sie wollen ihn ohne Vorbedingungen, erstens nicht selber welche stellen und daß Sie zweitens - das ist nötig, wenn man miteinander reden will - glasklar erklären, daß gesetzlich festgeschriebene Zusagen auf diesem Feld nicht ein Jahr, nachdem sie zugesagt worden sind, wieder in Frage gestellt werden. ({30}) Auf dieser Basis ist es außerordentlich schwer, zu Vereinbarungen zu kommen. ({31}) - Natürlich wird das in Frage gestellt. Schauen Sie sich an, was Sie z. B. bei der Kohle machen! Anstatt hier klipp und klar zu erklären: Die finanziellen Margen, die wir im Artikelgesetz alle zusammen zugesagt haben, werden nicht in Frage gestellt, die 7,5 Milliarden DM im Jahre 1996 und die 7 Milliarden DM bis zum Jahr 2000 stehen, und damit die Probe auf Ihre Verläßlichkeit zu ermöglichen, stellen Sie die Finanzierung der deutschen Steinkohle ständig und immer wieder in Frage. ({32}) Sie können sich doch dann nicht wundern, meine Damen und Herren, wenn man angesichts dieser Entwicklung hingeht und sagt: ({33}) Ob die anderen Vereinbarungen einhalten können oder einhalten werden, ist außerordentlich zweifelhaft. Ich finde es auch falsch, in diesem Zusammenhang von den Vorbedingungen zu reden, die Sie gestellt haben. Sie wissen doch, daß der Dialog initiiert worden ist, um einen rationalen Weg zur Überwindung der Atomenergie zu finden. Wer ihn als einen, der das „Weiter so" auf diesem Felde ermöglichen will, versteht, der hat ihn mißverstanden. Dazu ist dieser Dialog auch nicht gemacht. Also: Man kann und muß über eine vernünftige, über eine kostengünstige, umweltgerechte Energiepolitik reden. Aber Sie, Herr Rexrodt, gehörten zu denen, die die Vorbedingungen machten. ({34}) Ich denke, daß wir auf dem Felde nationaler Wirtschaftspolitik vom Wirtschaftsminister hätten erwarten können, ein bißchen mehr über das zu hören, was es an neuen Produkten und Produktlinien in der Umweltpolitik in unserem Land gegeben hat. Bedauerlicherweise Schweigen im Walde. ({35}) Dabei wäre es doch vernünftig, den Menschen in Deutschland klarzumachen, daß die frühere Besorgnis, daß der massive Umweltschutz, den wir brauchen, automatisch zu weniger Wirtschaftskraft und weniger Arbeitsplätzen führen würde, längst durch die Praxis widerlegt ist. Ich hätte mir gewünscht, Herr Rexrodt, daß Sie meinethalben all diejenigen, die dieses Feld zögerlich pessimistisch beackert haben, stolz darauf hingewiesen hätten, daß Deutschland auf diesem so wichtigen Markt inzwischen die Nummer Eins ist. ({36}) Wenn es Wachstumsmöglichkeiten gibt - und es sollte sie geben -, dann liegen sie jedenfalls auch hier. Ich habe einen praktischen Vorschlag: Wenn Sie den Branchendialog mit der Automobilindustrie führen, reden Sie mit denen über Recycling, geben Sie denen verläßliche Daten, wann sie zurücknehmen müssen. ({37}) Dann werden Sie sehen, daß sie es erstens leisten können, zweitens leisten werden und daß drittens ein Netz von Demontagestationen in Deutschland entstehen wird, die alte Autos auswerten, Rohstoffe, die darin enthalten sind, wiederverwerten und daraus Wirtschaftskraft und Arbeit machen. ({38}) Es würde sich schon lohnen, wenn der Bundeswirtschaftsminister denen, die uns zuschauen und zuhören, sagen würde, welch gewaltige Chancen darin liegen, wenn wir die ersten sind, die diese Systeme auf den Märkten der Welt verkaufbar machen, und daß man nicht Angst haben muß, daß das zu weniger Arbeit führt. Nein, es wird zu mehr Arbeit führen. Warum tun Sie das eigentlich nicht? ({39}) Sie haben im übrigen über 300 000 Arbeitsplätze mehr geredet, die in diesem Jahr geschaffen werden sollen. Gelänge das, würde ich mich freuen. Bestimmte Entwicklungen z. B. bei den industriellen Arbeitsplätzen, die Sie eigentlich kennen müßten, machen mich skeptisch. Produktivität in Deutschland wird und muß zunehmen. Das bedeutet, daß mit weniger Menschen mehr Güter und Dienstleistungen hergestellt werden können. Das, was es an Arbeitsplätzen in der letzten Zeit gegeben hat, ist zum ganz überwiegenden Teil auf die Verkürzung von Arbeitszeit zurückzuführen, auf eine Verkürzung, zu der es hier interessante DebatMinisterpräsident Gerhard Schröder ({40}) ten gegeben hat. Sie waren nie auf der richtigen Seite, meine Damen und Herren. ({41}) - Ja, so war es leider. Das heißt, die Hoffnung, bei den Industriearbeitsplätzen ließe sich etwas massenhaft bewegen, kann ich so noch nicht teilen. Sie müßten schon genauer sagen, in welchen Bereichen, in welchen Branchen und mit welchen Methoden und Mitteln Sie glauben angesichts der Produktivitätsentwicklung, angesichts globaler Konkurrenz, die zu dieser Produktivitätsentwicklung zwingt, mehr Industriearbeitsplätze schaffen zu können und zu wollen. Solange Sie das nicht exakter angeben, bleibe ich skeptisch und sage: Der einzige Markt, Arbeitsmarkt, das einzige Segment, das gewachsen ist, waren die Dienstleistungen, nicht zuletzt auch dort auf Grund von Arbeitszeitverkürzungen. Es stimmt: Auf dem Dienstleistungssektor kann und muß im gewerblichen Bereich noch eine Menge passieren. Da gibt es noch Chancen. Es stimmt auch, daß man sich nicht scheuen soll, offen über - natürlich - sozial abgesicherte Arbeitsplätze auch im Bereich der privaten Haushalte zu diskutieren. ({42}) Sich der Einzelheiten dort zu verschließen, halte ich für falsch, indessen: Zahlen, daß da längst noch nicht alles so verläuft, daß man von massenhaften Möglichkeiten reden könnte, liegen auch vor. ({43}) Lassen Sie uns also nicht so sehr über das Ob streiten, sondern lassen Sie uns in diesem Bereich streiten: Was bringt es, und zu welchen Bedingungen kann und soll man das machen? ({44}) - Jetzt können Sie auch klatschen. Es wird in dieser Debatte über das, was Bund und Länder auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung und vor allem auf dem Gebiet der Umsetzung von Forschungsergebnissen in Produktion und Produktionsverfahren gemeinsam tun können, zu reden sein. Ich will eine abschließende Bemerkung zu der Frage „schlanker Staat" machen. Mit dieser Diskussion sind ja alle - auch die, die mit Bürokratien relativ wenig zu tun haben - beschäftigt. Ich finde die Ansätze, die da gemacht worden sind, daß es zu keinem Auseinanderfallen der Produktivitätsentwicklung im privaten und im staatlichen Bereich kommen darf - jedenfalls zu keinem gewaltigen -, schon ganz richtig. Das ist ein richtiger Ansatz. Das eigentliche Problem ist aber folgendes: Wenn die Produktivität in der Wirtschaft zunimmt und im Staat abnimmt, gibt es Schieflagen, die auf Dauer niemand aushalten kann, weil sie nämlich niemand finanzieren kann. Aber, meine Damen und Herren, wer glaubt, das Problem „schlanker Staat" sei mit der Entlassung von Beamten und Angestellten geregelt, der irrt. ({45}) Was wir brauchen, ist eine Veränderung in den Köpfen. Was wir brauchen, ist das Bewußtsein - schwer zu bilden vor dem Hintergrund unseres Beamtenrechts -, daß in erster Linie Dienstleistungen des Staates gefragt sind und nicht die hoheitliche Aufgabenwahrnehmung. ({46}) Meine Damen und Herren, diejenigen, die Staat machen - häufig gut machen, das muß man auch einmal sagen -, müssen sich als Diener der Bürgerinnen und Bürger und nicht als deren Herren begreifen. Das ist das eigentliche Problem, das wir bewältigen müssen, ({47}) zu dem sich aber in der Debatte jedenfalls bisher wenig gefunden hat. Kurzum: Ich würde mich freuen, wenn erfreuliche theoretische Ansätze, die es im Jahreswirtschaftsbericht durchaus zu lesen gibt, von Ihnen ernstgenommen würden, Herr Rexrodt. Das gilt im internationalen wie im nationalen Bereich. Ich würde mich freuen, wenn die Debatte über das Thema „schlanker Staat: ja oder nein?" auf den wirklich bedeutsamen Kern reduziert werden könnte, nämlich folgende Frage: Wie erziehen wir eine Beamtenschaft so, daß sie sich nicht hoheitlich begreift, sondern als Dienstleistungsunternehmen? Schafften wir das, hätten wir eine Jahrhundertaufgabe realisiert. Vielen Dank. ({48})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Schröder, ich will Ihre letzte Bemerkung gleich am Anfang aufgreifen. Ich glaube, daß es bei der Debatte, bei dem Suchen, bei dem Ringen um einen schlanken Staat um mehr geht als um Veränderungen in Personalhaushalten. Es geht auch um mehr als um die Ausbildung von Mitarbeitern im öffentlichen Dienst. Ich glaube, wir müssen mit folgenden Grundfragen anfangen: Wieviel ist Aufgabe des Staates? Wieviel ist Aufgabe privater Kräfte in unserer Wirtschaft und Gesellschaft? ({0}) Wieviel ist Aufgabe gesetzlicher Regelung? Welches ist die Grundhaltung von Administration - übrigens auch beim Vollzug von Bundesgesetzen durch Länderverwaltungen, wie es im Grundgesetz steht? ({1}) Insofern muß das Umdenken in den Köpfen wahrscheinlich nicht nur bei den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, sondern bei den Politikern, also bei uns, anfangen. Geschieht das, sind wir wahrscheinlich am richtigen Punkt. ({2}) Sie haben in Ihren Bemerkungen zum Jahreswirtschaftsbericht und zu der Einbringungsrede des Bundeswirtschaftsministers am Anfang wieder auf eine Konjunkturtheorie Bezug genommen, die ich für falsch halte. Vor einem Jahr stand im Jahreswirtschaftsbericht die Aussage, für 1994 sei ein reales Wachstum von bis zu 1,5 % erreichbar. Das haben Sie damals als unmöglich bestritten und gesagt, wir würden schönfärben. Jetzt sind wir im vergangenen Jahr bei 2,3 % angekommen. ({3}) - Jedenfalls sind wir bei 2,3 % angekommen. Ihre Vorhersage war falsch, unsere war richtig. Die Zahl ist sogar höher geworden. ({4}) In diesem Jahr bestreiten Sie nicht, daß ein reales Wachstum von 3 % in ganz Deutschland erreichbar ist. Es ist ja keine schlechte Sache, daß wir in Westdeutschland 2,5 % und in den neuen Bundesländern 10 % reales Wachstum erreichen können. Das Ifo-Institut hat übrigens gesagt, daß wir eine gute Chance haben, ein reales Wachstum von jährlich 3 % bis zum Ende dieses Jahrzehnts zu erreichen. Das heißt doch, daß wir auf einem dauerhaften, nachhaltigen Wachstumspfad sind. Das Wachstum wird natürlich durch eine Verbesserung der Auslandsnachfrage getragen. Ja, Gott sei Dank! Es wäre schlecht, wenn es anders wäre. ({5}) Insofern ist das für uns alle positiv. Der Aufschwung wird vor allen Dingen auch durch eine verbesserte Nachfrage nach Investitionsgütern getragen. Das ist wichtig und ist der Grund dafür, Herr Ministerpräsident Schröder, daß der Aufschwung nachhaltig ist. Jetzt kommen Sie wieder mit der alten Theorie, die die anderen Mitglieder Ihrer Troika auch schon vertreten haben, die private Kaufkraft sei zu schwach. Es ist im übrigen höchst problematisch, als Ministerpräsident dazu Aussagen so am Rande zu machen und vom Bundeswirtschaftsminister solche in Tagen zu reklamieren, in denen die Tarifauseinandersetzungen in der Metallindustrie dabei sind zu eskalieren. Ich gehöre zu denjenigen, die der Politik in Tarifauseinandersetzungen äußerste Zurückhaltung anraten. ({6}) - Ja, natürlich. Ich habe einige Jahre lang Tarifverhandlungen geführt. Das wissen Sie gar nicht. Wir haben die Tarifverhandlungen ganz vernünftig und in der Verantwortung der Tarifpartner geführt. Einmischung der Politik ist allemal schlecht. Im übrigen sage ich Ihnen: Ich halte die Konjunkturtheorie, auf die Sie Bezug genommen haben, für falsch. Das Problem des Wirtschaftsstandorts Deutschland bleibt auch bei guter wirtschaftlicher Entwicklung, daß wir im Vergleich zu den meisten anderen Wirtschaftsstandorten in Europa und weltweit nach wie vor durch höhere Kosten belastet sind. Deswegen werden wir, wenn wir unsere wirtschaftlichen Perspektiven verbessern wollen, weiter darauf achten müssen, daß die Kostenentwicklung in Deutschland maßvoll bleibt. Deswegen halte ich die Theorie, durch eine Steigerung der Massenkaufkraft die Binnenkonjunktur zu beleben, unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen Wachstumsentwicklung für falsch. Die Theorie, daß man durch Steigerung der Massenkaufkraft die Konjunktur nachhaltig beleben könne, erinnert mich übrigens an den Versuch von Herrn von Münchhausen, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Aber dieser Mann ist als Lügenbaron in die Geschichte eingegangen. Deswegen ist diese Konjunkturtheorie falsch. ({7}) - „Stentor ohne Inhalt" haben Sie gesagt, nicht? Ich weiß nur noch nicht, Herr Rexrodt, warum das Ihr Freund ist. ({8}) Aber auf die Dauer komme ich noch dahinter. Meine Damen und Herren, bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht ist es wichtig - das ist die Position der CDU/CSU-Fraktion; wir unterstützen die Bundesregierung und den Wirtschaftsminister darin und stimmen dem Jahreswirtschaftsbericht auch insofern zu -, daß wir zur Verbesserung der wirtschaftlichen Perspektiven weiterhin darauf setzen, daß die Kostenentwicklung in Deutschland begrenzt bleibt. Wir müssen auch bei einer guten konjunkturellen Lage darauf achten, daß die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung gesichert bleibt. ({9}) - Alle. ({10}) - Ich komme ja gerade darauf. Lohn- und Lohnnebenkosten, Energiekosten und vieles andere. Lassen Sie mich doch eins nach dem anderen machen. ({11}) Jedenfalls glaube ich nicht - um das zu wiederholen -, daß wir durch eine nicht an der Produktivitätsentwicklung orientierte Erhöhung der Löhne die wirtschaftliche Entwicklung nachhaltig beleben. Vielmehr halte ich das Gegenteil für richtig. ({12}) - Ich mache eines nach dein anderen. ({13}) - Herr Scharping, nach den Beiträgen, die Sie in letzter Zeit geliefert haben, muß ich sagen: Sie sind ja geradezu ein Rastelli in der Vertretung gegensätzlicher Auffassungen. Ich will Ihnen zum Solidaritätszuschlag jetzt einmal etwas sagen. Wer hat denn die Belastungsgrenze nach oben geschoben? Es ist doch ein unglaubliches Stück der Verlogenheit, das sich in dieser Zeit in Deutschland abspielt. ({14}) Wir sind doch alle dabeigewesen. Auch Sie waren dabei. Sie waren zwar noch nicht SPD-Vorsitzender, aber Ministerpräsident. Herr Schröder war dabei, ich war dabei, und auch Herr Biedenkopf war dabei. ({15}) - Ausweislich des Protokolls war auch der hessische Ministerpräsident dabei. Er ist allerdings nicht auf gefallen. Das ist aber immer so bei dem. ({16}) Die Bundesregierung ist in die Solidarpaktverhandlungen mit der Vorstellung gegangen - der Bundesfinanzminister ist hier -, einen Solidarzuschlag von 3,5 % einzuführen, ({17}) unter der Voraussetzung, daß sich Bund und westdeutsche Länder entsprechend ihrer Steuerkraft an der Finanzierung der Kosten für die deutsche Einheit beteiligen. ({18}) Die Länder haben dies abgelehnt. Am Ende war ein Solidarpakt nur um den Preis, daß der Bund praktisch die ganze Finanzierungslast übernommen hat, zu erreichen. ({19}) Deswegen konnte der Solidaritätszuschlag nicht auf 3,5 % festgelegt werden, sondern er mußte auf 7,5 % erhöht werden. Es war doch Ihre Position, die Sie in den Solidarpaktverhandlungen durchgesetzt haben. ({20}) - Sie waren nicht dabei. Deswegen wissen Sie es vielleicht nicht. So war der Ablauf. Deswegen ist es ein ungeheures Maß an Verlogenheit und Heuchelei, wenn Sie jetzt durch die Lande ziehen und sagen, wir hätten den Solidaritätszuschlag nach oben getrieben. Sie haben ihn nach oben getrieben, Sie haben ihn erpreßt, und jetzt stehlen Sie sich aus der Verantwortung davon. ({21})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Vollmer?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, ja. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Schäuble, könnte es denn sein, daß der Bund damals sensationell schlecht verhandelt hat? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich glaube nicht, daß man das so werten sollte. ({0}) Ich bekenne mich weiterhin zu dem Solidarpakt. Mich stört nur, daß sich jetzt ein Teil der Beteiligten aus der gemeinsamen Verantwortung davonstiehlt. ({1}) Frau Kollegin Vollmer, der Sprecher der ostdeutschen Länder, der Ministerpräsident Biedenkopf, hat damals sinngemäß gesagt: Das ist ein Erfolg für die deutsche Einheit. Der Sprecher der Ministerpräsidenten insgesamt hat gesagt, es sei ein Erfolg für den Föderalismus. ({2}) - Der bekennt sich ja weiterhin zum Solidaritätszuschlag und zum Solidarpakt. Sie schleichen sich doch aus der Verantwortung. Der Herr Ministerpräsident Scharping hat damals gesagt: Es ist zutreffend, daß die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern ein Erfolg gewesen seien. Daß das Ergebnis für die Länder und für den Föderalismus ein Erfolg ist, versteht sich von selbst. Am Schluß hat er gesagt: ... damit will ich für die Landesregierung von Rheinland-Pfalz deutlich machen: Wir sind . . . mit den Ergebnissen zufrieden und halten sie unter mehreren Gesichtspunkten für einen Erfolg. Wir sind ... entschlossen, unseren Beitrag dazu zu leisten, daß sich an den Eckpfeilern des gemeinsamen Gesprächs- und Verhandlungsergebnisses nichts ändert. Bundesrat, 26. März 1993. ({3}) Jetzt sagt derselbe Herr Scharping im Januar 1995 bei jeder Gelegenheit - ich habe drei Zitate dabei -: Der Solidarzuschlag muß weg, ohne Wenn und Aber. Das nenne ich ein Wechseln der Position, wie es sonst nur Rastelli in der Zirkuskunst gekonnt hat. Seriös werden Sie damit nicht. ({4}) Herr Ministerpräsident Schröder, weil es so gewesen ist, lassen Sie doch bitte die Bemerkung, wir allein seien es gewesen - das haben Sie vorhin von diesem Pult aus gesagt -, die die Belastungsgrenze nach oben geschoben haben. Sie haben sie beim Solidarzuschlag von 3,5 auf 7,5 % angehoben. ({5}) Wenn schon, dann haben wir es gemeinsam gemacht. ({6}) Es wird soviel von dem Verhältnis zwischen dem Bürger und den politischen Vertretern geredet. Meine Damen und Herren, glauben Sie wirklich, daß langfristig irgend jemand etwas damit gewinnt, wenn folgende Situation bestritten wird: Im Jahre 1993 haben wir gemeinsam, alle Parteien und Fraktionen, alle Bundesländer und die Bundesregierung, einen Solidarpakt verabredet und gesagt, um der Vollendung der deutschen Einheit willen, um die Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus zu überwinden, ist es notwendig, für eine Zeit, deren Dauer wir nicht genau bestimmen können - jedenfalls so kurz wie möglich -, einen Solidaritätszuschlag einzuführen? Wir haben damals nur darüber gestritten, ob wir ihn nicht schon 1993 hätten einführen sollen. Das war Ihre Position, während wir gesagt haben: In jener schwierigen konjunkturpolitischen Lage wollen wir ihn lieber erst 1995 einführen. Da haben wir konjunkturpolitisch recht gehabt. Wir haben die tiefe Depression auch deswegen überwunden, weil wir gesagt haben: Den Solidaritätszuschlag können wir erst einführen, wenn wir konjunkturell wieder in einer Aufwärtsbewegung sind. ({7}) - Herr Kollege, lassen Sie mich das im Zusammenhang ausführen. Wir haben es konjunkturpolitisch zielgenau gemacht. Nun ist der Solidaritätszuschlag eingeführt worden. Das haben wir vor zwei Jahren gemeinsam verabredet; um der deutschen Einheit willen. Jetzt, da er eingeführt ist, stehlen Sie sich nach acht Tagen davon und sprechen nur noch davon, daß er abgeschafft werden muß. So zerstört man das Vertrauen in die Politik. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch folgenden Satz sagen: So wird man im übrigen die deutsche Einheit nicht vollenden. Herr Kollege Scharping, nachdem einer Ihrer Stellvertreter den Geschmack gehabt hat, in der letzten Sitzungswoche in einer Debatte, in der er erregt war, wie es jedem von uns einmal geht, einem Kollegen aus unserer Fraktion zu sagen, er solle am besten wieder dorthin gehen, woher er komme: Ich finde, diesen Geist sollten Sie in Ihrer Fraktion nicht entstehen lassen. Sie sollten dafür sorgen, daß sich dieser Kollege entschuldigt. ({0}) Bei dieser Einstellung wird die deutsche Teilung verlängert. Wir sollten aber gemeinsam daran arbeiten, daß wir die Folgen von Teilung und Sozialismus in diesem Lande so rasch wie möglich, für immer, auf Dauer überwinden. Das ist unsere Politik. ({1}) - Bitte sehr.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Schäuble, könnte es sein, daß die Belastung heute deshalb so hoch ist - darüber sind wir alle besorgt -, weil Sie erst vier Jahre nach der deutschen Einheit angefangen haben, den Menschen die Wahrheit über die finanziellen Auswirkungen zu sagen? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, zunächst einmal ist die Behauptung, die in Ihrer Frage enthalten ist, nicht richtig. ({0}) - Lassen Sie mich doch die Frage beantworten. Was ist das hier eigentlich für ein Stil? Ein Kollege von Ihnen stellt eine Frage, ich beantworte sie, und nach drei Sätzen brüllen Sie schon wieder dazwischen. Lassen Sie diese Flegelhaftigkeit doch bleiben! ({1}) Ich behaupte: Die Tatsache, daß Ihre Aussage falsch ist, kann man schon dadurch belegen, daß die Solidarpaktverhandlungen im Frühjahr 1993 stattgefunden haben. Das war nicht fünf Jahre nach der deutschen Einheit. Herr Kollege, Sie müssen sich irren. Im übrigen ist längst zugestanden - ich selber habe es von dieser Stelle aus schon zu Herrn Lafontaine gesagt; ich kann es übrigens in den Worten von Herrn Ministerpräsident Schröder formulieren, der es vor ein paar Tagen in meiner Anwesenheit öffentlich gesagt hat -: Bei manchen Fragen haben Sie 1990 bei Ihren Vorhersagen vielleicht doch mehr recht gehabt als wir. Daß es so teuer wird und so lang dauert, haben wir damals nicht geglaubt. Aber in den Grundannahmen, wie die deutsche Einheit nur zu erreichen und zu verwirklichen war, hat wohl die Regierung recht gehabt. Deswegen sollten wir uns jetzt nicht gemeinsam aus dieser Verantwortung verabschieden. Das Vertreten des gemeinsam verabredeten Solidarzuschlags ist eine Nagelprobe für Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit der Politik im Verhältnis zu den Bürgern in Ost- wie in Westdeutschland, in allen Ländern. Und darum geht es. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten MatthäusMaier?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, ja.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäuble, nachdem Sie den Eindruck erwecken wollen, wir seien unglaubwürdig, weil wir dem Solidarpakt zugestimmt haben und heute die Forderung stellen, untere und mittlere Einkommen freizustellen: Wollen Sie bitte darauf hinweisen - Sie waren ja dabei -, daß wir von Anfang an in allen unseren Reden - z. B. in meinen eigenen - immer eine soziale Komponente beim Solidaritätszuschlag, eine Freistellung der unteren und mittleren Einkommen gefordert haben ({0}) und daß wir dem Solidarpakt, den wir nach wie vor für richtig halten, trotz des Fehlens der Entlastung der unteren und mittleren Einkommen zugestimmt haben? ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich habe nicht Sie zitiert, sondern den neben Ihnen sitzenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, der z. B. ausweislich einer Agenturmeldung der „dpa" auf einer Konferenz in Bitburg gesagt hat, der Solidaritätszuschlag könne durch eine sparsamere Haushaltspolitik ersetzt werden. Sie reden jetzt von einem anderen Thema. Ich habe mich dagegen gewehrt, daß Herr Scharping und andere den Eindruck erwecken, man könne den Solidaritätszuschlag ganz abschaffen. Über die Ausgestaltung im einzelnen haben wir damals unterschiedliche Meinungen gehabt; das ist schon wahr. ({0}) - Lieber Himmel, nein! Wenn ich vom Wald rede, re den Sie von der Wiese und sagen, auf der Wiese sei es anders als im Wald. Das weiß ich schon. Aber ich rede von Scharpings Äußerungen. Die mögen Ihnen so wenig gefallen wie mir; das mag schon sein. ({1}) Herr Scharping, Sie können das nachher ja in Ordnung bringen. Sie können ja sagen, auch Sie seinen dafür, daß der Solidaritätszuschlag bleibt, ({2}) weil er für einige Jahre - für wie viele, wissen w. r nicht - notwendig ist. Sie haben aber gesagt, könne durch eine sparsamere Haushaltspolitik ersetzt werden und er sei deswegen entbehrlich. Das ist nicht die Wahrheit, und das sollten Sie zurücknehmen. Jetzt will ich einen weiteren Punkt ansprechen. Herr Schröder, ich habe es nicht für richtig gehalten, daß Sie sagten, der Bund würde zur Entlastung der unteren Einkommen nichts tun. Der Bundesfinanzminister wird in diesen Tagen das Jahressteuergesetz 1996 einbringen. Da geht es insbesondere um die Steuerfreistellung des Existenzminimums. Da diskutieren wir über die Frage, wie wir das Urteil des Verfassungsgerichts umsetzen können. Wir nähern uns, wenn ich das richtig verstehe, in unseren Vorstellungen doch an, daß die Steuerentlastungen bei der Lohn- und Einkommensteuer in einer Größenordnung von 15 Milliarden DM - um diese Größenordnung geht es - ausschließlich oder ganz überwiegend auf untere Einkommen konzentriert werden. Deswegen kann doch die Behauptung nicht richtig sein, in der Steuer- und Abgabenpolitik dieser Regierung würde nichts gezielt für die Bezieher unterer Einkommen getan. ({3}) Wir konzentrieren im Rahmen dessen, was in unserer Lohn- und Einkommensteuerpolitik möglich ist, die Steuersenkungen auf die unteren Einkommen. Deswegen ist dieser Vorwurf nicht richtig. ({4}) - Herr Kollege, nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie rufen so viel dazwischen, daß ich den Verdacht habe, daß Sie nicht zuhören. Im übrigen möchte ich, Herr Scharping, daß Sie noch einen anderen Punkt klarstellen; die Debatte bietet vielleicht Gelegenheit dazu. Sie haben, wenn ich das richtig gelesen habe, gesagt, die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat werde, egal auf welchem Gebiet, alle finanzpolitischen Vorhaben der Bundesregierung blockieren, solange die zukünftige Finanzierung der Subventionen für die deutsche Steinkohle nicht geklärt sei. Wollen Sie wirklich, Herr Scharping, die Familien mit Kindern für den Erhalt der Steinkohle in Geiselhaft nehmen? ({5}) Glauben Sie wirklich, daß es dem kooperativen Föderalismus entspricht, - ({6}) - Wenn Sie anfangen, mit mir über das geistige Niveau zu streiten, sollten wir die Debatte außerhalb der Öffentlichkeit des Forums des Deutschen Bundestages führen. Das wird für alle Beteiligten besser sein. ({7}) Im übrigen interessiert das niemand - außer Sie vielleicht. Uns interessiert es nicht. Setzen Sie sich mit der Sache auseinander! Herr Kollege Schröder, das Urteil des Verfassungsgerichts ist an sich gar nicht so dramatisch; denn es hat die Notwendigkeit, eine Ersatzregelung für den Kohlepfennig zu schaffen, nur um ein Jahr vorverlegt, mehr nicht. ({8}) Ich habe für die CDU/CSU-Fraktion ziemlich früh nach dem Urteil des Verfassungsgerichts gesagt: Natürlich ist das Artikelgesetz verabschiedet, wie übrigens auch der Solidaritätszuschlag. Wir halten am Artikelgesetz fest und am Solidaritätszuschlag auch. Gesetze, die in Kraft getreten sind, haben das nun einmal so an sich. ({9}) - Das habe ich ganz früh gesagt. Im Artikelgesetz ist das alles geregelt; wir kennen doch die Zahlen. Nichtsdestoweniger bleibt die Notwendigkeit einer Ersatzfinanzierung. ({10}) - Einer Ersatzfinanzierung. Dies kann doch nur gemeinsam bewältigt werden, schon weil Sie uns ja gelegentlich darauf aufmerksam machen, daß die Mehrheit im Bundesrat - die sich hoffentlich nicht so plump benehmen wird, wie es Herr Scharping gesagt hat - jedenfalls einbezogen sein will. Also brauchen wir einen Konsens. Dann ist es doch das Natürlichste auf der Welt, daß wir über die Frage, wie wir die Finanzierung der Leistungen für die deutsche Steinkohle in einer Übergangszeit regeln, auch einen Konsens herbeiführen. Deswegen haben wir gesagt, es müsse in den Konsensgesprächen eine gemeinsame Lösung in gemeinsamer Verantwortung gesucht und gefunden werden. Und dazu sind wir bereit. ({11}) - Das machen wir ja. ({12}) - In den Gesprächen. Aber Sie haben gesagt, ehe nicht ein Ergebnis gefunden wird, werde in allen anderen Bereichen jedes finanzpolitische Vorhaben der Bundesregierung blockiert werden. Das nenne ich einen Mißbrauch des Bundesrates zu parteipolitischen Zwecken. ({13}) Weil wir gerade bei den beschlossenen Gesetzen sind, Herr Ministerpräsident Schröder, die in Kraft treten und gelten und die auch für Länder und für Kommunen gelten, sage ich Ihnen: Über den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist in diesem Haus auch lange gestritten worden. Das Gesetz ist mit Zustimmung des Bundesrates vor Jahr und Tag verabschiedet worden. Jeder wußte, daß der 1. Januar 1996 kommt, und man hätte sich darauf einstellen können. Zwei Jahre nichts zu tun und dann zu sagen: Die Zeit wird knapp, wir können es nicht erfüllen, das ist ein bißchen dünn. ({14}) - Herr Kollege Scharping, jetzt sprechen Sie schon wieder dagegen. Gestern habe ich eine Meldung von Ihnen gelesen, Sie seien auch gegen eine Verschiebung des Inkrafttretens. Sie wissen ja selber nicht mehr, was Sie gestern gesagt haben! ({15}) Sie setzen jeden Tag eine Presseerklärung ab, und irgendein Pressereferent hat Ihnen gesagt, es müsse einen Newswert haben, deswegen müsse man immer das Gegenteil von dem sagen, was man vorgestern gesagt hat. Verläßlichkeit und Stetigkeit gewinnt man dadurch nicht. ({16}) - Sie haben ja über Niveau geredet! Jetzt sprechen Sie hier davon, daß der Zeitpunkt für das Inkrafttreten des Rechtsanspruchs doch aufgeschoben werden soll. ({17}) - Ja, was wollen Sie denn? Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen. ({18}) Jedenfalls bleibt die CDU/CSU-Fraktion bei dem, was auch Scharping vorgestern gesagt hat. Es bleibt beim Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Januar 1996, selbst wenn Scharping morgen wieder das Gegenteil sagt. ({19}) Meine Damen und Herren, ich glaube, der entscheidende Grund dafür, warum es der Koalition, der Bundesregierung in den achtziger Jahren gelungen ist und in den neunziger Jahren wieder gelingen wird, einen stetigen, nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen, liegt darin, daß wir nicht alle 14 Tage unsere Position wechseln. Wir haben es in den achtziger Jahren geschafft, und in den neunziger Jahren sind die Aussichten dafür wieder gut. Das gelingt nur dann, wenn wir beide Ziele miteinander verbinden: zum einen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Begrenzung der Neuverschuldung, Sicherung der Preisstabilität. Wer hätte es denn noch vor zwei Jahren für möglich gehalten, daß wir mit den gewaltigen Lasten nach der Erreichung der deutschen Einheit die Preissteigerungsrate bei 2 % festmachen? Gleichzeitig stetige, notfalls schrittweise Verbesserung der Rahmenbedingungen für ein wirtschaftliches Wachstum, Stärkung der Flexibilität. Sie haben doch beispielsweise noch vor anderthalb Jahren die Schaffung zeitlich befristeter Arbeitsverträge in diesem Hause als sozialen Kahlschlag diffamiert. Jetzt fordert sogar der DGB-Vorsitzende, daß davon verstärkt Gebrauch gemacht wird. Das heißt, wir sind mit der Flexibilisierung, dem Abbau von rechtlichen Beschränkungen für die wirtschaftlichen Prozesse gerade auf dem Arbeitsmarkt auf dem richtigen Weg. Sie haben uns diffamiert wegen unseres Vorschlags, private Haushalte stärker zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu nutzen. Jetzt ist nicht nur Frau Fuchs, sondern auch Herr Schröder auf dem Weg, einzusehen, daß diese Position richtig ist. ({20}) - Rau auch schon? Dann sind es schon drei. Das heißt, die Richtigkeit unserer Politik setzt sich schrittweise durch. ({21}) - Na gut. Ich weiß, Frau Fuchs, Sie sind aus Erfahrung skeptisch bezüglich der Einsichtsfähigkeit Ihrer Fraktion. Das verstehe ich auch wieder. ({22}) Es bleibt aber richtig - und ich habe es oft gesagt -, Herr Ministerpräsident Schröder: Der Fortschritt in der Rationalisierung, der Fortschritt in der Informationstechnik, die weltweite Konkurrenz werden es erzwingen, daß bei allem wirtschaftlichen Wachstum auf absehbare Zeit im industriellen Bereich allein nicht die Arbeitsplätze entstehen werden, die wir brauchen, um das Ziel „Arbeit für alle" zu erreichen. ({23}) Deswegen müssen wir im tertiären Sektor mehr Arbeitsplätze schaffen, bei Dienstleistungen aller Art, Arbeitsplätze im Umfeld moderner Medien, die eine hohe Qualifikation erfordern, Arbeitsplätze in Pflegeberufen und in privaten Haushalten. Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, daß Arbeitsplätze, Wachstum und Beschäftigung immer durch eine Verstärkung des Leistungsaustauschs erreicht worden sind. Deswegen müssen wir auf diesen Weg setzen und müssen heraus aus den Betonmauern der alten Auseinandersetzungen, ({24}) damit nicht jedesmal „Sozialabbau!" geschrien wird, wenn wir flexiblere Arbeitszeitregelungen einführen, damit wir in der Frage, die Leistungsanreize in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem zu verbessern, nicht immer nur auf Widerstand und Diffamierung stoßen, wenn wir sagen, daß der Grundsatz „Leistung muß sich lohnen" auch bedeuten muß, daß jeder, wenn er arbeitet, unter dem Strich mehr Geld hat, als wenn er nicht arbeiten würde. Das heißt, daß wir die Schnittstellen besser überprüfen müssen. ({25}) Wenn wir auf moderne Technik setzen, dürfen wir davon nicht nur in Überschriften reden, sondern das, was wir in der Gesetzgebung etwa beim Gentechnikgesetz in der vergangenen Legislaturperiode - mühsam genug - geschafft haben, muß sich auch in der Wirklichkeit des Verwaltungsvollzugs in den Bundesländern wiederfinden. Wir haben inzwischen in dem Bereich, der für moderne chemische, pharmazeutische Produktion und Forschung lebensentscheidend ist, in Amerika über 500 Produktionsstätten, in Japan 150 und in Deutschland, wenn ich es richtig weiß, noch vier. Wir vertreiben sie zunehmend durch die Genehmigungspraxis in den Bundesländern. Herr Schröder, gucken Sie einmal genau nach, ob da nicht auch in NiedersachDr. Wolfgang Schäuble sen noch etwas in Ordnung zu bringen ist. In Hessen ist es besonders schlimm. ({26}) - Entschuldigung, man weiß schon vorher, wann das Geschrei kommt. Es hilft aber nichts. Bei jeder konkreten, standortbezogenen Unternehmensentscheidung wird uns von denjenigen, die die Entscheidung zu treffen haben, immer wieder gesagt, daß man, selbst wenn die Bundesgesetze in Ordnung seien, nicht mehr das Vertrauen habe, daß in einer überschaubaren Zeit die notwendigen Genehmigungen auch erteilt würden, und daß man deswegen mehr und mehr Investitionsentscheidungen aus Deutschland hinausverlagere. So stärken wir das Wachstum nicht, sondern so verlieren wir Arbeitsplätze. ({27}) - Ja, ja, ich weiß schon, Herr Fischer ist aufgewacht. Vorher war er gar nicht da. Aber gut ausgeschlafen zu sein ist ja auch schön. Deswegen hat er jetzt eine kräftige Stimme. Das nützt aber nichts. ({28})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich bitte darum, daß wir jetzt wieder zur Ruhe kommen, so daß noch jemand zuhören kann. ({0}) - Ja, wir haben die ganze Zeit Zwischenrufe und lebhafte Zwischenreaktionen gehabt! ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr schön, man kennt es ja auch. Der Volksmund sagt es schon lange: Getroffene Hunde bellen. Daran erinnert mich dieses Geschrei. ({0}) Sie werden nicht verhindern, daß die Wahrheit gesagt wird, und Sie werden nicht verhindern, daß die Wahrheit von den Menschen mehr und mehr verstanden wird. ({1}) Die Menschen wissen, daß wir in einer guten wirtschaftlichen Lage sind, daß wir uns aber weiter anstrengen müssen, daß wir auch weiterhin liebgewordene Besitzstände auf den Prüfstand stellen müssen, daß wir uns auf den technischen Fortschritt konzentrieren müssen und daß das eben nicht nur in Sonntagsreden geht, sondern in der Wirklichkeit von Genehmigungsentscheidungen. Sie haben immer dann, wenn es darum ging, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen, blockiert. Sie haben noch nicht einmal beim Transrapid eine klare Haltung einnehmen können. Immer dann, wenn es darum geht, konkrete Produkte moderner technischer Entwicklungen durchzusetzen, sind Sie auf der Seite der Neinsager, der Blockierer und der Verhinderer. ({2}) Immer dann, wenn es darum geht, mehr Freiräume und mehr Deregulierung für den ganzen tertiären Bereich, für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu schaffen, laufen Sie draußen im Lande herum, schüren die Ressentiments gegen eine Veränderung der Besitzstände und blockieren hier die konkreten Entscheidungen für die Zukunft Deutschlands. Deswegen sage ich Ihnen: Wir sind in bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Preisstabilität und auch die Beschäftigung besser vorangekommen, als wir alle es bei der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht vor einem Jahr erwartet haben. Es besteht aller Grund und aller Anlaß, auf diesem richtigen Weg mit aller Entschiedenheit und Tatkraft weiter voranzugehen. Es gibt überhaupt keinen Grund, in den Anstrengungen nachzulassen und zu glauben, wir hätten es geschafft. Was mich bei der guten wirtschaftlichen Lage, die wir jetzt haben, am meisten besorgt macht, ist, daß manche denken, jetzt sei es schon geschafft, wir könnten wieder nachlassen. Wir sind nach wie vor einer dramatischen Veränderung im industriellen Bereich wie in den Zentren der weltwirtschaftlichen Entwicklung ausgesetzt, und wir würden Zukunft verspielen, wenn wir die Fähigkeit zur Innovation, zur Erneuerung und zum Wandel immer mehr verlieren würden. Deswegen appelliere ich an uns alle, gerade die Zeit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen, um unser Land, unsere Wirtschaft und unser Sozialsystem weiter zu erneuern, damit wir auch in Zukunft gute Chancen für Wohlstand und soziale Sicherheit haben. Das ist der Auftrag an uns alle. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Margareta Wolf-Mayer.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Schäuble, die ständige Wiederholung Ihrer Geschichte, die Genehmigungspraxis in Hessen sei ausgesprochen wirtschaftsfeindlich, macht es auch nicht besser. Sie sollten wirklich einmal Herrn Dormann von der Hoechst AG anrufen. Herr Dormann lobt Hessen ausdrücklich immer wieder als das Land, das Genehmigungen, so schnell es geht, vorantreibt. ({0}) Wir bündeln unsere Genehmigungsverfahren beim RP. Sie sollten einmal gucken, in welchen anderen Ländern das sonst noch so ist. ({1}) Meine Damen und Herren, die Konjunkturdaten lassen keinen Zweifel: Die Talsohle der Rezession ist schneller als erwartet durchschritten worden. Aber die Ursachen für diese grundsätzlich erfreuliche Entwicklung sind nicht etwa die besonders wirkungsvollen wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung. Der Sachverständigenrat - das sollte uns zu denken geben - weist ganz eindeutig darauf hin, daß sich das Konjunkturblatt in allererster Linie deshalb gewendet hat, weil eine unerwartet günstige Konjunkturentwicklung in den wichtigen Industrieländern auch die Auslandsnachfrage nach deutschen Produkten steigen ließ. Vor allem aber, meine Damen und Herren, bleiben ganz gravierende strukturelle Probleme bestehen. Solange diese nicht gelöst sind, steht jeder Wirtschaftsaufschwung in Deutschland auf tönernen Füßen. Zuallererst ist hier - es wurde schon darauf hingewiesen - die nach wie vor besorgniserregend hohe Arbeitslosigkeit zu nennen. Entgegen der Aussage des Jahreswirtschaftsberichts wird die konjunkturelle Wende bislang nicht von einer Wende auf dem Arbeitsmarkt begleitet. Erst vorgestern haben wir doch die neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit gelesen. Im Bericht der Bundesanstalt heißt es, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland einen Höchststand erreicht hat und im Bundesdurchschnitt mittlerweile bei 10 % liegt, im Osten sogar bei 14,7 %. Infolgedessen beschreibt auch der Sachverständigenrat die Probleme am Arbeitsmarkt als die größte Herausforderung der Wirtschaftspolitik. Wie Sie aber, Herr Rexrodt, auf diese Herausforderung reagieren wollen - Gerhard Schröder hat schon darauf hingewiesen -: nichts. Konzeptlosigkeit ist Ihre Antwort auf das Gutachten der fünf Weisen. Daß Sie jetzt, im Jahre 1995, Gespräche mit Gewerkschaftsvertretern und Unternehmern zur Beschäftigungssituation anfangen, ist löblich. Wenn Sie aber ehrlich sind, müssen Sie zugeben, daß diese Gespräche sehr spät, zu spät, aufgenommen wurden. Statt diese Gespräche für eine Selbstverständlichkeit zu halten - ich würde davon ausgehen wollen, daß ein Wirtschaftsminister ständig Gespräche mit Gewerkschaften und Unternehmern führt -, erwähnen Sie diese lobend im Jahreswirtschaftsbericht. Das ist Ihre einzige Antwort auf die Feststellung, der Arbeitsmarkt sei die Herausforderung. Sie sollten vielmehr die zentrale Frage dieser Republik klären: Warum koppelt sich die Beschäftigungsentwicklung zunehmend von der Wirtschaftsentwicklung ab? ({2}) Statt dessen posaunen Sie selbstverliebt in die Welt: Es geht aufwärts mit viel Schwung. Ich sage: Sie weichen der drängendsten Frage der Bevölkerung aus, und zwar das mit viel Schwung. Ein Beschäftigungszuwachs um 300 000 bis zum Jahresende 1995 - diese Zahl ist doch ein Witz. Wie können Sie sich mit dieser Zahl schmücken und sie zudem noch als Wende am Arbeitsmarkt verkaufen, wo wir doch vorgestern gehört haben, daß die Zahl der neuen Arbeitslosen im Januar allein in Westdeutschland um 200 000 gestiegen ist? Sie wissen doch auch, daß selbst Ihrem Hause wohlgesonnene Verbände Ihre Prognose halbieren und eher von 150 000 ausgehen. Ihre Arbeitsmarktprognose, Herr Rexrodt, ist leider - ich sage explizit: leider - eine reine Kaffeesatzleserei. In den neuen Bundesländern hat sich die Lücke zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und dem Bruttosozialprodukt weiter vergrößert. Das bedeutet - das ist dramatisch -, daß die neuen Bundesländer seit der deutschen Vereinigung weniger denn je in der Lage sind, ihre Einkommen aus eigener Kraft zu erwirtschaften. Hier rächt sich die strukturpolitische Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung. Hier rächt sich die wirtschaftspolitische Konzeptlosigkeit des Wirtschaftsministers. ({3}) Die von Ihnen so gerne geführte Debatte über den Umbau des Sozialstaates und die angebliche Notwendigkeit der Einschränkung sozialer Leistungen zum Abbau der Lohnnebenkosten geht daher am eigentlichen Problem vorbei. Das wissen Sie auch. Alle sozialen Leistungen, die sich in Westdeutschland in der Zunahme des Anteils der Lohnnebenkosten an den gesamten Lohnkosten widerspiegeln, sind ebenso wie die reinen Lohnkosten in der Vergangenheit durch hohe Produktivitätszuwächse verdient worden, Herr Rexrodt. Hierfür spricht auch die Tatsache, daß die Unternehmen in Deutschland seit vielen Jahren - darauf haben Sie hingewiesen - mit Unterbrechung im Jahre 1993 hohe Gewinnsteigerungen verbuchen können und eine Rendite erwirtschaften, die offenbar ausreichend ist, um eine hohe Investitionsdynamik zu erlauben. Meine Damen und Herren, es ist doch absurd und hat, wie ich finde, etwas richtiggehend Tragisches: In der Situation, in der die Soziale Marktwirtschaft keinen ideologischen Gegner mehr hat, ist die Bundesregierung auf dem besten Wege, wirtschaftspolitisch hinter den Stand der Adenauer-Ära zurückzufallen. Warum, so frage ich Sie, Herr Rexrodt und meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, überlegen Sie nicht einmal, in welcher zeitgemäßen Form die Soziale Marktwirtschaft ein zweites ökologisches Wirtschaftswunder begründen könnte? Das bestehende Steuer- und Abgabensystem fördert durch seine Systematik bis heute leider noch Umweltzerstörung und Arbeitsplatzvernichtung. Danach verhalten sich diejenigen Unternehmen wirtschaftlich vernünftig, die Arbeitsplätze abbauen und die Umwelt zerstören. Wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wollen mit unserer ökologischen Steuerreform unser Steuer- und Abgabensystem langfristig in einer umwelt- und arbeitsplatzerhaltenden Richtung umgestalten. ({4}) Wir behaupten: Wenn dieses nicht geschieht, meine Damen und Herren, kann die Strukturkrise in diesem Lande nicht überwunden werden. ({5}) - Sie haben doch kein Konzept, Herr Glos. Sie brüllen immer nur „Quatsch". ({6}) Die für uns zentrale Perspektive ist die Erneuerung des Sozialen und die Herstellung einer ökologischen Wirtschafts- und Lebensweise. Uns geht es darum, ein reiches Industrieland, das im Begriff ist, sowohl seine soziale als auch seine ökologische und somit ökonomische Basis zu zerstören, nach sozialen und ökologischen Kriterien neu auszurichten. Dies bedeutet nichts anderes - vielleicht glauben Sie Al Gore eher, den ich jetzt zitiere -, als die Rettung der Umwelt zum zentralen Organisationsprinzip unserer Zivilisation zu machen. Es gilt - das ist Ihre eigentliche Rolle, Herr Rexrodt; das fordern auch weite Teile der Bevölkerung und der Industrie von Ihnen -, die Industriegesellschaft der Bundesrepublik Deutschland dem Prinzip der Nachhaltigkeit zu verpflichten. ({7}) Die Preise müssen endlich die ökologische Wahrheit sagen. Sie schreiben das zwar in Ihren Bericht. Aber was wird getan? Nichts wird getan. Forschungs- und Technologiepolitik, Wirtschafts- und Bildungspolitik müssen im Sinne ökologischer Technologien und Qualifikationen neu ausgerichtet werden. Es geht darum, die politischen Rahmenbedingungen dafür zu setzen, mit weniger Stoff- und Energiedurchsatz Wohlstand zu erzeugen. Der Frage der Energiesteuer im nationalen Alleingang kommt hier eine ganz große Bedeutung zu. Wir freuen uns, Herr Dr. Schäuble, daß Sie im Gegensatz zu Herrn Rexrodt in dieser Frage der gleichen Meinung wie wir sind. Aber nicht nur Herr Dr. Schäuble vertritt diese Auffassung; auch das Spektrum derer in der Industrie und den Verbänden, die immer lauter nach Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaften rufen, wird heute immer größer: Da ist Herr Edzard Reuter von Daimler Benz, da ist der BMW- Chef Bernd Pischetsrieder, da ist der Bundesverband ddr Jungen Unternehmer, da ist Unternehmens Grün und da ist der AEG-Manager Damm. Warum hören Sie nicht auf diese Damen und Herren, Herr Rexrodt? Ich weiß es nicht. Ich habe nur einige Exponierte herausgegriffen. Zumindest sollten Sie auf den Fraktionsvorsitzenden Ihres Koalitionspartners hören. ({8}) Wir brauchen eine zukunftsfähige Politik für den Standort Deutschland, seine Arbeitsplätze und die Umwelt. Lassen Sie mich jetzt noch ein paar Punkte aus dem Jahreswirtschaftsbericht herausgreifen. Herr Minister, im JWB kündigen Sie zum wiederholten Male eine, wie auch ich meine, längst überfällige Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes an. Ich frage Sie erstens, wann diese Novellierung kommt, denn Sie kündigen Sie schon zum dritten Male an, und zweitens, ob Sie zusagen können, daß diese Novelle verbindliche Vorgaben enthalten wird, mit denen die Energieversorgungsunternehmen zur Umsetzung des Zieles „Ressourcenschonung" verpflichtet werden und die umfassende Nutzung von KraftWärme-Koppelung ermöglicht wird. ({9}) Sie haben heute gesagt, sie befinden sich auf der Suche nach einer Lösung. Wir können von einem Wirtschaftsminister verlangen, daß er sich nicht als Wünschelrutengänger betätigt, sondern konkrete Antworten auf genau diese Frage gibt. ({10}) Herr Minister, Sie kündigen ({11}) in dem hier zu beratenden Jahreswirtschaftsbericht genauso wie in dem Bericht aus dem Jahre 1994 an: „Eine stärkere Berücksichtigung von Umwelt- und Klimaschutzzielen im Rahmen der Energiepolitik bleibt vorrangige Aufgabe." Ich frage Sie, warum die Bundesregierung nicht nur auf nationaler, sondern auch auf EU-Ebene gegen eine Markteinführungsförderung für Energiesparmaßnahmen, also das sogenannte THERMIE-II-Programm, gestimmt und sich dabei noch gegen das einstimmige Votum des Bundesrates gewandt hat, der sogar für eine Aufstokkung der Mittel plädiert hatte. Dazu hätte ich von Ihnen gern eine Antwort. Mit großem Interesse habe ich auch im JWB gelesen, daß sich die Bundesregierung für den Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente im Umweltschutz einsetzen will. Da kann man dann lesen, daß man z. B. innerhalb der Bundesregierung an eine sogenannte Versicherungslösung denkt. Sehr gut, kann ich da nur sagen. Das würde bedeuten, um ein hessisches Beispiel zu bringen, daß sich die Betreiberfirma RWE des Schrottreaktors Biblis künftig gegen Unfälle wie Entweichungen von radioaktivem Material oder Kontamination von Mitarbeitern mit Todesfolge - das gab es alles schon - versichern lassen müßte. Ein guter und von uns immer geforderter marktwirtschaftlicher Zugang - was ist damit, wann kommt das? Sie kündigen immer nur an, wann machen Sie etwas? Ich komme zu einem anderen von Ihnen immer wieder angekündigten Prinzip, dem Verursacherprinzip. Herr Minister, dies sind Maßnahmen, die Sie seit zwei Jahren ankündigen. Ich bin davon überzeugt, daß der Deutsche Bundestag ein Recht darauf hat zu erfahren, wann Sie endlich entsprechende Gesetzesinitiativen ergreifen werden, die die Umwelt und die Steuerzahler erheblich entlasten würden. Dazu gehört z. B. das Verursacherprinzip. Erklären Sie uns hier als eines der Mitglieder der Partei, die immer sagt, wir wollten die Steuern erhöhen - Sie haben die Steuern erhöht, Sie sind verantwortlich dafür, daß die Steuern ständig steigen -, wann Sie dieses Verursacherprinzip einführen wollen. ({12}) Sonst müssen Sie es sich gefallen lassen, daß wir Ihnen sagen: Außer Thesen nichts gewesen. Herr Rexrodt, Sie sprechen in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht aber auch über Gebühren, Sonderabgaben oder Steuern als weitere marktwirtschaftliche Instrumente - begrüßenswert, aber erstaunlich. Herr Minister, Sie wissen, daß im Land Hessen, das bekanntlich rot-grün regiert wird, genau die von Ihren Beamten beschriebenen Abgaben im Rahmen der Landeskompetenzen seit zwei Jahren eingeführt sind. Wissen Sie, daß z. B. durch die in Hessen eingeführte Grundwasserabgabe ein Boom beim Wassersparen ausgelöst wurde? Es gab einen Ansturm auf Zuschüsse für Wassersparprojekte. Die Nachfrage nach wassersparenden Geräten hat zur Sicherung und Schaffung von 3 000 Arbeitsplätzen geführt. Das ist Mittelstandspolitik, Herr Rexrodt. Insgesamt hat das Land Hessen in Eigenregie bis heute 39 Millionen DM an Fördermitteln bereitgestellt und rund 80 Millionen DM an Investitionen angestoßen. ({13}) Davon profitieren - jetzt hören Sie genau zu - nicht nur die ortsansässigen Handwerksbetriebe, sondern natürlich auch größere Unternehmen, die einen Technologievorsprung erzielen und so ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit steigern. Herr Schröder hat darauf hingewiesen - Stichwort Umwelttechnologie.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch?

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, betrachten Sie es als gute hessische Mittelstandspolitik, wenn der grüne Regierungspräsident von Gießen länger für eine Genehmigung der Ansiedlung eines mittelständischen Unternehmens braucht als z. B. Portugal? Ein Unternehmen hat beim Regierungspräsidenten in Gießen und gleichzeitig in Portugal nachgefragt: Als die Bestätigung des Posteingangs von Gießen kam, war die Baugenehmigung von Portugal schon da. ({0}) Das ist hessische Mittelstandspolitik.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Rönsch, allein die Tatsache, daß Sie den Vergleich zwischen RP Gießen und Portugal ziehen, zeigt schon, wie Sie darangegangen sind. ({0}) - Dann funktioniert die Post nicht. Oder was ist das Problem? Sie wissen doch ganz genau, daß das Problem bei Genehmigungen sehr oft darin liegt, daß dem Antragsteller nicht die nötigen Unterlagen vorliegen. Wir haben dies alles prüfen lassen. Das alles ist sicherlich verbesserungswürdig; aber es ist nicht nur in Hessen verbesserungswürdig, sondern auch im Bund und in den anderen Ländern. ({1}) Frau Rönsch, ich möchte noch einmal auf meine marktwirtschaftliche Umweltpolitik zurückkommen. Genau unsere marktwirtschaftliche Umweltpolitik wird jetzt im laufenden Wahlkampf von Ihnen, von dem Kollegen Kanther, von dem Kollegen Rexrodt und von dem Kollegen Westerwelle - also von der F.D.P. und der CDU - massivst gescholten. ({2}) Der Bundesinnenminister, der sich in den letzten Wochen bekanntlich mehr im Hessenland als hier aufhielt, hat sich ebenso wie die hessische F.D.P. nicht nur auf die Fahne geschrieben, die von der rotgrünen Landesregierung eingeführte Grundwasserabgabe wieder abzuschaffen. ({3}) Sie müssen sich, wenn Sie so etwas in Ihren Bericht schreiben, einfach fragen lassen, Herr Rexrodt: Wo ist die Glaubwürdigkeit? Ich möchte noch ein Beispiel nennen, wo Hessen mit einer ökologischen Wirtschaftspolitik vorbildlich ist. ({4}) - Hören Sie doch einmal zu. Sie sind sicherlich nicht erfolgreicher gewesen, als Sie an der Regierung waren. Allein in 1994 ist der Mitteleinsatz für die Förderung von Energiesparmaßnahmen durch die rotgrüne Landesregierung auf 95 Millionen DM gesteigert worden. Diese Investition hat 4 000 Arbeitsplätze im hessischen Handwerk geschaffen. Seriöse Berechnungen gehen von einer jährlichen Steigerung um 3 000 Arbeitsplätze aus. ({5}) Auch das wollen Sie abschaffen. ({6}) Meine Damen und Herren, hören Sie doch endlich auf, ideologische Scheingefechte zu führen. ({7}) Ich denke, Sie sollten sich im Sinne einer ökologischen, zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik ein Beispiel an der Landesregierung in Hessen nehmen. ({8}) Dort können Sie tatsächlich lernen, was eine technologiefreundliche, zukunftsorientierte, arbeitsplatzschaffende, mittelstandsfreundliche, ökologische Wirtschaftspolitik bewirken kann. ({9}) Herr Gerhardt, sagen Sie doch einmal, wo Hessen war, als Sie an der Regierung waren. ({10}) Wir sind in Hessen auf einem sehr guten Weg. Wir kämpfen dafür, daß wir diesen Weg mit der SPD weitergehen können. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die hessische Bevölkerung Ihre rückwärtsgewandte, nicht an den Interessen der Wirtschaft und der Umwelt orientierte Politik jetzt auch noch geballt ins Land holt. Sie, Herr Minister Rexrodt, täten gut daran, von den Hessen zu lernen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Schily würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Wolf, weil sich die Herrschaften dort drüben so in Gelächter ergehen: ({0}) Ist es wohl so, daß den Herrschaften dort nicht bekannt ist, daß Hessen im Ländervergleich das wirtschaftsstärkste Land ist? ({1})

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Richtig. Hessen ist das wirtschaftsstärkste Land. Nach der neuesten Berechnung, die zusammen mit der Arbeitslosenstudie des Bundes herausgekommen ist, hat sich auch erwiesen, daß die wirtschaftlichen Steigerungsraten in Hessen weit höher liegen als im Bundesdurchschnitt. ({0}) Lassen Sie mich abschließend -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Frau Kollegin. Herr Kollege Schily, Sie wollten an sich eine Zwischenfrage an die Rednerin stellen. ({0})

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Hat er! Ob mir das bekannt sei, hat er mich gefragt!

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Er hat lediglich festgestellt, daß irgendwelchen Herrschaften im Hause irgend etwas nicht bekannt sei. Sie müssen die Frage schon an die Rednerin richten.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Frage richtete sich an die Rednerin, an ihre Beobachtungsgabe natürlich, ({0}) und sie hat offenbar auch diese Beobachtungsgabe gehabt und hat es richtig wahrgenommen. Ich freue mich, daß wir in dieser Plenardebatte dieses Zwischenspiel hatten. ({1}) Es war vielleicht auch ein kleiner Nachhilfeunterricht für die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion. ({2})

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend noch etwas sagen: Sie haben von Hessen schon gelernt. Ich erinnere an die Ozonverordnung, die wir im letzten Sommer eingeführt haben. Aus Protest ist der umweltpolitische Sprecher der F.D.P.-Fraktion erst mal mit 180 Sachen über die Autobahn gerast, wo man nur 60 fahren darf. Herr Norbert Geis hat uns irgendwelche Hirnvertrocknungssymptome nachgesagt. Und was machen Sie jetzt? Jetzt kopieren Sie unsere Ozonverordnung, und schon in diesem Sommer werden wir sie haben. ({0}) Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß die Wählerinnen und Wähler uns in Hessen in die Lage versetzen, unsere erfolgreiche Politik weiter fortzusetMargareta Wolf-Mayer zen. Ich hoffe, daß wir demnächst diese Politik auch im Bund machen können. Dieses Land hätte es verdient, meine Damen und Herren. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort. ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Darüber werden wir nachdenken: von den hessischen Rot-Grünen das Siegen lernen und bei Herrn Schily Nachhilfestunden in Wirtschaftspolitik nehmen. Das sind neue Aspekte dieser Debatte. ({0}) Ein Rückblick auf die Prognosen und Projektionen für das Jahr 1994 zeigt doch jedermann, daß alle, Forschungsinstitute, Wirtschaftsministerium, Bundesregierung, Opposition, in ihren Prognosen und Projektionen falsch lagen. Wer hat vor einem Jahr mit 2,8 % realem Wachstum gerechnet? Niemand. Ebensowenig hat irgend jemand die Entwicklung des langfristigen Zinses, eine höchst bedeutsame Sache, im letzten Jahr vorhergesehen. Wie wird es diesmal sein? Die Zahlen sind genannt worden; aus Zeitgründen will ich sie nicht wiederholen. Ich halte die Erwartungen des Jahreswirtschaftsberichts für gerechtfertigt, wenn man, wie es der Bundeswirtschaftsminister tut, darauf hinweist, daß damit das ökonomisch Erreichbare genannt ist und daß solche Zahlen auf Prämissen aufbauen. Um die sollte es eigentlich in einer solchen Parlamentsdebatte gehen. Die sozialdemokratische Opposition, Herr Schröder, wäre glücklich, wenn sie einen solchen Jahreswirtschaftsbericht vorlegen könnte. Vernünftigerweise hat der Wähler sie am 16. Oktober damit nicht beauftragt. Ihr Durcheinander in Fragen der Wirtschafts-, Energie- und Arbeitsmarktpolitik ist kaum zu überbieten. „Konfusion" ist eine milde Bezeichnung, „Chaos" träfe es besser. Heute haben wir wieder das zweifelhafte Vergnügen, einen, der sich in dieser chaotischen Diskussion als Meister darstellt, nämlich Sie, Herr Ministerpräsident Schröder, hier zu erleben. Sie sind es doch, der alles und jedes in Frage stellt, was Ihre eigene Partei verkündet. Dabei geht es, glaube ich, gar nicht in erster Linie um Sachpositionen. Es geht Ihnen doch wohl eher um den Nachweis, daß die SPD den falschen Vorsitzenden hat. ({1}) Meine Damen und Herren, da sitzen sie nun alle drei, Herr Scharping, Herr Lafontaine und Herr Schröder, gemeinsam an einem Tisch, demonstrieren über dem Tisch Einigkeit und Solidarität und treten sich unter dem Tisch ständig gegen die Schienbeine. ({2}) - Herr Duve, da kann man nur zu dem Ergebnis kommen: Enkel machen eben noch keine Familie. ({3}) Ein paar ganz kurze Bemerkungen zu dem, was Sie, Herr Schröder, gesagt haben. Den Ankündigungen folgten keine Taten, haben Sie dem Bundeswirtschaftsminister vorgeworfen. Sie können die Ergebnisse und die Taten, die Bilanz des Jahres 1994, im Jahreswirtschaftsbericht lesen. ({4}) Frau Wolf hat gesagt, das sei ja alles nur Ergebnis eines guten Exportgeschäfts - als wenn gute Ergebnisse im Export einem nur so zuflögen, als ob man nicht auch dafür wettbewerbsfähig und in der Lage sein muß, auf den Märkten der Welt etwas zu verkaufen. Sie haben dem Bundeswirtschaftsminister vorgeworfen, daß er gesagt hat, die Märkte in Südostasien seien in erster Linie eine Sache der Wirtschaft. Das ist richtig, und das bleibt auch so: In erster Linie muß die Wirtschaft verkaufen, Aber die Bundesregierung und die Politik müssen sie dabei unterstützen. Darin sind wir uns hoffentlich einig. Aber der Bundesminister wird sicher kein Chefverkäufer für die Bundesrepublik sein, und Sie, Herr Schröder, werden das wohl auch nicht für das Land Niedersachsen. ({5}) Dann kam der Vorwurf, Branchendialoge seien zu spät gekommen. Meine Damen und Herren, seit es das Bundeswirtschaftsministerium gibt, diskutieren wir selbstverständlich mit den Branchen, mit den Verbänden, mit den Unternehmen. Es hat niemals eine andere Praxis gegeben. Wenn das jetzt offiziell so genannt wird, habe ich überhaupt nichts dagegen. Wichtig ist nur, daß diese Branchendialoge im Wirtschaftsministerium innerhalb von vier Wänden geführt werden, nicht in erster Linie vor den Fernsehkameras. Dabei kommt nämlich nichts heraus, damit wird niemandem geholfen. Die Neigung, die Sie da immer entwickeln, Herr Schröder, sollte man bleibenlassen. ({6}) Herr Schäuble hat das Notwendige zum Thema „schlanker Staat" gesagt. Ich stimme ihm vollauf zu. Wenn Sie davon reden, daß beim Staat weiter zwischen hoheitlicher Tätigkeit und Dienstleistungstätigkeit unterschieden werden muß, dann gehen Sie bitte auch noch den notwendigen Schritt weiter und sagen Sie, daß große Bereiche dieser Dienstleistungstätigkeit überhaupt nicht beim Staat zu bleiben brauchen, sondern in den privaten Bereich gehören. ({7}) Herr Schröder, Sie kommen natürlich auch her, um sich im Plenarsaal ein wenig von der Misere bei Ihnen zu Hause zu erholen. Daran tun Sie recht; es ist ja ein bißchen trübe zu Hause. Ihre Umweltministerin konterkariert demonstrativ die Energiepolitik des Kabinettschefs; Ihr Landwirtschaftsminister schlägt sich mit Problemen herum, und Sie können ihn nicht loswerden, weil Sie die eine Stimme brauchen; Ihre Frauenministerin ist ständig in der Schußlinie, und Ihre Wissenschafts- und Kultusministerin provoziert den Aufstand der Hochschulen so sehr, daß sich die Öffentlichkeit des berühmten Protestes der Göttinger Sieben erinnert. ({8}) - Herr Schily, ich rede jetzt mit Herrn Schröder über die Frage, ob er hier im Bundestag die Bundesregierung kritisieren sollte, wenn die Dinge zu Hause nicht in Ordnung sind. ({9}) Von den GRÜNEN - wir haben es eben wieder gehört - kommt gebetsmühlenartig die Forderung nach ökologischer Umgestaltung der deutschen Wirtschaft. Wollen Sie uns endlich einmal erklären, was das eigentlich sein soll? ({10}) Sie haben eben ein paar Einzelhinweise gegeben. Aber haben wir je ein Konzept gehört? Man hat den Verdacht, daß noch einiges aus der Zeit von '68, der Zeit der außerparlamentarischen Opposition, erhalten geblieben ist. ({11}) - Langsam, darauf kommen wir noch. - Sie handeln nach der Maxime: Erst das Alte einreißen, und dann sagen wir, was zu tun ist. - Meine Damen und Herren, so nicht! Herr Duve, auch die F.D.P. will - welcher vernünftige Mensch will das denn nicht? - weitere, vor allem grenzüberschreitende Verbesserungen des Umweltschutzes. Mit nationalem Umweltschutz ist nicht mehr allzuviel auszurichten. Auch die F.D.P. will weiter verbesserte Abfallwirtschaft, wir wollen eine europaweite Klimaschutzsteuer - um nur einige Punkte zu nennen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Graf Lambsdorff, der Kollege Duve würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sofort, lassen Sie mich diesen Gedanken noch zu Ende führen. Aber wir wollen das nicht unter bewußter und gewollter Hinnahme von noch mehr Arbeitslosigkeit, auch nicht durch grüne administrative Verhinderungspolitik wie in Hessen. Dort haben Sie den Verlust vieler hochwertiger Arbeitsplätze im Forschungs- und Entwicklungsbereich auf dem Gewissen. Ich will hier mit aller Deutlichkeit sagen: Das Abbruchunternehmen Joseph Fischer und Co. gehört nicht auf die Baustelle Deutschland, auch nicht als Subunternehmer. ({0}) Bitte sehr, Herr Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Lambsdorff, halten Sie es wirklich für eine faire Form, einen Begriff wie „ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik", der nach langen Diskussionen in Ihrer Partei auch Einfluß in Ihr Programm gefunden hat, zunächst als eine bösartige Erbschaft der Apo-Generation herauszustellen und dann zuzugeben, daß das in Ihrem eigenen Programm steht?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Herr Duve, Sie haben den Unterschied offensichtlich nicht verstanden oder wollen ihn nicht verstehen. Ich habe hier ausdrücklich gesagt, wo in einigen Bereichen die Positionen der F.D.P. liegen. Ich sage nur: Die grundlegende Kritik an den derzeitigen Zuständen, die alles beseitigen will, was man jetzt hat, die alles für falsch hält und die die gesamte Industriegesellschaft, die Chlorchemie ({0}) - ich sage ja nicht, daß das Ihre Position ist; ich habe mich mit den GRÜNEN auseinandergesetzt - in Frage stellt, kann nur dann Sinn machen, wenn man klar und deutlich sagen will: Was kommt an die Stelle dessen, was man abgeschafft hat? Wie sichere ich die Arbeitsplätze? Wie können Wohlstand und soziale Sicherheit gewährleistet bleiben, auch wenn man solche Umgestaltungen vornimmt? An diesen Antworten fehlt es doch eben. Meine Damen und Herren, bis vor wenigen Wochen - ich will mich den Prämissen noch einmal zuwenden - sah die außenwirtschaftliche Entwicklung fast uneingeschränkt positiv aus. Das hat ja auch zu den Exportergebnissen geführt. Aufträge gingen ein; deutsche Exporteure sind wettbewerbsfähig. Es gibt ein starkes Wachstum in einem unserer großen Partnerländer, den Vereinigten Staaten. Der Dollarkurs sollte allerdings nicht aus dem Auge verloren werden. Ferner gibt es in den Schwellenländern eine positive Entwicklung. Dieses Bild hat die Krise in Mexiko getrübt. Die Gefahr ist noch nicht ausgestanden, daß andere Länder mit überbewerteten Währungen folgen werden. Ich frage: Soll denn jedesmal der Internationale Währungsfonds in der Weise aushelfen wie diesmal, unter Mißachtung vieler seiner eigenen Regeln? Ich fand es richtig, daß der deutsche Vertreter dem seine Zustimmung verweigert hat. Insgesamt aber setzen die außenwirtschaftlichen Bedingungen weniger Fragezeichen als die binnenwirtschaftlichen Prämissen. Woher soll oder kann - das ist mit Recht zwischen Herrn Schröder und Herrn Schäuble schon diskutiert worden - neuer Schwung der Verbrauchernachfrage kommen? Von hohen Tarifabschlüssen? Das ist immer wieder die simple Antwort der SPD. Aber Sie dürfen doch nicht übersehen - Sie wissen es ganz genau -: Hohe Lohnsteigerungen führen gleichzeitig zu höheren Kosten und damit zum weiteren Abbau von Arbeitsplätzen. Die Tarifabschlüsse des Jahres 1995 - ich sage das nicht, weil man sich darüber freuen sollte, sondern weil es unvermeidlich ist -- werden, Herr Schröder, keine reale Einkommenssicherung bringen. Sie können es nicht. Angesichts der gestiegenen Steuern und Abgaben ist das unmöglich. Wird die Sparquote weiter zurückgehen? Sicher ist das nicht, und wegen der nötigen Kapitalbildung und der Zinsentwicklung ist es wohl auch nicht wünschenswert. Die langfristigen Zinsen - der Realzins - werden auf Jahre hinaus hoch bleiben. Überall müssen riesige Budgetdefizite finanziert werden. Der weltweite Kapitalmangel nach den Jahrzehnten sozialistischer Kapitalvernichtung fordert seinen Tribut. Deshalb sind die ständigen Forderungen von SPD und GRÜNEN nach höherer Besteuerung der Vermögen arbeitsplatzfeindlich. Wir brauchen diese Kapitalbildung, um Arbeitsplätze finanzieren zu können. ({1}) Der Hamburger Bürgermeister Voscherau hat während der Trauerfeier für Karl Schiller dessen Satz zitiert - ich wiederhole das; das hat er in Richtung der SPD, seiner eigenen Partei gesagt -: Wenn ich Ihnen sage, Ihnen fehlt in erster Linie nicht Arbeit, sondern Kapital, dann hören Sie das nicht so gerne. - Karl Schiller hat recht gehabt. Die private Nachfrage könnte gestärkt werden, wenn die Fiskalpolitik sie stützen würde und könnte. Das hieße, Ausgaben und Steuern senken. Ist damit zu rechnen? Warten wir es ab. ({2}) Die Finanzierung der zugesagten Kohlehilfen wird hier eine der Nagelproben sein. Die Stimmen der F.D.P. für eine neue Steuer wird es nicht geben. ({3}) Meine Damen und Herren, wir fühlen uns auch durch den Zorn der Bürger, der sich jetzt endlich Luft macht, bestärkt. Die Steuer- und Abgabenlast erdrosselt die Leistungsbereitschaft der Menschen. Die Diskussion über die Belastungsgrenze, die wir hier gehört haben, war ja interessant. Nur, die einzige Antwort und die einzige Schlußfolgerung, die daraus gezogen werden kann, heißt: Konsolidierung und Einsparung in allen Bereichen ({4}) Das gilt auch, verehrter Herr Ministerpräsident, wenn es um Kindergartenfinanzierung in Niedersachsen geht. Da wird offenbar überhaupt nicht mehr die Frage gestellt, ob man an anderer Stelle einsparen soll oder nicht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage zu beantworten?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr, Herr Kollege Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Haben Sie den Teil des Jahreswirtschaftsberichts zur Kenntnis genommen, in dem steht, daß die inländischen Vermögensbesitzer einen höheren Zufluß an Vermögen zu verzeichnen haben, als dies statistisch überhaupt ausgewiesen ist, und sind Sie unter diesen Gesichtspunkten nicht auch der Auffassung, daß es an der Zeit ist, endlich einmal über diejenigen zu reden, denen das Geld aus der Tasche gezogen wird, und nicht nur immer über diejenigen, denen mehr zufließt, als die Statistik ausweist?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe den Jahreswirtschaftsbericht sehr wohl gelesen. Ich bleibe bei der Position, meine Damen und Herren und Herr Kollege Tauss: Es ist dringend notwendig, daß wir die Kapitalbildung, wenn wir sie steuerlich schon nicht fördern - das können wir ja nur im Bereich der Arbeitnehmer tun; darüber hinaus hat es gar keinen Sinn; da will ich überhaupt kein Mißverständnis aufkommen lassen -, bei uns und weltweit unter gar keinen Umständen behindern, erschweren und steuerlich belasten dürfen. Wenn Kapitalbildung besteuert, verhindert oder schwierig gemacht wird, führt das dazu, daß es weniger Investitionen, weniger Risikokapital gibt. Es geht doch nicht darum, daß die Menschen Geld haben. Geld ist in deutschen Privathaushalten in einem Umfang vorhanden, wie es ihn in der deutschen Geschichte nie gegeben hat. ({0}) - In Arbeitnehmerhaushalten, Herr Heym. Wenn Sie sich darüber freundlicherweise einmal informieren! Es hat in Deutschland nie eine Zeit gegeben, in der durchschnittliche private Arbeitnehmerhaushalte über ein derartiges Geldvermögen verfügt haben, wie das heute der Fall ist. Es geht darum, daß dieses Geldvermögen in Kapital umgewandelt wird. Nur über risikobereites Kapital gibt es neue Arbeitsplätze sowohl bei uns wie auch in uns benachbarten Ländern. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Graf Lambsdorff, auch Kollege Schily möchte gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, ich glaube, Sie haben völlig recht, wenn Sie kritisieren, daß die Abgabenbelastung und die Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu hoch ist. Es wird niemanden im Hause geben, der das bestreitet. Aber meines Wissens ist die F.D.P. seit nahezu unabsehbarer Zeit an der Regierung beteiligt. Könnte es sein, daß die F.D.P. für diesen Zustand in besonderem Maße verantwortlich ist? ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jedenfalls, Herr Schily, haben es die Sozialdemokraten - ich will gern zugestehen: auch schon zu einer Zeit, als Sie noch nicht zu ihnen gehörten -, meistens verstanden, uns mit ihren Forderungen gewaltig zu überbieten. Immerhin haben wir in dieser Koalition zwischen 1982 und 1989 einen Abbau der Belastungen erreicht, der bemerkenswert war. Hätten wir das damals nicht getan, hätten wir 1989 der deutschen Einheit mit völlig leeren Taschen und Händen gegenübergestanden. In Ihrem Gefolge konnten wir - Herr Schäuble hat das richtig gesagt, und es wird von niemandem bestritten; das ist der Kernpunkt des Solidarzuschlags - mit dem Solidarzuschlag die deutsche Einheit finanzieren, eine notwendige, eine gute, eine richtige, ich sage: auch eine schöne Aufgabe. Auch die Probleme, daß sie teurer geworden ist, daß sie zeitraubender geworden ist, wird einen vernünftigen Menschen nicht eine Stunde davon abbringen, sich über die wiedergewonnene deutsche Einheit zu freuen. ({0}) Aber nun muß es geändert werden. Wir müssen umkehren. Wir merken es doch an der Reaktion der Menschen im Lande; sie haben doch völlig recht, sich darüber zu beschweren. Das Bedauerliche ist nur, daß jetzt alles dem Solidarzuschlag angelastet und damit Verdruß über die deutsche Einheit gefördert wird; das zu leugnen wäre falsch. Das ist sehr schade. Das unehrliche Spiel aus dem Bundestagswahlkampf setzt sich leider fort. Herr Schäuble hat es schon erwähnt. Herr Scharping und Herr Lafontaine haben uns in der Solidarpaktrunde im Bonner Kanzleramt am 11. März 1993 gegenübergesessen, und sie haben dem 7,5%igen Solidarzuschlag zur Finanzierung der deutschen Einheit ausdrücklich zugestimmt. Sie wollten ihn dann schon zum 1. Januar 1994 einführen. Herr Schröder, Sie waren nicht so häufig dabei. Sie waren an diesem Tag außerordentlich emsig dabei, Fernsehinterviews zu geben. Das war auch gut - für Sie. Aber Ihre Kollegen Scharping, Lafontaine und Eichel haben dem ausdrücklich zugestimmt. Jetzt redet genau derselbe Herr Eichel von unersättlichem Abkassieren durch die Koalition. Schlimmer kann man die Tatsachen wirklich nicht auf den Kopf stellen. Ich wiederhole: Die SPD hat der Einführung des 7,5%igen Solidarzuschlags zugestimmt. Die SPD- Bundestagsfraktion hat ihn beschlossen. Die SPD- Mehrheit im Bundesrat hat ihn mit der Stimme des Ministerpräsidenten Eichel und des Landes Hessen bestätigt. Wir bestreiten die Notwendigkeit des Solidarzuschlags keine Minute. Aber unsere Forderung nach jährlicher Überprüfung und nach Auslaufen des Solidarzuschlags zum 1. Januar 1998 hat einen zusätzlichen Aspekt. ({1}) Die F.D.P. hält die vom Bundeswirtschaftsminister konzipierte Politik für den Ausbau und Aufbau Ost für richtig. Aber wir sind uns mit ihm auch darin einig, daß diese Transfers in Zukunft degressiv gestaltet werden müssen. Wir haben doch alle miteinander in West-Berlin eine unvermeidbare, aber schlechte Erfahrung gemacht. Wir dürfen diese Erfahrung nicht wiederholen, wir dürfen die neuen Bundesländer nicht an einen Dauertropf hängen, der deren Leistungsbereitschaft und Wettbewerbsfähigkeit unterminiert. Wir haben in West-Berlin gelernt: Auch Subventionen können süchtig machen. Unser Hauptproblem bleibt die viel zu hohe Arbeitslosigkeit. Wenn wir den Aufschwung nicht nutzen, um den strukturellen Defiziten energisch zu Leibe zu rücken, werden wir aus dem nächsten Abschwung mit einem noch höheren Sockel an Arbeitslosigkeit herauskommen. Es müssen die strukturellen Defizite angegangen werden. Ansonsten ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem wir die Arbeitslosigkeit nicht mehr bezahlen können. Dann wird das soziale und finanzielle Problem zu einem politischen Unheil und zur Gefahr für unsere demokratische Ordnung. ({2}) - Frau Matthäus-Maier, ich will nur sagen: Das ist nicht ganz neu. Es sind in etwa die Schlußsätze meines Wendepapiers von 1982. Das war damals an Ihre heutige Partei gerichtet. Die jüngste Runde im Kanzleramt hat sich mit diesen Problemen beschäftigt. Dabei ist ein Programm zur Beseitigung der Langzeitarbeitslosigkeit herausgekommen. Bei 3 Milliarden DM muß ich sagen: wundersame Geldvermehrung. Aber schön. Es ist ja richtig, das zu tun, nur dürfen wir uns nicht allein die Frage stellen, wie man Langzeitarbeitslosigkeit beseitigt und ihre Folgen kuriert, sondern müssen auch fragen, wie man Langzeitarbeitslosigkeit in Zukunft verhindern kann. Das ist doch wie beim Umweltschutz. Es geht nicht nur darum, Schaden zu reparieren. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Urbaniak würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Urbaniak, bitte.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lambsdorff, glauben Sie, daß Sie mit dieser Zielsetzung oder mit diesen Überlegungen gegen die Langzeitarbeitslosigkeit angehen können und die Zahl der Langzeitarbeitslosen - es sind 1,2 Million, und es wird gesagt, wir werden in diesem Jahr noch mehr hinzubekommen - abbauen können? Wann glauben Sie dieses drängende Problem gelöst zu haben? Die Menschen müssen doch wieder in Beschäftigung kommen. Aber 1,2 Million Menschen haben Sie als Langzeitarbeitslose bezeichnet, und 180 000 wollen Sie versorgen. Wie lange soll das eigentlich dauern?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Urbaniak, wir kennen uns nun wirklich schon sehr lange. Ich habe Ihren Scharfsinn immer bewundert. Daß Sie es aber nun so weit treiben, schon zu wissen, was ich in zwei oder drei Minuten sagen will, und mich fragen, ob die Methoden, die ich vortragen will, ausreichen, finde ich bemerkenswert. Das beeindruckt mich. Ich komme auf Ihre Frage zurück. Meine Damen und Herren, warum - das ist die zweite Frage, die gestellt werden muß - ist im internationalen Vergleich der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der allgemeinen Arbeitslosigkeit bei uns so viel höher? Warum ist die Dauer der Langzeitarbeitslosigkeit bei uns so viel länger? ({0}) - Mal langsam! Haben wir uns intensiv genug mit den Fragen befaßt und studiert, wo die Gründe für das sogenannte amerikanische Beschäftigungswunder liegen? Allein im letzten Jahr gab es dort dreieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze. Sicher ist dabei auch Lohnzurückhaltung wichtig. Das bestreitet doch kaum noch ein vernünftiger Mensch. Aber im Gegensatz zu bisherigen Annahmen zeigt eine McKinsey-Untersuchung, daß die Mehrzahl der neuen Arbeitsplätze, die dort entstanden sind, keineswegs unterbezahlte Arbeitsplätze sind. Das ist nicht alles nur McDonald's und Hamburgerbratereien. ({1}) Allerdings ist die Differenzierung der Einkommen größer als in unserer von Sockellohnerhöhungen geprägten arbeitsplatzzerstörenden Tarifpolitik. Vor allem aber ergeben die Untersuchungen in den USA - nun hören Sie bitte zu, auch Sie, Herr Urbaniak; denn hier liegt in meinen Augen wirklich ein Kernpunkt ({2}) - danke schön, das ist freundlich -, daß ein weniger an bürokratischen Hemmnissen, daß Deregulierung der Arbeits- und Gütermärkte einen entscheidenden Beitrag zu neuen Arbeitsplätzen geleistet haben. Flexible Arbeitszeitregelungen - am besten Jahresarbeitszeit - müssen die Tarifpartner zustande bringen. Die Unternehmen müssen ihre Bemühungen um Bildung und Ausbildung verstärken. Hier scheint sich leider ein lange bekannter Zustand wieder zu verschärfen. Handwerk und Mittelstand bilden aus, die Großindustrie streicht Ausbildungsplätze und holt sich dann die vom Handwerk ausgebildeten Facharbeitskräfte. ({3}) Die F.D.P. appelliert an die Spitzenverbände der Wirtschaft, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Selbstverständlich muß auch die Politik ihren Teil leisten. Der Jahreswirtschaftsbericht beschreibt das ganz zutreffend. Ich nenne nur die Stichworte: Verkürzung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Herr Fischer hatte einen Ausdruck von Entsetzen ins Gesicht bekommen, als Portugal genannt wurde. Das finde ich gegenüber dem europäischen Partnerland Portugal unerhört. Wenn aber in Belgien eine Chemieanlage in sechs Monaten genehmigt wird und in Hessen in 22 Monaten, warum sollte sich ein ausländischer Investor diesem Verfahren in Hessen aussetzen? Warum soll er denn nach Deutschland kommen? ({4}) Wir brauchen die steuerliche Berücksichtigung von Arbeitsplätzen im Haushalt. Das halte ich für eine gute Entwicklung. Wenn ich das einmal so sagen darf: Das hat sich durch das Haus bewegt. Bei uns fing es an, dann ging es auf die CDU über, und jetzt ist es bis zu Herrn Schröder gekommen. Das ist eine Kreisbewegung, die vernünftig ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Graf Lambsdorff, der Kollege Horn würde Sie gern etwas fragen.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident, ich bin gern bereit, die Frage zuzulassen.

Erwin Horn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000958, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist auch nur eine kurze Frage. Herr Kollege Graf Lambsdorff, wären Sie so freundlich, bei solchen Angaben zugleich mindestens die Firma und die entsprechende Stelle zu nennen? Denn in einem vorigen Fall ist es mir nicht gelungen, diese zu ermitteln. Es handelte sich um meinen Wahlkreis. 1124 Deutscher Bundestau - 13. Wahlperiode Erwin Horn Vielleicht würden Sie mir freundlicherweise unterstellen, daß ich als Abgeordneter, wenn es sich etwa um das Regierungspräsidium Gießen oder sonst handelt, daran interessiert bin, Mißstände abzustellen. Genauso selbstverständlich wollen wir auch nicht, daß willkürliche Mißverständnisse bleiben.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Horn, ich habe hier Statistiken zitiert, die sich - ({0}) - Hören Sie doch einmal zu. Ständig reden und predigen Sie mit Recht den Datenschutz, und dann verlangen Sie, daß Firmennamen genannt werden, wenn es um die Frage der Dauer von Genehmigungen und ähnliches geht? ({1}) - Herr Horn, wir können uns gern darüber unterhalten, ob sich feststellen läßt, welcher Fall gemeint ist und ob man das im einzelnen herausfinden kann. ({2}) Aber richtig ist folgendes: Es gibt internationale Aufstellungen. Sie brauchen sich nur den „Economist" anzusehen, um lesen zu können - ich glaube, es war vor vier Wochen - , wie die einzelnen Länder in bezug auf die Dauer der Genehmigungen verglichen werden. Da kommt die Bundesrepublik Deutschland leider recht schlecht weg. ({3}) Abbau von Erhaltungssubventionen müssen wir betreiben. Es kann nicht angehen, daß wir fortgesetzt veraltete und nicht mehr zukunftsfähige Industrien weiter erhalten und unterstützen. Dazu bedarf es einigen politischen Mutes. Wir brauchen die Stärkung der mittelständischen Unternehmen, weitere Fortschritte bei der Privatisierung, schnellere Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte, der Stromwirtschaft und des Handelsbereichs. Wir müssen Forschung und Entwicklung nicht nur fördern -- Herr Schäuble hat das, glaube ich, vorhin angesprochen -, sondern deren Ergebnisse auch anwenden, etwa in der Biotechnik oder in der Gentechnologie. Diejenigen, die hier im Hause die Regierung auffordern, die Mittel für Forschung und Entwicklung zu stärken, sind die ersten, die auf der Barrikade stehen gegen die Anwendung der Forschungsergebnisse. Einer der Nachteile der deutschen Volkswirtschaft ist, daß andere Länder schneller in der Lage sind, Forschungs- und Entwicklungsergebnisse umzusetzen. ({4}) Wir sind nicht schlechter in Forschung und Innovation, aber wir sind langsamer in der Umsetzung, und das liegt weitgehend an der Politik, nicht aber an den Unternehmen. ({5}) - Nur als Merkposten: Die hessische Landesregierung hat die Postreform im Bundesrat abgelehnt. Die agiert wahrlich hinter dem Mond, wenn es um das moderne, das wettbewerbsfähige Deutschland geht. Aber so ist das eben, wenn der grüne Schwanz mit dem roten Hund wackelt. ({6}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort sagen, damit das nicht völlig untergeht: Wir haben hier einen Antrag der PDS auf dem Tisch liegen. Herr Gysi, ich dachte immer, Sie hätten Frau Wagenknecht nicht in den Vorstand gewählt. Was in dem Antrag steht, könnten Sie mit Frau Wagenknecht unterschreiben. Das ist eine geradezu unglaubliche Zusammenstellung von Unsinn. Das ist eher eine Kabarettnummer, eine Lachnummer. ({7}) - Ich würde mich ja wundern, wenn Frau Luft das wirklich so verteidigte. Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht zeigt die richtige Richtung. Es gilt, ihn umzusetzen. Es gilt, den Jahreswirtschaftsbericht im Interesse der deutschen Volkswirtschaft, im Interesse der Arbeitslosen und auch unserer Unternehmen umzusetzen. Dabei haben die Bundesregierung und vor allem der Bundeswirtschaftsminister die volle Unterstützung der F.D.P. Vielen Dank. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Christa Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sie dürfen es, herr Rexrodt, Herr Schäuble, Herr Lambsdorff, jemandem, der aus der ehemaligen DDR kommt, nicht übelnehmen, wenn ihm all die vielen schönen Schönwetterreden doch suspekt sind und ihn an glücklicherweise vergangene Zeiten erinnern. ({0}) Das Gegenteil von Schönwetterreden wäre, doch nicht einfach nur zu lamentieren, sondern sich offen über die Parteigrenzen hinweg im Interesse der Bürgerinnen und Bürger über das zu verständigen, was die eigentlichen Knackpunkte der Gegenwart und auch der Zukunft wohl sind. Die „Sächsische Zeitung" hat den Jahreswirtschaftsbericht ein "langweiliges Papier" genannt. Die Hamburger „Zeit" titelt ebenso. Ich habe dazu überhaupt keinen Widerspruch, denn es fehlen meiner Meinung nach tatsächlich jegliche neuen wirtschaftspolitischen Akzente, die sich aus den Ereignissen und Prozessen ableiten, die 1994 ganz geballt in diesem Lande aufgetreten sind und die sich mit verheerenden Konsequenzen auf die ohnehin dramatische Beschäftigungslage weiter auswirken werden, wenn dort nicht gegengesteuert wird. Sie bleiben bei den alten Stichworten Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung, Mittelstand. Warum nehmen Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht denn nicht Bezug darauf, daß im Jahre 1994 zwar der Anfang, aber längst nicht das Ende boomender Finanzspekulationen war, die, wenn sie schief gehen - und sie gehen ja oft genug schief, wie wir erlebt haben -, ganze Firmenketten auf einen Schlag in den Pleitenstrudel hineinziehen und damit die Beschäftigungslage dramatisch zuspitzen? Warum nehmen Sie nicht Bezug darauf, daß bei Ihren verbalen Deregulierungsbekenntnissen in diesem Land eine Fusionierung von Unternehmen stattfindet, die vor allen Dingen im Energiebereich, in der Entsorgungswirtschaft, im Umweltbereich und in den Medien mittelständischen Unternehmen überhaupt keine Chance mehr läßt und den Wettbewerb einschränkt? Warum nehmen Sie nicht Bezug auf die ausufernde Beteiligung großer Banken an Industrieunternehmen und anderen Unternehmen, d. h. auf die Beherrschung des produzierenden Gewerbes und des Dienstleistungssektors durch den Finanzsektor? Das wären ganz, ganz wichtige Ansatzpunkte, um die sich die Wirtschaftspolitik zu kümmern hat, wenn sie auf die Zukunft gerichtet sein will. Kein Wort findet sich bei Ihnen zu solchen Dingen. Statt dessen malt der Bundeswirtschaftsminister rosarot, er stellt sich selbst ein blendendes Zeugnis aus. Das, Herr Rexrodt, darf nicht einmal ein Schüler in einer Schule für sich tun. ({1}) Der Bericht bringt gegenüber der Regierungserklärung, die immerhin schon drei Monate zurückliegt, in der Sache nichts Neues. Am Krebsgeschwür der Massenarbeitslosigkeit versuchen Sie mit der Hoffnung auf Wirtschaftswachstum zu laborieren. Sie basteln hier und dort auch noch am § 249h und ähnlichen Lösungen. „Augen zu und durch" ist die Devise. Mit der Parole „Weiter so" und „Zu uns gibt es keine Alternative" machen Sie sich wohl selbst Mut. Der Mensch kommt in der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung wie in einem privaten Unternehmen nur noch als betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor vor. Er muß sich rechnen, ({2}) und wenn er sich nicht rechnet, muß er weichen. ({3}) Als Rezept für die Verbesserung des Wirtschaftsstandorts Deutschland werden daher Lohnmäßigung, Lohnverzicht und Verschlankung der Sozialleistungen propagiert. Die Globalisierung der Märkte und die Öffnung Osteuropas werden ins Feld geführt. Aber wie lange - so frage ich Sie - sollen denn die Löhne gedrosselt werden, bis deutsche Unternehmen über den Lohn in eine Preiskonkurrenz mit Firmen aus Schwellenländern oder osteuropäischen Staaten eintreten können? Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß ein polnischer Facharbeiter heute - seine Landeswährung in D-Mark umgerechnet - einen Lohn hat, der bei 5 bis 6 % des Lohnes seines deutschen Kollegen liegt. In anderen osteuropäischen Ländern sind die Relationen noch weit schlimmer, und sie werden sich in absehbarer Zeit nicht grundlegend ändern. Wollen Sie tatenlos zusehen, daß Firmen, ausgehend von dieser Lage, weiter Produktionen ins Ausland verlagern und hier Arbeitsplätze abbauen? Warum stellen Sie nicht die Weichen für eine Innovationskonkurrenz, über die Sie ständig reden, damit hohe Löhne hier in diesem Land auch künftig durch eine hohe Wertschöpfung verdient werden können? Es frustriert schon, wenn man - wie gestern im Wirtschaftsausschuß - erleben muß, wie alle von der Opposition eingebrachten Anträge, forschungs- und technologieorientierte Unternehmen durch Förderungsmaßnahmen finanziell etwas besserzustellen, von den Koalitionsabgeordneten einhellig und ohne Aussprache abgeschmettert worden sind. Wie lange wollen Sie noch zusehen, daß es mit dem Standortfaktor Bildung in diesem Lande ständig weiter bergab geht? Die Bundesrepublik Deutschland war vor der deutschen Einheit auf dem 21. Platz der Welt, was die Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung angeht. Das ist ja wohl kein Ruhmesblatt für dieses Land. ({4}) - Die DDR stand da pro Kopf ein bißchen besser. Das kann ich Ihnen versichern. ({5}) Wie lange soll denn das Wegrationalisieren von beruflichen Ausbildungsplätzen aus Kostengründen noch anhalten? Im CDU-geführten Sachsen fehlen in diesem Jahr 60 % der Ausbildungsplätze, die benötigt werden. ({6}) - Sie können mir gerne eine Frage stellen. Wann endlich intervenieren Sie dagegen, daß mit der wertvollsten Ressource, der Qualifikation der Menschen, in Ostdeutschland geradezu Schindluder getrieben werden darf? Immerhin ist die Industriedichte mit Hilfe des Treuhandarms der Bundesregierung auf die knappe Hälfte derjenigen in den alten Ländern zurückgeschnitten und dem selbsttragenden Aufschwung auf diese Weise doch wohl eine ernsthafte Bremse angelegt worden. Warum sehen Sie angesichts steigender Energie-und Wasserpreise sowie explodierender Verkehrstarife überhaupt keinen politischen Handlungsbedarf? Wissen Sie denn nicht, wie die Kostenrealität, z. B. in ostdeutschen Unternehmen, aussieht? Für mittelständische Unternehmen haben sich von 1990 bis 1994 die Personalkosten auf 270 %, die Gebühren für Telefon und Porto aber auf 500 %, die Gebühren für Wasser und Abwasser auf 400 % und die Ausgaben für Steuern, Versicherungen und sonstiges auf 800 % erhöht. Ähnliche Erfahrungen gibt es in allen Ländern, auch in den alten Ländern. ({7}) Wir von der PDS haben daher volles Verständnis dafür, daß sich die Metaller und ihre Gewerkschaft in diesen Tagen nicht mit der Lohnkostenkeule drohen lassen und sich in der anstehenden Tarifrunde nicht kleinkriegen lassen wollen. ({8}) Wen kann es denn kaltlassen, wenn den Arbeitenden weiterhin ins Portemonnaie gegriffen werden soll? Die Metaller haben doch - wie übrigens alle anderen Beschäftigten - mit der gerade eingeführten Pflegeversicherung und mit der Wiederauflage des Solidaritätszuschlages extrem hohe Nettolohnabstriche hinnehmen müssen. Immer mehr Familien können die steigenden Lebenshaltungskosten kaum noch bestreiten. Dabei ist ihr Verbrauch ohnehin nicht so üppig wie der der Gutbetuchten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete, zwei Kollegen - der Kollege Rauen und der Kollege Hirsch - möchten Ihnen gern Zwischenfragen stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, wenn Sie die Uhr anhalten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Uhr bleibt in diesem Fall immer stehen.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich darf diesen einen Satz zu Ende sagen, Herr Kollege. Dann können Sie sofort Ihre Frage stellen. Ich sagte, der Verbrauch der Beschäftigten, der arbeitenden Menschen, ist ohnehin nicht so üppig wie der der Gutbetuchten. Für letztere aber läßt das Einkommensteuergesetz heute noch zu - ich zitiere -: Aufwendungen für die Einladung von Geschäftspartnern zu Karnevalsveranstaltungen sind Lebenshaltungskosten. Ich finde das nobel, kann ich nur sagen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Herr Kollege Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Luft, wenn ich Sie so reden höre, drängt sich mir eine Frage auf: Können Sie von der PDS, der Nachfolgepartei der SED, mir sagen, da Sie alles so gut wissen, warum am Ende die DDR bankrott war?

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das hätten Sie die fragen sollen, mit denen die führenden Vertreter Ihrer Partei in den zurückliegenden Jahren verhandelt haben. ({0}) Aus Ihren Reihen hat Herr Mittag den Titel „oberster Wirtschaftslenker" bekommen, nicht von uns oder von mir. ({1}) Wie stehen Sie denn zu den hohen Differenzen zwischen Kreditnahme- und Kreditvergabezinsen der Banken?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung! Wollen Sie auch die Frage des Kollegen Hirsch zulassen?

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Bitte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, können Sie denn wirklich ernsthaft bestreiten und darüber hinweggehen wollen, daß die nicht kostengerechte Preisstruktur in der früheren DDR zu einem gigantischen Verzehr des Volksvermögens, zur Wettbewerbsunfähigkeit der Unternehmen und damit zu einem Betrug an den arbeitenden Menschen geführt hat?

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, da besteht zwischen uns kein Widerspruch. Das ist ja gerade ein Grund dafür, daß das, was Planwirtschaft genannt worden ist, gescheitert ist. Denn wir hatten keine aufwandsgerechten Preise, somit keine Steuerungsinstrumente und keine objektiven Maßstäbe. Wir haben keinen Wechselkurs für unsere Währung gehabt, der uns im internationalen Vergleich gute Aufschlüsse hätte geben können. ({0}) - Weil die Kosten in die Höhe getrieben werden. Ich komme noch darauf zurück. Was ist mit den ständig steigenden Grundstückspreisen? Die Bundesregierung hat mit den von der DDR übernommenen Grundstücken und über die Politik der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft eine beträchtliche Möglichkeit, Preise auf diesem Markt zu beeinflussen, zu senken, um so Unternehmensgründungen und das Entstehen von Arbeitsplätzen zu erleichtern sowie sozialen Wohnungsbau zu ermöglichen. Wann werden die Faktoren, die die Produktionskosten belasten, objektiv bewertet, und wann wird etwas zu ihrer Senkung getan, damit nicht nur von den Beschäftigten verlangt wird, sie sollten durch Einsicht und durch Lohnverzicht Arbeitsplätze erhalten - und das auch noch, Herr Rexrodt, angesichts des Faktums, daß 1994 die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Tätigkeit um 2,1 %, die aus Unternehmertätigkeit und Vermögen jedoch um stattliche 9,1 % gestiegen sind? ({1}) Sie sprechen weiterhin von einem schier unaufhaltsamen Aufwärtstrend und berücksichtigen nicht die Risiken, die in der binnenwirtschaftlichen Entwicklung liegen, vor allen Dingen im privaten Verbrauch. Sie erwarten 300 000 neue Arbeitsplätze. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Vergleichen Sie damit nur einmal die Meldungen aus einer einzigen Woche über das, was uns in diesem Jahr auf dem Beschäftigungssektor ins Haus steht! Im Raum Stuttgart wollen 37 % der Industrieunternehmen in diesem Jahr die Beschäftigtenzahl abbauen. In Sachsen-Anhalt bahnt sich ein ganzer Schub in die Massenarbeitslosigkeit an. Ich nenne die Mansfeld-Region, ich nenne den Standort Dessau der DWA AG. Die Deutsche Bahn AG will bis Ende 1995 36 000 Eisenbahner weniger haben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Luft, Sie sind jetzt schon ein gutes Stück über Ihre Redezeit.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die Telekom plant, bis zum Jahre 2000 rund 60 000 Stellen abzubauen. Das sind Meldungen aus einer einzigen Woche, und dabei hat das Jahr erst begonnen. Ich komme zum Schluß und sage: Sie haben den Markt längst als eine Naturgewalt akzeptiert. Deshalb lehnen Sie sich zurück und hoffen, daß es nicht allzu schlimm kommen möge. Ich kann nur sagen, Herr Rexrodt: Der Markt muß bei weitem keine unberechenbare Naturgewalt sein. Seine spontanen, seine zerstörerischen Wirkungen sind allzuoft wie das kürzliche Rheinhochwasser hausgemacht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Sie können jetzt nicht mit einer neuen Rede beginnen. Nach dem Hinweis bitte nur noch einen Satz!

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Daher kommt seiner sozialen Flankierung höchste Priorität zu. Wir erwarten von Ihnen Agieren, nicht nur Prognostizieren und Propagieren. Danke schön. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mehrere Äußerungen von Herrn Schäuble und auch von Graf Lambsdorff zum Anlaß nehmen, die Art des Umgangs mit Fakten, die hier aus parteipolitischen Gründen verdreht werden, zu beleuchten. Hier wird erstens nicht erwähnt, daß Hessen das wirtschaftsstärkste Land ist, was sich u. a. darin dokumentiert, daß es bei den Leistungen für den Länderfinanzausgleich mit 3,6 Milliarden DM an der Spitze aller Bundesländer liegt. ({0}) Zweitens. Hier wird argumentiert, die Genehmigungsverfahren in Hessen liefen besonders langsam ab. Ich will daran erinnern: Fakt ist, daß unter der jetzigen sozialökologischen Regierung im Jahr 1993 rund 50 % aller Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz innerhalb einer Frist von weniger als sechs Monaten durchgeführt worden sind. Im Vergleich dazu: Während der Regierungszeit Kanther/Wallmann, vier Jahre zuvor, waren es nur 36 %. Der Vorstandsvorsitzende der Farbwerke Hoechst und der Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Farbwerke Hoechst, Arnold Weber, haben in mehreren Diskussionsrunden öffentlich konstatiert, daß das Land Hessen unter der sozialökologischen Regierung eine drastische Reduzierung der Bearbeitungszeit von Genehmigungsverfahren erreicht hat, zum Teil bis auf dreieinhalb Monate. Man sollte zur Kenntnis nehmen, was aus der Industrie selbst gesagt wird. Weiter zu den Fakten: Während der vier Jahre der CDU/F.D.P.-Regierung in Hessen ist im Bereich der Gentechnologie kein einziger Antrag genehmigt worden. ({1}) Die sozialökologische Regierung in Hessen - SPD- geführt - hat diese Situation nach vier Jahren vorgefunden und die Genehmigungsverfahren, die bisher auf zwei Regierungspräsidien verteilt waren, auf ein Regierungspräsidium konzentriert, damit es unbürokratischer vor sich geht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau - Heidemarie Wieczorek-Zeul ({0}): Ich bin gleich fertig.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nicht gleich, sondern sofort. Sie sind schon über die Zeit.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte um Nachsicht. Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Das heißt, es gibt raschere, aber keine lascheren Verfahren. Ich ziehe folgendes Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es ist das gute Recht von CDU und F.D.P., um Wählerstimmen in Hessen zu werben. Aber ich appelliere an Sie, nicht in wahrheitswidriger Weise die Fakten zu verdrehen

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit!

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und damit ein Land und seine Menschen schlechtzureden, das in der Bundesrepublik wirtschaftlich an der Spitze liegt. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, wir haben hier Regeln: Kurzinterventionen dauern höchstens zwei Minuten und nicht drei Minuten. Wenn Sie der Präsident unterbricht, bitte ich, zum letzten Satz zu kommen. Es ist einfach unfair, wenn jemand das hier so ausnutzt. ({0}) Sie haben zwei Kollegen angesprochen; zwei Kollegen können antworten. - Herr Kollege Schäuble? - Nein. Kollege Graf Lambsdorff? - Bitte.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Wieczorek-Zeul hat mich freundlicherweise erwähnt, und deshalb habe ich das Recht, zu antworten. Ich will nur eines sagen, meine Damen und Herren: Ob nun Hessen das wirtschaftsstärkste Land ist oder nicht, kann man in Statistiken nachsehen; ich kann das aus dem Kopf nicht sagen. ({0}) Es macht doch überhaupt keinen Sinn, so zu tun, als läge es an der himmelschreienden Tüchtigkeit einer Regierung, daß ein Land wirtschaftlich stärker ist etwa im Vergleich zum Saarland oder zu anderen Bundesländern. ({1}) Das macht genausowenig Sinn wie die immer wieder vorgetragene Behauptung: Wir, diese oder jene Regierung, haben 100 000 oder 200 000 Arbeitsplätze geschaffen. Gar nichts haben Sie! Sie können bestenfalls die Rahmenbedingungen dafür herstellen, daß Arbeitsplätze geschaffen werden. Den Rest können Sie nur im öffentlichen Dienst schaffen. In Hessen haben Sie davon allerdings zu viele zur Verfügung gestellt. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich muß hier aufklärend wirken, Frau Kollegin Rönsch: Auf eine Kurzintervention gibt es keine Kurzintervention. Auf eine Kurzintervention kann der Angesprochene antworten, und damit hat es sich. Dann geht die Rednerliste weiter. An irgendeiner weiteren Stelle, wenn man sich besonders provoziert fühlt, kann man sich zu einer Kurzintervention melden. ({0}) - Es tut mir leid, aber wir haben nun einmal ein Regelwerk, und das gilt für alle Seiten. Ich erteile das Wort der Kollegin Anke Fuchs.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Rönsch, damit Sie die Gelegenheit haben, nachher eine Zwischenbemerkung zu machen, sage ich: Hessen ist das stärkste Wirtschaftsland, Hessen ist vorn, und Hessen bleibt vorn. Insofern können wir, glaube ich, dieses Thema heute morgen hier abhaken. ({0}) Ich will meine Rede in das einbetten, was bisher heute morgen gesagt wurde. Das alles ist eigentlich nicht neu; der Schlagabtausch ist immer der gleiche. Aber ich nehme wieder einmal zur Kenntnis, daß wir wettbewerbsfähig sind, besonders im Export - trotz der hohen Löhne, möchte ich betonen. Diese Mär von den hohen Löhnen, die die Exportfähigkeit beeinträchtigen, scheint also nicht zu stimmen. Das gilt es festzuhalten. ({1}) Als zweites möchte ich etwas zu Graf Lambsdorff sagen: Sie sprachen von den sehr guten Einkommen der Menschen. ({2}) Das Problem ist eben, daß die Einkommens- und Vermögenssituation in unserem Land in einem Maße auseinanderdriftet, daß wir uns um die soziale Symmetrie Sorge machen müssen. Deswegen haben wir recht, wenn wir sagen: Die unteren Einkommensschichten müssen entlastet werden, weil sonst die Ungerechtigkeit immer größer wird. ({3}) Anke Fuchs ({4}) Sie müssen genau zuhören: Der Wirtschaftsminister hat wieder alles schöngeredet. Er hat übrigens im Gegensatz zu Ihnen behauptet, er habe die Arbeitsplätze geschaffen - so ungefähr -, und tut so, als ob er alles gemacht hätte. Aber wie immer: Mein Vorwurf bleibt berechtigt. Ich habe nichts gegen die positiven Signale - damit das klar ist -; ich will auch nicht miesmachen. Ich finde es nur unglaublich interessant, daß ein Wirtschaftsminister und auch ein Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU das Thema Arbeitsmarkt abhaken, indem sie sagen: Das ist ein Problem; wir tun etwas gegen Langzeitarbeitslosigkeit. Damit hat es sich dann. Das ist zuwenig, meine Damen und Herren. ({5}) Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist mehr als die Frage der sozialen Komponente. Ich habe schon oft gesagt: Eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik muß her. Dazu gehört auch ein verfestigter zweiter Arbeitsmarkt, weil wir sonst auf der hohen Massenarbeitslosigkeit hängenbleiben. Dieses beschädigt unsere Demokratie. Hängen Sie das nicht zu niedrig! ({6}) Immer wieder weigert sich der Wirtschaftsminister, über Arbeitsmarktpolitik zu reden. Immer wieder heißt es, irgendwann kommt das alles. Und Sie brüsten sich mit 100 000 oder 300 000 Arbeitslosen weniger, statt zu fragen: Was machen wir eigentlich mit den über 3 Millionen, die Arbeitsplätze wollen? Was machen wir eigentlich mit den Menschen, die Arbeit suchen? Deswegen bleibe ich dabei: Eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik muß die Frage der Arbeitsmarktpolitik in ihr Zentrum stellen; denn das Teuerste, was wir uns leisten können, ist Massenarbeitslosigkeit. ({7}) - Sie ist das Unmenschlichste. Deswegen sagen wir Sozialdemokraten: Wir werden uns mit Massenarbeitslosigkeit nicht abfinden. ({8}) Wir wissen, daß es kein Patentrezept gibt. Aber wir sagen: Jede Facette, die geeignet ist, Arbeitslosigkeit abzubauen, ist nicht nur menschlich richtig, sondern auch sozial vernünftig und, Graf Lambsdorff, auch ökonomisch vernünftig, weil sonst unsere soziale Demokratie beschädigt wird. ({9}) Damit sind wir bei konkreten Themen. Ich will das jetzt nur stichwortartig behandeln. Wir sind bei dem Thema: Wie gehen wir mit der Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt für Arbeit um? Ich bin gespannt, ob nun die Vorhaben zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit über konkrete Haushaltsansätze bei der Bundesanstalt für Arbeit eingelöst werden. Erst wird das Programm für Arbeit und gegen Langzeitarbeitslosigkeit abgeschafft, dann kommt ein runder Tisch, dann sagt man: Wir machen es wieder. Und das wird dann noch als großer Erfolg der Wirtschaftspolitik verkündet. Es ist doch ein Zynismus, meine Damen und Herren, was da praktiziert wird! ({10}) Dann sind wir bei dem Thema, welche Arbeitsplätze wir eigentlich wollen. Ich sage Ihnen: Arbeitslosigkeit können Sie mit befristeten Arbeitsverträgen nicht beseitigen. Ich halte es für falsch, diesen Weg noch weiter gehen zu wollen, als es bisher schon Praxis ist. ({11}) Es geht des weiteren um die Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze. Es geht um die Bekämpfung von illegaler Beschäftigung. Es geht um die Bekämpfung von Schwarzarbeit. Es geht um die Frage, zu welchen Bedingungen z. B. portugiesische Bauarbeiter bei uns arbeiten sollen. Sie wissen, wir wollen alle, daß sie hier Beschäftigung finden; dann aber, bitte, zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen, die auf deutschen Baustellen gelten, damit die Wettbewerbsverzerrung aufhört. ({12}) Wir haben dazu Vorschläge vorgelegt. Und es ist wie immer - das hat Gerhard Schröder völlig zu Recht gesagt -: Sie antworten erst unter Druck, zögerlich, zu spät, finanziell zu mager ausgestattet. Und Sie wundern sich dann, wenn die an sich offensiven Instrumente in ihren Auswirkungen kleiner werden, als wir es eigentlich wollten. Und das geschieht, weil Sie das alles eigentlich nicht wollen, weil in Ihren Köpfen nach wie vor spukt: Der Markt wird es allein richten; Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Mit diesem Gedankengut, mit dieser inneren Haltung nehmen Sie eigentlich Massenarbeitslosigkeit in Kauf, meine Damen und Herren. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Fuchs, der Kollege Hinsken würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Fuchs, wären Sie nach den Ausführungen, die Sie eben darüber gemacht haben, daß in der Bundesrepublik Deutschland viele ausländische Arbeitnehmer tätig sind, die in Zukunft mit gleichem Lohn rechnen sollen, bereit, anzuerkennen, daß Norbert Blüm gerade dies beabsichtigt? Ist Ihre Fraktion bereit, ihn bei diesem Unterfangen nachhaltig zu unterstützen, damit dem Rechnung getragen werden kann?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich weiß ja, daß Norbert Blüm sich in Europa bemüht hat. Dabei ist er unterlegen. Seitdem sagt er, er wolle es tun. Dann soll er es einmal tun. Er hat unsere Unterstützung. ({0}) Wo bleibt denn der Vorschlag von Norbert Blüm, vorgelegt von dieser Bundesregierung, als Konzept, das hier im Parlament ordnungsgemäß beraten werden kann? Wir werden ihm gern zustimmen. Aber ich warte darauf. Bisher waren es Ankündigungen. Und ich habe es satt, in dieser arbeitsmarktpolitischen Situation immer auf Ankündigungen zu vertrauen bei einer Regierung, die sich zunehmend- als handlungsunfähig erweist. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sind Sie bereit, eine zweite Frage zu beantworten?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Fuchs, ich kann also aus Ihren Ausführungen schließen, daß Sie uns voll und nachhaltig unterstützen, und zwar nicht nur Sie in Person, sondern auch Ihre Fraktion? Darf ich Sie des weiteren noch bitten, uns Ihre Alternativen zu nennen, was die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen anbelangt? Denn bisher habe ich darüber von Ihnen noch nichts gehört. Ich würde es mir erwarten.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber, Herr Kollege! Wir werden Sie unterstützen. Ich habe das Stichwort „Entsenderichtlinie" angemahnt, weil ich es für ein wichtiges Element halte, aus dem klar werden kann, daß die Bundesrepublik Deutschland ausländischen Arbeitnehmern Chancen auf Erwerb geben will, aber bitte nicht zu Lohndumpingbedingungen, sondern zu den Bedingungen, die wir auf unseren Arbeitsmärkten haben. So stellen wir uns nämlich Europa und die Europäische Union vor. ({0}) Wenn ich nun zu dem Thema der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit komme, will ich Sie darauf hinweisen, daß wir darüber eine Debatte hatten. Ich überweise Ihnen gern unseren Antrag „Bündnis gegen Arbeitslosigkeit". Darin steckt die Philosophie, die da sagt: Natürlich brauchen wir Wirtschaftswachstum. Natürlich brauchen wir nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Natürlich wollen wir die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft dafür nutzen, daß mehr Arbeitsplätze entstehen. Das ist alles in Ordnung. Natürlich brauchen die Unternehmen mehr Flexibilität, andere Arbeitszeiten usw. Wenn wir das alles gemacht haben, bleibt trotzdem so viel Arbeitsmarktpolitik notwendig, daß wir uns mit einem gezielten neuen Gesetz, dem Arbeitsförderungs- und Strukturgesetz, an dieses Thema heranmachen. Ich sage Ihnen noch einmal: Auch das wird nicht von heute auf morgen auf Knopfdruck das Problem der Massenarbeitslosigkeit lösen. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich die Massenarbeitslosigkeit in Kauf nehme, mich gemütlich hinsetze und auf den Markt warte, oder ob ich sage, wir können uns mit Massenarbeitslosigkeit nicht abfinden, Männer und Frauen müssen die Chance haben, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, sonst nimmt unsere soziale Demokratie Schaden. ({1}) Und das steht in unserem Antrag. Aber ich will auf einen anderen Gedanken eingehen, der mir zu schaffen macht. Das wird ein bißchen polemisch; aber trotzdem meine ich das als Dialogangebot. Es gab den runden Tisch. Um ihn haben sich viele Interviews und ähnliches gerankt. Ich frage mich, meine Damen und Herren: Was ist eigentlich in unserem Land passiert, wenn man sich die guten Sitten in der wirtschaftlichen Entwicklung anguckt? Ich sage Ihnen, Herr Rexrodt: Karl Schiller hätte sich nicht vom Bundeskanzler die Butter vom Brot nehmen lassen. Karl Schiller hätte gestaltet. Karl Schiller hätte die Unternehmen ermahnt. Er hätte nicht nur aufgefordert, sondern knallhart gesagt, daß die Wirtschaft für genügend Ausbildungsplätze verantwortlich ist und sie auch schaffen muß. Er hätte nachgefragt, wie, wann und wo diese Ausbildungsplätze eingerichtet werden. ({2}) Karl Schiller hätte nicht zugelassen, daß Frauen während des Erziehungsurlaubs entlassen werden. Meine Damen und Herren, wohin sind wir eigentlich gekommen? Aber es fing ja damit an, daß die Bundesregierung gesagt hat, Rentenversicherungsbeiträge für Bundeswehrsoldaten müsse sie nicht zahlen, denn davon lebe die Rentenversicherung nicht. Es geht damit weiter, daß die Frage der Verläßlichkeit von Aussagen der Bundesregierung hinterfragt werden muß. Da bin ich bei der Kohlefinanzierung. Es ist doch richtig, daß wir in den Haushalt 1995 die ungekürzte Kokskohlenbeihilfe einbringen, da die Unternehmen sonst gar nicht richtig wirtschaften können. ({3}) Es ist auch richtig, daß es ein Gesetz gibt, dem wir zugestimmt haben, das Verpflichtungen vorsieht. Wir werden nicht zulassen, daß Sie all Ihre anderen finanzpolitischen Geschichten mit dieser Bringschuld der Bundesregierung verknüpfen, meine Damen und Herren, weil dies die Verläßlichkeit von Regierungshandeln untergraben würde. Dem werden wir nicht tatenlos zuschauen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, es besteht ein weiterer Zwischenfragewunsch.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie haben gerade auf Herrn Professor Karl Schiller, einen sicherlich großen Wirtschaftspolitiker, verwiesen. Wer ist denn in Ihrer Fraktion der neue Schiller? ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es geht um die Gedanken, die Karl Schiller geäußert hat, und da sage ich Ihnen: Die ganze sozialdemokratische Bundestagsfraktion sagt mit Karl Schiller: Wirtschaftspolitik heißt: So viel Staat wie nötig, so viel Markt wie möglich. Wirtschaftspolitik heißt nicht, danebenzusitzen, zuzuschauen und zu sagen, Wirtschaft finde in der Wirtschaft statt, sondern Rahmenbedingungen zu setzen, zu gestalten und dafür zu sorgen, daß das soziale Gleichgewicht in unserer Demokratie auch in der Wirtschaftspolitik ihren Platz findet. ({0}) Insofern finden wir uns alle in diesem Rahmen wieder. Meine Gedanken gehen noch einmal in Richtung Verläßlichkeit. Diese Bundesregierung ist nicht mehr verläßlich, und sie läßt es zu, daß die guten Sitten, der demokratische Konsens oder der soziale Frieden, wie Sie es auch nennen mögen, in unserer Demokratie verlorengehen. Mir kommt das insbesondere dann noch einmal ins Bewußtsein, wenn ich mir folgendes auf der Zunge zergehen lasse: Da gibt es die Betriebe Krupp, Thyssen, Klöckner. Sie gliedern Betriebe aus. Sie ermuntern Menschen, über einen Sozialplan in den Ruhestand zu gehen. Inzwischen machen die Mütter, sprich Thyssen, Gewinne und können auch Dividende zahlen. Die Töchter sind pleitegegangen, und die Sozialpläne werden nicht mehr bezahlt. Das ist doch fast der Weg in eine Bananenrepublik, meine Damen und Herren. Das können wir uns nicht gefallenlassen. Die Bundesregierung muß die Wirtschaftsunternehmen hier wieder an die Kandare nehmen, damit sie ihrer sozialen Verantwortung in unserem Land auch gerecht werden. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Urbaniak würde Sie gerne etwas fragen, Frau Kollegin.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Fuchs, ist es nicht ein unerhörter Vorgang, daß ein Unternehmen in dieser Republik, das von drei großen internationalen Konzernen getragen wird, zur Sanierung dieses Unternehmens in einem Tochterunternehmen Sozialpläne für die Freistellung von Arbeitnehmern, die ihre Arbeitsverträge aufheben, abschließt und während des Verlaufs dieses Plans - worauf sich die Leute doch verlassen müssen; es ist ja ein Anspruch, der ihnen gegeben ist - dann sagt: Feierabend, ihr kriegt keine müde Mark mehr, Schluß, wir fühlen uns mit euch nicht mehr verbunden? Was sind das eigentlich für Raubrittermethoden, die Unternehmer in dieser Republik eingeführt haben?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stimme Ihnen in bezug auf das Stichwort „Raubrittermethoden" zu und sage an die Adresse der regierenden Koalition: Es ist an der Zeit, daß wir uns wieder fragen: Wie kriegen wir es hin, daß wir den sozialen Frieden als Produktivitätsfaktor behalten? Es kann doch nicht sein, daß wir mit unserer Mentalität sagen: Jetzt gehen wir auf den Weltmarkt, egal zu welchen Bedingungen. Unser Erfolg hat doch vielmehr auch darauf beruht, daß es Dialogfähigkeit zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und Regierung gab und daß man sich der sozialen Verantwortung bewußt wurde. Mein Eindruck ist, daß die unternehmerische Wirtschaft diese soziale Verantwortung zunehmend nicht mehr wahrnimmt. Es muß aufhören, daß die Arbeitnehmer als Kostgänger der Betriebe diskreditiert werden. ({0}) Ich finde es unmöglich und dreist, daß bei Tarifverhandlungen ein Arbeitgeberverband keine Vorschläge macht und dann auch noch eine vereinbarte Arbeitszeitverkürzung nicht durchführen will. Das muß man sich einmal auf dem Hintergrund unserer Diskussion um Flexibilität von Arbeitszeit, von Teilzeitarbeit und von Jahresarbeitszeitverträgen vorstellen. Das sind doch alles Arbeitszeitverkürzungsstrategien. Ich appelliere von diesem Rednerpult aus an die Arbeitgeber in der Metallindustrie, sich an die vereinbarte 35-Stunden-Woche zu halten. Das ist notwendig im Sinne der Beschäftigung und ist auch ökonomisch vertretbar. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Fuchs, der Kollege Rauen würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, wenn Sie von Unternehmen und Unternehmern sprechen, habe ich den Eindruck, daß Sie die großen Konzerne meinen. Gilt das, was Sie mit „Raubrittertum" bezeichnen, auch für die rund 2,1 Millionen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die rund 24 Millionen Menschen in diesem Lande Arbeit geben?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Ich habe ja auch sehr überlegt, ob ich meinem Kollegen Hans Urbaniak in bezug auf diesen Begriff zustimme. ({0}) Anke Fuchs ({1}) - Herr Schäuble, es ist gut, daß Sie das sagen. Ich will darauf hinweisen: Mir macht es Sorgen, daß in der Tat die größeren Betriebe diese soziale Verantwortung nicht mehr richtig wahrnehmen. In der Zwischenzeit ist es doch so - Sie kennen das aus der Maschinenbaubranche -, daß sie zu viele entlassen haben, daß sie sagen: Wir haben heute Facharbeitermangel. Es war ja geradezu eine Sucht, mit der Anzahl der abgebauten Arbeitsplätze zu prahlen. Das kann doch so nicht weitergehen, meine Damen und Herren. Es ist auch ökonomisch nicht sinnvoll. Deswegen bleibe ich bei diesem Begriff in der Hoffnung, bei der Arbeitgeber- und Unternehmerseite einen Denkprozeß auszulösen. Ich habe zu denen gute Kontakte; Sie brauchen keine Sorge zu haben, daß ich mit der Wirtschaft nicht reden kann. Denn man muß an ihre soziale Verantwortung appellieren, damit das Raubrittertum - jetzt übernehme ich den Begriff von Hans Urbaniak - aufhört. Ich weiß sehr wohl, Herr Kollege, wie die Machtkonzentration kleine und mittlere Betriebe drangsaliert. ({2}) Wir wollen kleine und mittlere Betriebe besonders unterstützen. Dafür haben wir übrigens seit vielen Jahren ein Programm. Dem haben Sie nie zugestimmt. Wir sagen: Wir wissen, daß die kleinen und mittleren Betriebe die Mehrzahl der Arbeitsplätze stellen. Sie sind auch innovationsfreudiger und innovationsfähiger. Deswegen ist die unternehmerische Wirtschaft insgesamt gut beraten, sich so zu verzahnen, daß Innovation, Arbeitsplätze und Wachstum in großen wie in kleinen Betrieben vorhanden sind und vonstatten gehen. Wir müssen dafür ordentliche Rahmenbedingungen setzen. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Fuchs, der Kollege Michelbach möchte jetzt eine Frage an Sie richten.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Fuchs, Sie haben zum Schluß zwar wieder die Kurve bekommen; ich möchte Sie trotzdem fragen: Wie wollen Sie mit Ihrer pauschalen Unternehmensschelte in unserem Lande überhaupt neue Arbeitsplätze schaffen? Haben Sie nicht soeben bei Ihrem Genossen deutlich gesehen, daß Sie mit Ihrer Fraktion ein ideologisches Mißverhältnis zu Unternehmern haben? ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seien Sie sicher: Diejenigen in der unternehmerischen Wirtschaft, die nicht zu den Raubrittern gehören, werden mir zustimmen. Die anderen werden vielleicht in sich gehen - das ist ja meine Hoffnung - und die Frage erneuern und bekräftigen: Wie kann eine Demokratie, in der sozialer Frieden Produktivitätsfaktor war, in der wir durch Miteinander, nicht durch Gegeneinander, Erfolg gehabt haben, die Herausforderung der Zukunft durch Gemeinsamkeit gestalten? Das ist die Kernfrage. Ich muß Ihnen sagen: Ich finde, die unternehmerische Wirtschaft zieht sich aus der sozialen Verantwortung heraus. Wir haben es doch gesehen. Wenn am runden Tisch keine Verpflichtung der Unternehmer zustande kommt, sondern nur ein Arbeitsmarktprogramm gegen Langzeitarbeitslosigkeit, wird deutlich, auf welch mickrigem Niveau diese Gespräche stattfinden, meine Damen und Herren. ({0}) Der Bundeswirtschaftsminister hat gesagt, er wolle reisen. Das finde ich in Ordnung; wir wünschen ihm eine gute Reise. Ich möchte mit Ihnen aber darüber diskutieren - das ist ein Anliegen, das ich hier wiederholt vorgebracht habe -, mit welcher inneren Einstellung, mit welcher wirtschaftspolitischen Leitidee Sie auf diese Reise gehen. Ich glaube, wir müssen unsere Philosophie einer sozialen, ökologischen Marktwirtschaft auch in die Weltwirtschaft einbringen wollen. Das müssen wir aus zwei Gründen tun: erstens deswegen, damit unsere Unternehmen im Ausland faire Wettbewerbsbedingungen schaffen und haben, und zweitens, weil sonst der Weltmarkt zu einem reinen Markt verkommt. Wir wissen, daß der reine Markt für soziale und beschäftigungspolitische Entwicklungen blind ist. Deswegen ist die Kernfrage: Mit welcher Idee geht man auf Reisen? Wie verhält man sich gegenüber der World Trade Organisation mit Konzepten? Wir haben uns neulich darüber austauschen können. Ich glaube, unser gemeinsames Interesse muß sein, daß wir unsere Vorstellungen von einer sozialen, ökologischen Marktwirtschaft in die Weltpolitik einbringen. Das ist auf jeden Fall besser. Das ist, so hat es neulich Herr Greffrath in der „Süddeutschen Zeitung" formuliert, die Chance „gegen den asiatischen Ameisenkapitalismus und den amerikanischen Elendsindustrialismus". Ich glaube, wir haben als Europa, als Bundesrepublik im Binnenmarkt die Riesenmöglichkeit, mit unserer Idee einer sozialen, ökologischen Marktwirtschaft den Weltmarkt so zu verändern, daß das langfristige Ziel erreicht wird, daß faire Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen auf diesem Weltmarkt eine Chance haben. Mit dieser Philosophie sollten Sie, Herr Wirtschaftsminister, auf Reisen gehen, nicht, wie es in der Koalitionsvereinbarung steht, mit der Aussage: Sozialklauseln und Umweltstandards sind Protektionismus. Nein, es kann nicht angehen, daß jene Länder, die Menschenrechte verletzen, jene Länder, die ökologische Umweltzerstörung betreiben, daraus einen Wettbewerbsvorteil erlangen können. Wir brauchen Bedingungen für einen fairen Welthandel, meine Damen und Herren. ({1}) Dies ist meine Bitte. Anke Fuchs ({2}) Mir ist völlig klar, daß die Bereiche Internationale Arbeitsorganisation und World Trade Organisation für manche phantastisch klingen mögen. Ich denke aber: Es muß eine Perspektive der Einwirkung auf die Weltwirtschaft geben. Es muß geklärt werden, was die Bundesrepublik, ökonomisch stark und sozial gesichert, tun kann, um mit ihrer Philosophie einer auch ökologisch erneuerten Industriegesellschaft im Binnenmarkt Europa wettbewerbsfähig zu sein, aber auch mit Instrumenten bei der World Trade Organisation Einfluß zu nehmen, damit wir keine rigorose Marktwirtschaft als Marktphilosophie für die ganze Welt als einzige Alternative haben. Ich glaube, mit einer solchen Reisetätigkeit könnten Sie erfolgreich sein. Dann hätten Sie auch unsere Unterstützung. Wenn Sie in dem einen oder anderen Land sagen: Wenn ihr eure ökologischen Fragen oder eure Menschenrechtsfragen nicht in Ordnung bringt, wenn ihr keine freien Gewerkschaften zulaßt, dann wird es schwer sein, mit euch Handel und Wandel zu treiben!, dann sind wir auf diesem Wege schon ein Stückchen weiter. Vielen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Hannelore Rönsch das Wort.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte meiner Kollegin Fuchs ausdrücklich zustimmen: Hessen ist vorn, wenn es um die Steigerung der Arbeitslosenquote geht, wenn es um die Vertreibung von Unternehmen geht - siehe Siemens Brennelemente; 280 Arbeitsplätze - und wenn es urn die Dauer von Genehmigungsverfahren geht. ({0}) Ich habe vorhin angedeutet, wie Genehmigungsverfahren laufen; ich möchte es noch einmal exemplarisch deutlich machen. Ein biotechnologisches Unternehmen im RheinMain-Gebiet wollte die Produktionsanlage erweitern. 11. März 1991: Antragstellung für ein Projekt nach Gentechnikgesetz beim RP Darmstadt. 4. November 1991: nach längerem Schriftverkehr Einreichung der letzten geforderten Unterlagen. 10. November 1991: Mitteilung des Wechsels der Zuständigkeit zum RP Gießen. ({1}) - Wenn Sie sagten, Herr Schily, daß Sie an der Stelle etwas unternehmen wollen, unternehmerfreundlich handeln wollen, dann würde ich es verstehen. Aber daß Sie jetzt intervenieren, vestehe ich nicht. ({2}) Anfang 1992: Mitteilung des Regierungspräsidenten Gießen, daß eine Bearbeitung wegen Arbeitsüberlastung unmöglich sei. ({3}) 30. Dezember 1992: Mitteilung des RP Gießen, daß Zulassung auch nach Bundes-Immissionsschutzgesetz notwendig ist. Juli 1993: Entscheidung des RP Darmstadt, daß immissionsschutzrechtliche Genehmigung nicht notwendig sei. Im selben Monat: Aussetzung der Entscheidung, da der Regierungspräsident Gießen keine Bedenken in bezug auf das Gentechnikgesetz hat, aber die vom Regierungspräsidenten Darmstadt verweigerte immissionsschutzrechtliche Genehmigung für unerläßlich hält. Das waren 41 quälende Monate für ein Unternehmen. Ich denke, das zeigt, wie weit Hessen bei den Genehmigungsverfahren vorn ist. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zur Replik - Anke Fuchs ({0}) ({1}): Herr Präsident, ich bin jetzt in der glücklichen Situation, noch einmal antworten zu dürfen. Frau Kollegin Rönsch, Hessen ist vorn. Es hat unterdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, es hat ein besonders gutes wirtschaftliches Wachstum. ({2}) Das eine Genehmigungsverfahren mag - ({3}) An dem einen Beispiel machen Sie Landtagswahlkampf und verkrampfen sich. Es bleibt dabei: Die Durchschnittsdauer beträgt 3,5 Monate. Insofern ist Hessen vorn, und Hessen bleibt vorn. Darüber freue ich mich. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Professor Kurt Hans Biedenkopf. ({0}) Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu vier Punkten im Zusammenhang mit der Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht und das Sachverständigengutachten Stellung nehmen, von denen einer, nämlich der erste nicht unmittelbar mit dem Gutachten zu tun hat, aber mit den Grundlagen, auf denen wir, jedenfalls in den ostdeutschen Bundesländern, die Probleme der Vergangenheit und der Gegenwart zu beMinisterpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({1}) wältigen versuchen. Das ist die Frage des Solidarzuschlags, zu dem hier schon eine Menge gesagt worden ist. Ich möchte eigentlich in der Hoffnung, daß man diesen Gegenstand nicht weiter so diskutieren möge, wie es jetzt der Fall ist, noch einmal darauf hinweisen, daß unbeschadet der Meinungsverschiedenheiten, die bei der Verhandlung über den Solidarpakt natürlich bestanden, am Ende ein gemeinsamer Kompromiß erzielt wurde, der im wesentlichen darauf beruhte, daß die Bundesländer durch eine Erhöhung des Mehrwertsteueranteils in die Lage versetzt wurden, den horizontalen Finanzausgleich für die nächsten zehn Jahre in der voraussichtlichen Höhe zu finanzieren, und dem Bund dafür das Recht zugestanden wurde, sich durch den Solidarzuschlag zu refinanzieren. Ich möchte darauf hinweisen, daß die jetzige Debatte, in der zur Abschaffung des Solidarzuschlages aufgefordert und sogar seine Verfassungsmäßigkeit bestritten wird, zu einer tiefen Verunsicherung führt. Denn beide Dinge gehören untrennbar zusammen. Nach meiner Überzeugung ist es offensichtlich unmöglich, einen aus dem Bundeshaushalt wegfallenden Solidarzuschlag auf andere Weise zu finanzieren; und zwar nicht nur in diesem oder im nächsten Jahr, sondern nach meiner Ansicht auch noch im Jahr 1997. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Bundeshaushalt in der Lage wäre, neben den schwierigen Aufgaben, die mit dem Familienlastenausgleich und der Steuerfreistellung des Existenzminimums, mit der Refinanzierung des weggefallenen Kohlepfennigs und anderen Dingen gestellt werden, auch noch eine solche Last ganz oder teilweise zu übernehmen. Da es offensichtlich ist, daß das nicht geht, bedeutet die Diskussion über den Solidarzuschlag - so wie sie im Augenblick geführt wird - eine Gefährdung der finanziellen Grundlage für den Aufbau in Ostdeutschland. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle haben - in allen Bundesländern - unsere Probleme. Das gilt für jedes Bundesland, in dem Betriebe schließen müssen, in dem Menschen entlassen werden; das gilt für Baden-Württemberg, das gilt für Schleswig-Holstein. Wir hingegen haben noch Probleme zu bewältigen, die qualitativ anderer Art sind. Ich möchte jetzt - anderthalb Monate, nachdem der Solidarpakt in Kraft getreten ist - appellieren, die Grundlage, die wir damals geschaffen haben und über die wir alle sehr glücklich waren, nicht wieder durch eine Diskussion in Frage zu stellen oder zu gefährden. Wir brauchen diese Grundlage unbedingt, nicht nur, um unsere Haushalte zu finanzieren, nicht nur, um die nach wie vor riesigen Investitionen in die Infrastruktur finanzieren zu können, sondern auch, um Investoren gewinnen zu können. Wir werden in den ostdeutschen Ländern keine Investoren gewinnen, wenn wir ihnen nicht sagen können, daß die Finanzierung unserer Länder auf absehbare Zeit auf einer vernünftigen Grundlage aufbaut, die zwar äußerste Sparsamkeit erfordert, aber Stabilität gewährleistet. ({3}) Wenn dies nicht sicher ist, dann sind die Folgewirkungen der jetzigen Debatte weit über die öffentlichen Haushalte hinaus zu spüren. Deshalb möchte ich noch einmal unterstreichen: Wer den Solidarzuschlag in Frage stellt, stellt den Solidarpakt in Frage und eröffnet damit wiederum eine Diskussion. ({4}) Es ist nicht überraschend: Je länger die Dinge sich entwickeln, um so normaler werden sie auch - Gott sei Dank! - und um so deutlicher treten die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Bundesländer wieder hervor. Es war eine große Leistung aller Ministerpräsidenten, daß sie sich in Potsdam auf eine gemeinsame Linie einigen konnten. Es war wichtig und gut, daß es möglich wurde, mit dem Bund und dadurch mit der Bundesrepublik zu einer Verständigung zu kommen. Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen - auch in mehreren Reden im Bundesrat nicht -, daß die Finanzierung z. B. der sozialen Lasten in Ostdeutschland teilweise über Beiträge der westdeutschen Arbeitnehmer im Rahmen der Sozialversicherung keine dauerhaft sinnvolle Entwicklung ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Bitte sehr.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, ich habe an Sie die Frage, wie Sie die Vorschläge von Herrn Stoiber beurteilen. Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Ich komme gleich darauf, wenn Sie erlauben. Ich möchte mich dazu äußern. ({1})

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Bitte sehr. Ich werde darauf eingehen. Ich möchte zum Abschluß dieses Punktes die Bitte äußern, daß wir keine zusätzliche Belastung in die ungewöhnlich schwierigen Anstrengungen bringen, insbesondere in strukturarmen oder strukturschwachen Regionen in den ostdeutschen Bundesländern durch die Inaussichtstellung von Investitionen in die Infrastruktur Investoren zu gewinnen. Ich möchte Graf Lambsdorff darauf hinweisen, daß die Transfers bereits degressiv gestaltet sind. Sie müssen nicht erst degressiv gestaltet werden. Wenn man sie jetzt erst degressiv gestalten wollte, würde das bedeuten, daß wir die bisher gefundene GrundMinisterpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({1}) lage verlassen würden. Die degressive Wirkung tritt in dem Maße ein, in dem die Steuerkraft der ostdeutschen Länder wächst. Das ist die Folge des horizontalen Finanzausgleichssystems. Das bedeutet aber, daß die ostdeutschen Länder für die Laufzeit des Solidarpakts nur mit sehr geringfügigen realen Steigerungen ihrer Haushalte rechnen können, weil die Transferleistungen, die die Steuerschwäche ausgleichen, mit der wachsenden Steuerkraft zum größten Teil zurückgehen. Wir haben uns bei unserer mittelfristigen Finanzplanung deshalb darauf einzurichten, daß wir nur ein sehr geringfügiges reales Haushaltswachstum haben. Das ist für uns ein objektiv vorgegebenes Datum, so daß wir uns jetzt schon überlegen müssen, wie wir durch einen immer intelligenteren Mitteleinsatz gewissermaßen das geringe Wachstum der Haushalte so ausgleichen, daß das geringe Wachstum nicht zum Nachteil der weiteren Entwicklung der ostdeutschen Länder gerät. In diesem Zusammenhang möchte ich gern eine Bemerkung zu dem machen, was Herr Stoiber gesagt hat. Ich stimme ihm zu. Wir haben die Debatte über den Gegenstand, den Herr Stoiber angesprochen hat, schon vor einem Jahr in unserem Landtag geführt. Wir sind der Auffassung, daß wir Förderung wesentlich zielgenauer betreiben müssen. Wir brauchen dafür aber Ihre Mitwirkung, die Mitwirkung des Bundestages. Denn eine Reihe der Fördermaßnahmen sind Fördermaßnahmen, bei denen wir keine Differenzierung mit dem Ziel einer besseren Genauigkeit vornehmen können. Wir haben z. B. das Problem, daß die 50%ige Abschreibung bei Immobilien in allen Regionen des Landes gleich ist. Dort, wo jeder Investor auch ohne große Zuschüsse investieren würde, ist sie genauso hoch wie dort, wo ohne diese Abschreibung mit Sicherheit keine Investitionen stattfinden würden. Wir haben zwar im Rahmen der sogenannten GA-Mittel - Gemeinschaftsaufgabe „Aufbau Ost" - die Möglichkeit der differenzierten Förderung, aber eben in dem großen Bereich der Abschreibung nicht. Wir haben in einer ganzen Reihe von Fällen nur sehr geringen Einfluß auf die Art und Weise, wie die Mittel eingesetzt werden. Soweit wir Einfluß haben, werden wir schon durch den Tatbestand, den ich eben beschrieben habe, gezwungen sein, diese Mittel immer sorgfältiger einzusetzen. Wir sind gerade damit befaßt - das wird Sie vielleicht interessieren -, auch mit externer Hilfe neue Verfahren der Kombination der Förderprogramme zu entwickeln, die nicht mehr ressortabhängig sind, sondern ressortübergreifend, um auf diese Weise innerhalb der verschiedenen Ressorts und unter den verschiedenen Ressorts die Effizienz des Mitteleinsatzes zu steigern. Aus diesem Grunde haben wir ein wichtiges Landesförderprogramm nicht mehr einem bestimmten Ressort zugewiesen, sondern einem allgemeinen Titel im Kap. 15 des Haushalts, um auf diese Weise ressortübergreifend arbeiten zu können und damit zu einem effizienteren Mitteleinsatz zu gelangen. Nur auf diese Weise - das wissen wir - ist auch in Westdeutschland die Bereitschaft aufrechtzuerhalten, weiter Mittel zur Verfügung zu stellen. Ich bin der Meinung, daß die Steuerzahler in Westdeutschland einen Anspruch darauf haben, daß wir nach einer Anlaufphase nun große Energien darauf verwenden, solche Effekte zu erzielen - wobei ich, vielleicht im Sinne der Relativierung der Kritik von Herrn Kollegen Stoiber, hinzufügen möchte: In den ersten drei Jahren waren wir dazu schlechterdings nicht in der Lage, weil wir überhaupt erst einmal eine handlungsfähige Verwaltung aufbauen mußten. Aber jetzt sind wir es. Ich bin auch der Meinung, daß die ostdeutschen Länder und ihre Ministerpräsidenten gut beraten sind, wenn sie diese Kritik nicht zurückweisen, sondern mit denen, die die Kritik üben, in eine intensive Sachdiskussion eintreten - dann allerdings auch in der Erwartung, daß die Prüfung der Effizienz des Mitteleinsatzes auf ganz Deutschland ausgedehnt wird - und fragen, ob wir das überall richtig machen. ({2}) Ich darf hinzufügen: Sollte die Bereitschaft der westdeutschen Länder, und des Bundes, uns im Aufbau zu unterstützen, zu solchen Effizienzsteigerungen führen, dann wäre das eine Art immaterielle Gegenleistung, die wir an Westdeutschland leisten würden, vorausgesetzt, man würde sich unsere Erfahrungen zu eigen machen. Das ist nicht ohne weiteres gesagt. ({3}) Ich möchte noch wenige Sätze zu den Entwicklungen in den neuen Ländern sagen. Für uns steht die Arbeitsmarktentwicklung nach wie vor im Vordergrund. Dem Jahreswirtschaftsbericht können Sie entnehmen, daß die Erwerbsquote inzwischen leicht gestiegen ist. Sie können dem Jahreswirtschaftsbericht aber auch etwas entnehmen, was in der arbeitsmarktpolitischen Debatte nicht ausreichend berücksichtigt wird, nämlich die Tatsache, daß wir 1989/90 eine Erwerbsquote von 90 % hatten, d. h. 90 % der erwerbsfähigen Bevölkerung waren tatsächlich erwerbstätig. Das ist eine Erwerbsquote, die in keiner hochentwickelten Industriegesellschaft je erzielt worden ist und auch nicht erzielt werden wird. Deshalb mußten wir schon aus Gründen der Transformation von der planwirtschaftlichen Organisation des Arbeitsmarktes auf die marktwirtschaftliche Organisation des Arbeitsmarktes mit einem nachhaltigen Einbruch in der Beschäftigung rechnen. Der ist natürlich sehr viel größer ausgefallen, als er hätte sein müssen, weil zunächst einmal ein wesentlicher Teil der Beschäftigung zusammengebrochen ist. Sie alle kennen die Zahlen: In der sächsischen Textilindustrie sind noch 17 % der ursprünglich Beschäftigten tätig, im Maschinenbau etwas mehr als 20 %, im Braunkohlebergbau etwas mehr als 30 %. Auf der anderen Seite sind inzwischen im großen Umfang Klein- und Mittelbetriebe entstanden, die insbesondere im Bereich des Handwerks enorme ExMinisterpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({4}) pansionen verzeichnen. Wir hatten zu Beginn der jetzigen Aufbauphase im Freistaat Sachsen - das läßt sich im wesentlichen verallgemeinern, gilt auch für die anderen Bundesländer ({5}) rund 20 000 Handwerksbetriebe. Wir haben inzwischen 45 000. Die durchschnittliche Anzahl der Beschäftigten lag bei 2,8 und liegt jetzt bei mehr als 10 Angestellten, so daß im Freistaat Sachsen etwa 45 000 Bürgerinnen und Bürger Arbeit für 450 000 Menschen geschaffen haben. ({6}) Daß das die Probleme noch nicht lösen kann, wissen wir. Die Entwicklung geht jetzt auch langsamer. Ich möchte hier, Herr Bundeswirtschaftsminister, auf ein Problem hinweisen, daß unser aller Aufmerksamkeit verdient, und zwar über den Aufbau Ost hinaus: Wir stellen fest, daß in dem gesamten Bereich der Dienstleistungen von Sparkassen, Banken, öffentlichen wie privaten Instituten ein großes Defizit besteht: die unzureichende Bereitstellung von Eigenkapital. Die Finanzinstitute in Deutschland haben eine nur sehr gering ausgeprägte Tendenz, sich in einem gewissen Umfang mit Risikokapital zu beteiligen. Die Banken und Sparkassen sind zwar im großen Umfang bereit gewesen, Kredite zu geben, nur stoßen wir jetzt in Ostdeutschland an den Punkt, wo die Unternehmen nicht mit der Nachfrage nach ihren Produkten weiter wachsen können, weil sie noch kein Vermögen, kein Eigenkapital haben, das als Sicherheit für Darlehen dienen kann. Wenn dieses Eigenkapital nicht in irgendeiner Weise zur Verfügung gestellt wird, dann wird es kein weiteres Wachstum der kleinen und mittleren Betriebe geben. Da aber das Wachstum der Wirtschaft in Ostdeutschland insgesamt auf dem Wachstum der kleinen und mittleren Betriebe basiert - die großen Betriebe werden keinen wesentlichen Beitrag zur Arbeitsmarktpolitik und auch zum Wirtschaftswachstum der Gesamtwirtschaft leisten und auch nicht leisten können, weil sie nur in geringerer Zahl vorhanden sind -, würden wir jetzt in eine schwierige Situation kommen. Das war vor zwei Jahren noch nicht so. Das ist eine Folge der dritten Entwicklungsstufe. Am Anfang gab es die Gründung der Unternehmen, dann bemühten sie sich, Boden unter die Füße zu bekommen, und jetzt gibt es richtiges Wirtschaftswachstum. Die Beteiligungsgesellschaft Neue Länder, die durch die sogenannte Banken-Milliarde zustandegekommen ist, hat ja in gewissem Umfang Risikokapital zur Verfügung gestellt. Ich habe jedoch zu meinem großen Bedauern gehört, daß die beteiligten Banken die Absicht haben, die BNL nach Erledigung des Auftrags, 400 Millionen DM zu plazieren, wieder einzustellen. Ich würde das als eine Fehlentwicklung ansehen. ({7}) Vielmehr würde ich es begrüßen, wenn das, was man an neuen Schritten und Wegen gelernt hat - denn das ist ja alles neu gewesen -, nicht verlorenginge, sondern wenn man diese BNL in der einen oder anderen Rechtsform weiter dotierte oder möglicherweise mit ihr sogar an den Kapitalmarkt ginge, um aus ihr ein selbständiges Unternehmen zu machen, welches in größerem Umfang in der Lage und bereit ist, Risikokapital den Unternehmen, die eine Aussicht darauf haben, später einmal an die Börse zu kommen, zur Verfügung zu stellen. Damit möchte ich auf einen dritten Punkt bezüglich der Finanzierung hinweisen, nämlich auf die Börsensituation. Es gibt zwar Börsenzugänge und Aktienemissionen von Groß- und Größtunternehmen, aber nicht von kleinen und mittleren. Die Börsenkonzentration, wie sie jetzt auch in Frankfurt diskutiert wird, richtet sich an dem Markt aus, der zur Zeit besteht. Wir brauchen aber auch noch einen anderen. Die Abschreibungsgesellschaft, der geschlossene Investitionsfonds und ähnliche, die ja vorwiegend aus steuerlichen Gründen zustande kommen, können diese Aufgabe nicht übernehmen. Wir müssen - es muß eine gemeinsame Leistung der Wirtschaftspolitik, der Finanzpolitik und der beteiligten Institutionen geben - Formen finden, wie wir in den nächsten Jahren in sehr viel größerem Umfang als bisher Eigenkapitalbedürfnisse neuentstehender Unternehmungen finanzieren; sonst werden wir den Strukturwandel, der mit der Öffnung Osteuropas und dem Eintreten der Dritten Welt in den Welthandel auf uns zukommt, in Deutschland nicht meistern können. ({8}) Was den Arbeitsmarkt selbst anbetrifft, möchte ich nur wenige Bemerkungen machen, auch hier in Anlehnung an das Sachverständigengutachten und möglicherweise auch in Ergänzung dazu. Ich habe schon im Herbst 1993 den beiden Tarifparteien die Anregung gegeben, ob sie sich nicht unabhängig von dem und außerhalb des normalen Geschäfts der Tarifparteien auf den Versuch verständigen könnten, die Arbeitsmärkte näher zu analysieren. Ich habe den Eindruck - das wird auch immer wieder in den politischen Auseinandersetzungen über Arbeitsmarktfragen deutlich -, daß wir häufig ohne eine ausreichende Untersuchung der wirklichen Entwicklung diskutieren. Ich will nur auf einen Punkt hinweisen. Es gibt heute in Deutschland, abgesehen von den Jahren 1992 und 1993, den höchsten Stand der Beschäftigung, den wir in der Nachkriegszeit hatten. Es gibt fast 29 Millionen Beschäftigte in den alten Bundesländern und nach dem Jahreswirtschaftsbericht noch einmal ungefähr 6 Millionen Beschäftigte in den neuen Bundesländern. Ich greife jetzt einmal die alten Bundesländer aus Vergleichsgründen heraus. Auf Grund des Einigungsbooms war der Stand der Beschäftigung noch etwas höher, und er ist jetzt ein Stück zurückgegangen. Trotzdem gibt es eine hohe Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({9}) Arbeitslosigkeit. Das heißt, daß die Fähigkeit der Wirtschaft, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und die Erwerbsneigung der Bevölkerung ganz offensichtlich auseinanderfallen. Die Folge dieser hohen Erwerbsneigung und der hohen Beschäftigung - das drückt sich jedenfalls in den Zahlen aus - ist aber auch, daß die Bereitschaft, sich selbständig zu machen, in den letzten 20 Jahren zurückgegangen ist. Wenn aber die Bereitschaft, sich selbständig zu machen, in einem Arbeitsmarkt zurückgeht, in dem zusätzlicher Arbeitskräftebedarf besteht, dann ist es kaum noch möglich, diesen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf zu decken. Deshalb glaube ich, daß wir - ein Punkt, in dem ich im übrigen mit Kollege Lafontaine völlig übereinstimme; ich sage dies, weil das vorhin einmal etwas anders anklang - nicht nur fragen müssen: Wie können wir die Nebenlasten des Arbeitsverhältnisses durch eine Reorganisation und Umgestaltung der Systeme, die diese Nebenkosten verursachen, also insbesondere der Sozialsysteme, aber auch tarifvertraglicher Vereinbarungen, reduzieren? Wir müssen uns auch darüber unterhalten, ob die Eingangshürden, sich selbständig zu machen, im Verhältnis zur sozialen Befindlichkeit eines besserbezahlten Angestellten inzwischen so hoch geworden sind, daß der Antrieb, sich selbständig zu machen, nicht mehr ausreicht, um zur Selbständigkeit zu führen. ({10}) Wenn sich die 25 000 Männer und Frauen in Sachsen, die eine handwerkliche Meisterprüfung haben, nicht bereit erklärt hätten, sich selbständig zu machen, würden uns 400 000 Arbeitsplätze fehlen. ({11}) Dieser Impetus muß aber um so mehr gefördert werden, als wir alle wissen und auch dauernd erleben, daß die Großunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland durch den internationalen Wettbewerb gezwungen werden und gezwungen sind, durch immer höheren Kapitaleinsatz, der auch, aber nur teilweise durch die Lohnkosten ausgelöst wird, Arbeitskräfte abzubauen. Diese Entwicklung wird weitergehen. Die zusätzliche Beschäftigung, die wir alle für notwendig halten, wird deshalb, von konjunkturellen Beschäftigungsschwankungen einmal abgesehen, nicht durch die großen, sondern durch die mittleren und kleineren Unternehmen ausgelöst; die zu größeren werden können, wenn es ihnen gelingt, neue Ideen und Kapital miteinander zu verbinden und dadurch zu hoher Wertschöpfung in Deutschland beizutragen. Ohne diese ständig erneute Verbindung von Ideen und Kapital und ihre Förderung wird es auch nicht möglich sein, die Einkommen in Deutschland in den sonstigen Bereichen auf dem jetzigen Niveau zu halten. ({12}) Es geht nicht nur um die Reorganisation der Arbeitsmärkte mit dem Ziel, mehr Menschen Chancen zur Mitarbeit bei sonst gleichen Bedingungen zu geben, sondern es geht auch um die Frage - das ist die viel prinzipiellere Frage; sie ist vorhin im Zusammenhang mit Sozialdumping und mit den Bemühungen von Bundesarbeitsminister Blüm zur Verbindlichkeitserklärung in der Bauwirtschaft angesprochen worden -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Ministerpräsident, Entschuldigung, die Abgeordnete Luft würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Ministerpräsident, Sie sprechen über die Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern. Darf ich Sie fragen, was Sie in Ihrem Bundesland unternehmen werden, um die Ausbildungsplatzmisere, die es in Sachsen gibt, in den Griff zu bekommen? Nach meinen Informationen fehlen in diesem Jahr gemessen am Bedarf 60 % der Ausbildungsplätze. Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Frau Kollegin Luft, Ihre Partei hatte schon früher ein problematisches Verhältnis zu Statistiken. Das hat sich offenbar nicht geändert. ({1}) In Sachsen fehlt zur Zeit überhaupt kein Ausbildungsplatz. Wir haben sämtliche Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz gesucht haben, per Dezember untergebracht, und wir haben in Sachsen eine Jugendarbeitslosigkeit von 1,2 %. ({2}) Ich möchte zum Abschluß einen Punkt ansprechen, von dem ich glaube, daß sich aus ihm ein neuer politischer Konflikt in unserem Land entwickeln könnte. Dies betrifft die unterschiedlichen Anpassungsleistungen, die von den Menschen verlangt werden, die in der gewerblichen Wirtschaft arbeiten, und von denen, die im öffentlichen Bereich arbeiten. In dem Maße, in dem die Einkommen real nicht mehr wesentlich steigen werden - in Westdeutschland werden die Einkommen real nicht mehr wesentlich steigen -, werden andere Aspekte des Arbeitsplatzes wichtiger. Einer der wichtigsten Aspekte ist die Arbeitsplatzsicherheit. Nun ist Arbeitsplatzsicherheit in dem bisher verstandenen Sinne, nämlich daß man denselben Arbeitsplatz über eine lange Zeit behalten kann, in einer Wirtschaft, die sich in einer Umbruchphase befindet, kaum zu gewährleisten. Ich muß also von sehr vielen Menschen Arbeitsplatzmobilität, Wechselrisiken, Neulernen und ähnliches verlangen, und zwar nach meiner Überzeugung in wachsendem Umfang. Wenn das aber so ist und wenn die Arbeitsplatzsicherheit ein hohes Gut ist, dann entsteht eine zunehmende Diskrepanz zwischen den gewerblichen Bereichen und den öffentlichen Bereichen, in denen eine solche Mobilität, ein solches Umlernen, ein Umsetzen, ein Versetztwerden, ein Andere-Berufe-erlernen-Müssen usw. nicht gefordert wird - aus welchen Gründen auch immer. Das will ich hier nicht untersuchen. Ich will nur darauf hinweisen, daß es meine Überzeugung ist: Wir werden die - auch vom Jahreswirtschaftsbericht und von den Sachverständigen Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({3}) angesprochenen - tiefgreifenden Strukturveränderungen und Strukturreformen in der Wirtschaft nur leisten können, wenn sich auch die öffentliche Verwaltung einer entsprechenden Strukturreform und -veränderung unterzieht. Es wird nicht möglich sein, daß in den großen Unternehmen und auch in der mittelständischen Industrie von den Menschen ständig verlangt wird, daß sie umlernen müssen, mobil sein müssen, neue Einsätze und neue Arbeit suchen müssen, während wir von denen, die in öffentlich-rechtlichen und öffentlichen Systemen arbeiten, in denen 50 % des Bruttoinlandsproduktes verteilt werden, vergleichbare oder annähernd vergleichbare Anpassungsleistungen nicht verlangen. Der Jahreswirtschaftsbericht bezieht sich im wesentlichen auf das nächste Jahr und die mittelfristige Perspektive. Ich meine, es wäre eine gute Idee, wenn wir sowohl vom Sachverständigenrat als auch vom nächsten Jahreswirtschaftsbericht etwas mehr über die mittelfristigen Folgen der demographischen Veränderungen in Deutschland und des Eintretens Osteuropas und der Schwellenländer in den europäischen Markt hören könnten, insbesondere in den Markt der Europäischen Union. Wir werden mit dem Eintreten dieser Länder vor die Frage gestellt werden - eine sehr grundsätzliche Frage -, ob und in welchem Umfang wir trotz der riesigen Diskrepanzen in Einkommen, Einstellungen zur Umwelt etc. die Freiheit des Welthandels erhalten können. Ich möchte sie erhalten, aber ich möchte auch, daß wir rechtzeitig darüber diskutieren, was das bedeutet, und daß wir rechtzeitig einen Konsens in der Bevölkerung dafür erarbeiten, damit auch die Bevölkerung bereit ist, die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen. Denn sie werden sehr viel tiefer gehen als das, was wir bisher als Strukturanpassung diskutieren. Wenn die Bevölkerung den Sinn einer solchen weltweiten Wettbewerbslage, des weltweiten Wettbewerbs und damit des Handels nicht erkennt, dann ist die Gefahr, daß sich aus solchen Mißverständnissen, aus solcher Unkenntnis Aversionen gegen Fremdes entwickeln, außerordentlich groß. Deshalb müssen die Zusammenhänge zwischen der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung und der Akzeptanz unserer Politik frühzeitig genug und ausreichend erläutert und diskutiert werden, damit sich auch ein entsprechender Konsens für die Fortführung einer marktwirtschaftlichen Politik sicherstellen läßt. Vielen Dank. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Michaele Hustedt, Sie haben das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es bedarf einer Regelung für den Ersatz des Kohlepfennigs; denn es ist schon zu festen Zusagen von seiten der Bundesregierung gekommen. Hier hat die Bundesregierung eine Bringschuld. Zu Lösungen muß es schnell kommen, wenn es nicht zu einem ungeordneten Zusammenbruch der Zechen kommen soll. Darauf verlassen sich die Bergleute und ihre Familien, und dafür werden sie auch kämpfen. Eine Energiesteuer ist nicht das Instrument, um die Steinkohle zu subventionieren. Die Subventionen für die Steinkohle sind vor allem Subventionen, um den Strukturwandel einer Branche abzufedern. Da die 7,5 Milliarden bzw. 7 Milliarden DM pro Jahr bis zum Jahre 2000 angesichts der angespannten Haushaltslage nicht durch Umschichtungen im Haushalt gewonnen werden können, brauchen wir eigentlich eine Kohlefinanzierungssteuer. Wir brauchen aber - und da sind sich alle Parteien zumindest auf dem Papier zumindest einig - auch eine ökologische Steuerreform. ({0}) Kernstücke dieser Reform sind die Erhöhung der Mineralölsteuer und eine Energiesteuer. Das kann genausowenig warten wie der Ersatz für den Kohlepfennig. Zwei Steuern, eine zur Kohlefinanzierung und eine neue Energiesteuer, aber gleichzeitig einzuführen ist politisch nicht akzeptabel. Zudem sinken die Widerstände in großen Teilen der Industrie gegen eine Energiesteuer auch im nationalen Alleingang im Zuge der Diskussion um den Ersatz des Kohlepfennigs. Selbst der Chefökonom der Deutschen Bank spricht sich inzwischen dafür aus. Das ist eine Chance, die genutzt werden muß. Und wenn Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, jetzt noch zögern, zeigen Sie wieder einmal, daß Sie gar nicht wollen. Deshalb unser Vorschlag: Laßt uns aus zwei Problemen eine Paketlösung machen. Wir führen eine Energiesteuer ein, die sich zusammensetzt aus einer echten Energiesteuer und einer Kohlefinanzierungssteuer. Die Kohlefinanzierungssteuer muß verbindlich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums auf null zurückgeführt werden. Parallel wächst damit gleichzeitig der Anteil der reinen Energiesteuer. Der überschaubare Zeitraum für die Rückführung der Kohlesubventionierung auf null darf höchstens 20 Jahre betragen - definitiv, verbindlich und endgültig. Subventionen für Arbeitsplätze halten wir nur dann für sinnvoll, wenn sie in absehbaren Zeiträumen einen Strukturwandel abfedern oder, noch besser, wenn sie zur Anschubfinanzierung dienen, um zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Branche aber, die keine Zukunft mehr hat, über den Dauertropf Steuermittel am Leben zu erhalten, das lehnen wir ab. ({1}) Der Anteil der Energiesteuer muß sich aus zwei Teilen zusammensetzen. Einen Teil brauchen wir - gerade in der Anfangsphase - für die Energiewende: für die Energiegewinnung aus Sonne, Wind und Biogas, für die Förderung von Fern- und Nahwärmenetzen, um die Kraft-Wärme-Kopplung voranzubringen, und für die Sanierung des Altbaubestandes, wo noch große Energieeinsparpotentiale liegen. Besonders aber brauchen wir Geld, um diejenigen Branchen bei ihrem Umbau zu energiesparender Produktion zu unterstützen, die durch das Anwachsen der Energiepreise besonders betroffen sind, u. a. die Grundstoffchemie; denn unser Ziel ist es ja nicht, daß diese Industrien in andere Länder ausweichen, sondern daß sie mit Phantasie, Kreativität und finanzieller Unterstützung die Energiewende mit vorantreiben. ({2}) Wenn uns das gelingt, dann hätten wir diese Industriezweige zu einer Innovation angeregt, die ihnen in Zukunft Wettbewerbsvorteile in der ganzen Welt bringen würde. ({3}) Der zweite Teil der Energiesteuer sorgt für den Lenkungseffekt, weil er in überschaubaren Zeiträumen Schritt für Schritt die Energiepreise erhöht und damit Anreiz zum Energiesparen gibt. Dieser Teil muß aufkommensneutral zurückgegeben werden. Die steuerliche Belastung wird durch diesen Teil nicht erhöht. Die Senkung der Lohnnebenkosten kann bis zu 500 000 Arbeitsplätze schaffen. Meine Damen und Herren von der Regierungsbank - Herr Rexrodt hat sich schon vom Acker gemacht -, ({4}) so gesehen bedeutet das Urteil des Verfassungsgerichts zum Kohlepfennig eine Chance. Wenn Sie diese nicht ergreifen, dann wird es so kommen, wie Frau Merkel es im Interview in der „Süddeutschen Zeitung" am 26. Januar schon angekündigt hat: Ich glaube, daß schrittweise andere Länder auf diesem Weg vorangehen werden und daß sich ein so großes Land wie die Bundesrepublik solchen Maßnahmen nicht verschließen kann. Wir können uns in drei oder vier Jahren wieder unterhalten. Herr Rexrodt, sagen Sie es: Sie wollen nicht. Sie wollen keine Energiesteuer, Sie wollen keine Energiewende. Sie wollen deshalb auch keine Begrenzung der Treibhausgase. ({5}) Leisten Sie deshalb den Offenbarungseid und bekennen Sie, daß Sie Ihre eigene Zielstellung zur Reduzierung von CO2-Emissionen nicht erfüllen werden. Nein, in drei oder vier Jahren werden wir Sie nicht mehr fragen. Wir werden alles dafür tun, daß Sie in drei oder vier Jahren auf den Oppositionsbänken Platz nehmen werden. ({6}) Meine Damen und Herren, wir brauchen einen Energiekonsens, einen Konsens, der die Bereitschaft aller mobilisiert, die große Herausforderung anzunehmen, einen Konsens, der alle gesellschaftlichen Kräfte für den Klimaschutz bündelt. Wir brauchen aber auch einen Energiekonsens, um den Energieversorgungsunternehmen Investitionssicherheit zu geben. Viel zu viele Gelder wurden gerade bei der Atomindustrie in den Sand gesetzt, weil es keine gesellschaftliche Einigung über die Zukunft der Energieversorgung in diesem Lande mehr gibt. Der sogenannte Jahrhundertvertrag in diesem Bereich hat gerade ein paar Jahre gehalten. Der damalige Atom-Kohle-Konsens ist in dem Maße zerbrochen, in dem die technische Unzulänglichkeit und die unlösbaren Entsorgungsprobleme bekanntgeworden sind, in dem Maße, in dem die Anti-AKW-Bewegung gewachsen ist. Ein Ergebnis dieses Dissenses zwischen den Altparteien und den Menschen in diesem Lande war die erfolgreiche Gründung einer neuen Partei: DIE GRÜNEN. ({7}) Jetzt sind wir die drittstärkste Kraft im Land. Und unsere Position ist jetzt wie damals kristallklar und beinhart: Wir wollen den Atomausstieg! ({8}) Für die Energieversorger stehen in den nächsten Jahren große Investitionsentscheidungen an, für die sie Sicherheit haben müssen, auch wenn Regierung und Opposition die Rollen tauschen sollten. Zur Zeit gibt es nur widersprüchliche Signale aus der Politik: Atomausstieg - ja oder nein, Kohlesubventionierung oder CO2-Reduzierung. Jetzt sind deutliche und verläßliche Entscheidungen notwendig, damit nicht massive Fehlinvestitionen hervorgerufen werden. Deshalb versuche ich Ihnen noch einmal in aller Ruhe zu erklären, wie dies gelingen kann: Ich stelle erstens fest: Durch die unterschiedlichen Positionen zur Atomkraft ist ein breiter gesellschaftlicher und deshalb auch belastbarer Konsens auf der Basis eines Kompromisses, bei dem man sich in der Mitte trifft, nicht absehbar. Fakt ist der Dissens, nicht der Konsens. Zweitens sage ich deshalb: Ein Konsens kann somit nur auf dem gemeinsamen Wollen aller basieren und muß auf das, was nur ein Teil will, verzichten. Wenn Sie den Kampf haben wollen, können Sie ihn wieder bekommen! Das bedeutet dann aber nicht Investitionssicherheit für die Energiewirtschaft. Investitionssicherheit für Atomkraftwerke wollen wir nicht geben, und Sie werden sie niemals geben können, wie die Geschichte gezeigt hat. ({9}) Solange Sie einen tragfähigen Konsens durch Ihre Blockadepolitik verhindern, werden Sie weiterhin keine erfolgreiche Energie- und Wirtschaftspolitik machen können. Diese Gesellschaft wird im Energiebereich erst zur Ruhe kommen, wenn der Atomausstieg beschlossen ist. Ich warne aber auch Herrn Schröder: Das Thema ist zu ernst, um es im privaten Machtkampf um die Führung in der SPD zu mißbrauchen. ({10}) Ihre Position bedeutet doch: Die SPD stimmt dem zu, was sowieso kommen wird, auch wenn sie nicht zustimmen würde. ({11}) Niemand will heute neue AKWs bauen, und jeder weiß, daß die ältesten AKWs ohnehin schon sehr bald abgeschaltet werden müssen. Restlaufzeiten von 30 bis 40 Jahren zu akzeptieren bedeutet deshalb, daß Herr Schröder die SPD dazu zwingen will, vor der Regierung zu Kreuze zu kriechen. Bekommen werden Sie dafür nichts. Die Bundesregierung treibt Sie doch mit dieser windelweichen Position Schritt für Schritt vor sich her. Meine Damen und Herren, ökologische Katastrophen sind auch wirtschaftliche und erzeugen menschliche Not. Das haben wir beim diesjährigen Hochwasser wieder einmal hautnah erfahren müssen. Milliarden an Schäden wurden durch falsche Politik, die nicht auf die Natur achtet, angerichtet. Nur 40 Millionen davon werden erstattet, weil die Versicherungsunternehmen wegen des zu hohen Verlustrisikos nicht mehr versichern. In den Niederlanden kam es sogar zu einem Exodus biblischen Ausmaßes. Noch haben die Deiche gehalten. Sonst wäre ein Schaden von über 70 Milliarden eingetreten. Hochwasser, Waldsterben, zerstörte Ozonschicht, Stürme, Dürren und Hungersnöte werden heute von Menschen gemacht. Wenn Sie wirklich so reformfreudig sind, wie es Herr Stoiber in der gestrigen Mediendebatte behauptet hat, dann setzen Sie Ihre Kräfte nicht für die Zerschlagung der ARD ein, sondern für eine ökologische Wirtschaftsreform. Nutzen Sie jetzt die Chance für eine Energiesteuer! ({12})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile der Kollegin Ingrid Matthäus-Maier das Wort.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Finanzpolitik hat einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung unserer Wirtschaft. Eine gute Finanzpolitik ist ein wichtiger Standortfaktor. Stetigkeit, Verläßlichkeit, solide Finanzen und gerechte Steuern sollen bei Wirtschaft und Bürgern Vertrauen schaffen. Dieses Vertrauen in eine gute Finanzpolitik ist in unserem Lande verlorengegangen, da die Bilanz von zwölf Jahren Finanzpolitik unter der Regierung Kohl nun wirklich negativ ist: ({0}) eine dramatische Schuldenlast von über 2 Billionen DM, allein 1,4 Billionen beim Bund, eine besorgniserregende Zinsbelastung aller öffentlichen Haushalte von rund 150 Milliarden DM, davon etwa 98 Milliarden DM allein im Bundeshaushalt, eine Rekordstaatsquote von über 50 % und eine einmalig hohe, erdrückende Steuer- und Abgabenbelastung der Durchschnittsverdiener sowie eine soziale Schlagseite der Steuerpolitik. Nein, meine Damen und Herren, die Finanzpolitik ist kein guter Standortfaktor in diesem Lande für die Wirtschaftspolitik. ({1}) Die Steuerpolitik ist ein Durcheinander. Die Bürger haben nicht mehr das Gefühl, gerecht und fair besteuert zu werden. ({2}) Die Bundesregierung hat unser Steuerrecht unglaublich verkompliziert. ({3}) Steuerhinterziehung großen Ausmaßes wird geduldet. Herr Glos, das wissen Sie. Die ehrlichen Steuerzahler und vor allem die Arbeitnehmer sind mehr und mehr die Dummen im Lande. Das schadet dem Standort Deutschland, nicht aber Gewerkschaftsforderungen nach sicheren Arbeitsplätzen und Reallohnsicherung. ({4}) Weil die Finanzpolitik ein wichtiger Standortfaktor ist, haben Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht auch ein Kapitel zur Steuer- und Finanzpolitik. Aber davon können wir in den nächsten Monaten nun wirklich nichts erwarten. Einige Beispiele: Erstens und vor allem der Solidaritätszuschlag ist eine schwere Belastung für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und für die Konjunktur. ({5}) - Fragen Sie doch, wenn Ihnen das, was ich sage, nicht gefällt, einmal die Einzelhändler, fragen Sie die Kaufhäuser, wie es dort mit der Nachfrage aussieht. Wie sollen denn die Menschen einkaufen gehen, wenn durch Ihre Steuerpolitik schon dem Durchschnittsverdiener von 1 DM 48 Pf durch Steuern und Abgaben weggenommen werden? ({6}) Wir fordern die Bundesregierung auf, die kleinen und mittleren Einkommen aus dem Solidaritätszuschlag herauszunehmen, damit die Kaufkraft gestärkt wird und es gerechter zugeht. ({7}) Diese unsere Forderung, die kleinen und mittleren Einkommen vom Solidaritätszuschlag zu befreien, ist nicht etwa neu. Ich selber habe sie hier oft erhoben. Auf unseren Druck hin haben Sie doch bei den Solidarpaktverhandlungen eine soziale Komponente beim Solidaritätszuschlag versprochen. Nur, eingehalten haben Sie das nicht. Das muß jetzt nachgeholt werden. ({8}) Das ist auch möglich, Herr Waigel. Sie müssen den Solidaritätszuschlag rückwirkend zum 1. Januar 1995 ohnehin ändern. Warum? ({9}) Wieder einmal haben Sie die Familien mit Kindern zu hoch belastet. Der Solidaritätszuschlag ist eine sogenannte Zuschlagssteuer genauso übrigens wie die Kirchensteuer. Wenn es bei der Kirchensteuer für Familien mit Kindern einen zusätzlichen Abzugsbetrag gibt, um auszugleichen, daß zum Kinderlastenausgleich eben nicht nur der Kinderfreibetrag, sondern auch das Kindergeld gehört, dann hätten Sie das beim Solidaritätszuschlag ganz genauso machen müssen, und zwar sofort. Das heißt, bevor der Solidaritätszuschlag auf die Steuerschuld angewandt wird, muß erst das Kindergeld entsprechend abgezogen werden. Ich warne den Finanzminister, wenn er glauben sollte, dieses Problem bis 1996 aussitzen zu können. ({10}) Dann werden die Familien mit Kindern millionenfach Einspruch einlegen. Ich weiß, Herr Waigel, daß Sie sich mit dein Steuerrecht schwertun. Aber ich bitte Sie: Schauen Sie doch einmal in § 51 a des Einkommensteuergesetzes. Da steht das alles. Auch für Sie gilt: Ein Blick ins Gesetz fördert die Rechtskenntnis. ({11}) Zweitens. Seit 1992 weiß die Bundesregierung, daß zum 1. Januar 1996 das Existenzminimum von der Lohn- und Einkommensteuer freigestellt werden muß. Jahre sind ungenutzt verstrichen; noch immer liegt kein Gesetzentwurf vor. Der Versuch des Finanzministers vom Dezember, sich als eine Art Zauberkünstler darzustellen, dem die Quadratur des Kreises gelinge, ist jedenfalls, wie Sie sich erinnern, kläglich gescheitert. Das von Ihnen angesetzte Existenzminimum von 12 000 DM im Jahr bei Ledigen bzw. 24 000 DM im Jahr bei Verheirateten ist - das sieht doch jedes Kind - schlicht und einfach zu gering. Wir fordern eine Anhebung auf mindestens 13 000 DM bzw. 26 000 DM, die steuerfrei sind. Ihr Tarif sieht einen sogenannten Belastungsbukkel gerade für die unteren Jahreseinkommen bis etwa 30 000 DM bei Ledigen bzw. 60 000 DM bei Verheirateten vor. Das ist leistungsfeindlich und entspricht nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Wir fordern: Weg mit diesem KleineLeute-Belastungsbuckel, Herr Waigel! ({12}) Ihr Modell sieht schließlich eine steigende Entlastung hoher und höchster Einkommen vor. Meine Damen und Herren, Karlsruhe hat gesagt: Das Existenzminimum muß steuerfrei gestellt werden, aber doch nicht: Je höher das Einkommen ist, desto größer muß die Entlastung sein. - Nach Ihrem Vorschlag werden verheiratete Bürger mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 60 000 DM um monatlich - man höre und staune - 21 DM entlastet. Bürger mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 240 000 DM - ich rede hier nicht von armen Leuten - sollen monatlich um 128 DM entlastet werden. Die Kleinen erfahren eine monatliche Entlastung in Höhe von 21 DM, die Großen eine von 128 DM. Das ist steuersystematisch verkehrt, das ist mittelstandsfeindlich, und das ist auch sozial ungerechtfertigt, meine Damen und Herren. ({13}) Ihr Vorschlag ist von den Steuerexperten in der Luft zerrissen worden. Jetzt haben Sie das Ganze auf die Zeit nach der Hessenwahl verschoben. Das stand gestern in der Zeitung. ({14}) Sie wissen schon, warum Sie Ihre Pläne vor dem Wähler verstecken müssen. Wir fordern Sie auf: Sagen Sie jetzt, in dieser Woche, in dieser Debatte, endlich, was Sie den Menschen aufs Auge drücken wollen. ({15})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich weiß nicht, ob Sie es genauso empfinden wie ich, daß sich in Ihrer Aussage ein gewisser Widerspruch zeigt. Sie sagen auf der einen Seite, daß die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe von der Zahlung des Solidaritätszuschlags ausgenommen werden sollen. Auf der anderen Seite sind Sie und Ihre Fraktion dafür verantwortlich, daß beispielsweise die Ansparabschreibung - eine wichtige Maßnahme gerade für den Mittelstand - erst ein Jahr später realisiert werden konnte. Sie haben laufend blockiert. Wo ist hier Ihre Mittelstandspolitik? ({0})

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, ich habe nicht gesagt, die kleineren und mittleren Handwerksbetriebe sollen nicht mit dem Solidaritätszuschlag belastet werden, sondern ich habe von allen Bürgern mit kleineren und mittleren Einkommen gesprochen, ob Arbeitnehmer, Handwerker, Gewerbetreibende. Sie haben der SPD vorgeworfen, die Ansparabschreibung zunächst verhindert zu haben. Diese Ansparabschreibung ist etwas ähnliches wie eine steuerfreie Investitionsrücklage. ({0}) - Wenn Sie es gern so hätten, ist diese Rücklage der Sache nach nur eine Steuerstundung. Das weiß jedes Kind, Herr Glos. Jeder, der sich seit Jahren in diesem Hause mit Finanzpolitik beschäftigt, weiß - das muß ich einfach einmal sagen, weil Herr Waigel und ich nicht immer einer Ansicht sind -, daß die CSU und die SPD gemeinsam jahrelang diese steuerfreie Rücklage für das Handwerk gefordert haben, diese aber von CDU und F.D.P. verhindert wurde. Da können Sie mir nun wirklich nichts vorwerfen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Hinsken möchte noch eine Frage stellen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, es wäre aber gut, wenn es diesmal wirklich eine Frage wäre.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich möchte natürlich die Frau Kollegin Matthäus-Maier nicht so billig wegkommen lassen; deshalb möchte ich nachfragen. Ich habe gefragt, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Ansparabschreibung erst ein Jahr später realisiert werden konnte, weil Sie vorher nicht beweglich waren und erst beim Standortsicherungsgesetz diese Maßnahme mit aufgegriffen und gutgeheißen haben.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, darauf kann ich nur antworten: Durch den Widerstand von CDU und F.D.P. konnte sie erst zehn Jahre später verwirklicht werden, als wir es gerne gewollt hätten. ({0}) Herr Waigel, ich möchte den Kleine-Leute-Belastungs-Buckel nicht so stehenlassen; denn es wird jetzt aus Ihrem Hause gestreut, Sie hätten von diesem Buckel überhaupt nichts gewußt und Ihre Berater hätten Ihnen das verschwiegen. ({1}) Das ist vielleicht eine gelungene Entschuldigung! Das zeigt doch nur, wie wenig Sie sich in der Sache um Steuertarifpolitik und Steuerpolitik gekümmert haben. Sonst hätte das nicht passieren können - wenn dieser Hinweis stimmt. ({2}) Was ich nun wirklich gar nicht begreife, ist: Warum weigert sich die Koalition eigentlich, die Steuerexperten der Bareis-Kommission, die von ihr eingesetzt worden ist, im Finanzausschuß anzuhören? Wenn die Bundesregierung so mit sachkundigen Beratern umgeht, dann braucht sie sich nicht zu wundern, wenn sie bald überhaupt keine ordentlichen Berater mehr findet. Und wem nicht zu raten ist, dem ist offensichtlich auch nicht zu helfen. Das muß sich zugunsten der Bürgerinnen und Bürger ändern. ({3}) Drittens - auch dieses Thema wird in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht angesprochen -: Beim Familienlastenausgleich sieht es nicht besser aus. Die Bundesregierung hat hier - allen Wahlversprechen zum Trotz - leider nur das blanke Chaos zu bieten. Im letzten November - erinnern Sie sich noch? - waren Sie doch so stolz, daß die Koalitionsverhandlungen so schnell beendet waren. Aber die Vereinbarungen zum Familienlastenausgleich sind doch das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Tagtäglich bieten Sie der staunenden Öffentlichkeit neue Pläne. ({4}) Ich frage Sie: Wollen Sie die knappen Finanzmittel nun wirklich dazu benutzen, den steuerlichen Kinderfreibetrag anzuheben, der doch insbesondere hohe Einkommen begünstigt? 1 000 DM mehr Kinderfreibetrag - so der Vorschlag von Herrn Waigel - heißt 190 DM Entlastung im Jahr für niedrige Einkommen und 530 DM Entlastung im Jahr für Spitzenverdiener; das sind die mit den 240 000 DM Jahreseinkommen. ({5}) Das ist doch absurd, meine Damen und Herren. Jedermann weiß, daß es die Leute mit kleinen Einkommen eh schwerer haben, ihr Kind durchs Leben zu bringen. Daß dann die mit den hohen Einkommen fast dreimal soviel begünstigt werden, das will nicht in meinen Kopf, Herr Waigel. ({6}) Was haben Sie mit dem Kindergeld vor? Wollen Sie wirklich die Familien mit einem Kind wieder völlig leer ausgehen lassen, wie das bisher Ihr Vorschlag ist? Wollen Sie es da wirklich bei 70 DM belassen? Und wollen Sie das zweite Kind mit kümmerlichen 20 DM abspeisen? ({7}) Wollen Sie durch die Einkommensgrenzen beim Kindergeld auch noch das Mittelstandsloch vergrößern? Diejenigen Ihrer Kolleginnen und Kollegen, die im Finanzausschuß sitzen, wissen doch: Mittelstandsloch in der Familienförderung heißt, daß BeIngrid Matthäus-Maier zieher mittlerer Einkommen - sagen wir einmal, um die 70 000, 80 000 DM - in ein Loch fallen, weil sie oberhalb der Einkommensgrenze beim Kindergeld liegen und ein gekürztes Kindergeld erhalten ({8}) und umgekehrt nicht so viel verdienen, daß sie den vollen Vorteil vom Kinderfreibetrag haben. ({9}) Meine Damen und Herren, da Sie den ungerechten Kinderfreibetrag und das Kindergeld nicht ordentlich miteinander verzahnen können, appelliere ich an Sie: Nähern Sie sich unserem Vorschlag: 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an, für alle Kinder ab dem vierten 350 DM, direkt abgezogen von der Steuerschuld, damit Arbeitnehmer mit z. B. zwei Kindern im Monat gleich 500 DM weniger Lohnsteuer zahlen. ({10}) Das ist sozial gerecht, das ist einfach, und das erspart allein 650 Millionen DM, die heute der Bund an die Bundesanstalt für Arbeit dafür auszahlen muß, daß diese das Kindergeld verwaltet. Ich begrüße es sehr, daß Frau Süssmuth und Herr Geißler unseren Vorschlag aufgegriffen haben. Herr Waigel, noch ist es Zeit, noch haben Sie Ihren Vorschlag nicht vorgelegt. Auch Sie können noch die Chance nutzen, unseren vernünftigen Vorschlag, 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an, zu übernehmen. ({11}) Vierter Punkt. Für die volle Freistellung des Existenzminimums von der Steuer, für eine angemessene Entlastung der Familien mit Kindern, für einen Beitrag des Bundes zur Sicherstellung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz vom 1. Januar 1996 an, für alle diese Maßnahmen fehlt Ihnen angeblich das Geld. Aber für die Ausweitung des sogenannten Dienstmädchenprivilegs haben Sie das Geld, meine Damen und Herren. Wie paßt das denn zusammen? ({12}) Ich möchte eine Erklärung zu dem Wort Dienstmädchenprivileg geben. Hier handelt es sich selbstverständlich nicht um eine Diskriminierung von Haushaltshilfen. ({13}) Ich sage Ihnen, wie das Wort zustande gekommen ist. Ich habe in einer öffentlichen Versammlung gesagt, und ich wiederhole es auch hier: Über den Hausgehilfinnenfreibetrag - so das offizielle Wort - erhalten Spitzenverdiener vom Staat im Jahr mehr als die Hälfte der Kosten ihrer Haushaltshilfe erstattet. Da habe ich gesagt: „Das gab es nicht einmal bei Kaiser Wilhelm, daß das Dienstpersonal zur Hälfte vom Staat bezahlt wird." Und daher, meine Damen und Herren, kommt das Wort Dienstmädchenprivileg. Nehmen Sie ein anderes Wort, aber reden wir über die Sache, und die bleibt gleich. Die Kindergartenbeiträge sind in diesem Lande nicht von der Steuer absetzbar, nicht einmal für die Mutter, der es nur durch den Kindergartenplatz ermöglicht wird, überhaupt ihrem Beruf nachzugehen und Steuern zu bezahlen. Wodurch ist es denn gerechtfertigt, den Kindergartenbeitrag nicht absetzen zu können, wohl aber die private Haushaltshilfe, die auf meine beiden Kinder aufpaßt? ({14}) Wie die bisherige Erfahrung mit dem Hausgehilfinnenfreibetrag - sprich, dem sogenannten Dienstmädchenprivileg - zeigt, führt Ihr Vorschlag zu enormen Mitnahmeeffekten und eben nicht zu der von Ihnen immer wieder angeführten großen Zahl neuer Arbeitsplätze. Sie haben doch auf eine Anfrage von uns im Bundestag einräumen müssen, daß der heutige Hausgehilfinnenfreibetrag in drei Jahren nicht einmal 7 500 neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Das Ganze hat aber nach Ihren eigenen Aussagen in diesen drei Jahren zu Steuerausfällen von 675 Millionen DM geführt. Dies bedeutet, daß der Staat jeden neu eingerichteten Arbeitsplatz im privaten Haushalt mit durchschnittlich 90 000 DM subventioniert hat. ({15}) Mit diesem Geld hätten wir 12 000 neue Kindergärtnerinnen einstellen können, meine Damen und Herren. ({16}) Wir brauchen den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dafür kämpfen wir. Aber wir fordern Sie auf, statt gehässig über die Länder und Gemeinden herzuziehen - Herr Schäuble, Sie haben gesagt, diese hätten nichts getan, und das ist unwahr -, mit einem zeitlich befristeten Programm Länder und Gemeinden bei der Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz zu unterstützen. Und nicht das Geld für eine Verbesserung des sogenannten Dienstmädchenprivilegs auszugeben. ({17}) Fünftens. Auch was Ihre Pläne zur Gewerbesteuer im Jahreswirtschaftsbericht angeht, ({18}) ist die Lage so unklar wie eh und je. Daran können auch die Äußerungen des Herrn Waffenschmidt, der - verzeihen Sie! -, was die Finanzen angeht, nicht ganz zuständig ist, nichts ändern. Er hat gesagt, die Gemeinden sollten ganz schnell zugreifen, denn sie bekämen eine Beteiligung an der Umsatzsteuer. Erstens, meine Damen und Herren, ist völlig offen, wie diese Beteiligung aussieht. Die Gemeinden hätten ja Tinte gesoffen, wenn sie die Katze im Sack kaufen würden. Zweitens. Beteiligung an der Umsatzsteuer klingt so vornehm. Wissen Sie, was das heißt? Ihre Pläne zur Abschaffung der Gewerbesteuer in mehreren Stufen führen zu Nettoausfällen von rund 30 Milliarden DM. Wenn die Bundesregierung das durch eine sogenannte Beteiligung an der Mehrwertsteuer ausgleichen will, heißt das doch automatisch Anhebung der Mehrwertsteuer um mindestens drei Punkte. Sagen Sie das wenigstens ehrlich den Menschen! Wir sagen Ihnen: Es gibt überhaupt keinen Zeitdruck, die Gewerbesteuer im Jahr 1996 zu ändern. Wir sind zu Reformen in diesem Bereich bereit. ({19}) Aber was wichtig ist, ist doch jetzt nicht die Änderung der Gewerbesteuer und vor allem die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Nur 16 % aller Betriebe zahlen überhaupt Gewerbekapitalsteuer, darunter z. B. die Kreditinstitute, denen es ja offensichtlich finanziell nicht schlechtgeht, wie wir dauernd lesen können. Es gibt keinen Grund, diese durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu entlasten und dafür zum Beispiel den Mittelstand und das Handwerk durch eine höhere Mehrwertsteuer zu belasten. Herr Schäuble und von der F.D.P. Herr Thiele haben statt der Beteiligung an der dann zu erhöhenden Mehrwertsteuer vorgeschlagen, es solle einen Zuschlag der Gemeinden bei der Lohn- und Einkommensteuer geben. Sagen wir das doch einmal auf deutsch. Wenn sich Herr Schäuble und Herr Thiele durchsetzten, dann würde dies bedeuten, meine Damen und Herren, daß auf die heutige Lohn- und Einkommensteuer, die die Leute zu Recht als erdrükkend empfinden, nicht nur der heutige Solidaritätszuschlag daraufkäme, sondern auf diese Belastung käme noch einmal eine Belastung etwa in der Höhe des heutigen Solidaritätszuschlages. Herr Schäuble, kommen Sie doch einmal hierher und erzählen Sie den Leuten, wie Sie das verantworten können. Sie haben ja gar keine Ahnung mehr, wie es im Portemonnaie des Durchschnittsverdieners aussieht! ({20}) Ich fordere die Bundesregierung auf, von ihrem Jahressteuergesetz, das wir nicht erst nach der Wahl in Hessen sehen wollen, den Punkt Gewerbesteuer abzukoppeln. Es gibt keinen Zeitdruck. Was wir jetzt brauchen, ist die Entlastung des Existenzminimums von der Einkommensteuer, die Verbesserung des Familienlastenausgleichs, die stufenweise Rückführung des Solidaritätszuschlages für kleine und mittlere Einkommen und für Familien mit Kindern. Wenn Sie diese vorrangigen Aufgaben gelöst haben, dann sind wir zu Gesprächen bereit. Sechstens. Ein Trauerspiel ist schließlich, was Sie sich beim Häuslebauer-Paragraphen - § 10e Einkommensteuergesetz - leisten. ({21}) Herr Töpfer sagte in der wohnungsbaupolitischen Debatte vor rund drei Wochen, er wolle dafür sorgen, daß diejenigen mit hohem Einkommen, sagen wir 220 000 DM, nicht so viel mehr Subventionierung beim Eigenheim erhalten als die kleinen Leute. Was bisher aus Ihrem Hause gedrungen ist, ist das Gegenteil: nach wie vor eine höhere Förderung für die mit hohem Einkommen. Aber wir wissen, daß die Hälfte Ihrer Fraktionsmitglieder und alle Wohnungsbaupolitiker unserer Ansicht sind, daß es besser wäre, endlich für einen gleich hohen Abzug von der Steuerschuld für alle zu sorgen. Dies würde insbesondere jüngere Leute und Bezieher mittlerer Einkommen - Einkommen von 70 000, 80 000 DM - in die Lage versetzen, mit genügend Eigenkapital ihr Häuschen zu bauen. Wenn die Kinder klein sind, will ich doch mein Eigenheim, nicht dann, wenn die Kinder schon selber Kinder haben. Lassen Sie Ihren Vorschlag wieder in der Kiste verschwinden und folgen Sie sowohl den SPD-Vorschlägen als auch den Vorschlägen etwa von Herrn Kansy. ({22}) Ganz abgesehen davon, daß das auch zu mehr Bautätigkeit in der Bauwirtschaft gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen führt und gut für die Wirtschaftsentwicklung ist. Damit bin ich beim letzten Punkt

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Verehrte Frau Kollegin, ich muß Sie allerdings darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit trotz aller inneren Begeisterung abgelaufen ist.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich bin auch fertig. Ich wollte dem Kollegen nur die Gelegenheit geben, eine Frage zu stellen. Aber er braucht nicht.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, bestehen Sie auf der Zwischenfrage, obwohl die Redezeit abgelaufen ist?

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Mein letzter Punkt ist, Herr Präsident - ({0}) - Einen Satz darf man immer sagen. - Die Steuervereinfachung erwähnen Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht auch. Ich sage Ihnen: Schon zu unseren Zeiten haben wir gesündigt und das Steuerrecht verkompliziert. Aber zu dem, was Sie in diesen zwölf Jahren angerichtet haben, kann ich nur sagen: Das ist eine Verwüstung des Steuerrechtes. Nutzen Sie das Jahressteuergesetz 1996, um die schlimmsten Ärgernisse zu entfernen. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eben hat die Jahreswirtschaftskassandra gesprochen. ({0}) Sie, Frau Matthäus-Maier, müssen offensichtlich in den letzten Tagen taub und blind gewesen sein. Wir sind gern bereit, Ihnen einen Flug zum IWF nach Washington zu bezahlen. Sie können es aber auch billiger haben, Sie brauchen nur nachzulesen. Dann werden Sie feststellen, daß Deutschland bei der Reduzierung des strukturellen Defizits an der Spitze steht, daß wir im nächsten Jahr die niedrigste Nettokreditaufnahme aller G-7-Länder haben werden ({1}) und daß Deutschland der einzige Staat neben Luxemburg ist, der 1994, 1995 und auch in den nächsten Jahren alle ehrgeizigen Ziele von Maastricht erfüllt hat bzw. erfüllen wird. ({2}) Sie malen doch ein Bild, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Nur im Hinblick auf den Wahlkampf in Hessen kann man hier doch nicht wirtschaftspolitische Lügen und Märchen erzählen. ({3}) - Ich komme gleich darauf. Ein Wort zum Existenzminimum: Wo ist eigentlich Ihr Vorschlag? Was wollen Sie denn eigentlich von Bareis' Gutachten aufgreifen? Welche Gegenfinanzierungsvorschläge legen Sie hier vor? Sind Sie auf das Modell von Schleußer festgelegt? Sie haben hier nur kritisiert und noch überhaupt keinen konstruktiven Beitrag geleistet. ({4}) Ich will aber gerne auf diesen Punkt eingehen. Mit dem von uns vorgelegten Vorschlag wird die Steuerfreistellung des Existenzminimums 1996 verfassungskonform in einem leistungsgerechten und auch mittelstandsfreundlichen Tarif geregelt. Durch diesen Tarif werden alle Steuerzahler entlastet, und niemand wird stärker belastet. 1,5 Millionen Haushalte zusätzlich brauchen künftig keine Einkommensteuer mehr zu zahlen. Das ist eine spürbare Nettoentlastung im nächsten Jahr. Damit wird das Jahr 1996 - nachdem 1994 und 1995 Konsolidierungsjahre waren - neben der Konsolidierung zu einem Steuersenkungsjahr. Wenn wir dies mit einem Familienleistungsausgleich verbinden, werden wir den Steuerzahler um gut 20 Milliarden DM netto entlasten. Das, meine ich, ist eine gute Prognose für das nächste Jahr. ({5}) Ich will auch zu den Elementen etwas sagen. Wir wollen den bisherigen Grundfreibetrag durch eine außertarifliche Steuerermäßigung ersetzen. Diese Grundentlastung wird mit steigendem Einkommen gleichmäßig abgebaut und läuft bei einem zu versteuernden Einkommen von rund 43 400 DM bzw. 86 800 DM aus. Nun ist zu Recht eine Erscheinung kritisiert worden, die darin besteht, daß in einem bestimmten Bereich die Grenzsteuerbelastung sehr, sehr stark steigt. Das hängt damit zusammen, daß dies dann, wenn wir das linear machen würden, zu Kosten in einer Größenordnung von über 40 Milliarden DM führen würde. Die kann niemand finanzieren. Die Gegenfinanzierungsvorschläge, die gemacht worden sind, sind Schlichtweg politisch nicht realisierbar. Jeder Vorschlag hat seine Mängel. Man muß deshalb mit den Vorschlägen, die auf dem Tisch liegen, vergleichen, um herauszufinden: Was ist optimierbar? Wenn wir dann auch noch bei der tariflichen Grenzbelastung die Progressionszone leistungsgerecht um 0,7 Prozentpunkte absenken, dann ist das das kleine Äquivalent für eine weit überproportionale Absenkung im unteren Bereich. Wir können mit einem solchen Modell beim Eingangssteuersatz von 19,5 % bleiben, d. h., der Grenzsteuersatz unmittelbar im Anschluß an das freigestellte Existenzminimum beträgt 19,5 % bei einem zu versteuernden Einkommen von 12 000 DM bzw. 24 000 DM. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 15 000 DM bzw. 30 000 DM erreicht der effektive Grenzsteuersatz dann ein Niveau von 29 %, das bis zu 43 000 DM bzw. 86 000 DM unverändert bleibt. Im Anschluß daran bewegt sich die Grenzbelastung auf einem um 0,7 Prozentpunkte geringeren Niveau weiter. Damit haben wir genau die Problematik gelöst, über die wir nachgedacht haben. Ich meine, wir sind damit zu einem guten Ergebnis gekommen und können das als optimales Modell präsentieren. Bei Kleinverdienern mit Einkommen bis zum Existenzminimum von 12 000 DM bzw. 24 000 DM übrigens wird die Steuerbelastung um 100 % gesenkt; beim Spitzenverdiener ergibt sich eine Entlastung von weniger als 2 %. Man muß sehr genau die anderen Modelle, die bisher vorliegen, unter die Lupe nehmen. Der Schleußer-Vorschlag sieht einen teilweise erheblichen Anstieg der Grenzsteuersätze über die gesamte Progressionszone hinweg vor. Es ist schon eine merkwürdige Welt, in der wir uns bei der heutigen Debatte seitens der SPD befinden. Einerseits werden bestimmte Unternehmer als Raubritter bezeichnet, andererseits wird gleichzeitig beklagt, daß diese zu stark besteuert werden. Beklagt wird, daß die Bezieher der unteren Einkommen zu wenig entlastet werden. Werden diese aber kräftig entlastet, wird es wieder nicht berücksichtigt. Ihre Steuerpolitik ist ein einziger Zickzackkurs. Das, was Frau Matthäus-Maier hier wieder geliefert hat, ist nichts als billige Polemik. ({6}) Sie wollen die Progression im Grunde in allen Bereichen verschärfen, dort aber, wo die Progression natürlicherweise entlastend wirken muß, wollen Sie das nicht. Insofern ist Ihre Steuerpolitik in sich nicht schlüssig. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Bitte schön.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, da Sie Ihren Buckeltarif offenbar noch einmal überarbeitet haben, darf ich die Frage stellen, ob es Ihnen denn auch gelungen ist, die völlig unsinnige Folge zu vermeiden, daß nach Ihrem Tarif Ehegatten bei bestimmten Einkommenskombinationen steuerlich schlechter behandelt werden als unverheiratete Paare. ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Kollege, wenn Sie stehenbleiben, kann ich Sie völlig zufriedenstellen. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, weil ich dies sonst nicht erwähnt hätte: Genau durch die Tarifgestaltung, daß die Kurve nicht mehr nach unten geht, ist das Problem zufriedenstellend gelöst. Sie sehen also: Wir haben etwas dazugelernt. Wir haben einen prima Entwurf gemacht. Ihnen bleibt nichts anderes mehr übrig, als dem zuzustimmen, weil alle Ihre Bedenken damit ausgeräumt sind. ({0}) Übrigens: Bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit herrscht innerhalb der SPD ein ganz schönes Durcheinander. ({1}) Der Verfassungsexperte Lafontaine hat gestern groß getönt, der Solidarzuschlag sei verfassungswidrig. Der Parlamentarische Geschäftsführer Peter Struck hat sich gegen eine Verfassungsklage ausgesprochen. Er sagte, solche politischen Fragen müßten in Bonn und nicht in Karlsruhe gelöst werden. Was wollen Sie jetzt eigentlich? Wenn Sie den Solidarzuschlag für verfassungswidrig halten, dann klagen Sie doch bitte. Man kann aber nicht erst die Bürger mit der Behauptung, dies sei verfassungswidrig, verwirren und dann sagen: Klagen wollen wir nicht. Nein, meine Damen und Herren, Sie müssen sich schon hinstellen und entscheiden, was Sie wollen. Wir sind davon überzeugt, daß unser System verfassungskonform ist. Wir sehen jeder Klage mit großer Gelassenheit entgegen. ({2}) Nicht verfassungskonform wäre übrigens ein einheitliches Kindergeld in Höhe von 250 DM. ({3}) Nach den Berechnungen ergibt sich daraus kein Freistellungsbetrag über 6 000 DM, ({4}) der allerdings notwendig ist. 250 DM Kindergeld wären dafür nicht ausreichend. ({5}) Unabhängig davon: Selbst wenn Sie das von der Steuerschuld abziehen, kommen Sie, Frau MatthäusMaier, auf einen Betrag in Höhe von über 10 Milliarden DM, und zwar etwa 13 Milliarden DM. Jetzt frage ich Sie: Wie wollen Sie die Verteilung zwischen Bund und Ländern dann handhaben?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister - Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Einen kleinen Moment. Bleibt dann der Anteil, der jetzt auf die Länder entfällt, bei den Ländern, oder wollen Sie mit einem neuen Bund-Länder-Finanzausgleich verbinden, daß der Bund darauf sitzen bleibt? Auch durch Ihre angebliche Kappung oder Beseitigung des Ehegattensplittings wird der Spielraum dafür nicht gegeben sein, ganz abgesehen davon, daß alle Fachleute zunehmend zu der Erkenntnis kommen, daß die Abschaffung des Ehegattensplittings genau diejenigen trifft, die wir eigentlich entlasten müßten, nämlich die Eheleute, bei denen die Frau zu Hause ist, sich um ihre Kinder oder andere Dinge sorgt und kein eigenes Einkommen besitzt. ({0}) Sie bauen hier einen Popanz auf.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister, gestatten Sie nun eine Frage der Abgeordneten Matthäus-Maier?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Bitte schön.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Finanzminister, wollen Sie erstens bestätigen, daß wir überall schriftlich und mündlich - im Regierungsprogramm, in meinen Reden - gesagt haben, wir wollten selbstverständlich das Splitting nicht abschaffen, sondern maßvoll begrenzen? Ich füge hinzu, was maßvoll begrenzen bedeutet: Es kostet heute den Staat über 35 Milliarden DM; wir wollen 11 bis 12 Milliarden DM, also etwa ein Drittel - zwei Drittel würden bestehenbleiben -, auf die Familien mit Kindern umschichten. Wenn Herr Hintze, dessen Vorschlag ich nicht teile, weil ich nicht gut finde, daß er die Kinderlosen

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Matthäus-Maier, Sie müssen sich schon dazu bequemen, eine Frage zu stellen. ({0}) Sonst nähern Sie sich der Grenze einer Intervention, und das kann ich bei einer Zwischenfrage nicht zulassen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich frage ihn. Wenn sogar der Herr Hintze meint, beim Splitting müsse man etwas ändern, ist denn dann der Vorschlag so schlimm? Zweite Frage: Wissen Sie, daß bei einem Grenzsteuersatz von 40 % unser Modell einem Freibetrag von 7 500 DM im Jahr und bei 45 % einem von 6 600 DM entspricht, und wollen Sie wirklich behaupten, daß das nicht reicht?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, daß die Größenordnung nicht darstellbar ist, daß Bund und Länder dies auch gemeinsam nicht finanzieren können und daß Sie keine Antwort darauf geben, ob die Länder, vor allen Dingen die SPD-Länder, bereit sind, 7 oder 8 Milliarden DM mehr zu übernehmen. ({0}) Und ich sage ich Ihnen noch einmal: Ihre Gegenfinanzierung mit der Abschaffung des Ehegattensplittings ist scheinheilig und falsch. ({1}) Sie schadet genau denen, denen wir eigentlich in der Familienpolitik nützen wollen. Sie spiegeln hier etwas vor, was in der Realität nicht vorhanden ist. ({2}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zum Jahreswirtschaftsbericht machen. Wer hätte eigentlich gedacht, daß Deutschland jetzt nach nur gut vier Jahren deutscher Einheit erneut in Europa bei Stabilität, Konjunktur und Wachstum einen Spitzenplatz einnimmt? Erst heute ist die neueste Meldung des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht worden. Die Preissteigerungsrate in den alten Bundesländern betrug im Januar 2,3 %. Das ist der niedrigste Wert seit Juni 1990. Wir sind auf einem guten Weg, und fast kein anderes Land kann auf die wirtschaftspolitischen und finanziellen Kennziffern verweisen, die wir erreicht haben. ({3}) Meine Damen und Herren, die vom Internationalen Währungsfonds vorgelegten Zahlen beweisen: Mit einer Wachstumsrate von 3,5 % stehen wir seit 1996 an der Spitze der G-7-Länder, beim Haushalt verbuchen wir 1996 das niedrigste Defizit, und bei der Rückführung der strukturellen Defizite liegen wir ebenfalls mit Japan vorn. Unser größtes internationales Kapital ist das ungebrochene Vertrauen der Kapitalmärkte in die Stabilitätspolitik Deutschlands. Wenn Ihr Bild von Deutschland, Frau Matthäus-Maier, richtig wäre, dann stellte sich die Frage, warum alle Währungen der Welt in die Deutsche Mark gehen, warum wir im Augenblick die stabilste Währung der Welt sind. Sie merken doch gar nicht mehr, welch verzerrtes Bild von Deutschland Sie aus innenpolitischen, aus billigen Wahlgründen hier darstellen. ({4}) Die Lage der Weltwirtschaft gibt insgesamt Anlaß zu Optimismus, und der Aufschwung wird sich weltweit fortsetzen. Nicht nur in Deutschland, auch in Japan und Frankreich wird sich das Wachstum 1995 noch verstärken. An der Inflationsfront herrscht Ruhe. Natürlich sehen wir den Problembereich Arbeitslosigkeit und die in einigen Ländern unvermindert hohen Haushaltsdefizite. Eine nachhaltige Senkung der Haushaltsdefizite sorgt für ein ausgewogenes Verhältnis von Ersparnisbildung und Investitionsfähigkeit. Ich will jetzt nicht auf das eingehen, was für Mexiko, für Rußland und für die Ukraine notwendig und insofern auch für uns wichtig war. Aber einen Punkt möchte ich doch darstellen. Ich habe die G-7-Kollegen auch über mein Gespräch mit Präsident Kutschma zum Thema Tschernobyl informiert. Dort habe ich die Erwartung einer konstruktiven Zusammenarbeit der ukrainischen Seite bei der Umsetzung des G-7-Aktionsplans zur raschen Schließung von Tschernobyl betont. Wir müssen in Europa und in der Welt alles daransetzen, daß die Reaktoren von Tschernobyl möglichst bald vom Netz gehen. Das ist ein elementares Thema, nicht nur der Ukraine, nicht nur Europas. Die Bundesregierung hat ihr wirtschafts- und finanzpolitisches Konzept im Jahreswirtschaftsbericht 1995 bekräftigt. Dagegen hat die SPD - wie gewohnt - wenig zu bieten. ({5}) Da wird viel gefordert; aber nicht ein einziger Einsparungsvorschlag wird gemacht. Frau Matthäus-Maier, Sie hätten die alte Platte wieder auflegen können: Warum haben Sie eigentlich nichts über den Jäger 90 gesagt? ({6}) Wir waren gespannt, wir hingen an Ihren Lippen, und er kam nicht. Haben Sie etwas dazugelernt? Haben Sie mit jemandem geredet? Hat Ihnen Herr Schröder ein Kolloquium über regionale Wirtschaftspolitik gegeben? Ist etwas passiert? ({7}) Oder werden Sie vergeßlich? Irgend etwas muß mit Ihnen heute früh passiert sein: Der Jäger 90 hat seit vier Jahren zum ersten Mal gefehlt - welch überraschender Tag. ({8}) Das war aber das einzig Neue an Ihrer Rede: nicht zu hören, was wir schon hundertmal gehört haben. ({9}) Meine Damen und Herren, zur Steuerpolitik. Wir werden am 28. März im Kabinett das Jahressteuergesetz beraten und dann den Gremien zuleiten. ({10}) Selbstverständlich wird den Ländern und den Verbänden zuvor ein Referentenentwurf zur Stellungnahme zugehen. ({11}) Ich meine, es ist erst eine sehr kurze Zeit seit den Bundestagswahlen Mitte Oktober, seit der Regierungsbildung im November und seit den Bundeshaushaltsberatungen im Dezember vergangen, als daß wir die Aufgaben, die wir zum 1. Januar 1996 und für diese Legislaturperiode lösen müssen, schon hätten bewältigen können. ({12}) Meine Damen und Herren, ich lade Sie zu einem konstruktiven Dialog ein, der nicht nur mit den Ländern, sondern mit allen Fraktionen stattfinden soll. In der grundlegenden Zielsetzung sind wir uns hoffentlich einig. Die Steuerbelastung ist zu hoch und muß verringert werden. Ich erinnere mich gern an die kürzlich vom Ministerpräsidenten Lafontaine gebrachten Äußerungen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Steuersenkungen zu ermöglichen. Eines gerät in der Hektik und in der Polemik der Debatten manchmal in Vergessenheit: Die Schulden und die hohen Steuern und Abgaben begründen sich nicht in einer nicht definierbaren Ausgabenpolitik, sondern sie begründen sich im Jahrhundertereignis, daß 17 Millionen Menschen frei sind, daß Deutschland geeint und ein Neuaufbau in Europa möglich ist. ({13}) Das ist der Grund für diese Finanzkennziffern. ({14}) Es ist schon merkwürdig - der Kollege Schäuble ist bereits darauf eingegangen -, welches Junktim der Kollege Scharping hier auf der Bühne formuliert hat. ({15}) Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß die SPD alle steuerpolitischen Zukunftsentscheidungen für Deutschland von einer Lösung der Kohlefinanzierung in ihrem Sinn abhängig machen will. ({16}) Wir alle sind uns der Verantwortung für die Kohlereviere bewußt. Wir sind uns aber auch der Verantwortung für die Steuerlast und für die Staatsfinanzen bewußt. Man muß in diesem Hause und allgemein in der Politik schon darüber nachdenken dürfen, ob es richtig ist, diese Ausgaben voll für die betreffenden Länder - für Nordrhein-Westfalen und für das Saarland - einzusetzen, oder ob es diesen Regionen und den betroffenen Arbeitern nicht mehr zugute käme, wenn an Stelle der Fortsetzung der Subventionen ein Teil dieser Ausgaben für die Umstrukturierung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt würde. ({17})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Bitte schön.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß die Bundesregierung hier eine Bringschuld hat und daß es zeitliche Abläufe gibt, die es verhindern, daß wir mit der Lösung der Frage zur Koks-Kohle-Beihilfe im Haushalt 1995 und dem Ersatz des Kohlepfennigs so lange warten, bis alle anderen Entscheidungen getroffen sind, weil sonst die unternehmerische Wirtschaft in diesen Bereichen Verträge nicht mehr verläßlich abschließen kann, wo sie doch bisher auf die Verläßlichkeit in der Politik vertraut hat? ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Ich hoffe, Frau Kollegin, daß Sie so frei in Ihrer Meinung als frei gewählte Abgeordnete sind, daß Sie diesem Haus überlassen, darüber nachzudenken, ob eine so hohe strukturelle Hilfe für zwei Länder richtig, angemessen und auch zielführend ist und ob nicht eine gewisse Beteiligung, wie wir sie im Haushaltsentwurf vorgesehen haben, bei der Koks-Kohlen-Hilfe für NRW zumutbar ist. ({0}) Das ist die entscheidende Frage, über die wir uns auch unterhalten müssen. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Nein. ({0}) - Frau Kollegin, ich habe so viele Zwischenfragen beantwortet. Ich habe Ihnen ganz ruhig zugehört, und ich will nicht, daß andere meinetwegen nicht mehr reden können. ({1}) - Sie brauchen gar nichts zur Kenntnis zu nehmen. Das ist mir auch völlig gleichgültig. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will noch ein Wort zu Herrn Eichel sagen. Ich hätte erwartet, daß er heute hier ist, nachdem er einiges von sich gegeben hat. Ich habe in der „Hersfelder Zeitung" vom 30. Januar 1995 gelesen - Frau Matthäus-Maier, Sie haben es in verklausulierter Form hier wiederholt -, ({3}) die Mehrwertsteuer müsse auf 18 % erhöht werden, wenn die Gewerbesteuerreform durchgesetzt werde. Das ist frei erfunden, pure Demagogie und arglistige Wählertäuschung. ({4}) Sie wissen ganz genau, daß wir eine aufkommensneutrale Finanzierung und Lösung bei den Unternehmensteuern vorschlagen. ({5}) Sie wissen das ganz genau, Sie wollen die Menschen in Hessen jetzt nur mit einer Mehrwertsteuererhöhung ängstigen und täuschen. ({6}) Wir werden Vorschläge auf den Tisch legen, ({7}) nach denen uno actu die Gewerbesteuer gesenkt oder die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wird. Hier kommt zwar eine Beteiligung der Kommunen an der Mehrwertsteuer in Frage, aber die entsprechende Gegenfinanzierung durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ist unverzichtbar. Das heißt, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kommt hierfür für uns nicht in Betracht. ({8}) Wer das Gegenteil behauptet, der lügt. Und Lügen haben auch in der Politik kurze Beine. Das werden Ihnen auch die Wähler in Hessen bestätigen. ({9}) Nun noch ein Wort zum Solidaritätszuschlag. Hierzu hat Herr Kollege Schäuble, wie ich meine, schon Wichtiges gesagt. Der Bund hat zur Unterstützung des neuen Länderfinanzausgleichs sieben Umsatzsteuerpunkte an die Länder abgegeben und seine Bundesergänzungszuweisungen erheblich aufgestockt. Die Belastung für den Bund liegt 1995 bei etwa 35 Milliarden DM. Der Bund übernimmt allein die Lasten des Erblastentilgungsfonds mit Kosten in Höhe von etwa 26 Milliarden DM. Die Wiedereinführung des Solidaritätszuschlags ab 1. Januar 1995 erfolgte im Konsens zwischen den Koalitionsparteien und der SPD, zwischen Bund und Ländern. Maßgebliche Kräfte in der SPD hatten sogar noch ein früheres Inkrafttreten zum 1. Januar oder 1. Juli 1994 gefordert. Der Solidaritätszuschlag ist sozial gerecht und belastet jeden nach seiner Leistungsfähigkeit. Eine Familie mit zwei Kindern bis zu einem Bruttoeinkommen von 47 000 DM wird überhaupt nicht belastet. Damit haben Sie sehr wohl eine soziale Komponente, auch wenn dies von Ihnen immer wieder wider besseres Wissen geleugnet wird. ({10}) Meine Damen und Herren, warum fordern eigentlich im Moment Ihre Freunde von der SPO in Österreich einen Solidaritätszuschlag? Nicht, um die Einheit des Vaterlandes finanzieren zu können, sondern um die ganz normale Finanzpolitik in den Griff zu bekommen. Ich erinnere mich übrigens gut an plakative Aussagen verschiedener Politiker der SPD, die schon 1990 einen Solidaritätszuschlag für dringend notwendig hielten, als wir noch alle Sparmöglichkeiten ausgeschöpft haben und versuchten, Bund, Länder und Kommunen auf einen gemeinsamen Ausgabenanstieg von 3 % zu verpflichten. ({11}) Wir haben damals einen Solidaritätszuschlag von 3,5 % vorgeschlagen. Das vom Bund für die Solidarpaktverhandlungen im März 1993 vorgelegte Föderale Konsolidierungsprogramm umfaßte ein Finanzierungsvolumen von mehr als 100 Milliarden DM. In den Verhandlungen zeigte sich aber sehr schnell: Die alten Länder waren nicht bereit, den Lastenbeitrag zu übernehmen, der eigentlich ihrem Haushaltsvolumen und ihrer Steuerkraft entsprochen hätte. Es waren die Länder - es war nicht der Bund -, die dann in den Solidarpaktverhandlungen vorschlugen, den Solidaritätszuschlag von 3,5 auf 7,5 % anzuheben. ({12}) Um einen Kompromiß zu erzielen, der die Finanzierung der neuen Länder auf eine stabile Grundlage stellte, und um für den Bund volkswirtschaftlich bedenkliche Haushaltsdefizite zu vermeiden, haben wir dem zugestimmt. Was wäre dann passiert, wenn wir diese Frage damals wochenlang, monatelang offengelassen hätten? Was wäre denn passiert, wenn wir vielleicht erst im Jahre 1994 versucht hätten, das zu regeln, angesichts von über fünfzehn Wahlen in Deutschland? Hätte ich es darauf ankommen lassen sollen, daß das Bundesverfassungsgericht diese Frage letztendlich entscheidet? Doch wohl nicht.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister, ich muß Sie nur vorsorglich darauf aufmerksam machen, daß die angemeldete Redezeit vorbei ist.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich möchte trotzdem nicht nur einen Satz, sondern noch ein paar Sätze sagen. Ich bedanke mich aber für den Hinweis. Ich werde meine Rede kürzen. Meine Damen und Herren, auf eines wäre ich noch gespannt. Wenn Herr Eichel den Solidaritätszuschlag weghaben möchte, dann warte ich, ob er und die anderen Ministerpräsidenten dann, wenn die Steuern in den Ostländern stärker steigen und damit die Westländer entlastet werden, den Vorschlag machen, das dem Bund über Umsatzsteuerpunkte wieder zurückzugeben, damit der Bund seine Steuern senken kann. Genau das wollen wir nämlich tun, und genau das wäre die Konsequenz seines Handelns. ({0}) In den letzten Wochen haben wir alle erschüttert ein Erdbeben in Japan zur Kenntnis genommen, das Tausende von Toten mit sich gebracht hat. Es gab furchtbare Opfer, aber auch materielle Schäden in Höhe von 100 oder 200 Milliarden Dollar. Die Nation macht sich jetzt in einem Kraftakt daran, das zu heilen und volkswirtschaftlich zu bewältigen. Wir in Deutschland erbringen einen ähnlichen Kraftakt für die Einheit Deutschlands, für die Freiheit von 17 Millionen Deutschen und für eine friedliche Neuordnung Europas. Dies ist ein Prozeß, in dem Gott sei Dank nicht ein Mensch zu Schaden gekommen ist, der friedlich vorangegangen ist und der Deutschland und den Deutschen etwas bringt, woran sie schon fast nicht mehr glauben wollten. Darum lassen wir uns nicht beirren. Wir machen die richtige Politik für Deutschland. Wir erwarten nicht Beifall von jeder Seite und zu jedem Zeitpunkt, aber der Erfolg gibt uns recht. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über den Jahreswirtschaftsbericht, nicht über Hessen und nicht über Sachsen und auch nicht ausschließlich über Finanzpolitik. Zur Wirtschaftspolitik, Herr Waigel, gehört ein bißchen mehr als nur die Finanzpolitik, die sowieso keiner verstanden hat. ({0}) Ich sage Ihnen: Zwei Probleme werden von dieser Regierung, die seit 1982 im Amt ist, nicht gelöst werden. An zwei Problemen probiert sie sich seit dieser Zeit, aber sie packt sie nicht. Das betrifft erstens die Tatsache, daß die deutsche Wirtschaft, wenn es um High-Tech-Produkte geht, wenn es also um Strukturprobleme geht, immer weiter zurückfällt. Diese werden von dieser Regierung nicht angefaßt und nicht gelöst. ({1}) Das betrifft zweitens die Tatsache, daß wir seit 1982 eine sehr hohe Arbeitslosigkeit haben. Zur Zeit haben wir eine Arbeitslosenquote von 10 %. ({2}) Selbst bei einem Wachstum von 3 % wird die Massenarbeitslosigkeit nicht weniger werden. ({3}) Auch dieses Problem löst die Bundesregierung leider nicht. Ich füge gerne hinzu: Entweder will sie es nicht, oder sie ist dazu nicht in der Lage. ({4}) Wenn die Betrachtung ein bißchen spezialisierter wird, müssen wir feststellen: Auch in der Konjunkturpolitik sieht nicht alles so gut aus, wie Herr Rexrodt oder Herr Waigel das gerne darstellen. Wir müssen in diesem Politikbereich eigentlich vier Ziele verfolgen, nämlich die Preisentwicklung stabil halten und Wachstum, Beschäftigung und eine ausgeglichene Leistungsbilanz ermöglichen. Zwei von diesen Zielen sind zur Zeit nicht erreicht. Auch in bezug auf diese sage ich: Die Regierung ist nicht in der Lage, sie zu erreichen. Es ist das Problem der Arbeitslosigkeit - sie will es nicht lösen - und vor allem, Herr Kollege Waigel - darum kümmern Sie sich aus meiner Sicht zu wenig -, das Problem des Leistungsbilanzdefizits. Seit 1991 gibt es ein Defizit von etwa 40 Milliarden DM; auch im Jahre 1994 gab es wieder ein Defizit. Das wird mittlerweile zu einem ernsten Problem. Wir leben - das haben Sie in den Jahren 1979, 1980 und 1981 gesagt, als Sie noch in der Opposition waren; ich hoffe, Sie kommen dort bald wieder hin - in der Bundesrepublik Deutschland über unsere Verhältnisse. Dieses Leistungsbilanzdefizit kommt auch daher, daß die Bundesregierung vor allem im Ausland so viele Schulden macht. Das muß dringend abgestellt werden. ({5}) Die Konjunktur - das wurde von Herrn Schröder und Frau Fuchs gesagt - steht auf wackligen Beinen. Wer wollte das eigentlich bestreiten? Es besteht die Gefahr - in Amerika gibt es das schon -, daß die Zinsen immer mehr ansteigen. Wenn die Zinsen steigen, wird die Bereitschaft zu Investitionen beeinträchtigt und werden sich die Investitionen nach unten entwickeln. Das wäre schlimm. Herr Rexrodt grinst mich an. Gestern im Wirtschaftsausschuß hat er gesagt, nur der Wohnungsbau sei zinsabhängig. Ein bißchen Nachhilfe wäre schon angebracht. ({6}) Es gibt eine Fülle von Investitionen, die unmittelbar auf Zinssteigerungen reagieren. Jeder, der Geld hat, überlegt nämlich, wie er sein Geld am besten anlegen kann. Wenn er bei Sachinvestitionen nichts, aber bei Finanzanlagen viel verdient, dann legt er sein Geld dort an, aber schafft keine Arbeitsplätze. Darauf kommt es an. ({7}) Herr Schäuble ist mittlerweile weg. ({8}) Von Ökonomie hat er nicht allzuviel Ahnung. Denn wer wollte etwa leugnen, daß der private Konsum 55 % unseres Bruttosozialprodukts ausmacht? Dementsprechend ist es schon wichtig, ob der private Konsum wächst oder schrumpft, wie diese Regierung das offenbar gerne will. Wenn wir wollen, daß der Kuchen insgesamt größer wird, dann muß auch der private Konsum weiter ansteigen. Aber dafür tut diese Regierung wirklich überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil: Sie sorgt dafür, daß er nach unten geht. Zu den verschiedenen Politikbereichen gäbe es eine Fülle zu sagen. Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir unter den Nägeln brennt. Das ist die Tarifvertragspolitik. Es besteht die große Gefahr, daß es demnächst wieder zu Streiks kommt. Die können wir - das gebe ich gern zu - überhaupt nicht gebrauchen. Aber wenn es zu Streiks kommt, dann liegt das immer an beiden Parteien. Die Metaller haben ihre Forderung auf den Tisch gelegt: 6 %. Ich sage einmal: Das ist eine gemäßigte Forderung; sie kann sich sehen lassen. Ein Ökonomieexperte wie Wolfgang Franz, Mitglied des Sachverständigenrats, sagt, 3 % seien eigentlich drin. Auch Rüdiger Pohl, Präsident des Instituts in Halle, sagt, 3 bis 4 % seien eigentlich drin. Verflucht noch mal, warum ist man denn so stur? Wenn diese Prozentzahlen wirklich drin sein sollten, dann kann man sich doch einigen. Dann muß man doch nicht dauernd in der Öffentlichkeit herumbaldowern, sondern kann sich wirklich an einen Tisch setzen und dafür sorgen, daß es nicht zum Streik kommt und daß vernünftige Abschlüsse, die die Preisentwicklung ausgleichen und den Menschen darüber hinaus noch ein wenig in der Tasche lassen, jetzt endlich zustande kommen. ({9}) Die Konjunkturpolitik funktioniert bei dieser Regierung nicht so richtig. Sie guckt immer ein bißchen zu weit um die Ecke herum. Aber in der Strukturpolitik funktioniert es ebenfalls nicht. Es gibt eine Fülle von Problemen. Weil sie, Herr Rexrodt, jetzt gerade wieder so nett lachen: Das Hauptthema hat Ihnen Herr Rüttgers gestern weggenommen. Wenn er davon spricht, daß wir mehr Innovationen brauchen, dann hat er natürlich recht. Das ist aber eigentlich keine primäre Aufgabe von Herrn Rüttgers, sondern es wäre eigentlich Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, ({10}) dafür zu sorgen, daß endlich mehr Innovationen in der deutschen Wirtschaft ermöglicht werden. Ich sage es seit langem, meine Damen und Herren: In dieser Situation betätigen sich in der Tat viele Unternehmen - nicht alle, aber die großen - vor allem als „Kostenschneider". Das ist kein Ausdruck von mir, sondern von dem Untenehmensberater Händel. Das muß dringend anders werden, wenn wir die Probleme unserer Wirtschaft lösen wollen. Wir brauchen mehr Innovationen, mehr neue Produkte, mehr bessere Produktionsverfahren und die Erschließung neuer Märkte. Zum Teetrinken nach Südostasien zu fahren bringt nichts ein. ({11}) Wenn z. B. der Unternehmensberater Bockstete sagt: „Die Ursachen für den mangelnden Willen zur echten Neuausrichtung mit neuen Produkten und Dienstleistungen liegen in der relativ gesicherten Stellung der deutschen Manager", dann hat er natürlich recht. Der Präsident des Deutschen Patentamtes meint, die deutsche Industrie sei ins Hintertreffen geraten; sie sei bei wichtigen Technologien, die sie selbst hervorgebracht habe, mittlerweile nicht mehr in der Lage, Anschluß an den Weltmarkt zu finden. Der Präsident des Fraunhofer-Institutes, Professor Warnecke, sagt: „Die Wirtschaft in Deutschland muß ihre Innovationsgeschwindigkeit erheblich erhöhen, wenn wir in der Lage sein wollen, endlich wieder Fuß zu fassen und mit anderen Konkurrenten auf dem Weltmarkt gleichzuziehen." Roland Berger sagt: „Ohne eine Innovationsoffensive der Wirtschaft wird es in den nächsten Jahren zu großen Reallohnverlusten kommen. " Deshalb fordern wir Sozialdemokraten seit langem eine derartige Innovationsoffensive. Wir stimmen übrigens in vielen Punkten dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Olaf Henkel, zu, wenn er feststellt: „Natürlich braucht die Industrie zu lange, um neue Erkenntnisse der Grundlagenforschung in neue Produkte umzusetzen." ({12}) Man fragt mich immer wieder: Was ist zu tun? Ich kann das hier nur kurz beantworten. Aber ich sage erst einmal: Deregulierung ist nicht immer auf dem Arbeitsmarkt - das ist doch lächerlich -, sondern vor allem in der Wirtschaft und auf den Gütermärkten notwendig. Ich füge hinzu: Personalkostenzuschüsse für Forschung und Entwicklung hat es unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung einmal gegeben. Sie haben sie abgeschafft. Es wäre sinnvoll, sie wieder einzuführen. ({13}) Ich nenne die Wiederherstellung der alten Forschungsförderung. Da beklagt sich diese Bundesregierung darüber, daß in der Wirtschaft weniger für Forschung und Entwicklung ausgegeben wird, aber sie selbst hat die Hilfsmaßnahmen gekürzt, und sie selbst kürzt auch ihre Ausgaben. Es ist doch geradezu lächerlich, so zu argumentieren. ({14}) Bessere Hilfen für Existenzgründungen sind notwendig. Wir haben sie eingeführt, Sie haben sie zum Teil abgeschafft, ein bißchen wieder eingeführt, aber immer noch nicht ausreichend. Risikokapital ist ein Schlagwort, das wir seit langem in die Debatte eingeführt haben. Ich könnte Ihnen auch vortragen, was man alles machen kann. Aber tun Sie doch endlich etwas! Greifen Sie die Ideen von Herrn Biedenkopf auf, und sorgen Sie dafür, daß mehr Risikokapital für die deutsche Wirtschaft in Ost und West zur Verfügung gestellt wird! ({15}) Dialogorientierte Branchengespräche - richtig, sage ich, haben wir schon lange gefordert. Jetzt steht es im Jahreswirtschaftsbericht. ({16}) Hoffentlich finden sie auch endlich statt, und hoffentlich kommt auch etwas dabei zustande. Falls Sie Hilfe brauchen, Herr Rexrodt: Sagen Sie bitte Bescheid, wir sind gerne bereit, sie zu gewähren. ({17}) Meine Damen und Herren, die Informationsgesellschaft ist auf dem Vormarsch - wer wollte das leugnen? Das ist eine Entwicklung, die mir manchmal ein bißchen Bauchschmerzen bereitet, aber wir kommen überhaupt nicht an ihr vorbei. Vielleicht müssen wir auch noch ein wenig schneller sein. Die Amerikaner sind nämlich schneller. Bestimmte Hemmnisse müssen abgebaut werden, das gebe ich gerne zu. Aber ich kann nicht verstehen, daß man Hemmnisse abbaut, damit möglicherweise die EVUs ihre Monopolgewinne, die sie den breiten Schichten aus den Taschen gezogen haben, jetzt einsetzen, um neue Monopole zu kreieren. Das kann nicht vernünftig sein. So bitte nicht. ({18}) Aber wenn wir schon über dieses Thema diskutieren: Beachten Sie bitte, der Engpaß bei dieser ganzen Sache sind nicht die Datenautobahnen. Der Engpaß sind die Menschen, die nicht ausreichend vorgebildet sind, um dies alles einzusetzen und zu handhaben. Mehr Bildung, mehr Qualifizierung, mehr Ausbildung sind dringend notwendig, wenn wir den Weg in die Informationsgesellschaft wirklich gehen wollen. Meine Damen und Herren, nur eine offensive Strategie für Investitionen, Innovationen und Beschäftigung wird uns voranbringen. Mit der defensiven Politik dieser Bundesregierung muß jetzt endlich Schluß sein. Ich erlaube mir, einen Satz zur Kohle und zu einem Stahlproblem zu sagen. Frau Fuchs hatte das schon angesprochen. Ich finde, so geht es nicht. Im November 1991 hatten sich Bundesregierung, Energiewirtschaft, Gewerkschaften zusammengesetzt und gesagt, daß - das war damals mitverhandelt worden - die Kokskohlefinanzierung so bleiben soll, wie sie bisher war: zwei Drittel der Bund, ein Drittel das Land. Dann kann man hinterher nicht hingehen, ohne mit den Leuten zu reden, und sagen: in Zukunft 50:50. ({19}) Das ist wirklich eine miese Politik, die dringend abgestellt werden muß. Sie sollten sich ein bißchen an das halten, was Sie einmal abgesprochen haben. ({20}) Eine Bemerkung zur Stahlindustrie - ich habe das gestern schon im Wirtschaftsausschuß angesprochen -: Bisher, so finde ich, ist die Stahlindustrie von der deutschen Politik - ich beziehe auch Sie, Herr Rexrodt, gerne ein - gut behandelt worden. Auch auf europäischer Ebene hat man sich, wenn es Probleme gab, immer um den Laden gekümmert. ({21}) Die großen Konzerne in Deutschland - Thyssen, Klöckner, Roesch und Krupp - haben eine Firma, die Vereinigten Schmiedewerke in Bochum, gegründet. Sie haben dort Sozialplanabsprachen getroffen und wollen jetzt die Vereinigten Schmiedewerke in Konkurs gehen lassen und sich an die Sozialplanabsprachen nicht mehr halten. Das ist unerträglich. ({22}) Da muß man - Herr Hinsken, vielleicht kann Ihre Fraktion das auch mal tun - den Leuten wirklich sagen: Wenn Sie in Zukunft noch Hilfe von uns wollen, dann müssen Sie was dafür tun, daß diese Sozialplanabsprachen in Zukunft wirklich eingehalten werden. ({23}) Ich muß zum Schluß kommen. Ich finde, der Bundeswirtschaftsminister ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Er wird laufend demontiert. Mittlerweile hat er schon einen Staatssekretär aus der CDU in seinem Hause. Herr Rüttgers nimmt ihm die Schlagzeilen weg, wenn es um Innovationen geht. Das wird jetzt bei Rüttgers gemacht, aber nicht mehr bei Rexrodt. Die Konsensrunde wurde früher von uns Konzertierte Aktion genannt. Dafür hatte Schiller die Verantwortung. Jetzt heißt das Konsensrunde und findet beim Kanzler statt. Fast könnte man meinen, man könnte auf dieses Bundeswirtschaftsministerium verzichten. ({24}) Aber Herr Rexrodt geht ja auch nach dem Motto vor: Nicht navigare, sondern plagiare necesse est. ({25})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Dr. Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich diesen Satz zu Ende sagen?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Selbstverständlich.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Fülle von Maßnahmen, die jetzt von Ihnen propagiert worden sind, sind auf unserem Mist gewachsen. Ich habe im Grunde auch nichts dagegen, wenn Sie immer das tun, was wir wollen. Das ist in Ordnung, dagegen habe ich nichts. ({0}) Aber Sie könnten doch so fair sein und immer dazusagen: Mehr Messeförderung, mehr Unternehmensförderung, mehr für den Mittelstand - das stammt eigentlich von den Sozialdemokraten, aber jetzt machen wir das. Das wäre anständig, Herr Rexrodt. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun kommt die Zwischenfrage, besser die Schlußfrage.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Professor Jens, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im Bundeswirtschaftsministerium nicht nur ein Staatssekretär der CDU zugegen ist, sondern inzwischen schon zwei, und zwar zwei sehr tüchtige Staatssekretäre, ({0}) die den Bundeswirtschaftsminister bei seiner erfolgreichen Arbeit weiterhin tatkräftig unterstützen und neuen Schwung und neue Effizienz in dieses Ministerium hineinbringen wollen? ({1})

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Viel zu viele, Frau Matthäus-Maier. ({0}) Das beweist aber nur meine These: Herr Rexrodt hat in diesem Hause überhaupt nichts mehr zu sagen. Er ist völlig von CDU-Staatssekretären eingemauert. ({1}) Ich komme zum Schluß. hieran sieht man einmal mehr: Reden und Handeln sind in diesem Wirtschaftsministerium leider zweierlei. Zwischen Reden und 'landein klafft eine gewaltige Lücke. Wir hatten gestern im Ausschuß Anträge zur Messeförderung und zur Mittelstandsförderung eingebracht. Im Jahreswirtschaftsbericht steht, auf diesen Feldern müßte mehr getan werden. Aber die Mehrheit dieser Koalition hat alle Anträge abgelehnt. Wann kommen Sie endlich dazu, daß Sie das auch tun, was Sie vorher ankündigen? Das wäre wenigstens sehr sinnvoll. Schönen Dank. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung wurde in der vergangenen Woche schwarz auf weiß vorgelegt. Das hat ja wohl den Sinn, daß man darüber diskutieren kann. Trotzdem wird bei jeder kritischen Bemerkung in diesem Haus von der Regierungsseite gleich laut aufgeschrien und protestiert. Bevor Sie das auch bei mir tun, will ich Ihnen sagen, daß zu meinen Lebenserfahrungen nun einmal eine untergegangene Wirtschaftsform gehört. Sie dagegen sind immer noch auf einem Stand der Arroganz, daß es keinerlei Alternativen gibt. Ich spreche da nicht von den Alternativen, die die PDS vorschlägt und die Sie ohnehin nicht zur Kenntnis nehmen; Sie erkennen ja keinerlei Alternativen an. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß sich bei dem Anspruch der Bundesregierung, Vollbeschäftigung zu schaffen, alle Aussagen des Jahreswirtschaftsberichts daran messen lassen müssen. Der Jahresbericht wäre eine glänzende Gelegenheit, diesen Beitrag konzeptionell zu leisten. Doch die größte Herausforderung, vor der die Gesellschaft steht, schrumpft in diesem Bericht auf eine „permanente Mahnung" zusammen, und das angesichts der Tatsache, daß in Deutschland derzeit jeder zehnte Erwerbsfähige eine Arbeit sucht. Der im letzten Monat von der Bundesanstalt für Arbeit registrierte Zuwachs von fast 300 000 Erwerbssuchenden ist angeblich auf saisonbedingte Einflüsse zurückzuführen. Wir sollten durchaus ehrlich sein und uns vor Augen halten, daß diese saisonbedingten Einflüsse bei durchschnittlichen Wintertemperaturen von 10 Grad plus als Argument herangezogen werden. Um es klar zu sagen: Alles, was die Bundesregierung in ihrem Bericht für 1995 an Rückgang der Arbeitslosigkeit ankündigt, entspricht gerade einmal dem Ausgleich an Arbeitsplatzverlusten nur des letzten Monats. Der minimale Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland darf nicht den Blick dafür verstellen, daß sich bei den Problemgruppen nichts getan hat. Die Zahlen für Langzeitarbeitslose, für arbeitslose Frauen und Jugendliche sind gestiegen. Wenn in jeder Rede des Wirtschaftsministers von 250 000 bis 300 000 neuen Arbeitsplätzen in diesem Jahr die Rede ist - man kann sie halt nicht addieren. Es bleibt eine Anzahl von deutlich über 3 Millionen Arbeitslosen auch im Jahr 1995. Keiner redet das Wachstum klein. Aber Fakt ist eben, daß dieses Wachstum nicht zu mehr Arbeitsplätzen führt. Fragwürdige Privatisierungsergebnisse spielten in der gestrigen Fragestunde und auch in der heutigen Debatte eine Rolle. Die Regierungsbank war um Antworten, z. B. zum Werk Dessau der Deutschen Waggonbau AG, verlegen - ganz im Sinne des von Herrn Minister Rexrodt inzwischen geflügelten Wortes: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht. Nur stellt sich dann die Frage: Warum nicht mit aller Macht und mit aller Konsequenz privatisieren, auch das Bundeswirtschaftsministerium im Sinne des beschworenen „schlanken Staates"? ({0}) Dann gäbe es erstens keine Interessenkollisionen und zweitens keine Erklärungsnöte mehr. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu tun gäbe es aber für ein Wirtschaftsministerium tatsächlich noch vieles. Wo sind z. B. Ideen der Bundesregierung, der Wirtschaft Rahmenbedingungen für die Innovation neuer, umweltgerechter Erzeugnisse zu verschaffen? Herr Minister Rexrodt sprach gestern im Wirtschaftsausschuß davon, daß im Haushalt seines Ministeriums 1995 rund 600 Millionen DM zur Förderung von ostdeutschen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten eingestellt worden seien. Tatsächlich sind es - schlägt man in den Unterlagen des Ministeriums nach - rund ein Drittel weniger. Der Skandal ist nicht allein die Unwissenheit des Ministers über seine eigenen Vorlagen, sondern der eigentliche Skandal ist, daß solche Mittel innerhalb von drei Jahren bis 1998 praktisch auf Null zurückgefahren werden sollen. Wo bleiben Vorschläge zur Veränderung von Wirtschaftsförderung? Warum wird die Förderung allein an der Höhe der Investitionssummen orientiert, statt diese auch an die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen zu binden? Dringend reformbedürftig ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" - nicht erst nach dem Gutachten 1996. Wo bleiben beispielsweise konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Berufsanfängern, zur Sicherung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für .Jugendliche? Möglich wären doch z. B. Steuervergünstigungen für die Schaffung von solchen Plätzen. Sie werden nicht dargelegt. Statt dessen kürzt die Regierung an anderer Stelle, u. a. den Titel „Förderung der beruflichen Qualifizierung des Mittelstandes in den neuen Bundesländern". Während Herr Rexrodt am Sonnabend auf der Konditorenfachmesse in Frankfurt am Main über ein Meister-BAföG fabuliert, stimmen am Mittwoch darauf Graf Lambsdorff und Kollegen in Bonn selbst den Versuch nieder, die bescheidenen Anfänge auf diesem Gebiet wenigstens im bisherigen Umfang zu erhalten. Angesichts der Existenz von inzwischen 480 000 angemeldeten Mittelstandsbetrieben im Osten hat Herr Rexrodt auch heute von einem Mittelstandswunder gesprochen. 3,1 Millionen Arbeitsplätze existieren in diesem Bereich. Das sind statistisch etwas mehr als sechs Beschäftigte pro Betrieb. Denen, die den Schritt in die Selbständigkeit wagen, gebührt Anerkennung und aktive Unterstützung. Aber es ist eine Tatsache, daß ein Großteil dieser Unternehmer nur eine Scheinselbständigkeit aufweist. Sie sind überschuldet und von ständigen Existenzsorgen geplagt. Trotz bisher aufwendiger Förderprogramme haben sich die Existenzbedingungen von kleinen und mittelständischen Unternehmen vor allem im gewerblichen und industriellen Bereich nicht verbessert. Dieses Problem ist auch an der Zahl der Gewerbean- und -abmeldungen nachvollziehbar. Im November 1994 kamen in Ostdeutschland auf 14 054 Gewerbeanmeldungen 9 820 Abmeldungen. Die Relation beträgt derzeit 1,4 Anmeldungen zu einer Abmeldung, während 1992 und 1993 immerhin noch zwei Anmeldungen auf eine Abmeldung kamen. Für überlegenswert halte ich in diesem Zusammenhang die generelle Einbeziehung von Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Das kostet Geld, jedoch wird damit Risikobereitschaft honoriert, und bei einem möglichen Scheitern werden Menschen vor dem Sturz ins soziale Aus und die Kommunen vor weiteren Belastungen ihrer jetzt schon leeren Kassen bewahrt. Das ist meines Erachtens durchaus im Sinne des von Herrn Professor Biedenkopf geäußerten Anspruchs. Herr Kollege Büttner aus Schönebeck konstatierte auf einem Forum der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung letztes Wochenende in Brehna bei Halle völlig richtig - ich zitiere -: „Jetzt müssen wir dafür sorgen, daß der mittelständischen Gründungswelle keine Pleitewelle folgt." Nur: Wie wird dafür gesorgt? Indem die industrielle Pleitewelle ungebremst weiterrollen darf? Indem die letzten größeren Arbeitgeber ganzer Regionen, wie das Waggonwerk in Dessau mit 830 Beschäftigten oder das Aluminiumwerk Hettstedt mit 650 Mitarbeitern - um nur die zwei größten Notfälle dieser Woche zu benennen -, dem „Markt" überlassen werden? Wenn sie es nur dürften: Der DWA-Vorstand in Berlin untersagte Dessau ausdrücklich die aussichtsreiche Teilnahme an Ausschreibungen für neue Straßenbahnen in Oslo. Statt selbstentwickelte Schienenbusse zu bauen, für die mittlerweile 40 Bestellungen vorliegen, sollen künftig Holzpaletten, Plastelemente und gynäkologische Stühle hergestellt werden. Nach einer realistischen Einschätzung des Betriebsrates könnten auf diese Art und Weise höchstens 100 Leute beschäftigt werden, davon 50 gesichert. Dabei ist klar, daß mit dem Tod eines großen Betriebes immer das Sterben von kleinen und mittleren Unternehmen verbunden ist. An jedem Arbeitsplatz in Dessau hängen beispielsweise mindestens zweieinhalb bei Zulieferern.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident, ich würde gern zum Ende kommen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das ist auch angemessen, weil Ihre Redezeit in wenigen Sekunden abgelaufen ist.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

An den Einkünften der Waggonbauer hängen auch die Einkünfte von Bäckern, Fleischern und Gastwirten und nicht zuletzt Steuereinnahmen. Wer keine Steuern mehr zahlt, braucht beim besten Willen auch keine Steuerberater. Die brauchen andere Leute, nicht die Millionen Arbeitsuchenden und die Hunderttausende, die um ihren Job bangen. Während sich der Aufschwung allein in den Unternehmensbilanzen niederschlägt, vernebelt Minister Rexrodt derweil mit dem Phantom der I leerscharen künftiger Gärtner und Butler die Arbeitsmarktdebatte. Ich bezweifle, daß sich, falls Kässbohrer zusammenbricht, viele der 3 200 davon betroffenen Ulmer wohlbestallt in Vorgärten wiederfinden können. Ich weiß, daß es kaum ein Dessauer oder Hettstedter sein wird, und ich unterstelle, daß auch Herr Rexrodt das weiß.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluß. Eine Vielzahl von Seiten im Wirtschaftsbericht und in der Rede von Herrn Rexrodt verhüllt den Gegenstand in sprachlichem Dunkel statt Klarheit zu schaffen. Das erinnert mich an den Schluß einer Warenhausanzeige, in der es heißt: Wir können Ihnen Ihr Geld nicht zurückgeben, aber wenn das Produkt nicht alles hält, was wir versprechen, können Sie es behalten. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe dieser Debatte von Anfang an zugehört, vor allen Dingen den Beiträgen, die aus der SPD gekommen sind, u. a. dem Beitrag des wirtschaftspolitischen Sprechers der SPD, Herrn Professor Jens. Meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe nun die ganze Zeit darauf gewartet, ob von seiten der SPD einmal ein Wort der Freude darüber fällt, daß wir die tiefste Rezession der Nachkriegszeit erfolgreich überwunden haben. ({0}) Wenn man einmal darüber nachdenkt, warum ein solches Wort - Sie brauchen sich jetzt gar nicht aufzuregen und wieder laut zu werden -, verehrte Frau Matthäus-Maier, nicht über Ihre Lippen kommt, dann fällt einem natürlich noch einmal die Debatte vom vergangenen Jahr ein. Wenn man die Prognosen, Frau Matthäus-Maier und Herr Professor Jens, die Sie damals abgegeben haben, ({1}) mit der heutigen Realität vergleicht, dann stellt man fest, daß die SPD eine Partei der falschen Prognosen, der überholten Programme und der falschen Rezepte ist. ({2}) Das haben Sie heute wieder unter Beweis gestellt; denn bei allen Ihren Horrorszenarien, die Sie im Blick auf die weitere Entwicklung dargeboten haben - über diese werden wir im nächsten Jahr diskutieren -, werden wir wiederum feststellen: Sie waren schon wieder einmal falsch. ({3}) Die Rezession ist überwunden. Darüber freue ich mich; denn das ist gut für die Menschen in Deutschland. Sie können jetzt wieder hoffen. Sie können hoffen, daß dieser Aufschwung den Arbeitsmarkt erreicht und wir hier zu einer Wende kommen. Das ist wichtig. ({4}) - Allerdings, Frau Fuchs, bin ich auch bereit, ganz klar zu sagen, daß die Strukturkrise nicht überwunden ist, daß wir weitere Bemühungen brauchen, um zur Kostenreduzierung in der Wirtschaft - das ist ein Punkt, den Sie zumindest nicht mit inhaltlichen Ideen zu füllen in der Lage sind - und zur Konsolidierung bei den öffentlichen Haushalten beizutragen. Dazu hat der Bundesfinanzminister soeben das Notwendige gesagt. Aber neben diesen beiden Punkten, meine Damen und Herren, muß auch die Innovationsfähigkeit in Deutschland gestärkt werden. ({5}) Für diese Innovationsfähigkeit müssen Bildung und Forschung einen besonderen Beitrag leisten. ({6}) Wir müssen rechtzeitig erkennen, was zukunftsfähige Entwicklungen sind, wo ihre Risiken, aber auch ihre Chancen liegen. Wir müssen jetzt entscheiden, was wir morgen wollen, statt vielleicht später wieder einmal festzustellen, daß es fünf nach zwölf ist und wir uns auf neue Entwicklungen nicht rechtzeitig vorbereitet haben. ({7}) Meine Damen und Herren, BDI-Präsident Olaf Henkel hat kürzlich zu Recht darauf hingewiesen, daß die deutsche Industrie im High-Tech-Wettbewerb aufholen muß. Wenn man sich das einmal genau anschaut, dann stellt man fest, daß unsere Exporterfolge heute weitgehend mit reifen oder auslaufenden Produkten erzielt werden und nur zum Teil mit Hochtechnologieprodukten, also mit jenen Produkten, denen die Zukunftsmärkte gehören. ({8}) Nur knapp 14 % unserer Ausfuhren entfallen auf Güter mit großer F-und-E-Intensität. Aber gerade in diesem Bereich der Spitzentechnologie ist die größte Wertschöpfung möglich. ({9}) - Lieber Herr Fischer, daß gerade Sie bei diesem Thema aufwachen, das finde ich erstaunlich, wo doch Sie einer derjenigen in Deutschland sind, die Bemühungen um F und E, Bemühungen um Forschung, Bemühungen um neue Produkte systematisch verhindert haben. Wenn Sie irgendwo einen Namen haben, dann in diesem Bereich und nirgendwo anders. ({10}) Meine Damen und Herren, niemand will in Deutschland den Lebensstandard verringern. Aber hohe Löhne fließen eben nur aus hoher Leistung. Wenn wir teurer sind als andere, dann müssen wir eben auch besser sein. ({11}) - Haben Sie denn irgend etwas gegen das zu sagen, was ich gerade gesagt habe? Dann klatschen Sie doch und widersprechen Sie nicht. Das ist dann doch richtig. Lassen wir uns doch einmal darauf einigen. ({12}) Die Wahrheit ist, daß unser Leistungsprofil heute nicht mehr zu unseren hohen Ansprüchen paßt. In den 80er Jahren wurden vor allem in den klassischen Bereichen - Maschinenbau, Fahrzeugbau und Chemie - Verbesserungen erzielt. Diese Verbesserungen haben der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb Vorsprünge verschafft. Das ist wichtig; das ist ein gutes Standbein. Aber z. B. der Mobilfunk hat demonstriert, wie binnen weniger Jahre ein dynamisches Wachstum aus einer Dienstleistung entstehen kann. Dazu mußten frühzeitig technologische Grundlagen geschaffen werden. Dazu mußten Märkte geöffnet werden, und zwar über Standards und Deregulierung. Dazu mußten Wettbewerb und Freiräume zur Entfaltung unternehmerischen Handelns geschaffen werden - Herr Catenhusen, gegen den Willen der SPD. Darum haben wir lange gekämpft, als es hier um die Postreform ging, die Wolfgang Bötsch erfolgreich durchgesetzt hat. ({13}) Wir brauchen in Deutschland eine Innovationswelle, die uns mit Schwung ins 21. Jahrhundert trägt, und zwar vor allem bei den Spitzentechnologien, ihrer Entwicklung und ihrer Anwendung, z. B. bei den Informations- und Kommunikationstechniken, weil das Voraussetzungen für intelligente Dienstleistungen sind, die in den kommenden Jahren immer wichtiger werden, z. B. bei der Biotechnologie, wo jetzt die Märkte der Zukunft entwickelt werden, z. B. bei der Entwicklung neuer Materialien oder beim produktintegrierten Umweltschutz, wo sich uns neue Möglichkeiten ressourcenschonenden Wirtschaftens eröffnen. Meine Damen und Herren, gelingt uns dies nicht, werden wir von der Substanz zehren, statt unsere Wirtschaftskraft auf die Innovationsfelder von morgen zu stützen. Dann verspielen wir auch die Chance, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Meine Damen und Herren, neue Arbeitsplätze entstehen nicht da, wo die alten verlorengingen, sondern sie entstehen in innovativen Unternehmen, sie entstehen in den forschungsintensiven Bereichen unserer Wirtschaft. In den 80er Jahren waren Wirtschaftszweige mit einem überproportionalen Engagement in Forschung und Entwicklung der Motor des wirtschaftlichen Wachstums. In diesem Zeitraum betrug das durchschnittliche Wachstum bei nicht forschungsintensiven Industrien 1,6 %, bei forschungsintensiven Industrien aber 3,4 %. Gerade diese beiden Zahlen zeigen, wo die Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft liegen. Wenn man sich beispielsweise den Weltmarkt der Informationsbranche ansieht, stellt man fest, daß es Schätzungen gibt, daß in diesem Bereich ein Marktvolumen von 3 000 Milliarden Dollar existiert. Experten erwarten, daß sich dieser Markt his zum Jahre 2000 verdoppeln wird. ({14}) In derselben Zeit können durch neue Dienstleistungsberufe allein in Europa 10 Millionen Arbeitsplätze entstehen, davon 2 Millionen in Deutschland - vorausgesetzt, wir schaffen Konkurrenz und freie Märkte, Herr Catenhusen. Das ist bisher nicht mit Ihrer Unterstützung, sondern nur gegen Ihren Widerstand durchgesetzt worden. Nur dann ist es möglich, diese 2 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Jeder sieht, daß die Investoren in den Startlöchern hocken. Deshalb muß es spätestens ab 1. Januar 1998 in Deutschland freie Fahrt für Kommunikationstechnologien der Zukunft geben. ({15}) Lieber Herr Catenhusen, dann werden wir ja sehen, wie sich die SPD etwa im Zusammenhang mit der Veränderung der Datenschutzgesetze verhält, mit der Frage, wie wir in diesem Bereich die Sicherung des geistigen Eigentums sicherstellen, wie die Probleme der Datensicherheit gelöst werden. ({16}) - Gerne, Frau Kollegin Fuchs. Ich bin gern dazu bereit. Der Kollege Rexrodt, der Kollege Bötsch und ich werden ja in den nächsten Wochen mit einer Vielzahl von Aktivitäten initiativ werden. Wir werden sehen, ob wir dabei die SPD an unserer Seite haben. Das Ziel ist - das ist völlig unstrittig -: Am 1. Januar 1998 muß es diese Möglichkeiten geben. Es darf nicht passieren, daß wir erst am 1. Januar 1998 anfangen, darüber nachzudenken, welche Gesetze noch geändert werden müssen, bevor der Start erfolgt. Wenn beispielsweise deutsche Firmen zunehmend Betriebe in den Vereinigten Staaten kaufen - und zwar nicht als Fertigungsbetriebe, sondern als Forschungs- und Innovationspartner -, zeigt dies auch, daß die Fragen der Rahmenbedingungen, der Möglichkeit innovationsorientierter Zusammenarbeit, der Risikobereitschaft und des geistigen Klimas für die Aufgaben, über die ich hier spreche, eine große Rolle spielen. Ich meine, da könnten wir uns in Deutschland eine kräftige Scheibe abschneiden. Innovationsfähigkeit, meine Damen und Herren, ist nicht nur eine Frage des Geldes. Da gibt es eine Vielzahl von Vergleichen. Wenn wir uns beispielsweise das Marktvolumen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien ansehen, so können wir konstatieren, daß es dafür Forschungsgelder in Höhe von 12 Milliarden DM gibt. Sie stammen zu 87 % aus der Wirtschaft und nur zu 13 % vom Staat. Vergleicht man das mit der Biotechnologie, dem Thema des 21. Jahrhunderts, sieht man, daß es dort zur Zeit ein viel kleineres Marktvolumen gibt und die Forschungsgelder zu 43 % aus der Wirtschaft stammen, allerdings zu 57 % vorn Staat. Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht mißverstehen: Der hohe staatliche Anteil ist noch keine Erfolgsgarantie. Entscheidend ist, welche Anwendungen und Produktvisionen entwickelt und ob hierfür Märkte erschlossen werden können. Es kommt eben auf das Entdeckungsverfahren des Marktes, von dem Friedrich Hayek sprach, an. Deshalb brauchen wir auch in diesen Bereichen keine staatliche Lenkung - diese war bei den Rednern der SPD wieder spürbar --, sondern wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Da gibt es allerdings noch eine Kooperationslücke. Die Wissensproduktion in Deutschland ist groß, aber der Anteil des Wissens, mit dem auch produziert wird, ist zu gering. Meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, es ist unstreitig, daß Innovationen im HighTech-Bereich gleichzeitig neueste Ergebnisse der Grundlagenforschung, der Anwendungs- und Prozeßtechnik, Marktkenntnisse und Produktkonzeptionen brauchen. Es kann also keine ernsthafte Debatte Grundlagenforschung gegen anwendungsorientierte Forschung geführt werden. Es geht da auch nicht um staatliche Lenkung. Wer Innovationen will, meine Damen und Herren, darf sich nicht in solche Sackgassen begeben. Worum es geht, ist die bessere Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und der Wirtschaft, urn systematisch und gemeinsam Leitprojekte zu erarbeiten. Sie müssen von der Fragestellung ausgehen, für welches Problem welche Innovationslösung gebraucht wird, und auf ausreichend breitbandige Technologieziele ausgerichtet sein. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie versucht, auf wichtigen Innovationsfeldern weiterzukommen, etwa bei den Umwelttechnologien. Hier haben wir als Deutsche einen entscheidenden Trumpf im Hinblick auf unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Aber dieser Vorsprung von mehr als 20 % beim Weltexport ist natürlich gefährdet. Bei den End-of-pipe-Technologien sind wir gut. Im Bereich der Vorsorge müssen wir besser werden. Deshalb ist unser Ziel, Projekte zur Förderung des produktionsintegrierten Umweltschutzes voranzutreiben. Das schafft bis zu 500 000 Arbeitsplätze bis zum Jahr 2000. ({17}) Oder hei der Biotechnologie: Die Biotechnologie wird das nächste Jahrhundert prägen. Deshalb dürfen wir die biotechnologische Revolution nicht verschlafen. Auch hier werden wir einen deutlichen Akzent etwa hei der Humangenomforschung zur Krankheitsbekämpfung setzen. Der Stärkung der Innovationsdynamik dient auch der Technologie- und Innovationsdialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat. Der Bundeskanzler wird den Rat für Forschung, Technologie und Innovation noch im Februar zu seiner ersten Sitzung einladen. Zusammen mit den Kollegen Rexrodt und Bötsch schlage ich vor, daß sich der Rat zunächst vor allem mit dem wichtigen Komplex der Entwicklung der Informationsgesellschaft einschließlich ihrer kulturellen Herausforderungen beschäftigt. ({18}) Ziel der Gespräche soll sein, konkrete Innovationshemmnisse zu identifizieren, den Gedankenaustausch über eine Beschleunigung des Technologietransfers und die Bedeutung einzelner Zukunftsfelder zu erleichtern, damit alle Beteiligten daraus in eigener Verantwortung und eigener Zuständigkeit die notwendigen Schritte ableiten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, die Chancen und Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, lassen sich nur ergreifen und bestehen, wenn wir in Deutschland insgesamt zu Veränderungen bereit sind, wenn wir uns auf die Begabungen und Leistungsfähigkeit des einzelnen besinnen ({19}) und dafür sorgen, daß sie zur Entfaltung kommen können. Was wir brauchen, ist eine Innovation in den Köpfen, ein offeneres, ein neugierigeres, ein zuversichtlicheres Denken. ({20}) In einer Gesellschaft - lieber Herr Fischer, das gilt auch für Sie -, die immer älter wird, ({21}) sind eine wirkliche Herausforderung und eine Trendwende dringend notwendig. Dazu, werte Kolleginnen und Kollegen, können wir alle einen Beitrag leisten. ({22})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Peter Glotz.

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nach mancher Polemik mit einer Freundlichkeit, nämlich mit einer Literaturempfehlung beginnen - die Herren Minister Rexrodt und Rüttgers werden mir sicher dankbar sein -: Es gibt ein Buch von Lothar Späth - immer noch Mitglied der CDU ({0}) und von dem McKinsey-Manager Henseler mit dem Titel: „Sind die Deutschen noch zu retten?" Das steht in einem gewissen Kontrast zumindest zu der Rede, die Herr Rexrodt hier gehalten hat. ({1}) Ich finde, es ist sinnlos, nur über die unstreitig positive Entwicklung der Konjunktur zu reden und über die strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft kein Wort zu verlieren. Das ist falsch. ({2}) Wir sind uns ja einig, daß die vier großen Industriegruppen - Elektrotechnik, Maschinenbau, Chemie und Automobil - die große Krise von 1993 überwunden haben. Aber daß sie die Zukunft des 21. Jahrhunderts nicht tragen können, das hat Herr Rüttgers gerade völlig zu Recht deutlich gemacht. ({3}) Nur, wir müssen dann auch offen sagen: Es gibt keine deutsche Computerindustrie, es gibt kaum deutsche Software, es gibt keine Halbleiterindustrie, wir sind schwach bei den Biotechnologien. ({4}) Das heißt, bei vielen dieser Zukunftstechnologien sind wir schwach. Das ist natürlich nicht die Schuld der Bundesregierung, aber das hängt auch mit erheblichen Fehlern in der Forschungs- und in der Industriepolitik der letzten zwölf Jahre zusammen. ({5}) So könnte ich die Debatte, die wir häufig haben, weiterführen. Ich müßte beispielsweise darauf hinweisen, Herr Rüttgers, daß Sie recht haben, wenn Sie sagen: Es geht nicht nur um Geld. - Es ist Ihnen aber leider nicht geglückt - abgesehen von den 250 Millionen DM, die Herr Waigel dem Herrn Krüger ganz zum Schluß noch abgeknöpft hat und die Sie wiederbekommen haben -, irgendwelche grundlegenden Veränderungen in Ihrem Haushalt zustande zu bringen. ({6}) Ich sage Ihnen ein Zweites. Sie haben gestern verkünden können, daß der Technologierat beim Bundeskanzler jetzt tagt. Es heißt in diesem Fortschrittsbericht, daß alle Möglichkeiten eines verstärkten Dialogs zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Staat genutzt worden seien. Sie haben im vorigen Februar den Technologierat angekündigt, und jetzt im Februar tagt er schon. Das ist wirklich eine tolle Geschwindigkeit. Ich möchte Ihnen herzlich gratulieren. ({7}) Abgesehen von diesen Streitpunkten, die genannt werden müssen, will ich auf einen einzigen Tatbestand hinweisen. In den Vereinigten Staaten sind in der Tat in den letzten 20 Jahren zwei bis drei Dutzend Unternehmen entstanden, Microsoft, Apple, Silicon Graphics, LSI Logic und viele andere, die mil neuen Produkten inzwischen weltweit operieren. Unsere Kultur ist von großen Unternehmen bestimmt, die wir lieben und schätzen und brauchen, also von Philips, Siemens und den Großbanken, die in der ersten Gründerzeit nach 1870 entstanden sind, meine Damen und Herren. Viele dieser Unternehmen werden von Sechzigjährigen geführt, und solche Unternehmen sind häufig nicht in der Lage, bei neuen Produkten mit kurzen Produktzyklen, die sehr schnell an den Markt müssen, mit den Amerikanern oder Südostasiaten wirklich konkurrenzfähig zu sein. Das ist das Grundproblem. Ich will mit Nachdruck sagen: Wir müssen an sechs, acht oder zehn Punkten eine Initiative ergreifen, um die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit neue, technologieorientierte Unternehmen gegründet werden können, meine Damen und Herren. ({8}) Das betrifft das Thema Risikokapital. Herr Rüttgers hat zu Recht das Stichwort Risikokapital genannt. Wir haben leider in Deutschland keine Risikokapitalszene oder kaum noch eine. Das muß beim Insolvenzrecht, bei einer technikorientierten Börse und auch beim Thema der Steuererleichterungen für neue, technologieorientierte Unternehmen eine Rolle spielen. Das kann nicht Herr Rüttgers allein leisten. Es muß aus allen Ressorts gemeinsam geleistet werden. Lassen Sie uns versuchen, eine solche gemeinsame Initiative zustande zu bringen. ({9}) Es ist doch absurd, daß man sich dumm und dämlich verdienen kann, wenn man in den neuen Bundesländern Immobilien kauft, daß man aber nicht die gleichen Chancen mit neuen Unternehmen hat, die Arbeitsplätze schaffen, beispielsweise in moderner Technik. ({10}) Ich schließe mit einer kurzen Schilderung. Bei meinem letzten Besuch in den Vereinigten Staaten haben mir alle gesagt: Du mußt einen bestimmten Menschen treffen, nämlich Andy von Bechtolsheim, einen der vier Mitbegründer von Sun MicroSystems, einer Computerfirma. Ich habe ihn getroffen und gemerkt, daß er vom Ammersee stammt. Von da ist er vor 15 Jahren nach Palo Alto ausgewandert. Ich habe ihn ein bißchen ironisch und auch selbstironisch gefragt, warum er aus dem berühmten, von Franz Josef Strauß so wesentlich mitbestimmten High-Tech-Zentrum München, in dem auch mein Wahlkreis liegt, nach Amerika gegangen sei. Er hat zu mir ganz höflich gesagt: Erstens. Die Professoren in München waren nicht ganz so gut, wie ich gehofft habe. Sie waren ganz gut, nur hatten sie kaum Zeit für ihre erstklassigen Studenten. Zweitens hatte ich damals schon die Idee mit diesen work stations, die dann zu Sun geführt hat. Damit ging ich zu einer großen Münchener Firma - er hat mir nicht gesagt, welche es war; aber ich vermute, ihr Name fängt mit S an -; dort haben alle sehr vernünftig mit mir gesprochen. Aber bis zu der Ebene, wo das Ding wirklich hätte produziert werden können, bin ich nicht gekommen. Dann wollte ich eine eigene Firma gründen und bin zu einer deutschen Großbank gegangen. Dort hat man mich nach kurzer Zeit gefragt: Sagen Sie einmal, haben Sie vielleicht ein Grundstück am Stachus? - Das ist der wichtigste, größte Platz in München. - Ich habe gesagt: Nein, wir haben nur ein Zweifamilienhaus am Ammersee, darin wohnen meine Eltern noch. Darauf hat man gesagt: Dann können wir Ihnen keine Sicherheiten geben. Dann können wir Ihnen auch keine Kredite geben. Meine Damen und Herren, wenn das so bleibt und die Andy von Bechtolsheims alle nach Amerika gehen, dürfen wir uns nicht wundern, daß wir den Konkurrenzkampf, von dem wir alle reden, nicht bestehen können. ({11}) Das ist jetzt keine Polemik gegen die Regierung, sondern die Aufforderung, gemeinsam Rahmenbedingungen zu schaffen, daß junge, technologieorientierte Unternehmen entstehen können; sonst werden wir in dieses 21. Jahrhundert nicht erfolgreich hineinkommen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/370, 13/26 und 12/8090 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Entschließungsantrag der PDS auf Drucksache 13/420 soll an dieselben Ausschüsse wie der Jahreswirtschaftsbericht überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und Zusatzpunkt 3 auf: 4. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Sicherung des Verbraucherschutzes bei Rindfleischimporten ({0}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Sicherung des Verbraucherschutzes bei Rindfleischimporten - Drucksache 13/403 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({1}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun der Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland ist kaum noch nachzuvollziehen, was in den letzten Tagen und Wochen an Behauptungen, Halbwahrheiten und schlichtweg unverantwortlicher Panikmache im Zusammenhang mit BSE in die Welt gesetzt worden ist. Ich habe viel Verständnis dafür, daß die Menschen verunsichert sind; denn die Art der Diskussion der letzten Wochen hat eher Ängste geschürt, als sachlich zu informieren. Die Verunsicherung in der Bevölkerung muß ein Ende haben. Deshalb ist es wichtig, daß jetzt endlich Sachlichkeit in die Diskussion einkehrt und die Verbraucher über die Tatsachen informiert werden. Ich appelliere an alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, nicht zu verunsichern, sondern die Bevölkerung über die sachlichen Wahrheiten zu informieren. ({0}) Tatsache ist: Die Bundesregierung ist von Anfang an mit dem Thema BSE sehr verantwortungsbewußt und sensibel umgegangen. ({1}) Sie hat konsequent vorbeugenden Gesundheitsschutz betrieben. Meine Damen und Herren, es gilt auch heute, was ich immer gesagt habe: Verantwortungsvoller, vorbeugender Gesundheitsschutz heißt in diesem Falle, daß wir, obwohl es keine Beweise dafür gibt, daß der BSE-Erreger durch Fleisch auf Menschen übertragen werden kann, und die Wissenschaft dies für wenig wahrscheinlich hält, bei allen Schutzmaßnahmen fiktiv von der Annahme der Übertragbarkeit ausgegangen sind. Das bedeutet in der Konsequenz nicht Verbot jeglichen Rindfleischverzehrs, sondern Schutz vor Produkten, die möglicherweise den BSE-Erreger enthalten. Unter der Annahme also, daß ein Risiko bestehen könnte, haben wir konsequent gehandelt und nach jeweils neuestem wissenschaftlichen Erkenntnisstand EU-weite Schutzmaßnahmen durchgesetzt. Gemeinschaftliche Regelungen sind in diesem Bereich deshalb so wichtig, weil nur durch sie garantiert werden kann, daß jeder Mitgliedstaat in der EU die gleichen hohen Sicherheitsstandards anwendet. ({2}) Diese gemeinschaftlichen Regelungen sind nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, weil es sich hier um einen gemeinschaftsweit voll harmonisierten Rechtsbereich handelt. Wie sehen die gemeinschaftlichen Sicherheitsstandards aus, die - das möchte ich betonen - auch gemeinschaftlich überwacht werden? Die wichtigste Regelung, die im Sommer letzten Jahres auf Drängen der Bundesregierung EU-weit beschlossen worden ist, heißt: Rindfleisch aus Großbritannien darf nur dann in andere Mitgliedstaaten verbracht werden, wenn das Fleisch von Tieren stammt, die immer in Herden gehalten worden sind, bei denen sechs Jahre lang kein BSE-Fall aufgetreten ist. Ansonsten darf nur schieres Muskelfleisch verbracht werden. In schierem Muskelfleisch ist nämlich der BSE-Erreger bis heute nie nachgewiesen worden. Die Wissenschaftler gehen davon aus, daß der Erreger im Nervengewebe, im Lymphgewebe und im Dünndarm vorkommt. Diese Regelung ist für alle vor dem 1. Januar 1992 geborenen Rinder auch weiterhin gültig. Deshalb ist es einfach falsch, wenn immer wieder behauptet wird, es habe bisher ein Importverbot gegeben, das es künftig nicht mehr gebe. Die wichtigste Botschaft für die Öffentlichkeit ist, daß der vorbeugende Verbraucherschutz bei dem Fleisch bestehen bleibt, bei dem die Gefahr eines BSE-Erregers besonders hoch ist, nämlich bei den älteren Tieren. ({3}) Ferner gilt seit Sommer letzten Jahres und auch künftig unverändert: Die Verwertung der besonderen Innereien Gehirn, Rückenmark, Thymusdrüse, Mandeln, Milz und Gedärme von britischen Rindern ist und bleibt generell verboten, wenn diese Rinder älter als sechs Monate sind. Bei Kälbern bis zu sechs Monaten gilt seit eh die Regelung, daß diese in den Handel gebracht werden können, aber vor Vollendung des sechsten Monats geschlachtet werden müssen. Dabei bleibt es auch. Bei allen anderen Tieren, gleich welchen Alters, bleibt es dabei, daß die besonderen Innereien, die nach wissenschaftlicher Erkenntnis möglicherweise der Hauptträger des Erregers sind, auch künftig nicht verwertet werden dürfen. Diese strengen Schutzmaßnahmen - ich wiederhole es - gelten seit Sommer 1994, und sie gelten auch weiterhin. Weil diese restriktiven Maßnahmen ausreichend sind, ({4}) habe ich vor den Landtagswahlen in Bayern und vor der Bundestagswahl im August 1994 öffentlich auf einen nationalen Alleingang verzichtet. Es stimmt einfach nicht, was immer wieder gesagt wird, ich hätte vor der Bundestagswahl und vor der bayerischen Landtagswahl den nationalen Alleingang angekündigt und ihn nach der Bundestagswahl und der Landtagswahl beerdigt. ({5}) Nein, meine Damen und Herren, im August 1994 habe ich zu dem damals getroffenen und aus meiner Sicht nach wie vor verantwortbaren Kompromiß auf europäischer Ebene ja gesagt. Es ist ganz entscheidend, daß diese Schutzmaßnahmen vollständig aufrechterhalten bleiben. Denn insbesondere in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurde an britische Rinder verseuchtes Tiermehl verfüttert. Die Verfütterung von verseuchtem Tiermehl in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist der Hauptgrund für die Ausbreitung von BSE. Bei diesen Tieren bleibt es uneingeschränkt bei den Schutzmaßnahmen. Ich möchte noch einmal zurückblenden. Der erste histopathologische Nachweis der Rinderkrankheit BSE gelang Mitte 1986, also vor nunmehr neun Jahren. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre breitete sich in Großbritannien die Rinderkrankheit aus und wurde zu einem erkennbaren Problem. Den Höhepunkt der Ausbreitung erreichte BSE Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Schon damals gab es in der Bundesrepublik Deutschland bekanntlich Bundesländer. Seit 1993/94 haben wir auf mein Betreiben hin die höchsten Schutzvorkehrungen, die es jemals gegeben hat. Seit 1993/94, nachdem der Erreger zum erstenmal 1986 registriert wurde! Dieses hohe Schutzniveau bleibt erhalten. Man könnte die Frage stellen, was die Bundesländer eigentlich vorher politisch gemacht haben. ({6}) Was ist nun wirklich neu an den jetzt umgesetzten Entscheidungen der EU-Kommission? Neu ist, daß künftig Fleisch von Rindern, die nachweislich nach dem 1. Januar 1992 geboren wurden, ohne Beschränkungen nach Deutschland verbracht werden darf. Das Alter der Tiere muß schriftlich belegt werden. Ich betone es hier noch einmal: Es dürfen nach wie vor auch von diesen jungen Kälbern, wenn sie über sechs Monate alt sind, keine Innereien verwendet werden. Diese Regelung stützt sich auf das einstimmige Votum des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses bei der Europäischen Kommission, bei dem auch deutsche Wissenschaftler mitgewirkt haben. Dieses Gremium unabhängiger Wissenschaftler hat die Frage der Unbedenklichkeit von Fleisch jüngerer Tiere sehr sorgfältig geprüft; ich habe mich persönlich davon überzeugt. Schon in seinen Empfehlungen vom Juli 1994 hatte sich der Wissenschaftliche Veterinärausschuß für eine Lockerung der Handelsbeschränkungen für das Fleisch jüngerer Tiere ausgesprochen. Damals hatte die Kommission diese Frage noch einmal zurückgestellt und den genannten Ausschuß beauftragt, eine zusätzliche sorgfältige Prüfung, die auch im Herbst des letzten Jahres erfolgt ist, durchzuführen. Das Ergebnis lautete, daß Fleisch von Tieren, die nach dem 1. Januar 1992 geboren sind, aus folgendem Grund unbedenklich ist: Hauptgrund für die Ausbreitung der BSE ist die Verfütterung von verseuchtem Tiermehl; das sagte ich bereits. 1988 wurde ein Verfütterungsverbot verhängt; wegen der Verfütterung von Restbeständen hat dieses Verbot in Großbritannien erst ab Mitte 1990 endgültig gegriffen. Also: 1988 Verfütterungsverbot; 1990 hat es endgültig gegriffen. Dies muß man wissen, um die epidemiologischen Statistiken verstehen zu können. BSE ist bei Rindern, die nach Inkrafttreten des Verfütterungsverbots geboren wurden, noch aufgetreten, ging aber bereits zurück. Im Geburtsjahrgang 1988 wurden noch 8 939 Fälle registriert, im Geburtsjahrgang 1989 noch 5 981 Fälle, im Geburtsjahrgang 1990 noch 797 Fälle. Bei den seit Mitte 1990 geborenen Kälbern, als das Verfütterungsverbot also tatsächlich griff, ging die Zahl der Neuerkrankungen rapide zurück: Bei Tieren, die 1991 geboren wurden, sind bisher neun Fälle, bei 1992 geborenen Tieren sind bisher - ich sage: bisher - keine BSE-Fälle registriert. Dies belegt, daß der Wissenschaftliche Veterinärausschuß an Hand nachvollziehbarer wissenschaftlicher Kriterien entschieden hat. Bei dieser Entscheidung wurde auch berücksichtigt, daß es weder für noch gegen eine Übertragung der BSE vom Muttertier auf das Kalb einen Beweis gibt. Da dies aber ebenso wie die Übertragung auf den Menschen zwar unwahrscheinlich ist, aber nicht völlig ausgeschlossen werden kann, wird auch der Übertragungsweg vom Muttertier auf das Kalb weiterhin wissenschaftlich begleitet und geprüft. Aber auch hier wiederhole ich: Bei allen britischen Rindern über sechs Monaten werden die spezifischen Innereien entfernt, in denen der BSE-Erreger nach Ansicht der Wissenschaft vorkommen kann. Aus all diesen Gründen ist die Entscheidung der EU-Kommission nachvollziehbar. Die Umsetzung dieser Entscheidung ist nicht nur aus europarechtlichen Gründen zwingend; sie ist auch nach meiner tiefen Überzeugung verantwortbar. Meine Damen und Herren, wer denn sonst als die Wissenschaft ist in der Lage, Risiken einzuschätzen und Empfehlungen zu geben? ({7}) Wir dürfen uns bei einem so schwierigen Thema nicht von stimmungsgeleiteten Vermutungen, sondern nur von handfesten wissenschaftlichen Argumenten leiten lassen. ({8}) Es wäre nicht verantwortbar, die EU-Entscheidung vom Dezember 1994 nicht umzusetzen, da die Konsequenz gewesen wäre, daß wir überhaupt keinen Verbraucherschutz mehr bei BSE in der Bundesrepublik Deutschland hätten. Die Dringlichkeitsverordnung, mit der wir im Sommer 1994 die damals von der EU beschlossenen Maßnahmen in nationales Recht umgesetzt haben, wäre ohne eine Anschlußregelung am 6. Februar 1995 außer Kraft getreten. Wir hätten dann bereits seit zwei Tagen, nämlich seit 7. Februar 1995, eine Regelungslücke, die für den Verbraucherschutz einen unverantwortbaren Rückschlag bedeutet hätte. Hätte die Bundesregierung eine Regelungslücke hingenommen, so würden heute nämlich in Deutschland überhaupt keine Handelsbeschränkungen für das Fleisch britischer Rinder mehr gelten. Jeder Importeur könnte Fleisch britischer Rinder, das lediglich den allgemeinen fleischhygienerechtlichen Anforderungen entspricht, nach Deutschland verbringen. Die allgemeinen fleischhygienischen Bestimmungen beinhalten nicht die BSE-Schutzvorschriften. Sie beinhalten beispielsweise nur die Frage, ob man in einem Schlachthof geschlachtet hat, der von der Hygiene her den europaweiten Vorschriften entspricht. Die Durchsetzung der gemeinschaftsrechtlichen BSE-Schutzmaßnahmen, die über das allgemeine Fleischhygienerecht hinausgehen, wäre mangels verbindlicher Regelungen nicht mehr möglich. Fleischsendungen, die nicht der EU-Entscheidung entsprechen, könnten somit seit Anfang dieser Woche nicht mehr beschlagnahmt oder zurückgewiesen werden; Verstöße könnten auch nicht strafrechtlich geahndet werden. Meine Damen und Herren, man muß kein Hellseher sein, um zu erkennen, daß gewissenlose Geschäftemacher einen rechtsfreien Raum schamlos ausgenutzt hätten. Der Import problematischen britischen Rindfleisches wäre in diesem Falle mit Sicherheit sprunghaft angestiegen. Demgegenüber begannen die falschen Sicherheitserwägungen von manchen Politikern in der Öffentlichkeit mit den Worten „wenn wir uns zurückhalten". Wir machen doch nicht Schutz- und Strafvorschriften für jene, die sich ohnehin an den Verbraucherschutz gehalten haben. Wir brauchen Schutz- und Strafvorschriften für die gewissenlosen Geschäftemacher, die seit Anfang dieser Woche eine offene Tür gehabt hätten. ({9}) Die Bundesregierung mußte deshalb handeln, und sie hat gehandelt. Am 4. Februar 1995 wurde eine neue Dringlichkeitsverordnung erlassen, mit der die EU-Entscheidung vom 14. Dezember 1994 umgesetzt wird. Wir hatten in diesem Falle nur zwei Alternativen: entweder Verbraucherschutz durch Umsetzung des EU-Rechts in nationales Recht oder kein Verbraucherschutz ab dem 7. Februar. Meine Damen und Herren, in meiner Verantwortung vor der Gesundheit der deutschen Bevölkerung wäre die zweite Alternative nicht zu verantworten gewesen. ({10}) Ich finde es sehr bedauerlich, daß insbesondere die SPD-geführten Bundesländer diese Tatsachen heute leugnen, obwohl sie es eigentlich besser wissen müssen. Noch vor wenigen Monaten waren ihnen diese Tatsachen nämlich bekannt. Schon im Sommer 1994 hatte Rheinland-Pfalz im Zuge der damaligen Beratungen im Bundesrat ein generelles nationales Importverbot gefordert und war damit gescheitert. Mit deutlicher Mehrheit wurde damals in der Länderkammer dieser Antrag abgelehnt. Die Mehrheit der Länder verwies damals auf die zu erwartenden europarechtlichen Probleme, die sich heute genauso wie damals stellen. Jetzt aber, da bei Nichtumsetzung des Europarechts der gesamte Verbraucherschutz in Sachen BSE auf dem Spiel steht, wollen die SPD-geführten Länder davon nichts mehr wissen. Statt dessen führt die Bundesratsmehrheit mit Unterstützung durch die SPD zur Zeit - meine Damen und Herren, ich kann es nicht anders sagen - eine ziemlich scheinheilige Diskussion. ({11}) Sie versucht, in der Öffentlichkeit den Anschein zu erwecken, als würde allein sie den Verbraucherschutz sicherstellen, Sie selbst weiß aber genau, daß in Wahrheit der Verbraucherschutz völlig ausgehebelt würde, würden wir der Bundesratsmehrheit folgen, die von der EU-Entscheidung abweichen will. ({12}) Wir hätten auf Grund der dann folgenden Regelungslücke keinerlei Handhabe, um gewissenlose Fleischimporteure zu stoppen. Von den Ländern ist immer wieder behauptet worden, ein nationaler Alleingang sei auch heute noch möglich. Immer wieder kamen neue Vorschläge, wie dies gehen solle. Sie haben sich jedoch jeweils innerhalb kürzester Zeit als nicht gangbar erwiesen. Keine der genannten Rechtsgrundlagen hielt einer ernsthaften Prüfung stand. Meine Damen und Herren, ich bin mit massiven Vorwürfen bei der Vollversammlung des Bundesrates konfrontiert worden. Man hat mir Art. 36 des Europäischen Vertrages entgegengehalten und sträflichen Leichtsinn vorgeworfen, weil ich diesen Art. 36 nicht anwende. Diejenigen, die mir diesen Vorschlag gemacht haben, haben mir aber schriftlich mitgeteilt, daß Art. 36 in diesem Falle nicht anwendbar sei. Ich sollte einmal als Bundesgesundheitsminister vor einem Parlament eine solche falsche Aussage treffen; ich wüßte nicht, was dann in der Bundesrepublik Deutschland los wäre. ({13}) Spätestens ein Rechtsgutachten, das im Auftrag von Rheinland-Pfalz, dem Wortführer für einen nationalen Alleingang, erarbeitet worden ist, hätte den SPD-geführten Ländern klarmachen müssen, daß sie auf dem Holzweg sind. In dem Gutachten, das mir am 1. Februar 1995 übermittelt wurde, heißt es wörtlich: Die Frage, ob auf Grund des EG-Vertrages oder sonstiger gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften nationale Alleingänge zur Beibehaltung oder Schaffung und Anwendung strengerer einzelstaatlicher Vorschriften, als sie das Gemeinschaftsrecht vorsieht, zulässig sind, ist äußerst umstritten. Ich zitiere weiter: Bezogen auf den konkreten Fall, in dem es darum geht, den Verbraucher in Deutschland vor den gesundheitlichen Gefahren zu schützen, die ihm vom Genuß von Rindfleisch drohen, das aus BSE- verseuchten oder -verdächtigen Beständen des Vereinigten Königreichs und Nordirlands nach hier verbracht wird, - so das Gutachten Rheinland-Pfalz steht die Rechtfertigung eines derartigen Alleingangs argumentativ nicht auf sicheren Füßen. Es heißt in dem Gutachten weiter: Ob die EG-Kommission und gegebenenfalls der Europäische Gerichtshof den nachstehend vorgenommenen rechtlichen Bewertungen folgen, läßt sich schwer abschätzen. Die diesbezüglichen Aussichten dürften unter Berücksichtigung aller Unwägbarkeiten eher unter 50 % liegen als darüber. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht kommentieren, was die Juristen in unserem Hause dazu sagen. Das ist eine schlampige Arbeit: mit einem solchen Gutachten zu einem nationalen Alleingang zu ermuntern, obwohl der Wortführer des Gutachtens selber der Auffassung ist, daß die Erfolgsaussichten eher unter als über 50 % liegen. Ich kann mich doch nicht nach einem Gutachten richten, das mir mitteilt, daß man bei Anwendung dieser Vorschriften ohnehin keinen Erfolg hätte. ({14}) Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Politik von Bundesratsmehrheit und SPD sind angebracht. Das macht eine andere, einfache Tatsache deutlich: Die SPD-geführten Länder lassen ihren starken Worten nämlich dort keine eigenen Taten folgen, wo sie es wirklich könnten. Warum tritt man einerseits für ein totales Importverbot mit der Begründung „Jedes britische Rindfleisch ist bedenklich" ein, zieht aber andererseits nicht umgehend die Rinder aus dem Verkehr, die bei uns stehen und aus Großbritannien importiert wurden? Diese Möglichkeit hätten die Länder. ({15}) Ich kann mir das nur so erklären: Es geht hier immerhin um einige tausend Tiere. Würden die Länder diese Tiere aus dem Verkehr ziehen, so wäre das wohl entschädigungspflichtig; es würde die Länder Geld kosten. Aber offenkundig endet der Verbraucherschutz für die SPD dann, wenn er die Länder Geld kosten würde. ({16}) Und damit nicht genug: Auf ihrer Irrfahrt produzieren die SPD-geführten Länder einen neuen Vorschlag. ({17}) Jetzt wollen sie zu einem sogenannten freiwilligen Importverzicht von britischem Rindfleisch aufrufen. Ich möchte hier nur zitieren, was der Verband des Deutschen Groß- und Außenhandels mit Vieh und Fleisch hierzu dem Land Nordrhein-Westfalen am 6. Februar 1995 mitgeteilt hat. Ich zitiere auch hier aus dem Schreiben: Der Verband muß sich an Rechtsvorschriften halten. - Das sollte in einem Rechtsstaat eigentlich klar sein. Mit dem gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken und bewirken. Unvereinbar! - Auch dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Unabhängig von dieser rechtlichen Situation stellt sich auch die Frage nach der Wirksamkeit einer solchen „freiwilligen Importbeschränkung". Tatsache ist: Britisches Rindfleisch macht weniger als 1 % des gesamten aus EU-Mitgliedstaaten nach Deutschland importierten Rindfleisches aus. Ein sogenannter freiwilliger Importverzicht auf britisches Rindfleisch würde also nur weniger als 1 % des gesamten EU-Importmarktes in Deutschland betreffen. Tatsache ist zudem: Wenn z. B. Rinderhälften aus Großbritannien in einen anderen Mitgliedstaat verbracht und dort weiterverarbeitet werden, so werden sie nicht mehr als britisches Produkt deklariert. Das heißt im Klartext: Fleisch, das aus Großbritannien in einen anderen Mitgliedstaat importiert worden ist, dort weiterverarbeitet wurde und danach nach Deutschland kommt, enthält keinerlei Hinweis auf seine ursprünglich britische Herkunft. Es könnte also auf gar keinen Fall sichergestellt werden, daß nicht doch - sozusagen auf Umwegen - britisches Rindfleisch nach Deutschland kommt. Meine Damen und Herren, das ist die Scheinheiligkeit gegenüber der Öffentlichkeit. ({18}) Es ist Scheinheiligkeit, daß man in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, daß, wenn man 1 % des möglichen Rindfleischimports durch Selbstbeschränkung verhindert, kein britisches Rindfleisch mehr nach Deutschland kommt. Genau deshalb sind gemeinschaftsrechtliche Regelungen notwendig, die garantieren, daß in jedem Land der EU die gleichen Sicherheitsmaßstäbe gelten und auch überprüft werden. ({19}) Für die Bundesregierung gilt beim gesundheitlichen Verbraucherschutz auch weiterhin die Richtschnur: Blinder Aktionismus schadet, ({20}) verantwortliches Handeln nutzt. Daran haben wir uns immer orientiert, und wir werden es auch weiterhin tun. ({21}) Unser verantwortungsvoller Umgang mit dem Thema BSE läßt sich auch an den vielfältigen Regelungen ablesen, die für britisches Rindfleisch über die Importbeschränkungen hinaus beschlossen worden sind, ganz weitgehend auch 1993/94 auf mein Betreiben hin. ({22}) Ich nenne beispielhaft nur: das Verbot der Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer, die Empfehlungen zur Durchsetzung höherer Qualitätsstandards bei der Herstellung von Arzneimitteln, die Empfehlungen zur Durchsetzung höherer Qualitätsstandards bei der Herstellung von Kosmetika, die Einführung einer Meldepflicht für die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die Verdreifachung der Finanzmittel für die Erforschung spongiformer Enzephalopathien in der Bundesrepublik Deutschland. All dies haben wir über die Importbeschränkungen hinaus beschlossen und umgesetzt. Nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund ist es, milde ausgedrückt, eine Verdrehung der Tatsachen, wenn nun behauptet wird - bei aller Vorsorge, die wir aus der Erfahrung mit HIV nach wie vor im Kopf haben müssen -, daß wir aus den Fehleinschätzungen bei HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte Anfang der 80er Jahre nichts gelernt hätten. Der Untersuchungsausschuß „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte" hat klar herausgearbeitet: Es gab schon früh in den 80er Jahren gesicherte Erkenntnisse, die auf die konkreten Gefahren von HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte hätten aufmerksam machen müssen. Eine völlig andere Situation haben wir heute bei BSE: Wir haben heute keine gesicherten Erkenntnisse, die auf eine Übertragbarkeit des BSE-Erregers auf den Menschen durch Fleisch hinweisen. Die Wissenschaft hält das Risiko eher für wenig wahrscheinlich, und trotzdem setzen wir uns mit aller Kraft für notwendige Schutzmaßnahmen nach dem jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ein. ({23}) Das ist verantwortlicher Verbraucherschutz. Auch da hat die SPD offenbar noch einigen Nachholbedarf. Ich kann den Sozialdemokraten nur die Lektüre der ersten Februar-Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit" empfehlen. Dort ist der stellvertretende Direktor der britischen Verbraucherschutzorganisation mit folgendem Satz zitiert: Und soweit wir das bisher beurteilen können, hat Großbritannien alles getan, um die Sicherheit der Verbraucher zu gewährleisten. ({24}) Was in Großbritannien, dem Hauptursprungs- und Verbreitungsland von BSE, möglich ist, nämlich verantwortlicher Umgang mit dem Thema BSE, muß doch auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland möglich sein. ({25}) Meine Damen und Herren von der SPD - ich sage dies auch vor dem Hintergrund der völlig überzogenen SPD-Aktion, die noch eine fatale Wirkung entfalten wird -: Der deutsche Rindfleischmarkt, der mit BSE nun wirklich nicht das geringste zu tun hat - es gibt kein einziges deutsches Rind, das erkrankt ist -, ({26}) wird die negativen Folgen der SPD-Verunsicherung zu spüren bekommen. Das hat in der Landwirtschaft und beim Fleischhandel allein die SPD zu verantworten. ({27}) Wenn die negativen Auswirkungen dieser Aktion der SPD den deutschen Rindfleischmarkt schädigen, ({28}) ist es geradezu absurd, mir vorzuhalten, ich hätte vor der Fleischlobby einen Kniefall gemacht. ({29}) Wir werden mit dem Thema BSE weiterhin verantwortlich umgehen. Wir werden, wie bisher, die Entwicklung sehr genau beobachten und die parlamentarischen Gremien sowie die Öffentlichkeit regelmäßig unterrichten. Auch das ist Verbraucherschutz, auf den sich die Menschen verlassen können: Offenheit, regelmäßige Unterrichtung über neue Erkenntnisse. ({30}) In diesen Tagen gibt es ungezählte Anwälte des Verbraucherschutzes. Darunter - ich sage es ganz bewußt - sind nicht wenige, die mich in der Vergangenheit in Fragen des gesundheitlichen Verbraucherschutzes eher gehindert und gebremst haben. Ich bin freudig überrascht, daß wir in Deutschland jetzt so viele Verbraucherschützer haben wie nie zuvor, auch solche, die mich in der Vergangenheit behindert haben. Dieser Rolle wird aber nur der tatsächlich gerecht, der von Verbraucherschutz nicht nur redet, sondern Worten auch Taten folgen läßt. Ich hoffe sehr, daß sich die Zahl der theoretischen Verbraucherschützer - ich sage dies ganz bewußt - in den nächsten Tagen nicht von der Zahl der praktischen Verbraucherschützer unterscheidet. Wir haben jetzt folgende Situation: Die Bundesländer fordern die Bundesregierung vehement auf, sich über das zwingende Gemeinschaftsrecht hinwegzusetzen und dafür auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig hat die Europäische Kommission heute vormittag die Bundesregierung schriftlich aufgefordert, ({31}) alles dafür zu tun, daß das Gemeinschaftsrecht nicht unterlaufen wird. Wörtlich heißt es in einem Schreiben der Europäischen Kommission von heute morgen - und das sollte im Deutschen Bundestag jeder wissen -: Die Kommission ist sich bewußt, daß die Bundesregierung auf ihrer Ebene alle notwendigen Schritte unternommen hat, um sich gemeinschaftskonform zu verhalten. Die Bundesregierung ist jedoch gegenüber der EU auch für das gemeinschaftskonforme Verhalten der einzelnen Bundesländer verantwortlich. ({32}) Wenn die Bundesregierung das gemeinschaftskonforme Verhalten nicht garantiert, sei die EU-Kommission gezwungen, in einem Eilverfahren den Europäischen Gerichtshof anzurufen, ({33}) um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in einem beschleunigten Verfahren zu gewährleisten. In dieser Situation bin ich nun: Die Bundesländer fordern mich auf, vor Gericht gegen die Europäische Kommission vorzugehen, und die Europäische Kommission fordert mich auf, gegen die Bundesländer vorzugehen, notfalls auch über Gericht. Das ist der Zielkonflikt, in dem ich stehe. Im übrigen hat die Europäische Kommission heute vormittag noch einmal den einstimmigen Beschluß des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses bestätigt. Ich werde die Bundesregierung jetzt umgehend mit diesem tiefgreifenden Konflikt, der sich seit heute mittag stellt, erneut befassen und kurzfristig - ich betone: kurzfristig ({34}) eine Entscheidung herbeiführen. Ich werde mich bei meinen Vorschlägen, wie in der Vergangenheit auch, an einem optimalen Verbraucherschutz in der Bundesrepublik Deutschland orientieren. ({35}) Meine Damen und Herren, ich erlebe solche Kampagnen und Aktionen nicht zum erstenmal. Ich orientiere mich deshalb auch in dieser Auseinandersetzung an einer alten Lebensweisheit: So hübsch die Anpassung an den Geist der Zeit auch ist, die Freuden der Aufrichtigkeit sind größer und haltbarer. Ich bedanke mich. ({36})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es hat sich das Mitglied des Bundesrates, die Ministerin für Umwelt und Forsten des Landes Rheinland-Pfalz, Frau Klaudia Martini, zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort. Staatsministerin Klaudia Martini ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage lautet: Wie gefährlich ist Rindfleisch aus Großbritannien für die Menschen? Die Antwort lautet: Niemand weiß es ganz genau, auch die Wissenschaft nicht. Der BSE-Erreger ist nicht bekannt, die Übertragungswege der Krankheit liegen noch weitgehend im dunklen. Eines ist allerdings sicher: Es gibt ein Risiko für den Menschen. Und: Würde aus dem Risiko Realität, dann bedeutete dies eine Katastrophe. Verantwortliche Politik kann hier nur heißen: Keine Experimente mit der Gesundheit unserer Bevölkerung! ({1}) ({2}) Ich weiß mich mit dieser Aussage in prominenter Runde. So hat Bundesgesundheitsminister Seehofer am 21. April 1994 vor diesem Hohen Hause folgendes ausgeführt - ich darf mit Genehmigung des Präsidenten zitieren -: Wie groß ist der potentielle Schaden, wenn denn die Übertragbarkeit tatsächlich gegeben sein sollte? ... Wer dieses Risiko eingehen will, dem sage ich in aller Deutlichkeit: Das wäre ein nicht zu verantwortendes Experiment am Menschen. So Herr Seehofer vor weniger als einem Jahr. ({3}) Staatsministerin Klaudia Martini ({4}) Meine Damen und Herren, verantwortliche Politik heißt deshalb auch: Kein britisches Rindfleisch, auch nicht über Drittländer, in die Bundesrepublik Deutschland! ({5}) Die Bundesregierung wird mit ihrem Verhalten dieser Verantwortung nicht gerecht. Sie versteckt sich hinter formalen Argumenten aus Brüssel, anstatt dort, in Brüssel, für einen vorbeugenden Gesundheits- und Verbraucherschutz zu kämpfen. ({6}) Meine Damen und Herren, es besteht unter allen Wissenschaftlern Übereinstimmung darüber, daß die orale Übertragung vom Schaf auf das Rind mit all ihren verheerenden Folgen nicht vorhersehbar war und deswegen völlig überraschend kam. Es besteht Einigkeit auch darüber, daß man nicht weiß und deshalb nicht ausschließen kann und daß die Vermutung naheliegt, daß der Erreger nun auch in der Lage sei, die Barriere zwischen Rind und Mensch zu überspringen. Ferner besteht völlige Einmütigkeit darin, daß man nicht weiß, was der Erreger ist und wie er beschaffen ist. Es ist heute nicht zu bezweifeln, daß der weitaus größte Teil der BSE-Fälle durch die Verfütterung von Tiermehl verursacht wurde, und es ist ebenfalls nicht zu bezweifeln, daß auch andere Übertragungswege, z. B. die vom Muttertier auf das Kalb, möglich sind. Es ist also eine Tatsache, daß der Erreger schon einmal seine Eigenschaften verändert hat und daß er auch auf andere Säugetierfamilien übertragen werden kann. So ist die Übertragung auf Katzen, Antilopen, Affen, Hamster u. ä. bereits erfolgt. ({7}) Auch das müßte dem Bundesgesundheitsminister klar sein, denn er wies auch darauf bereits im April 1994 hin. Es steht ebenfalls fest, daß die Erreger, die beim Menschen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit verursachen, und die, die den Rinderwahnsinn verursachen, ähnlich sind und daß die Erkrankung bei Tier und Mensch ähnlich abläuft. ({8}) Weil wir dies alles wissen und weil der Wissenschaft weitere notwendige Kenntnisse noch nicht vorliegen, genau aus diesem Grund ist Handlungsbedarf der Politik gegeben. ({9}) Wir können nicht bis zum Ende des Jahrzehnts abwarten, in der Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm kommen, wie zu befürchten ist. Deshalb sind nach wie vor strengste und nicht gelockerte Vorsorgemaßnahmen zum Schutz vor BSE erforderlich. Denn die möglicherweise erst nach Jahren auftretenden schwerwiegenden Folgen müssen wir jetzt, frühzeitig, ausschließen. ({10}) Wir müssen also in der Politik eine Güterabwägung vornehmen, und diese Güterabwägung kann nur zugunsten des vorbeugenden Verbraucher- und Gesundheitsschutzes ausfallen. ({11}) Dies war die Auffassung der Bundesratmehrheit; deshalb hat der Bundesrat mehrheitlich so entschieden. Mein Appell an Sie, Herr Minister Seehofer, und an die Bundesregierung lautet: Nehmen Sie doch bitte die Ergebnisse Ihres eigenen internationalen Kolloquiums ernst, das das frühere Bundesgesundheitsamt 1993 veranstaltet hat! Das Bundesgesundheitsamt hat in dem Bericht vom 7. Dezember 1993 gefordert, mit allen verfügbaren Mitteln zu verhindem, daß Tiermehl, lebende Rinder und Rindfleisch aus Ländern mit endemischer BSE exportiert werden. Warum tun Sie dies nicht? Warum gehen Sie diesen Appellen nicht nach, ({12}) zumal das Nachfolgeinstitut und maßgebliche Wissenschaftler in diesem Nachfolgeinstitut diese Auffassung auch heute noch aufrechterhalten? Halten Sie, Herr Minister Seehofer, diese Beurteilung des Symposiums eventuell für eine Fehleinschätzung der Behörden? Warum nutzen Sie nicht den Beschluß des Bundesrates mit der ganzen Kraft der Länderkammer im Rücken, um in Brüssel einen optimalen Gesundheits- und Verbraucherschutz zu erreichen? ({13}) Wir haben Sie nach Brüssel begleitet, obwohl dies nicht unsere Aufgabe ist. ({14}) Aber anstatt das vom Bundesrat beschlossene Importverbot, die immerhin vom Bundesrat beschlossene Verordnung vorzutragen und dafür zu kämpfen, haben Sie sich lediglich in Ihrer vorgefaßten Meinung vom Kommissar bestätigen lassen. ({15}) Dies verstehen die Menschen in unserem Lande nicht. Ich auch nicht. Wir wollen ein Europa für die Menschen. Dies bedeutet ein Europa, in dem guter Gesundheits- und Verbraucherschutz gewährleistet ist. ({16}) Staatsministerin Klaudia Martini ({17}) Wenn wir Menschen für Europa begeistern wollen, dann heißt das, daß wir ihnen Europa begreifbar machen müssen. Aber so begreifen die Menschen im Lande Europa nicht. Wenn es sich um einen jener Deals, um eine jener Paketlösungen oder, wie der vormalige Präsident der EG-Kommission es sagte, Erpressungen gehandelt haben sollte, dann sollte diese Bundesregierung erklären, warum ihr Bundesgesundheitsminister, der im Sommer letzten Jahres noch den Alleingang wagen wollte, heute das Gegenteil tut. ({18}) Wenn es bei der Entscheidung der Kommission im Dezember um einen Deal gegangen ist, dann haben wir alle miteinander einen Anspruch darauf, zu wissen, welchen Interessen unsere deutschen Gesundheits- und Verbraucherschutzmaßstäbe geopfert wurden. ({19})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hornung? Staatsministerin Klaudia Martini ({0}): Ich habe leider nicht so viel Zeit, Herr Präsident.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Zeit der Zwischenfrage wird nicht angerechnet. Staatsministerin Klaudia Martini ({0}): Ich möchte gerne weiterkommen. ({1}) Meine Damen und Herren, eines beim Bundesgesundheitsminister verstehe ich nicht. Eine Entschuldigung bei der Bevölkerung wegen Versäumnissen von Behörden sollte eigentlich eine Lehre sein. Ich kann Ihrer Rede aus dem letzten Jahr auch folgendes entnehmen, Herr Seehofer. Sie sagten: Wer mich überhaupt an der Entscheidung hindert ..., - damals meinten Sie noch den nationalen Alleingang der muß mir die Verantwortung für diesen Bereich nehmen. Was ist zwischenzeitlich passiert, frage ich Sie? ({2}) Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, alle Möglichkeiten zur Umsetzung des Bundesratsbeschlusses vom 20. Januar dieses Jahres zu nutzen. Wir fordern Sie auf, die Möglichkeit wahrzunehmen, die Kommissionsentscheidung vom 14. Dezember 1994, die den Schutz des Verbrauchers verringert, vor dem EuGH anzufechten. Dies geht allerdings nur noch bis zum 23. Februar 1995. Wir fordern Sie auch auf, die vom Bundesrat beschlossene Verordnung im Rahmen eines Notifizierungsverfahrens in Brüssel vorzulegen und, sollte sie nicht notifiziert werden, notfalls den Gang zum Europäischen Gerichtshof zu wagen und zu unternehmen. ({3}) Nutzen Sie die Chance, den Verbraucherschutz zumindest bis zur Vorlage des von der EG-Kommission selbst in Auftrag gegebenen Gutachtens, das Ende 1997 zu erwarten ist, sicherzustellen! ({4}) Genau deshalb sollten Sie es probieren. Unsere Rechtsbegutachtung hat auf einem sehr seriösen Fundament stattgefunden ({5}) und war sehr viel eindringlicher als Ihre ständig wiederholte Behauptung: Das geht nicht. - Das geht deshalb nicht, weil Sie es nicht wollen. ({6}) Es geht auch nicht an, daß Bundesratsentscheidungen, die der Bundesregierung nicht behagen, ständig durch neue Dringlichkeitsverordnungen sozusagen außer Kraft gesetzt und ausgehöhlt werden. ({7}) Das versteht niemand in diesem Lande. Sie sollten sich, Herr Minister Seehofer, auch nicht zum Fürsprecher der Interessen Großbritanniens machen. So ist z. B. der große Bereich der Tiermehlproduktion aus Großbritannien ein noch völlig ungeklärtes Feld. Wenn Sie hier den gegenteiligen Eindruck erwecken, so ist das falsch. Die SPD-geführten Bundesländer wissen die Verbraucherinnen und Verbraucher und die Produzenten und die Landwirte auf ihrer Seite. ({8}) Wir haben und hatten die Möglichkeit, über Genußtauglichkeitsbescheinigungen und Herkunftsnachweise eine Kontrolle und eine Ahndung im Rahmen der EU-Bestimmungen umzusetzen. Eine Regelungslücke hat und hätte nie bestanden. Dies wird nicht dadurch richtiger, daß Sie es wiederholen, Herr Seehofer. ({9}) Auch hatten wir in den Ländern Schlachtverbote ausgesprochen. Wir mußten diese Schlachtverbote zurücknehmen, weil uns die Bundesregierung durch ihre Verordnung das Mittel des Schlachtverbots aus der Hand geschlagen hat. Das ist die Wahrheit. ({10}) Staatsministerin Klaudia Martini ({11}) Mit Verbraucherpartnerschaften, freiwilligen Herkunfts- und Qualitätskontrollen und Verabredungen mit unserer deutschen Landwirtschaft, die hervorragendes Rindfleisch produziert, ({12}) stellen wir das Vertrauen in das Qualitätsprodukt Fleisch sicher. ({13}) Durch die Weigerung der Verbraucherinnen und Verbraucher und der Produzenten, britisches Rindfleisch anzubieten und zu kaufen, tun diese Kreise genau das Richtige. ({14}) Die Verbraucherinnen und Verbraucher und die Produzenten sorgen dafür, daß britisches Rindfleisch aus den Ladentheken verschwindet. Trotz Europäischer Gemeinschaft haben wir alle miteinander noch die Freiheit, das zu kaufen, was wir kaufen wollen. Wir wollen kein britisches Rindfleisch kaufen. ({15}) Belehrungen in Sachen Verbraucherschutz haben wir nicht nötig. Das zeigt auch der Rückgang der Exporte nach Deutschland. Verbraucherpartnerschaft statt verantwortungsloser Politik: Das ist unsere Antwort in den Ländern. ({16})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Kollegin Editha Limbach.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst habe ich eine kleine formale Bitte. In der Drucksache 13/403 ist auf der Seite 3 oben ein Satzteil nicht abgedruckt. Es muß dort zu Beginn heißen: „Die Umsetzung dieser nach aktuellem Wissenstand unter Verbrauchergesichtspunkten verantwortbaren Regelung ..." Ich darf das hier überreichen, damit das korrigiert werden kann. Vielen Dank. „Der Deutsche Bundestag teilt die Sorgen der Bevölkerung vor der Gefahr einer Übertragbarkeit des sogenannten Rinderwahnsinns auf den Menschen." So ist es, und so beginnt auch unser Antrag, der Antrag der CDU/CSU und der F.D.P., den wir heute zur Diskussion über die notwendigen Maßnahmen zum gesundheitlichen Verbraucherschutz eingebracht haben. Wir wissen, daß der Erreger der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie, kurz BSE genannt, nicht bekannt ist und eine Übertragung auf den Menschen nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Deshalb sind Maßnahmen zum gesundheitlichen Verbraucherschutz in der Tat erforderlich. Aber, die Sorge teilen darf natürlich nicht heißen, Ängste zu schüren und Panik zu machen. ({0}) - Na, das ist ja gut, daß Sie sich direkt betroffen gefühlt haben. Ich habe nämlich, verehrter Herr Kollege, noch nicht gesagt, daß die Opposition es macht - obwohl es so ist. ({1}) Es ist in der öffentlichen Debatte und leider auch von Ihnen geschehen. Ich halte das für unverantwortlich. Wenn man manche Verlautbarung, z. B. die SPD-Pressemitteilung 188 vom 8. Februar 1995, liest, dann merkt man ganz deutlich, jedenfalls wenn man die Hintergründe ein wenig kennt und Bescheid weiß: Es geht darum, um jeden Preis Stimmung zu machen: Wahlkampfgetöse für bevorstehende Landtagswahlen ohne Rücksicht auf Bürgerinnen und Bürger. ({2}) Wie anders als das Schüren von Ängsten oder als Wahlkampfgetöse soll man Schlagzeilen verstehen wie: „Rinderwahnsinns-Verordnung ist Wahnsinnsversuch an Menschen" oder „Die Verbraucherinnen werden auf diese Weise erneut einem ,Großversuch' ausgesetzt, der möglicherweise auf zynische Weise klären wird, ob denn nun die Rinderseuche BSE auf den Menschen übertragbar ist oder nicht! "

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gestatten Sie eine Zusatzfrage?

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ausnahmsweise folge ich dem Beispiel des Bundesrats und rede weiter. Tut mir leid, Herr Kollege Kirschner. ({0}) Mit solchen Schlagzeilen kann Panikstimmung geschürt und mit Unterstellungen Angstmache betrieben werden. Frau Martini, Sie haben in Ihrer Rede wieder Unterstellungen gehabt, und zwar nicht nur zur Angstmache, sondern auch so etwas Dubioses wie: Welcher Deal ist in Europa gelaufen; was hat er gemacht? Wenn Sie dazu konkrete Hinweise haben, dann auf den Tisch damit! ({1}) Hören Sie damit auf, die Regierung und uns mit Behauptungen zu verdächtigen, die nicht zutreffen! Ich halte das nicht für verantwortliches Handeln. ({2}) - Frau Blunck, auch für Sie gilt: Ich folge dem Beispiel Ihrer Rednerin. Es dient weder dem Schutz noch der Information der Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn man so verfährt. Man muß Sorgen ernst nehmen, man muß vor Gefährdung schützen, aber man muß auch wahrheitsgemäß sagen, was geht und was nicht geht, was droht und was nicht droht. ({3}) Wer ohne Vorurteile prüft - das sollten Sie vielleicht auch einmal tun, statt solche Zwischenrufe zu machen -, der wird feststellen, daß das lauthals geforderte Totalimportverbot für Rindfleisch aus Großbritannien eindeutig EU-widrig wäre. Auch der Bundesrat weiß ganz genau: Wenn notifiziert wird, kann zunächst einmal gar nichts passieren, weil es da Fristen gibt. Schon wegen der im Verfahren entstehenden Regelungslücke wäre das Ganze im Sinne des gesundheitlichen Verbraucherschutzes unverantwortlich. ({4}) Dank der Dringlichkeitsverordnung von Bundesgesundheitsminister Seehofer bleibt das grundsätzliche Importverbot - jedenfalls soweit gesundheitsgefährdendes Rindfleisch betroffen ist - bestehen; allerdings - das ist wahr - mit gelockerten und mehr Ausnahmen als vorher, die allerdings auf einer Neubewertung der EG-Kommission auf Grund einer einstimmigen Feststellung des wissenschaftlichen Veterinärausschusses getroffen wurden. Es ist ja wirklich bemerkenswert: In unseren Partnerländern in der Europäischen Union werden diese Erkenntnisse offenbar als so wissenschaftlich gesichert gesehen, daß man darauf seine Verbraucherschutzmaßnahmen gründet. Wir haben sogar noch engere Maßnahmen. ({5}) Ich kann nicht unterstellen, daß sich nur in Deutschland die Menschen Sorgen um ihre Gesundheit machen und daß es nur in Deutschland Politiker und Regierungen geben sollte, die sich darüber Gedanken machen, sondern ich vermute, daß den Menschen, den Abgeordneten und den Regierungen dort die Gesundheit genauso wichtig ist wie uns in Deutschland. ({6}) Ich frage die Landesminister - es sind ja nicht allzuviele da; aber die, die da sind - und natürlich auch Sie von der Opposition: Streben Sie wirklich in der EU jetzt einen rechtsfreien Raum an, in dem ungehindert Fleisch von britischen Rindern ohne Einschränkung importiert werden könnte? ({7}) Der Minister hat ja ausgeführt, was da alles passieren kann. Ist es dann nicht besser, ein Verbot mit Ausnahmen zu beschließen, die auf den vorliegenden Erkenntnissen des wissenschaftlichen Veterinärausschusses beruhen? Übrigens - nur einmal protokollarisch -: Dieser Ausschuß ist ja nicht irgendwer, sondern das sind wirklich Sachverständige, und diesem Ausschuß gehören auch fünf renommierte deutsche Sachverständige an. Ich frage auch die SPD-geführten Landesregierungen: Ist Ihnen gar nicht aufgefallen, daß Sie mit Ihrer Forderung nach einem Importverbot europäisches Recht verletzen wollen? ({8}) Noch im letzten Sommer war doch auch der Bundesrat anderer Auffassung. Ein schon im Sommer 1994 von Rheinland-Pfalz gefordertes totales Importverbot ist doch nicht aus Jux und Tollerei im Gesundheitsausschuß des Bundesrates gescheitert. Das Ergebnis 2:10:4 war ja deutlich. Damals verwies die Mehrheit der Länder selber darauf, daß die zu erwartenden europarechtlichen Probleme ihrer Entscheidung zugrunde lagen. Gibt es diese europäischen rechtlichen Probleme auf einmal nicht mehr? Warum? Weil Landtagswahlen vor der Tür stehen? Neue rechtliche und wissenschaftliche Erkenntnisse liegen gar nicht vor. Haben Sie sich nicht für eine stärkere Beteiligung der Bundesländer sehr stark gemacht, als wir im Sonderausschuß für die Ratifizierung von Maastricht verhandelten und dafür gestritten haben? Wo ist die europäische Verantwortung jetzt? ({9}) Können Sie mir die Frage beantworten - nein, beantworten Sie bitte den Bürgerinnen und Bürgern die Frage -, ({10}) welchen Nutzen für die Verbraucherinnen und Verbraucher ein gefordertes Importverbot hat, von dem Sie selber bereits bei Antragstellung wissen, daß es im Endergebnis nicht durchsetzbar ist und auch nicht zu mehr, sondern eher zu weniger Verbraucherschutz führt? ({11}) Meine Damen und Herren, wir alle hier wissen, daß BSE eine Rinderseuche ist, die tödlich verläuft. ({12}) Wir wissen auch, daß weiter nach Ursachen, Übertragbarkeit, Infektion des Menschen durch den Genuß von Rindfleisch usw. geforscht wird. ({13}) Wir haben auch selber im vergangenen Jahr die entsprechenden Forschungsvorhaben und ihre finanzielle Förderung durch die Regierung gefordert, und wir haben das begrüßt. Dennoch sind Ungewißheiten vorhanden, und wir müssen natürlich auch von der Annahme ausgehen, daß nichts ausgeschlossen werden kann. Deshalb müssen wir auch hinsichtlich des vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes unsere besondere Verantwortung wahrnehmen. Deshalb haben wir die Regierung im vergangenen Jahr unterstützt, auch notfalls etwas alleine zu machen, weil es nämlich gemeinschaftliche Regelungen wie jetzt noch nicht gab. ({14}) Die europaweite Regelung ist doch sehr viel besser, weil nämlich nationale Regelungen alleine weniger Schutz bedeuten, als wenn alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen handeln. ({15}) Ich meine - das ist ja auch soeben noch einmal deutlich geworden -: Es ist wirklich sinnvoll, diese Regelungen europaweit zu suchen, weil sie dem Verbraucherschutz besser dienen, und wenn man noch zusätzliche deutsche Einschränkungen dazunimmt, dann ist das wirklich das, was man heute tun kann. Ich will auch noch einmal in Erinnerung rufen, was alles schon geschehen ist. Die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer wird ja einhellig als eine der Ursachen und als Hauptursache, möglicherweise als die alleinige Ursache für BSE bei Rindern gesehen. Wir haben ein Verbot der Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer. Wir haben ein Verbot der Verwendung bestimmter Rinderorgane bei der Herstellung von Säuglings- und Kleinkindernahrung. Wir haben die Empfehlungen zur Durchsetzung höherer Qualitätsstandards bei der Herstellung von Arzneimitteln. Wir haben die Empfehlungen zur Durchsetzung höherer Qualitätsstandards bei der Herstellung von Kosmetika. Wir haben die Meldepflicht bei der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit eingeführt, weil das die vergleichbare Erkrankung beim Menschen ist. Wir haben - auch das ist wichtig - die Finanzmittel für die Erforschung der Spongiformen Enzephalopathien verdreifacht. Es ist ja nicht so, als würde hier gar nichts getan. Sie tun gerade so, als herrsche hier Tabula rasa. Wir unterschätzen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht. Wir wissen nämlich sehr wohl, daß diese hinsichtlich ihres Kaufverhaltens durchaus in der Lage sind und das auch wollen, selbstverantwortete Entscheidungen zu treffen. Deshalb begrüßen wir auch, wenn Erzeuger, Fleischerhandwerk und Handel verstärkt durch eindeutige und lückenlose Herkunftsnachweise die notwendigen Entscheidungshilfen geben. Die Forderung der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, die Herkunft von Fleisch und Fleischprodukten genau zu kennzeichnen und die Vermarktungswege vom Erzeuger bis zum Verbraucher zu kontrollieren, stößt bei uns auf offene Ohren. Denn so könnte auch Vertrauen wieder geschaffen oder, wo es noch vorhanden ist, gestärkt werden. Dazu trägt allerdings die Beschimpfung der dort Tätigen als geldschwere Lobby-Interessenten oder so ähnlich - wie es in Ihrer Pressemeldung heißt - nicht besonders bei. Wir von der CDU begrüßen, daß zum Schutz gegen BSE eine einheitliche europäische Regelung erreicht wurde, auch wenn sie nicht in allen Punkten unseren Vorstellungen entspricht. Das ist häufig so, wenn man mit mehreren Partnern gemeinsam eine richtige Lösung finden muß. Deshalb fordern wir auch die Bundesregierung in unserem Antrag auf, alle EU- rechtlich zulässigen Regelungen zur Gesundheitsvorsorge auszuschöpfen und auf europäischer Ebene den Verbraucherschutz weiter voranzutreiben. Ich meine, da haben die beiden Bundesminister Seehofer und Borchert auch schon eine ganze Menge erreicht. ({16}) Dennoch kann und wird es uns niemals gelingen, alle denkbaren negativen Auswirkungen auszuschließen. Eine hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben. Solange Menschen forschen, werden sie neue Erkenntnisse gewinnen und trotzdem immer noch Lücken in ihren Kenntnissen haben. Allerdings muß dann der vorsorgende gesundheitliche Verbraucherschutz ständig aktualisiert werden, natürlich den Erkenntnissen folgend. Wenn die Erkenntnisse sagen, daß ich etwas lockern kann, dann darf ich auch lockern. Wenn die Erkenntnisse sagen, daß ich verschärfen muß, dann muß ich auch verschärfen. ({17}) Wer glaubt, die absolute Sicherheit fordern oder gar versprechen zu können - und das tun ja manche von Ihnen -, der verlangt schlicht und einfach etwas, was Menschen generell nicht leisten können; wir nicht, Sie nicht und auch sonst keiner. Der Gesundheitsminister hat im konkreten Fall den juristisch gangbaren Weg gewählt. Er hat nicht zugelassen, daß ein rechtsfreier Raum entsteht. Er hat die hier und heute als notwendig erkannten und dem Gesundheitsschutz dienenden Regelungen getroffen. Wir unterstützen das, und wir werden auch weiterhin für den vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutz alle Anstrengungen unternehmen. Vielen Dank. ({18})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Liselott Blunck das Wort.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Limbach, die falsche Einlassung, daß ein rechtsfreier Raum entstehen würde, wird durch ständige Wiederholung nicht richtiger. Das möchte ich noch einmal deutlich sa gen. ({0}) Zweiter Punkt: Der BSE-Verdacht ist nicht ausgeräumt. Er ist nur nicht mehr genügend begründet. Sie können auch den Fachausschuß in seiner Gänze nicht immer für Ihre falsche Behauptung in Anspruch nehmen, weil Herr Professor Dr. Diringer wirklich versucht hat, in Fußnoten etwas anderes in den Fachausschußbericht hineinzubekommen. Auch dies ist so. ({1}) Das letzte, was ich anmerken möchte: Was wäre während der deutschen Ratspräsidentschaft im Sinne der Landwirtschaft, der Bauern, um das noch konkreter zu sagen: der deutschen Nahrungsmittelproduktion, und der Verbraucher wichtiger gewesen, als eine richtige Kennzeichnung durchzusetzen? Da hat der Minister, da hat die Bundesregierung wirklich geschlurrt. Das wäre eine entscheidende Möglichkeit gewesen, damit wenigstens im Bereich Kennzeichnung der Markt funktioniert hätte und Verbraucher sich hätten entscheiden können. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Limbach zu einer kurzen Replik? ({0}) Dann erteile ich der Kollegin Ulrike Höfken-Deipenbrock das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Seehofer! Wir hatten schon fast die Hoffnung, daß etwas Glanz in die Regierungsbänke kommt, daß da jemand wäre, der zu dem steht, was er sagt, der tatsächlich die Interessen der Verbraucher und Verbraucherinnen vertritt. Aber jetzt ist da jemand, der sich bei dem Rennen geschlagen gibt, bevor er überhaupt angefangen hat zu lauf en. ({0}) Ein Veterinärausschuß des Europäischen Parlaments übernimmt die Politik. ({1}) Dafür hatten die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes aber nicht gewählt. Wir haben in der Frage Rinderwahnsinn und Schutz der Verbraucher und Verbraucherinnen die gleiche Haltung wie die Fraktion der SPD. Es hat etwas länger gedauert, Frau Martini, bis Sie die Vorschläge, die wir auch schon in Rheinland-Pfalz gemacht haben, im Bundesrat umgesetzt haben. Ich halte es für notwendig, die Argumentationsreihe noch einmal darzustellen, weil das Ganze offensichtlich noch immer nicht deutlich geworden ist, gerade in bezug auf die Sachlichkeit, die Sie gefordert haben. Die Beschlüsse zur Lockerung der Exportbestimmungen basieren auf einer einzigen Beobachtung, nämlich, daß die Zahl der Krankheitsfälle zurückgegangen ist und daß die Symptome nachgelassen haben, aber nur die Symptome. Das sagt noch nichts über die Anzahl infektiöser Tiere und die Menge von infektiösem Material aus. Neue Erkenntnisse, die für eine Entwarnung Anlaß geben könnten, gibt es bisher nicht. Vieles ist unbekannt; das ist erwähnt worden. Aber ich will auf das zu sprechen kommen, was bekannt ist und genug Anlaß zur Sorge gibt; denn bedenkliche Hinweise gibt es in Massen. Einigkeit besteht darin, daß BSE, die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, Scrapie, die Schafkrankheit, in eine Kategorie zu fassen sind. Das heißt, daß es sich um ähnliche Erreger handelt. Diese Erreger sind wahrscheinlich keine Viren und Bakterien, denen man mit den üblichen Maßnahmen, die hier erwähnt worden sind, von seiten der Bundesregierung standhalten könnte, sondern es wird sich um einen Erreger, um ein sogenanntes Prion, ein körpereigenes Eiweiß, handeln, das sich anders verhält. Daher sind andere Maßnahmen, vor allem vorbeugende, unbedingt notwendig. Jahrhundertelang waren nur die Schafe von der sogenannten Scrapie betroffen, bis 1981 in dem schafreichen Land England die Art und Weise der Kadaververwertung geändert wurde, d. h. das Hitzeverfahren anstelle des Lösungsmittelverfahrens eingeführt wurde und der Erreger der Scrapie über die toten Schafe in die Futtermittelkette gelangen konnte. Die Massentierhaltung und die Massenproduktion von Milch und Rindfleisch hat dazu geführt, daß aus den Vegetariern Fleischfresser wurden und so die Tiere verrückt gemacht wurden. Hiermit durchbrach der Erreger die Artgrenze in großem Ausmaß. Als 1988 die Tiermehlverfütterung an Wiederkäuer verboten wurde, waren die ersten verendeten Tiere schon verfüttert worden. Da waren auch schon große Mengen infizierten Fleisches und Mehles in andere Länder gelangt. In 14 Staaten, u. a. USA, Argentinien, Israel und Griechenland, gelangten diese infizierten Futtermittel. Bei Versuchen sind bereits 21 Tierarten erfolgreich infiziert worden. Das Futter wurde, wie gesagt, auch an andere Tierarten, wie z. B. Schweine, massenhaft verfüttert. Dabei ist die Rindervariante dieses Erregers offensichtlich besser in der Lage, die Artgrenze zu überschreiten, und damit als noch gefährlicher einzuschätzen, wie Frau Martini schon gesagt hat. Auch die 48 Hauskatzen, die in Großbritannien nachweislich auf Grund des BSE-Erregers verendeten, weisen darauf hin, daß es durchaus keine Begrenzung auf die Rinder gibt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, der Kollege Hornung würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, da Sie aus Rheinland-Pfalz kommen und sich sehr wohl mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, auch was die Zahlen anlangt: Haben Sie von Ihrer Ministerin inzwischen erfahren können, wieviel Rinder in den vergangenen fünf, sechs Jahren aus Großbritannien in Ihr Land verbracht worden sind und was mittlerweile mit diesen Rindern geschehen ist bzw. was die zuständige Ministerin zu tun gedenkt?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hornung, ich weiß das. Wir haben von der Ministerin verlangt, daß es eine Entschädigung für diese Rinder geben soll und diese dann entsprechend zurückgezogen werden. Das wird nach dieser Diskussion sicherlich der Fall sein. Zum Thema Übertragung auf die Nachkommen: Die Scrapie „vererbt" sich. Auch nach dem Fütterungsverbot wurden 7 000 Rinder vom Wahnsinn befallen. Sie können es sich nicht so einfach machen und sagen: Das liegt nur daran, daß es noch Bestände an infiziertem Futter gab, die verfüttert wurden. Es waren auch etwa 150 Kühe dabei, die sozusagen bereits krank geboren waren. Es läßt sich also nicht so einfach auf diesem Wege erklären. Die Mastrinder werden - das wissen Sie alle - kaum drei Jahre alt. Das ist zuwenig Zeit für den Ausbruch der Krankheit. Die Inkubationszeit beträgt bis zu 15 Jahren. Nur bei Kühen kann also die Krankheit ausbrechen. Es ist ausgesprochen unseriös und unsachlich, wenn gesagt wird, daß keine Gefahr mehr für den Verbraucher bestehe. Die Tiere, die jünger als drei Jahre sind, können infiziert sein. ({0}) Sie können auch infiziert sein, wenn sie jünger als sechs Monate sind, Herr Carstensen. Diese Gefahr einer Infektion nehmen die EU, die Bundesregierung sowie die Minister Seehofer und Borchert ganz bewußt in Kauf. ({1}) Ich komme zum Thema Schutzmaßnahmen. Sie sagen: Nur schieres Muskelfleisch wird in die Bundesrepublik verbracht, von Kälbern, die jünger als sechs Monate sind. Auch da gibt es die Infektionsgefahr. Zum anderen ist keineswegs klar, daß nur Hirn, Innereien oder Nervenstränge die Krankheit übertragen können. Man hat bereits mit mehr als 20 Gewebeteilen Infektionen herbeigeführt, in einigen Fällen sogar mit Fäkalien. Es handelt sich also bei dieser Aussage um eine ganz durchsichtige Maßnahme, um die Verbraucherinnen und Verbraucher in Sicherheit zu wiegen. Im Grunde handelt es sich um eine Ablenkungstaktik, die absolut unseriös ist. Ganz lächerlich wird es bei der Vorschrift, daß die sichtbaren Nervenstränge zu entfernen sind. Wem wollen Sie klarmachen, daß die unsichtbaren Nervenstränge nicht infektiös sind? ({2}) Sie wissen auch ganz genau, daß ein Schlachthof kein Operationssaal ist. Infektionen werden von dem einen Schlachtstück auf das andere übertragen. Sie können nicht vermieden werden. Ein Schlachthof ist ein Wirtschaftsbetrieb. Er kann keinen chirurgischen Aufwand betreiben. Das ist völlig unmöglich. Letztendlich werden durch diese angeblichen Schutzmaßnahmen, die sich durch die faktische Ausrichtung selbst ad absurdum führen, die Menschen wider Willen zu Versuchskaninchen gemacht. Nach allen bisherigen Erkenntnissen ist nicht auszuschließen - besonders dann, wenn die Prion-Theorie stimmt -, daß es zu umfassenden Krankheitswellen kommen kann. Diese sind erst in einigen Jahre zu erwarten. Es ist nicht auszuschließen, daß wir in eine aufsteigende Krankheitsspirale geraten, in eine Eskalation, wenn wir nicht konsequent alle Infektionsquellen rigoros vermeiden und vernichten, bevor es zu spät ist. ({3}) Dann hätten wir tatsächlich den gleichen Fall wie beim HIV. Klare Importbestimmungen für britisches Rindfleisch sind nicht nur nötig, um die Gesundheit der Menschen zu schützen, sondern vor allem auch die heimische Fleischindustrie und die Bauern. Die Verbraucher müssen ja berechtigte Zweifel an der Unbedenklichkeit des angebotenen Fleisches haben, auch wenn es nur um 1 % geht. Es handelt sich übrigens nur um den Direktfleischimport. Genau das hält die Verbraucherinnen und Verbraucher davon ab, Fleisch zu kaufen. Sie werden dazu gebracht, überhaupt die Finger vom Fleisch zu lassen. Diese Schaffung von Unsicherheit ist ein marktschädigendes Vorgehen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, der Kollege Carstensen würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höfken, bei Ihrer Argumentationskette, die Sie aufgebaut haben, bei der Sie auch auf die Scrapie bei den Schafen abgehoben haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir einen plausiblen Grund sagen, warum Sie dann nicht so konsequent sind, den Importstopp für Schafe zu fordern? Wie erklären Sie es, daß über die befallenen Schafe bei uns vorher nie diskutiert wurde?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist richtig, daß die Gefahr sehr groß ist, daß sowohl Schafe als auch Schweine - Schweine noch eher als Schafe -, die mit den Tiermehlen gefüttert worden sind, diese Infektionen in sich tragen. Nur, wir gehen davon aus, daß die Erreger des Rinderwahnsinns auf Grund der bisherigen Erkenntnisse als virulenter betrachtet werden müssen und daß da der mindeste Verbraucherschutz ansetzen muß. Sie haben gesagt, Herr Minister Seehofer, Sie wollen die Verantwortung übernehmen. Dann erwarte ich aber auch, daß Sie hier die Hand zum Schwur erheben, daß Sie die Haftung für gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden ganz persönlich übernehmen wollen. Denn das kann nicht wieder vergesellschaftet werden, wenn es einmal schiefgeht. Zum Antrag der CDU ist zu sagen, daß er eine schwache Begründung hat und sich nur auf diese eine Beobachtung der sinkenden Zahl der Ausbrüche der Krankheit bezieht. Und dann immer dieser merkwürdige Vorwurf der Panikmache, der eine Verleumdung der Verbraucherinnen und Verbraucher beinhaltet: Als ob es nur die Deutschen wären, die insgesamt verrückt sind! Ich bin mit dem Spruch aufgewachsen: Auch wenn andere in den Rhein springen, sollte ich nicht hinterherspringen. Ich denke, diese rheinische Weisheit könnte man wirklich zum Allgemeinwissen erheben. Wir fordern die Bundesregierung auf, bis zur Klärung der Gefahren des Rinderwahnsinns die neuen Beschlüsse des Bundesrates umzusetzen und zur Sicherstellung endlich klare Herkunftsbezeichnungen vorzuschreiben. Die Begründung hat Minister Seehofer selber geliefert. An die SPD gewandt, möchte ich nur noch sagen: Ich weiß, in unserem Antrag gefällt Ihnen der Begriff „Notverordnung" nicht. Aber es kann im Verfahren der EU durchaus Lücken geben. „Notverordnung" ist vielleicht nicht der richtige Begriff, aber „Übergangsregelung" könnte schon angemessen sein. Ich finde es sehr gut, daß die SPD-Länder eigene Maßnahmen ergreifen. Aber wir wollen auch nicht, daß sich die in den CDU-Ländern lebenden Verbraucherinnen und Verbraucher nicht sicher fühlen. Von daher brauchen wir eine Regelung auf Bundesebene. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Ulrich Heinrich. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesgesundheitsminister hat am 4. Februar 1995 die neue Dringlichkeitsverordnung zur Sicherung des Verbraucherschutzes bei Rindfleischimporten vor BSE verkündet. Sie ist am 5. Februar 1995 in Kraft getreten. Da wir Liberalen die Sorgen und Ängste der Bevölkerung vor Gefahren der Übertragbarkeit des sogenannten Rinderwahnsinns auf den Menschen teilen, erfordert die Erklärung der Bundesregierung jetzt auch einige kritische Anmerkungen. Beginnen möchte ich mit den Ausführungen zum Verbraucher- und Gesundheitsschutz: Wir bewegen uns zur Zeit auf gefährlichem gesundheitspolitischen Terrain. Solange notwendige Gesetze im Gesundheitsbereich und bei der Seuchenhygiene gerade zur Abwehr noch weitestgehend unbekannter Krankheiten fehlen, ist auch im Falle des sogenannten Rinderwahnsinns ein effektiver Gesundheitsschutz schwierig. Ein zusätzliches Problem entsteht, wenn der deutsche Gesetzgeber sanktioniertes europäisches Recht umsetzen muß und somit nationaler Spielraum eingeengt wird. Es gibt allerdings Bereiche, wo die europäische Gesetzgebung strengere nationale Regelungen zuläßt, z. B. im Umweltbereich. Wo wir es aber mit Warenströmen zu tun haben, ist diese Möglichkeit nicht gegeben. Die große Aufmerksamkeit, die das Thema BSE in der Öffentlichkeit erfährt - die Medien berichten nahezu täglich -, wurde auch durch das konsequente Vorgehen zur Bekämpfung der Seuche im vergangenen Jahr hervorgerufen. Allerdings hat der von Ihnen, Herr Bundesminister Seehofer, angestellte Vergleich von BSE mit der Immunschwächekrankheit Aids die Diskussion in der öffentlichen Beachtung zwar ganz, ganz schnell nach oben befördert, ({0}) gleichzeitig wurde aber eine sachliche Diskussion dadurch erschwert und emotionalisiert. ({1}) In der BSE-Diskussion im letzten Jahr habe ich zu denjenigen gehört, die vor nationalen Alleingängen gewarnt haben, weil ich der Meinung war, daß das aus rechtlichen Gründen, die im Gemeinschaftsrecht verankert sind, nicht möglich ist. Außerdem habe ich auch immer besonders vor einem übertriebenen Muskelspiel gewarnt. In beiden Punkten sehe ich mich heute bestätigt. ({2}) Der Gesundheitsschutz des Verbrauchers genießt meines Erachtens in dieser Angelegenheit oberste Priorität. Daher ist es mir wichtig, hier klar und deutlich festzustellen, daß wir von den im Wissenschaftlichen Veterinärausschuß der EU damit befaßten Wissenschaftlern ein einstimmiges und damit auch eindeutiges Votum für die jetzt in Kraft gesetzte Verordnung bekommen haben. ({3}) Diesem Gremium gehörten auch fünf Wissenschaftler aus der Bundesrepublik Deutschland an. Bei Berücksichtigung dieser eindeutigen Entscheidung im Wissenschaftlichen Veterinärausschuß der EU ist es für Verbraucher nicht nachvollziehbar, wenn diese Wissenschaftler dann aber keine hieb- und stichfesten Antworten auf so drängende Fragen wie die nach der Vererbbarkeit, Übertragbarkeit auf Menschen und Inkubationszeit von BSE haben. Das ist für mich der entscheidende Punkt. ({4}) Somit ist festzustellen, daß ein Restrisiko für die Verbraucher nicht auszuschließen ist. Um eben dieses Restrisiko geht es in der heutigen Debatte. Ich komme zum zweiten Punkt meiner Rede. Juristisch gilt es noch einmal festzuhalten: Der Bundesgesundheitsminister hat richtig gehandelt. Alles andere hätte gegen geltendes Recht verstoßen. Ich wiederhole noch einmal: Unser Gemeinschaftsrecht läßt in dieser Frage keinen nationalen Alleingang zu, auch wenn dies von einigen Länderministern anders eingeschätzt wurde. Selbst wenn wir eine Klage riskiert hätten, wenn wir verklagt worden wären, selbst wenn wir den rechtsfreien Raum unterschiedlich bewerten, frage ich mich: Was hätten wir dann gehabt? Wir hätten auf jeden Fall zum Schluß ohne jegliches Ergebnis dagestanden. Es hätte keine Verlängerung der alten Regelung gegeben, sondern es wäre eine schlechtere Regelung gewesen. Diese rechtlich sehr komplizierte Vorgehensweise ist dem Verbraucher gerade wegen der emotionsgeladenen Atmosphäre weder plausibel zu machen noch erscheint sie ausreichend. Wie kann es sein, daß ein wissenschaftliches Gremium wie der Wissenschaftliche Veterinärausschuß der EU sich über die Sorgen der Bevölkerung und damit über das Restrisiko so einfach hinwegsetzt? ({5}) Dann kommt die nächste Frage: Können denn die EU-Politiker in diesem Punkt die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung übernehmen? Hier müssen wir stärker auf folgendes hinweisen. Sie haben das Primat der Politik hier wirklich ganz stark mißachtet und nicht entsprechend genutzt. ({6}) Von den Fachleuten ist nachher niemand mehr zu finden, wenn es darum geht, gesundheitliche Schäden zu verantworten. ({7}) In diesem Fall war die Politik auf EU-Ebene ganz eindeutig zu wissenschaftsgläubig und hat sich nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert. ({8}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang klipp und klar zu sagen: Wir Liberalen wollen erreichen, daß kein Rindfleisch und keine lebenden Tiere aus Großbritannien exportiert und nach Deutschland verbracht werden, bis diese gesundheitspolitischen Fragen vollständig geklärt sind. I lier ist in allererster Linie die EU zum Handeln aufgefordert. ({9}) Welche Konsequenzen entstehen hier für die Landwirtschaft? Aus dieser Unsicherheit heraus reagieren viele Verbraucher mit einer Änderung ihrer Verzehrgewohnheiten. Das heißt, sie kaufen schlichtweg kein Fleisch mehr. ({10}) Mittlerweile haben wir einen Rückgang des Verkaufs von Rindfleisch bis zu 20 % zu verkraften. Wegen der bereits erwähnten sehr emotionalisierten Stimmung wird auch immer weniger zwischen deutschem und britischem Rindfleisch unterschieden. ({11}) Die Qualität landwirtschaftlicher Produkte wird von der Öffentlichkeit pauschal in Frage gestellt, und dies trifft völlig unberechtigt insbesondere die deutsche Landwirtschaft. ({12}) Ich muß schon sagen, wer in der derzeitigen Einkommenssituation der Landwirte noch unkalkulierbare Entwicklungen der Märkte verkraften muß, der hört hier sehr aufmerksam zu, wie denn in der Europäischen Union mit solchen Entwicklungen umgegangen wird. ({13}) Ich appelliere an die Verbraucher, nicht weiter mit Kaufenthaltung zu reagieren. Die Verbraucher sollten sich für gekennzeichnetes und kontrolliertes Fleisch aus Deutschland entscheiden, damit jedes Gesundheitsrisiko ausgeschlossen wird. ({14}) Besonderer Wert muß darauf gelegt werden, daß die Landwirtschaft Markenfleischprogramme ins Leben gerufen hat, um deutsches Fleisch leicht erkennbar in den Läden zum Verkauf gelangen zu lassen und damit eine zusätzliche Sicherheit zu bieten. ({15}) Abschließend möchte ich noch die notwendigen Schritte zur Minimierung des Restrisikos aufzeigen. Ich erwarte in der Zukunft eine bessere nationale Abstimmung zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind zwei Verfassungsorgane. Wenn sie sich in so eminent wichtigen Fragen in dieser Art und Weise in Konfrontation begeben und zudem noch eine unsachliche Debatte führen - das sage ich hier ganz betont -, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Bevölkerung irritiert reagiert. ({16}) Ich halte hier eine Besserung für zwingend notwendig. Bei allen noch bestehenden Ungewißheiten hinsichtlich der Übertragbarkeit des Rinderwahnsinns auf den Menschen kann diese Dringlichkeitsverordnung natürlich nur eine Übergangslösung darstellen. Alle noch nicht abgeschlossenen Forschungsvorhaben sind möglichst schnell abzuschließen und genauestens auszuwerten. Hier - das muß man auch sagen - wäre es sinnvoll gewesen, wenn die EU mit einer Lockerung gewartet hätte, bis ihr diese Forschungsergebnisse auch tatsächlich vorgelegen hätten. ({17}) Ohne eine umfassende und fundierte wissenschaftliche Erforschung von BSE bei Rindern unter besonderer Berücksichtigung der Übertragbarkeit auf den Menschen darf kein weiteres Risiko eingegangen werden. Daher fordere ich die EU-Kommission auf, unverzüglich alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um dem Verbraucherschutz einen höheren Stellenwert einzuräumen. ({18}) - Herr Seehofer hat das getan, was er den Gesetzen entsprechend tun konnte. ({19}) In einem harmonisierten europäischen Binnenmarkt kann erfolgreicher Verbraucherschutz auch nur in einem europäischen Rahmen erfolgen. Europa steht auch in dieser Frage vor einer wichtigen Bewährungsprobe, bei der sich zeigen wird, ob sich die Bürgerinnen und Bürger von Europa abwenden oder ob sie mit großer Sicherheit ein Ja zu diesem Europa sagen können. ({20}) Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union - und das ist ein Appell an die Staaten - müssen einheitlich handeln, um der Bevölkerung insgesamt einen höheren Verbraucherschutz zu sichern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ein emotional aufgeladenes Thema, das sachlich vertieft diskutiert werden muß, ein Thema, das sich nicht zu Wahlkampfzwecken eignet. Viele Menschen haben Angst vor gesundheitlichen Gefährdungen; sie haben aber kein Verständnis dafür, daß solche Sorgen mißbraucht und zu Wahlkampfzwecken emotional hochgekocht werden. ({21}) Deswegen bitte ich darum, hier eine sachliche Diskussion zu führen; denn die Diskussion wird selbstverständlich weitergehen. Wir sind mit dieser Regierungserklärung und der anschließenden Debatte noch nicht am Schluß angelangt. Herzlichen Dank. ({22})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Ruth Fuchs, Sie haben das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verdacht, daß die Rinderseuche BSE auch den Menschen betreffen kann, ist nach wie vor nicht mit voller Sicherheit auszuschließen. In dieser entscheidenden Frage haben auch die letzten Monate keine prinzipiell neuen Erkenntnisse gebracht. Der Erreger ist unbekannt und kann weder isoliert noch nachgewiesen werden. Nach wie vor ist das Wissen über mögliche Übertragungswege in entscheidenden Punkten unsicher. Erfreulicherweise verstärken sich aber auch die Indizien, daß mit dem Verbot der Verfütterung verseuchter Tiermehle die Hauptursache der Krankheitsausbreitung abgestellt werden konnte. Die für den Umgang mit britischen Rindern und britischem Rindfleisch allerdings so außerordentlich wichtige Frage, ob die Krankheit vom Muttertier auf das Kalb bzw. von Tier zu Tier übertragen werden kann, ist jedoch bis heute offengeblieben. Solide angelegte englische Studien werden dazu bekanntlich erst in einiger Zeit mit abschließender Aussagekraft vorliegen. Angesichts einer solchen Risikoeinschätzung sowie in Anbetracht der außergewöhnlichen Gefährlichkeit der Krankheit und der verheerenden Folgen, die ein Übergreifen auf den Menschen hätte, sind nach wie vor drastische Schutzmaßnahmen dringend angezeigt, um die Sicherheit der Bevölkerung in erforderlicher Weise gewährleisten zu können. Im vorliegenden Fall muß dies vor allem heißen: vollständiges Verbot des Imports von britischem Rindfleisch, wenn nötig auch in eigenständiger Entscheidung eines einzelnen Staates. Ganz in diesem Sinne vertraten noch im April des vorigen Jahres der Minister und andere Mitglieder der Regierungskoalition in diesem Haus den Standpunkt, daß die Bundesregierung beim Nichtzustandekommen entsprechender europäischer Regelungen in eigener Verantwortung handeln und gegebenenfalls auch auf einem nationalen Alleingang bestehen müsse. Damals hieß es wörtlich: Kein verantwortlicher Politiker kann auf diesem Gebiet auch nur das geringste Risiko eingehen. Und weiter: Die Bevölkerung kann sich darauf verlassen, daß wir, wenn Europa nicht mitmacht, national alle Möglichkeiten ausschöpfen, um der Bevölkerung guten Gewissens sagen zu können: Wir haben das Notwendige getan, um Gesundheitsgefahren abzuwehren. Aber bereits die diesen Absichtserklärungen folgende regierungsamtliche Verordnung vom Sommer 1994 brachte lediglich einen durchweg halbherzigen und inakzeptablen Kompromiß. Damit darf sogenanntes „nichtentbeintes Rindfleisch" aus Großbritannien eingeführt werden, wenn nachgewiesen wird, daß es aus Herden stammt, in denen seit sechs Jahren kein BSE-Fall mehr aufgetreten ist. Schieres Muskelfleisch, bei dem sichtbares Nerven- und Lymphgewebe entfernt wurde, blieb auch ohne solche Bescheinigung zum Import freigegeben. Fachleute bezweifelten sofort eine ausreichende Wirksamkeit dieser Maßnahme. Auch ohne selbst Anatom sein zu müssen, versteht man, daß Fleisch nie völlig von Nerven- und Lymphgewebe getrennt werden kann. Auch das Abstandsgebot von sechs Jahren erweist sich im Lichte der langen Inkubationszeit der Krankheit und ihrer ungeklärten Übertragungswege eher als ausgehandelt denn als streng wissenschaftlich begründet. Jetzt allerdings kommt es noch schlimmer. Statt die bestehenden Unvollkommenheiten zu beseitigen und zusätzliche Schlupflöcher zu verstopfen, werden die Schleusen noch weiter aufgemacht. Nun darf auch frisches Fleisch von Rindern, die nach dem 1. Januar 1992 geboren wurden, wieder ohne besondere Einschränkungen eingeführt werden. Die Regierung beruft sich dabei auf die EU-Kommission und das Votum ihres Wissenschaftlichen Veterinärausschusses. Natürlich muß sich Politik auf wissenschaftliche Beratung stützen können. Gerade deshalb sollte aber in diesem Fall handlungsanleitend sein, daß die Wissenschaft gegenwärtig ein bestimmtes Restrisiko noch nicht völlig ausschließen kann. Die große Lehre, die am Beispiel der HIV-Infektionen der Bluter erneut auf so tragische Weise deutlich geworden ist, besteht doch gerade darin, daß von der Politik verlangt werden muß, so zu handeln, als wäre das ungünstigste Szenario zu erwarten. Nur auf diese Weise kann sie letztlich ihrer Verpflichtung gerecht werden, nach bestem Wissen und Gewissen Schaden von den Menschen fernzuhalten. Eine Regierung aber, die noch unmittelbar mit den Folgen der eben erwähnten Arzneimittelkatastrophe konfrontiert ist und die in einem zumindest auffallend ähnlich gelagerten Fall keine adäquaten Schlußfolgerungen zu ziehen bereit ist, kann nur - um es noch freundlich auszudrücken - als extrem lernunwillig bezeichnet werden. Auch der Beschluß des Bundesrates vom Januar dieses Jahres, mit dem er sich gegen die jüngste Regierungsentscheidung gestemmt hat, kann offensichtlich nichts mehr ändern, denn zwischenzeitlich ist auch der Minister nicht untätig geblieben. Sein letztes Wort ist eine vor wenigen Tagen erlassene Dringlichkeitsverordnung, mit der nun die weiter gelockerte EU-Position für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich durchgesetzt wird. Es ist schon sehr eindrucksvoll, wenn man auf diese Weise sieht, was innerhalb weniger Monate und ohne entscheidende Änderung der Problemlage aus den Beschwörungen eines deutschen Alleingangs geworden ist. Wir meinen: Richtig bleibt, was noch im April vorigen Jahres weitgehend Konsens in diesem Haus war. Die Menschen müssen sich in der Tat darauf verlassen können, daß der vorbeugende Gesundheitsschutz im Entscheidungsfall Priorität gegenüber Handels- und anderen wirtschaftlichen Interessen erhält. Aus diesem Grunde stimmen wir den Entschließungsanträgen der SPD und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Günter Marten, Sie haben das Wort.

Günter Marten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um die Gefahr der Rinderseuche BSE für den Menschen wird seit Anbeginn dieser Diskussion sehr emotional geführt, was bei all der Aufregung, die sich im Verlauf der Debatten hier ergeben hat, sicherlich verständlich ist. Dennoch müssen wir versuchen, die Diskussion so sachlich wie möglich zu führen. Dieser Seuche, einer schwammartigen Hirnerkrankung der Rinder, sind rund 130 000 britische Rinder zum Opfer gefallen. In Deutschland sind bisher vier Fälle bekanntgeworden; diese sind ebenfalls auf das Verfüttern von in Großbritannien hergestelltem Tiermehl zurückzuführen. Deutsche Rinder sind nicht davon betroffen. Zu den übertragbaren Gehirnerkrankungen zählt neben BSE bei Rindern und Scrapie, der sogenannten Traberkrankheit bei Schafen, auch das Creutzfeldt-Jakob-Syndrom beim Menschen. Im Experiment können Erreger der drei genannten Krankheiten auf eine Vielzahl von Tieren übertragen werden. Seit Bekanntwerden der Krankheit im Jahre 1989 wurden von der Bundesregierung konsequent Vorsorgemaßnahmen nach dem jeweiligen aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft getroffen. Unter der Annahme, daß eine Übertragung des Erregers vom Rind auf den Menschen nicht ausgeschlossen werden kann, wurde auf EU-Ebene vereinbart, neue BSE-Schutzmaßnahmen regelmäßig wissenschaftlich zu begleiten. Die Entscheidung von Bundesgesundheitsminister Seehofer, das Importverbot für britisches Rindfleisch zu lockern, ist vor dem Hintergrund dieser zwingenden EU-Vorschriften zu sehen. Tatsache ist: Mit dem Auslaufen der im Sommer 1994 erlassenen BSE-Verordnung wäre ab dem 7. Februar 1995 ohne eine neue Verordnung eine Regelungslücke entstanden mit der Folge, daß alle Importbeschränkungen aufgehoben worden wären und es keine rechtliche Handhabe gegen Verstöße gegen die Schutzvorschriften mehr gegeben hätte. Damit wäre es zu einem regelungsfreien Zustand gekommen, der eine generelle Einfuhr von britischem Rindfleisch ermöglicht hätte, was Sie von der SPD in Abrede stellen. Deswegen möchte ich kurz auf die Intervention von Frau Kollegin Blunck eingehen. Das hessische Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit hat in einem Schreiben vom 20. Dezember 1994 mitgeteilt - ich zitiere -: Angesichts dieser völlig unbefriedigenden künftigen Regelung ist eine sogenannte „Regelungslücke" ohne weiteres in Kauf zu nehmen, da das Vereinigte Königreich durch die Entscheidung der Kommission gebunden wird und seinerseits dafür Sorge zu tragen hat, daß Fleisch, das nicht den Anforderungen der Entscheidung entspricht, in andere Mitgliedstaaten versandt wird. Sie sehen also: Auch dort ist diese Regelungslücke erkannt und als solche formuliert worden. ({0}) Eine weitere Tatsache: Ein internationales unabhängiges und qualifiziertes Expertengremium, bestehend aus Wissenschaftlern aller EU-Länder, darunter auch fünf deutsche Wissenschaftler, hat einstimmig festgestellt, daß das gültige EU-Recht ausreichenden Schutz gegen die Seuche garantiert. Diese Wissenschaftler haben empfohlen, frisches Fleisch von den nach dem 1. Januar 1992 geborenen Rindern vom beschränkten Marktzugang, also vom Exportverbot, auszunehmen, wobei die sonstigen Einschränkungen aus dem Sommer 1994 unverändert bleiben. Die Umsetzung dieser nach aktuellem Wissensstand unter Verbraucherschutzgesichtspunkten verantwortbaren Regelung scheiterte am 20. Januar 1995 im Bundesrat, da dieser ein totales Importverbot vorsehen möchte. Tatsache ist weiterhin: Der von einigen Bundesländern geforderte generelle Importstopp für Rindfleisch aus Großbritannien ist nach geltendem EU- Recht nicht durchführbar. Wir können nicht die Erleichterung des europäischen Binnenmarktes einfordern, wenn es uns positiv erscheint, immer dann aber, wenn einem die dortige Politik nicht paßt, nach einem nationalen Alleingang rufen. ({1}) Für mich - ich denke, für uns alle in diesem Hohen Hause - hat der Gesundheits- und Verbraucherschutz absoluten Vorrang. Deshalb ist aber die Umsetzung der EU-Verordnung derzeit unumgänglich, um einen Mindestschutz für den Verbraucher aufrechtzuerhalten. Im Ergebnis ist festzustellen, daß uns zum jetzigen Zeitpunkt ein Hinwegsetzen über geltendes EU- Recht nicht weiterhelfen kann; ja, es wäre sogar ein illegaler Alleingang. Die Folge wäre eine Gefährdung der Verbraucher, da nationale Sonderregelungen vor dem Europäischen Gerichtshof nicht standhalten würden. Damit gäbe es dann keinen Schutz der Verbraucher vor infiziertem britischem Rindfleisch.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Günter Marten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, wenn ich meine Rede weiter fortführen darf, dann werden die Fragen, die möglicherweise gestellt werden, beantwortet. Vielleicht gibt es ja auch hinterher noch Zeit für eine Antwort.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Kirschner, das war leider eine deutliche Auskunft.

Günter Marten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Ankündigung einiger SPD-geführter Bundesländer, den Handel mit Rindfleisch britischer Herkunft durch Regelungen regional zu unterbinden, ist für mich, meine Damen und Herren, Augenwischerei. Sie schaden damit der deutschen Landwirtschaft. Die Verbraucher in den EU-Mitgliedstaaten müssen sicher sein, daß Schutzmaßnahmen überall und bedingungslos eingehalten werden. Dafür steht die Bundesregierung ein, an der Spitze die Minister Borchert und Seehofer. Als ich die BSE-Diskussion der vergangenen Tage verfolgt habe, drängte sich mir mehr und mehr der Verdacht auf, daß die SPD-Länder im Bundesrat versuchen, unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes knallharte politische Interessen zu verfolgen. ({0}) Der Wahlkampf in Hessen und Nordrhein-Westfalen läßt hier grüßen. ({1}) Gegenseitige Schuldzuweisungen und übertriebene Forderungen führen in Sachen Gesundheitsschutz nicht zum Ziel. Viel wichtiger und effektiver ist eine offensive Öffentlichkeitsarbeit.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, jetzt muß ich Sie leider einmal unterbrechen. - Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen in den letzten Reihen beim BÜNDNIS 90 bitten, wenn sie eine interne Konferenz haben, ({0}) sie nach draußen zu verlegen oder, wenn dem nicht so ist, wieder dem Redner ihre Aufmerksamkeit zu schenken. ({1}) - Das ist ja noch schlimmer, Herr Kollege Fischer. ({2}) Bitte fahren Sie fort.

Günter Marten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Viel wichtiger und effektiver ist eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, wie sie von der Bundesregierung betrieben wird. Wir müssen das Vertrauen der Verbraucher wiederherstellen und zudem weitere Schäden für die deutsche Landwirtschaft abwenden. Seit 1994 wird angesichts der Bedrohung durch BSE praktisch nur noch deutsches Rindfleisch angeboten. Der Anteil an britischem Rindfleisch lag 1994 nur noch bei 0,3 %. Obwohl der Verzehr von in Deutschland produziertem Rindfleisch in bezug auf BSE nachweislich ungefährlich ist, ist der Verbrauch von deutschem Rindfleisch infolge der Verunsicherung durch unsachliche Argumentation und Panikmache bis zu 20 % zurückgegangen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe nicht nur Verständnis für die Bürger, die, um ein eventuelles Restrisiko zu vermeiden, britisches Rindfleisch boykottieren. Ich sehe in dieser Diskussion auch eine große Chance für die deutsche Landwirtschaft. Die vom Deutschen Bauernverband und anderen Institutionen angekündigte Initiative, dem Verbraucher die Herkunft des Tieres über Gütesiegel bei den Tieren transparent zu machen, ist der richtige Weg, dauerhaft den Absatz von deutschem Rindfleisch zu sichern. Auf der „Ohrenmarke", die deutsche Kälber nach der Geburt ins Ohr gesetzt bekommen, stehen die Angaben über Züchter, Mäster, Landwirt usw. Dadurch kann jeder Schlachter die Herkunft eines Rindes nachweisen, und er wird vom Veterinäramt auch noch überprüft. Der Verbraucher kann deshalb unbesorgt seinem Metzger zu Hause vertrauen. ({1}) Als ein Beispiel der langfristigen Herstellung der Verbrauchersicherheit möchte ich die Markenfleisch-Programme in Mecklenburg-Vorpommern anführen, die von der Landesregierung dort gefördert werden. Diese Programme gewährleisten neben der Qualitätssicherung auch eine Herkunftssicherung im Interesse der Verbraucher. ({2}) Ich bin kein Mensch, der bei diesen Problemen die potentiellen Risiken arglos ignoriert und blindlings verharmlosenden Meldungen vertraut. Aber mit unserer Angst vor britischem Rindfleisch stehen wir allein in Europa. Entweder handelt es sich, wie übrigens auch in anderen Bereichen, um eine typisch deutsche „Vollkaskomentalität", die in diesem Falle mit der Forderung nach einem generellen Importstopp für Rindfleisch von der britischen Insel dazu führt, daß wir in Europa in keiner Weise mehr ernst genommen werden, oder - das wäre die zweite Möglichkeit - bei unseren europäischen Nachbarn wird die Gefahr von BSE verharmlost und sind die dortigen Verbraucher weniger sensibel. Das nehme ich persönlich nicht an. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß in diesen Ländern zur Zeit kein Landtagswahlkampf stattfindet. Ich möchte hier nicht darüber diskutieren, ob wir im Vergleich zu unseren Nachbarn übervorsichtig sind. Meine humanistische Überzeugung ist, daß jeder Mensch in der Lage ist, sich seine eigene Meinung zu bilden. Das kann er aber nur, wenn er eine sachliche und fundierte Information bekommt und diese auch gewährleistet ist. Sollte der mündige Bürger zu dem Ergebnis kommen, daß er den Verzehr von britischem Rindfleisch nicht verantworten möchte, muß er die Möglichkeit haben, auf Grund der Kennzeichnung die Herkunft des Fleisches nachvollziehen zu können. Wer auf deutsches Qualitätsfleisch mit Herkunftssiegel achtet, bekommt garantiert gutes Rindfleisch. Der hier von der Regierungsfraktion eingebrachte Antrag zur Sicherung des Verbraucherschutzes bei Rindfleischimporten verbietet weiterhin das Verbringen von frischem Fleisch aus Großbritannien und Nordirland. Die einzige Lockerung besteht darin, daß Fleisch von Tieren eingeführt werden darf, die nach dem 1. Januar 1992 geboren worden sind. Nur Fleisch von Tieren aus Beständen, die mindestens sechs Jahre BSE-frei sind, darf eingeführt werden. ({3}) Bei aller Besorgtheit darf dabei nicht übersehen werden, daß bei diesen Geburtsjahrgängen kein einziger Fall von Rinderwahnsinn aufgetreten ist. Lassen Sie uns also im Sinne von mehr Verbrauchersicherheit und Markttransparenz diese unsägliche Diskussion heute konstruktiv zu Ende führen. Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. zur Sicherung des Verbraucherschutzes bei Rindfleischimporten zu; denn nur so kann die Basis geschaffen werden, alle EU-rechtlich zulässigen Regelungen zur Gesundheitsvorsorge auszuschöpfen und den Verbraucherschutz auf europäischer Ebene in späteren Verhandlungen gezielt weiter voranzutreiben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sie haben mich eben mißverstanden, Herr Kollege. Mein Zeichen bedeutete, daß der Redner am Ende seiner Redezeit war und ich, nächdem das rote Licht schon aufgeleuchtet hatte, nicht noch eine Frage zulassen konnte. Das Wort hat die Kollegin Antje-Marie Steen.

Antje Marie Steen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Heinrich, wir werden Sie an dem messen, was Sie hier gesagt haben, wenn es zur Abstimmung über den Antrag kommt. ({0}) Soweit ich mich richtig erinnere, haben Sie den Antrag der CDU/CSU mit unterschrieben. Zu Herrn Marten möchte ich gern sagen: Verbrauchern Vollkaskomentalität zu unterstellen halte ich für äußerst unfair. ({1}) Ich glaube, daß der Verbraucherschutz nicht hoch genug gehandelt werden kann. ({2}) Es ist noch immer ein Stück Lebensqualität und vor allen Dingen der Anspruch damit verbunden, gesundheitliche Schäden vom Verbraucher abzuhalten. ({3}) Insofern nehmen Sie das Wort „Vollkaskomentalität" in diesem Zusammenhang am besten zurück. Diese Debatte und die Worte, Herr Minister Seehofer, die Sie hier an uns gerichtet haben, reizen uns und vor allen Dingen mich immer stärker, Ihnen zu sagen: Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß die Politik des Gesundheitsministers in Sachen BSE die menschliche Gesundheit gefährdet, daß sie die Tiergesundheit verschlechtert, daß sie den Verbraucherschutz vernachlässigt und daß sie in unzureichende Eilverordnungen mündet. ({4}) - Ich rede von Herrn Seehofer. Was immer wir bis zum Oktober des vergangenen Jahres an Ankündigungs- und Verordnungswirrwarr in Sachen BSE durch die Bundesregierung vorgeführt bekamen, stand nach meiner Einschätzung für die Koalition immer unter einer Vorgabe: über die Europa- und die Bundestagswahl zu gelangen und den Wählern und Wählerinnen den Eindruck zu vermitteln, die Bundesregierung nehme den Verbraucherschutz ernst. In einem Ihrer Redebeiträge, den Frau Martini hier bereits angesprochen hat, sagten Sie -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Steen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seehofer?

Antje Marie Steen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. ({0})

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Steen, bei allem Verständnis dafür, daß man in solch sensiblen Bereichen unterschiedlicher Auffassung sein kann, sollten wir uns doch bemühen, gegenüber der Öffentlichkeit mit den Fakten ehrlich umzugehen. ({0}) Deshalb frage ich Sie, ob Ihnen gerade bewußt war, daß Sie wiederum gesagt haben, ich hätte bis Oktober den nationalen Alleingang und verschiedene andere Maßnahmen in der Öffentlichkeit propagiert. Sie wollen damit den Eindruck erwecken, als hätte ich nach der bayerischen Landtagswahl oder möglicherweise nach der Bundestagswahl etwas anderes getan als vorher angekündigt. Wären Sie bereit, einzuräumen, daß die Maßnahmen, über die auf mein Betreiben in der Europäischen Union im Juli entschieden wurde, von mir Anfang August 1994, deutlich vor den bayerischen Landtagswahlen und der Bundestagswahl, von mir umgesetzt wurden und daß ich in der Öffentlichkeit gesagt habe: „Das ist ein verantwortbarer Kompromiß, und deshalb brauchen wir keinen nationalen Alleingang mehr."? Mir kommt es auf diesen Zeithorizont an, weil wir doch bei allen Differenzen beim Ablauf bei der Wahrheit bleiben müssen. ({1})

Antje Marie Steen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Um Wahrheit bemühe ich mich auch, Herr Minister Seehofer. Sie haben in Ihrem Redebeitrag am 21. April ganz deutlich gesagt, Sie würden einen Alleingang wagen wollen und Sie würden sich auch durch den Wahltermin nicht unter Druck setzen lassen. Das haben Sie nicht eingehalten, Herr Minister, ({0}) und wir haben Ihnen damals schon gesagt, daß wir einen Verbraucherschutz und Gesundheitsschutz, wie Sie ihn vorschlagen, für nicht ausreichend halten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Lassen Sie eine zweite Frage zu?

Antje Marie Steen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Steen, das war leider keine Antwort auf meine Frage. ({0}) Ich habe im August 1994 gesagt: Mir ist eine Regelung, die jetzt gefunden worden ist und nur 90 % dessen umfaßt, was ich mir vorstelle, lieber, wenn sie europaweit gilt, als wenn 100 % national alleine durchgesetzt werden. ({1}) Deshalb frage ich Sie noch einmal, ob Sie bestätigen können, daß der Abschluß der Diskussion über die Frage „Nationaler Alleingang, ja oder nein?" im August 1994 erfolgt ist. ({2})

Antje Marie Steen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich ist das erfolgt, Herr Seehofer. ({0}) Sie haben mich aber auch gefragt, wie wir das eingeschätzt haben. Und wir sagen Ihnen: Das war kein ausreichender Schutz. ({1}) - So habe ich es auch formuliert. ({2}) Sie haben auch gesagt, daß Marksteine unseres Vorgehens Vorsicht und Umsicht sein sollen, und unabhängig von dem Marktargument müßte die Gesundheitsvorsorge ohnehin Priorität vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten haben. ({3}) Ich könnte diese Zitatensammlung fortsetzen; jeder und jede von uns würde Ihnen in vielen Passagen zustimmen. Aber, Herr Minister, genau drei Monate später klang Ihr Votum dann ganz anders. Mit einer Eilverordnung, die dem Anspruch nach gesundheitlichem Verbraucherschutz in keiner Weise Rechnung trug, gaben Sie im Juli 1994 Ihre Position auf, daß Verbraucherschutz Vorrang vor ökonomischen Interessen habe. Ihre Eilverordnung, die ohne Beteiligung des Parlaments in Kraft gesetzt werden konnte, ließ schieres Muskelfleisch zu. Nun muß man nicht viel anatomische Kenntnisse haben, um zu wissen, daß Nervenbahnen und Lymphgefäße das gesamte Muskelfleisch durchziehen, hier also auch der Erreger, über dessen Struktur wir bis heute nichts wissen, durchaus enthalten sein kann. Das bestätigt auch Herr Dieringer. Dieselbe Gefahr kann ebenso von den legal aus England eingeführten Kälbern unter sechs Monaten ausgehen, da sie bereits infiziert, aber noch ohne signifikante Merkmale der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie - hier geschlachtet werden und auf dem Ladentisch landen können. Scheinbar ganz legal werden britische Kälber, nach Holland verbracht und dort mit einer neuen Ohrmarke versehen, zu einem holländischen Produkt und gelangen so auf unseren deutschen Markt. Hier frage ich Sie, Herr Minister: Wie können Sie, wohl wissend, mit welchen Praktiken der illegalen Verbringung und der unzureichenden Überwachungsmethoden in England Rindfleisch auf unseren Märkten erscheint, bei dem die Gefahr der Erkrankung der Menschen am Creutzfeldt-Jakob-Syndrom nicht auszuschließen ist, eine weitere Lockerung der Importbeschränkung verordnen? Jetzt gelangt frisches Fleisch vom Rind, das nach dem 1. Januar 1992 geboren wurde, ohne Wenn und Aber auf unsere Märkte. Wo bleiben Ihre Mahnungen? Ich zitiere: Kein verantwortlicher Politiker kann in Anbetracht der schwerwiegenden Konsequenzen einer potentiellen Übertragung von BSE auf den Menschen auch nur das geringste Risiko eingehen wollen. Welche neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen Ihnen vor, die die Eilverordnung vom 7. Februar begründen und die vor diesem Datum noch nicht existent waren? Was haben Sie eigentlich in der Zeit der Eilverordnung - zwischen Juli 1994 und Januar 1995 - veranlaßt, damit sich dieser Vorgang einer Eilverordnung nicht zu wiederholen brauchte? Unter einer deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union ist es der Bundesregierung und Ihnen, Herr Minister, nicht gelungen, die nationalen Interessen durchzusetzen und die Mitglieder der EU für einen umfassenden vorbeugenden Verbraucherschutz zu gewinnen. Sie haben die Zeit ungenutzt verstreichen lassen ({4}) und werfen nun dem am Verfahren gar nicht mehr beteiligten Bundesrat rechtswidriges Verhalten vor. Das ist unser Eindruck, mein Eindruck. ({5}) Sie wußten doch im April 1994 genau über die rechtlichen Auswirkungen eines nationalen Alleingangs Bescheid; trotzdem waren Sie damals dazu bereit. Warum zögern Sie jetzt vor diesem Schritt und der Möglichkeit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof? ({6}) Es kann für den europäischen Verbraucherschutz eine große Aufmerksamkeit davon ausgehen, zumal eine Entscheidung des Gerichts deutlich machen würde, ob der in den Verträgen von Maastricht zugebilligte nationale Ausnahmetatbestand des gesundheitlichen Schutzes durchzusetzen ist. ({7}) Sie fänden Mitstreiter in uns und in der Mehrheit des Bundesrates, der mit seinem Beschluß eines totalen Importverbotes sehr wohl diese Klage in Kauf nimmt. Was gesundheitspolitisch geboten ist, kann juristisch nicht falsch sein. Sie berufen sich bei Ihrer Eilverordnung vom 7. Februar 1995 auf das einstimmige Votum des wissenschaftlichen Beirates. Ich verzichte hier darauf, das in meinem Beitrag auszuführen, und überlasse es meinem Kollegen Matthias Weisheit, dazu Stellung zu nehmen. Wie eigentlich sollen Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und die Schutzmaßnahmen des Gesundheitsministeriums haben, wenn ihnen aus den Medien bekannt ist, mit welchen Praktiken das Verbringen britischen Fleisches nach Deutschland geschieht, ({8}) mit welcher Leichtfertigkeit einem lebensbedrohenden Risiko durch infiziertes Fleisch Tür und Tor geöffnet wird? Die Verbraucher reagieren zu Recht mit Kaufverzicht. ({9}) Die Lobbypolitik der Bundesregierung für die Vieh- und Fleischimporteure dient leider nicht den deutschen Rinderzüchtern und Schlachtern, denn sie haben Not, ihren Kunden zu vermitteln, sie handelten nur mit Fleisch von in Deutschland gezüchteten Tieren. Um so hilfreicher sind die freiwilligen Vereinbarungen, die jetzt in den Bundesländern zwischen den Verbänden und Organisationen geschlossen worden sind. ({10}) Herr Minister, das Mißtrauen gegen Ihre Verordnung sitzt tief. Wie sehr die Glaubwürdigkeit Ihrer Aussage, Verbraucherschutz rangiere vor wirtschaftlichen Interessen, gelitten hat, zeigen viele Pressemeldungen. Mir liegt z. B. ein Antrag der BFAV, Tübingen, vor, in dem Forschungsmittel für die Entwicklung eines postmortalen Schnelltests auf BSE beantragt werden. Die Bundesforschungsanstalt unter Leitung von Professor Moennig hat ein immunologisches Verfahren zur schnellen postmortalen Diagnostik so weit vorgebracht, daß es, weil billiger und einfach durchführbar, nach Abschluß einiger Forschungsarbeiten auf Schlachthöfen zur Kontrolle des Fleisches eingesetzt werden kann. Die beantragten Mittel für die Dauer von drei Jahren belaufen sich auf ca. 400 000 DM. Dieser Antrag ist wiederholt an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bzw. an die CMA gestellt worden, letztmalig im August 1994. Er ist regelmäßig abgelehnt worden mit dem Hinweis, für dieses Projekt seien keine Gelder vorhanden. ({11}) Ich erlaube mir die Frage: Wo ist die Koordination zwischen den Ministern Seehofer und Borchert, ({12}) wo der Austausch des wissenschaftlichen Knowhows, wo die intensive Förderung der Forschung, die Sie, Herr Minister, uns im Kampf gegen die schreckliche Rinderseuche immer wieder versprachen? ({13}) Solch ein Test könnte als vertrauensbildende Maßnahme viel von der Verunsicherung der Verbraucher abbauen und eine zuverlässige Kontrolle darstellen. Dieser Antrag sollte einer genauen Betrachtung unterzogen werden. Um ihm eine Chance der Realisierung zu geben, werden wir ihn in dem Fachausschuß zur Diskussion stellen. ({14}) Herr Minister, Sie scheinen ja auch selber nicht an Ihre Verordnung zu glauben; denn Sie fordern die Verbraucher ausdrücklich auf, sich nach der Herkunft des Fleisches zu erkundigen, ({15}) übrigens im schönen Einklang mit dem Vizepräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Herrn Pudel, der ebenfalls einen „Garantiehinweis", was immer das auch sein kann, empfiehlt. Sie wissen ganz genau, daß es keine sichere Kennzeichnung gibt, daß die Kriterien für ein Gütesiegel für deutsches Fleisch erst noch entwickelt werden. Aber Sie hätten alles dafür tun können, daß wir in Europa vergleichbare Kriterien und eine verpflichtende Kennzeichnung bekommen. ({16}) Die SPD bringt heute ihren Entschließungsantrag ein, und wir bitten darum, daß Sie ihm zustimmen. Wir glauben, mit unserem Antrag dem Verbraucherschutz einen wesentlichen Dienst zu erweisen. ({17}) - Doch, ich glaube, daß wir das machen. Ich hoffe, daß auch Sie unserer Meinung sind. Sie haben ja genau die gleichen guten Absichten. Wir können ja sehen, ob wir es dann gemeinsam schaffen. Herr Minister, Sie verstecken sich hinter wissenschaftlicher Beratung, warten nicht die gesicherten Ergebnisse der Forschungsvorhaben ab, die Ihr Haus und der Bundesminister für Forschung und Technologie in Auftrag gegeben haben. Sie verkehren Ihre Aussagen innerhalb eines dreiviertel Jahres in das Gegenteil ({18}) und nehmen in Kauf, was Sie - laut eigener Aussage - nie mehr wollten, nämlich eventuell vor einem Untersuchungsausschuß oder vor einem Staatsanwalt zu erscheinen, um sich zu rechtfertigen. Sie haben doch eingefordert, daß wir national die Kraft haben -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Sie sind schon ein gutes Stück über Ihre Redezeit hinaus. Bitte noch einen Satz.

Antje Marie Steen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Wir haben diese Kraft, Herr Minister, und wir wollen notfalls den nationalen Alleingang. Herr Minister, lassen Sie Ihren Worten Taten folgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließen Sie sich unserem Votum an. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Deß. ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der „Mittelbayerischen Zeitung" vom 8. Februar 1995 ist zu lesen, ein deutscher Rindfleischexporteur habe im Zusammenhang mit der regen Diskussion über den Rinderwahnsinn in Deutschland von Schwierigkeiten mit einem italienischen Abnehmer berichtet. Dieser war der Auffassung - ich zitiere, Herr Präsident -, in Deutschland Albert Dell sei doch der Teufel los, da gehe doch die Rinderseuche um. ({0}) So habe der Italiener gesagt und erklärt, daß er jetzt mit einem britischen Lieferanten abgeschlossen habe. ({1}) Diese Meldung zeigt, was mit einem Hysterieausbruch alles angerichtet werden kann. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Herr Kollege, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Die Kollegin Blunck macht verzweifelte Gesten. Ich frage sie: Was beschwert Sie? ({0}) - Herr Kollege Deß, Sie brauchen sich nicht zu wehren; das weise ich als Präsident auf das schärfste zurück. ({1}) Bitte sprechen Sie weiter.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich bin stolz darauf, daß selbst der Bundespräsident mit bayerischem Dialekt spricht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sind Sie bereit, eine Frage des Kollegen Carstensen zuzulassen?

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weern Se domfit inverstohn, falls de Fru Blunck dat nick verstohn deit, dat ik direkt öbersetten do? ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Jetzt steht es eins zu eins. - Bitte fahren Sie mit Ihrer Rede fort.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bereit, daß wir das hinterher in der Kantine übersetzen. Was sich hier in Deutschland ereignet, ist in der Tat rational nicht mehr erklärbar. Es geht nicht mehr um eine Sachdiskussion, um eine akzeptable Lösung im Hinblick auf einen vernünftigen Verbraucherschutz, sondern hier wird in einer unverantwortlichen Weise mit Ängsten Schindluder getrieben. Im Vorfeld von Wahlen versucht man in einer nicht mehr zu überbietenden Heuchelei, mit Angst Stimmung zu machen. Ein Teil unserer Medien wirkt mit Lügen und Falschmeldungen an dieser Kampagne mit. ({0}) Ich war bisher immer der Meinung, Medien hätten die Aufgabe, die Bürger zu informieren. Was ich in den letzten Wochen im Zusammenhang mit Berichten über BSE erlebt habe, hat in weiten Bereichen nichts mehr mit Information zu tun. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Deß, der Kollege Kirschner würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für den vielen Unsinn, der in letzter Zeit über den Rinderwahnsinn verbreitet worden ist, ist auch die linke Seite dieses Hauses mit verantwortlich. Ich möchte nicht, daß noch weiterer Unsinn in das Protokoll hineinkommt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

War das ein Nein? Albert Deß ({0}): Ja, das war ein Nein. ({1}) Ich würde dies eher als eine Desinformationsaktion bezeichnen, die mit der Absicht betrieben wird, Gesundheitsminister Horst Seehofer zu diskreditieren. Nach der gestrigen ARD-Debatte kam ich in mein Büro. Was lief im ARD-Programm kurz nach 17 Uhr? Wie könnte es anders sein, eine Sendung über BSE. ({2}) - Nein, das war nicht der Bayerische Rundfunk. ({3}) Eine Reporterin fragte, ob die Bürger nach der Aufhebung des Rindfleischimportverbots durch Gesundheitsminister Horst Seehofer noch Rindfleisch kaufen oder essen würden. In dieser Fragestellung war bereits eine Lüge verpackt; ob bewußt oder unbewußt, sei hier dahingestellt. ({4}) Horst Seehofer hat nicht das Importverbot aufgehoben. Diesen Zustand hätten wir jetzt, wenn er nicht gehandelt hätte. ({5}) Die deutschen Verbraucher wären ohne Schutz, wenn dem Wahlkampftheaterdonnerhysterieantrag der Opposition stattgegeben worden wäre. ({6}) - Lassen Sie mich doch meine Meinung sagen! ({7}) Ich als Landwirt wäre damit einverstanden, wenn Großbritannien mit einem totalen Exportverbot für Rindfleisch durch die EU belegt würde, wenn dies umsetzbar wäre. Was hat die SPD bisher dazu beigetragen? In Brüssel sitzt doch für Deutschland auch eine Kommissarin der SPD, und auch ein F.D.P.-Kommissar sitzt dort. ({8}) Haben Sie so wenig Durchsetzungsvermögen und Überzeugungskraft, daß Sie Ihre Forderungen durch Einflußnahme in Brüssel nicht umsetzen können, auch wenn unsere Kommissare nicht direkt zuständig sind? Fragen Sie bei der SPD-Kommissarin doch einmal nach, warum sich ein solches Exportverbot gegen Großbritannien nicht durchsetzen läßt, bevor Sie heuchlerisch Horst Seehofer angreifen! Unser Gesundheitsminister hat mehr für den Verbraucherschutz in Europa bezüglich BSE bewirkt als jeder andere Gesundheitsminister oder jede andere Gesundheitsministerin in den Bundesländern und in Europa. ({9}) Warum versucht der Möchtegernvorsitzende der Europäischen Sozialisten, Herr Scharping, nicht, die sozialistisch oder sozialdemokratisch geführten Regierungen in der Europäischen Union für ein Exportverbot für britisches Rindfleisch zu gewinnen? Was hat Herr Scharping für eine solche Allianz konkret getan? Ich habe in den Medien bisher nichts darüber gelesen. ({10}) Die SPD ist sich nicht zu schade, eine Wahlkampfhysterie zu schüren. ({11}) Horst Seehofer war es, der schon im Vorjahr ein europaweites Exportverbot für britisches Rindfleisch aus BSE-Beständen durchgesetzt hat. Eine europaweite Regelung schützt die deutschen Verbraucher mehr als ein nationaler Alleingang. ({12}) Was würde mit einem nationalen Alleingang erreicht? Glauben Sie im Ernst, daß Sie damit vor dem Europäischen Gerichtshof Erfolg haben werden? Daran glauben doch nicht einmal Ihre Rechtsexperten. Im übrigen ist Ihr Antrag inkonsequent. Wenn Sie konsequent wären, müßten Sie die deutschen Grenzen auch für Auslandsreisende schließen. ({13}) Oder gilt Ihre vermeintliche Fürsorge den Millionen Deutschen, die ins Ausland reisen, nicht? Wie wollen Sie Millionen Reisende außerhalb von Deutschland vor englischem Rindfleisch schützen, das in unerkannter Form in vielen Nahrungsmitteln enthalten sein kann? ({14}) Schon allein dieser Zusammenhang zeigt, daß es einen absoluten Schutz nicht gibt. Diese Sicherheit haben nicht einmal die sogenannten Vegetarier. Die Gefahr, daß sich in vegetarischer Kost der Erreger des Fuchsbandwurms befindet und dann eine tödliche Krankheit auslösen kann, ist um ein Vielfaches größer als die Gefahr, die nach menschlichem Ermessen und wissenschaftlicher Erkenntnis von BSE für den Menschen ausgeht. ({15}) In der Oberpfalz ist bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten ein Fall bekannt geworden, daß ein 49jähriger Vegetarier an einer Vergiftung gestorben ist, weil er giftige Pflanzen unerkannt mitgegessen hat. ({16}) - Ich will nichts verharmlosen, Herr Kollege Sielaff, ich will nur sagen: Unser Leben ist mit Risiken behaftet. ({17}) Wer jedes Risiko ausschalten will, der darf nach Ihrer Argumentation überhaupt nichts essen. Ob er damit sein Leben verlängert, weiß ich nicht. ({18}) Es geht doch darum, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wahrscheinliche Risiken auszuschließen. Wir müssen alles unternehmen, um den höchstmöglichen Schutz zu erhalten. Hier haben unsere Verbraucherinnen und Verbraucher gute Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland die strengsten Vorschriften für die Landwirtschaft. Verlangen Sie im Lebensmittelgeschäft heimische Produkte! Das kann Ihnen niemand verwehren. ({19}) Bleiben Sie risikobewußt und verbringen Sie Ihren Urlaub im eigenen Land, um möglichst gesunde Nahrungsmittel zu erhalten! ({20}) Albert Dell Wir, die deutschen Landwirte, würden uns darüber freuen. Damit die Verbraucher noch mehr Vertrauen in die heimischen Lebensmittel haben können, sind wir sogar bereit, über die strengen staatlichen Vorschriften hinaus Qualitätssicherung zu betreiben. Das CSU-regierte Bayern hat als erstes Bundesland ein garantiertes Herkunftszeichen für Rindfleisch eingeführt. Warum haben die SPD-regierten Bundesländer zum besseren Schutz der Verbraucher dies nicht vor Bayern getan? ({21}) Reden statt handeln, verunsichern statt Vertrauen schaffen - das ist anscheinend die bekannte SPD-Devise. Wer sind die Leidtragenden der von der SPD und bestimmten Medien entfachten BSE-Hysterie? Es sind leider wieder einmal die bäuerlichen Familien in unserem Land, die mit enormem Einsatz daran arbeiten, gesunde und frische Lebensmittel zu erzeugen. ({22}) Schade, daß mein Berufsstand keine Möglichkeit hat, die Falschmelder und Verunsicherer regreßpflichtig zu machen. ({23}) Es ist schon deprimierend, wenn genau diejenigen die finanziellen Einbußen tragen müssen, die nicht so unverantwortlich waren, Tiermehl bei der Rinderfütterung einzusetzen. Es sind vor allem die bayerischen Rindermäster, die Exportaufträge nach Italien verlieren, weil man dort glaubt, in Deutschland sei der Rinderwahnsinn ausgebrochen. ({24}) Ich kann die Hysterieentfacher nur bitten, zur Sachdiskussion zurückzukehren, sich mit uns dafür einzusetzen, daß das Machbare umgesetzt wird, damit in Deutschland nicht eine Situation entsteht, bei der es nicht mehr, sondern weniger Verbraucherschutz gibt. Die Verbraucherinnen und Verbraucher fordere ich auf, konsequent heimisches Rindfleisch mit Herkunftszeichen und Qualitätssiegel zu kaufen. Wenn das in SPD-regierten Ländern noch nicht möglich ist, kann ich darauf hinweisen: In Bayern hat der Konsument die Möglichkeit, Rindfleisch mit garantierter Herkunft zu genießen. Vielen Dank. ({25})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Matthias Weisheit, Sie haben das Wort.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Deß, ich war ein wenig über das, was Sie hier geboten haben, erstaunt, da wir im Ausschuß durchaus sachlich miteinander umgehen können. ({0}) Mich hat während der ganzen Debatte maßlos geärgert, wie hier Ursache und Wirkung vertauscht werden. ({1}) Wenn man darüber redet, daß BSE gefährlich ist - das hat dieses Haus vor einem Dreivierteljahr quer durch alle Fraktionen getan -, dann heißt es: Dadurch werden die Verbraucher verunsichert. Nein, Sie werden dadurch verunsichert, daß man nichts Vernünftiges gegen BSE unternimmt. ({2}) Sie, Herr Bundesgesundheitsminister, schrieben wenige Tage vor der Debatte im April des letzten Jahres in einem Gastkommentar der „Bild am Sonntag": In dieser Situation ist Gesundheitsschutz für den Menschen vorrangig. Die Devise kann doch nicht sein: Weil es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, brauchen wir nicht zu handeln. Im Gegenteil: Vorbeugender Gesundheitsschutz heißt, Risiken für die Gesundheit der Menschen rechtzeitig auszuschließen - und nicht erst, wenn es vielleicht schon zu spät ist. ({3}) Deshalb strebt die Bundesregierung europaweit ein Importverbot für britisches Rindfleisch an. - Das haben Sie nie erreicht. Der Fall BSE ist die Nagelprobe für den Gesundheitsschutz im geeinten Europa. Gemeinsam müssen wir sicherstellen, daß das Aids-Fiasko sich nicht mit BSE wiederholt. ({4}) Dieser Auffassung, die Sie damals vertreten haben, sind wir Sozialdemokraten nach wie vor. Sie handeln inzwischen so, als ob die Gefahr gebannt sei, und berufen sich auf die Entscheidung des wissenschaftlichen Veterinärausschusses in Brüssel, der einstimmig, auch mit den Stimmen der deutschen Vertreter, eine Lockerung der Exportbeschränkungen für vertretbar halte. In der heutigen Ausgabe des „Stern" lese ich zu meiner Überraschung, daß zwei der fünf stimmberechtigten deutschen Mitglieder bei der Entscheidung gar nicht anwesend waren. ({5}) - Es spielt doch keine Rolle, wer es war. Noch interessanter wird die Qualität dieses Beschlusses, wenn man den Bericht der Kommission über die Sitzungen der BSE-Untergruppe des wissenschaftlichen Veterinärausschusses liest, in der die jüngste Entscheidung vorbereitet wurde. Dr. Diringer vom Robert-Koch-Institut und Professor Somogyi, Leiter des Bundesinstitutes für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, vertraten von der Mehrheit abweichende Meinungen, die in Fußnoten des Berichtes festgehalten sind. Sie halten eine Verbindung zwischen Creutzfeldt-Jakob und BSE für möglich, und sie halten es für möglich, daß BSE-Erreger im Muskelfleisch infizierter Rinder vorkommen, bei denen die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist. Letztere Meinung teilt auch das beratende Mitglied der Untergruppe, Professor Pocciari aus Rom. In diesem Licht betrachtet, wenn man das Zustandekommen des Brüsseler Beschlusses ein bißchen erhellt, stehen das Brüsseler Votum und Ihr Votum eher auf tönernen Füßen, und es eröffnet sich sehr wohl eine Chance, erfolgreich gegen den Brüsseler Beschluß vorzugehen. ({6}) Nach wie vor besteht das Risiko, daß Menschen durch BSE-infiziertes Fleisch tödlicher Gefahr ausgesetzt sein könnten, auch wenn der Ernstfall erst in einem Jahrzehnt oder in zwei Jahrzehnten eintritt. Insofern hat der von Ihnen, Herr Minister, in die Diskussion eingebrachte Vergleich mit Aids weiterhin Gültigkeit. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß irgend jemand in diesem Haus oder in Brüssel verantworten will, daß die Schreckensvision des britischen Mikrobiologen Lacey Wirklichkeit wird, der eine massive Welle an Erkrankungen am Creutzfeldt-Jakob-Syndrom in 20 bis 30 Jahren befürchtet. Wenn es uns ernst damit ist, uns selbst und die Menschen der nächsten Generation vor einer vermeidbaren Epidemie zu schützen, dann muß sich politisches Handeln an der bedrohlichsten Option orientieren. Die bedrohlichste Option heißt nach dem derzeitigen Kenntnisstand: BSE kann auf Menschen übertragen werden. BSE-Erreger können im Fleisch sein. BSE- Erreger können von der Kuh auf das Kalb übertragen werden. Der bis Anfang 1997 laufende Feldversuch der britischen Regierung, der die letzte Frage klären soll, beweist bisher zumindest nicht das Gegenteil. Laut „The Times" aus London vom 28. November 1994 sind bereits 31 der 630 Versuchstiere an BSE erkrankt. Wer wie Sie, Herr Minister, im April 1994 sagt, die Gesundheitsvorsorge - ohne Wenn und Aber - muß absoluten Vorrang haben, kann nicht ein paar Monate später das Gegenteil nach dem Motto „Was geht mich mein Gerede von gestern an?" tun, ohne die eigene und die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt zu beschädigen. ({7}) Es darf keine Erleichterungen für den Import britischen Rindfleisches geben. Das erwarten zu Recht die Verbraucher und die Erzeuger in unserem Land. ({8}) Nach einer Umfrage des Institutes für Agrarökonomie in Kiel vom Sommer 1994 assoziieren nur 3 % der Befragten mit dem Begriff „Fleisch" etwas Positives. 19 % denken an Schweinepest und 41 % an BSE. Im vergangenen Jahr ist der Verzehr von Rindfleisch gegenüber dem Vorjahr um rund 12 % zurückgegangen, und das lag bestimmt nicht an sprunghaft gestiegenen Preisen. Für die Erzeuger war das Gegenteil der Fall: Metzgereibetriebe wie Bauern müssen jetzt mit weiteren Einbrüchen rechnen, obwohl insbesondere die deutschen Bauern überhaupt keine Schuld trifft. ({9}) Sie verfüttern kein Tiermehl an die Kühe. Sie müssen es jedoch hinnehmen, daß unzählige gesunde Schweine wegen der Schweinepest gekeult werden. Mit welchen Maßstäben mißt man eigentlich in Brüssel? ({10}) Es ist richtig - und ich unterstreiche das bei jeder Gelegenheit, wenn ich mit Verbrauchern rede -, daß Verbraucher vor BSE sicher sind, wenn sie Rindfleisch aus heimischer Produktion kaufen. ({11}) Alle Anstrengungen, die unternommen werden, um eine lückenlose Identifizierung vom Stall bis zur Ladentheke zu ermöglichen, unterstützen wir nachdrücklich. ({12}) Von uns längst gewollte regionale Schlachtung und Vermarktung gewinnen in diesem Zusammenhang erneute Aktualität und bekommen hoffentlich einen Schub, nachdem es Ihnen, Herr Minister, dankenswerterweise - hier lobe ich Sie einmal - gelungen ist, die unsägliche Frischfleischrichtlinie im positiven Sinne zu korrigieren. Auch die jetzt anlaufenden freiwilligen Verpflichtungen von Metzgern und Handelsketten, nur Rindfleisch aus heimischer Produktion zu vermarkten, sind ein Schritt in die richtige Richtung. ({13}) Ich fürchte jedoch, daß all diese Bemühungen nicht ausreichen werden, die Verunsicherung beim Verbraucher mit all ihren negativen Folgen für die deutsche Landwirtschaft zu beseitigen. Die Medien berichten über die laxe Handhabung der BSE-Schutzvorschriften in Großbritannien. Der britische Agrarminister begründet BSE-Erkrankungen nach dem Tiermehlverfütterungsverbot damit, daß es nicht eingehalten wurde. Gleichzeitig will er damit den Verdacht ausräumen, BSE könnte auch anders übertragen werden. Eine britische Veterinärin wird entlasMatthias Weisheit sen, weil sie sich weigert, für Rindfleisch Exportlizenzen auszustellen, bei dem der Nachweis fehlte, daß die Tiere aus BSE-freien Beständen kommen. Da kann beim Verbraucher kein Vertrauen entstehen. ({14}) Die Regelung, daß ein in Großbritannien geborenes Kalb, das in Frankreich gemästet und geschlachtet wurde, als französisches Fleisch gilt, wirkt genausowenig vertrauenschaffend wie die Praxis holländischer Mäster, die für billiges Geld unbesehen britische Kälber kaufen, in streng isolierten - man höre: streng isolierten! - Haltungen mästen, nach sechs Monaten schlachten und nach Deutschland vermarkten. Diese Beispiele beweisen dreierlei: Erstens. Auch in unseren Nachbarländern scheint man nicht ganz frei von BSE-Angsten zu sein. Zweitens. Ihre beschwichtigende Feststellung, Herr Minister, nur 1 % des in Deutschland verbrauchten Rindfleisches stamme aus Großbritannien, stimmt nicht. Drittens. Die europäischen Institutionen in ihrer derzeitigen Konstruktion und Arbeitsweise sind unfähig, grundlegende Schutzbedürfnisse der Menschen zu garantieren. Skrupellosen Geschäftemachern werden jedoch hohe Profite garantiert, ohne daß sie gegen Gesetze verstoßen und zur Rechenschaft gezogen werden können. Am Beispiel Rinderwahnsinn wird uns der alltägliche EU-Wahnsinn demonstriert: ({15}) Der in jeder Hinsicht grenzenlose Handel ist die oberste Maxime, to make profit ist das oberste Gesetz. Wenn Bundesregierung und Parlament dem nicht entgegenwirken, wenn politisches Handeln dem Bürger nicht deutlich macht, daß sein Wohl an vorderster Stelle steht - und dazu gehört seine Gesundheit -, wird die Akzeptanz Europas noch drastischer zurückgehen, als das bisher schon der Fall ist. Die Auseinandersetzung um BSE darf nicht mit den üblichen Kompromissen zu Ende sein. Dafür sind die Risiken zu groß. Stimmen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, für unseren Antrag und streiten Sie als Bundesregierung mit dem ganzen Gewicht, das Sie doch haben, in Brüssel um eine Lösung, die unsere Verbraucher und unsere Landwirtschaft wirklich schützt! ({16}) Tun Sie das um der Glaubwürdigkeit der Politik und der Akzeptanz der EU bei den Menschen willen! Danke schön. ({17})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege Weisheit, es ist ja ein beliebtes Mittel, wenn eine Entscheidung nicht den eigenen Vorstellungen entspricht, diejenigen, die die Entscheidung getroffen haben, in ihrer Kompetenz in Zweifel zu ziehen. Sie haben dies jetzt getan. Deshalb sagen Sie nicht hinterher, man hätte in die politische Diskussion auch Beamte und Wissenschaftler einbezogen. Sie haben dies hier eingeführt und Zweifel geäußert. Deshalb drei Bemerkungen: Der Wissenschaftliche Veterinärausschuß - ich habe das auch in meiner Rede gesagt - hat, wie mir die Kommission heute noch einmal mitgeteilt hat, einstimmig entschieden. Er hat zu der gleichen Frage mit der gleichen Tendenz bereits im Sommer des letzten Jahres entschieden. Er hat sich, beginnend Dezember 1994, auch in diesem Jahr mit diesem Thema - das ist auch in Anwesenheit der Länderdelegationen wiederholt gesagt worden - noch einmal beschäftigt und das Ergebnis immer wieder bestätigt. Zweite Feststellung. Im Wissenschaftlichen Ausschuß sitzen stimmberechtigte Mitglieder, und die deutschen stimmberechtigten Mitglieder haben die Entscheidung mitgetragen. Auf meinen Wunsch hin sind die beiden Wissenschaftler, die in den deutschen Instituten dafür Verantwortung tragen, beratend hinzugeladen worden. Im übrigen: Es ist überhaupt nichts Neues, daß wir schon seit Sommer des letzten Jahres von dem ursprünglichen Votum des Bundesgesundheitsamtes abweichen. Diese beiden Wissenschaftler, die dort stimmberechtigt sitzen, sind nach der Entscheidung von meinem Staatssekretär eingeladen und noch einmal über ihre Motivation und ihre Gründe befragt worden. Dabei - auch das nehmen Sie bitte zur Kenntnis - war ein Wissenschaftler beim Staatssekretär, der bei der Abstimmung selbst nicht dabei war. Er steht zu der Entscheidung des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses. Wir machen es uns also nicht so leicht, daß wir über Voten gutgläubig hinweggehen. Wir prüfen sie auf ihre Plausibilität. Das dritte ist das beratende Einlassen von Herrn Diringer und Herrn Somogyi. Damit habe ich nicht erst jetzt -, sondern weil ich von diesem Zweifel schon im Dezember 1994 erfahren habe -, bereits im Dezember den damaligen Kommissar Steichen konfrontiert. Er hat mir am 12. Dezember folgendes geschrieben: Es überrascht mich, daß Sie von Herrn Dr. Somogyi und Herrn Dr. Diringer dahin gehend beraten wurden, daß die Aufhebung der Beschränkungen für Rindfleisch von Tieren, die im Vereinigten Königreich nach dem 1. Januar 1992 geboren wurden, nicht gefahrlos sei. Wie Sie wissen, waren beide Wissenschaftler auf Ihren ausdrücklichen Wunsch zu den Punkten, die BSE betrafen, in den Wissenschaftlichen Veterinärausschuß eingeladen. Sie waren beide in der Sitzung anwesend, als der Ausschuß seine Auffassung zu dieser Frage abgab, und beide unterstützten uneingeschränkt die Empfehlungen bezüglich Rindfleisch von jungen Tieren. Darüber hinaus war Herr Dr. Diringer Mitglied der Untergruppe, die den Originalbericht erstellte, und er war der führende Verfechter einer Lockerung gegenüber Tieren, die nach dem 1. Januar 1992 geboren wurden. ({0}) Der Wissenschaftliche Veterinärausschuß wurde als ein Gremium von unabhängigen wissenschaftlichen Beratern für die Kommission geschaffen. Seine Unabhängigkeit stellt ein vitales Element seiner Glaubwürdigkeit dar. Es bereitet mir daher einige Sorgen - so der Kommissar -, daß sich Wissenschaftler, die auf Bitten eines Mitgliedstaates eingeladen wurden, in einer solchen Weise verhalten haben sollten. Nun füge ich aus Fürsorgegründen gegenüber den Beamten folgendes hinzu: Ich habe die beiden Beamten mit dieser Aussage konfrontiert. Herr Somogyi erklärt: Nein, nicht einverstanden. Die Äußerungen, die Herr Diringer uns gegenüber schriftlich abgegeben hat, decken das nicht, was Herr Steichen mir geschrieben hat. Aber ich sage bei aller Fürsorgepflicht: Sie haben bei mir den Eindruck verfestigt, daß die Kompromißbereitschaft größer war, als gelegentlich behauptet und gesagt wird. Ich muß zwischen diesen beiden widerstreitenden Stellungnahmen entscheiden. Ich möchte Ihnen aus Fürsorgegründen jetzt gar nicht vorlesen, was mir von Herrn Diringer schriftlich vorliegt. Ich sage aber korrekterweise, daß er mir mitgeteilt hat, mit diesem Inhalt des Schreibens nicht einverstanden zu sein, aber gleichzeitig in dem Schreiben unter bestimmten Bedingungen Kompromißlinien für die nach dem 1. Januar 1992 geborenen Tiere aufgezeigt hat. Ich will nur davor warnen, meine Damen und Herren, daß wir nach der Agitation der letzten Tage erneut in den Fehler verfallen, auf dem Buckel der beteiligten Wissenschaftler Politik zu betreiben. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Moment, meine Damen und Herren! - In solch einem Fall, dann nämlich, wenn ein Mitglied der Bundesregierung eine gewisse Redezeit überschreitet, was der Bundesminister nicht getan hat, ist es üblich, daß eine neue Runde eröffnet wird. Ich habe aber die Geschäftsführung der SPD-Fraktion von der Absicht des Bundesministers, noch einmal das Wort zu nehmen, unterrichtet mit dem Hinweis, daß dann noch ein SPD-Abgeordneter mit einer Kurzintervention zu Wort kommen kann. Ich glaube, dann ist der Kollege Wodarg derjenige, der jetzt das Wort hat. Bitte, Herr Kollege.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seehofer, ich habe eine sachliche Frage: Haben Sie Daten über das Durchschnittsalter der Schlachttiere in England und darüber, wie dieses sich seit 1990 entwickelt hat? Ich stelle diese Frage deshalb, weil es sich für einen schlauen Landwirt oder auch für einen cleveren fleischerzeugenden Betrieb anbietet, das Wissen um die Inkubationszeit von BSE so zu nutzen, daß man die Muttertiere gar nicht mehr so alt werden läßt, daß BSE bei ihnen ausbricht. Wenn man die Tiere früh genug schlachtet, gibt es keine BSE mehr. Ist das möglicherweise die Ursache für den Rückgang der Zahl der BSE-Fälle in England? Können Sie das ausschließen?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Herr Bundesminister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege, nachdem viele Aktionen der SPD in den letzten Wochen rechtlich und tatsächlich im Sande verlaufen sind, beginnt jetzt die Aktion: In England wird nicht kontrolliert, es wird manipuliert. - Deshalb mache ich Ihnen hier ganz offen ein Angebot: Ich werde in den nächsten Wochen nach Großbritannien fahren. Ich werde dazu auch ein Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion einladen. Es kann diese Fragen, die Sie aufwerfen, die über verschiedene Presseorgane hochkommen, gemeinsam mit mir vor Ort prüfen. Wir haben überhaupt nichts zu verheimlichen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dann schließe ich die Aussprache und erteile zur Geschäftsordnung der Kollegin Katrin Fuchs das Wort. Bitte.

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte für die Fraktion der SPD erklären, daß wir entschieden der Auffassung sind, Herr Präsident, daß Entschließungsanträge zu Regierungserklärungen nicht an die Ausschüsse überwiesen werden müssen, sondern über sie sofort abgestimmt werden sollte, wenn die Antragsteller der Überweisung widersprechen. Das haben wir getan. Diese unsere Auffassung gründet sich auf den Wortlaut der §§ 75 Abs. 2 Buchstabe c und 88 Abs. 1 und 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Dort wird ausdrücklich geregelt, daß über Entschließungsanträge nach Schluß der Aussprache abgestimmt wird und eine Überweisung an die Ausschüsse nicht erfolgt. Nun hat meine Fraktion heute allerdings akzeptiert, daß wir eine Überweisung vornehmen, mit Rücksicht auf eine Entscheidung des Geschäftsordnungsausschusses aus dem Jahre 1991, die - abweichend von dem Wortlaut der zitierten Vorschriften - die Überweisung von Entschließungsanträgen auch gegen den Widerspruch der Antragsteller für zulässig hält. Wir werden allerdings die Frau Präsidentin und den Geschäftsordnungsausschuß bitten, die ZuKatrin Fuchs ({0}) lässigkeit der Überweisung von Entschließungsanträgen neu zu überprüfen, damit wir endgültig Klarheit haben und sozusagen keine Uneindeutigkeiten mehr existieren. Ich danke Ihnen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, ich will natürlich weder der Präsidentin noch dem zuständigen Gremium vorgreifen. Nur, sicher ist: In dem Augenblick, da abgestimmt und möglicherweise abgelehnt wird, kann das Thema in den Ausschüssen nicht mehr behandelt werden. Das wäre der Nachteil eines solchen Verfahrens. Für heute haben wir uns auf die Überweisung der Drucksachen 13/413 - Entschließungsantrag der Fraktion der SPD - und 13/405 - Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - geeinigt. Die Überweisung soll erfolgen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union und an den Ausschuß für Wirtschaft. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 13/403 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Hochwasserkatastrophe - Hilfen und Möglichkeit vorbeugender Maßnahmen ({0}) - Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der Debatte über diesen Punkt nicht teilzunehmen gedenken, bitten, den Saal ein bißchen rascher zu verlassen, damit wir die Unruhe beilegen und mit den Beratungen fortfahren können. Zum Zusatzpunkt 4 liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung eine Stunde vorgesehen. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Hochwasser der vergangenen Tage hat die Bürgerinnen und Bürger in den Überschwemmungsgebieten, vor allem am Rhein und seinen Nebenflüssen, schwer getroffen und große Schäden hinterlassen. Das ist schon zum zweitenmal innerhalb von dreizehn Monaten geschehen. Zum Schutz und zur Versorgung der betroffenen Menschen und Regionen waren Tausende von Helfern im Einsatz. Das Technische Hilfswerk hat gemeinsam mit Einheiten der Feuerwehren, Angehörigen der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes sowie verschiedener Hilfsorganisationen unverzichtbare Hilfe geleistet. Auch in Deutschland stationierte Soldaten unserer Verbündeten haben aktiv mitgeholfen. So waren z. B. 600 französische und 200 amerikanische Soldaten im Einsatz. Ergänzt wurden diese Hilfen durch den selbstlosen und freiwilligen Einsatz zahlreicher Mitbürger, die im Wege der Nachbarschaftshilfe die Betroffenen und auch die Helfer mit Essen und Getränken versorgt und sehr häufig auch Raum für die Evakuierten zur Verfügung gestellt haben. Ich möchte ihnen allen auch im Namen der Bundesregierung für diese Hilfe ausdrücklich Dank aussprechen. ({0}) Alle diese Menschen haben gezeigt, daß nicht Anonymisierung die Gesellschaft bestimmt, sondern daß es in schwierigen Situationen viel Gemeinschaftsfähigkeit und auch Zusammenstehen gibt. Auch das sollten wir einmal zur Kenntnis nehmen. Meine Damen und Herren, Hochwasser treten seit Menschengedenken auf. Das passiert vor allen Dingen dann, wenn extreme und langanhaltende Niederschläge großräumig auf Landschaften treffen, die durch vorangegangene Niederschläge bereits wassergesättigt sind oder durch Frost auf natürliche Weise versiegelt sind. Dies ist - wie schon Weihnachten 1993 - auch bei dem Januarhochwasser 1995 der Fall gewesen: Der Regen ist auf wassergesättigten Böden abgelaufen. Das Geschehen wurde durch die gleichzeitige Schneeschmelze verschärft. Weiterhin haben sich Hochwasserwellen aus unterschiedlichen Einzugsgebieten gleichzeitig getroffen, so daß extreme Hochwasser aufgetreten sind. Das alles ist im Dezember 1993 und auch im Januar 1995 der Fall gewesen. ({1}) Ich glaube, wir sollten als erstes einmal zur Kenntnis nehmen, daß Hochwasser immer schon zur Geschichte des Lebens an den Flüssen gehört haben und daß auch wir sie in unserer Zeit nicht völlig bannen können. ({2}) - Das ist kein Blödsinn. Die Aufeinanderfolge zweier Hochwasser oder mehrerer Hochwasser hat es auch schon zu früheren Zeiten gegeben. 1850 zum Beispiel und 1920 gab es solche Hochwasser mit zum Teil sogar noch höheren Wasserständen. Ich glaube, wir tun den Menschen in unserem Land wirklich keinen Gefallen, wenn wir so tun, als ob Hochwasser etwas ganz Neues und nur Schuld des Menschen wäre - auf die anderen Punkte komme ich noch -, aber manchmal ist die Diskussion so angelegt. ({3}) Inzwischen sind die Fluten zurückgegangen, und die Schäden sind deutlich sichtbar geworden. Ich weiß, daß viele Menschen innerhalb von dreizehn Monaten zum zweitenmal betroffen sind. Deshalb hat sich die Bundesregierung in ihrer Kabinettssitzung am 1. Februar unmittelbar mit den Auswirkungen des Hochwassers beschäftigt und mit den Hilfen des Bundes sowie möglichen Vorsorgemaßnahmen befaßt, und wir haben entsprechende Beschlüsse gefaßt. Die Bundesregierung erklärt sich bereit, gegenüber den für den Katastrophenschutz verantwortlichen Ländern auf eine Kostenerstattung für den Einsatz der Kräfte und des technischen Geräts zu verzichten. Die Lohnausfallerstattung für die ehrenamtlichen Helfer des THW wird mit 5 bis 6 Millionen DM veranschlagt. Schon im vergangenen Jahr hat der Bund eine ähnliche Maßnahme ergriffen. Damals wurde auf 4,1 Millionen DM verzichtet. Ich denke, das ist eine sachgerechte Hilfe in dieser schwierigen Situation. Die Bundesregierung hat des weiteren ein zinsverbilligtes Darlehensprogramm für geschädigte Unternehmen und Freiberufler beschlossen. Sie stellt dafür aus dem Bundeshaushalt 30 Millionen DM bereit, wodurch ein Kreditvolumen von insgesamt 300 Millionen DM möglich wird. Dieses Programm kann von betroffenen mittelständischen Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft und von Selbständigen in Anspruch genommen werden, die bereits durch die Hochwasser im Dezember 1993 geschädigt wurden. Der Zinssatz für dieses Programm liegt rund 3 % unter dem gegenwärtigen Marktzins. Das Programm deckt Maßnahmen zur Ersatzbeschaffung und Schadensbeseitigung einschließlich der Hochwasserfolgen - wie Schlammbeseitigung - bis zur Höchstgrenze von in der Regel 50 000 DM ab. Diese Kredite können auch von Landwirten und Winzern in Anspruch genommen werden, wenn sie Schäden an Gebäuden und Maschinen zu verzeichnen haben. Das Programm ist als einmalige Hilfestellung des Bundes angelegt und soll die Maßnahmen, die von den Ländern initiiert wurden, ergänzen. Ich begrüße sehr, daß die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereit ist, auch für betroffene Privatpersonen aus eigenen Mitteln ein Darlehensprogramm von 700 Millionen DM zu einem Nominalzins von 6 % anzubieten. Dies ist aus meiner Sicht eine wirksame Ergänzung der bestehenden Hilfsprogramme der Länder. Darüber hinaus können unmittelbar und nicht unerheblich betroffene Personen bis 30. Juni 1995 ohne besonderen Nachweis beim Finanzamt eine Stundung fälliger Steuern beantragen. Außerdem ist es möglich, die Vorauszahlungen zur Einkommen- und Körperschaftsteuer anpassen zu lassen. Für den Ersatz beschädigter Maschinen werden Sonderabschreibungen und die Bildung freier Rücklagen eingeräumt. Das gilt auch, wenn ein zerstörtes Gebäude wieder aufgebaut wird. Die Wertberichtigungen können bei Häusern bis zu 30 % und bei Maschinen bis zu 50 des Neupreises betragen. Diese Maßnahmen, die wir rechtzeitig getroffen haben, machen deutlich, wie wichtig es ist, sofort zu reagieren. Wir haben dies seitens der Bundesregierung getan, und wir hoffen, den Menschen, die betroffen sind, ein wenig geholfen zu haben. Es ist auch wichtig - das haben wir dieses Jahr auch gemerkt -, daß wir einen sehr gut funktionierenden Hochwassermeldedienst haben. Der Bund beteiligt sich am Hochwassermeldedienst der Länder hauptsächlich durch seine Pegelanlagen an Bundeswasserstraßen, durch die von der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung entwickelten Computermodelle für die Wasserstandsvorhersagen, die laufend auf den neuesten technischen Stand gebracht werden, sowie durch den personellen Einsatz im Warndienst während des Hochwasserereignisses. ({4}) Der Meldedienst hat in diesem Jahr reibungslos funktioniert. Man merkt immer erst, wenn etwas nicht funktioniert, wie wichtig es ist. Deshalb danke ich denen, die dort permanent die Messungen und die Überwachung vornehmen. ({5}) Allerdings - auch das muß man zur Kenntnis nehmen - erstrecken sich die exakten Vorhersagemöglichkeiten nur auf einige Stunden, da die Vorhersagen der meteorologischen Ereignisse nicht mit der nötigen Präzision möglich sind. Diese Tatsache erschwert es ganz wesentlich, Hochwasserrückhaltemöglichkeiten am Oberrhein optimal für die Kappung einer Hochwasserspitze am Niederrhein zu nutzen. Aber wir werden uns als Bundesregierung auch hier gemeinsam mit den Ländern bemühen, die Wetter- und Hochwasservorhersagen permanent und kontinuierlich zu verbessern. ({6}) - Sie können sagen, das sei nicht das Problem. Es ist sehr wohl das Problem, daß man seine Vorhersagemöglichkeiten ordentlich einsetzt und den Menschen hilft, die betroffen sind. Wenn Sie das für unwesentlich halten, müssen Sie es den Leuten draußen sagen. Wir halten es nicht für unwesentlich, und ich spreche hier für die Bundesregierung. ({7}) Vorbeugende Maßnahmen zum Hochwasserschutz - auch darüber haben wir gesprochen - sind im Rahmen der grundgesetzlichen Aufgabenverteilung Sache der Bundesländer. Die Bundesregierung wird jedoch im Rahmen ihrer Zuständigkeit prüfen, welche zusätzlichen Maßnahmen zu einer langfristigen Vorsorge gegen Hochwasserschäden ergriffen werden können, denn die zahlreichen Untersuchungen für die Ursachen der Hochwasser 1993/94 und 1995 haben eines klar gezeigt: Es gibt nicht eine Ursache für Hochwasser, die es effizient zu bekämpfen gilt, sondern es gibt eine ganze Fülle von Ursachen und Gründen, die sich zum Teil addieren, die wir zum Teil beeinflussen können und zum Teil nicht und die sich zum Teil auch gegenseitig verstärken. Die Gewässer und ihre Einzugsgebiete haben im Verlauf der Erdgeschichte durch die umgestaltende Wirkung der Natur selbst, seit Jahrhunderten aber auch durch menschliche Eingriffe Veränderungen erfahren. Deswegen müssen wir, wenn wir im Rahmen des Möglichen Vorsorge gegen künftige Hochwasser betreiben wollen, auf verschiedenen Feldern aktiv werden. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland unter Gewässerschutz lange Zeit vorrangig die Verminderung von Schadstoffeinträgen in Flüsse und Seen verstanden. Künftig kommt es darauf an, in den Gewässerschutz das Gesamt-Ökosystem unserer Gewässer einzubeziehen. Dieser ganzheitliche Ansatz besagt, daß wir Wasserwirtschaft, Raumplanung, Schiffahrt, Landwirtschaft und Naturschutz nicht isoliert voneinander betrachten dürfen, sondern daß wir sie als Einheit und damit auch in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten behandeln müssen. Von dieser Erkenntnis war auch das jüngste informelle Treffen der EU-Umweltminister in Arles geprägt, bei dem wir uns auf die Aufstellung eines Aktionsplanes durch die Internationale Rheinschutzkommission zunächst für das Einzugsgebiet des Rheins und der Maas verständigt haben. Ähnliches soll für das Gebiet von Mosel und Saar folgen. Ich halte diesen Beschluß der Internationalen Rheinschutzkommission für sehr wichtig, weil hier alle Anliegerstaaten, sozusagen von der Quelle bis zur Mündung, miteinander über den Fluß sprechen und das für das Ökosystem Notwendige tun; denn gerade das Hochwasser dieses Jahres mit den immensen Überschwemmungsflächen bei unseren niederländischen Nachbarn hat gezeigt, daß wir international bei der Bekämpfung der Ursachen vorankommen müssen und daß die Oberlieger Verantwortung auch für die Unterlieger tragen. Die Arbeiten an diesem Aktionsplan sind bereits angelaufen. Die Internationale Rheinschutzkommission hat eine Projektgruppe „Hochwasserschutz" gebildet, die im März zusammentreten wird. Wir werden die nationale Abstimmung zwischen Bund und Ländern parallel hierzu aufnehmen. Der Bauminister wird sich bemühen, gemeinsam mit den Ländern und den betroffenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie der Europäischen Kommission ein raumordnerisches Aktionsprogramm zur dauerhaften Verringerung von Hochwasser durch entsprechende Planungen und Maßnahmen der Raumnutzung und Raumbewirtschaftung in den großen Flußtälern und den Tälern ihrer Nebenflüsse aufzustellen. Soweit meine Aussagen zum europäischen Rahmen, der die Bundesregierung natürlich zugleich verpflichtet, auch national aktiv zu werden. Neben den vielfachen Hilfen, die die Bundesregierung auf ihrer vorletzten Kabinettsitzung beschlossen hat und die ich hier dargestellt habe, müssen weitere, vorsorgende Maßnahmen geprüft und in Angriff genommen werden. Dazu gehört die Ergänzung des Wasserhaushaltsgesetzes durch weitere materielle Vorschriften zu Überschwemmungsgebieten mit dem Ziel, natürliche Überschwemmungsgebiete zu erhalten und, soweit es möglich ist, wiederherzustellen. Das ist ganz eindeutig unser Ziel. Es gehört dazu der Erlaß eines Bodenschutzgesetzes, das zum Ziel hat, Bodenversiegelung und Bodenverdichtung einzuschränken. Es gehört dazu die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes mit dem Ziel integrierter Maßnahmen des Naturschutzes und der Wasserwirtschaft, z. B. Schaffung und Erhaltung von Auewäldern. Es gehört ebenso dazu die Prüfung, ob die derzeitigen Ansätze ausreichen oder ob man noch mehr tun kann bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", um damit für bestimmte, den Wasserabfluß ausgleichende Vorsorgemaßnahmen im Bereich der Wasserwirtschaft noch mehr zu tun, z. B. zur Schaffung von Überschwemmungsgebieten. Ich möchte noch sagen, daß schon heute Hochwasserschutzmaßnahmen im ländlichen Raum vom Bund über die Gemeinschaftsaufgabe mit bis zu 60 % mitfinanziert werden. In den Jahren 1990 bis 1994 hat die Bundesregierung zwischen 76 und 96 Millionen DM jährlich nach den Grundsätzen für die Förderung wasserwirtschaftlicher und kulturbautechnischer Maßnahmen für den Fördertatbestand „Ausgleich des Wasserabflusses" bereitgestellt. Damit wurden für den Hochwasserschutz Gesamtinvestitionen von jährlich 500 bis 600 Millionen DM in der Bundesrepublik Deutschland getätigt. Das sollte man einmal zur Kenntnis nehmen. ({8}) Es ist nämlich nicht so, daß gar nichts passiert. ({9}) - Sprechen Sie einmal mit Ihren Ländervertretern; die sind sehr stolz darauf. Wenn Frau Martini uns davon erzählt, was sie im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe alles getan hat - was sie alles ganz toll findet -, dann werden wir wohl noch sagen dürfen, daß wir das mitfinanziert haben. Weiter gehört dazu, daß wir ein EU-Programm zur Schaffung von Überschwemmungsgebieten und Poldern initiieren und daß wir Maßnahmen zur Änderung des Umgangs mit Regenwasser prüfen, insbesondere mit dem Ziel, den Abfluß zu verzögern. Alle von mir vorgeschlagenen Maßnahmen sind aber lang- oder bestenfalls mittelfristige Vorhaben, die allerdings auch dann die größte Wirkung entfalten, weil sie an der Wurzel, an der Ursache ansetzen. ({10}) Wir wissen alle miteinander - auch Sie sind vor Ort -, daß es genau so sein muß und daß es überhaupt keinen Sinn hat, zu sagen, daß wir innerhalb von ein oder zwei Jahren bestimmte Fehlentwicklungen wieder rückgängig machen können. Ich denke aber, wir müssen - das gehört auch zu den Dingen, die wir miteinander diskutieren müssen, auch wenn wir draußen sind - sagen, daß wir die Naturkatastrophen nicht völlig ausschließen können. Wir können nur das Menschenmögliche machen. Die Bundesregierung wird das Ihrige tun, sowohl beim aktuellen Geschehen - das haben wir getan - als auch im Vorsorgebereich. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Kollege Michael Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu den Ursachen und zu den Zusammenhängen komme, möchte ich drei Bemerkungen machen: Erstens geht unser Dank an die zahllosen Helfer, die sich zum Teil sehr selbstlos eingesetzt haben, um die betroffenen Menschen zu unterstützen. ({0}) Zweitens möchte ich der betroffenen Bevölkerung unsere Anerkennung für ihre Besonnenheit aussprechen; auch das war unter Gemeinsinnaspekten eine hervorragende Leistung. ({1}) Drittens - diese Bemerkung halte ich für besonders wichtig, weil das hier noch nicht angesprochen worden ist - geht unser Mitgefühl an die betroffenen Bürger in unserem Nachbarstaat Holland. Eine Viertelmillion Menschen zu evakuieren, das ist etwas Schlimmes. Ich finde, das ist eine besondere Verpflichtung, nicht nur über die Folgen, sondern auch über die Ursachen einer solchen Entwicklung zu reden, und zwar nicht nur dann, wenn das Hochwasser da ist. ({2}) Was mich bei diesem Thema besonders bewegt, ist die Frage: Wie gehen wir eigentlich mit sich langfristig abspielenden Veränderungen, schleichenden Veränderungen sozusagen, um, die zum Teil auch zeitverzögerte Wirkungen haben? Sie, Frau Ministerin, sagen in Ihren Ausführungen - ich finde das sehr kühn -, es könne nicht behauptet werden, daß dies mit klimatischen Aspekten zusammenhänge. Das steht in Ihrer Rede. Ich halte das - nicht nur, weil da viele Klimawissenschaftler ganz anderer Auffassung als Sie sind - für eine sehr kühne und auch sehr leichtfertige Behauptung. ({3}) Ich kann sie nicht teilen. Im Gegenteil, ich muß sie entschieden zurückweisen gerade unter dem Aspekt: Wie geht die Politik verantwortlich mit langfristigen Veränderungen um? Die Indikatoren, die Hinweise, daß sich langfristig etwas im Abflußregime der Flüsse und langfristig etwas im ganzen Wasserzyklus in Europa verändert, sind sehr gravierend. ({4}) Die Politik muß sie zur Kenntnis nehmen und kann nicht sagen: „Es ist nichts belegt." ({5}) Im Gegenteil; ich werde dazu gleich ein paar Bemerkungen machen. Im übrigen weise ich darauf hin, daß beispielsweise unsere Klimaenqueteberichte genau auf diesen Punkt der Veränderung der Hydrosphäre z. B. durch die Abschmelzungsprozesse in den Alpen sehr präzise eingehen. Sie stehen hier übrigens auch in einem eklatanten Widerspruch zu den wissenschaftlichen Ergebnissen, die beispielsweise die Klimaenquetekommission veröffentlicht hat. Mein Problem ist eigentlich: Wie gehen wir mit solchen Prozessen, die unheimlich viele Menschen betreffen, um, nachdem wir wissen, daß die Hochwasser zunehmen? Wir hatten 1978 das erste größere Hochwasser in der Zeit nach 1950, dann 1983, 1987, 1988, 1990, 1993 und jetzt. Wir haben also eine enorme Zunahme im Auftreten von Hochwassern. Die Reaktion in der Politik ist immer relativ gleich: Tagelang ist es ein öffentliches Thema, dann werden Ankündigungen gemacht, und dann ist das Thema weg, und die Politik beschäftigt sich nicht mehr damit. Das kann nicht sein vor dem Hintergrund, daß wir davon ausgehen müssen, daß Hochwasser zunehmen. ({6}) Das heißt: Wir können die Problematik nicht auf ein besseres Hochwassermanagement reduzieren, sondern müssen sehr viel intensiver darüber nachdenken, was eigentlich die Ursachen sind. Es ist richtig - da unterstütze ich Ihre Auffassung -, daß die Ursachen vielfältig sind. Dazu gehören die Versiegelung, die Betonierung, Monokulturen in der Landwirtschaft und ähnliches. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß die Bundesregierung im Jahre 1989 auf die Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion nach dem zunehmenden Auftreten der Hochwasser geantwortet hat: Natürlich hat dies auch klimatische Ursachen. So Ihre Bundesregierung. Michael Müller ({7}) Ich glaube, daß das richtig ist; denn das Klimasystem hat nicht nur Erwärmungsprozesse zur Folge - das ist eine Illusion -, daran sind beispielsweise auch völlige Verschiebungen in der Niederschlagsverteilung, im Wasserhaushalt etc. gekoppelt. Diese Zusammenhänge muß man begreifen. Wenn man diesen Zusammenhang betrachtet, muß man darauf hinweisen, daß wir vor allem vier alarmierende Faktoren haben, die darauf hindeuten, daß wir es in der Zukunft verstärkt mit klimabedingten Hochwassern zu tun haben. Erstens, wir haben heute etwa 4 % mehr Wasserdampf in der Atmosphäre als vor 100 Jahren. Das ist eine Folge der verstärkten Verdunstung durch Erwärmungsprozesse. Dadurch kommt es natürlich auch zu mehr Regenfällen. ({8}) Ein zweiter wesentlicher Faktor ist: Wir haben in den Wintermonaten eine sehr viel geringere Eis-, Schnee- und Wasserspeicherfähigkeit. Einer der dramatischsten Punkte ist, daß sich in den letzten 130 Jahren die Zahl der Inlandgletscher in den Alpen fast halbiert hat. Damit verändert sich natürlich auch der gesamte Wasserzyklus: Wenn weniger gespeichert wird, fließt es schneller ab und es kommt im Frühjahr bzw. im Winter häufiger zu Hochwassern, im Herbst zu länger anhaltenden Niedrigwasserständen. Das sind alarmierende Signale. Wir haben drittens vor allem im Winter höhere Durchschnittstemperaturen. Viertens - auch darauf muß ich hinweisen -: Wer sich die längerfristige Extremwertstatistik in der Wetterbildung anschaut, wird feststellen - das ist alarmierend -, daß die extremen Wetterschwankungen von warm auf kalt in den Wintermonaten bei uns enorm zunehmen. Alles das sind Signale dafür, daß der gesamte Wasserhaushalt durcheinandergerät. Insofern muß man neben den Ursachen, die wir kennen, wie der Versiegelung, der Betonierung und der Monokulturen in der Landwirtschaft, berücksichtigen: Es laufen langfristige Prozesse ab, die wir mit unserer üblichen Betrachtungsweise „Jetzt machen wir ein bißchen mehr Hochwassermanagement" nicht in den Griff bekommen. ({9}) Deshalb, meine Damen und Herren, finde ich die Aussage zumindest angesichts der Hinweise, die wir bekommen haben, höchst leichtfertig, daß dies keine klimabezogenen Ursachen habe. Dies bitte ich zu korrigieren, denn die Schlußfolgerungen daraus sind dramatisch. Wir müßten dann vor allem die gemeinsamen Anstrengungen zur Reduktion von wärmestauenden Gasen, insbesondere von Kohlendioxid, verstärken. Nun sagen Sie, in den Jahren 1850 und 1920 habe es auch große Hochwasser gegeben. Wer streitet das ab? Die Ursachen damals waren aber völlig andere: Nach extrem tiefen Temperaturen hatte es am Rhein enorme Vereisungsprozesse gegeben. Als das Eis geknackt war, ist das aufgestaute Wasser mit einer unglaublichen Geschwindigkeit abgeflossen und hat zu Hochwasser geführt. Dabei handelt es sich um eine völlig andere Ursache als bei den heutigen Hochwassern. Heute entstehen sie durch die extreme Zunahme von Regen, durch schnellere Abschmelzungsprozesse etc. Das heißt, die Ursachen für die früheren Hochwasser bestanden in erster Linie im Vereisen des Rheins und seiner Nebenflüsse und der darauffolgenden schnellen Erwärmung, während sie heute in der langfristigen Veränderung der Wetterbildung selbst bestehen. Deshalb finde ich es nicht in Ordnung, die geschichtlichen Vergleiche in dieser Weise heranzuziehen. Das hatte andere Ursachen; auch die Konsequenzen sind deshalb anders. Ich glaube, ein wesentlicher Grund dafür, daß man dies in einen Zusammenhang bringt, liegt darin, daß man dann nicht das tut, was man im Klimaschutz immer versprochen hat. Das ist der eigentlich entscheidende Punkt. ({10}) - Sie haben völlig recht. Wir müssen vor allem die Kohleeffizienz mit Einsparungen verbinden. Das ist keine Frage. Wer streitet das auf dieser Seite ab? Kein Mensch. Ihr Weg aber, ein verschwenderisches System beizubehalten, nur um die Kohle durch die Atomenergie zu ersetzen, ist nicht unser Weg. Das werden wir nicht mitmachen. Das bedeutet nämlich, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. ({11}) Es geht schon um ein bißchen mehr Intelligenz. Da muß man Zusammenhänge begreifen. ({12}) - Ja, in der Energiepolitik sind die Zusammenhänge sehr kompliziert. Es ist auch schwer, dies innerhalb einer relativ kurzen Debatte hier zu erklären. Vage sind auch Ihre Erklärungen zum Naturschutz- und zum Bodenschutzgesetz. Wir sagen: Wir unterstützen Sie, wenn Sie das Gesetz einbringen. Ich erinnere mich aber daran, daß die ersten Ankündigungen hier im Bundestag vor acht Jahren gemacht worden sind. Was ist in den letzten acht Jahren passiert? Wer so etwas ankündigt, muß auch etwas auf den Tisch legen. Im Augenblick haben wir auf Grund der Erfahrungen, die wir in den letzten acht Jahren gemacht haben, eher die Befürchtung, daß es bei den Ankündigungen bleibt. ({13}) Ich möchte eine abschließende Bemerkung zu den Hilfen machen. Ich bitte Sie, doch sehr ernsthaft darüber nachzudenken, oh wir bei den Hilfsprogrammen nicht auch Maßnahmen beispielsweise für gemeinnützige Einrichtungen vorsehen sollten. Die falMichael Müller ({14}) len nämlich im Augenblick aus den Hilfen völlig heraus. Es geht beispielsweise um Sportvereine, deren Sportplätze kaputtgegangen sind. Es geht um Kindergärten, die von Sozialorganisationen getragen werden. Ich bitte sehr herzlich darum, darüber nachzudenken, ob man die Programme nicht auch auf diese Gruppen erweitert. Im übrigen bin ich der Meinung, daß wir auch den Privathaushalten anders helfen sollten. ({15}) Ein Zinsprogramm mit 6 %, Entschuldigung, das ist vor dem Hintergrund, daß die Menschen immer häufiger betroffen sind, geradezu lächerlich. Das geht auch nicht. Es kann nicht sein, daß wir in dem Bereich ein reines Wirtschaftsprogramm machen, die Menschen aber doch weitgehend hängenlassen. Ich bitte Sie, dies ernsthaft zu prüfen und dann zu korrigieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Steffen Kampeter.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wichtig ist es - das haben die Vorredner ja deutlich gemacht -, sich der Probleme der Menschen anzunehmen. Die Tendenz des Wortbeitrages von Herrn Kollegen Müller war etwa: Schuld am Hochwasser ist nur das Klima allgemein und die Bundesregierung im besonderen. Ich weiß nicht, ob der Beitrag, den Sie hier geleistet haben, den Problemen der Menschen gerecht wird. Vor allem stellt sich diese Frage, wenn man sich an die heutige Diskussion im Haushaltsausschuß über die Kohlefinanzierung erinnert. Da konnte man alle Ihre sozialdemokratischen Kollegen hören, die für das Herausholen einer hohen Menge Kohle aus jedem Bergwerk waren. Da war Kohle völlig klimairrelevant. Während im Haushaltsausschuß die Diskussion wahrscheinlich noch weiterläuft, tun Sie hier so, als sei Hochwasser ausschließlich ein Klimathema. Ich finde, das greift wirklich zu kurz. Sie wollen eigentlich nur von dem umfassenden Versagen Ihrer Energiepolitik und von Ihrer gespaltenen Haltung im Hinblick auf die Energiekonsensgespräche ablenken. Sie sind energiepolitisch nicht handlungsfähig und verwenden das Hochwasser zu kurzfristigen populistischen Profilierungen. ({0}) Die Qualität Ihrer Anträge, die wir ja noch im Ausschuß beraten werden, zeichnet sich durch eines nicht aus, nämlich durch hohe Aktualität. Sie haben das 95er Hochwasser zum Anlaß genommen, Ihre bereits Anfang 1994 im Deutschen Bundestag eingebrachten Anträge noch einmal abzuschreiben. Wahrscheinlich sind es auch dieselben Presseerklärungen, die Sie vorgelegt haben. Besonders originell ist das nicht. Die Wichtigkeit dieses Themas wird allerdings u. a. auch daran deutlich, daß wir heute das Thema Hochwasser in Form einer Regierungserklärung hier im deutschen Parlament beraten und nicht auf andere parlamentarische Debattenformen ausweichen. Bei der Regierungserklärung der Bundesministerin Merkel ist sehr deutlich geworden, daß die Hochwasserprophylaxe ganz wesentlich eine Frage der Länderkompetenz ist. Wie schwierig die Abstimmung zwischen den einzelnen Bundesländern ist, kann man beispielsweise an dem Streit zwischen BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen hinsichtlich der Öffnung der Polder sehen. Dies betrachte ich mit großer Gelassenheit, weil sich hier ja zwei sozialdemokratische Minister gestritten haben; aber dies zeigt auch, daß es ein Idealrezept der Hochwasserprophylaxe und der Hochwasserbehandlung nicht gibt. Im Mai 1994 haben deswegen ja wohl auch die Bundesländer in der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser den Auftrag erteilt, Hochwasservorsorgestrategien unter besonderer Berücksichtigung ökologischer Belange zu erstellen. Es wäre angesichts der seither verstrichenen Zeit interessant zu wissen, was in den zuständigen Ländern erfolgt ist. Ich habe sehr wohl notiert, daß die zuständige rheinland-pfälzische Ministerin nach der BSE-Dbatte den Saal verlassen hat - sicherlich mit gutem Grund - und während der jetzt laufenden Hochwasserdebatte offensichtlich aus ihrer Sicht politisch wichtigere Fragen erörtert. Herr Kollege Müller, ich will noch einmal auf die Klimaaspekte zurückkommen. Ich halte es in der Sache zumindest für fraglich, daß das die einzige Kausalität ist. Ich habe mit großem Interesse gelesen, was der Hochwasserexperte des BUND, Krug, in einem Interview mit einer ebenso unverdächtigen, nämlich eher linksorientierten Tageszeitung gesagt hat: „Seriöserweise kann man nicht behaupten, daß der Treibhauseffekt und unsere Hochwasser der letzten Jahre in direktem Zusammenhang stehen. " Ich möchte anzweifeln, Herr Kollege Müller, daß Ihre zu 90 % aus Fragen zum Klima bestehende Rede im Sinne der Wertmaßstäbe von Herrn Krug eine seriöse Rede gewesen ist. ({1}) Wir sollten das eine oder andere hier noch einmal erörtern. Dabei ist es wichtig, daß wir Hochwasserschutzpolitik als Querschnittspolitik betreiben. Ein Beispiel ist die Verkehrspolitik. Ich hätte mir gewünscht, daß wir in den vergangenen Jahren aus Sicht der Umweltpolitik im Rahmen der Flächenversiegelung auch mit den Verkehrspolitikern zu noch konstruktiveren Gesprächen gekommen wären, daß wir für dieses Thema mehr Sensibilität hätten erzeugen können. Ein weiteres Beispiel - die Baupolitik - zeigt, daß wir mit Hilfe des Baurechts die planerischen Voraussetzungen schaffen könnten, um diese Aspekte bei zukünftigen Planungsrechtsnovellen integrierend mitzubehandeln. Bundesminister Töpfer hat in diesem Sinne viel Gutes gesagt. Auf den Katastrophenschutz wird die Kollegin Steinbach in ihrem Wortbeitrag noch umfassend eingehen. Ich würde mich freuen, Herr Kollege Müller, wenn wir zu mehr Sachlichkeit beim Ausgleich der finanziellen Folgen kommen würden. Ihr Notstandsprogramm in Höhe von 50 Millionen DM geht - wie sollte es bei der Opposition anders sein - über die Vorstellungen der Regierung hinaus. Aber wenn ich mir den Sachschadensanteil in Höhe von ca. 1,5 Milliarden DM - nach einer Schätzung des Instituts der Deutschen Wirtschaft - anschaue, dann stelle ich fest, daß wir bei den Betroffenen eigentlich nur Erwartungen wecken werden, die wir auch mit zusätzlichen 50 Millionen DM nicht werden erfüllen können. Deswegen müßte geprüft werden, ob wir im Rahmen einer versicherungsrechtlichen Lösung - beispielsweise indem wir in der Gebäude-, Brand- und Elementarschadensversicherung den Schadensfall Hochwasser integrieren - privatrechtlich abzusichernde Risiken auch privatrechtlich absichern können. Es kann nicht jedes Risiko sozialisiert werden. Ich gehe davon aus, daß im Bundesjustizministerium entsprechende Überlegungen geprüft werden, Ausdrücklich hervorgehoben werden sollte auch - darauf hat die Ministerin hier schon hingewiesen -, daß auf der gerade vor wenigen Wochen stattgefundenen International en Rheinanliegerkonferenz eine ganzheitliche medienübergreifende Politik im Rahmen der dritten Phase des Aktionsprogramms Rhein beschlossen wurde. Dort werden verschiedene Aspekte des Gewässerschutzes, der Nutzungs- und der Bewirtschaftungspolitik, aber auch der Raumplanung mitbehandelt. Das ist das, was wir als Umweltpolitiker erwarten: eine ganzheitliche Betrachtung, eine langfristige Betrachtung, die die verschiedensten Aspekte und auch die darin bestehenden Nutzungskonflikte mitberücksichtigt. Es sind schon einige wichtige Maßnahmen vom Bund finanziert worden, insbesondere im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz". Man muß bei der Fortentwicklung dieser Instrumente sicherlich überprüfen, ob in dem Bereich noch weiteres finanziell leistbar ist. Der Kollege Müller hat darauf hingewiesen, daß weitere Maßnahmen erforderlich sind. Ich will auf eine Maßnahme etwas ausführlicher eingehen: das Bodenschutzgesetz. Ich begrüße die Ankündigung der Bundesregierung, daß in diesem Frühjahr ein Bodenschutzgesetz im Entwurf vorgelegt werden wird. Im Rahmen der bisherigen Beratungen gab es zwei Elemente dieses Bodenschutzgesetzes: zum einen den Altlastenteil und zum anderen den Vorsorgeteil. Eine Ankündigung im Rahmen einer Regierungserklärung über die Hochwasserschutzpolitik zeigt mir, daß der Vorsorgeteil in der Diskussion jetzt noch stärkere Bedeutung bekommen wird. Die Koalition möchte mehr Maßnahmen gegen Bodenversiegelung und Verdichtung. Wir müssen auch darüber diskutieren, wie es mit den Rückbaumaßnahmen steht. Eine kleine Lösung halte ich in diesem Zusammenhang für keine Lösung. Deswegen, Frau Ministerin Merkel, herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, die verschiedenen Aspekte des Bodenschutzes voranzubringen. Wir werden den im Frühjahr zu erwartenden Entwurf sorgfältig prüfen, auch unter den Vollzugsaspekten der Länder, was mir ganz besonders wichtig ist. Es gibt aus den Bundesländern Diskussionsbeiträge unterschiedlicher Richtung. Die Koalition wird sie angemessen würdigen und gemeinsam mit den Ländern einen vollzugsfreundlichen Entwurf verabschieden. Genauso offensiv werden wir das Thema Bundesnaturschutzgesetz angehen. Auch hier gilt es noch einige Klippen zu umschiffen. Wer die Diskussion der vergangenen Jahre kennt, weiß, daß gerade die Umsetzung dieser Ankündigung, Frau Ministerin, noch mit viel Arbeit verbunden ist. In diesem Sinne begrüßen wir die Regierungserklärung und die darin angekündigten Maßnahmen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Kollegin Altmann das Wort. ({0})

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in Friesland ein altes Sprichwort: Wer nit will wieken, der mutt dieken. Das gilt nur noch bedingt. Einer Viertelmillion Menschen in der Umgebung von Nijmegen stand das Wasser fast bis zum Hals. Eine komplette Region mußte evakuiert werden. Gesamtschaden: 3 Milliarden DM. Das hätten sich unsere niederländischen Nachbarn wahrlich nicht träumen lassen. Nach jahrhundertelangem erfolgreichen Kampf gegen das Meer von vorn, kommt das Wasser nun von hinten mit einer Wucht, die sich mit einer Laune der Natur nicht mehr erklären läßt. Die immer schneller aufeinanderfolgenden Jahrhunderthochwasser sind aber keine Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen, mit denen man sich abzufinden hat. ({0}) Sie sind Ergebnis einer ungebrochenen Technik- und Wachstumsgläubigkeit, die ausschließlich betriebswirtschaftlichen Interessen folgt und volkswirtschaftGila Altmann ({1}) liche Lasten ausblendet. Ich finde es auch wieder typisch, daß zu diesem Thema Frau Merkel redet und nicht Herr Wissmann oder Herr Rexrodt, der heute morgen noch über ungebremstes Wachstum schwadroniert hat. ({2}) Die Ursachen des Hochwassers sind vielfältig und in der Kombination katastrophal. So sind unsere Flüsse zu Durchraskanälen ausgebaut worden: von Basel bis Karlsruhe heute in 28 Stunden, früher waren es mal 65. ({3}) Dafür wurden in den letzten zwanzig Jahren am südlichen Oberrhein 60 % - das sind 130 Quadratkilometer - der natürlichen Überflutungsgebiete vernichtet. Bebauung und Versiegelung der Flußauen, intensive Landwirtschaft und die allgemeine Klimaerwärmung gerade auch durch den Verkehr lassen die Abstände zwischen den Naturkatastrophen immer kleiner werden. Die beiden einzigen Jahreszeiten, die wir noch kennen, sind inzwischen der Ozonsommer und der Dauerregenwinter. In der Analyse der Ursachen sind sich fast alle einig, aber die dringend erforderlichen Maßnahmen will niemand ergreifen. So blieb auch der SPD-Antrag vom Februar 1994 zum Hochwasser ohne Folgen. ({4}) Nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn" tauchten leider die Politiker interfraktionell mit dem Hochwasser wieder ab. Es sei auch mal der SPD und Herrn Müller ins Stammbuch geschrieben: Wer mit seinen Anträgen zur Umweltpolitik wirklich ernst genommen werden will, der muß auch in der Tagespolitik konsequent bleiben und darf z. B. nicht dem Bundesverkehrswegeplan, dieser Flächenversiegelungsorgie, und dem Ausbau der Wasserstraßen zustimmen. ({5}) - Gehen Sie mal in den Verkehrsausschuß! ({6}) Umweltministerin Merkels Versuch, mit dem Dauerbrenner Bodenschutzgesetz Land zu gewinnen, ist dagegen fast peinlich, hat doch schon Herr Töpfer das Werk jahrelang in seiner Schublade gebunkert. Rausholen und beschließen, das wäre doch mal was, aber nichts passiert. ({7}) Statt dessen taucht mitten im Hochwasser auch noch ein Entwurf für ein Bundeswasserstraßenausbaugesetz auf - jetzt ist es ruhig, nicht? -, ({8}) das den beschleunigten Ausbau -

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Altmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, das tue ich jetzt nicht. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Meine Kolleginnen und Kollegen, es ist ihr gutes Recht.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Müller, Sie sollten unbedingt einmal zuhören. Wir brauchen da nämlich auch Ihre Solidarität. Ich rede gerade vom Bundeswasserstraßenausbaugesetz, das den beschleunigten Ausbau von weiteren 28 Flußabschnitten vorsieht. Beschleunigungsminister Wissmann - jetzt komme ich zur CDU ({0}) ficht das alles nicht an. Knapp 8 Milliarden DM will er in den nächsten Jahren in neuen Flußbetonsärgen vergraben. ({1}) - Ja. - Angeblich gibt es ein übergeordnetes staatliches Interesse, für das die letzten demokratischen Kontrollmöglichkeiten der Bevölkerung den Bach runtergehen sollen. Im Klartext: Die Fehler bei den Flußausbaumaßnahmen in den alten Bundesländern sollen in den neuen wiederholt werden. Weitere Hochwasserkatastrophen werden billigend in Kauf genommen. Wenn Sie den Entwurf des Gesetzes noch nicht kennen, sollten Sie ihn sich einmal besorgen; er liegt in den Ministerien aus. ({2}) Auch die letzten noch natürlich anmutenden Flüsse sollen begradigt und einbetoniert werden, und das alles angeblich der Binnenschiffahrt zuliebe. Daß gerade in diesem Gewerbe, das sich in seiner größten Krise seit Bestehen der BRD befindet und das durch das Hochwasser Millionenverluste zu beklagen hat, 90 % der Partikuliere in ihrer Existenz gefährdet sind, zeigt die Schizophrenie, mit der hier argumentiert wird. Der verantwortliche Verkehrsminister entpuppt sich also nicht nur, wie die „taz" ihn gestern tituGila Altmann ({3}) lierte, als „Autobahnrowdy", sondern auch als Rambo unter den Kanalarbeitern. ({4}) Wer wie Herr Wissmann wegen einer Fahrzeitersparnis von fünf Minuten auf der A 20 mitten durch das Naturschutzgebiet Peenetal brettern will, sollte nicht mit dem Verlust seines Staatssekretärs Knittel, sondern mit dem Entzug sämtlicher verkehrspolitischer Lizenzen zu Wasser, zu Lande und in der Luft bestraft werden. ({5}) Die Menschen, die jetzt zum wiederholten Male den Schlamm aus ihren Wohnungen schaufeln müssen, finden das allerdings überhaupt nicht witzig. Die sozialen Folgen, unter denen besonders die kleinen Leute leiden, sind immens, weil Sie mit Ihren Soforthilfen so knickrig sind. Deshalb haben wir in unserem Antrag als Soforthilfe 500 Millionen DM beantragt. Das ist exakt die Summe, die für den Elbeausbau vorgesehen ist. Damit haben Sie keine Probleme. ({6}) Wir fordern die Bundesregierung auf, die Ausbaupläne für alle bundesdeutschen Flüsse sofort zu stoppen, die entsprechenden Titel mit einer Haushaltssperre zu belegen und dieses unselige Beschleunigungsgesetz vom Tisch zu nehmen. ({7}) Wer immer wieder beteuert, daß es für eine ökologische Wirtschafts- und Verkehrspolitik kein Geld gibt, der lügt. 53 Milliarden DM stecken im Topf des Verkehrsministeriums für 1995, ({8}) genug Geld für umweltfreundliche Alternativen. ({9}) Hören Sie also auf, beim Stichwort Rio an Karneval und Copacabana und beim Stichwort Berlin nur an den bevorstehenden Umzug des Bundestages zu denken! Nehmen Sie den Klimaschutz und ihre eigenen Ankündigungen endlich ernst, und stellen Sie die Weichen für eine zukunftsträchtige Wirtschafts-, Verkehrs- und Umweltpolitik! Danke. ({10})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Kollegin Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb von 13 Monaten mußten wir zusehen, wie Rhein, Mosel, Main und andere Flüsse ihre Ufer überschritten. Wieder waren nahezu dieselben Bürger betroffen. Sie müssen die hohen Schäden finanziell verkraften. Die Schäden beim Weihnachtshochwasser 1993 betrugen schätzungsweise zwischen 1 und 1,4 Milliarden DM, diesmal werden sie vermutlich noch darüber liegen. Ich möchte an dieser Stelle meinen Dank, den bereits der Kollege Müller von der SPD geäußert hat, all denjenigen sagen, die geholfen haben, vor allem auch dem THW und den Soldaten der Bundeswehr. ({0}) Es ist im übrigen richtig und wichtig, daß den betroffenen Bürgern auch finanziell geholfen wird. Hier sind aber vor allen Dingen die Länder in der Pflicht. Es kann nicht angehen, daß die Länder Vorsorgemaßnahmen verschleppen und dann die Geschädigten mit kleinen Alibisummen abspeisen. ({1}) Jetzt zugesagte Hilfen müssen aber, im Gegensatz zu 1993, schnell, unbürokratisch und problemlos ausgezahlt werden. Herr Kollege Müller, man kann schon darüber reden, ob man auch private Haushalte oder Organisationen, die betroffen sind, in die Hilfe einbezieht. Nur, das, was der Bund mit dem Kredithilfeprogramm leistet, ist eine wichtige zusätzliche Hilfe. Es kann nicht alles auf den Bund abgeschoben werden; die Länder müssen hier in die Pflicht. ({2}) Ich bin dafür dankbar, daß der Bund dieses Kredithilfeprogramm überhaupt aufgelegt hat, das vor allem den betroffenen mittelständischen Betrieben hilft.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ich habe mit Interesse gehört, daß Sie die Verantwortlichkeit der Länder angesprochen haben. Wie wollen Sie gewährleisten, daß Ihre sehr zu unterstützenden Ausführungen den Ländern zur Kenntnis gebracht werden, da zu meiner Überraschung die Bundesratsbank völlig leer ist? ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Irmer, ich hoffe doch sehr, daß die SPD-Fraktion dafür sorgen wird, daß den Ländern das Protokoll dieser Sitzung zugänglich gemacht und darauf hingewiesen wird. ({0}) Hektischer Aktionismus, meine Damen und Herren, wie er jetzt von manchen Seiten betrieben wird, hilft uns allerdings nicht weiter. Die Gründe für die Überschwemmungen sind sehr komplex. Vor allem sind Ursachen und Ablauf jeden Hochwassers anders. Ich zitiere, Herr Präsident: „Jedes Hochwasser ist individuell." Das sagt das Aueninstitut in Rastatt. Das Hochwasser 1993 war vor allem durch starke Regenfälle im Alpenraum und die dadurch resultierende Schneeschmelze bedingt. Das Hochwasser in diesem Jahr dagegen wurde insbesondere durch Regenfälle und Schneeschmelze im Mittelgebirge verursacht. Aus diesen Gründen wäre 1993 eine Flutung der Polder im Rheinoberlauf sinnvoller gewesen, noch sinnvoller als in diesem Jahr, wenngleich diese Überflutungsräume - darauf werde ich zurückkommen - nicht ausgereicht hätten. Als weitere Ursache wird die Aufnahmefähigkeit der Böden angeführt. Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen Bodenversiegelung, Waldsterben, Erosion und mangelnder Aufnahmefähigkeit der Böden. Aber was ist, wenn, wie in diesem Jahr, die Böden gefroren sind? Es ist leicht, mehr Überschwemmungsflächen zu fordern. Aber es gibt auch Aussagen von Wissenschaftlern, daß Polder mit gesteuertem Zu- und Abfluß den natürlichen Überschwemmungsflächen als Hochwasserschutz überlegen sind. Das zeigt uns doch jedenfalls, daß eine fundierte Analyse notwendig ist. ({1}) Wir werden ja bereits in der nächsten Woche im Umweltausschuß einen Bericht der zuständigen Ressorts über die Ursachen und deren mögliche Behebung bekommen. Ich fordere außerdem eine Anhörung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu diesem Thema. Zusammen mit Wissenschaftlern müssen wir herausfinden, welche Gründe bei jedem Hochwasser vorliegen und welche Variablen es gibt. Wenn wir das wissen, können wir auch entscheiden, welche gezielte Hochwasservorsorge die Länder betreiben müssen und was unter Umständen der Bund beitragen kann. Die Vorschläge, die Frau Merkel zur Ergänzung des Wasserhaushaltsgesetzes, zum Bundesnaturschutzgesetz und zum Entwurf des Bodenschutzgesetzes gemacht hat, sind richtig und werden von uns unterstützt. Wir müssen auch für neue Vorschläge zur Hochwasserbekämpfung offen sein. So schlägt ja z. B. Professor Plate von der Technischen Hochschule in Karlsruhe vor, an der Konstanzer Brücke am Bodensee eine bei Bedarf stundenweise einzusetzende Sperrvorrichtung zu schaffen. Damit könnten die Pegelstände des Rheins zwischen Konstanz und dem niederländischen Mündungsgebiet gedrosselt werden. Der Bodensee würde also als natürliches Rückhaltebecken genutzt. Bei über 500 km2 Fläche würde schon die Erhöhung des Spiegels um nur einen halben Meter rund 250 Millionen m3 Wasser zunächst einmal im Bodensee festhalten. Das ist mehr, als alle geplanten Polder insgesamt aufnehmen würden. Auch darüber muß diskutiert werden. Es ist volkswirtschaftlich und aus Sicht des Umweltschutzes gleichermaßen absurd - darin dürften wir übereinstimmen -, immer wieder mehrere Milliarden Mark in die Schadensbeseitigung zu stecken, anstatt dieses Geld für vernünftige Vorsorgemaßnahmen zu investieren. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen, daß der Bund nicht die Pflichten der Länder übernehmen kann. Es hat sich gezeigt, daß auch das Weihnachtshochwasser von 1993 anscheinend schnell vergessen war. Es geschah jedenfalls nichts, um die längst überfälligen und vereinbarten Überflutungsflächen zu schaffen. Das darf diesmal nicht geschehen. Die Bundesländer müssen ein gemeinsames mittelfristiges Konzept zur Verlangsamung des Wasserabflusses aller Nebenarme und Zuflüsse des Rheins entwickeln und durchführen. Es müssen am gesamten Flußlauf des Rheins genügend Überflutungsräume geschaffen werden. Dazu gehört auch die Erfüllung des Vertrages mit Frankreich, nach dem die Länder zur Schaffung von Poldern verpflichtet sind. In diesem Zusammenhang ist es zynisch, wenn der Herr Umweltminister Schäfer aus Baden-Württemberg erklärt, eine Flutung der Polder hätte nicht ausgereicht, um z. B. die Überflutung der Stadt Köln zu verhindern; denn von den Hochwasserretentionsvolumen von 126 Millionen m3, die von Baden-Württemberg zu erbringen sind, wurden bislang erst 44 % der vereinbarten Fläche geschaffen. ({2}) In Rheinland-Pfalz wurden Standorte sogar lediglich erst ausgewiesen. Auf der einen Seite fordern die Länder also stets mehr Zuständigkeiten im Rahmen des Föderalismus, andererseits versuchen sie ständig, Verantwortung, wo sie sie haben, auf den Bund abzuwälzen. So geht es jedenfalls nicht. ({3}) An dieser Stelle sei auch gesagt, daß der Streit zwischen den SPD-Umweltministern Matthiesen, Schäfer und Frau Martini angesichts der Not der Betroffenen im Überschwemmungsgebiet beschämend ist. Die uns heute vorliegenden Entschließungsanträge erwecken den Eindruck, als sei allein der Bund für die Hochwasserkatastrophe verantwortlich. Dies ist nicht der Fall. Mit ihren Forderungen vernebelt die SPD die Verantwortung und die Versäumnisse der Bundesländer. ({4}) Herr Dister vom von Ihnen so geschätzten WWF-Aueninstitut wirft der Regierung in Hessen vor, ein fertiges Konzept über zusätzliche Überflutungsflächen in der Schublade zu verstecken, anstatt es umzusetzen. Die F.D.P. will eine fundierte Ursachenanalyse zusammen mit den zuständigen Ressorts sowie Wissenschaftlern betreiben. Der Bundestag muß die Länder antreiben, damit sie endlich entschlossen und abgestimmt handeln. Ich denke, das sind wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Der Antrag der PDS trägt nicht zur Problemlösung bei. Auch die Vorschläge der GRÜNEN, alle Aus- und Umbaumaßnahmen für Wasserstraßen zu stoppen, sind vereinfachend. Hier zeigt sich, daß keine vollständige Ursachenanalyse, sondern nur hektische Schnellschüsse betrieben werden sollen. Hochwasser also als willkommener Anlaß, ideologische Positionen durch die Gebetsmühle zu drehen. Das gilt in Teilen auch für den SPD-Antrag. Daher hoffe ich auf eine Überweisung und eine tiefgehende intensive Diskussion im Umweltausschuß. Mit den vorliegenden Anträgen, die zu einseitig sind, werden wir dem Problem jedenfalls nicht gerecht. Vielen Dank. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Kollegin Dagmar Enkelmann das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im heutigen Bonner „General-Anzeiger" findet sich unter dem Beitrag „Hilfe für Hochwassergeschädigte" ein Angebot der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft für Schwimmkurse. Zugegeben, das ist sicher makaber. Allerdings ist auch die Plazierung in dieser Zeitung nicht gerade glücklich gewählt. ({0}) Aber mehr als Schwimmkurse hat offenkundig auch die Bundesregierung den Betroffenen nicht zu bieten. Skepsis ist sicher angebracht, trotz der vielen Programme, Frau Merkel, die Sie vorgetragen haben. Noch heute warten viele Betroffene auf die angekündigte unbürokratische, großzügige Hilfe zur Beseitigung der Schäden des Weihnachtshochwassers 1993. Die Forderungen an die Bundesregierung nach Entschädigungen sind vollauf berechtigt und genau dort an der richtigen Adresse. Wir sollten hier und heute gerade über die Verantwortung des Bundes sprechen und nicht alles auf die Länder abschieben. ({1}) Die Bundesregierung trägt ein hohes Maß Schuld an der nachweisbaren Häufung von Hochwassern an Rhein und Mosel in den letzten beiden Jahrzehnten. ({2}) Nun weiß ich, daß der Kanzler den „Spiegel" gern auf den Index setzen würde. Ich würde den Kollegen und Kolleginnen vor allen Dingen der Koalitionsfraktionen die letzten beiden Ausgaben und die Artikel, die dort zum Hochwasser und seinen Ursachen erschienen sind, besonders ans Herz legen. Seit den massiven Eingriffen in die Natur des Rheins Anfang der 60er Jahre mit Flußverengung, Begradigung und Staustufen ist es dort viermal so oft zu Hochwassern gekommen wie beispielsweise in den ganzen 60 Jahren zuvor. Der Zusammenhang ist eindeutig. Sie müssen nur die Augen aufmachen und sehen. Es mutet schon wie eine billige Posse an, was sich im Verkehrsausschuß vor zwei Wochen abgespielt hat. Als Augenzeugen haben viele von uns unmittelbar vor dem Bundeshaus das bedrohliche Anwachsen des Rheins beobachten können. Ein Bericht des Verkehrsministeriums im Ausschuß am 25. Januar hat uns bereits vorausgesagt, daß das diesjährige Hochwasser das von 1993 noch übertreffen wird. Genau das ist auch eingetroffen. Diese Mitteilung hat bei vielen zunächst Besorgnis ausgelöst. War es aber vielleicht nur die Sorge um die eigenen nassen Füße oder die eigenen Büros? Denn etwa eine Stunde später haben wir über den Bundeshaushalt 1995 abgestimmt. Mit großer Mehrheit - im übrigen leider auch mit den Stimmen der SPD - und ohne jegliche Bedenken wurde beschlossen, ca. 1 Milliarde DM für Maßnahmen zum Ausbau der Wasserstraßen bereitzustellen. Herr Kampeter, genau das sind die Mittel, die für Entschädigungsleistungen bereitstünden, würde man sie z. B. heute aus dem Haushalt streichen. ({3}) Frei nach dem Motto „Nach uns die Sintflut" werden die Voraussetzungen für weitere, wahrscheinlich noch schlimmere Hochwasser auch an anderen deutschen Flüssen geschaffen. Sind es heute noch die Städte Trier, Koblenz, Köln, Bonn usw., können es morgen vielleicht schon Magdeburg, Berlin oder Eberswalde sein, wo den Leuten im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser bis zum Hals steht. Um uns diesen Segen noch schneller zu bescheren, wird hinter verschlossenen Türen im Verkehrsministerium ein Beschleunigungsgesetz für den Wasserstraßenausbau erarbeitet. Bei weitgehender Ausschaltung betroffener Kommunen und Umweltverbände soll die Mehrheit im Bundestag über die Vorhaben entscheiden. Die Bundesregierung plant den weiteren Demokratieabbau. Sie will uns Bundestagsabgeordneten - das sage ich an alle Adressen - eine Verantwortung zuschieben, der wir nicht gerecht werden können. Das haben wir in der vergangenen Legislaturperiode bei den Maßnahmegesetzen Deutsche Einheit gemerkt, als es u. a. um die Südumfahrung Stendal ging. Ein Großteil der Abgeordneten in diesem Raum wußte überhaupt nicht, wo Stendal liegt. Wir haben uns sozusagen als Planfeststellungsbehörde aufgespielt. Zu den Maßnahmen, die hier im Eiltempo durchgezockt werden sollen, gehört u. a. das „Projekt 17 Deutsche Einheit" . Auf der Basis mehr als fragwürdiger Wirtschaftlichkeitsberechnungen im Interesse einer mächtigen Baulobby werden irreparable Eingriffe in die Natur vorgenommen. Bei Elbe, Elbe-Havel-Kanal, unterer Havel-Wasserstraße und den Berliner Wasserstraßen sollen Uferstrukturen verändert, Maßnahmen zur Vertiefung, Querschnittserweiterungen, Begradigungen von Gewässerschleifen und anderes vorgenommen werden. Die damit verbundenen Landschaftsveränderungen, Wirkungen auf die Fließgeschwindigkeiten, Belastungen des Sauerstoffhaushalts etc. gefährden in höchstem Maße Menschen und Umwelt. Damit den 110-m-Großmotorgüterschiffen der großen Reedereien mit 2 000 t Tragfähigkeit nicht die kleinen Binnenschiffer in die Quere kommen, werden ihnen - ach, wie großzügig - Abwrackprämien angeboten. So kann man natürlich den Markt bereinigen. Frau Ministerin Merkel, sorgen Sie dafür, daß die 60 Millionen DM, die im Haushalt eingestellt werden, zur Stärkung der mittelständischen Binnenschiffahrt verwendet werden und nicht zu ihrer Vernichtung. Im übrigen, auch das letzte Hochwasser hat die kleinen und mittleren Binnenschiffer am härtesten getroffen. Da zeitweise bis zu 2 000 Schiffe stillgelegt werden mußten, wird mit Schäden von mehreren Millionen DM gerechnet. „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser" - so Kaiser Wilhelm II. bei der Einweihung des Stettiner Hafens im Jahre 1898. Ich befürchte, unsere Zukunft liegt eher im Wasser. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Kollegin Susanne Kastner das Wort.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Schäden, die das Jahrhunderthochwasser 1993 angerichtet hat, waren kaum beseitigt, da kam es in den letzten Wochen zum nächsten. Aber, Herr Kollege Kampeter, nach Ihrer Rede und nach der Rede der Frau Umweltministerin weiß auch ich inzwischen, daß es Jahrhundertankündigungen gibt. Aber darauf komme ich nachher noch einmal zu sprechen. ({0}) In unserer Runde sitzen immer noch Kolleginnen und Kollegen, die darauf warten, daß ihre Büros trocknen, damit sie wieder ganz normal arbeiten können. So ärgerlich das für den einzelnen auch sein mag und so sehr ihre Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sein mag, die wirklich Betroffenen sind unsere Kolleginnen und Kollegen nicht. Die wirklich Betroffenen sind die Menschen an Rhein, Main, Mosel und Saar, die zum zweiten Mal innerhalb von 13 Monaten ihre Häuser verlassen und ihre Habe retten mußten, die zum Teil ihre Existenz verlieren, weil sie noch die Kredite aus dem letzten Jahr abbezahlen und sich eine weitere Kreditaufnahme selbst bei günstigsten Konditionen nicht mehr leisten können. ({1}) Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband beschrieb die Situation ganz richtig mit den Worten: „Gaststätten und Hotels an Deutschlands Flüssen steht das Wasser bis zum Hals." Ich bin nicht sicher, ob allen betroffenen Menschen durch die Hilfsprogramme von Bund, Ländern, Gemeinden und Hilfsorganisationen wirklich geholfen werden kann. Versucht werden muß es auf jeden Fall. Mein Kollege Müller sprach schon davon: Betroffen sind auch die Vereine, Verbände und Gemeinden, deren Einrichtungen nun zum zweiten Mal „Land unter" hatten und die nicht in den Genuß von öffentlichen Mitteln kommen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, Herr Präsident.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Meine Herren Kollegen, es ist sicherlich nicht sehr angenehm, wenn Sie der Rednerin den Rücken zuwenden, weil das als eine nicht angebrachte Form der Kritik mißverstanden werden könnte. Bitte fahren Sie fort. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank. Die von Herrn Finanzminister Waigel dankenswerterweise angekündigte Kredithilfe reicht ebensowenig aus wie allein die steuerlichen Abschreibungen. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband macht dies für seine Klientel in seinem Brief an Minister Waigel auch nur allzu deutlich. Er schreibt nämlich: Ihr Hinweis, die Geschädigten durch Steuererleichterungen zu entlasten, ist sicherlich geeignet, etwas Mut zu machen. In Anbetracht der Tatsache aber, daß aufgrund des letzten Hochwassers für viele gastgewerbliche Unternehmen die Kreditlinien erschöpft sind, dürften teilweise die notwendigen Investitionsmittel überhaupt nicht zur Verfügung stehen, so daß Steuererleichterungen allein kein ausreichendes Hilfsangebot für die zum zweitenmal überraschend Geschädigten darstellen. ({0}) Die Menschen brauchen eine möglichst unbürokratische Hochwasserhilfe. Beim Hochwasser im vergangenen Jahr wurde den neuen Bundesländern Sachsen-Anhalt und Thüringen angesichts ihrer finanziellen Schwächen eine Hochwasserhilfe gewährt. Mein Kollege Eberhard Brecht hat deshalb zu Recht darauf hingewiesen, daß gerade die Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Ländern eine Soforthilfe für die jetzt betroffenen Regionen im Westen unterstützen, weil es sich gerade hier um eine Ausnahmesituation handelt. Das Schönste aber, Frau Umweltministerin, ist die angekündigte Kredithilfe für Privatpersonen über die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit einem Normalzins von 6 %. Wer heute den „General-Anzeiger" gelesen hat, konnte feststellen: Es gibt inzwischen Banken, die solche Kredite für 5,75 % anbieten. Es gibt die schöne spanische Redensart, daß ein auf Kredit gekauftes Schwein das ganze Jahr grunzt. Ihre Empfehlungen, Frau Ministerin, und Hilfen führen dazu, daß dieses Schwein zwei Jahre oder länger grunzt, wenn es nicht vorher im Hochwasser ertrinkt. ({1}) Auch deshalb ist unsere Forderung nach einer Direkthilfe für die Betroffenen in Höhe von 50 Millionen DM absolut richtig. Kaum fließt das Hochwasser ab, taucht die Regierung unter. So bezeichnete dies mein Kollege Michael Müller. Zwar lobt der Kanzler mit Recht die vorbildliche Arbeit der Katastrophenhelfer, und der Bundespräsident spricht davon, was in der Vergangenheit im Wasserbau geschehen sei, sei unrichtig. Aber geändert wird nichts, im Gegenteil: In den Schubladen des Verkehrsministeriums liegt bereits der Entwurf eines Gesetzes zum Ausbau der Bundeswasserstrafien, mit dem u. a. auch die Einspruchsrechte der Bürger eingeschränkt werden sollen. Es ist doch wirklich absurd: Die Bundesländer am Rhein versuchen - auch gedrängt von der Bundesregierung; mit Recht - die Renaturierung des Flusses, die viel Geld kostet, und der Bundesverkehrsminister versucht auf der anderen Seite in den neuen Bundesländern, exakt die Politik zu betreiben, die am Rhein als falsch erkannt worden ist. Der Bedarf zum Ausbau der Mittelelbe, so wie ihn Herr Wissmann will, ist dabei durch die Planungen zum Ausbau des Mittellandkanals nicht einmal da. Warum also dort dieselben Fehler wiederholen? Ich sehe schon, wie die Vertreter der Bundesregierung dann in 10 oder 20 Jahren den betroffenen Menschen mit traurigem Gesicht an der Elbe erklären, wie betroffen sie seien und daß man dringend etwas ändern müsse. Meinen Sie nicht, meine lieben Kollegen und Kolleginnen von der Union, daß es besser wäre, aus den Fehlern an Rhein, Main und Mosel jetzt zu lernen und den Menschen an Elbe und Havel solche Hochwasserkatastrophen später zu ersparen? ({2}) Wir Menschen haben die Flüsse begradigt, kanalisiert und ihnen die natürlichen Überflutungsflächen genommen. Wir haben Flächen versiegelt, wir haben Flächen trockengelegt, und wir tragen massiv dazu bei, daß die Wälder immer weniger Wasser aufnehmen können. Dies sind keine neuen Erkenntnisse. Das hat die Bundesregierung schon 1989 in einer Antwort auf unsere Große Anfrage hin festgestellt. Wir kennen also die Ursachen, und Sie kennen sie auch, doch für die Bekämpfung ist seither wenig geschehen. Beispiele: Seit Jahren wird uns ein Naturschutzgesetz angekündigt, in dem u. a. für die weitere Versiegelung von Flächen Ausgleichsflächen ausgewiesen werden sollen. Ergebnis, Frau Ministerin: keines. Wir warten immer noch. Auf meine gezielte Frage im Ausschuß, in welchem Zeitrahmen wir denn nun endlich mit dem Entwurf rechnen können, auf den ja auch die Länder warten, konnte Frau Merkel mir keine verbindliche Antwort geben. Ihre Zeitvorstellung, Frau Merkel, dies werde in irgendeiner Legislaturperiode - dieses „irgendwann" konnte man Ihrer vagen Antwort entnehmen - kommen, kann von den Hochwasseropfern nicht einmal als schlechter Scherz verstanden werden. ({3}) Wir haben zu der heutigen Debatte einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem wir klare Forderungen aufstellen, welche Schritte jetzt unternommen werden müssen. Wir wissen auch, daß wir damit keine endgültige Sicherheit vor Hochwasser erreichen werden. Wir sind aber der Meinung, daß wir alles tun müssen, um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Dazu gehört nach unserer Auffassung: Wir brauchen eine Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes, um die Bemühungen der Länder zur Renaturierung der Flüsse unterstützen zu können. ({4}) - Die Frau Ministerin hat ja hundert Ankündigungen gemacht, gerade was das Bodenschutzgesetz anbelangt. Ich komme darauf gleich noch einmal zu sprechen, Frau Kollegin Homburger. Wir brauchen nämlich - und da hat sie recht - eine schnelle Verabschiedung des angekündigten Bodenschutzgesetzes. Aber wenn man weiß, daß diese Ankündigung bereits von Innenminister Zimmermann im Jahre 1984 gemacht worden ist, dann weiß man auch, welcher Zeitraum in der Ankündigung der Frau Umweltministerin steckt. ({5}) Das Baugesetzbuch muß Vorschriften zur Regenwassernutzung erhalten. Heute ist es noch so, daß die Anwender solcher Maßnahmen finanziell bestraft werden. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" - Herr Kollege Kampeter, da sind wir uns ja verbal einig, und wenn Sie das in Ihrem Bereich auch tun, kommen wir ein Stückchen weiter - muß dahin gehend erweitert werden, daß in die gemeinschaftliche Finanzierung auch die Vorsorgemaßnahmen gegen Binnenhochwasser eingeschlossen werden. ({6}) Ebensowichtig - das sage ich auch als Tourismuspolitikerin - ist aber auch der Schutz der Alpen. Ein bißchen mehr Engagement von Ihrer Seite zur Umsetzung der Alpenschutzkonvention wäre wirklich angebracht. Halbherzigkeit ist hier nämlich sehr verhängnisvoll, südlich wie nördlich der Alpen. Ihr Amtsvorgänger, liebe Frau Merkel, ist in den Medien sehr oft als Ankündigungsminister bezeichnet worden. Ich wünsche Ihnen, aber mehr noch den vom Hochwasser geschädigten Menschen an Rhein, Main, Mosel und Saar, daß Ihre Ankündigungen der letzten Wochen jetzt wirklich zügig in die Tat umgesetzt werden. Ich wünsche mir auch, daß Sie sich im Kabinett mit Ihren Ankündigungen dann auch wirklich durchsetzen können. Ich glaube nämlich, das war das Handicap der vergangenen Zeit. Sie müssen ja nicht alles selbst erfinden. Halten Sie es doch ganz einfach mit Thomas Alva Edison, der einmal sagte: „Ich bin ein guter Schwamm, denn ich sauge Ideen auf und mache sie nutzbar." Saugen Sie unsere Ideen und Vorschläge auf, ({7}) und setzen Sie sie dann im Kabinett durch. ({8}) So wäre Ihrem Ruf gedient und den Menschen wirklich auf Dauer geholfen, und ich denke, das letztere muß ja auch das Ziel unserer Politik sein. Danke schön. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Kollegin Erika Steinbach das Wort.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Während des Beitrags der Kollegin Altmann kam vorhin als Zwischenruf die Äußerung, dieser Beitrag sei nur deshalb erträglich, weil Karnevalszeit ist. Dem kann man eigentlich nichts hinzufügen. Allerdings macht es schon nachdenklich, wenn man merkt, daß eine Kollegin, die sich mit dieser Thematik beschäftigt, mit den Nullen überhaupt nicht umzugehen weiß. ({0}) Wenn da mit Zahlen um sich geworfen wird, die weder Hand noch Fuß haben, dann muß man das Ganze schon mit einem Fragezeichen versehen. ({1}) In dem letzten Beitrag sprachen Sie vom Ankündigungsumweltminister. Ich will nur eines sagen: Wir haben Umweltminister, die SPD hatte zur ihrer Regierungszeit keinen Umweltminister gehabt. Dieses Amt haben wir überhaupt erst eingeführt. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, so schnell die schlimmen Wasserfluten ganze Landstriche überflutet haben, so schnell sind sie wieder abgeflossen. Vor einer Woche noch wären wir an dieser Stelle sozusagen von den Fluten des Rheins umspült gewesen, und heute fließt der Rhein wieder in seinem alten Bett, dort, wo er hingehört. ({3}) Schuld an dieser Naturkatastrophe, Herr Kollege Müller - da haben Sie gar nicht unrecht; das kann ich bestätigen - ist das Klima. Das Klima war auch im 16. Jahrhundert daran schuld, es war auch im 17. Jahrhundert daran schuld, es war auch im 18. Jahrhundert daran schuld. Wenn Sie die Hochwassermarken in alten Städten betrachten, können Sie verfolgen, daß es solche Naturkatastrophen schon immer gegeben hat. ({4}) Zurückgeblieben sind allerdings zweierlei Dinge: riesige Mengen von Schlamm und Schäden in Millionenhöhe sowie viele betroffene Bürger, die zum zweitenmal damit leben müssen. Es ist aber auch eines als positive Erkenntnis zurückgeblieben, nämlich daß wir über einen funktionierenden Zivil- und Katastrophenschutz verfügen, der den Menschen in einer solchen Situation hilfreich zur Seite steht. ({5}) Eine Beschäftigung mit dem Zivil- und Katastrophenschutz aus einem solchen Anlaß, ist durchaus angebracht; denn Hilfeleistung für die Bürger ist etwas, was unsere Bürger nötig brauchen, wenn sie in einer solch schwierigen und katastrophalen Situation sind. ({6}) Die vorangegangene Regierungserklärung hat deutlich gezeigt, daß sich in unseren Breitengraden Naturkatastrophen dieser Art durch geeignete Vorsorgemaßnahmen besser beherrschen lassen können und daß man dafür weiter planen muß. ({7}) Sie hat aber auch deutlich gemacht, daß es ein Allheilmittel nicht gibt; denn wenn Sie durch die alten Städte gehen - gehen Sie einmal durch Passau, und schauen Sie sich die Marken an -, dann sehen Sie, daß es derartige Katastrophen trotz vorhandener umfangreicher Auenlandschaften auch schon früher gegeben hat. Auch im vorigen Jahrhundert gab es solche katastrophalen Überschwemmungen. ({8}) Es ist eine banale Erkenntnis und Selbstverständlichkeit, daß unser Staat gewappnet und auch einsatzbereit sein muß, seine Bürger nicht nur vor äußeren Bedrohungen zu schützen, sondern auch vor Naturkatastrophen und ihren Folgen. Allerdings scheint diese Erkenntnis durchaus nicht überall Allgemeingut zu sein. ({9}) - Herr Kollege Fischer, durch Ihre Lautstärke werden Ihre dümmlichen Bemerkungen auch nicht klüger. ({10}) An einem Beispiel läßt sich sehr deutlich machen, wie wenig die Erkenntnis über die Notwendigkeit und Nützlichkeit des Zivil- und Katastrophenschutzes vorhanden ist. ({11}) Im Oktober 1989 hat der Magistrat der Stadt Frankfurt eine fest geplante und schon fix und fertig vorbereitete „Leistungsschau Bürgerschutz" aller großen Hilfsorganisationen einfach kurzfristig abgesagt. Begründet hat es der damalige Oberbürgermeister Hauff von der SPD mit dem Vorwand einer zu großen Arbeitsbelastung. Angesichts der Tatsache, daß die Ausstellung von den Rettungsorganisationen bereits fix und fertig vorbereitet war, war das natürlich barer Unsinn. Die Ursache war eine völlig andere. Der grüne Koalitionspartner der Frankfurter SPD sah in dem Katastrophenschutz eine Art kriegsvorbereitender Maßnahmen - so die Begründung. Deshalb und dabei insbesondere, weil das Technische Hilfswerk und weil ein Rettungshubschrauber des Bundesgrenzschutzes seinerzeit daran teilnehmen sollten, wurde diese Ausstellung abgesagt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, nachdem Sie uns den Katastrophenschutz als Allheilmittel gegen Hochwässer empfohlen haben - ich mache ein großes Fragezeichen hinter Ihre Empfehlung -, möchte ich Sie fragen, ob Sie sich vehement gegen die Kürzungen des Innenministers, die um die 50 % liegen, beim Katastrophenschutz wenden werden.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da müssen Sie mich mißverstanden haben. Der Katastrophenschutz ist kein Allheilmittel gegen Naturkatastrophen, sondern er dient dazu, die Bürger, die davon betroffen sind, hilfreich zu unterstützen. ({0}) - Wir müssen in vielerlei Bereichen Kürzungen mit ertragen, weil die Mittel natürlich nicht unendlich sind. Da wir mit den Nullen gut umgehen können - ({1}) - Wir können Millionen und Milliarden unterscheiden, im Gegensatz zu anderen. Ich darf Ihnen sagen, Herr Kollege, daß nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch in vielen, vielen anderen Bereichen finanzielle Einsparungen erforderlich sind. Das ist einfach so. Man kann nur das Geld ausgeben, das man hat. ({2}) Aber man muß sich auch der positiven Dinge bewußt sein, die für die Bürger erforderlich und nützlich sind. ({3}) - Ich habe Ihre Zwischenfrage eben nicht mehr verstehen können, Herr Kollege.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Da war auch keine Zwischenfrage mehr, denn er hatte keine haben wollen. Sie können weitersprechen.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. Ich weiß es ja. Vielleicht können die GRÜNEN ja einmal erklären, wie die Frankfurter Bürger ohne THW und ohne den Bundesgrenzschutz bei der Bekämpfung des Hochwassers zu Rande gekommen wären. Herr Kollege Fischer, es wäre ganz nützlich zu erfahren, wie Sie jetzt darüber denken. ({0}) - Bei dieser Frage sind Sie etwas hilflos, wie ich sehe. ({1}) - Ja, aber das Technische Hilfswerk ist eine Bundeseinrichtung, die dort Hilfe leistet. Ich weiß natürlich, daß die Länder sich in dieser Frage zu Lasten des Bundes und der Kommunen in einer Hängematte ausruhen. Wir tun das nicht. ({2}) Die Überschwemmungen der letzten Tage in fast ganz Deutschland haben uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie dringend notwendig ein funktionierender, entsprechend ausgerüsteter und gut ausgebildeter Zivil- und Katastrophenschutz zum Schutze des Bürgers und seines Eigentums ist. ({3}) Ich möchte mich an dieser Stelle - ich würde mich freuen, wenn die anderen Damen und Herren das ähnlich sehen würden - ausdrücklich bei allen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfern aufs herzlichste für den selbstlosen und engagierten Tag- und Nachteinsatz für ihre Mitbürger bedanken. Sie haben verdient, daß wir ihnen unseren Dank aussprechen. ({4}) Der Schutz der Bürger bei, vor und nach Naturkatastrophen ist in allererster Linie Sache der Länder, der Landkreise und auch der Kommunen. Nichtsdestotrotz sind natürlich die Bundeseinrichtungen zur Stelle, wenn sie gewünscht und angefordert werden. Der Bund soll und kann aber nur unterstützend tätig werden. Wir haben hier nur eine ergänzende Kompetenz, wir werden nur auf Wunsch angefordert. Aber wenn unsere Bundeseinrichtungen gebraucht werden, dann sind sie auch da. Es hat sich in den letzten Tagen ja deutlich gezeigt, daß ohne diese Bundeseinrichtungen letztendlich effiziente Hilfe gar nicht möglich wäre ({5}) - Herr Fischer, Sie brauchen Ihren Kopf gar nicht so schwer auf die Hand zu stützen. Das Gehirn wächst davon nicht nach. ({6}) In den letzten Tagen wurde eindrucksvoll unter Beweis gestellt, was das Technische Hilfswerk geleistet hat. Über 11 000 Helfer waren tätig, mehr als 100 Ortsverbände waren im Einsatz, und auf dem Höhepunkt der Fluten gab es tagtäglich 1 500 Menschen, die sich zur Verfügung gestellt haben. In Rheinland-Pfalz war der Bundesgrenzschutz zum Schluß mit ca. 230 Beamten tätig, er hatte Hubschrauber im Einsatz, Rettungsboote - ({7}) - Entschuldigung, die Schäden, die ein Hochwasser verursacht, müssen doch auch irgendwie von den Menschen bewältigt werden. ({8}) - Unsere Bundesministerin hat Ihnen ja schon ihre ganzen Möglichkeiten und Vorhaben aufgezählt, ebenso mein Kollege, der sich mit diesem Bereich beschäftigt. ({9}) Ich sage Ihnen: Um etwas gegen Hochwasser zu tun, muß man alles einsetzen, was man an Kapazitäten hat, aber letztendlich kann man ein Hochwasser nie völlig ausschließen; deswegen muß man dann auch die Hilfestellung dankend anerkennen. Das wollen wir auf jeden Fall tun. ({10}) Die Bundeswehr - das Feindbild Nummer eins mancher Politiker ({11}) hat mit über 6 000 Soldaten aktiv geholfen. ({12}) Dazu kamen außerdem noch 600 französische und 200 amerikanische Soldaten, die ebenfalls mitgeholfen haben. Auch ihnen von unserer Seite ein herzliches Dankeschön. ({13}) Dadurch wurden die enormen Leistungen der freiwilligen Feuerwehren und aller anderen Hilfsorganisationen unterstützt. Alle drei Bundesorganisationen - Technisches Hilfswerk, der Bundesgrenzschutz und die Bundeswehr - haben wertvolle Hilfe beim Bau von Dämmen, beim Evakuieren von Menschen, beim Retten von Menschenleben, aber auch beim Retten von Sachwerten, beim Füllen und Transportieren von Sandsäcken, bei der Notstromversorgung, bei der Fährdienstversorgung Eingeschlossener und bei vielem, vielem mehr geleistet und damit den Bürgern gezeigt - ich glaube, das ist schon ein wichtiges Element -, daß sie in der Not nicht alleine dastehen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ihnen allen gebührt unser Dank und unsere Anerkennung. Es ist wiederum deutlich geworden, daß wir einen funktionierenden Zivil- und Katastrophenschutz brauchen und daß dies ein unverzichtbarer Dienst am Bürger ist. Flutwellen, Stürme oder Schnee-Einbrüche sind Naturereignisse, gegen die wir nur bedingt Vorsorge treffen können. Wir müssen Vorsorge treffen - da gebe ich Ihnen, Frau Kollegin, recht -, aber wir können nur bedingt Vorsorge treffen. Was wir jedoch zusätzlich tun können, ist, uns auf derartige Ereignisse vorzubereiten, um so die Folgen möglichst geringzuhalten. Dazu brauchen wir einen nach dem neuesten Stand der Technik ausgerüsteten und gut ausgebildeten Zivil- und Katastrophenschutz. Wir brauchen aber auch die Motivation der Helfer. Deshalb müssen wir Politiker pfleglich mit diesen Helfern umgehen. ({14})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS auf den Drucksachen 13/410, 13/407 und 13/408 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Finanzausschuß, den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Verkehr, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Ich unterstelle, daß damit alle einverstanden sind. - Dann wollen wir so verfahren. Meine Kolleginnen und Kollegen, ehe wir in der Tagesordnung fortfahren, muß ich folgendes sagen. Ausweislich des Protokolls hat der Kollege Peter Carstensen ({0}), bezogen auf Abgeordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vorhin den Zwischenruf gemacht: „Schmeißt das Gesindel raus! " ({1}) Ich erteile dazu einen Ordnungsruf und bitte die Fraktionen, das in Ordnung zu bringen. Wir kommen dann zu den Tagesordnungspunkten 9, 11a und 11b: 9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Drucksache 13/115 Überweisungsvorschlag: Rechtsauschuß ({2}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft 11. Überweisung im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vermögensgesetzes - Drucksache 13/202 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({3}) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Gerichtsferien - Drucksache 13/200 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 12a bis 12f auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 18. Mai 1992 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik zu dem am 19. Juni 1980 in Rom zur Unterzeichung aufgelegten Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht - Drucksache 13/40 - ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 13/394 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Altmaier Ludwig Stiegler b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu den dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - 2 BvE 3/94 und 2 BvE 4/94 -- Drucksache 13/270 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 13/252 - Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 13/253 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 13/330 - f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 6 zu Petitionen - Drucksache 13/331 Tagesordnungspunkt 12a: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik zu dem Übereinkommen über Schuldverhältnisse, Drucksache 13/40. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/394, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf bei Stimmenthaltungen aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 12 b: Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksache 13/270. Es handelt sich um zwei Organstreitverfahren zur staatlichen Parteienfinanzierung nach dem Parteiengesetz. Der Rechtsausschuß empfiehlt, auf Drucksache 13/270, eine Stellungnahme abzugeben und einen Prozeßbevollmächtigten zu bestimmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung bei Stimmenthaltungen aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden ist. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 12c bis 12f. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 13/252, 13/253, 13/330 und 13/331 betreffend die Sammelübersichten 3 bis 6 zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß auch diese Beschlußempfehlungen bei Stimmenthaltungen aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen wurden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksache 13/385 Wir fahren fort mit Fragen aus dem Bereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser zur Verfügung. Ich rufe die Frage 17 der Abgeordneten Lydia Westrich auf: Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag des Bundesministers der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, den Kinderfreibetrag um rund 1 000 DM im Jahr aufzustocken sowie das Kindergeld für das zweite Kind um 20 DM im Monat und für das dritte Kind um 30 DM im Monat anzuheben ({11})? Bitte, Herr Staatssekretär.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Frau Kollegin Westrich, zunächst will ich darauf hinweisen, daß Sie in Ihrer Frage vom Vorschlag des Finanzministers sprechen. Der Vorschlag des Parteivorsitzenden der CSU - das betone ich sehr klar - war eine Möglichkeit. Wesentlich ist, daß der Finanzminister sich auf eine Größenordnung von zusätzlich 6 Milliarden DM festgelegt hat. Er hat ausdrücklich betont, daß dies eine Ausnahme von dem ansonsten für den Haushalt geltenden Moratoriumsbeschluß der Koalition sei. Der Vorschlag, den Bundesfinanzminister Theo Waigel gemacht hat, entspricht den Vorgaben aus der Koalitionsvereinbarung zur Weiterentwicklung des Familienleistungsausgleichs. Die Bundesregierung hat über den Vorschlag, neben dem noch eine ganze Reihe anderer Lösungsmodelle diskutiert werden, noch keine abschließende Entscheidung getroffen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Sie haben eine Zusatzfrage?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, könnten Sie mir zumindest sagen, wie die Bundesregierung das erforderliche Finanzvolumen in Höhe von 6 Milliarden DM finanzieren will?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Es ist vom Bundesfinanzminister ausdrücklich erklärt worden, daß es für dieses zusätzliche Volumen von 6 Milliarden DM natürlich keine Art von Gegenfinanzierung gibt, sondern es wird nur durch eine auch weiterhin außerordentlich sparsame Haushaltsführung möglich und vertretbar sein. Deswegen fällt es ja auch so schwer, bei 6 Milliarden DM haltzumachen. Sicherlich wäre manches andere denkbar, aber die notwendige Haushaltsdisziplin gestattet nur 6 Milliarden DM.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Eine weitere Zusatzfrage?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, es ist zwar schon spät am Abend, aber könnten Sie mir trotzdem sagen, welche Steuerentlastung sich aus der Aufstockung des Kinderfreibetrages um jährlich 1 000 DM auf rund 5 100 DM im Jahr zukünftig für einen Steuerpflichtigen mit einem Grenzsteuersatz von 20 % für sein Kind pro Monat und Jahr und für einen Steuerpflichtigen mit einem Grenzsteuersatz von 53 % für sein Kind pro Monat und Jahr ergibt?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Frau Kollegin, Sie fragen hier einzelne Rechnungen ab. Ich stehe gern dafür zur Verfügung, Ihnen schriftlich sehr schnell eine Reihe von Beispielrechnungen mit diesen 5 000 DM vorzulegen. Das bedeutet eine Anhebung des Freibetrages um etwa 1 000 DM. Genau beläuft sich der Betrag, wie er vorgegeben und als eine Möglichkeit betrachtet wurde, auf 5 076 DM. Auf dieser Basis können wir alle möglichen Fälle durchdeklinieren. Das werden dann mehrere Seiten sein. Ich stelle es Ihnen anheim. Sie werden dies sehr schnell bekommen. Erlassen Sie es mir bitte jetzt, Ihnen Einzelrechnungen vorzutragen. Das hat mit der späten Stunde nichts zu tun.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Die nächste Zusatzfrage stellt Herr von Larcher.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, aus welchen Gründen ist der Finanzminister nicht bereit, auch das Kindergeld für das erste Kind zu erhöhen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Der Bundesfinanzminister hat niemals gesagt, daß er das Erstkindergeld nicht erhöhen will. Er ist nur in Finanzzwänge eingebettet. Sie wissen, daß die Erhöhung des Erstkindergeldes um nur 10 DM ziemlich genau 1,2 Milliarden DM kosten würde. Wenn Sie z. B. die 70 DM Erstkindergeld auf 100 DM anheben wollen, sind das im Einzelfall mit einem Schlag 3 600 DM mehr pro Jahr. Die Koalition hat ausdrücklich erklärt, daß sie nicht nur die Familienpolitik, sondern auch die Mehrkinderfamilien stärken will. Deshalb sind die Vorschläge, die bisher vom Finanzminister als Möglichkeit in die Diskussion geworfen wurden, vor allem auf die Mehrkinderfamilien abgestellt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Die nächste Zusatzfrage stellt Frau Matthäus-Maier, wobei Sie beachten sollten, daß sich erst die Frage 18 auf das erste Kind bezieht.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte etwas zu der Antwort des Herrn Kollegen Faltlhauser auf die Frage von Frau Westrich nachfragen. Sie hatte gefragt, wie die Auswirkung bei einer 1 000-DM-Anhebung für einen Steuerzahler mit einem Steuersatz von 20 % und für einen Steuerzahler mit einem Steuersatz von 53 % ist. Sie haben angekündigt, ihr das detailliert woanders zu beantworten. Meine Zusatzfrage an Sie, Herr Faltlhauser: Kann es sein, da mit einem sehr simplen Dreisatz im Kopf nachzurechnen ist, daß 20 % von 1 000 DM 200 DM und 53 % von 1 000 DM 530 DM sind und somit der Bezieher niedriger Einkommen 200 DM Vorteil davon hat und der Bezieher des Höchsteinkommens offensichtlich 530 DM - ich unterstelle, daß Sie den Dreisatz glänzend beherrschen -, daß Sie die Zahlen deshalb nicht genannt haben, weil Sie sich wegen der Diskrepanz schämen? ({0})

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Frau Kollegin, erlauben Sie mir den bescheidenen Hinweis, daß Sie hier versuchen, die heute bereits geführte Debatte fortzusetzen. Sie haben ja bereits hier am Podium in der heutigen Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht auf die simple Tatsache hingewiesen, daß eine Entlastung durch einen Freibetrag bei Einkommen, die höher sind, natürlich einen höheren absoluten Betrag ergibt. Das, Frau Kollegin, ist das simple Ergebnis der Gegebenheit, daß wir einen progressiv-linearen Tarif haben. Ich war immer der Auffassung, daß man, wenn man diesen progressiv-linearen Tarif als eine wesentliche Errungenschaft der deutschen Steuerpolitik ansieht, auch die entsprechenden Freibeträge akzeptieren muß. Sonst müßte man aus der Systematik des progressiven Tarifs völlig aussteigen. Ich will folgendes hinzufügen: Dieser progressive Tarif, Frau Kollegin, wie wir ihn nunmehr haben, ist nicht nur Ausdruck des Leistungsfähigkeitsprinzips in unserem Steuerrecht, sondern zudem vor allem auch Ausdruck unseres Sozialstaatsprinzips, daß nämlich einer, der mehr verdient, auch überproportional mehr Steuern bezahlt. Wenn man also in diesem System bleiben will, muß man auch die umgekehrten Effekte akzeptieren, daß ein Freibetrag oder ein wie auch immer gearteter Abzugsbetrag, z. B. für Bücher bei Werbungskosten usw., entsprechend höhere Ergebnisse bei höheren Einkommen bringt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Eine Zusatzfrage, Graf Waldburg-Zeil, bitte.

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, kann man es auch so sagen, daß - nachdem das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, daß das Einkommen nicht besteuert werden darf, das auf die Grundversorgung der Familie entfällt - im Grunde genommen nur das zurückgegeben wird, was der Staat zuviel weggenommen hat? Derjenige, dem der Staat mehr weggenommen hat, bekommt eben etwas mehr zurück als der andere, dem er weniger weggenommen hat.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Sehr richtig, Herr Kollege, ich sehe das genauso wie Sie und genauso wie das Bundesverfassungsgericht. Wir halten es für die angemessenste Methode, daß die Benachteiligung im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit dessen, der ein Kind hat, auch dadurch wieder ausgeglichen wird, daß er einen entsprechenden Freibetrag hat. Dadurch wird in der Betrachtung der horizontalen Gerechtigkeit, auf die das Bundesverfassungsgericht in besonderer Weise abstellt, die Vergleichbarkeit der Familie ohne Kind, die meinetwegen 60 000 DM verdient, und der Familie mit Kind, die 60 000 DM verParl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser dient, wiederhergestellt. Ihre Betrachtungsweise ist also die richtige. Nach übereinstimmender Auffassung des Familienministeriums und des Finanzministeriums wäre es die Idealform, wenn wir die verfassungsrechtliche Anforderung der Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch einen Freibetrag in der Höhe sicherstellen würden, der dem Existenzminimum für das Kind entspricht. Im Bericht der Bundesregierung zum Existenzminimum, der erst in der letzten Woche diesem Hause zugegangen ist, wurde dieser Betrag für das Jahr 1996 mit 6 288 DM definiert.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau von Renesse.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn, wie ich Ihrer Belehrung entnehme Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Das war notwendig, Entschuldigung.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- das mag ja sein, auch für mich vielleicht -, der Steuerfreibetrag für die Bundesregierung die gottgegebene Form des Familienlastenausgleichs darstellt, warum um alles in der Welt gleicht dann der Finanzminister zumindest teilweise die zuviel erhobene Steuer bei Leuten mit Kindern durch ein Kindergeld aus?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Zunächst, Frau Kollegin, möchte ich feststellen, daß diese Festlegung nicht „gottgegeben", sondern vom Verfassungsgericht vorgegeben ist, und dem folgen wir in dieser Frage. ({0}) - Das ist ein alter Streit. Ich weiß, jetzt kommt wieder die Frage, ob das Verfassungsgericht nicht auch eine andere Möglichkeit offengelassen hat. ({1}) - Hat es, zugegeben. Wir haben aber, Frau Kollegin, in unserer politischen Gestaltung den Grundsatz, daß wir mit dem Freibetrag dafür sorgen wollen, daß das Existenzminimum entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt wird. Das Kindergeld wollen wir dann als Instrument sozialpolitischer Maßnahmen gezielt einsetzen, insbesondere für Einkommensbezieher, die weniger Geld haben. Das ist die einfache Aussage. Wir halten ein ausgewogenes System, das wir duales System nennen, für die vernünftigste Lösung in diesem sicherlich nicht ganz einfachen Fachgebiet.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nächste Zusatzfrage, Herr Kollege Spiller.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Auflage des Bundesverfassungsgerichtes hinsichtlich der horizontalen Steuergerechtigkeit nicht mit der Auflage verbunden ist, dies müsse durch einen Steuerfreibetrag geschehen, sondern daß die Auflage des Bundesverfassungsgerichtes besagt, daß das Existenzminimum eines Kindes unabhängig von der Einkommenshöhe der Familie von der Steuer freigestellt werden müsse, was aber genausogut durch ein entsprechendes Kindergeld geschehen könne? Die Regelung, die Sie gerade vorgeführt haben, hat den großen Nachteil, daß eine Familie mit einem geringen Einkommen sehr viel weniger entlastet wird als eine Familie mit einem hohen Einkommen. Treffen auch Sie die Feststellung, daß das Bundesverfassungsgericht ebenfalls eine Regelung mit einem einheitlichen Kindergeld im Sinne einer horizontalen Steuergerechtigkeit akzeptieren würde?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Herr Präsident, das ist die Frage, die ich vorausgesehen habe. Ich kann nur ausdrücklich bestätigen, daß das Bundesverfassungsgericht - man kann es nachlesen - diese Möglichkeit offengelassen hat. Nur, unsere Schlußfolgerung ist bei genauerem Hinsehen die, daß der Freibetrag das systemgerechte Instrument ist, um diese horizontale Gerechtigkeit herzustellen. Das erkennen Sie schon daran, daß das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vorgegeben hat, daß zur präzisen Feststellung, ob das Existenzminimum des Kindes erfüllt ist, das Kindergeld in einen Freibetrag umgerechnet werden muß. Wir meinen, wir sollten es beim Freibetrag, bei der Erfüllung des Verfassungsgebots belassen. Im übrigen wiederhole ich die simple Feststellung: Bei diesen ständigen Hinweisen auf die sogenannte vertikale Gerechtigkeit muß auch betont werden: Derjenige, der ein geringes Einkommen hat und eine relativ geringe Entlastung durch einen Freibetrag erfährt, zahlt auch nur sehr geringe Steuern. Derjenige, der eine höhere Entlastung hat, zahlt auch überproportional Steuern entsprechend dem progressiven Tarif. Aber ich glaube, ich sollte entsprechend Ihrer Anmahnung die Belehrung nicht fortsetzen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Wir kommen zur Frage 18 der Kollegin Westrich: Welche Gründe sind für den Bundesminister der Finanzen maßgeblich dafür, daß er keine Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind für erforderlich hält?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich glaube, Frau Kollegin, daß wir Ihre Frage I 8 implizite schon beantwortet haben. Aber ich gehe gerne noch einmal darauf ein. Der verfassungsrechtlichen Vorgabe, einen Einkommensbetrag in Höhe des Existenzminimums eines Kindes steuerfrei zu stellen, wird gegenwärtig durch den Kinderfreibetrag von 4 104 DM und das einkommensunabhängig gezahlte Kindergeld von 70 DM monatlich entsprochen. Schon durch die vorgegebene Anhebung des Kinderfreibetrages auf 5 076 DM wird daher bei gleichbleibendem Kindergeld die steuerliche Berücksichtigung der Unterhaltsaufwendungen für erste Kinder verstärkt. Deshalb ist eine Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind verfassungsrechtlich nicht erforderlich. Ich sage nicht: nicht erwünscht, sondern betone: verfassungsrechtlich nicht erforderlich. Der Vorschlag, mit Verbesserungen beim Kindergeld erst ab dem zweiten Kind einzusetzen, entspricht der Zielsetzung der Koalitionsvereinbarung zur Weiterentwicklung des Familienleistungsausgleichs, das Kindergeld stärker an der Kinderzahl der Familien zu orientieren. Das vom Bundesminister der Finanzen für den Gesamtbereich der Verbesserung im Familienleistungsausgleich in Aussicht gestellte Finanzvolumen von insgesamt 6 Milliarden DM macht einen zielgenauen Einsatz dieser Mittel erforderlich. Soweit die Beantwortung Ihrer Frage 18.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, dafür, daß Sie diese Frage, wie Sie selber gesagt haben, schon implizit beantwortet hatten, war die Antwort doch recht ausführlich. Das muß ich schon sagen.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich muß ja folgsam sein.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Matthäus-Maier, haben Sie eine Zusatzfrage?

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie sagen, daß der aus der Sicht von Herrn Waigel zu erhöhende Freibetrag in Höhe von etwas über 5 000 zuzüglich der 70 DM Kindergeld beim ersten Kind das Existenzminimum gemäß Karlsruhe freistellt, können Sie uns dann bitte auch sagen, mit welchem fiktiven Prozentsatz Sie diese 70 DM - Sie sagten eben, daß Sie dies umrechnen - umgerechnet haben?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Die 70 Mark haben wir mit 40 % umgerechnet.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit 40 %?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ja.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Wir können natürlich darüber diskutieren, ob wir mit 45 % umrechnen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist klar.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Das wäre eine weitere Fachdebatte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Noch einmal Frau von Renesse.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe doch, so hoffe ich, richtig verstanden, daß Sie zumindest teilweise einen fiktiven Freibetrag bei einem Grenzsteuersatz von 40 % in den Betrag umrechnen, der beim Kindergeld für das erste Kind 70 DM beträgt?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Das ist die Vorgabe des Verfassungsgerichts.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was ist dann in Ihren Augen so grundsätzlich verhängnisvoll, wenn die SPD-Bundestagsfraktion vorschlägt, das gesamte Existenzminimum wie den gedachten Freibetrag ebenfalls mit einem Grenzsteuersatz von 40 % auf ein Gesamtkindergeld in Höhe von 250 DM umzurechnen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Wir betrachten derartige Vorschläge nicht als „verhängnisvoll". Man muß über diese Dinge ernsthaft diskutieren. Wir halten unsere Vorschläge für die besseren. Wir haben gegen Ihre Vorstellungen insbesondere einen Vorwand: Die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Anforderungen mit einem einheitlichen Kindergeld ist die mit Abstand teuerste Lösung. Sie wissen ganz genau - wir haben das schon wiederholt gesagt -, daß Ihre Lösung mindestens 13 Milliarden DM mehr kosten würde. Wir haben einen etwas engeren Finanzrahmen, den wir soliderweise einhalten müssen. Ich darf auch darauf hinweisen, daß trotz dieser hohen Aufwendungen durch ein einheitliches Kindergeld in Höhe von 250 DM die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt würden. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen werden erst ab einem Betrag in Höhe von 267 DM erfüllt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann rufe ich die Frage 19 der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier auf: Warum hat die Bundesregierung bis heute keine zwischen den Ressorts abgestimmten Vorschläge zur Reform des Familienlastenausgleichs vorgelegt, obwohl die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, das Existenzminimum von Kindern steuerfrei zu stellen, bereits aus dem Jahr 1990 stammt und der Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, bereits 1992 versprochen hat, die Bundesregierung werde nach Verabschiedung des Steueränderungsgesetzes 1992 innerhalb der Legislaturperiode Vorschläge zu der Frage unterbreiten, inwieweit innerhalb des dualen Systems des Familienlastenausgleichs auch das Kindergeld weiter erhöht werden könne ({0})?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Gestatten Sie, Frau Kollegin, daß ich die Fragen 19 und 20 gemeinsam beantworte?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Die Fragestellerin ist einverstanden. Dann rufe ich auch Frage 20 der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier auf: Wie beurteilt der Bundesminister der Finanzen die Tatsache, daß Monate nach Abschluß der Koalitionsvereinbarung einerseits und der Notwendigkeit, das Existenzminimum der Kinder steuerfrei zu stellen, andererseits in der Koalition immer noch höchst unterschiedliche Vorstellungen über Art und Umfang des Familienleistungsausgleichs existieren, und binnen welcher Frist gedenkt die Bundesregierung einen abgestimmten Vorschlag vorzulegen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Entgegen Ihrer Annahme wird bereits im bestehenden dualen System von Kinderfreibetrag und Kindergeld den verfassungsrechtlichen Anforderungen, einen Betrag des Einkommens in Höhe des Existenzminimums eines Kindes steuerfrei zu stellen, Rechnung getragen. Die Vorstellungen der Bundesregierung über die Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs ergeben sich aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 23. November 1994. Weitere Verbesserungen für die Familien herbeizuführen gehört für die Bundesregierung zu den wichtigsten Aufgaben dieser Legislaturperiode. Sie wird ihre Vorschläge hierzu rechtzeitig vorlegen. Ich verweise auf die Aussage des Bundesfinanzministers in der heutigen Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht, in der er auch Ihnen gegenüber, Frau Kollegin, ausdrücklich betont hat, daß wir am 28. März das Jahressteuergesetz 1996 im Kabinett behandeln werden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Faltlhauser, nachdem Sie offensichtlich die Fragen 19 und 20 verwechselt haben - in Frage 19, von der ich glaubte, Sie würden sie beantworten, hatte ich gefragt, warum der Finanzminister im Jahre 1992 erklärt hat, er werde nach Verabschiedung des damaligen Steueränderungsgesetzes im Laufe der Legislaturperiode Änderungen beim Kindergeld vorschlagen -, möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, vielleicht doch noch Frage 19 zu beantworten.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Das würde für mich -

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Eine Sekunde. - Frau Matthäus-Maier, wir sind davon ausgegangen, daß beide Fragen im Zusammenhang beantwortet werden.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Aber er hat zu der Frage, warum Herr Waigel das 1992 versprochen hat und bis 1994 nichts geschehen ist, nichts gesagt. Ich möchte gerne, daß diese Frage beantwortet wird, bevor meine Nachfrage als Zusatzfrage gewertet wird. Immerhin ging es um zwei Jahre; der Vorgang ist den meisten von uns, die damals dabei waren, noch sehr gut im Gedächtnis. Es war ein Gesetz, mit dem z. B. die Mehrwertsteuer angehoben wurde. Und um das ein bißchen sozialer zu gestalten, hatte Herr Waigel das hier versprochen. Ich weiß das noch sehr genau. Dann ist beim Kindergeld nichts mehr passiert. Können Sie den Vorgang nicht doch noch einmal erklären?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Da Ihre Frage doch eher den Charakter eines Debattenbeitrages hat, ({0}) möchte ich vorschlagen, daß Sie diese Frage in einer nächsten Debatte in Anwesenheit des Bundesfinanzministers stellen. Dann kann er Ihnen selbst antworten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Matthäus-Maier, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da die Art Ihrer Reaktion auf Fragen möglicherweise damit zusammenhängt, daß Sie das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs erst wenige Wochen wahrnehmen, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dah Sie die Frage zu beantworten haben - ich habe nämlich keinen Debattenbeitrag geleistet, sondern Frage gestellt -, warum der Finanzminister das versprochen und nichts getan hat.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich wiederhole: Das ist eine Frage zu einem historischen Faktum. Die kann ich Ihnen nicht beantworten. Deshalb kann ich Sie nur darauf verweisen, daß Sie ihn unmittelbar fragen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sind Sie bereit, diesen Teil schriftlich zu beantworten?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Selbstverständlich.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann haben Sie noch eine Zusatzfrage.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mich hat Ihre Zahlenkombination sehr interessiert. Sie haben gesagt, daß nach Ihrem Bericht - ich will den gar nicht bewerten - das Existenzminimum für ein Kind im Jahre 1996 6 288 DM betragen werde. Ich unterstelle die Richtigkeit des Betrages, auch wenn ich möglicherweise eine andere Auffassung dazu habe. In Beantwortung einer vorherigen Frage haben Sie gesagt, daß Sie das Kindergeld mit 40 % in einen fiktiven Freibetrag umrechnen, daß man aber auch 45 % nehmen könne. Zugleich wissen Sie doch, daß unsere 250 DM bei 40 % in einen Kinderfreibetrag von 7 500 DM und bei 45 % in einen fiktiven Kinderfreibetrag von 6 660 DM umgerechnet werden. Beide Zahlen liegen deutlich über 6 288 DM. Können Sie mir dann erklären, wie Sie zu Ihrer Behauptung kommen, daß wir mit unseren 250 DM verfassungsrechtlich nicht genug täten?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Wir haben diese Rechnungen entsprechend den 40 % vorgenommen, und ich habe nicht gesagt, daß man 45 % nehmen sollte. Ich korrigiere das ausdrücklich. Ich habe gesagt, man könne darüber diskutieren, welchen Steuersatz man bei der Berechnung zugrunde legt. Ich bitte, das schon genau zu verstehen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mal langsam! Bei 40 % sind wir bei 7 500 DM.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, bei großzügigster Auslegung der Geschäftsordnung gebe ich Ihnen Gelegenheit zu einer letzten Frage.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wiederhole: Wenn Sie 40 % nehmen - es gibt Urteile aus Karlsruhe mit 40 % und welche mit 45 % -, wie kamen Sie dann gerade eben zu der Behauptung, unsere 250 DM seien verfassungsrechtlich nicht ausreichend, obwohl die Umrechnung unserer 250 DM hei einem Steuersatz von 40 % zu einem fiktiven Kinderfreibetrag von 7 500 DM führt, der fast 1 300 DM höher ist als das von Ihnen dargestellte Existenzminimum?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Unser Grundgedanke ist der, daß wir in einem ersten Schritt feststellen, daß wir gegenwärtig mit unserer bestehenden Vorschrift für das Jahr 1995 eine verfassungskonforme Regelung haben. Wenn wir zum zweiten ein einheitliches Kindergeld in Höhe von 250 DM nähmen, kämen wir bei Anwendung gleicher Rechnungsmethoden auf einen Betrag, der es zumindest höchst zweifelhaft sein läßt, ob man damit der Verfassung gerecht wird. Nun kommt ein dritter Schritt, Frau Kollegin: Wenn ich für diese Lösungsmöglichkeit einen zusätzlichen Haushaltsbetrag von, gering gerechnet, 13 Milliarden DM brauche, dann ist dies sicherlich keine optimale Lösung. Es wäre viel Geld für eine Lösung, die verfassungsrechtlich schlechter als die heutige ist.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Eine Zusatzfrage hat Herr von Larcher.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, diese Rechnung müssen wir im Finanzausschuß vielleicht noch einmal miteinander durchführen.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Gern.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe eine Zusatzfrage: Trifft es zu, daß die Neuregelungen zum Familienleistungsausgleich aus dem Entwurf zum Jahressteuergesetz 1996 herausgenommen werden sollen? Falls ja: Sollen dann die darin vorgesehenen Maßnahmen im Zuge der parlamentarischen Beratung zum Jahressteuergesetz 1996 nachgeliefert werden, oder gibt es ein gesondertes Gesetzgebungsverfahren?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Es ist richtig, daß in dem Gesetzentwurf, der noch in diesem Monat an die Verbände herausgegeben wird, der Teil hinsichtlich der Förderung der Familien nicht enthalten sein wird. Das ist so, weil - wie Sie wissen, wie ich es Ihnen auch im Finanzausschuß in aller Offenheit erklärt habe - innerhalb der Koalition und innerhalb der Fraktionen um die beste Lösung noch gerungen wird. Diese Legislaturperiode ist noch sehr jung; wir haben erst wenige Sitzungswochen gehabt; die Zeit ist knapp. Alle Beteiligten, die Haushalts-, die Finanz- und die Familienpolitiker, wollten gemeinsam eine möglichst gute Lösung beraten. Dadurch ist im Hinblick auf das weitere Vorgehen keinerlei Vorprägung gegeben. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Die nächste Zusatzfrage hat Frau von Renesse.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich nicht im Finanzausschuß bin, das Zahlenspiel aber verstehen möchte, erlauben Sie mir hierzu bitte eine Frage. Hinsichtlich der Aussage, der Vorschlag der SPD, 250 DM Kindergeld im Monat zu zahlen, sei verfassungsrechtlich bedenklich, möchte ich gern wissen, von welcher Beurteilungsgrundlage in doppelter Hinsicht Sie für diese Aussage ausgehen. Welches Existenzminimum legen Sie dann bei welchem Grenzsteuersatz zugrunde?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich muß zur Aufklärung darauf hinweisen: Das Existenzminimum eines Kindes in Höhe von 6 288 DM ist für das Jahr 1996, also für das nächste Jahr, definiert. Die Beurteilung gegenwärtiger Verhältnisse - wenn ich sage, der gegenwärtige Zustand mit 70 DM Erstkindergeld und etwas mehr als 4 000 DM Freibetrag reiche verfassungsgemäß - bezieht sich auf die Zahlen für das Jahr 1995. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich glaube schon, daß sie verstanden worden ist. Es kann aber sein, daß Sie mit der Antwort nicht zufrieden sind. ({0}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Das kann ich schlecht ändern. Eine weitere Zusatzfrage, Herr Spiller, bitte schön.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, folgende Rechnung nachzuvollziehen? Bei einem einheitlichen Kindergeld in Höhe von 250 DM im Monat ergibt sich eine Jahressumme von 3 000 DM. Wenn man das auf einen Grenzsteuersatz von 40 % umrechnet, entspricht das der Freistellung von 7 500 DM im Jahr. Das ist eigentlich eine relativ einfache Rechnung. Sehen Sie da Probleme mit den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts, das Existenzminimum müsse entweder durch einen Freibetrag oder durch ein entsprechend bemessenes Kindergeld freigestellt sein?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Herr Kollege, das ist eine Wiederholung der bereits gestellten Frage. Ich kann nur auf meine bisherigen Antworten verweisen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann rufe ich die Frage 21 des Abgeordneten von Larcher auf: Wie beurteilt der Bundesminister der Finanzen den Vorschlag der von ihm einberufenen unabhängigen EinkommensteuerKommission ({0}), das Kindergeld für das erste und zweite Kind ab 1996 auf monatlich 170 DM ({1}), für das dritte Kind auf monatlich 215 DM und für das vierte und jedes weitere Kind auf monatlich 305 DM vom Jahr 1996 an zu erhöhen und bei der Einkommensteuerveranlagung das erhaltene Kindergeld auf Antrag auf die Kinderfreibeträge anzurechnen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Herr Kollege Larcher, Sie stellen in Ihrer Frage auf die Bareis-Kommission ab. Die Bundesregierung geht entsprechend der Regierungserklärung vom 23. November 1994 im Einklang mit der Koalitionsvereinbarung von einem anderen Ansatz zur Weiterentwicklung des Familienleistungsausgleichs aus: Den Erfordernissen der horizontalen Steuergerechtigkeit soll stärker unmittelbar durch stufenweise Anhebung des Kinderfreibetrags Rechnung getragen werden. Das habe ich hier schon dargelegt. Sobald dieser die volle Höhe des Existenzminimums eines Kindes erreicht hat, hat das Kindergeld ausschließlich die Funktion einer ergänzenden Sozialleistung, die bedarfsgerecht und gezielt auf Eltern mit geringen Einkommen und mehreren Kindern ausgerichtet werden kann. Der Vorschlag der Kommission hat zur Folge, daß bei Arbeitnehmern im laufenden Jahr grundsätzlich eine zu hohe Steuer erhoben würde, die erst bei der Veranlagung zur Einkommensteuer korrigiert werden könnte. Viele Arbeitnehmer müßten allein zu diesem Zweck eine Steuererklärung abgeben; das wissen Sie. Lassen Sie mich hinzufügen, Herr Kollege: Sowohl der Vorschlag der Bareis-Kommission als auch der mit diesem Vorschlag verwandte Vorschlag des Vorsitzenden unseres gemeinsamen Ausschusses, des Finanzausschusses, Herrn Thieles, werden in der aktuellen Diskussion innerhalb der Koalition sorgfältig geprüft.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zusatzfragen? - Danke. Wir kommen zur Frage 22 des Abgeordneten von Larcher: Wie beurteilt der Bundesminister der Finanzen den Vorschlag, das heute von der Zahl der Kinder und dem Einkommen der Eltern abhängige Kindergeld sowie den Kindergeldzuschlag bei Familien mit geringem Einkommen durch ein deutlich erhöhtes einheitliches Kindergeld abzulösen und mit dem Steuervorteil aus dem Kinderfreibetrag zu verrechnen sowie den gesamten Kinderleistungsausgleich über das Finanzamt abzuwickeln?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Die in der Antwort zu Frage 21 dargelegten Bedenken gelten hier gleichermaßen. Die haushaltsmäßigen Auswirkungen wären allerdings noch größer. Der Vorschlag, den gesamten Kinderlastenausgleich über das Finanzamt abzuwikkeln, liefe auf eine „Finanzamtslösung" hinaus, also auf eine Lösung, die in den vergangenen Jahren mehrfach und stets mit negativem Ergebnis untersucht wurde und auch bei den Ländern auf einhellige Ablehnung stieß. Ich darf hinzufügen, Herr Kollege von Larcher: Wir sind gerade dabei, noch einmal die Herren Minister zu fragen, ob sie eine „Finanzamtslösung" haben wollen. Die Einkommensteuerabteilungsleiter aller 16 Länder haben in einem Treffen vor kurzem mit 16 : 0 eine derartige Lösung abgelehnt. Dies muß für uns noch kein Grund sein, eine derartige Lösung unsererseits abzulehnen, aber das ist bei diesem ganzen Vorgang zumindest eine bedeutsame Entscheidungshilfe.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ihre Zusatzfrage.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sind die Länder vielleicht zögerlich, weil die „Finanzamtslösung" natürlich die Länderhaushalte belasten und den Bundeshaushalt entlasten würde, weil die Leistungen nicht mehr von den Arbeitsämtern erbracht werden müßten? Wenn es damit zusammenhängt, könnten Sie sich dann vorstellen, daß man einen Ausgleich schafft? Denn für den Kindergeldempfänger wäre natürlich auf jeden Fall die „Finanzamtslösung" viel einfacher. Insgesamt würden Sie mir doch sicher zustimmen, daß es auch eine Verwaltungsvereinfachung wäre. Es geht nur um den Ausgleich. ({0})

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Was Sie meinen, ist durchaus denkbar. Jedoch weise ich darauf hin, daß derartige Verhandlungen mit den Ländern gerade in der gegenwärtigen Situation und vor dem Hintergrund der Erfahrungen in den letzten zwei Jahren außergewöhnlich schwierig sind. Sich auf diese Weise zu einigen dürfte sehr kompliziert sein. Ich verweise aber in diesem Zusammenhang noch einmal auf eine zusätzliche Problematik im Zusammenhang mit dem Lastentragen des FamilienlastenParl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser ausgleichs. Wenn wir zu einem einheitlichen Kindergeld kommen, haben wir natürlich auch das Problem, daß die Lasten zunächst ungeschmälert dem Bund zufallen. Auch das bitte ich zu berücksichtigen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Noch eine Zusatzfrage? - Bitte schön.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber wenn Sie doch offenbar mit mir schon der Meinung sind, daß das Ganze eine Verwaltungsvereinfachung wäre, ist die Bundesregierung dann bereit, in den Verhandlungen mit Energie die Bedenken aufzunehmen und mit den Ländern Lösungen zu suchen, um die „Finanzamtslösung" herbeizuführen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich weise darauf hin, Herr Kollege von Larcher, daß ich nicht so klar gesagt habe, daß es eine Verwaltungsvereinfachung ist. Es kann eine solche sein. Die Untersuchungen, die zu dieser Frage in der Vergangenheit vorgelegt wurden, haben zum Ergebnis gehabt, daß es durchaus nicht zu einer Verwaltungsvereinfachung kommen muß, sondern daß es auch zu Komplizierungen kommen kann. Aber wenn man konstruktiv an die Frage herangeht, könnte man zu dem Ergebnis kommen. Es ist, wie gesagt, auch eine Entscheidung der Länder, ob sie wollen oder nicht. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Wir kommen zur Frage 23 der Abgeordneten Kressl: Wie beurteilt die Bundesregierung den Hinweis des Bundesministers der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Existenzminimum für Kinder könne über den Kinderfreibetrag noch nicht zum 1. Januar 1996 freigestellt werden ({0})?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Der Hinweis des Bundesministers der Finanzen, das Existenzminimum für Kinder könne noch nicht zum 1. Januar 1996 über den Kinderfreibetrag freigestellt werden, entspricht der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung. Danach soll der Kinderfreibetrag stufenweise weiter angehoben werden. Solange der Kinderfreibetrag die volle Höhe des Existenzminimums eines Kindes nicht erreicht, wird die Steuerfreistellung eines entsprechenden Einkommensbetrags durch Kinderfreibetrag und Kindergeld sichergestellt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Eine Zusatzfrage, bitte schön.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie mir sagen, in welchen Schritten Sie die vollständige steuerliche Freistellung des Existenzminimums über die Freibeträge planen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß wir noch in der Diskussion sind. Der CSU-Vorsitzende, Theo Waigel, hat den Vorschlag gemacht, in einem ersten Schritt den Freibetrág auf 5 076 DM anzuheben. Dem müßten weitere folgen, um das Existenzminimum steuerlich zu befreien. Über Umfang und Terminierung dieser Maßnahmen ist bis jetzt noch nicht befunden worden.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe eine zweite Zusatzfrage. Wenn Sie die Freistellung des Existenzminimums ausschließlich durch Erhöhung der Kinderfreibeträge planen, wie erklären Sie sich dann die Planungen zur Erhöhung des Kindergeldes? Diese Planungen widersprechen sich ja.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich glaube nicht, daß sich das widerspricht. Ich habe bereits dargelegt, daß das Instrument des Kindergeldes dann, wenn das Existenzminimum des Kindes alleine durch eine Anhebung der Kinderfreibeträge sichergestellt ist, unter sozialpolitischen Gesichtspunkten, ungebunden von verfassungsrechtlichen Rücksichtnahmen, gezielt und genau eingesetzt werden kann. Über entsprechende konkrete Beschlüsse hat diese Koalition bis heute noch kein volles Übereinkommen erzielt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön, Herr von Larcher.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sollen sämtliche Schritte zur Steuerfreistellung des Existenzminimums der Kinder noch in diesem Jahr festgelegt werden?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich könnte mir vorstellen, daß es ein ehrgeiziges Ziel ist, das festzulegen, damit man den Gesamtzusammenhang sieht. Aber der Diskussionsprozeß wird zeigen, ob wir das - mit Blick auf die Entwicklung der Haushalte - tatsächlich schon im Jahr 1995 festlegen sollten. ({0}) Ich möchte, insbesondere im Hinblick auf die außergewöhnlich hohen Belastungen im Jahre 1996 - ein schwieriges Haushaltsjahr -, davor warnen, langfristige Entscheidungen schon heute, im Jahr 1995, zu treffen. Das sollten wir schrittweise machen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie, da Sie jetzt schon mehrere Jahre planen, um die Regelung der Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch die Erhöhung der Kinderfreibeträge hinzubekommen, bereit, die Inflationsrate zu berücksichtigen und die Beträge vielleicht etwas zu erhöhen oder sie zu dynamisieren; denn sonst müssen Sie ja gleich wieder neue Regelungen treffen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Zunächst folgende Feststellung: Bereits heute ist die verfassungsgemäß abgesicherte Steuerfreistellung des Existenzminimums des Kindes gewährleistet. Das müssen wir nicht erst erreichen. Das betone ich noch einmal ausdrücklich. Sicherlich wäre es - Ihr Gedankengang ist da richtig - jeweils das Vernünftigste, bei der Festlegung neuer Zahlen der Preissteigerungsrate vorzugreifen, damit sich eine ständige oder alljährliche millimetergenaue Anpassung erübrigt. Dies muß man aber entsprechend den Haushaltsmöglichkeiten entscheiden. Ich verweise darauf, daß es zwar sehr wünschenswert ist, für die Familie möglichst viel zu tun. Aber man muß auch die haushaltsmäßigen Gegebenheiten berücksichtigen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage, bitte.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, würden Sie freundlicherweise noch einmal Ihre Wortwahl überdenken? Sie haben gesagt, die Steuerfreistellung des Existenzminimums von Kindern sei durch die Maßnahmen, die die Bundesregierung getroffen hat, abgesichert. Es kann sich doch allenfalls darum handeln, daß nicht auch noch die Unterhaltsaufwendungen der Eltern besteuert werden.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich weiß nicht genau, auf was Sie mit Ihrer Frage abstellen. Ich will nur noch einmal ausdrücklich betonen - falls ich das vielleicht nicht ganz präzise formuliert habe -: Der jetzige Zustand mit dem Kinderfreibetrag und dem Kindergeld - in dem Zusammenhang: Kindergeldsockel, also die 70 DM - reicht für die Sicherung des Existenzminimums des Kindes, entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, aus. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Kollegin Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sagten, der von uns vorgesehene Betrag von 250 DM würde nicht ausreichen. Das teile ich naturgemäß nicht. In der gleichen Antwort sagten Sie, nach diesen Umrechnungen müßten wir auf mindestens 267 DM erhöhen. Abgesehen davon, daß das ja ohne weiteres möglich wäre, frage ich Sie: Können Sie mir vorrechnen, wieso Sie auf 267 DM kommen? Bei welchem fiktiven Steuersatz?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Ich werde Ihnen die genauen Berechnungen, die wir hierzu auf der Basis unseres Berichtes angestellt haben, zusenden. Dort stehen die 267 DM als abgestimmter Betrag fest.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe jetzt die Frage 24 der Abgeordneten Nicolette Kressl auf: Was bedeutet der Hinweis des Bundesministers der Finanzen: „Beim Kindergeld werden wir Familien mit mehreren Kindern und geringerem Einkommen stärker fördern als bisher" ({0}) konkret, und an welche Einkommensgrenzen denkt der Bundesminister der Finanzen hierbei? Bitte, Herr Staatssekretär.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Nach dem Vorschlag des Bundesministers der Finanzen soll die stärkere Förderung von Mehrkinderfamilien mit geringerem Einkommen primär durch die Anhebung der Kindergeldhöchstbeträge auf 150 DM für das zweite und 250 DM ab dem dritten Kind erreicht werden. Inwieweit bei Eltern mit geringerem Einkommen die Förderung durch Kindergeld über eine Anhebung der Kindergeldhöchstbeträge hinaus durch eine Anhebung der Einkommensgrenzen - nach der bisherigen Vorstellung des Bundesministers der Finanzen um rund 10 % - verbessert werden soll, hängt wie alle übrigen Elemente dieses Vorschlags von der weiteren Erörterung der Modelle ab, die der Bundesregierung derzeit vorliegen.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie uns dann erklären, warum Sie, obwohl Sie sagen, Sie wollten Familien mit geringerem Einkommen stärker als bisher fördern, genau an dem Umgekehrten festhalten, nämlich an den Freibeträgen, bei denen das ja auf den Kopf gestellt wird?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000517

Das scheint nur ein Widerspruch zu sein. Ich wiederhole: Dadurch, daß wir versuchen, die Anforderungen des Verfassungsgerichts mit einer Freibetragsregelung zu erfüllen, sind wir völlig frei von diesen verfassungsrechtlichen Zwängen und der unseligen Umrechnerei und können das Kindergeld gezielt gerade für Bezieher geringerer Einkommen einsetzen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Damit sind wir am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen angekommen. Ich danke dem Herrn Staatssekretär Faltlhauser. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert zur Verfügung. Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Wieland Sorge auf: Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Zusage, den verbliebenen 514 ehemaligen Kali-Kumpeln in der Gesellschaft für Verwahrung und Verwertung stillgelegter Bergbauflächen ({0}) einen dauerhaften Arbeitsplatz zu vermitteln, und liegen der Bundesregierung Zahlen darüber vor, wie viele Personen bereits in einem neuen Arbeitsverhältnis vertraglich gebunden sind?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Sorge, die Bundesregierung hat allen Beschäftigten des Kali-Werks Bischofferode eine Beschäftigungsgarantie bis Ende 1995 zugesagt. Das ist richtig. Diese Zusage wird die Bundesregierung einhalten. Darüber hinaus hat sich die Landesregierung des Freistaates Thüringen verpflichtet, denjenigen Bergleuten Dauerarbeitsplätze anzubieten, die bis Ende 1995 in keinem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis unterkommen konnten. Nach den vom Land vorgelegten Angaben haben bereits heute 68 Mitarbeiter neue Arbeitsverträge erhalten. 333 ehemalige KaliMitarbeiter werden nach erfolgreicher Umschulung bzw. Einarbeitung gute Chancen haben, in der Region einen dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Diese Einschätzung resultiert aus der Umsetzung dieses Programms. Dies bedeutet, daß rechnerisch für ca. 200 Betroffene in den nächsten 12 Monaten noch Anschlußlösungen gefunden werden müssen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Möchten Sie eine Zusatzfrage stellen? - Bitte.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie sagten, daß es noch nicht ganz klar ist, daß Mitarbeiter in dieser Zahl in dauerhafte Arbeitsverhältnisse umgesetzt werden können. Unter der Annahme, daß es nicht zu einer Ansiedlung von Unternehmen kommt, die garantieren können, daß Mitarbeiter in einer solchen Zahl einen Arbeitsplatz bekommen, frage ich Sie: Sind von Ihrer Seite aus mit der Thüringer Landesregierung Verhandlungen aufgenommen worden, um den Zeitrahmen einzuhalten und die Arbeitsplätze zu sichern?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Wir befinden uns, Herr Kollege Sorge, selbstverständlich mit der Landesregierung im Gespräch, die sich über ihre Regionalkonferenzen, die zum Teil schon stattgefunden haben und zum Teil noch stattfinden werden, auch um die Mobilisierung genau der Infrastruktur der Betriebsansiedlungen bemüht, die für möglichst viele Betroffene eine neue Beschäftigungsperspektive eröffnen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Keine weitere Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 35 auf: Wie will die Bundesregierung verhindern, daß im Sommer eine große Anzahl von Kündigungen ausgesprochen werden muß, da sich bislang keine größere Anzahl von Unternehmen in der Region angesiedelt hat?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, die Bundesregierung unterstützt die Landesregierung - ich habe das im Zusammenhang mit der Zusatzfrage soeben schon andeutungsweise beantwortet - im Rahmen ihrer Möglichkeiten bei deren eigenen Bemühungen zur Schaffung neuer Dauerarbeitsplätze. Bislang haben bereits zwei Regionalkonferenzen für Nordthüringen stattgefunden, in denen sich sowohl der Bund wie das Land insbesondere um Verbesserungen der Infrastruktur der ehemaligen Kalistandorte bemüht haben. Die Umsetzung der bei diesen Gelegenheiten angesprochenen bzw. in Angriff genommenen Infrastrukturprojekte verläuft planmäßig. Zu diesen Projekten gehört auch das Projekt „Entwicklung des ehemaligen Kalistandorts Bischofferode". Auf dem Gelände des ehemaligen Kalibergwerks entsteht zur Zeit ein Industrie- und Gewerbegebiet mit einem Investitionsvolumen von 41 Millionen DM. Diese Investitionen werden mit Zuschüssen aus der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" bis zu 70 % gefördert. Durch Neuansiedlungen auf dem Gelände, für die bereits Kauf- und Pachtverträge abgeschlossen sind, werden kurzfristig rund 200 neue Arbeitsplätze entstehen. Weitere 28 Arbeitsplätze werden gegenwärtig durch Ausgründungen geschaffen. In der gesamten Region wurden bis Mitte 1994 einzelbetriebliche Investitionen in Höhe von 1,613 Milliarden DM mit GA-Mitteln in Höhe von 358,6 Millionen DM gefördert. Nach Abschluß dieser gewerblichen Investitionsmaßnahmen werden in der Region voraussichtlich rund 15 300 Dauerarbeitsplätze neu geschaffen bzw. gesichert sein.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind diese Zahlen angesichts der Entwicklung wirklich realistisch, oder sind das Zahlen, wie man sich die Entwicklung in den nächsten 20 Jahren vorstellt?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Sorge, Sie sprechen völlig zu Recht den Umstand an, daß man bei der Projektion von Entwicklungen in betroffenen Arbeitsmarktregionen nicht den Eindruck erwecken sollte, als könnte man angestrebte Ziele, gerade was die Zahl neuer Arbeitsplätze angeht, mit einer einklagbaren Gewißheit zu bestimmten Stichtagen erreichen. Aus genau diesem Grund habe ich mir bei der Beantwortung Ihrer ersten Frage große Zurückhaltung gegenüber einem solchen Eindruck auferlegt und etwa im Zusammenhang mit den Qualifizierungsmaßnahmen davon gesprochen, daß nach Einschätzung der von diesen Maßnahmen unmittelbar Betroffenen davon ausgegangen wird, daß daraus vielleicht rund 200 neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Aber es ist schon ein Gebot der Redlichkeit - so verstehe ich Ihre Frage -, auf den Rest an Unsicherheit zu verweisen, der sich daraus ergibt, daß sich aus der Inanspruchnahme von bestimmten Fördermaßnahmen zwar rechnerisch bestimmte Arbeitsplatzeffekte erreichen lassen, aber ob diese Arbeitsplätze tatsächlich zustande kommen, man mit letzter Gewißheit erst dann sagen kann, wenn die Maßnahmen abgeschlossen sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie haben eine zweite Zusatzfrage. Bitte.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, was geschieht mit denjenigen, bei denen es in der Zeit, die von der Bundesregierung und der Landesregierung vorgesehen wurde, nicht zu einer Beschäftigung kommt? Haben sie das Recht, sie in irgendeiner Form einzuklagen, oder was sollen sie tun, wenn für sie in dieser Zeit kein Arbeitsplatz geschaffen werden kann?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Die Situation, die Sie jetzt ansprechen, ist kein exklusives Problem, das wir nur im Zusammenhang mit den Betroffenen an diesem Standort hätten. Wenn überhaupt, dann besteht die besondere Situation, die sich für die durch die Stillegung von Werken Betroffenen ergibt, darin, daß es im Unterschied zu vielen anderen vergleichbaren Fällen eine politische Beschäftigungsgarantie durch den Bund bzw. das Land jedenfalls bis zu bestimmten Stichtagen gegeben hat. Über diese politisch garantierten Stichtage hinaus kann es eine weiterführende Beschäftigungsgarantie nicht geben, wohl aber das Bemühen um weitere Förderung von Betriebsansiedlungen. Davon habe ich berichtet. Es gibt auch den begründeten Eindruck, daß diese in Aussicht gestellten Maßnahmen planmäßig stattfinden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Kollegin Fuchs.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie schon realistischerweise unverbindlich bleiben möchten, kommen dennoch die Fragen: In welcher Art von Berufen wird qualifiziert? Mit welcher Art von Arbeitsplätzen rechnen Sie? Wie wollen Sie garantieren, daß auch die rechtzeitige Qualifizierung dieser Menschen erfolgt?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Ich will das, Frau Kollegin Fuchs, mit der Aufteilung der Ausgangsgröße der Belegschaft auf verschiedene Maßnahmen zu verdeutlichen versuchen, weil es vielleicht auch die Richtung ein wenig transparenter macht, in der sich alternative, neue Beschäftigungschancen ergeben könnten. Von den ursprünglich 690 Beschäftigten haben 25 Mitarbeiter eine feste Anstellung in der Entwicklungsgesellschaft Nordhausen erhalten. Das ist ein kleiner Teil. 579 Beschäftigte wurden von der Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung von stillgelegten Bergwerksbetrieben übernommen. Von denen befinden sich 245 Mitarbeiter in Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, wobei 43 Personen ebenfalls verbindliche Arbeitsverträge haben, die nach der Umschulung in Kraft treten. 131 Mitarbeiter sind in Projekten dieser EGN, der Entwicklungsgesellschaft Nordhausen, und anderen betrieblichen Beschäftigungsverhältnissen untergebracht und haben gute Chancen - mehr läßt sich nicht sagen -, aus dieser Tätigkeit heraus eine dauerhafte Anstellung zu finden. Weitere 191 Mitarbeiter verrichten zur Zeit Stilllegungs- und Verwahrungsarbeiten bei der Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung von stillgelegten Bergwerksbetrieben. Für zwölf Mitarbeiter konnte bisher kein Beschäftigungsverhältnis gefunden werden. Das macht zum einen deutlich, daß es eine sehr kleine Zahl von Betroffenen gibt, für die es bereits eine rechtlich geregelte neue Beschäftigungsperspektive gibt, daß es allerdings eine noch kleinere Zahl von Betroffenen gibt, für die sich überhaupt keine Beschäftigungsperspektive eröffnet. Das ist bei vollem Respekt für die gemeinsame Sorge für den Kreis der verbleibenden Betroffenen ein im Vergleich zu vielen anderen Fällen beachtliches Ergebnis.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine weitere Zusatzfrage.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, die GVV ist das wesentliche Instrumentarium, um in Bischofferode einen Strukturwandel zu erreichen. Die GVV müßte eigentlich an den Ausgründungen, von denen Sie gesprochen haben - 28 Arbeitsplätze, die durch Ausgründungen entstehen sollten -, viel stärker beteiligt sein. Mir ist bekannt, daß eine MBO-Maßnahme, eine Management-Buy-Out-Maßnahme, mit zehn Arbeitsplätzen bisher von der GVV in nicht ausreichendem Maße unterstützt wird. Darf ich Sie bitten, in dieser Hinsicht Unterstützung zu geben?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

So allgemein will ich das gern zusagen. Ich bitte Sie gleichzeitig, ergänzende Hinweise zur Verfügung zu stellen, die auch diese Bereitschaft zur Unterstützung substantiell ermöglichen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir kommen jetzt zur Frage 36 des Abgeordneten Frederick Schulze: Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung bisher ergriffen, um den Bestand der Sangerhäuser Maschinenfabrik ({0}) zu gewährleisten, und wann ist mit einem Ergebnis der Initiative des deutsch-russischen Kooperationsrates im Falle der SAMAG zu rechnen? Dr. Norbert Lammert, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft: Herr Kollege Schulze, im Juni 1994 wurde die Gesamtvollstreckung über das Vermögen des Mitte 1991 privatisierten Unternehmens eingeleitet. Der Verwalter ist bemüht, Investoren zu finden, die die SAMAG oder einzelne Betriebsteile übernehmen wollen. Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Auffanglösung unterstützen. Sie ist grundsätzlich bereit, einen Finanzkredit zur Finanzierung eines bereits ausgelieferten WeißrußlandgeParl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert schäfts der SAMAG nachträglich mit einer HermesBürgschaft abzusichern, sofern eine konkretere Möglichkeit der Weiterführung des Unternehmens erkennbar ist. Das hängt auch mit der Rechtskonstruktion der Hermes-Bürgschaften zusammen, wie Sie wissen. Die Treuhandanstalt hat, nicht zuletzt auf ausdrücklichen Wunsch der Bundesregierung, Grundstücke der SAMAG durch den TLG-Immobilienpool aufgekauft, damit die Banken bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegen die SAMAG stillhalten. Sollten sich Investoren bei der SAMAG engagieren, so stehen ihnen Bundesbürgschaften unter den üblichen Bedingungen zur Verfügung, insbesondere sofern sie ein tragfähiges Unternehmenskonzept vorlegen. Was Ihre Frage nach dem Deutsch-Russischen Kooperationsrat betrifft, kann ich Sie darauf hinweisen, daß bei der letzten Sitzung dieses Kooperationsrates im Januar dieses Jahres der Bundeswirtschaftsminister seinen russischen Kollegen darauf hingewiesen hat, daß eine russische Investorengruppe mit dem Verwalter der SAMAG über den Kauf eines Betriebsteils verhandelt. Er hat ihn gebeten, auf russischer Seite die Realisierung dieser Investition zu unterstützen. Die abschließende russische Reaktion steht noch aus. Im Zusammenhang mit anderen russischen Investitionsvorhaben in neuen Bundesländern hat Minister Jassin allerdings darauf hingewiesen, daß nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten russische Investoren für ihre Investitionen in Deutschland die Verantwortung selbst tragen müßten und keine wirtschaftliche Unterstützung der russischen Regierung erwarten können.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Nachfrage. Bitte.

Frederick Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist der Bundesregierung bewußt, daß der Sequester der SAMAG auch maßgeblich an der Abwicklung des Konsum beteiligt war und die Bevölkerung in der Region daher befürchtet, daß es sich bei der Verwaltung der SA-MAG - subjektiv natürlich; aus der Sicht dieser Arbeitnehmer - weniger um einen Rettungsversuch, sondern vornehmlich um eine Liquidierung handeln könnte; und welche Maßnahmen sind daraus abzuleiten?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Es ist immer schwierig, Herr Kollege, subjektive Wahrnehmungen von Betroffenen zu bewerten. Sie werden sicher Verständnis dafür haben, daß ich noch zögerlicher bin, die zu kommentieren. Es empfiehlt sich fast immer in solchen Fällen, das, was jedenfalls unmittelbar Betroffene für ihre Lagebeurteilung halten, mit Respekt zu registrieren - selbst dann, wenn man sich möglicherweise diese Wahrnehmung nicht zu eigen machen kann oder will. Aus der Sicht der Bundesregierung stellen wir ernsthafte Bemühungen fest, die Liquidität des Unternehmens zu sichern und eine Auffanglösung herbeizuführen. Wir sind an diesen Bemühungen, soweit das im Rahmen unserer rechtlichen und tatsächlichen Mittel überhaupt möglich ist, aktiv beteiligt. Das setzt aber eben voraus, daß überhaupt Perspektiven eröffnet werden, die eine verläßliche Aussicht auf die Fortführung dieses Unternehmens oder Betriebes in welcher Form auch immer eröffnen. Erst dann sind die rechtlichen Voraussetzungen für bestimmte Unterstützungsmaßnahmen des Bundes gegeben. Aber Sie dürfen diesen Anmerkungen durchaus die Bereitschaft des Bundes entnehmen - auch, was das Strecken verbindlicher Entscheidungen angeht -, jede sich halbwegs realistisch eröffnende Möglichkeit zu nutzen, zu einer solchen Konstruktion zu kommen, die dann hoffentlich die Fortführung des Unternehmens - und damit den Erhalt von Arbeitsplätzen - erlaubt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt bestehen keine weiteren Nachfragen. Die Frage 37 ist bereits gestern beantwortet worden. Für alle restlichen Fragen aus diesem Geschäftsbereich ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Wir kommen gerade noch dazu, eine Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit zu behandeln. Die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl ist gekommen. Für die Fragen 57 und 58 ist schriftliche Beantwortung beantragt worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 59 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf: Beabsichtigt die Bundesregierung, zum Gesundheitsschutz von Kindern gesetzliche Regelungen zu erlassen, um Schadstoffe, wie z. B. PCP und Lindan, in Kindermatratzen zu verbieten? Bitte, Frau Staatssekretärin.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Sehr geehrter Herr Kollege! Kindermatratzen sind Bedarfsgegenstände im Sinne des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes und unterliegen somit den allgemeinen Schutzbestimmungen des § 30 dieses Gesetzes. Danach ist es verboten, solche Erzeugnisse herzustellen oder in den Verkehr zu bringen, die geeignet sind, bei bestimmungsgemäßem oder vorauszusehendem Gebrauch die Gesundheit zu schädigen. Darüber hinaus bestehen spezielle Vorschriften zum vorbeugenden Gesundheitsschutz in der Bedarfsgegenständeverordnung. In dieser Verordnung sind z. B. drei gesundheitlich bedenkliche Flammschutzmittel für bestimmte Bedarfsgegenstände und somit auch für Kindermatratzen verboten. Das Chemikalienrecht regelt die Herstellung, Verwendung und das Inverkehrbringen bestimmter gefährlicher Stoffe. Die Chemikalienverbotsordnung untersagt z. B. das Inverkehrbringen von Erzeugnissen, die mehr als 5 mg/kg Pentachlorphenol enthalten. Diese Regelung findet auch auf Kindermatratzen Anwendung. Die Bundesregierung sieht daher zur Zeit keine Notwendigkeit für zusätzliche Regelungen bei Kindermatratzen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage? - Bitte.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, nach Ihrer Aussage sind also keinerlei Schädigungen bei Kindern durch Pentachlorphenol oder Lindan aus Kindermatratzen aufgetreten?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Uns sind solche Vergiftungen bzw. aufgetretene Schäden nicht bekannt. Es hat in Nordrhein-Westfalen eine Untersuchung von Kindermatratzen gegeben, und alle Untersuchungen haben das Ergebnis gehabt, daß keine gesundheitlich bedenklichen Werte von solchen Stoffen in den Matratzen festgestellt wurden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine weitere Zusatzfrage. Bitte.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sind dem Ministerium generell Schäden von Pentachlorphenol an Kindern bekannt? Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Pari. Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit: Mir ist nicht bewußt, daß uns solche Schäden gemeldet wurden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es gibt keine weiteren Nachfragen zu diesem Bereich. Ich habe nun noch der Staatssekretärin Michaela Geiger zu danken, daß sie zur Beantwortung gekommen ist. Nur: Bei allen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich danke Ihnen trotzdem, daß Sie gekommen sind. Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Jedenfalls ist die abgesprochene Zeit abgelaufen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 und den Zusatzpunkt 5 auf. 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Hermann Bachmaier, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Erleichterung der Einbürgerung unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit - Drucksache 13/259 ZP5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller ({0}), Volker Beck, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts ({1}) - Drucksache 13/423 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung! Laut dpa-Meldung von heute mittag haben Sie, Herr Innenminister Kanther, sich im rechtsradikalen „Deutschland-Magazin" zur Thematik „Ausländer und Extremismus" verbreitet, ({0}) ausgerechnet in einem Blatt, Herr Marschewski, dessen Herausgeber Kurt Ziesel nach einem Urteil des Landgerichts München als - ich zitiere - notorischer Nationalsozialist bezeichnet werden kann und dem Ihr Parteikollege Jürgen Echternach schon in den 70er Jahren vorwarf, daß die dahinterstehende Deutschland-Stiftung ein nationalsozialistisches Unternehmen mit einem demokratischen Deckmantel sei - Zitat Echternach! -. Meine Damen und Herren, daß sich der für Verfassungsfragen zuständige Minister eines solchen Organs bedient, um offenkundig am allerrechtesten Rand auf Wählerfang zu gehen, ist ein Skandal und verdient die scharfe Verurteilung durch das gesamte Haus. ({1}) Frau Präsidentin, liebe Kollegen und Kolleginnen, wir unternehmen heute einen parlamentarischen Vorstoß zur Erleichterung der Einbürgerung, wahrlich nicht den ersten, und wahrlich auch nicht deshalb, weil wir Lust am Wiederkäuen längst vorgebrachter Argumente und Konzepte hätten. Nein, schuld daran, daß abermals diese Forderung nach einer wirklich überfälligen Reform aus der Opposition heraus erhoben wird, ist einzig und allein diese Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. Denn, meine Damen und Herren, Sie schaffen es doch einfach nicht, die grundlegende Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts in Angriff zu nehmen, die bekanntlich schon in der vergangenen Legislaturperiode versprochen worden war. Statt dessen erleben wir seit Monaten - man kann sogar sagen: seit Jahren - ein unwürdiges Gezerre hinter den Kulissen, tiefgreifende Uneinigkeit zwischen Union und Liberalen, zwischen der Ablehnungsfront der konservativen Hardliner und den Reformwilligen, die es doch auch bei Ihnen innerhalb der CDU/CSU gibt. Das Resultat ist Stillstand in der Ausländerpolitik, ist Blockade aller Bemühungen, den Migrantinnen und Migranten in unserem Land, ihren Kindern und Enkeln die Integration zu erleichtern. Wir können und wollen diesen Zustand nicht dulden. ({2}) Inzwischen ist das Ausmaß der Peinlichkeiten noch größer geworden, seit Sie nämlich in Ihren Koalitionsvereinbarungen für diese Legislaturperiode die merkwürdige Mißgeburt einer Kinderstaatszugehörigkeit ans Licht der Welt befördert haben. ({3}) Meine Damen und Herren, Sinn und Zweck dieses Schnuppermodells bleiben im Dunkel koalitionspolitischer Winkelzüge. Was Sie da tun und wem Sie nützen wollen, wissen Sie offenbar selbst nicht so recht. Das will ich Ihnen sagen: Als ich bei der Bundesregierung schriftlich anfragte, wie viele junge Leute denn wohl die eng eingegrenzten Bedingungen für diese Kinderstaatszugehörigkeit erfüllen, lautete die Antwort sinngemäß, das könne man so nicht sagen, weil das Ausländerzentralregister keine Angaben zum familiären Umfeld mache. Meine Damen und Herren der Koalition, wir geben Ihnen einen Rat: Werfen Sie dieses Projekt schleunigst dorthin, wo es hingehört, nämlich in den Müllcontainer parlamentarischer Fehlgriffe! ({4}) Sie können das getrost und um so leichter, weil wir Ihnen überzeugendere Vorschläge machen. Wenn wir nur einige aufrechte Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus Ihren Reihen gewinnen, die uns heimlich Applaus klatschen, dann können wir - dank der inzwischen ja knappen Mehrheitsverhältnisse in diesem neugewählten Hause - das Steuer herumreißen. Dann geben wir endlich ein konkretes Signal an die Adresse der vielen Zugewanderten hier, die sich längst in unserem Land verwurzelt fühlen, das Signal nämlich, daß wir sie als gleichberechtigte Nachbarn und Kollegen mit voller politischer Teilhabe akzeptieren. ({5}) Ich weiß ja, daß viele - auch namhafte Christdemokraten und Freie Demokraten - innerhalb und außerhalb dieses Bundestages unseren Forderungen und Argumenten längst beipflichten. Da gibt es, ich erinnere daran, einschlägige Äußerungen vom Stuttgarter Oberbürgermeister bis zur Berliner Ausländerbeauftragten, aber auch von Mandatsträgern hier in diesem Parlament, die allesamt das Parteibuch der CDU haben. Da gibt es, liebe Kolleginnen und Kollegen - zwei sind es gerade -, aus der F.D.P.-Fraktion ({6}) - zwei wichtige, mag sein -, Parteitagsbeschlüsse zugunsten von Einbürgerungserleichterungen und doppelter Staatsangehörigkeit. Da wird der Wille zur Reform noch beim Dreikönigstreffen in diesem Jahr bekräftigt. Da hören wir, z. B. aus dem Munde der Justizministerin, sehr beherzte Bekenntnisse für ein liberales Ausländerrecht. Profil und Eigenständigkeit wolle man als kleiner Koalitionspartner gerade auch auf diesem Felde zeigen. Meine Damen und Herren, all das muß doch endlich dort aktenkundig gemacht werden, wo Politik bewegt wird, nämlich mit Ihrer Stimme hier im Plenum des Bundestages. ({7}) Immer nur Anläufe zu nehmen, aber dann doch nicht zu springen, das taugt weder in der Leichtathletik noch in der Politik. Wir wollen das Abstammungsprinzip bei der Frage der Staatsangehörigkeit um das Territorialprinzip ergänzen. Welches Blut in den Adern eines Menschen fließt, soil nicht mehr allein darüber entscheiden, welchen Paß dieser Mensch besitzen darf. Kinder ausländischer Eltern sollen künftig mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, wenn zumindest ein Elternteil hier geboren wurde und hier lebt. Wir wollen erhebliche Fristverkürzungen beim Rechtsanspruch auf die Einbürgerung und klare Regelungen bei der Einbürgerung nach Ermessen. In all diesen Fällen soll es kein Hinderungsgrund sein, wenn die bisherige Staatsangehörigkeit fortbesteht. Das sind die Eckpunkte unserer Vorschläge. Sie entsprechen in wesentlichen Teilen dem, was auch Sie, Frau Schmalz-Jacobsen, als Ausländerbeauftragte für nötig halten und was die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in enger Anlehnung an Frau Schmalz-Jacobsen vorlegt. Wir haben mit diesem Thema viel Interesse, Aufmerksamkeit und Zustimmung in der Öffentlichkeit erzeugt. ({8}) Ich gehe noch einen Schritt weiter: Für das, was wir wollen, gibt es eine klare Mehrheit, nicht nur außerhalb, nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch hier in diesem Parlament, wenn nur endlich die Ehrlichkeit einen Triumph feiern dürfte. ({9}) Ich nenne das einmal eine starke Allianz der Einsichtigen. Jetzt geht es nur darum, daß diese Einsichtigen über den Schatten von Koalitionsdisziplinen springen. Deshalb unser Appell an möglichst viele Kolleginnen und Kollegen auch außerhalb meiner Fraktion, sich unserem Antrag anzuschließen. Deshalb auch unser Versuch, mit einer quasi Synthese aus Forderungen der SPD und der Ausländerbeauftragten Brücken zu schlagen, auch ins Lager der Koalition. Deswegen auch unser Entschluß, jetzt eben nicht mit einem ausformulierten Gesetzentwurf aufzuwarten. Wir wären dazu sehr wohl in der Lage gewesen. In der vergangenen Legislaturperiode haben Sie sich nicht bequemen können, unseren Gesetzentwurf anzunehmen. Dann gab es den Gesetzentwurf der Ausländerbeauftragten, der nie direkt von Abgeordneten in den Bundestag eingebracht worden ist, sondern nur über den Bundesrat quasi als Hilfstransportmittel parlamentarisch behandelt werden könnte. Dann gab es noch einen Gesetzentwurf, nämlich den der F.D.P. als Fraktion, und der blieb in der Schublade. So kann es doch wohl nicht weitergehen. Wir laden Sie deshalb mit unserem Antrag ausdrücklich zum Gespräch ein, mit dem Ziel, sich parteiübergreifend endlich zu einigen und voranzukommen. Kein Staat kann es auf Dauer hinnehmen - ich zitiere -, daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Bevölkerung über Generationen hinweg außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und außerhalb der Loyalitätspflichten ihm gegenübersteht. So stand es in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Fortentwicklung des Ausländerrechts, die geschlagene elf Jahre auf dem Buckel hat. Sie ist nämlich von 1984. Heute, im zusammenwachsenden Europa, ist dieser Zustand unzeitgemäßer denn je. Gerade junge Ausländer, die im Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern fremder wären als hier, müssen sich zurückgestoßen fühlen, wenn der Staat, in dem sie aufgewachsen sind, ihnen die volle Teilhabe vorenthält. ({10}) Auf solche Mißachtung kann Abkehr folgen. Deswegen: Es tut dem inneren Frieden in diesem Land nicht gut, wenn ein bedeutender Teil der Bevölkerung auf Dauer als Bürger zweiter Kategorie behandelt wird. Deshalb liegt die Integration von Zuwanderern nicht nur im Interesse der unmittelbar Betroffenen, sondern auch in unser aller Interesse, im Interesse auch der deutschen Nachbarn, Freunde und Kollegen. Denn Integration erfordert wechselseitige Anerkennung. Sie ist keine Pflichtübung, die allein den Migranten und Migrantinnen aufzubürden ist. Sie von der CDU/CSU hangeln sich bei Ihrer Ablehnung sozusagen von Argument zu Argument. Erst gab es die unsinnige Behauptung, Einbürgerungserleichterungen und doppelte Staatsangehörigkeit stünden der Integration im Wege, und es gäbe Konflikte mit der Loyalität. Als nächstes hörten wir dann den Begriff der Schicksalsgemeinschaft, zu der Ausländer nun einmal nicht gehören. Neuerdings kommt - vor allem wieder vom Kollegen Schäuble bemüht - die Warnung vor einer Diskussion um sogenannte Privilegien noch hinzu. Liebe Kollegen und Kolleginnen, Mehrstaatigkeit ist kein besonders begnadeter Zustand, auf den man neidisch sein müßte. Mehrstaatigkeit ist auch keine Wunderwaffe, die vor Diskriminierung allemal schützt. Es soll aber der Einbürgerung nicht im Wege stehen, wenn Menschen sich aus verständlichen Gründen nicht von ihrer angestammten Staatsangehörigkeit oder der ihrer Eltern lösen wollen. Ein deutscher Paß gibt aber immerhin die Chance, sich gegen Anfeindungen und Geringschätzung selbstbewußt zur Wehr zu setzen. Das ist auch etwas. Übrigens werden schon heute selbst bei den Ermessenseinbürgerungen 25 % aller Fälle mit der Zulassung der Mehrstaatigkeit entschieden. Und Deutschland gerät nicht aus den Fugen! ({11}) Es gerät auch nicht aus den Fugen, wenn wir uns in Fragen der Staatsangehörigkeit endlich ähnlich großzügig verhielten, wie es die meisten unserer europäischen Nachbarn längst tun. Aber es gerät viel eher aus den Fugen, wenn Angehörige der sogenannten deutschen Schicksalsgemeinschaft mit Knüppeln und Brandsätzen gegen Ausländer und andere Minderheiten vorgehen; ({12}) denn das ist es, was an den Grundfesten unseres Rechtsstaates rüttelt. Das verletzt die Loyalitätspflicht gegenüber diesem Staat. Davor schützt auch die Tatsache nicht, daß diese Wirrköpfe und Rassisten deutscher Abstammung sind. Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich komme zum Schluß. Mit Einbürgerungserleichterungen und der Hinnahme der Mehrstaatigkeit ist die große umfassende Reform des veralteten Staatsangehörigkeitsrechts noch nicht geleistet, aber das ist ein wichtiger, ein unverzichtbarer Schritt dorthin. Wir laden Sie herzlich dazu ein, diesen Schritt mit uns zu tun. Danke schön. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Bundesminister des Innern, Manfred Kanther.

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Es besteht kein Zweifel daran, daß wir in dieser Legislaturperiode eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts als Regierung und Koalition vornehmen wollen. Das steht in der Koalitionsvereinbarung. Das steht in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Es ist seit langem völlig unstreitig, daß die deutsche Ausländerpolitik auf das Integrationsangebot an die Ausländer ausgerichtet ist, die dieses annehmen mögen. ({0}) Ich kann gar nicht einsehen, aus welchem Grund diese Frage mit Pathos in Zweifel gezogen wird. Integration als Ziel dieser Politik ist völlig unstreitig. Wir haben im Zusammenhang mit Staatsangehörigkeitsfragen in der vergangenen Legislaturperiode bedeutsame Erleichterungen herbeigeführt, die das Staatsangehörigkeitsrecht modernisiert haben. Der zentrale Tatbestand des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, nämlich die Ermessenseinbürgerung, ist 1993 durch den echten Einbürgerungsanspruch im Ausländergesetz weitgehend ersetzt worden, deren Voraussetzung ein großer Teil der bei uns dauerhaft lebenden Ausländer erfüllt. Die früher als hart und abschreckend angesehenen Gebühren sind wesentlich ermäßigt worden und betragen heute 100 bis 500 DM. Früher betrugen sie 300 bis 5 000 DM. ({1}) Die Bundesregierung beabsichtigt, auf diesem Wege bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts weiter fortzuschreiten. Aber - da liegt der wesentliche Unterscheid zu dem geistigen Ansatz des Antrags der SPD; es gibt auch einen der GRÜNEN mit ähnlichem Inhalt - wir sehen in der Übernahme der deutschen Staatsangehörigkeit keine Voraussetzung für Integration, sondern den Beweis ihres Gelungenseins. ({2}) Ein Blick in andere europäische Länder, wie Frankreich, die Niederlande oder Großbritannien, in denen vergleichbare Regelungen zum Teil seit langem bestehen, zeigt, daß die Lösung der dortigen, zum Teil erheblichen Integrationsprobleme durch den vereinfachten Staatsangehörigkeitserwerb praktisch nicht gefördert worden ist. Die Erfahrungen in Frankreich mit schätzungsweise mehr als zwei Millionen Moslems mit französischer Staatsangehörigkeit zeigen keinen besonderen Erfolg eines solchen Integrationsansatzes. Umgekehrt muß man doch einmal fragen, warum wir über drei Jahrzehnte hinweg mit vier, fünf, sechs Millionen ausländischen Mitbürgern im Lande beachtliche Integrationserfolge erzielt haben, ohne daß irgend jemand von Ihnen je auf den Einfall gekommen wäre, die Frage nach der doppelten Staatsangehörigkeit zur Grundfrage der Integrationspolitik zu machen. Das ist Ihnen erst vor kurzer Zeit eingefallen. ({3}) In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß die Einbürgerungsangebote der letzten Legislaturperiode auch sehr wirksam gewesen sind. ({4}) Nach der Einbürgerungsstatistik haben sich die Einbürgerungszahlen bei der angesprochenen Personengruppe von 1990 bis 1993 um 125 % erhöht. Bei der stärksten Ausländergruppe, den Türken, ist die Einbürgerungszahl noch wesentlich mehr gestiegen. Die geschaffenen Einbürgerungserleichterungen greifen also bei der interessierten Personengruppe im angestrebten Sinne. Auch die tatsächliche Entwicklung im Einbürgerungsbereich seit 1990 rechtfertigt also keineswegs die von der SPD immer wieder aufgestellte Behauptung, ohne die von ihr geforderten Maßnahmen stünde ein bedeutender Teil der Wohnbevölkerung über Generationen außerhalb des staatlichen Mitgliedschaftsverhältnisses. Ihre ganze Rede, Frau Kollegin, geht an dem Tatbestand vorbei, daß wir eine außerordentlich einfache Einbürgerung jedem ermöglichen, der zu diesem Staat gehören will, daß wir nur an der Grenze der doppelten Staatsangehörigkeit eine völlig andere Auffassung als Sie haben. ({5}) Die ganze Entwicklung dieser Zeit bestätigt die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges: eines großzügigen Einbürgerungsangebots mit gesetzlich formulierten Anspruchsvoraussetzung en unter Festhalten an den wesentlichen Grundsätzen unseres Staatsangehörigkeitsrechts, dem Abstammungsgrundsatz und dem Grundsatz der Vermeidung von doppelter Staatsangehörigkeit.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Bitte sehr.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister Kanther, wenn es so wäre, wie Sie sagen, wie erklären Sie es dann, daß heute schon bei den Ermessenseinbürgerungen - z. B. bei Türken - etwa zwei Drittel der Fälle unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit erfolgen? Es sind Ermessungsentscheidungen, die von den Verwaltungsbehörden der Länder im Interesse der Integration getroffen werden. Wo ist eigentlich das Problem, daß wir es dann nicht gesetzlich verankern? ({0})

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Das werde ich Ihnen im Zusammenhang gleich noch erklären, weil die Frage der Ermessensentscheidungen einschließlich der doppelten Staatsangehörigkeit einen wesentlichen Aspekt des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts darstellt, weil wir uns nicht um Schimären streiten wollen, sondern um wirkliche Probleme. Gerade die Tatsache, daß unsere Verwaltungsbehörden im Wege der Ermessensentscheidung gerechterweise zu solchen Entscheidungen kommen, nach denen Sie fragen, Herr Kollege Hirsch, zeigt, wie exakt und wirksam das geltende Recht ist. ({0}) Die heute schon bestehende Möglichkeit der Einbürgerung bei Inkaufnahme der doppelten Staatsangehörigkeit wird wahrgenommen. ({1}) - Ich führe das jetzt ohne Zwischenfrage aus. Nach gegenwärtiger Rechtslage wird Mehrstaatigkeit hingenommen, wenn die Entlassung nach dem Recht des bisherigen Heimatstaates nicht möglich ist oder wenn dieser die Entlassung regelmäßig verweigert oder willkürhaft ablehnt, und in Fällen, in denen die Forderung nach Entlassung eine unzumutbare Härte bedeuten würde. Insbesondere kann Mehrstaatigkeit hingenommen werden, wenn die Aufgabe bei einem hier aufgewachsenen Ausländer von der Wehrdienstleistung im Heimatland abhängig gemacht wird oder - wie gesagt - unzumutbare Erschwernisse ihm oder seiner im Heimatland verbliebenen Familie angesonnen werden. Aber die Erschwernisse, z. B. für Türken beim Ausscheiden aus der türkischen Staatsangehörigkeit, die immer wieder vorgetragen werden, sind in der Türkei zu beheben, etwa das Erbrecht nach dem türkischen Dorfgesetz, und nicht durch Veränderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts. Auch das muß hier ganz klar gesagt werden. Seit Inkrafttreten des Ausländergesetzes im Jahre 1991 bis 1993 ist nach der vorliegenden Statistik von knapp 110 000 Einbürgerungen - da gibt es statistische Fehler, aber der Grundbezug stimmt - ein Drittel unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit vollzogen worden, Herr Kollege Hirsch, weil unsere Verwaltungen gerecht und auf den Einzelfall bezogen entscheiden. Die Größenordnung läßt erkennen, daß mit den vorhandenen Mitteln des Staatsbürgerschaftsrechts auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls, den Ausländern zugewandt, eingegangen wird. Diese bewährten Grundsätze des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts werden - damit komme ich zu den konkreten Vorschlägen des vorliegenden Antrags, die im wesentlichen dem Gesetzentwurf der SPD aus der letzten Legislaturperiode entsprechen - mit leichter Hand und ohne sachliche Notwendigkeit zugunsten eines angeblichen, nicht bewiesenen und völlig unwahrscheinlichen Integrationsschubs aufgegeben. ({2}) - Bestimmte Zwischenrufe aus Damenmund richten sich selbst, Frau Kollegin. ({3}) Die Regelungen über den Erwerb der Staatsangehörigkeit, deren Aufgabe es ist, in staatskonstitutiver Weise - ({4}) - Herr Fischer, Sie brüllen doch nun schon so viele Jahre gegen mich an, ({5}) und Sie wissen doch, daß es mir nicht sonderlich imponiert. ({6}) Die Regelungen über den Erwerb der Staatsangehörigkeit, deren Aufgabe es ist, in staatskonstitutiver Weise das Staatsvolk und damit in einer Demokratie den Träger der Staatsgewalt zu bestimmen, beruhen nach völkerrechtlichen Grundsätzen stets auf einer Prognose über die Dauerhaftigkeit des Näheverhältnisses der betroffenen Person zum jeweiligen Staat. Diese Zuordnungsprognose und damit die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitserwerbs hängt von den spezifischen geographischen, wirtschaftlichen, bevölkerungspolitischen Gegebenheiten des einzelnen Staates ab, und deshalb geben die Staaten auch unterschiedliche Antworten auf das Problem der doppelten Staatsangehörigkeit. Den deutschen Rechtsstandpunkt vertreten in Europa z. B. Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, die baltischen Staaten, Polen, Rußland, die Tschechische Republik, Luxemburg, Österreich und Spanien. Die dauerhafte Zuordnung wird für die Bundesrepublik Deutschland beim Geburtserwerb durch die Abstammung von einem Elternteil mit deutscher Staatsangehörigkeit gewährleistet und bei der Einbürgerung durch die dauerhafte Hinwendung zu diesem Staat, die durch die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit, also der bisherigen Zuordnung zu einem anderen Staat, dokumentiert wird. Die von der SPD vorgeschlagenen Regelungen bieten demgegenüber, bezogen auf die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland, keinerlei Gewähr für eine dauerhafte Zuwendung der betroffenen Ausländer zu unserem Staat. Der automatische Geburtserwerb tritt ein ohne Rücksicht auf die Integration oder auch nur die Integrationsbereitschaft der Eltern und bietet damit eine nur unzureichende Prognose über die mögliche Integration eines Kindes. In der öffentlichen Diskussion wird der Abstammungsgrundsatz häufig gegenüber dem angeblich fortschrittlichen Territorialgrundsatz, den Sie angeführt haben, als Ausfluß eines überholten völkischen Denkens betrachtet. Das ist von der Sache und von der Geschichte her völlig falsch. Historisch ist das Abstammungsprinzip mit der Entstehung der republikanischen und demokratischen Staaten im 19. Jahrhundert an die Stelle des im absolutistischen Staat bevorzugten Bodenrechtsprinzips getreten. ({7}) Und die Anknüpfung des Staatsangehörigkeitsrechts an die formale Staatsangehörigkeit eines Elternteils

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

- hat auch nichts mit dessen ethnischer Herkunft zu tun; denn die - ({0}) - Dann lassen Sie sie doch ausfallen, Herr Fischer, aber Brüllen hilft doch auch nicht gegen Haarausfall!

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Aber gerne! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ist es nicht eine etwas patriarchalische Pose, wenn Sie darauf bauen oder es sozusagen als die Grundvoraussetzung der Integration bezeichnen, daß von den Ausländerinnen und Ausländern eine Zuwendung in den deutschen Kulturkreis notwendig sei? Ist es nicht umgekehrt so, daß es ein gegenseitiges Verhältnis sein muß, daß wir uns vielleicht auch einmal den Ausländerinnen und Ausländern zuwenden sollten?

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Einverstanden. Es gehört zu meinem Stolz auf die Politik der vergangenen Jahrzehnte, daß dies von uns in dieser wechselseitigen Beziehung mit viel Mühe und großem Erfolg und erheblichem Aufwand geleistet worden ist, Herr Kollege Schily. Ich teile völlig Ihren Grundansatz. Ich teile aber nicht Ihre Meinung, daß Sie mit dem Instrument der doppelten Staatsangehörigkeit dafür ein Handwerkszeug richtig in die Hand nähmen. Sie setzen am falschen Punkt der Entwicklung an. Sie glauben, daß ein juristischer Vorgang Integration bewirken würde, ohne zu sehen, daß er nach unserer Überzeugung nur den Abschluß einer Entwicklung darstellen kann. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Aber natürlich.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ist Ihnen aufgefallen, daß Sie einem Mißverständnis unterliegen, wenn Sie meinen, für uns sei die doppelte Staatsangehörigkeit sozusagen das Zentrum des Problems, und können Sie in unserem Antrag nicht entdecken, daß wir nur sagen, wir wollen die Einbürgerung dadurch erleichtern, daß wir die doppelte Staatsangehörigkeit dort, wo es unvermeidlich ist, hinnehmen?

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Herr Kollege Schily, ich habe Ihnen die Leichtigkeit der Einbürgerung beschrieben. Ich komme noch dazu, wie wir uns das weiter vorstellen. Wir bieten in der Koalitionsvereinbarung ein weiteres Zeichen von Zuwendung z. B. zu ausländischen Kindern an. Auch dieser Ansatz von Ihnen ist nicht zweifelhaft. Aber die Debatte geht jetzt um den Rechtsanspruch oder Geburtserwerb der doppelten Staatsangehörigkeit. Deshalb muß sie auch zu diesem einen Instrument besonders geführt werden. Wir haben zwar die gleichen Grundsätze, aber Sie bieten uns hier ein untaugliches Instrument mit mannigfaltigen Gefährdungen für die deutsche Staatsangehörigkeit an, weil nicht Integrierte in den Verband unseres Staates eingegliedert werden sollen. Das halten wir für falsch. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, auch der Abgeordnete Gerald Häfner möchte gern eine Zwischenfrage stellen.

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Nein, das möchte ich jetzt nicht. Ich fahre fort. Was die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit betrifft, so wird sie dem Charakter der Staatsangehörigkeit als staatskonstitutiver Grundbeziehung nicht gerecht. Darauf beharren wir weiterhin. Ein Mindestmaß an Identifikation des einzelnen mit dem Gemeinwesen, dem er als Staatsangehöriger zugehören will, muß vorhanden sein und kann nicht juristisch fingiert werden. Diese Identifikation muß nachgewiesen werden. Sie ist nicht beliebig. Auch die deutsche Staatsangehörigkeit ist nicht beliebig. Sie setzt eine ungeteilte Loyalität zu diesem Staat voraus, ({0}) während die doppelte Staatsangehörigkeit Loyalitätspflichten verteilt und auch Loyalitätswidersprüche ohne weiteres ermöglicht und sogar wahrscheinlich macht. ({1}) Nicht zuletzt muß, wenn wir mit der Staatsangehörigkeit hantieren, bedacht werden, daß auch Konflikte und Probleme fremder Staaten, leider zunehmend mit Gewalt, in unserem Lande ausgetragen werden. ({2}) Zur Begründung ihres Antrags bezieht sich die SPD auf die Auswertung der Sachverständigenanhörung zu ihrem Gesetzentwurf in der vergangenen Legislaturperiode. Die angehörten sachverständigen Professoren haben aber das Gegenteil von dem gesagt, was Sie behaupten. ({3}) Alle vier eingeladenen Professoren für öffentliches Recht unter den acht Sachverständigen haben sich im wesentlichen aus den von mir vorgetragenen Gründen einhellig gegen die Einführung eines ergänzenden Jus-soli-Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit ausgesprochen, erhebliche Bedenken gegen die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit geäußert und übereinstimmend die Einbürgerungsvoraussetzungen des SPD-Entwurfs für viel zu niedrig gehalten. ({4}) Die Forderungen der SPD laufen auf eine undifferenzierte Maximalbegünstigung im Bereich des Staatsangehörigkeitserwerbs hinaus, wie sie in keinem anderen europäischen Land besteht. ({5}) Deshalb kommt es auf den Zusammenhang der einzelnen Elemente des Staatsangehörigkeitsrechts an. Bei der SPD werden der Jus-soli-Erwerb und die Aufgabe der Vermeidung von Mehrstaatigkeit einerseits und die Einführung von allgemeinen Einbürgerungsansprüchen mit niedrigen Voraussetzungen andererseits nebeneinander und miteinander gefordert. Ein Vergleich mit allen in Betracht kommenden europäischen Staaten zeigt, daß dort einem ergänzenden Jus-soli-Erwerb, der durchaus häufig ist, und dem Verzicht auf Vermeidung von Mehrstaatigkeit gewissermaßen als Ausgleich für den Regelfall der Einbürgerung die Ermessenseinbürgerung und damit die Steuerbarkeit des Vorgangs durch das Gastland gegenübersteht - mitunter noch nicht einmal gerichtlich überprüfbar. Die mit den Einbürgerungstatbeständen des Ausländergesetzes in der vergangenen Legislaturperiode eingeleitete Tendenz zur Ausgestaltung der Einbürgerung für die auf Dauer hier lebenden Ausländer als Anspruch - eine Tendenz, die in der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts fortgeführt werden soll, ergänzt durch die Einführung einer Kinderstaatszugehörigkeit - war und ist als Alternative zu den Vorstellungen des Bodenrechtserwerbs und der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit zu verstehen. ({6}) Durch die Anspruchstatbestände und die Kinderstaatszugehörigkeit soll der Staatsangehörigkeitserwerb unter Vermeidung der mit dem Territorialprinzip und der Hinnahme von Mehrstaatigkeit verbundenen Nachteile erheblich erleichtert werden. Eine Kumulation beider Lösungswege liefe auf eine völlig unausgewogene Staatsangehörigkeitspolitik hinaus, die der staatskonstitutiven Aufgabe des Instituts der Staatsangehörigkeit nicht gerecht wird. Entsprechend den aufgezeigten Grundlinien des noch in Arbeit befindlichen Reformentwurfs arbeiten wir an folgenden inhaltlichen Schwerpunkten: Das gesamte System der Einbürgerungstatbestände wird auf Einbürgerungsansprüche mit klar umrissenen gesetzlichen Voraussetzungen, bei deren Vorliegen eine Einbürgerung erfolgt, umgestellt. Verständigungsmöglichkeiten der deutschen Sprache sind dabei besonders wichtig; Fiktionen helfen nicht weiter. Kommunikationsfähigkeit ist einer der wichtigsten Nachweise und Voraussetzungen für die Integration in einem Land. ({7}) Die Mindestaufenthaltszeit für den Regeleinbürgerungsanspruch, der die bisherige Ermessenseinbürgerung und den Einbürgerungsanspruch für lange hier lebende Ausländer ersetzt, kann verkürzt werden. Am Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit wird festgehalten. Mißbräuchliche Rückbürgerungen werden ausgeschlossen. Bei über Generationen im Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen können für den Fortbestand der deutschen Staatsangehörigkeit Optionen gelten. Zweifelsfragen bezüglich des Verhältnisses der DDR-Staatsbürgerschaft zur deutschen Staatsangehörigkeit werden einer im Sinne des Einheitsgebots großzügigen Lösung zugeführt. Im übrigen werden eine Reihe von für die Praxis sehr unterschiedlichen Verfahrensgrundlagen geschaffen. Zusammen mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wird das neue Institut einer Kinderstaatszugehörigkeit eingeführt, das in Deutschland geborenen Ausländerkindern der dritten Generation rechtlich weitgehend die Stellung der nicht volljährigen Deutschen einräumt und ihnen den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit wesentlich erleichtern wird, indem es ihnen die Möglichkeit gibt, sich nach Eintritt der Volljährigkeit zwischen der deutschen und der bisherigen Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Mit einem solchen Reformgesetz soll ein ausgewogenes Erneuerungskonzept für den Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts vorgelegt werden, das den tatsächlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere auch der Zuwendung zu den dauerhaft bei uns lebenden Ausländern wie bisher gerecht wird. Danke sehr. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bekannt - wir haben es gerade wieder vernommen -, daß die Bundesregierung in Sachen Staatsbürgerschaft eine Blockadepolitik betreibt. Wir wissen auch, daß die Politik des Innenministeriums in bezug auf die Bekämpfung des Rechtsextremismus nicht gerade vor Aktivismus strotzt. Daß Sie, Herr Innenminister Kanther, sich aber neuerdings mit Rechtsextremisten an einen Tisch setzen, ({0}) indem Sie dem legalen Arm von Alt- und Neonazis, dem rechtsgerichteten ,,Deutschland-Magazin", ein Interview geben, ist ein echter Skandal. ({1}) Statt die Gleichstellung von Einwanderinnen und Einwandern zu betreiben, gehen Sie und Ihre Partei, Herr Kanther, jetzt offen auf Stimmenfang bei Rechtsradikalen. Ich halte es für einen echten Hit, daß Sie hier mit keinem Wort darauf eingegangen sind. ({2}) Ich fordere Sie noch einmal eindringlich auf, zu diesem skandalösen Vorfall Stellung zu beziehen. Ich komme zur Einbürgerungspolitik: Deutschland bildet in Europa das Schlußlicht. Im Vergleich zu allen anderen Nachbarstaaten weist die Bundesrepublik die niedrigste Einbürgerungsquote auf; diese liegt deutlich unter 1 %. Das geltende Einbürgerungsrecht verhindert geradezu, daß aus den dauerhaft hier lebenden Einwanderern und Flüchtlingen Staatsbürger werden. Die deutsche Staatsangehörigkeit steht nach geltendem Recht im allgemeinen nur denen zu, die Deutsche nach der Abstammung sind; das heißt: Blutsrecht. In den meisten europäischen Ländern - ich möchte Ihnen da widersprechen, Herr Kanther -, z. B. in Schweden, in Italien und in den Niederlanden, wird die Staatsangehörigkeit nach einer Kombination von Abstammungs- und Territorialprinzip vergeben. Vor allem das britische und das französische Recht stehen in dieser Tradition. Das deutsche Blutsprinzip ist im europäischen Rahmen wirklich ein außerordentlicher Anachronismus, und zwar aus der Wilhelminischen Zeit. ({3}) - 1913! Meine Damen und Herren von der Koalition, man kann sich doch nicht die Integration Europas auf die Fahnen schreiben und zugleich an diesem veralteten Einbürgerungsrecht festhalten. Wir sollten uns doch wenigstens europäischen Standards anpassen. ({4}) Gleiche Rechte für alle hier lebenden Einwandererinnen und Einwanderer, das ist auch keine Frage von Mitleid. Es geht nicht um die Gewährung eines Gnadenrechts. Die Gleichstellung ist eine zentrale Frage dieser Demokratie. Wer seit langem hier rechtmäßig lebt, muß einen Anspruch auf Einbürgerung bekommen. Wer hier geboren wird, soll die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben können. Die Zeit ist reif, dieses Staatsbürgerrecht auf eine neue Grundlage zu stellen. Das sind wir Millionen Menschen ausländischer Herkunft schuldig. 7 Millionen sogenannte Ausländer leben in Deutschland; fast zwei Drittel sind schon über zehn Jahre hier. Allein 1993 wurden 100 000 hier geboren. ({5}) - Das ist eben ziemlich schwierig. Sie sind eigentlich Inländer, und das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht macht sie weiterhin zu Ausländern. ({6}) Wir dürfen diesen Menschen nicht weiter die demokratischen Grundrechte vorenthalten. Sie dürfen nicht länger Bürger zweiter oder dritter Klasse sein, nicht länger Fremde im eigenen Land. ({7}) Wir plädieren deshalb dafür, noch in dieser Legislaturperiode das Staatsbürgerrecht auf eine neue, auf eine demokratiekonforme Grundlage zu stellen. Kerstin Müller ({8}) Wir legen heute einen Gesetzentwurf vor, der sich sehr eng an den Entwurf der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Frau Schmalz-Jacobsen, anlehnt, und wir haben vorgeschlagen, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts fraktionsübergreifend auf dieser Basis zu beraten. In einigen Punkten gehen unsere Vorstellungen weit über diesen Entwurf hinaus. Doch um der Sache willen stellen wir unsere weitergehenden Forderungen zurück, um eine parteiübergreifende Initiative zu ermöglichen. Wir haben auch vorgeschlagen - ich glaube, das ist wirklich der einzige Weg, um zu einer Reform zu kommen -, die Abstimmung wie beim § 218 freizugeben. Eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts darf doch nicht am Fraktionszwang und an der Koalitionsraison scheitern. Das ist nämlich der einzige Punkt. ({9}) Meine Damen und Herren von der Koalition, der Stellenwert dieser Frage für die Demokratie gebietet es, daß Sie sie zu einer Gewissensfrage und eben nicht zu einer Koalitionsfrage machen. Wir ringen seit einigen Monaten in Gesprächen mit Herrn Solms, Herrn Scharping und anderen darum, daß es in dieser Frage eine Öffnung gibt. Wir haben uns in der letzten Woche auch noch einmal eindringlich dafür eingesetzt, daß diese Frage nicht der Fraktionsdisziplin unterworfen wird. Bisher keine Chance! Die interfraktionelle Initiative ist leider vorerst - vielleicht ja nur vorerst - an der Borniertheit der Parteien gescheitert. ({10}) - Ich meine jetzt die Koalition. Ich finde das, mit Verlaub, sehr enttäuschend, und was meinen Sie, wie enttäuschend das erst die Millionen Einwandererinnen und Einwanderer in diesem Land finden. Aber, meine Damen und Herren, vor allem Sie von der F.D.P. müssen diesen Menschen erklären, warum es für eine Reform zwar eine Mehrheit in der Bevölkerung und auch eine Mehrheit in diesem Parlament gibt, warum sich aber trotzdem nichts ändert. Wir fordern Sie eindringlich auf: Machen Sie diese Frage nicht zum Gegenstand parteipolitischer Taktiererei! Wir jedenfalls sind bereit, jeden substantiellen Schritt in die richtige Richtung mitzumachen, also weg vom deutschen Blutsrecht hin zu einem Territorialrecht. Statt dessen präsentiert die Koalition uns mit ihrer „Schnupperstaatsbürgerschaft für die dritte Generation" eine Staatszugehörigkeit auf Probe, die womöglich nicht einmal vor Abschiebung schützt. ({11}) Dieser Vorschlag ist bestimmt keiner der berühmten Schritte in die richtige Richtung. Er ist eine Verhöhnung und ein Betrug an all denjenigen, die hier geboren wurden und hier schon seit langem rechtmäßig ohne deutschen Paß leben. Ich kann Ihnen versichern, daß wir alles daransetzen werden, diesen geballten Unsinn zu verhindern. Wir wollen verbindliche Einbürgerungsansprüche statt, wie bisher, mehr oder weniger willkürliche Ermessensentscheidungen. ({12}) Bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts geht es nicht nur darum, die konkrete Lebenslage von Menschen zu verbessern; es geht auch darum, das unzeitgemäße Provisorium einer unvollendeten völkischen Demokratie zu überwinden. Ich hoffe, daß uns das in dieser Wahlperiode gelingt. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Schmalz-Jacobsen.

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Kollegen und Kolleginnen! Es liegen uns heute zur ersten Beratung ein Antrag der SPD und ein Gesetzentwurf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf dem Tisch, deren Inhalte mit den Vorstellungen der Freien Demokraten weitestgehend übereinstimmen; das muß man ganz nüchtern stellen. ({0}) Da gibt es einige Kernpunkte: erstens die Verbesserung bzw. die Erleichterung der Einbürgerung, zweitens die Erweiterung der Fälle, in denen die Hinnahme der alten Staatsbürgerschaft möglich ist, und drittens die Ergänzung des Abstammungsprinzips um Elemente des Territorialprinzips. Ich begrüße es, daß wir Gelegenheit haben, diese notwendige Debatte hier im Deutschen Bundestag zu führen; denn die politische Debatte und der öffentliche Diskurs - den gibt es in breiten Teilen der Bevölkerung ({1}) bringen die Sache voran, manchmal allerdings erbitternd langsam. Die SPD hat das sehr geschickt gemacht. ({2}) - Nicht immer. ({3}) - Jetzt lassen Sie mich doch etwas Freundliches zu Ihnen sagen: Man merkt dem Antrag an, daß er der Sache dienen will und daß Sie damit Brücken zu anderen in diesem Hause bauen wollen. ({4}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben eine andere Methode gewählt, die häufig von Oppositionsfraktionen angewandt wird, um einem der Partner in einer Koalition das Leben schwerzumachen. Das ist ganz und gar legitim. Sie müssen sich aber fragen lassen, Herr Fischer, ob Sie hier nicht nur ein Spiel auf dem Rücken der Betroffenen betreiben. ({5}) Sie wissen doch ganz genau, daß das nicht erfolgreich sein kann, und zwar weil es eine durchaus politische Frage ist, die politisch entschieden werden muß, und keine Gewissensfrage. Sie wollen - sagen wir es ganz klar und deutlich - die Freien Demokraten hier vorführen; so ungefähr haben Sie das ja auch ausgedrückt. ({6}) Dafür ist Ihnen die ausländische Wohnbevölkerung nicht zu schade. Das finde ich schade. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer?

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, wieso ist es beim Staatsbürgerrecht nicht wie beim § 218 möglich, wo in einer wirklich zentralen Frage ein ähnlich tiefer Graben zwischen den Auffassungen Ihrer Fraktion und denen der CSU und auch von Teilen der CDU vorhanden ist und Sie mit einer Position übereinstimmen, wie sie z. B. von den Oppositionsfraktionen geteilt wird - auch wenn manches, was wir uns wünschen, weitergehend ist -, daß sich hier ein offener Kompromiß, eine neue Mehrheit jenseits der üblichen Mehrheitsbildung abzeichnet? Wieso können Sie nicht begreifen, daß wir alles versuchen, um eine ähnliche Möglichkeit auch bei der uns bewegenden Frage zu haben, endlich ein Staatsbürgerrecht zu bekommen, das wahrhaft europäisch, republikanisch und demokratisch ist, um von dem Blutsrecht wegzukommen? Warum denunzieren Sie dieses sofort als ein „Vorführen", wo doch die Hessen-Wahl schon längst vorbei sein wird, wenn wir in dritter Lesung über diesen Gesetzentwurf abstimmen werden?

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Fischer, warum wollen Sie nicht begreifen, daß es Unterschiede gibt? Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe anderer Fragen nennen, bei denen die Koalitionspartner - mal der eine, mal der andere - unterschiedlicher Meinung sind. Der Unterschied zu einer Frage wie der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs liegt, glaube ich, für jeden, der hier sitzt, auf der Hand. ({0}) Es ist dies in ganz anderer Weise eine Frage des eigenen Gewissens und sehr viel weniger eine politische Frage. ({1}) Wenn Sie das anders beurteilen, ist das Ihre Sache. Ich glaube, ich habe noch nie Anlaß gegeben, daran zweifeln zu lassen, was meine politische Meinung zu dieser Frage ist. Aber es ist eine politische Frage, für die man die Mehrheiten innerhalb der Koalition finden muß. ({2}) Es ist doch üblich, daß innerhalb einer Koalition das Prinzip der Verläßlichkeit herrscht. Ich nehme an, daß es in Hessen auch so ist. Es gibt ja Leute, die sagen, das rot-grüne Chaos sei von der rot-grünen Ordnung abgelöst worden, und das ist noch viel schlimmer. Darum wollen wir das auch ändern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gerald Häfner?

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Schmalz-Jacobsen, ich danke für die Möglichkeit der Zwischenfrage. Ich bin ganz und gar davon überzeugt, daß es Ihnen bei allem, was Sie in dieser Frage bisher geäußert und getan haben, ganz und gar um die Sache geht. ({0}) Um so verwunderter bin ich darüber, daß Sie uns dies absprechen. ({1}) Ich tue mich auch schwer, den semantischen Unterschied zwischen politischen und Gewissensfragen zu verstehen. ({2}) Ich unterstelle einmal, der Ausstieg aus der Atomenergie sei eine politische Frage. Ich finde, das ist er. ({3}) Wenn hier im Hohen Hause von einer anderen Fraktion der Antrag gestellt würde, diesen Ausstieg zu vollziehen, wie verrückt müßte ich geworden sein, wenn ich dem nicht zustimmen würde, weil ich vorgeführt werden soll. Was ist also mit Ihnen passiert, daß Sie hier androhen, Ihrem eigenen Antrag widersprechen zu wollen? ({4})

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, Sie haben meine Ausführungen schlicht nicht verstanden. ({0}) Aber vielleicht hören Sie jetzt noch ein bißchen zu, dann werden Sie es vielleicht verstehen. ({1}) Verläßlichkeit ist das Prinzip der Koalition, einer jeden Koalition, aber das kann natürlich nicht bedeuten, daß Verläßlichkeit mit Stillstand gleichgesetzt wird. Darauf lege ich großen Wert. ({2}) Stillstand darf nicht sein. Eine Koalitionsvereinbarung muß weiterentwickelt werden können. Nun zitiere ich die Koalitionsvereinbarung. Da heißt es: Die Bundesregierung wird eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen. So weit waren wir schon einmal. Aber dann heißt es weiter: Dabei werden auch die rechtlichen Regelungen, die für die bei uns lebenden Ausländer die berechenbaren Grundlagen für ihre Lebensplanung bilden, weiter verbessert. Die im Einbürgerungsverfahren bisher vorgesehenen Ermessensentscheidungen sollen weitgehend durch Rechtsansprüche ersetzt und Fristen beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verkürzt werden. Ich wende mich jetzt an die Bundesregierung. Schon in der vergangenen Legislaturperiode sollte diese Reform gemacht werden. Es hieß auf unsere Nachfragen immer wieder, das gehe nicht, weil das Asylrecht sie binde. Seit dem Sommer 1993 bindet das in der Verwaltung niemanden mehr. ({3}) Jetzt gibt es also keine Hindernisse mehr, das, was verabredet worden ist, auch endlich umzusetzen. ({4}) Ich bitte Sie sehr eindringlich, meine Damen und Herren von der Regierung, daß Sie dem Parlament baldmöglichst Ihre Vorstellungen unterbreiten und das Problem ernst nehmen. Es eilt nämlich. ({5}) Wenn Sie das tun, sind wir ein ganzes Stück weiter. Ich bin sehr gespannt auf die Vorschläge zur Kinderstaatszugehörigkeit. Die sollten Sie bitte auch möglichst bald auf den Tisch legen. Die Kinderstaatszugehörigkeit ist kein Kind der F.D.P. ({6}) Es hat mich sehr verwundert, daß es Herrn Beckstein, dem Innenminister des Freistaates Bayern, vorbehalten blieb, sofort nach der Vereinbarung die ganze Regelung zu diskreditieren und als „Schnupperstaatsbürgerschaft" abzutun. Entweder man nimmt die Staatsbürgerschaft so ernst, daß man ganz vorsichtig damit umgeht, oder man macht sie klein. ({7}) Ich bin gespannt auf die Vorschläge. Es ist doch zu spüren, daß sich in den Reihen des Koalitionspartners etwas bewegt. ({8}) Immer mehr Stimmen - lesen Sie keine Zeitung? -, auch solche sehr prominenter Mitglieder der Unionsfraktionen, plädieren für Veränderungen. Sie wollen Schluß machen mit der diffusen Ängstlichkeit, wenn es um Rechte für unsere ausländische Wohnbevölkerung geht. Ich möchte hier klarmachen: Es geht nur um diese, es geht um die ausländische Wohnbevölkerung. Worum es nicht geht, wie in der Öffentlichkeit manchmal unterstellt wird, ist, daß jeder eingebürgert wird, z. B. Straftäter. Das wird mir ja draußen vorgehalten. Dazu ganz eindeutig: Kein Land der Welt bürgert Straftäter ein. Das wollen wir auch nicht. ({9}) Kein Land wird Extremisten einbürgern, die gegen die Interessen des eigenen Landes verstoßen. Ich denke - aber das soll nur ein Nebensatz sein -, daß wir hier künftig sehr viel wachsamer sein müssen. Wir von der F.D.P. sind dazu bereit, wenn es um Extremisten geht. Unser Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht so realitätsbezogen, wie es angesichts der 40jährigen Immigrationsgeschichte unseres Landes sein könnte und sein müßte. ({10}) Ich will das noch einmal aufdröseln: Es geht um Einbürgerung. Staatsangehörigkeit ist das rechtliche Band zwischen einer Person und dem Staat, das beiden Seiten Rechte gibt und Pflichten auferlegt. ({11}) Werben Sie für Einbürgerung in den Ländern! Bisher ist das nur in Berlin geschehen. Die Tatsache, daß die Zahl der Einbürgerungen deutlich gestiegen ist, geht zu großen Teilen auf das Konto des Bundeslandes Berlin. Ich kann Sie nur auffordern: Machen Sie das in Hessen, in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg und in allen anderen Ländern! ({12}) Im übrigen ist auch die Bundesregierung aufgefordert, für Einbürgerung zu werben. In Berlin hat jeder zehnte Ausländer einen Antrag gestellt, deutscher Mitbürger zu werden. ({13}) Diese Bestrebungen kann man natürlich - alle sind dazu aufgefordert - durch Werbung intensivieren. Wir müssen sagen: Wir wollen euch, ihr gehört dazu. Also nur zu! ({14}) Was wir nicht wollen und nicht gebrauchen können - das ist hier schon mehrfach ausgeführt worden -, ist eine Diaspora im eigenen Land. Es geht also um Einbürgerung. Die Doppelstaatsbürgerschaft - dieses Wort, das so viele Emotionen auslöst - ist doch sozusagen nur ein Seitenarm dieser ganzen Geschichte. ({15}) Man soll das nicht überbewerten, man soll es aber auch nicht unterbewerten. ({16}) Es spricht sehr viel für eine einfache Staatsbürgerschaft. Das ist völlig klar. Aber für viele geht es gerade hier um die Erleichterung der Einbürgerung. Die Einbürgerungsstatistik zeigt, daß im letzten Jahr, in dem diese Statistik erhoben wurde, 1993, knapp 200 000 Menschen eingebürgert wurden. Mehr als ein Drittel der Ermessenseinbürgerungen hat unter Hinnahme der alten Staatsbürgerschaft stattgefunden. ({17}) Bei den Anspruchseinbürgerungen dürften das noch viel mehr sein; denn davon sind vor allen Dingen Aussiedler betroffen. Bei ihnen stört uns die Hinnahme der alten Staatsbürgerschaft bekanntlich nicht. ({18}) - Auch die Sprache nicht. Sie werden nicht erst aufgenommen, wenn sie den erfolgreichen Abschluß eines Sprachkurses vermelden können. Ich bin sehr für Einzelfallgerechtigkeit und für Härtefallgerechtigkeit. Aber ich bin nicht dafür, es dann wirklich nur noch den Ausländerämtern vor Ort zu überlassen, das zu regeln. Es sollte schon Grundsätze geben, die festlegen, in welchen Situationen Mehrstaatigkeit hingenommen werden kann. Denn mir ist die Frage der Staatsbürgerschaft zu ernst, als daß es dafür keinen gesamtstaatlichen Rahmen geben sollte. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto Schily?

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, Sie werden ja vernommen haben, daß der Innenminister meinte, bei einer Doppelstaatsangehörigkeit könnte die Loyalität zum deutschen Staat gefährdet sein. Müssen denn jetzt diejenigen, bei denen eine Doppelstaatsangehörigkeit hingenommen worden ist, damit rechnen, daß sie weil diese Loyalität nicht gewahrt ist, vom Verfassungsschutz überwacht werden? ({0})

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schily, ich nehme an, daß dies eher eine rhetorische Frage ist, die ich nicht wirklich beantworten soll. ({0}) Auch das Ius soli ist nicht etwas arg Fremdes. Es gibt viele deutsche Kinder deutscher Eltern, nämlich solche, die in den USA oder in England geboren sind, die nach Abstammungsprinzip Deutsche sind und nach dieser Ergänzung durch das Territorialprinzip auch die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes haben. Es soll sogar Leute geben, die extra irgendwohin reisen, damit ihr Kind in den Besitz eines weiteren Passes kommt. Angesichts der Hitzigkeit, mit der die Debatte um die Staatsbürgerschaft bei uns geführt wird, bekomme ich manchmal den Eindruck, als gäbe es nur in der Bundesrepublik Deutschland Ausländer. In den Ländern der Europäischen Union gibt es gut 20 Millionen Ausländer. Mit Sicherheit brauchen wir eine Annäherung innerhalb Europas auch in diesem Punkt. Es gibt überall grundsätzliche Gemeinsamkeiten; es gibt die Visumspflicht, das Arbeitserlaubnisrecht, Regelungen für den Familiennachzug und natürlich für die Einbürgerung. Die Details zeigen, daß es dennoch gewaltige Unterschiede gibt und daß wir einen gewissen Nachholbedarf haben. Harmonisierung ist angezeigt. Sie, Herr Bundesinnenminister, haben die Frage der Integration und die Frage, wann sie vollendet ist und womit sie belohnt wird, gestellt. Grundlagen der Integration sind mit Sicherheit die Sprache und eine vernünftige Berufsausbildung. Aber ohne eine rechtliche Grundlage, die nämlich die Perspektive in einem Land deutlich macht, steht das andere auf etwas schwankendem Boden. ({1}) Ich möchte am Schluß noch einmal die Koalitionsvereinbarung zitieren. Dort ist nämlich ein sehr hohes Ziel formuliert worden. Ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin: ... das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern zu fördern und zu verbessern sowie entstehende Probleme, bedingt durch unterschiedliche Mentalität, Kultur oder Religion, im Geiste der Geduld und Toleranz, des Realismus und der Mitmenschlichkeit zu lösen . . . Das ist das Ziel. Ich nehme nicht an, daß das einfach nur so dahingeschrieben worden ist und daß das Wortgeklingel ist, sondern daß man das ernst meint. „Geduld", meine Damen und Herren, übersetze ich nicht mit „Hände in den Schoß legen". Es muß etwas getan werden. ({2}): Sehr wahr!)

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Schmalz-Jacobsen, ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, was Sie nach den rassistischen Mordanschlägen von Solingen gesagt haben. Ich möchte Sie gern noch einmal zitieren: Die erleichterte Einbürgerung ist ein ganz wichtiger Weg zur Gleichberechtigung - als Signal für die ausländischen Mitbürger, daß sie dann wirkliche Mitbürger sind. Wir schützen die ausländischen Mitbürger hiermit zwar nicht vor Anschlägen, aber es ist ein Fundament, damit die deutsche Bevölkerung Gleiche eben auch gleichberechtigt behandelt. Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre hierfür ein wichtiger Schritt. ({0}) Ich habe den Eindruck - Sie haben es angesprochen -, daß Sie sich vorgeführt fühlen. Sie haben damals den Bürgern und Bürgerinnen und insbesondere den Ausländern und Ausländerinnen versprochen, sich hierfür einzusetzen. Ich möchte Sie einfach daran erinnern, daß der Gesetzentwurf, der durch Sie über den Bundesrat bzw. die SPD im Bundesrat dann im Bundestag beraten werden konnte, Ihre Stimme nicht mehr bekommen hat, sondern nur noch die Stimmen von der PDS und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Außerdem finde ich es nicht ganz unwichtig, zu erwähnen, daß Ihre Partei in Hessen die Koalition mit der CDU sucht und daß derjenige, der die doppelte Staatsbürgerschaft massiv bekämpft und verhindert hat, Manfred Kanther ist. ({1}) In den Koalitionsverhandlungen wurde eine neue Rechtsfigur aus der Taufe gehoben - wie wir heute schon gehört haben -, die sogenannte Staatszugehörigkeit für Kinder der dritten Ausländerinnen- und Ausländergeneration. Die Kinder von Migrantinnen und Migranten, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik geboren worden sind und deren Eltern mindestens zehn Jahre legal in diesem Land gelebt haben müssen, will der Bundesinnenminister, wie er selber sagt, aus lauter „Zuneigung" neben ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit bis zu ihrem 18. Geburtstag nur diese „deutsche Staatszugehörigkeit" zubilligen. Nicht nur, daß Sie mit diesen Plänen neue Hürden aufbauen, die nach Erkenntnis von Frau Schmalz-Jacobsen praktisch kein ausländisches Kind wird überspringen können. Anstatt einen Schritt hin zur Gleichberechtigung hier lebender Ausländerinnen und Ausländer zu gehen, schaffen Sie ein neues Sonderrecht. Allein die Vorstellung, - wie die „FR" schreibt daß es künftig in Deutschland Menschen gibt, deren deutsche Pässe gesondert gezeichnet sind, jagt einem den Schauer über den Rücken. Auch für mich selber kann ich dies nur bestätigen. Natürlich sehen auch wir, daß dieser Regierungsentwurf ansatzweise Verbesserungen gegenüber der unseligen „Blut-und-Boden-Tradition" des bisherigen Staatsbürgerrechts enthält. Erstmals wird in diesem Hause nämlich anerkannt, daß der alleinige Tatbestand des Geburtsorts maßgeblich für die Bestimmung der Nationalität eines Kindes sein soll und nicht wie bislang, ob deutsches oder „fremdländisches" Blut in dessen Adern fließt. Aber mit der neugeschaffenen Rechtsfigur der Staatszugehörigkeit schaffen Sie alles andere als Rechtssicherheit. Nehmen wir als Beispiel die Abschiebung zukünftiger „deutscher Staatszugehöriger" . Auf diese Möglichkeit christlicher Nächstenliebe möchten die sich so nennenden Regierungsparteien nämlich keineswegs verzichten. Spätestens dann - so hoffe ich jedenfalls -, wenn bei derartigen Abschiebungen Familien auseinandergerissen bzw. „deutsche Staatszugehörige" für etwaige strafbare Handlungen ihrer Eltern faktisch in Sippenhaft geUlla Jelpke nommen werden, wird das Bundesverfassungsgericht Ihnen den notwendigen Strich durch das haarsträubende Konzept der sogenannten Schnupperstaatsangehörigkeit machen. Doch auch der Entschließungsantrag, den die SPD heute eingebracht hat, bleibt um Längen hinter dem zurück, was immer dann angekündigt wurde, wenn der rassistische Mob wieder einmal zugeschlagen hatte: Das preußische Blutrecht, auf dem das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 aufbaut, soll nicht beseitigt, sondern nur ergänzt werden. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode konnten wir einen vergleichbaren Eiertanz der SPD beobachten, denn den von der SPD im Bundesrat verabschiedeten bzw. im Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf haben Sie hier nicht unterstützt, sondern einen eigenen eingebracht, nach dem wieder ein Teil - Mutter oder Vater - arisches Blut haben mußte, damit sie eingebürgert werden können. Abschließend einige Bemerkungen zum Gesetzentwurf der GRÜNEN. Daß unsere Unterschriften unter dem zunächst geplanten interfraktionellen Antrag still und leise verschwunden sind, nehmen wir amüsiert zur Kenntnis. Wir sind in diesem Haus Ausgrenzungen gewohnt. ({2}) Daß aber die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. und der SPD wieder nicht bereit waren, einen minimalen Schritt in die Richtung zu gehen, Ausgrenzungen von Ausländerinnen und Ausländern zu verhindern, finden wir beschämend. ({3}) Wir werden diesem Entwurf wie in der letzten Legislaturperiode trotzdem unsere Stimmen geben, auch wenn wir die zugrunde liegenden Fristen - in der Regel acht Jahre legalen Aufenthalts in der Bundesrepublik - für deutlich zu hoch gegriffen halten. Wir treten grundsätzlich dafür ein, daß alle Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, gleiche Rechte genießen sollen. Das Hineindrängen von Nichtdeutschen in rechtliche Sonderrollen ist ein wesentlicher Grund dafür gewesen, daß Ausländerinnen und Ausländer hierzulande nicht nur alltäglichen Diskriminierungen ausgesetzt sind, sondern auch mit offenem Rassismus in breiten Teilen der Gesellschaft zu kämpfen haben. Wir haben große Bedenken dagegen, den an sich erfreulichen Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit an Voraussetzungen zu koppeln, die diesem Sonderrecht, dem Ausländergesetz - sprich: Ausgrenzungsgesetz, so nenne ich es immer -, entspringen. Es gibt aber ein übergeordnetes Interesse - das habe ich bereits deutlich gemacht - für die betroffenen Menschen, am dringendsten für ausländische Frauen. Wir wollen jeden Handlungsspielraum nutzen, um die Menschen in eine bessere Rechtssituation zu bringen. Danke. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Kollegin Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir unterhalten uns heute nicht zum ersten Mal über die Reform des Staatsangehörigkeitsrecht. Ich hoffe, wir werden bald ein paar Schritte weiterkommen, als es sich bisher heute in der Diskussion abzeichnet. Herr Kanther, ich möchte mich zunächst gerne an Sie wenden, weil Sie - das ist völlig legitim - sich über meinen Zwischenruf etwas geärgert haben. ({0}) - Gut, das täte mir auch leid, zumal er gar nicht persönlich gemeint war, sondern sich auf das bezog, was Sie vorgetragen haben. Sie selbst sind ja nun auch jemand, der gerne starke Worte benutzt. Sie tun das sogar im „Deutschland-Magazin", was ich persönlich für außerordentlich bedauerlich halte. ({1}) Ihr Parteifreund Echternach hat das „DeutschlandMagazin" ein „nationalsozialistisches Unternehmen mit einem demokratischen Deckmantel" genannt. Er hat in dieser Sache Auseinandersetzungen vor Gericht geführt und bestanden. Vielleicht sollten Sie sich überlegen, ob aus solchen Aktionen das Mißtrauen herkommt, die Bundesrepublik, die Bundesregierung definiere sich nach 1989 stärker völkisch homogen, als das hier im Bundestag unser gemeinsamer Wille ist. Wir sollten uns stärker auf unsere zentralen Verfassungswerte beziehen, von dort aus handeln. Die Bitte, die ich habe, Herr Kanther - jetzt komme ich zu der Rede, die Sie vorgetragen haben -, ist, noch einmal sehr genau zu überdenken, ob das, was Sie sagen, wirklich haltbar ist. Bitte betrachten Sie das nicht als Belehrung, sondern als Hinweis, das mit Ihren Referenten zu besprechen. Das fängt schon bei der ideologisch-historischen Grundlage Ihrer Argumentation an. Sie haben die Auffassung vertreten, die republikanischen Staaten seien im 19. Jahrhundert entstanden. Wir wissen nun wirklich aus jedem Geschichtsbuch, daß die beiden ersten wichtigen republikanischen Staaten der jüngeren Zeit, nämlich die USA und Frankreich, im 18. Jahrhundert entstanden sind. ({2}) Dr. Herta Däubler Gmelin Ein kleiner Hinweis: Es war in den Jahren 1776 und 1789. ({3}) - Das ist völlig eindeutig, kein Zweifel möglich. - Herr Minister, ich bitte Sie, mit Ihren Referenten darüber zu sprechen. Ihre Rede, Ihre andere Darstellung führt uns genau zum Kern des Problems. In Deutschland ist nämlich durch die Verbindung von Nation und Romantik als Gegenbewegung zu den republikanischen Staatsgründungen eine Ausprägung des Nationen-Denkens entstanden, dessen Ausfluß in der Übersteigerung jener Zeit das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 war. Das, verehrter Herr Innenminister, wollen wir reformieren. Ich hoffe, wir können das bald tun, hoffentlich gemeinsam. ({4}) Ich komme noch einmal zu den Punkten, um die es uns geht: Wir wollen die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts jetzt und nicht irgendwann. Das ist eine klare Bitte auch an die F.D.P. Wir kennen Ihr Engagement, Frau Schmalz-Jacobsen. Sie haben auch recht in der Feststellung, daß einige Landesinnenminister noch mehr tun könnten, um Probleme zu bewältigen, das ist gar keine Frage. Aber richtig ist eben auch, daß sich die F.D.P. bald entscheiden muß: Sie können die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts nicht mehr lange als taktisches Problem behandeln. ({5}) Sie müssen entscheiden, ob die Bevölkerungsgruppe, um die es geht - also der Teil der ausländischen Wohnbevölkerung, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit Adenauers Zeiten angeworben wurde und die seit dieser Zeit, zum Teil in der dritten Generation, bei uns lebt -, als voll gleichberechtigte Staatsbürger - wenn sie das denn wollen - unter Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit eingebürgert werden oder nicht. ({6}) Es geht um die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts jetzt, um westeuropäische Standards. Das, Herr Innenminister, bringt mich zu meinem zweiten Punkt. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, uns ist aufgefallen, daß unter den Staaten, die Sie uns als Vorbilder hingestellt haben, ({7}) nicht ein einziger westeuropäischer Staat war, also ein Staat aus der Region, auf die wir unsere demokratisch-republikanische Verfassungstradition ausrichten wollen. Das ist sicher nicht ganz zufällig so. Sie haben uns statt dessen die baltischen Staaten und Rußland als Vorbilder genannt. ({8}) - Aber doch! Lesen Sie es noch einmal nach! ({9}) Pikant ist nur, daß Rußland sein altes Recht gerade in dieser Frage noch nicht geändert hat. Auch das gehört zu dem Teil Ihrer Rede, den Sie dringend überarbeiten sollten. Der dritte Punkt, Herr Kanther, auf den ich Sie aufmerksam machen will, ist folgender: Der größte Teil der Einbürgerungen heute sind die sogenannten Anspruchseinbürgerungen der Aussiedler; mittlerweile an die drei Millionen. Das sind bekanntlich Menschen mit einem oft schweren Schicksal, die einen Anspruch haben, bei uns eingebürgert zu werden. Von denen aber erwartet niemand - auch Sie nicht - eine Verzichtserklärung, daß sie ihre alte Staatsangehörigkeit aufgeben oder auf sie, die sie jederzeit wieder erwerben könnten, verzichten. Vor diesem Hintergrund müssen Sie sich einfach überlegen, ob Sie Ihr nahezu halsstarriges Festhalten an einer falschen Theorie nicht endlich aufgeben müssen; ({10}) zumal das, was Sie an Einwendungen geltend machen, Herr Bundesinnenminister, wenn Sie es näher betrachten, nicht haltbar ist. Ich will jetzt noch einmal - übrigens in Übereinstimmung mit Herrn Rommel, Bundespräsident Herzog und anderen CDU-Leuten - versuchen, in der Frage des Staatsangehörigkeitsrechts voranzukommen. Das sind doch alles keine Dummköpfe, die sind doch auch ideologisch nicht verbohrt. ({11}) Nein, ihnen geht es wie uns darum, daß man heute Politik nicht mehr nach dem Grundsatz „Ausgrenzung und Recht des Stärkeren" - sprich: der Deutschen - gegenüber den Ausländern praktiziert, sondern Integration und Stärke des Rechts an dessen Stelle setzt! Dieser Grundsatz weist in die Zukunft. Der Abschied von der alten Ideologie von 1913 ist nötig. ({12}) Jetzt komme ich zu einigen Ihrer Einwände. Erstens: Loyalität. Wissen Sie, ich halte sehr viel von Loyalität; insbesondere dann, wenn sie gegenseitig ist. Wenn Sie sie allerdings als Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit ansehen, so stellen Sie fest: Diese Bedingung kann nur zum Teil Anwendung finden, in anderen Teilen nicht. Ihre und meine Kinder hätten nie eine Chance, irgendeine Integrationsvoraussetzung zu erbringen. Selbstverständlich - und dabei soll es auch bleiben - spielt hier lediglich die Abstammung eine Rolle. Wir möchten gerne das Abstammungsprinzip nach westeuropäischem Muster ergänzen - so wie das z. B. die Franzosen handhaben, durchaus in der dort jetzt gültigen Variante - durch das Jus soli. Auch das läßt sich verschieden ausgestalten. Aber warum muß das zu Konflikten führen? Ich bitte Sie, das versteht doch keiner! Das ist weder beim Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt noch später zwangsläufig ... Außerdem ist es doch offensichtlich, daß Loyalität durch das Dableibenwollen, durch das Gesetzebefolgen, durch das Steuernzahlen und - bei der Gruppe der ausländischen Arbeitnehmer, die seit Adenauers Zeiten hier angeworben worden sind - auch durch die ungeheure ökonomische Leistung, die diese Menschen bei uns erbringen, längst nachgewiesen ist. ({13}) Ein weiterer Punkt: Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit führe zu ungerechtfertigten Vorteilen, zum Rosinenpicken. Das haben Sie Gott sei Dank heute nicht mehr gesagt. Ich hoffe, das wird auch nie wieder zu hören sein, einfach deshalb, weil uns die Regelungen der westeuropäischen und südeuropäischen Staaten - übrigens auch der Schweiz - vor Augen führen, daß die Theorie vom Rosinenpicken - ein Doppelstaater könne sich Vorteile erschleichen - nicht stimmt. Wenn es dennoch einmal eine Überschneidung irgendwo geben sollte, läßt sich die durch zwischenstaatliche Vereinbarungen sogar leichter aus der Welt schaffen als alles, was heute bei dem geltenden Regelungswirrwarr in Europa sowieso noch geregelt werden muß. Jetzt komme ich zu einem weiteren, einem zentralen Punkt: Warum eigentlich, werde ich häufig gefragt, sollten wir, zumindest für eine erhebliche Zeit, die doppelte Staatsangehörigkeit überhaupt hinnehmen? Dafür gibt es eine Antwort, und ich will deshalb auch heute daran erinnern, wie die psychische, die mentale Situation von Einwanderern, ihre Befindlichkeit oft aussieht. Ich möchte deren Lage mit der Situation der Ein- und Auswanderer aus jener Zeit vergleichen, in der die republikanischen Staaten entstanden sind. Vor 200 Jahren ist ein Teil der Familie meiner Vorfahren nach Rußland, vor mehr als 100 Jahren ein anderer Teil nach den USA ausgewandert. Meine Familie stammt aus einem Gebiet, in dem Auswanderung lange Zeit hindurch gang und gäbe war - schon wegen der miesen wirtschaftlichen Verhältnisse. Damals, auf Grund der fehlenden Kommunikationsstruktur, auf Grund der unüberbrückbaren Entfernungen und der unmöglichen Verkehrswege, mußte man sich nolens volens entscheiden: Wenn man jenseits des „großen Teichs" angekommen war, wenn man Rußland erreicht hatte, war man endgültig von zu Hause weg. Zurückkommen konnte man nicht. Man mußte entweder in der neuen Heimat bestehen oder dort untergehen. Verbindung zur alten Heimat gab es nicht oder kaum. Und heute? Heute gibt es - und das ist doch etwas Positives - die ständige Kommunikation von hier z. B. in die Türkei und sogar noch nach Restjugoslawien. Jeder hat Telefon und Fernsehen, kann auch Ferienreisen zurück in die alte Heimat machen. Die Verbindungen bleiben; die Bindungen auch. Warum - das frage ich Sie jetzt in aller Eindringlichkeit - nutzen wir denn nicht die Tatsache, daß Menschen in zwei Kulturen zu Hause sind, als Brücke und als Chance, mit Loyalität zu beiden, um damit gemeinsam in die Zukunft zu gehen. ({14}) Herr Kanther, lassen Sie mich auch das fragen: Warum bringen Sie Ihre Äußerungen, die Sie über Moslems machen, so häufig mit dem Unterton, das seien Menschen die wir fürchten müßten? Mich erinnert das an Vorurteile, die man früher vor Jahrzehnten aus pietistischen Kreisen gegenüber Katholiken hörten konnte. ({15}) Und umgekehrt von Katholiken über Protestanten auch! Heute aber wissen wir: Es ist ein Vorzug, gegenüber der Bundesrepublik loyale Menschen zu haben, die auch in einem anderen Kulturkreis zu Hause sind! Dies zu nutzen, um Fanatiker aller Lager bei uns und in moslemischen Staaten zurückzudrängen, das ist doch eine Aufgabe, die wir anpacken müssen! Ich will noch einmal umreißen, wo ich die Grundposition unserer Politik in den kommenden Jahren sehe. Der Grundsatz, den wir alle beachten müssen, Herr Kanther, heißt: Integrieren und die Stärke des Rechtes betonen, nicht ausgrenzen nach dem Motto „Wir und die Ausländer", nicht das Recht der Stärkeren, der Deutschen, über die Ausländer praktizieren. Damit lösen wir eine Menge von Problemen, die wir in Europa und auch in der Bundesrepublik noch haben, leichter. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herzlichen Dank der Kollegin Däubler-Gmelin. Jetzt hat Herr Minister Kanther um das Wort zu einer Kurzintervention gebeten. Sie sind da ein bißchen in einem rechtsfreien Raum; denn Sie dürfen das eigentlich nur als Abgeordneter. Aber ich gebe Ihnen das Wort. ({0})

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Ich will für einen kurzen Moment erwidern, Frau DäubBundesminister Manfred Kanther ler-Gmelin, weil Pathos über Selbstverständlichkeiten nicht die richtige Regelung einer Besonderheit ersetzt. Alles das, was Sie zu „Integration", zum „Miteinanderleben" und zu „Chancen von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Lande nutzen" sagen, ist unstreitig. Das bleibt es auch, auch wenn Sie es mit diesen hehren Worten neu beschreiben. Es geht niemandem um Ausgrenzung, und ich leide auch nicht, daß einem Land, das 80 % aller Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufnimmt, und einer Partei und einer Regierung, die dies tragen, auch nur im Ansatz Ausgrenzung von Ausländern entgegengehalten wird. Das leide ich nicht, ({0}) das ist unsachlich und pathetisch mit falschen Überschriften. Es geht nicht darum, jemandem „Rosinenpicken" vorzuhalten, sondern es geht darum, daß die Gewährung der Addition von Vorteilen, die sich aus doppelter Staatsangehörigkeit ergeben können, ({1}) besonders begründet werden müßte, wenn die Gefahr von Konflikten nicht ausgeschlossen werden kann. Und es ist doch nicht zweifelhaft, wenn Sie eine sehr große Minderheit in unserem Lande sehen und dazu z. B. auch Reden des türkischen Staatspräsidenten hören, daß dieser Konflikt denkbar ist. Deshalb wollen wir, daß ein Zeichen gegen diesen Konflikt theoretisch dadurch gesetzt wird, daß man sagt: Ich gehöre ganz zu Deutschland, weil ich lange hier leben meine Kinder hier leben und ich noch lange hier leben will. Niemandem geht etwas verloren, wenn er sagt: Ich weiß noch nicht genau, wohin ich gehöre, ich kann mich noch nicht entscheiden, ob ich Deutscher werden oder Ausländer bleiben will. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt ist Ihre Redezeit für die Kurzintervention aber vorbei.

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Das liberalste Bleiberecht der Welt, das liberalste Einbürgerungsrecht der Welt findet seine Grenze an der doppelten Staatsangehörigkeit. Das ist unsere Auffassung, und das bleibt auch unsere Auffassung, ohne Streit in diesem Hause um die Selbstverständlichkeiten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gebe das Wort zur Antwort Frau Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kanther, ich glaube, diese Erwiderung war Ihrer nicht würdig. ({0}) - Es mag ja sein, daß du recht hast. Joschka, schimpf nicht mit mir, schimpf mit ihm! - Sie war Ihrer deshalb nicht würdig, herr Kanther, weil Sie damit gezeigt haben, daß Sie offenbar nicht bereit sind, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die Ihrer Ideologie widersprechen. Es geht doch gar nicht darum, daß Sie unser Land oder die Menschen in ihm vor uns verteidigen müßten. Es geht darum, daß Ihre Politik mit dem, wovon Sie behaupten, daß es unstreitig sei, nicht übereinstimmt. ({1}) Es geht darum, daß Sie mit Ihrem Verhalten dem Vorwurf recht geben, Sie redeten hier anders, als Sie draußen handeln. Es gibt eine Menge Leute, die das sehr klar als Heuchelei bezeichnen. Zweitens - jetzt komme ich zur Loyalität zurück -: Es ist bedauerlich, daß Ihre Referenten im Ministerium offensichtlich nicht bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, was in anderen Staaten, in denen ja auch Auseinandersetzungen um die Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit geführt werden, erarbeitet worden ist. In Großbritannien z. B. wurde eine umfangreiche Studie zu der Frage der Loyalität von Einwanderern verfaßt. In ihr findet sich kein einziger Anhaltspunkt, der Ihre Auffassung stützt. Vielmehr läßt sich an Hand von Umfragen, deren Ergebnis man nur lesen muß, nachweisen, wie Einwanderer denken. Sie sagen: Ich will mich nicht für ein Land entscheiden müssen. Ich gehöre zu beiden Kulturen, erbringe aber beiden - der alten und der neuen Heimat - Loyalität. - Wer sind Sie denn, Herr Kanther, daß Sie das nicht zur Kenntnis nehmen oder bezweifeln? Diese falsche Einstellung ist doch Ihr Problem! ({2}) Meine Damen und Herren, ich fände es sehr gut, wenn in diesem Hause Tatsachen und Erfahrungen der Franzosen, der Engländer, der Schweizer und der Italiener und übrigens auch aller Beneluxstaaten zur Kenntnis genommen werden würden, wenn wir uns bald darüber verständigen könnten. Es geht nicht darum, irgend jemandem etwas Ungerechtfertigtes zu geben, sondern es geht darum, die Konsequenz daraus zu ziehen, daß seit 1960 unter Adenauer Menschen aus anderen Staaten angeworben wurden und daß eine Demokratie wie die unsrige Menschen mit zweierlei Recht erster und zweiter Klasse mit unter schiedlichen Rechten auf Dauer nicht verträgt, ohne selbst Schaden zu nehmen. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Meinrad Belle.

Meinrad Belle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir einige kurze Bemerkungen zu den bisherigen Debattenbeiträgen. Frau Däubler-Gmelin, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß es in Frankreich Umfragen und wissenschaftliche Arbeiten über erhebliche Loyalitätsprobleme, die die nordafrikanischen Doppelstaatler mit dem französischen Staat haben, gibt. Dann möchte ich darauf hinweisen, daß das vorhin von Frau Kollegin Müller angesprochene wilhelminische Blutrecht, das auch bei uns noch immer gelte, eingeführt worden ist - ich weise mit Stolz darauf hin, Frau Däubler-Gmelin - in der württembergischen Verfassungsurkunde des Jahres 1818 und in der bayerischen des Jahres 1819. Das hat mit dem Wilhelminischen Zeitalter gar nichts zu tun. Das Jus sanguinis ist schon früher eingeführt worden. Die Einführung geschah also nicht in romantischem Überschwang, um das noch einmal ganz deutlich zu sagen. Ein Satz zu den Problemen mit den Doppelstaatlern. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß seit Mitte der 70er Jahre über eine Million der türkischen Staatsangehörigen, die nach Ihren Vorstellungen die deutsche Staatsangehörigkeit hätten, zurückgekehrt sind und daß einfach deshalb natürlich erhebliche Probleme auftreten würden, weil man die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verlieren kann. Frau Schmalz-Jacobsen, Ihr Beispiel mit den Aussiedlern greift einfach nicht. Ich verfolge Ihre Reden immer sehr aufmerksam. Sie wissen, daß ich Ihnen in weiten Bereichen beipflichte. Die Aussiedler, die Sie angesprochen haben, wollen Deutsche sein. Sie würden in aller Regel sehr gerne und sofort ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben. Das ist kein Problem der doppelten Staatsbürgerschaft. Frau Sonntag-Wolgast, Sie sind sonst so charmant. ({0}) Ich verstehe deshalb nicht, daß Sie heute abend so unfreundliche Halb- und Teilwahrheiten vorgetragen haben. Die Verbesserungen in der letzten Legislaturperiode, die wir gemeinsam erarbeitet haben, haben Sie offensichtlich ganz vergessen. Die Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft wird nach einem Schwarz-Weiß-Muster geführt. Wer dafür ist, gilt als fortschrittlicher Ausländerfreund, wer dagegen ist, als kalter Nationalist. In Wahrheit geht es nicht um einen Prüfstein für Menschlichkeit und Wärme, sondern um eine komplizierte Detailregelung des Ausländerrechts. So formuliert Heinz-Joachim Melder in der „Hannoverschen Allgemeine" am 20. Januar 1995 ganz treffend. Er beschäftigt sich dann noch im einzelnen mit den bereits jetzt gegebenen Möglichkeiten der doppelten Staatsbürgerschaft und fährt fort: Dies ändert aber nichts am international üblichen und richtigen Grundprinzip, daß jede Person nur jeweils einem Staat angehört. Daran ist auch nichts Verwerfliches. Jedem kann grundsätzlich die Entscheidung abverlangt werden, in welchem Staat er Rechte und Pflichten wahrnehmen will. Und die jeweilige Gemeinschaft muß sich auf diese Aussage verlassen können. Meine Damen und Herren, damit hat der Journalist - allgemeinverständlich formulierend - genau den Kern des Problems getroffen. ({1}) Wir beraten heute die beiden vorliegenden Anträge. An dieser Stelle will ich kurz innehalten und zurückschauen: Da wurde vor wenigen Wochen, im Dezember, unter Trommelwirbel in den Medien verkündet: Die SPD-Fraktion bringt den Gesetzentwurf der Ausländerbeauftragten zum Staatsangehörigkeitsrecht in den Bundestag ein, um die F.D.P. auf den Prüfstand zu stellen. Dann - so sieht es auf jeden Fall aus - finden in aller Stille die Beratungen mit den Fachleuten statt, mit den Innenpolitikern der Fraktion und der Bundesländer, denen der Entwurf ganz offensichtlich zu weit geht. Schließlich wird ein Entschließungsantrag formuliert, eingebracht und kleinlaut erklärt: Wir wollen die F.D.P. nicht vorführen. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da könnte ich mir aus Oppositionssicht wirklich einen besseren Ablauf vorstellen. Mit dem eingebrachten Antrag soll nun die Einbürgerung erleichtert und die doppelte Staatsangehörigkeit grundsätzlich hingenommen werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird der generellen Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft nicht zustimmen. ({2}) Dahinter steht die Überzeugung, daß Mehrstaatigkeit mit dem Wesen der Staatsangehörigkeit grundsätzlich nicht vereinbar ist. Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach formuliert hat, ist sie vielmehr „Ausdruck der Grundbeziehung der mitgliedschaftlichen Verbindung und rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft", in der das „Volk als die Summe der Staatsbürger Träger der Staatsgewalt" ist. Sie ist ferner ein „umfassendes Rechtsverhältnis", aus dem Rechte und Pflichten erwachsen. Die Staatsbürgerrechte und Staatsbürgerpflichten sind deshalb keineswegs nur beliebig austauschbare Äußerlichkeiten. Sie betreffen den innersten Kern unseres Staates und unserer Demokratie. Wegen dieser funMeinrad Belle damentalen Bedeutung kann - aus unserer Sicht - die Einbürgerung nicht Mittel zur Integration sein, sondern nur am Ende des Integrationsprozesses stehen. In den letzten Jahren wurde das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz mehrfach reformiert. Eingeführt wurde der Regelanspruch auf Einbürgerung für hier aufgewachsene junge Ausländer und für länger als 15 Jahre hier lebende Ausländer. Auch für Ehegatten und Kinder ist die Einbürgerung erleichtert. Mit dem Asylkompromiß - und das sollten Sie genau zur Kenntnis nehmen - wurden die Regelansprüche in zwingende Einbürgerungsansprüche umgewandelt und der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt für nichteheliche Kinder deutscher Väter neu eingeführt. Die Koalitionsvereinbarung dieser Legislaturperiode sieht eine weitere Integration der Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft vor. Eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wird vorgenommen. Dabei werden - Kollegin Schmalz-Jacobsen hat es vorhin gesagt - auch die rechtlichen Regelungen weiter verbessert, die für die bei uns lebenden Ausländer eine berechenbare Lebensgrundlage für ihre Lebensplanung bilden. Die bisher vorgesehenen Ermessensentscheidungen sollen weitgehend durch Rechtsansprüche ersetzt und Fristen beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit weiter verkürzt werden. Zusätzlich soll als neues Rechtsinstitut für in Deutschland geborene Kinder der dritten Generation eine deutsche Kinderstaatszugehörigkeit - die Eckpunkte sind schon öfter genannt worden - eingeführt werden. Diese vorgesehene Regelung, meine Damen und Herren - ein Koalitionskompromiß -, ({3}) mag Ihnen nicht weit genug gehen, einigen meiner Kolleginnen und Kollegen geht sie schon zu weit. Aber wir werden diese umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in dieser Koalition realisieren. Sie wird eine der wichtigsten innenpolitischen Aufgaben dieses Jahres sein. ({4}) - Ich habe das bewußt gesagt. Ich weiß, daß die Vorarbeiten im Bundesinnenministerium mit Nachdruck laufen. Anfang Januar hat unser Bundesinnenminister in einem Schnellbrief an die Innenministerien und Senatsverwaltungen der Länder das Anhörungsverfahren wegen der Einführung der deutschen Kinderstaatszugehörigkeit eingeleitet. Auch die betroffenen Bundesministerien sind beteiligt. Es läuft also. Selbstverständlich müssen die Ergebnisse dieser Anhörungsrunde in den Gesetzentwurf eingearbeitet werden. Ich gehe aber davon aus, daß wir mit den Beratungen spätestens im Sommer beginnen können; ich lade Sie herzlich dazu ein. Es wurde vorhin schon gesagt: Das bereits gültige Recht läßt jetzt schon in Ausnahmefällen die doppelte Staatsangehörigkeit zu. Nach meinen Unterlagen wurden im Jahre 1993 immerhin 199 443 Einbürgerungen verzeichnet. In 154 493 Fällen bestand ein Anspruch auf Einbürgerung. Von den restlichen ca. 44 000 sogenannten Ermessensentscheidungen wurde in 16 880 Fällen - also 37 % der Ermessensentscheidungen - die Mehrstaatlichkeit hingenommen. Mir scheint, daß unter diesen Umständen der Spielraum für eine Erweiterung der Ausnahmefälle nicht mehr allzugroß ist. ({5}) Jan Granat, der Leiter der polnischen Konsularabteiung in Berlin, hat in einem Interview mit der „TAZ" am 20. Januar 1995 ({6}) - dann wüßte ich es nicht, Herr Fischer - die Frage, warum Polen die doppelte Staatsangehörigkeit haben wollen, so beantwortet - ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin -: Einerseits möchten sie nicht auf die polnische Staatsbürgerschaft verzichten, andererseits haben sie durch die deutsche den Zugang zu sozialen Leistungen, zur Rente, zum Arbeitsmarkt. Hinzu kommt die Stellung in der Europäischen Union mit allen Freizügigkeiten in den anderen Ländern Europas. Denn noch gehört Polen nicht zur EU. Es geht um die Treue zu und die traditionelle Bindung an Polen und gleichzeitig darum, bessere Möglichkeiten in Deutschland zu haben als andere Ausländer. Ich kann und will diese Aussage des Leiters der polnischen Konsularabteilung nicht kommentieren. Mit Sicherheit würde aber in der Öffentlichkeit eine Diskussion über Privilegien und Vorteile der Mehrstaatler entstehen, wenn wir die Ausnahmeregelung der doppelten Staatsbürgerschaft zu sehr ausweiten würden. Meine Damen und Herren, es sollte eindringlich davor gewarnt werden, die deutsche Staatsangehörigkeit als zu kleine Münze zu behandeln. Ich finde, das Thema ist viel zu ernst, als daß man es, wie es heute abend teilweise geschehen ist, nur unter parteipolitischen Gesichtspunkten abhandeln könnte. ({7}) Ich hoffe und ich freue mich, Herr Fischer, auf eine sachliche Zusammenarbeit in den Gremien des Deutschen Bundestages, so wie wir es in der Innenpolitik in weiten Bereichen bisher auch schon getan haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Meine Damen und Herren! Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich Sie über etwas informieren, worüber wir heute im Ältestenrat gesprochen haben und was zu dieser Debatte gehört. Sie erinnern sich, daß es gestern hier die Debatte über die ARD gab. Ich saß im Präsidium. Neben mir saß der Kollege Cern Özdemir, und er wurde deswegen auch im Fernsehen gesehen. Auf Grund der Tatsache, daß er hier oben gesehen wurde, sind in seinem Büro in der Folge sehr viele böse, drohende und ausländerfeindliche Anrufe angekommen. Ich möchte die Gelegenheit, daß ich ihm gleich das Wort geben werde, dazu nutzen, ihm im Namen des ganzen Hauses zu sagen, daß wir diese Anrufe verurteilen, daß wir hoffen, er läßt sich davon nicht beirren, und daß wir uns freuen, daß er hier jetzt redet. ({0}) Cern Özdemir, bitte!

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde jetzt nicht schwäbisch sprechen, sondern das Thema ist wohl ernst genug, so daß man versuchen muß, hochdeutsch zu sprechen, damit es wirklich überall ankommt, damit alle es verstehen können. Herr Kanther, Ihre Rede und auch das, was Sie nachher in der Kurzintervention gesagt haben, war meines Erachtens kein Ruhmesblatt für dieses Haus. Es war keine republikanische und schon gar keine europäische Rede. Diese Rede, Herr Kanther - darin haben mich die 29 Jahre in diesem Lande bestärkt -, entspricht nicht dem, was die Mehrheit in diesem Lande denkt. Die Mehrheit in diesem Lande steht nicht hinter dem, was Sie hier gesagt haben. ({0}) Frau Schmalz-Jacobsen, ich beneide Sie nicht um Ihre zugegebenermaßen nicht einfache, nichtsdestotrotz wichtige Rolle, die Sie in Ihrer Doppelfunktion haben. Aber etwas mehr Durchsetzungsvermögen und Durchsetzungskraft darf es schon sein bei der Durchsetzung des liberalen Rechtsstaates, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.! ({1}) Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts steht ganz oben auf der innenpolitischen Agenda dieser Legislaturperiode. Es ist für uns auch eine Frage des Demokratieverständnisses, ob wir es uns leisten wollen, daß ein Teil der Bevölkerung dieses Landes nicht gleich an Rechten ist, nicht in gleicher Weise partizipieren kann. Ich hatte im Bundestagswahlkampf und jetzt, seit ich als Abgeordneter gewählt bin, im Bundestag häufig die Gelegenheit, mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen zusammenzukommen, insbesondere auch mit Kolleginnen und Kollegen von der Union, die zum Teil heute hier sitzen. Mein Eindruck war, daß wir immer dann, wenn wir über konkrete Beispiele diskutierten, wenn es um konkrete Fälle ging, sehr weitgehende Einigkeit erzielt haben. Ich kann mich an kein einziges Beispiel erinnern, wo der Fall nicht kritisiert wurde, daß jemand wie ich, der in diesem Land geboren ist, nicht automatisch die Staatsbürgerschaft dieses Landes bekommt, obwohl ich, wie ich meine, sämtliche Integrationsvoraussetzungen, auch die des Herrn Kanther, eigentlich erfüllt haben müßte, und trotzdem habe ich nicht automatisch den Paß dieses Landes bekommen. Wenn ich gesagt habe, daß von meinem Vater, der in der Türkei drei Jahre die Volksschule besuchen konnte und danach den landwirtschaftlichen Betrieb mit übernehmen mußte, weil sein Vater gestorben war, verlangt wurde, daß er auf dem Rathaus einen handgeschriebenen Lebenslauf schreibt, um den Nachweis zu erbringen, daß er würdig und fähig ist, den Paß dieses Landes zu bekommen, habe ich noch niemanden gehört, der gesagt hätte, das müsse so sein. Alle Kolleginnen und Kollegen haben mir immer gesagt: Das sollte man ändern, Herr Özdemir, das sehen wir auch so. Ich frage Sie: Warum wird es dann nicht getan? ({2}) Im übrigen gibt es, soweit mir bekannt ist, ca. 4 Millionen Menschen in diesem Lande, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. Mir ist auch nicht bekannt, daß bisher gesagt wurde, diese Menschen seien zu Unrecht im Besitz des deutschen Passes. ({3}) Ich glaube, auch dies macht deutlich, wie absurd die Voraussetzungen sind, die wir im Jahre 1995 in einem europäischen Verfassungsstaat nach wie vor ansetzen. Bisher war es eigentlich auch immer so, daß niemand widersprochen hat, wenn für die deutsche Minderheit in Schlesien - wir haben darüber geredet - die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptiert und toleriert wird. Was für diese Menschen recht und billig ist, sollte für die nichtdeutsche Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland mindestens genau so recht und billig sein. ({4}) ({5}) Spätestens nach den grausamen Ereignissen von Mölln und Solingen waren wir uns doch eigentlich in diesem Hohen Hause einig darin, daß eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts aus dem Jahre 1913 ansteht. Auch der Bundeskanzler sprach damals von notwendigen Reformen zur besseren Integration von Nichtdeutschen. Die Äußerungen des rheinlandpfälzischen CDU-Landesvorsitzenden Johannes Gerster gehen - wenn auch für uns nicht weit genug - erfreulicherweise bereits über die Koalitionsvereinbarung hinaus. Vom Kollegen Geißler und vom OberCern Özdemir bürgermeister der Schwabenmetropole Stuttgart, Herrn Rommel, wissen wir seit längerer Zeit, daß sie sich für einen gelasseneren Umgang mit dem Thema einsetzen. Ich möchte im folgenden Herrn Rommel zitieren: Aber heute, in Zeiten eines so tiefgreifenden Wandels, können auch Ausländergesetze nicht mehr Gültigkeit auf Ewigkeit beanspruchen. Es wird sehr bald wieder über Reformen gesprochen werden müssen, einfach deshalb, weil wir nicht dauernd von Europa reden können, wenn wir nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Europäer gemeinsam in den Städten leben und arbeiten können, und wenn wir nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, daß auch diejenigen, die kein deutsches Blut haben, ein Heimatgefühl in den Städten und Landschaften entwickeln können, in denen sie aufgewachsen sind. ({6}) Ich weiß, daß wir in dieser Frage - und das wurde hier angesprochen - zu diesem Zeitpunkt Schwierigkeiten haben, über die parteipolitischen Gräben hinwegzukommen. Trotzdem wünsche ich angesichts der Wichtigkeit dieses Themas, daß wir eine Möglichkeit finden, wie wir uns verständigen können. Ich möchte daher die Gelegenheit hier nutzen: Lassen Sie uns einen Sonderausschuß einrichten, in dem wir die vorliegenden Papiere frei von jeder Art von Präjudizierung diskutieren, in dem wir uns gemeinsam überlegen, auf welcher Grundlage wir uns verständigen können! Es wurden genug Beispiele genannt, wie wir uns verständigen können. Lassen Sie uns zumindest versuchen, die Fälle, wo wir Einigkeit im Hohen Haus erzielen können, hinzubekommen! Dafür wäre ich Ihnen dankbar. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Kollege Otto Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Es gibt ausnahmsweise einen Lichtblick in der Bundesregierung. Das ist die Ausländerbeauftragte Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen. ({0}) - Ist das ein Mißbrauch? Ich kann doch, Herr Kollege Irmer, zunächst einmal zu dieser Ausländerbeauftragten gratulieren. Das können Sie doch ruhig als Kompliment auffassen. ({1}) Daß Sie das abwehren, führt mich zu meinem zweiten Satz: Es ist nur schade, daß Sie so wenig Einfluß hat. Das können Sie daran erkennen, daß es nach Ihrer Rede, Frau Schmalz-Jacobsen, einen einsamen Klatscher in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion gegeben hat. Das war der Kollege Altmaier. ({2}) - Drei? Dann habe ich zwei übersehen. Das ist erfreulich. Also immerhin drei. Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, alles, was Sie heute hier gesagt haben, war höchst erfreulich und liegt auf der Ebene dessen, was andere hier gesagt haben, unter anderem in einer, wie ich finde, ausgezeichneten Rede meiner Fraktionskollegin Herta Däubler-Gmelin. Aber was Sie dann hier angedeutet haben, daß Sie nämlich die Verläßlichkeit gegenüber der Koalition im Kopf haben, das stimmt mich dann doch ein wenig traurig. Sehen Sie, ich habe ein gewisses Mitgefühl für die F.D.P.-Fraktion und die Vertreter der F.D.P., wenn sie mit einer gewissen Beklommenheit den künftigen Wahlen entgegensehen. ({3}) Aber ich glaube, wenn ich Ihnen das so sagen darf, die Beklommenheit könnte etwas von Ihnen weichen und Ihre Wahlchancen würden sich vielleicht etwas verbessern, wenn Sie wenigstens eine Verläßlichkeit hinsichtlich Ihrer eigenen programmatischen Aussagen an den Tag legen würden. ({4}) Und das ist doch das Entscheidende, wie man in der Öffentlichkeit zu arbeiten hat. ({5}) Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, ich habe hier auf dem Tisch ein Zitat von Ihnen vom 11. Januar dieses Jahres. Da sagen Sie zu diesem Thema: Nun müssen wir uns hier einen Ruck geben. Man kann nicht Generationen und Generationen von jungen Leuten als Ausländer bezeichnen, wenn sie in Wahrheit längst zu uns gehören. Sehen Sie, diesen Ruck erwarten wir von Ihnen auch hier im Parlament, nicht nur in Reden außerhalb des Parlaments. ({6}) Sonst kommen wir in der Sache nicht voran. Wenn jetzt auch in dem letzten Redebeitrag gesagt worden ist, daß es ein entscheidender Schritt in der europäischen Rechtskultur sei, daß wir das Koordinatensystem unseres Rechtsbewußtseins verändern und den Sperrmüll völkischen Denkens hinausschmeißen müssen, so ist es jetzt an der Zeit, das zu tun. Das ist dann europäische Rechtskultur, auf die wir dringend angewiesen sind, wenn Gewalttaten wie in Mölln und anderswo sich nicht weiter ausbreiten sollen. ({7}) Das ist eine ernste Angelegenheit. Da ist nicht mit Koalitionsmanövern und ähnlichem zu arbeiten. Meine Damen und Herren, es gab einen großen Deutschen im vergangenen Jahrhundert. Auch dem hätte möglicherweise Herr Kanther Schwierigkeiten bei der Loyalität vorgeworfen, weil er nämlich in mehreren europäischen Kulturen sehr bewußt zu Hause war: in der deutschen und in der französischen Kultur, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Deutsche und Franzosen schrecklicherweise noch als Erbfeinde deklariert wurden. Dieser große Deutsche war Heinrich Heine. Von Heinrich Heine möchte ich hier zum Schluß ein Wort vortragen. Dieses Wort hat das unwiederholbare Pathos des vergangenen Jahrhunderts; aber er hatte recht, als er in der Wortwahl des 19. Jahrhunderts schrieb: Pflanzt die schwarz-rot-goldene Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens. Macht sie zur Standarte des freien Menschentums. Nach einem düsteren Jahrhundert, das sich jetzt dem Ende neigt, in dem in Deutschland die schlimmsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte begangen worden sind und in dem wir nicht die Höhe des deutschen Gedankens erreicht haben, ist es in der Tat notwendig, daß wir uns zu einer inneren Verfassung durchringen, in der wir wirklich der Ort des freien Menschentums in Deutschland sind. Das, Frau Schmalz-Jacobsen, ist die Aufgabe auch bei einem solchen Vorhaben. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/259 und 13/423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6 und Zusatzpunkt 6: 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter Kolbow, Günter Verheugen, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einstellung aller Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet - Drucksache 13/326 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Win-. fried Nachtwei, Angelika Beer, Christian Sterzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abschaffung der Tiefflüge - Drucksache 13/406 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({1}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann machen wir das so. Ich eröffne die Aussprache und rufe die Kollegin Uta Zapf auf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag befaßt sich heute nicht zum erstenmal mit dem Thema Tiefflug, und es wird sicher auch nicht die letzte Debatte zu diesem Thema sein. Anlaß für die SPD-Fraktion, erneut einen Antrag auf Einstellung der Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet zu stellen, sind die Planungen der Bundesregierung zur Einrichtung eines Netzes von Nachttiefflugkorridoren. Dagegen gab es heftige Proteste in den betroffenen Gebieten. Es geht aber nicht nur um Nachttiefflüge - obwohl die betroffenen Menschen diese mit Recht als eine besonders hohe Belastung empfinden -, sondern es muß generell um die Frage gehen, ob in der notwendigen Güterabwägung der Interessen die Fortführung von Tiefflügen über bewohntem Gebiet gerechtfertigt ist. Auf der einen Seite stehen die Interessen der Menschen, die vom Tieffluglärm gepeinigt und in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden, und auf der anderen Seite steht das Interesse der Bundeswehr an angemessener Ausbildung und Einsatzfähigkeit der Piloten. Wir sind uns mit der Bundesregierung einig, daß für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verbündeten eine unmittelbare, existentielle militärische Bedrohung nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht mehr besteht. Wir sind sozusagen von Freunden umzingelt. Das Verteidigungsministerium rechnet mit einer militärisch nutzbaren Vorbereitungszeit von einem halben Jahr. Die außerordentlich hohe Einsatzbereitschaft der Luftwaffe, wie sie in Zeiten des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation notwendig war, ist von daher weder für die Bundeswehr noch für die alliierten Streitkräfte notwendig. ({0}) Die logische Schlußfolgerung daraus ist: Es bleibt genügend Zeit, um im Falle einer Krise die volle Einsatzfähigkeit der Piloten im Tiefflug und im Luftkampf herzustellen. Ich möchte in diesem Zusammenhang den amerikanischen General Rutherford zitieren, der als kommandierender General aller US-Luftwaffenverbände in der Bundesrepublik bereits 1988 erklärt hat - ich zitiere -: Geben Sie mir vier Wochen Zeit, meine fliegenden Verbände auf den Einsatz vorzubereiten, und ich brauche vorher keinen Tiefflug zu üben. Bei allen denkbaren Einsätzen der Bundeswehr - meine Damen und Herren, Sie wissen, daß wir nicht alle gerne mitdenken möchten -, sei es zur Unterstützung der NATO-Partner, sei es bei UN-Einsätzen, wären ausreichende Vorbereitungszeiten gegeben. Es kann also gar keine Rede davon sein, daß man auf eine qualifizierte Ausbildung der Piloten verzichtet, wenn man in der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Lage keinen Tiefflug über bewohntem Gebiet zulassen will.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne. Herr Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Zapf, wie können Sie erklären, daß in einer der letzten Sitzungen des Verteidigungsausschusses, als wir uns mit der Frage des eventuellen Abzuges der UN-Truppen aus Bosnien beschäftigten und im Zusammenhang damit auch mit der Frage des deutschen Schutzes durch Tornadoflugzeuge, einer der Kollegen Ihrer Fraktion danach gefragt hat, ob denn der Verteidigungsminister zusichern könne, daß diese Verbände einsatzbereit sind? ({0})

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Breuer, ich erkläre mir das aus den Gedanken, die sich Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen entgegen Ihren Vorurteilen machen, ob der Schutz und die Fürsorgepflicht für die Soldaten der Bundeswehr in der Tat gewährleistet ist, wenn wir sie in militärische Abenteuer - ich hoffe, ich darf das so salopp ausdrücken - schikken. ({0}) Ich glaube, Sie hätten uns mit Recht beschimpft, wenn diese Frage von uns nicht gestellt worden wäre. Ich erinnere daran, daß ich in diesem Zusammenhang eine weitere Frage gestellt habe, nämlich die Frage nach der Einsatzbereitschaft der ECR-Tornados. Auch dies ist Fürsorgepflicht und keine Abweichung von sozialdemokratischen Grundsätzen. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. ({1}) - Selbstverständlich; ich komme gleich darauf, Herr Nolting. Ich werde ausführen, daß wir das gewährleistet sehen. ({2}) - Hören Sie mir bitte zu, dann werden Sie es wissen. Für die Ausbildung und den Erhalt der fliegerischen Fähigkeiten stehen unseren Piloten genügend Übungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zahlreiche Möglichkeiten im Ausland werden auch heute schon genutzt. Ebenso sind Tiefflüge über See möglich. Die Luftwaffe hat laut Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Jahre 1991 insgesamt 9 500 Flugstunden im Ausland geflogen, davon den größten Teil in Kanada, in Goose Bay. In einem Bericht der Bundesregierung vom April 1992 teilt diese ihre Absicht mit, die gesamte Tornadoausbildung bis Ende 1995 nach Hollowman Airforce Space in New Mexico zu verlegen. Was ist aus dieser Absicht geworden? Vielleicht kann dies der Kollege Wilz beantworten. Laut Auskunft von Luftwaffengeneral Mende im Verteidigungsausschuß vom 24. Januar 1994 haben diese Planungen nach wie vor Bestand. Völlig unverständlich muß es in diesem Zusammenhang bleiben, daß die Bundesregierung die weit fortgeschrittene Entwicklung eines Tiefflugsimulators im Jahre 1993 abrupt gestoppt hat. ({3}) Durch die Einführung eines Tiefflugsimulators hätte ein Teil der notwendigen Ausbildung gewährleistet werden können. Der Herr Minister, der heute leider nicht anwesend sein kann, wofür wir Verständnis haben, hat trotz eines positiven internen Berichts über die Ergebnisse der Erprobung dieses Tiefflugsimulators dieses sinnvolle Projekt gekippt. Er hatte noch 1991 „positive Ausbildungsergebnisse bei gleichzeitiger weiterer Entlastung in der realen fliegerischen Ausbildungsübungstätigkeit" erwartet. Wenig später verschwand der Bericht im Panzerschrank, und das Simulatorprojekt war gestorben. 562 Millionen DM wurden für andere, offensichtlich wichtigere Rüstungsprojekte gebraucht. Der Jäger 90 läßt grüßen. Nein, meine Damen und Herren, es kann keine Rede davon sein, daß die SPD mit ihrem Antrag, den Tiefflug über bewohntem Gebiet einzustellen, die Ausbildung und Einsatzbereitschaft der Soldaten gefährdet. Die Bundesregierung hat es versäumt, vorhandene Alternativen zu nutzen. Wir fordern deshalb, daß noch im laufenden Haushaltsjahr im Verteidigungsetat Mittel für den Tiefflugsimulator eingestellt werden. ({4}) Wir verkennen auch nicht, daß es in Deutschland seit den 80er Jahren eine Reduzierung der Tiefflüge gegeben hat. Im Jahre 1990 verkündete der Bundeskanzler einen Stopp aller Tiefflüge unter 300 Metern. Es wurden allerdings zahlreiche Ausnahmen erteilt, so daß nach wie vor 1 600 Flugstunden im Jahr in diesem tiefen Höhenband gestattet sind. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen jetzt 1 700 Stunden Nachttiefflüge zulässig sein. Dieses Konzept sollte am 1. Januar in Kraft treten. Es ist im Moment auf nicht bezifferte Zeit verschoben. Was ist geschehen? Späte Einsicht der Bundesregierung, daß Tieffluglärm und gesundheitliche Beeinträchtigungen im Frieden den betroffenen Menschen doch nicht zuzumuten sind? Hessen, Thüringen und Bayern waren gegen die Pläne Sturm gelaufen. Tieffluggegner haben 150 000 Unterschriften übergeben - in der Tat eine beachtliche Zahl, die die Heftigkeit des Protestes zeigt. Landauf, landab protestieren Bürgermeister, Landräte und Regierungspräsidenten gegen den geplanten Nachttiefflug. „Landräte grollen gegen den Donner der Tornados", titelte die „Frankfurter Rundschau" am 3. November 1994. Luftwaffenoberst Dieter Bergner hält allerdings die ganze Aufregung für unbegründet, entstünden doch nur für wenige Sekunden Schallpegel von 94 Dezibel, was etwa dem Geräusch eines vorbeifahrenden Lastzuges entspreche. Und sowieso sei dies nur ein subjektiver Eindruck, schließlich habe auch ein normales Gespräch 60 Dezibel Lautstärke. Meine Damen und Herren, die geplagten Menschen werden verhöhnt, ihre gerechtfertigten Interessen hintangestellt und die gesundheitlichen Schädigungen geleugnet. Die Mediziner Olaf Richter und Michael Hadulla haben 30 Studien aus den 90er Jahren ausgewertet, die u. a. auf negative Folgen für das Gehör, für das Herz-Kreislauf-System und für das Immunsystem hinweisen. Wie immer sind wieder einmal die Kinder besonders gefährdet. Es geht hier, meine Damen und Herren, um die Abwägung zwischen einer klar erwiesenen Schädigung und einem zweifelhaften Nutzen. ({5}) Der Bundeswehr und den verbündeten Streitkräften entsteht kein Schaden, wenn sie auf Tiefflug und Luftkampf über besiedeltem Gebiet verzichten. Gefahren durch mögliche Unfälle und Abstürze werden vermieden, die Umweltverschmutzung wird reduziert. Die Menschen können mit Recht nicht begreifen, daß mitten im Frieden Krieg über ihren Köpfen geübt werden muß. ({6}) Stimmen Sie unserem Antrag zu und stellen Sie Tiefflüge und Flugkampfübungen über besiedeltem Gebiet ein! ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es spricht nun der Abgeordnete Benno Zierer.

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Die Opposition im Deutschen Bundestag hat ein neues altes Thema ausgegraben, nämlich militärische Tiefflüge. ({0}) Zu einem Zeitpunkt, zu dem der Tiefflugbetrieb unserer Bundeswehr praktisch kein öffentliches Thema mehr ist, fordern Grüne die Abschaffung und die SPD die Einstellung aller Tiefflüge. Ist das wirklich ernstgemeint? Ich war immer der Meinung, daß sich der größte Teil der SPD-Fraktion einer Politik verpflichtet fühlt, die seit jeher die Notwendigkeit einer Landesverteidigung und damit auch die Notwendigkeit der Bündnisverpflichtung seitens der Bundeswehr anerkennt. Dies bedingt eine einsatzfähige Bundeswehr einschließlich der Luftstreitkräfte. Ohne Tiefflüge gibt es keine wirksame Luftverteidigung. ({1}) Für die Einsatzfähigkeit ist es notwendig, daß die Besatzungen ihr Flugzeug beherrschen. Deshalb muß ausreichend geübt werden - auch in niedrigen Höhen. Dazu bedarf es hoher Professionalität, weil damit das Überleben der Piloten gewährleistet ist. Ein ausreichender Ausbildungsstand kann jedoch nicht zur Gänze im Simulator oder über ausländischem unbesiedeltem Gebiet erreicht werden. ({2}) Gleichwohl wurden in den letzten Jahren immer mehr Trainingsstunden ins Ausland, beispielsweise nach Kanada, verlagert, oder sie werden in Simulatoren absolviert. Der Technik sind hier aber Grenzen gesetzt. Hier, Frau Kollegin Zapf, muß ich Ihnen sagen: Man kann nicht alles nach dem Sankt-FloriansPrinzip ausrichten. Es ist zwar möglich, die Ausbildung im Ausland durchzuführen, aber nicht immer das Training. Gerade im Simulator sind dem Tiefflieger technische Grenzen gesetzt. ({3}) Dies alles interessiert die Opposition nicht. Ich sehe das so: Es ist unverhüllter Populismus, wenn SPD und GRÜNE eine Woche vor der Landtagswahl in Hessen mit ihren Anträgen hier im Bundestag versuchen, jeglichen Tiefflugbetrieb abzuschaffen. Ich bin überzeugt: Ohne Hessen-Wahl hätten wir heute keine Tiefflugdebatte. ({4}) Die Bevölkerung muß verunsichert werden. Sie, meine Damen, meine Herren, wollen hier ein Schrekkensszenario schaffen. Das ist unfair gegenüber dem Wähler. Ich bin enttäuscht von einer Partei, der ich mehr politische Verantwortung zugetraut hätte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Zapf?

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zierer, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß dies nicht die erste Tiefflugdebatte ist, in der die SPD identische Forderungen aufstellt, und daß nachweislich nicht bei allen diesen Debatten irgendeine Landtagswahl war? Würden Sie vielleicht auch behaupten, daß die vorletzte Bundestagswahl, vor der die Anweisung des Bundeskanzlers gegeben wurde, nicht mehr im niedrigen Höhenband - unter 300 Meter - zu fliegen, ein Grund war? ({0})

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens habe ich gesagt, es handele sich um ein neues Thema. Zweitens gibt es diese Tiefflüge sowieso nicht mehr. Unter 300 Metern werden derzeit neue Korridore ausgesucht, wober weitgehend Landesteile gewählt werden, die weniger dicht besiedelt sind.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Zierer, können Sie bestätigen - da das hier angesprochen worden ist -, daß die hessische Landesregierung in einer Bund-Länder-Besprechung gegen das Einrichten der Nachttiefflüge - soweit ich informiert bin - überhaupt keine Einwände erhoben hat? Daraus würde ich folgern, daß dieses Thema mit nahendem Landtagswahlkampf populistisch immer attraktiver wird.

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir ist das bekannt, Kollege Breuer. Ministerpräsident Eichel hatte grundsätzlich nichts gegen die Einrichtung neuer Tiefflugkorridore. Ähnlich war es bei seiner Äußerung zum Solidaritätszuschlag: Er hat zunächst ja gesagt, und jetzt sagt er nein. ({0}) Es ist richtig, meine Kolleginnen und Kollegen, daß sich die Bedrohungslage seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Abbau des Eisernen Vorhangs grundlegend gewandelt hat. Ein Krieg in Mitteleuropa gilt heute allgemein wenn auch nicht als ausgeschlossen, so doch als äußerst unwahrscheinlich. Dementsprechend ist der Umfang militärischer Tiefflöge seit Jahren drastisch eingeschränkt worden. Die im Tiefflug über der Bundesrepublik Deutschland geflogenen Stunden reduzierten sich von 88 000 im Jahre 1980 auf 41 000 im Jahre 1990 und auf insgesamt etwas über 16 000 im Jahre 1993. Das ist eine drastische Reduzierung. Auch die Luftwaffen unserer Nachbarländer verzichten nicht auf militärische Tiefflugübungen. Ihnen kommt zum Teil lediglich der Umstand zu Hilfe, daß sie über größere Regionen und dünnere Besiedelungen verfügen als wir in der Bundesrepublik. ({1}) Die Piloten der Bundesluftwaffe - auf diese Feststellung lege ich großen Wert - sind weder Luftrowdys noch Kindsköpfe, die aus reiner High-Tech-Begeisterung Tiefflüge absolvieren. ({2}) - Man hört das immer wieder. ({3}) Sie tun es sowohl wegen ihres pflichtgemäßen Dienstes zum Schutze unseres Landes wie auch aus Gränden wohlverstandenen Selbstschutzes zur Verveilkommnung ihres fliegerischen Könnens. Wir alle sollten an diesen Umstand erinnern, wenn wieder einmal von gewisser Seite das häßliche Bild vom fliegenden Bundeswehr-Rambo aufgebaut wird. ({4}) Es handelt sich um Männer, die einen harten und gefährlichen Beruf ausüben, der sie im Ernstfall ihr Leben kosten kann. Das Hauptargument der Tieffluggegner ist die Behauptung, Tiefflug mache krank. Hierzu gibt es eine umfangreiche, 1991 veröffentliche Studie des Bundesgesundheitsamts, ({5}) die seinerzeit insbesondere im Hinblick auf die 75Meter-Tiefstfluggebiete, die inzwischen längst abgeschafft sind, erstellt wurde. Heute ist es so, daß der Tiefflug in Höhe und Geschwindigkeit so weit zurückgenommen worden ist, daß gesundheitliche Schäden nicht zu befürchten sind. ({6}) Zu diesem Ergebnis kommt auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 14. Dezember 1994. ({7}) Selbstverständlich müssen wir den schutzwürdigen Interessen der Bevölkerung bei der Planung von Tieffluggebieten auch künftig Rechnung tragen. Inzwischen wurde die Mindestflughöhe über bewohnten Gebieten angehoben und der Tiefflugbetrieb erheblich ausgedünnt. Die Tiefflugkorridore werden teils neu geordnet, um nicht immer dieselben Regionen zu belasten. Die Gesamtbelastung ist gesunken, aber sie kann aus den dargelegten Gründen in absehbarer Zeit nicht auf Null zurückgeführt werden. Es wäre daher für uns Mandatsträger aller Parteien eine Pflicht der Lauterkeit, der betroffenen Bevölkerung die Zusammenhänge und Notwendigkeiten zu erläutern und um ihr Verständnis zu werben, anstatt sie aufzuhetzen und am sogenannten Feindbild der menschenverachtenden Luftwaffenführung und des rücksichtslosen Flugzeugführers zu zeichnen. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt ({0})?

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Zierer, ich frage Sie aus dem Kerzen Bayerns: Ist Ihnen als Oberpfälzer im Rahmen der Debatte um die gesundheitlichen Schäden auch die Studie bekannt, die im letzten Jahr vom Psychologischen Institut an der Katholischen Universität Eichstätt vorgelegt wurde? Sie hat klar erwiesen, daß Tiefflug bei Kindern schwere physiologische und psychologische Schäden verursacht, mithin die Konsequenz zuläßt, daß Tiefflugterror im Endergebnis faktisch Kindesmißhandlung ist.

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich halte solche Äußerungen wie Kindesmißhandlungen für mehr als übertrieben. Mir ist bekannt, daß es bisher zu keinerlei ernsthaften gesundheitlichen Schädigungen gekommen ist. Es gab einmal eine Verletzung - das ist einige Zeit her und etwas zum Schmunzeln -, als ein Fohlen durch einen darüberfliegenden Tornado erschreckt wurde und den danebenstehenden Menschen verletzt hat. ({0}) Aber ernsthafte gesundheitliche Schädigungen, wie Sie sie anführen, sind nicht bekannt. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Zapf?

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, meinetwegen. Wir machen heute eine Fragestunde.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Sie brauchen sie nicht zuzulassen. Aber bitte.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zierer, haben Sie die Studie des Bundesgesundheitsamtes nur partiell gelesen? ({0}) Denn offensichtlich haben Sie einen ganz gravierenden Satz der Studie - ich habe sie hier in der Hand; das ist nicht der einzige, aber ein sehr wichtiger Satz - überlesen, in dem davon die Rede ist, daß im Einzelfall mit Schäden nur dann zu rechnen sei, wenn beim Aufenthalt im Freien ein direkter und extrem tiefer Überflug mit sehr hoher Geschwindigkeit erlebt wird, so daß auch Schutzreaktionen wie das Zuhalten der Ohren nicht oder nicht rechtzeitig erfolgen können. - Aber so etwas passiert ja. Der durch das Einzelereignis gesetzte Schaden wird sich aber nur zum Teil sofort als Hörverlust oder persistierender Tinnitus äußern. Häufiger wird der irreversible Schaden einer Einzelexposition so klein sein, daß erst nach Summation mehrerer solcher irreversibler Defekte die Schwelle zum funktionell als Hörschwellenanhebung in Erscheinung tretenden Innerohrdefekt überschritten wird. Herr Kollege, stufen Sie das - und das ist nicht die einzige mögliche Schädigung - nicht als „gesundheitliche Schäden" ein? ({1})

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Zapf, der durch die hohe Geschwindigkeit - die ja nicht mehr zulässig ist; derzeit wird mit einer Höchstgeschwindigkeit von 780 km/h geflogen - verursachte Schwalleffekt ist im Vergleich zu früher abgeschwächt, wo das Erscheinen eines Tornados plötzlich geschah. Inzwischen weiß man: Er nähert sich allmählich. Diese Dinge gehören also der Vergangenheit an. ({0}) Ich darf fortfahren. In unseren modernen Industrieländern mit ihren hohen Infrastrukturdichten gibt es vielfach Belastungen, die für die Bevölkerung auch nicht angenehm sind. Wer z. B. an Autobahnen, an Flughäfen, an Bahngeländen wohnt ({1}) oder wer seine Wohnung in der Nähe von Industriebetrieben, Sportstadien oder ähnlichen Anlagen hat, kann ein Lied davon singen. Wenn militärischer TiefBenno Zierer flugbetrieb in - ich sage - möglichst schonender Form durchgeführt wird, erreicht sein Belastungspegel, über das Jahr gerechnet, kaum das Maß, mit denen die meisten der vorher genannten Einrichtungen gewöhnlich verbunden sind.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, ehe ich Sie frage, ob Sie weitere Zwischenfragen zulassen, möchte ich doch die Kollegen bitten, die Zusatzfragen so zu kontingentieren, ({0}) daß der Redner immerhin noch eine Chance hat, seine Rede zu halten. Wir nähern uns allmählich in der Tat dem Charakter einer Fragestunde. Das sollten Sie bei Ihren Überlegungen berücksichtigen. Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lederer zu?

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte zunächst meine Ausführungen fortsetzen. Vielleicht ist ja noch nachher Zeit zur Beantwortung von Fragen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gilt das auch für die gemeldete Zwischenfrage des Kollegen Graf?

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das gilt genauso für den Kollegen Graf. ({0}) Ich plädiere daher an Ihre Vernunft, meine Damen und Herren von der Opposition, die Debatte zu versachlichen und gerade im Hinblick auf die Landtagswahl in Hessen auf billige Effekthascherei zu verzichten. Lassen Sie uns gemeinsam eine weitere Reduzierung militärischer Tiefflüge anstreben, gleichzeitig aber auch für berechtigte Belange des militärischen Übungsbetriebes einstehen. Ich darf zum Schluß kommen und sagen: ({1}) Wir alle wären froh, wenn militärischer Schutz eines Tages überflüssig würde. Noch aber ist ein solcher Schutz notwendig und unverzichtbar. Wir Politiker tragen die Verantwortung für seine Wirksamkeit. Diese Wirksamkeit hängt in erheblichem Umfang vom Ausbildungsstand derer ab, die diesen Schutz zu gewährleisten haben, nämlich den Angehörigen unserer Streitkräfte. Deshalb ist Tiefflug auch künftig militärisch notwendig. ({2}) Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße heute abend im Saal ganz besonders den Inspekteur der Luftwaffe, Herrn General Mende. ({0}) Vor zwei Monaten lud das Verteidigungsministerium die neuen Abgeordneten des Bundestages zu einem Besuch der Teilstreitkräfte ein. Dabei wiesen hohe Luftwaffenoffiziere darauf hin, wie sehr das Tiefflugaufkommen in der Bundesrepublik seit 1990 reduziert worden sei. Es entstand der Eindruck, als würde eine weitere Reduzierung die Piloten und die Luftwaffe in ihrer Existenz treffen. Da ich 1965 einmal bei der Luftwaffe war, mußte ich mich nicht beherrschen, um Anflüge von Mitgefühl zu bekommen. Ebenfalls vor zwei Monaten wurden dem Verteidigungsminister die Unterschriften von mehr als 200 000 Bürgerinnen und Bürgern aus Nordbayern, Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern überreicht, mit denen diese gegen die Neueinrichtung von Nachttiefflugkorridoren protestierten. Diesem Protest - das wissen Sie ja - schlossen sich viele Gemeinden und Kreistage an. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinem Urteil vom Dezember 1994 das Bundesverteidigungsministerium ermächtigt, Tiefflugzonen ohne Beteiligung der Gemeinden auszuweisen. Angesichts dieser Entmündigung der Gemeinden steht dieses Parlament in einer besonderen politischen Verantwortung. ({1}) Offenkundig sind seit 1990 die Belastungen durch den militärischen Tiefflug in Ost- und Westdeutschland, vor allem in den alten Tiefflug-Areas zurückgegangen, und zwar - das ist schon gesagt worden - wegen der Auflösung bzw. des Abzugs fliegender Verbände und wegen der Heraufsetzung der allgemeinen Untergrenze auf 300 m. Damit sind Tiefflüge aber keineswegs zu einer zumutbaren Alltagsbelastung geworden; denn Tiefflüge bis 300 m gibt es weiterhin. Wenn Sie, Herr Zierer, hier auf Kirchenglocken zu sprechen kommen, muß ich feststellen, daß Ihnen offensichtlich noch nie ein Tiefflieger begegnet ist. Was ist denn das Typische an dem Tieffluglärm? Es ist der überfallartige Lärm in besonders kritischen Frequenzen. Damit werden insbesondere Säuglinge, Kleinkinder, alte und kranke Menschen schikaniert und belästigt. Ich habe ihn selbst im Kreis Coesfeld reichlich mitbekommen. Die immer noch zahlreichen Ausnahmen von der 300-m-Regel bekommen einzelne Gemeinden immer noch sehr deutlich zu spüren, z. B. im westlichen Münsterland, wo der Schöppinger Berg wieder zunehmend zu einem beliebten Angriffsziel wird.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön, Herr Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzter Herr Kollege, Sie reden von den Auswirkungen der Tiefflüge im Hinblick auf den Effekt des Erschreckens usw. Können Sie bestätigen, daß, nachdem die Mindestflughöhen ja doch entscheidend verändert worden sind, nämlich von ehemals 75 m auf heute 300 m, all diese Effekte potentiell gemildert worden sind?

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Potentiell sicher nicht. Sie sind - das habe ich ja gerade schon festgestellt - etwas abgemildert worden. Ich habe mich aber bei Leuten, die z. B. an diesem Schöppinger Berg leben, kundig gemacht und dabei erfahren, daß dieser überfallartige krasse Lärm immer noch zum Teil zehnmal am Tag zu spüren ist. Es hat eine Milderung gegeben. Das ist völlig klar; das wird nicht abgestritten. Durch die Ausweitung der Nachtflugkorridore kommen nun auch Landesteile in den zweifelhaften Genuß der Tiefflüge, die bisher bzw. in den letzten Jahren davon verschont waren. Ist es schließlich eine Alltagsbelastung, wenn Tiefflieger ihre bis zu drei Zentner Schadstoffe pro Stunde dank niedriger Flughöhe besonders konzentriert auf Natur und Menschen herablassen? ({0}) Sie wissen wahrscheinlich, daß heute zwei MarineTornados irrtümlich einen zivilen Tonnenleger beschossen haben. Zum Glück sind dabei keine Personen zu Schaden gekommen. Aber dieser Zwischenfall zeigt wieder, welche berühmten Restrisiken bestehen. Wir brauchen uns nur vorzustellen - Gott sei Dank ist in dieser Hinsicht noch nicht das Letzte passiert -, was bei Luftkampfübungen in der näheren Umgebung von chemischen und atomaren Anlagen passieren kann. Die jetzigen Sicherheitsabstände sind völlig unzureichend. Wenn das Verteidigungsministerium die Tiefflugbelastung mit der von schweren Lkw gleichsetzt, dann ist das erstens eine völlige Verharmlosung, und zweitens zeigt sich darin eine krasse Taubheit gegenüber der Bevölkerung. ({1}) Wofür nun überhaupt die Tiefflüge? Die betroffene Bevölkerung empfindet Tieffluglärm ganz und gar nicht wie z. B. den Klang der Martinshörner eines Feuerlöschzuges. Wer kann schon verstehen, wozu Tiefflugübungen eigentlich noch gut sein sollen? Die alten, aus der Ost-West-Konfrontation resultierenden Begründungen sind Gott sei Dank hinfällig. Und die neuen Begründungen? Kollegin Eichhorn von der CSU bemühte laut „Mittelfränkischer Zeitung" den Tschetschenienkrieg: „Wir wissen nicht, wie sich das weiterentwickelt." Für Ministerpräsident Stoiber trat in diesem Zusammenhang schon Schirinowski aus dem Horizont hervor. Schirinowski und Tschetschenienkrieg sind wahrhaftig große Probleme. Aber mit ihnen die Notwendigkeit von Tiefflugübungen zu begründen ist absurd und Ausdruck völliger politischer Hilflosigkeit. ({2}) Herr Zierer selbst hat gerade festgestellt, es gibt für die Bundesrepublik auf absehbare Zeit keine militärische Bedrohung. Wenn zugleich festgestellt wird, daß Piloten innerhalb weniger Wochen auf Tiefflug trainiert werden können, wofür dann überhaupt noch hier und heute Tiefflug? Hohe Offiziere der Bundeswehr, und zwar mehrere Kommandeure von Jagdbombergeschwadern, haben inzwischen deutlich gemacht: Tiefflug ist für Landesverteidigung in der Tat überflüssig, es geht um „out of area". Auch General Mende hat in einem „Focus"-Interview dazu klare Worte gefunden. Für den Fall, daß die Bundesregierung und das Parlament einen Auftrag zum Einsatz außerhalb des Bündnisgebietes erteilten, sei in den Einsatzgebieten mit modernen und leistungsfähigen Flugabwehrsystemen zu rechnen, die es zu überwinden gilt. Auf Grund physikalischer Gegebenheiten ist es notwendig solche Abwehrzonen im extremen Tiehlug zu durchdringen. Das müssen die Besatzungen immer wieder üben, nicht nur über den Wäldern Kanadas, sondern auch über dem eigenen Land. Ich komme zum Schluß. Tiefflüge haben nichts mit Landesverteidigung, sie haben alles mit der Vorbereitung der Bundeswehr auf Kampfeinsätze weltweit zu tun. ({3}) - Das ist einfach Klartext, nichts anderes. - Tiefflüge sind zweitens ein Beitrag zur Umweltverschmutzung. Aus diesen beiden ganz plausiblen Gründen wollen wir ihre Abschaffung. Deshalb aber wollen wir auch keinen Export des Tieffluges, wie ihn leider die SPD offenbar befürwortet; ({4}) denn niemand hat das Recht, den Ureinwohnern der Region um Goose Bay, den Innu-Indianern, die Tiefflüge ausländischer Luftwaffen zuzumuten. Das ist unserer Meinung nach der Gipfel des Sankt-FlorianPrinzips. Danke schön. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention zu der Rede des Kollegen Zierer gebe Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch ich dem Kollegen Graf das Wort. Vom Platz und in freier Rede, wenn es geht, Herr Kollege.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sehe mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, durch eine Aussage des Kollegen Zierer zu einer Kurzintervention veranlaßt, die ich von ihm so allerdings auch nicht erwartet hätte. Ich bin schon maßlos enttäuscht, wenn er der SPD-Bundestagsfraktion vorwirft, daß wir die Bevölkerung aufhetzen würden. Er reiht sich mit dieser Aussage nahtlos in die Aussagen des CSU-Generalsekretärs Protzner ein, der - das ist durch die Gazetten gegeistert - kürzlich gesagt hat, daß Tiefflieger zwar störende Geräusche verursachen, hingegen eine Schlagbohrmaschine, zur Nachtzeit eingesetzt, mehr Lärm verursacht. ({0}) - Herr Kollege Breuer, hören Sie bitte zu. Als einer, der aus dem Tieffluggebiet Nummer eins in dieser Republik kommt, wo in der heutigen Zeit zeitweilig pro Tag 200 Überflüge über einen Ortsteil erfolgen und mir Leute Briefe schreiben - ich kann sie Ihnen zeigen -, die diese Orte verlassen und andere aufsuchen, weil sie sich gestört fühlen, wo in der Sommerzeit Urlauber in bestimmten Gebieten diese Region verlassen, halte ich das, was hier ausgeführt wird, für eine Verhöhnung und ein Stück Zynismus. ({1}) Das hat nichts mit Wahlkampf zu tun; denn dieser Ort liegt in Niedersachsen. Da haben wir die absolute Mehrheit schon erreicht. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Zierer, Sie haben das Recht zu einer Erwiderung. Bitte schön.

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Graf, zumindest muß ich darauf erwidern, daß die zeitliche Plazierung der Debatte zumindest verdächtig ist. Wenn nächste Woche die Wahl in Hessen stattfindet, dann weiß man, warum so etwas kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. ({0}) Sie haben gesagt, Sie wohnen in einer Gegend, in der täglich 200 Überflüge stattfinden. ({1}) Ich kenne keine Gegend, in der das so ist. Ich nehme an, dazu wird anschließend der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, der Kollege Wilz, etwas zu sagen haben. 200 Überflüge pro Tag, das ist mir völlig unbekannt. ({2})

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, Sie haben das Mikrophon eingeschaltet. Ich darf Klarheit schaffen?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nein, entschuldigen Sie, das geht nicht. Sie können nicht auf eine Entgegnung noch einmal entgegnen. Ich würde gerne eine Debatte dieses Stils ermöglichen, aber helfen Sie uns dann bei der Änderung der Geschäftsordnung, wenn das der Fall werden soll. Ich gebe dem Kollegen Günter Nolting das Wort.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung zu dem, was der Kollege Graf gesagt hat: Ich komme selbst aus einem Landkreis, in dem es zwei Nachttiefflugrouten gibt. Ich weiß, wovon ich spreche, und werde auch im weiteren noch darauf eingehen. Ich möchte zu den vorliegenden Anträgen für die F.D.P.-Bundestagsfraktion entgegnen, daß ungeachtet der veränderten politischen Großwetterlage in Mitteleuropa weiterhin die Notwendigkeit der sicherheitspolitischen Vorsorge durch eigene Streitkräfte besteht. ({0}) Das bedeutet, daß für uns der Schutzauftrag der Bundeswehr und auch der NATO weiterbesteht. Daraus folgt, daß die Teilstreitkräfte der Bundeswehr auch in Zusammenarbeit mit unseren Bündnispartnern bestimmte militärische Aufträge üben müssen und auch üben dürfen. Für die Luftwaffe, über die wir heute sprechen, bedeutet das, daß dies nur auf Grund einer kontinuierlichen Ausbildung der Piloten möglich ist. Ein bestimmtes grundsätzliches Flugverhalten kann eben nur in der realen Umgebung erlernt und trainiert werden. Frau Kollegin Zapf, Sie wissen es ganz genau: Simulatoren allein reichen hier nicht aus. Wir haben gerade in der letzten Verteidigungsausschußsitzung darüber gesprochen. Sie wissen, daß Simulatoren, die Sie hier angesprochen haben, technisch noch nicht so ausgereift sind. ({1}) Meine Damen und Herren von der SPD, Sie fordern in Ihrem Antrag de facto - das wären jedenfalls die Konsequenzen -, die Bundesrepublik Deutschland solle auf die Ausübung der Souveränität im Bereich der Lufthoheit und auf die Kooperationsfähigkeit mit den Luftstreitkräften unserer Verbündeten verzichten. ({2}) Dem Ziel, das hier angesprochen wurde, die Belastung der Bevölkerung zu verringern, tragen wir seit Jahren Rechnung. Jeder, der im Verteidigungsausschuß mitarbeitet, weiß das; denn seit September 1990 ist der Tiefflug unter 300 m in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich verboten. ({3}) Faktum ist auch, Frau Kollegin Zapf, daß zwischen 1980 und 1994 die Zahl der Flugstunden im Tiefflugbereich um ca. 80 % reduziert wurde. 1980 gab es noch 88 000 Flugstunden, im vergangenen Jahr nur noch 16 300.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Zapf, nun können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, ist Ihnen nicht bekannt, daß es trotz dieser Zusage, nicht mehr im Höhenband unter 300 m zu fliegen, zahlreiche Ausnahmen gegeben hat? Ist Ihnen nicht bekannt - mir hat es jedenfalls das Verteidigungsministerium mitgeteilt -, daß Ausnahmegenehmigungen für 1 600 Stunden im kommenden Jahr als Kontingent für alle geplant sind? Ich denke, 1 600 Stunden bedeuten nicht, daß im niedrigen Höhenband nicht geflogen wird.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, das ist mir bekannt. Ich habe ausdrücke' :h gesagt: grundsätzlich verboten. ({0}) - Ja, Moment. Ich will Ihnen auch gerne darauf antworten. Ich habe recht. Der Kollege Zumkley bestätigt das. Er weiß ja auch, worüber wir hier sprechen. Ich habe ausdrücklich gesagt: grundsätzlich. Ich bin mit dem Verteidigungsministerium einer Meinung, daß es auch Ausnahmegenehmigungen geben muß; denn denken wir an den Golfkrieg. Es hat auch Einsätze britischer Piloten im Golfkrieg gegeben. Den Briten sind hier Ausnahmegenehmigungen erteilt worden. Wollen wir ihnen verbieten, sich auf Einsätze vorzubereiten? Wollen wir uns innerhalb des Bündnisses isolieren, indem wir diese Ausnahmegenehmigungen nicht mehr zulassen? Ich glaube, daß es dann mit unser Bündnisfähigkeit - auf die, glaube ich, ja auch Sie vielleicht Wert legen - nicht mehr gut bestellt wäre. ({1}) Meine Damen und Herren, ich will schnell noch die Nachttiefflugstrecken ansprechen. Frau Kollegin Zapf, Herr Kollege Nachtwei, Sie wissen, daß diese im Bereich der alten Bundesländer mittlerweile seit über 30 Jahren bestehen und hier zum Teil von der Bevölkerung überhaupt nicht beachtet werden. Da spreche ich meinen Wahlkreis an. Es hat in meinem Wahlkreis, obwohl es zwei Nachttiefflugrouten gibt, bis heute nicht eine einzige Beschwerde gegeben. ({2}) Sie wissen auch ganz genau, daß sich diese Nachttiefflugrouten nur marginal verändert haben, um auch zu einer gleichmäßigeren Verteilung über das gesamte Bundesgebiet zu kommen. ({3}) Dieses führt letztendlich auch zu einer Entlastung der einzelnen Regionen. Ich glaube, diejenigen, die bisher stärker belastet waren, haben auch ein Anrecht darauf. ({4}) Ich will weiter dazu sagen, daß es auch hier eine drastische Reduzierung gegeben hat. Wir hatten hier 1985 noch 4 200 Einsätze. 1993 waren es nur noch ca. 1 700. Wenn die Frage „Wo sollen denn unsere Piloten ihre Ausbildung absolvieren?" kommt - auf diese Ausbildung will ja auch die SPD nicht verzichten -, dann hat die SPD, wie wir es heute von Frau Kollegin Zapf gehört haben, eine ganz schnelle Antwort: natürlich im Ausland. Sankt Florian läßt grüßen. Auch hier werden eine Reihe von Fakten vollkommen außer acht gelassen: Erstens. Es findet bereits ein Maximum an Ausbildungseinheiten für die Piloten im Ausland statt; teils im benachbarten Europa, teils in Nordamerika, teils über See. Dazu gehört das gesamte sogenannte Hochleistungstraining. Auch hier zu Ihrer Information noch einmal ein paar Zahlen: 50 % der Tiefflugausbildung, ca. 75 % der Luft-Boden-Waffenausbildung und mehr als 80 % der Luftkampfausbildungsflüge werden 1995 in das Ausland bzw. über See verlagert sein. Hier frage ich noch einmal die SPD, wie weit wir durch einen weiteren Export die Solidarität unser Bündnispartner eigentlich noch überstrapazieren wollen. ({5}) Zweitens. Es findet ausbildungstechnisch nur noch absolut notwendiges Minimum, das sogenannte Basistraining, in Deutschland statt. Drittens. Eine weitere drastische Reduzierung der Ausbildung - so wie von Ihnen gefordert - wäre auch im Sinne der Sicherheit der Piloten unverantwortlich, die ihr Leben für unsere Sicherheit aufs Spiel setzen. ({6}) Viertens. Wir müssen auch daran denken, was es für unsere Soldaten der Luftwaffe und deren Familien bedeuten würde, wenn wir die Ausbildung insgesamt ins Ausland verlegen wollten. Ich denke, auch diese soziale Komponente sollten Sie bei Ihrem Antrag einmal berücksichtigen. Meine Damen und Herren, die F.D.P. fordert weiter - so wie wir das auch in den letzten Jahren gemacht haben, auch in dem Unterausschuß, den es ja in der letzen und vorletzten Legislaturperiode gegeben hat -, daß die Belastung der Bürger durch Flugausbildung auf das absolut notwendige Maß verringert wird, das im Sinne der Flugsicherheit und der Wahrung der Souveränität unseres Luftraumes und der Kooperationsfähigkeit im Bündnis geboten ist. Wir erwarten vom Bundesminister für Verteidigung allerdings, daß es hierzu eine umfassende und offene Informations- und Konsultationspolitik gibt, insbesondere gegenüber den betroffenen Ländern und Kommunen. Lassen Sie mich kurz noch den Antrag der GRÜNEN ansprechen. Die GRÜNEN sagen klar, daß sie ein Deutschland ohne Luftverteidigung wollen, ohne die Möglichkeit, die Souveränität unseres Luftraumes zu wahren. Sie fordern letztlich im Einklang mit ihren abstrusen sicherheitspolitischen Vorstellungen, ({7}) daß Deutschland wehrlos, daß Deutschland bündnisunfähig wird. Auch in dieser Frage zeigen die GRÜNEN wieder einmal ihre Politikunfähigkeit. ({8}) Zum Abschluß, Herr Präsident, will ich noch einmal kurz auf die Nachttiefflugrouten eingehen. Ich habe eingangs gesagt: Zwei Routen befinden sich in meinem Wahlkreis, eine davon geht über das Staatsbad Oeynhausen. Sie können sich gern einmal bei der Stadtverwaltung oder der Kurverwaltung erkundigen, ob es hier Probleme gibt. Frau Kollegin Zapf, ich will noch eines zum Abschluß sagen. Sie haben hier noch einmal die Simulatoren angesprochen und dafür plädiert, diese verstärkt einzusetzen. Zum einen wissen Sie - ich wiederhole mich hier -, daß diese technisch noch nicht ausgereift sind. Aber ich sage Ihnen in dieser Frage auch: Ich stimme der Einführung der Simulatoren schon jetzt zu, wenn Sie, Frau Zapf, auf Ihrer nächsten Reise ein Flugzeug benutzen, in dem der Pilot, der steuert, nur an einem Simulator ausgebildet wurde. Vielen Dank. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort nun dem Kollegen Gerhard Zwerenz.

Gerhard Zwerenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002833, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt offensichtlich der HochTief-Abend. Nachdem wir über Hochwasser gesprochen haben, sprechen wir jetzt über Tiefflüge, und nachdem uns von Frau Erika Steinbach erklärt worden ist, daß Hochwasser Naturereignisse sind, die es immer schon gegeben hat, wird uns jetzt so langsam beigebracht, daß Tiefflüge gewissermaßen ebenfalls aus dem Kalender kommende Naturereignisse sind. Da kann man einfach nichts machen. ({0}) In der Zwischenzeit ist uns beigebracht worden, daß Tieffluggeräusche mit Schlagbohrgeräuschen vergleichbar seien. Das kommt vom Generalsekretär der CSU, Protzner. Offensichtlich ist Ihnen bis jetzt entgangen - ich habe es jetzt gerade gehört -, daß heute zwei Tornados, die über der Ostsee unterwegs gewesen sind, offensichtlich mit einer Art Schlagbohrer aus Versehen ein Schiff versenkt haben, einen Bojenverleger. Sie haben nicht einmal richtig ernsthaft gebombt. Sie hatten nur Übungsmunition. Das hat genügt, ein Schiff zu versenken. Das sind also die „Schlagbohrer", die bei uns Tiefflüge veranstalten. Ich muß Ihnen auch sagen: Ich muß mich verwundern, daß Sie in Ihren Wahlkreisen tieffluggeschädigte Bürger haben, die Ihnen keine Briefe schreiben. Offensichtlich trauen sie Ihnen nicht zu, daß Sie etwas gegen die Tiefflüge unternehmen. ({1}) Ich brauche sie gar nicht groß zu sammeln, ich bekomme solche Dinge listenweise, einzelne Briefe, und die Absender sind nicht nur Leute, die der PDS angehören - da gibt es bekanntlich sehr wenige in Westdeutschland -, sondern das sind ganz normale Bürger, die offensichtlich gar nicht wissen, daß ich für die PDS im Bundestag bin. Aber soviel Vertrauen haben sie zu unsereinem, daß sie sagen: Nun geh mal hin und sage denen: So geht es nicht weiter, das ist uns zu laut. Wenn ich diese Briefe ansehe, interessieren mich wissenschaftliche Arbeiten sehr wenig. Ich finde darin durchaus vernünftige Worte. Da steht: Tiefflüge zerstören unsere Gesundheit, unsere alten Leute können nicht mehr, unsere Kranken und Kinder klagen, es ist über dem Schallpegel, es sind bei 300 Metern 94 Dezibel. Das sind alles Fachausdrücke, die die Leute in der Zwischenzeit kennen. Das sind nicht Leute, die das aus Spaß schreiben, sondern die das aus dem Schmerz heraus, den sie erleiden, tun. ({2}) Tiefflüge haben noch eine andere Angewohnheit. Sie zerstören die Umwelt. Es ist von den Schadstoffen gesprochen worden. Ich habe hier Zahlen, die ich den Briefen entnommen habe. Ich habe sie nicht nachgeprüft. Ich bin gar kein Tiefflieger, obwohl ich einen Freund habe, der im Zweiten Weltkrieg Tiefflieger gewesen ist. Sie wissen ja, von wem ich spreche. Ich gehörte ja auch zur Luftwaffe. Da wird von 4,6 Tonnen Kerosin bei einer Flugstunde gesprochen. Ob das stimmt oder nicht - bitte sehr. Das schreiben Leute, die sich damit beschäftigen. Nun denn! Es gibt Regionen - und das ist das dritte Wichtige -, die unter diesen Tiefflügen jetzt einfach abgewrackt werden. Das sind ganz bestimmte Regionen wie Ostthüringen oder die Rhön oder auch der Taunus, aus dem ich komme, wo nun versucht wird, mit Feriengebieten wirtschaftlich etwas auf die Füße zu kommen. Hier kommen die Tiefflüge als Hemmnisse natürlich sehr ungelegen. Es geht mir aber noch um etwas ganz anderes. Ich will sagen, daß wir selbstverständlich dem Antrag der SPD zustimmen, ({3}) auch wenn er uns nicht weit genug geht. Wir stimmen noch sehr viel mehr dem Antrag der GRÜNEN zu, der uns weit genug geht, weil wir der Meinung sind, daß man Tiefflüge nicht exportieren sollte. Wir exportieren ja sonst schon genug. Dann sollten wir die Tiefflüge erstens bei uns behalten und zweitens überhaupt nicht mehr veranstalten. ({4}) Wir sind heute also gar nicht so sehr oppositionell, sondern wir sind Sympathisanten der ganzen linken Seite des Hauses. ({5}) Wir sind das sehr gern; wir werden das noch sehr oft tun. Wenn es unsere Dinge sind, die hier verhandelt werden, dann stehen wir auch dahinter. Ich habe bisher noch niemanden kennengelernt, der sagt: Wir wollen eure Stimmen nicht. Es geht aber um etwas ganz anderes, meine Damen und Herren, um die eigentlichen Ziele der Tiefflüge. Was hat der Generalinspekteur Naumann eigentlich vor, wenn er sagt: Konflikte wollen wir in Zukunft von uns auf Distanz halten? Ich habe hier einen Artikel aus „Soldat und Technik", 1/95. Da wird in der Tat von Auf-Distanz-Halten der Konflikte gesprochen: Deutschland ist nicht mehr Frontstaat und hat zum ersten Male in seiner Geschichte nur Nachbarn, die Verbündete oder Freunde sind. Das ist ja ein sehr schönes Eingeständnis. Wozu brauchen wir dann diese Tiefflieger überhaupt noch? Aber dann kommt schon das nächste: Wir Deutschen haben nun zum ersten Mal in unserer Geschichte in diesem Jahrhundert die Möglichkeit, Konflikte von uns auf Distanz zu halten, wenn wir es schaffen, rechtzeitig und vorbeugend die nötigen politischen Schritte zu tun, wenn nötig auch militärisch zu tun.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Trotzdem ist Ihre Redezeit abgelaufen, Herr Kollege.

Gerhard Zwerenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002833, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lesen Sie einmal weiter, was dann kommt. Ich kann es Ihnen nicht vorlesen, weil meine Redezeit zu Ende ist. Aber Sie können ja selber lesen. Dann werden Sie merken, was ich noch sagen wollte. Danke schön. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Pflüger das Wort.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Zwerenz, ich möchte gerne auf einen Punkt eingehen, der bei Ihnen anklang, der aber auch vorhin, vor allen Dingen beim Kollegen Graf, eine Rolle gespielt hat. Ich finde es richtig, wenn ausgeführt wird, daß die Bürger in diesen Gebieten großen Belastungen ausgesetzt sind. Ich glaube, wir sollten in dieser Debatte bei aller Kontroverse überhaupt keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß jeder in diesem Haus weiß, was Tiefflüge an Belastung für die Betroffenen bedeuten. ({0}) Ich lege großen Wert darauf, das jedenfalls für meine Fraktion klarzustellen. Darin unterscheiden wir uns nicht. Nicht der Grad der Sensibilität gegenüber den Betroffenen ist das, was uns unterscheidet. Was uns unterscheidet, ist die Einschätzung der militärischen Notwendigkeit von Tiefflügen. Ich bin in der Tat der Auffassung: Das Entscheidende ist und bleibt für uns, daß es zur Landes- und Bündnisverteidigung notwendig ist, daß wir hier bei uns üben können, und daß wir das nicht nur in anderen Ländern tun und unseren Bündnispartnern solche Belastungen nicht in einer Tour zumuten. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Zwerenz, Sie können darauf antworten, wenn Sie möchten.

Gerhard Zwerenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002833, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich verzichte. Es hat sich nichts Neues ergeben. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann erteile ich dem Kollegen Gernot Erler das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie auf der Seite der Koalitionsfraktionen haben hier heute abend offensichtlich ein kleines Problem, ({0}) und zwar ärgern Sie sich ein bißchen darüber - das kann ich verstehen -, daß trotz der Verminderung der Zahl der Tiefflüge, die ja niemand bestreitet, nicht gleichzeitig die Zustimmung in der Bevölkerung zu dem, was an Tiefflügen übrigbleibt, zugenommen hat, sondern daß sie noch immer abnimmt. Nun ist die Frage, ob man das als Egoismus der Leute, als Sankt-Florians-Prinzip oder vielleicht als Unterlegenheit sozialdemokratischer Subversion deuten kann. Aber man kann vielleicht auch einmal fragen, ob die Leute nicht eigentlich recht haben, die fünf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges fragen, ob denn dieses ganze Getöse, diese ganze Gefahr, diese Luftkämpfe über ihren Köpfen noch notwendig sind. Das Ganze ist ja auch gefährlich. Das kann man nach mehr als 500 Unfällen sagen. Zufällig - vielleicht sagt Herr Wilz nachher noch etwas dazu - hat es auch heute wieder einen Zwischenfall gegeben. Tatsächlich ist nämlich die militärische Begründung für das Fortführen dieser Übungen auf tönernen Füßen gebaut, noch immer beruhend auf einem anachronistischen Szenario. Das möchte ich Ihnen gerne mit zwei Zitaten belegen. 1989, noch vor dem Ende des Kalten Krieges, lesen wir in einer Broschüre des Verteidigungsministeriums: Im Verteidigungsfall müssen unsere Luftstreitkräfte der Bedrohung durch die gegnerische Flugabwehr Rechnung tragen. Ich wiederhole: ... der Bedrohung durch die gegnerische Flugabwehr ... Nur im Tiefstflug, in ca. 30 Metern, besteht Aussicht, deren Erfassungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten zu mindern. Dafür und in dem präzisen Waffeneinsatz aus niedriger Höhe ist eine exakte Tiefflugnavigationsausbildung Voraussetzung. Das beruhte noch auf dem damals gültigen Szenario der sogenannten Vorwärtsverteidigung, daß der Westen die Fähigkeit braucht, im Falle eines Angriffs aus dem Osten mit überlegenen Kräften in einem Schlag gegen die gegnerischen Flughäfen und gegen die gegnerischen Aufmarschgebiete die im Osten stationierte gegnerische Luftabwehr zu unterlaufen und zu unterfliegen. Das ist der Hintergrund von diesem Zitat. Das Komische ist nun: Man sollte meinen, daß sich inzwischen ein bißchen was geändert hat. ({1}) - Eben, Herr Nolting. - Denn an der gleichen Stelle sind jetzt Länder, die Assoziationsstaaten der Europäischen Union sind, die im Augenblick ernsthaft dabei sind, die Voraussetzungen zu schaffen, um in die NATO einzutreten. Heute hören wir aus Washington, daß Herr Kohl nach wie vor auch dem dahinterliegenden Land, nämlich Rußland, Hilfe angedeihen lassen will. ({2}) - Hören Sie noch das zweite Zitat. Dann haben Sie vielleicht die Antwort, die Sie brauchen, Herr Breuer. Man müßte eigentlich denken, daß sich jetzt tatsächlich etwas geändert hat. Aber vielleicht staunen auch Sie, Herr Kollege, wenn Sie jetzt in einer Broschüre des Verteidigungsministeriums vom 5. September letzten Jahres folgendes lesen. Ich darf das zitieren: Moderne Flugabwehrsysteme sind sehr leistungsfähig. Ihr Erfassungs- und Waffenwirkungsbereich beginnt bereits in extrem niedrigen Höhen über Grund und wird hier im wesentlichen nur durch Erdkrümmung, Geländeerhöhung und systembedingte Reaktionszeit eingeschränkt. Dann geht es weiter: Daraus ergibt sich, daß beim Tiefflug mit hoher Geschwindigkeit, also bei Ausnutzung der Abschattung durch Erdkrümmung bzw. Geländeerhebung und durch schnelles Durchfliegen des Wirkungsbereiches, ein erheblicher Teil der Bedrohung seitens der gegnerischen Flugabwehr reduziert und die Durchsetzungs-/Überlebenschancen der eigenen Luftfahrzeuge deutlich erhöht werden können.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gut. Nun sollte der Kollege Herr Breuer erst einmal die Gelegenheit bekommen, seine Frage zu stellen, ehe Sie sie beantworten. ({0})

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, machen Sie sich keine Sorge um meine Leidensfähigkeit. Die ist ausgeprägt. Herr Kollege Erler, ich bin vor geraumer Zeit im ehemaligen Jugoslawien gewesen. ({0}) - Die kommt. - Ich habe dort mit Leuten sprechen können, die Angriffe serbischer Flugzeuge erlebt haben. Ich habe mir sehr gut vorstellen können, daß sie bei einem Tiefflug von westlichen Flugzeugen, die ihnen die Möglichkeit gegeben hätten, das nicht ertragen zu müssen, keinerlei Bedrohung empfunden hätten. Können Sie mir zustimmen, daß es heute um die Fragestellung geht, ob wir auch in Deutschland Piloten ausbilden wollen, die es uns gewährleisten, derartig gepeinigten Menschen möglicherweise dann, wenn es einfach nicht mehr geht, Entlastung zukommen zu lassen? Das ist doch nun leider die Realität in der heutigen Welt. ({1})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Breuer, für Ihre Frage auf Grund Ihrer Reiseerlebnisse möchte ich mich bedanken. ({0}) Aber ich will Ihnen sagen: Ich habe hier Zitate aus dem BMVg betreffend Luftverteidigung als Teil der Landesverteidigung geführt. Ich stelle fest - Sie haben mich in meinem Gedankengang unterbrochen -, daß es keinen Unterschied zwischen dem Szenario von vor 1989 und dem von heute gibt, daß immer noch behauptet wird, daß das eigentliche Problem die gegnerische Luftabwehr ist. Jetzt frage ich Sie einmal: Welche könnte das für die Bundeswehr sein? Welche gegnerische Luftabwehr ist denn damit gemeint? Die der Polen, die der Tschechen oder vielleicht die der Franzosen? Oder geht es vielleicht - das deuten Sie ja an - um ganz andere Szenarios? Das könnte vielleicht sein. ({1}) Aber warum wird das dann nicht gesagt? Herr Breuer, das ist das unlogische: Warum wird dann behauptet, daß man für diese Szenarios über deutschem Boden Tiefflugübungen machen muß, wenn es sich um Szenarien handelt, die ganz woanders angesiedelt sind? Uns ist doch immer gesagt worden: Eben weil es um dieses Ziel geht, müssen sie über Deutschland, über einem der am dichtesten besiedelten Gebiete in Europa üben. Das kriegen Sie logisch nicht mehr zusammen. ({2}) Diese beiden Vergleiche zeigen, daß es klar ist, weshalb die Bürger dieses Landes diesem Tiefflugumfang immer weniger zustimmen. Das ist besonders im letzten Jahr deutlich geworden, als dieses neue Nachttiefflugsystem eingeführt werden sollte. ({3}) - Ich bitte Sie, Herr Nolting, hören Sie mir doch zu. ({4}) Ich habe doch gesagt, seit 25 Jahren haben wir Alpha, Bravo und Charlie. Trotzdem ist das etwas anderes als das, was es vorher gab. Das wissen Sie doch auch. ({5}) Das ist auf 4 000 km erweitert worden. Das wissen Sie genausogut wie ich, und Sie kennen auch die Bedingungen: 10 km breite Schneisen, bis 300 m hoch, 780 km schnelle Strahlflugzeuge, 4 bis 20 Flüge pro Woche, im Fünfminutenabstand gegebenenfalls, 30 Minuten nach Sonnenuntergang bis Mitternacht und 1 700 Stunden im Jahr. Das ist das neue Konzept. Da ist doch klar, daß es Widerstand gibt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf von Einsiedel?

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Heinrich Einsiedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002645, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte folgende Frage stellen. Sie haben dem Kollegen Breuer nicht richtig geantwortet. Der Mann hat recht, wenn er sagt, daß, wenn man in Jugoslawien Einsätze fliegen will, man das vorher geübt haben muß. Ich bin der Meinung - ich habe eine gewisse Erfahrung, wenn ich auch nie Überschallflugzeuge geflogen habe -, daß man bei Tiefflügen in über 300 m Höhe - also nicht in 30 m Höhe - einen minimalen, fast auf Null herunterzurechnenden Ausbildungseffekt erbringt. Aber es geht nicht bloß um einen Einsatz in Bosnien. ({0}) - Die Frage ist: Haben Sie nicht gelesen - jetzt möchte ich Herrn Zwerenz weiter zitieren -, wie es weitergeht? Es geht doch um militärische Einsätze - präventiv, weltweit -, wie sie der Generalinspekteur der Bundeswehr in einer deutschen Militärzeitung predigt, wodurch die ganze deutsche Außenpolitik, wie sie bisher verkündet wird, in Frage gestellt wird. ({1})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben nur noch einmal meine Antwort, Graf von Einsiedel, verstärkt. Ich habe gerade auf den Widerspruch in der Konzeption hingewiesen, daß hier geübt wird, aber die Einsätze nach dem Ende des Kalten Krieges von der Logik gar nicht mehr sinnvoll sein können. Das habe ich Herrn Breuer geantwortet. Ich möchte gerne mit dem Hinweis darauf fortfahren, daß dieser Widerstand verständlich ist und daß das BMVg die Argumente selber liefert, und zwar im Zusammenhang mit den Flugverboten. Das BMVg weist selber darauf hin, daß es in Deutschland 3 000 Krankenanstalten im ländlichen Raum, 2 200 Heilbäder und staatlich anerkannte Luftkurorte, Tausende von Alten- und Pflegeheimen, aber auch zehn Nationalparks, neun Biosphärenreservate, 67 Naturparks, 6 000 Landschaftsschutzgebiete, 5 000 Naturschutzgebiete und ungezählte Naherholungsgebiete gibt. Dann wird es interessant: In einer ganz neuen Argumentation von der Hardthöhe heißt es dann mit einem Anflug von Resignation: Bei einer derartig großen Zahl von Überflugverboten würde praktisch ein Flugbeschränkungsgebiet an das andere grenzen, und es bliebe letztlich fast kein nutzbarer Luftraum übrig. Was heißt das in der Argumentation? Es ist wirklich eine interessante Begründung. Das heißt, wenn man eine sachgerechte Anwendung von Überflugverboten tatsächlich vornehmen würde, wäre gar kein Platz mehr für einen vertretbaren Tiefflug. Deswegen verhängt man solche sachgerechten Überflugverbote nicht, weil es den ganzen Laden zum Zusammenkrachen bringen würde, sondern man beschränkt sich dabei auf Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern. Dort darf nicht unter 600 m geflogen werden. Auch Kernkraftwerke dürfen in einem Umkreis 1,5 km nicht unter 600 m, wohl aber darüber überflogen werden. Dies ist mehr ein symbolischer Schutz als ein tatsächlich ernst zu nehmender. Das verstehen die Leute nicht. Das versteht z. B. der Bürgermeister von Bad Kissingen nicht, der an den Minister geschrieben und gesagt hat: Wir haben 1,8 Millionen Übernachtungen von Kurgästen im Jahr. Wir haben uns jetzt jahrelang Mühe gemacht, eine absolut ruhige Zone in diesem Kurgebiet zu schaffen, mit Verkehrsbeschränkungen usw., mit einem Richtwert von 35 Dezibel ab 20 Uhr. Und jetzt - das ist die Folge des veränderten Nachttiefflugsystems, Herr Nolting - ist dieser Kurort mit 1,8 Millionen Übernachtungen pro Jahr plötzlich in ein solches Nachttiefflugband geraten. ({0}) Ich habe eine ganze Menge Verständnis dafür, daß die Menschen sich mit dem Hinweis auf zwei kostenlosen Bürgertelefone nicht beruhigen lassen. Was folgt daraus? Es folgt daraus, daß man eben nicht von der militärischen Begründung her - wenn man nicht ein völlig anderes Szenario als Landesverteidigung und Bündnisverpflichtungen haben will - in irgendeiner Weise eine Fortführung von gefährlichen und besonders über der Bundesrepublik konzentrierten Luftkampfübungen vertreten kann, daß man eben auch diese Belastungen nicht länger vertreten kann. Aus dem Nachdenken der Leute wächst Unverständnis, aus dem Unverständnis wächst Kritik. Aus dieser Kritik wächst immer wieder - Sie werden es in Ihren Wahlkreisen erleben - auch Widerstand. Die einzige Möglichkeit, diesen Kreis zu durchbrechen, ist, endlich einmal einem der Anträge, die wir sonst immer wieder bringen werden, zuzustimmen - z. B. dem, den wir hier vorgelegt haben, nämlich über der dichtbesiedelten Bundesrepublik auf Luftkampfübungen und Tiefflug zu verzichten. Das wäre kein Schaden für unsere Sicherheit. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun hat zu guter Letzt der Parlamentarische Staatssekretär Wilz das Wort.

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der heutigen Debatte über Tiefflug geht es im Kern um die Frage, ob wir uns zum Auftrag der Bundeswehr für unser Land bekennen. ({0}) Ich hätte erwartet, daß wir uns gemeinsam zu unserer Verantwortung bekennen, den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr aussieht, wie die Ausbildung mit den berechtigten Anliegen, die wir als Bundeswehr haben, und mit den Interessen der Bevölkerung in Einklang zu bringen ist, aufzuklären, zu informieren. Das wäre die Pflicht gewesen. ({1}) Ich habe leider hier und da bei so manchem Beitrag den Eindruck gehabt, daß es eigentlich nur um Emotionen und um Stimmungsmache geht. Das halte ich nicht für gut. ({2}) Meine Damen und Herren, die Opposition redet hier immer von Belastungen. Wenn Sie das schon tun, ist meine herzliche Bitte, daß Sie es wenigstens korrekt tun. Es ist eben nicht richtig, wenn z. B. aus der Studie, wo es um Gesundheitsfragestellungen geht, generell zitiert wird. Die Frage, ob Gefährdungen vorstellbar wären, ist im Zusammenhang mit 75 m Flughöhe und einer Geschwindigkeit von über 420 Knoten gestellt worden. Und genau dieses beides ist normalerweise nicht gegeben. Deswegen ist es nicht korrekt, so zu fragen. Wenn der Kollege Erler von Vorwärtsverteidigung spricht, ist das genau falsch. Die NATO hat von Vorne-Verteidigung gesprochen und ihre Konzepte entsprechend ausgelegt. Wenn Sie so tun, als ob ein Risiko für Deutschland überhaupt nicht mehr vorstellbar sein könnte, weil wir unmittelbar von Partnern umgeben sind, dann versuchen Sie doch, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Was Sie sagen, ist einfach unrichtig. ({3}) Ich glaube, daß wir herausstellen sollten, was die Bundeswehr in diesen Tagen für großartige Beispiele von Hilfsbereitschaft und Solidarität liefert. ({4}) Wir haben allen Anlaß, den Angehörigen der Bundeswehr für ihren Dienst und ihren selbstlosen Einsatz Dank und Anerkennung zu sagen. ({5}) Sie sehen, meine Damen und Herren, wie doppelzüngig das ist, was Sie sagen: Unter anderem waren Flugzeuge der Luftwaffe im Einsatz zur topographischen Erfassung der Flutwelle an Rhein und Mosel. Sie haben wertvolle Ergebnisse geliefert, um die Hochwasservorhersage und die Schutzmaßnahmen zu verbessern. Das finde ich großartig. ({6}) Da sind auch die Transportflieger der Luftwaffe, die sich Tag für Tag in Gefahr begeben, um Nahrung und Medikamente für notleidende Menschen nach Sarajevo zu bringen, zusammen mit ihren alliierten Kameraden. Über 9 500 t in mehr als 1 200 Einsätzen haben sie bis heute transportiert. Ich finde, das ist unser aller Anerkennung wert. ({7}) Ich habe bei Ihnen manchmal den Eindruck, daß die Bundeswehr für kostenlose Hilfe gut ist. Die Bundeswehr ist aber kein Arbeitgeber, kein Investor und auch keine Hilfsorganisation, sondern Auftrag der Bundeswehr ist es, unsere Freiheit zu schützen, den Frieden zu sichern, die Stabilität zu fördern, und zwar in dem Sinne, daß wir Sicherheit für uns alle haben. Damit komme ich zum Auftrag der Luftwaffe im Rahmen dieser Sicherheit, dieses Friedens und dieser Stabilität. Das sollten Sie anerkennen. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lippelt?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Bitte schön.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß wir uns alle gern mit Ihnen vereinen würden in dem Dank für den Einsatz der Bundeswehr beim Transport von Lebensmitteln in Jugoslawien, wenn Sie diese Beispiele, bei denen wir uns alle darin einig sein könnten, daß wir sehr zu danken haben, nicht mißbrauchen würden zu Ihren eigenen finsteren Zwecken, um etwas zu legitimieren, was die Bevölkerung in diesem Lande quält? ({0})

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Zunächst finde ich es ja gut, wenn Sie meinen Dank unterstreichen, aber die Bezeichnung „finstere Zwecke", die Sie verwandt haben, weise ich mit Nachdruck zurück. Ich halte das für unglaublich! ({0}) Meine Damen und Herren, wir - dieses Parlament - haben der Bundeswehr ihren Auftrag gegeben. Die Bundeswehr muß der im Grundgesetz festgeschriebenen Schutzverpflichtung glaubhaft nachkommen können. Dafür muß sie einsatzbereit sein. Nur wer sich wirklich verteidigen kann und will, wird ernst genommen und kann sein politisches Gewicht für die Gestaltung des Friedens einsetzen. Die Vorgänge in den Krisenregionen Europas zeigen, daß wir in der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nicht nachlassen dürfen. Keiner kennt die Wechselfälle der Geschichte. Die Luftwaffe kann auch unter den veränderten Bedingungen ihren Auftrag nur erfüllen, wenn sie bereits im Frieden den notwendigen Leistungsstand erhält; es geht generell um die Ausbildung. Der erforderliche Grad der Ausbildung kann nicht von heute auf morgen erreicht werden. Das hochkomplexe System Flugeinsatz und die Flugsicherheit lassen das nicht zu. Wir können nicht auf Knopfdruck die Einsatzbereitschaft herstellen, zu der man kontinuierliche Ausbildung und Übung unter allen Einsatzbedingungen benötigt. Ebenso ist der Schutz des Luftraums über der Bundesrepublik Deutschland ein Teil des Friedensauftrags. Ich kenne keine Nation, die darauf verzichtet. Ich finde, die Anträge der Opposition sind schlicht weltfremd. Der Auftrag der Luftwaffe verlangt fundierte fliegerische Ausbildung und beständiges Üben. Hier, meine Damen und Herren, ist nichts binnen weniger Wochen zu machen, zu leisten oder umzusetzen. Wer behauptet, daß dies möglich sei, sagt eine glatte Unwahrheit. Wer das Üben nicht will, meine Damen und Herren, sollte das ehrlicherweise sagen. In Wahrheit müßte er dann die Luftwaffe abschaffen. Das wäre nämlich die Schlußfolgerung daraus. ({1}) Die Verantwortung für die Flugsicherheit und besonders die Verantwortung für die fliegenden Besatzungen verbieten es, den Anträgen der Opposition zu folgen. Wir haben der grundlegend veränderten Sicherheitslage konsequent Rechnung zu tragen, gerade auch im Flugbetrieb der Luftwaffe und in der Ausbildung der Kampfflugzeugbesatzungen. Wir haben, wie Sie gehört haben, schon im September 1990 die Mindesthöhe beim Tiefflug grundsätzlich auf über 300 Meter angehoben. Es gibt einige wenige Ausnahmetatbestände - darüber haben wir oft genug gesprochen -, aber grundsätzlich ist es nicht mehr gestattet, in geringerer Höhe zu fliegen. Wir haben die Zahl der Tiefflugstunden drastisch reduziert. Das ist hier vorgetragen worden. 88 000 Stunden waren es 1980 allein in Westdeutschland, 41 600 waren es noch 1990, im vergangenen Jahr weniger als 16 300. Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Gezielte Maßnahmen erlauben möglicherweise noch weitere, allerdings geringe Reduzierungen. Hinsichtlich des Tiefflugsimulators, Frau Kollegin Zapf, hat der Kollege Nolting zu Recht darauf hingewiesen, daß die Technologie nicht so ausgereift ist, daß man das könnte, was man wollte. Aber wir beabsichtigen - vielleicht helfen Sie uns dabei -, die sieben Tornado-Simulatoren mit der entwickelten Technik zu versehen und so zu verbessern. Wenn das in Ihrem Sinne ist und wenn Sie uns dabei unterstützen, dann wäre das ein guter Beitrag, den die Opposition hier leisten könnte. ({2}) Ich habe darauf hinzuweisen, daß die Zahl der Flugeinsätze im Nachttiefflug von 4 200 auf 1 700 zurückgegangen ist. Ebenso sind in den letzten Jahren etwa 80 % der Luftkampfausbildungsflüge, etwa 50 % der Tiefflugausbildung und rund 75 % der LuftBoden-Waffenausbildung ins Ausland oder über See verlagert worden. Frau Kollegin Zapf, wir werden 1996 auch Hollowman machen, beginnend mit zwölf Maschinen. Wir machen dort eine Hochwertausbildung. Ab 1999 ist die Grundausbildung geplant. Das heißt aber nicht, daß hier in Deutschland auf das normale Fliegen verzichtet werden könnte. Gleichwohl ist die komplette Verlagerung aller Tiefflüge ins Ausland keine realistische Option; denn dem Ausbildungsexport sind Grenzen gesetzt. Wir können und dürfen die Solidarität unserer Bündnispartner nicht überstrapazieren und auch nicht eigensüchtig ausnutzen. ({3}) Tiefflug über 300 Meter Höhe in Deutschland ist also ein unverzichtbar notwendiger integraler Bestandteil des gesamten komplexen Ausbildungs- und Übungsflugbetriebes unserer fliegenden Besatzungen. Wer das verneint, versteht in Wahrheit nichts von den Sachfragen, oder - was noch schlimmer wäre - wenn er es einfach verneinte, ohne sich mit Sachfragen zu befassen, wäre dieses Handeln verantwortungslos. Er würde vor allen Dingen auch gegen die Fürsorgepflicht verstoßen, die wir unseren Piloten und ihren Familien gegenüber haben. ({4}) Unsere Verantwortung verlangt, daß wir für unsere Freiheit und unser Wohlergehen auch die Mindestbelastungen solidarisch tragen. Das alles macht mehr als deutlich, daß wir die berechtigten Belange der Bevölkerung mit den Erfordernissen der Landesverteidigung in Einklang bringen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Marx?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Bitte schön.

Dorle Marx (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001429, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie jetzt wiederholt von der Fürsorgepflicht gegenüber den Piloten gesprochen haben, möchte ich Sie fragen: Könnten Sie sich nicht vorstellen, daß es diesen Piloten lieber wäre, nicht nachts über schlafende Kinder hinwegdonnern zu müssen, die ihre eigenen sein könnten, und im Frieden das zu beschädigen, nämlich die Gesundheit, was im Kriegsfall geschützt werden soll? ({0})

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Frau Kollegin, zunächst weise ich das letzte, das Sie hier gesagt haben, zurück. Aber ich weise auch auf folgendes hin: Es geht nicht um das, was vielleicht dem einzelnen Piloten oder dem einzelnen Politiker lieb oder nicht lieb wäre, sondern hier geht es um die Frage, wie wir einerseits dem Auftrag der Friedenssicherung gerecht werden und ihn andererseits mit den Erfordernissen unserer Bevölkerung in einen ausgewogenen, vernünftigen und verantwortungsbewußten Einklang bringen. Das ist die Aufgabe. Ich lade Sie ein, da mitzuwirken. Es wäre gut, wenn Sie das täten. ({0}) Soweit es irgend geht, werden in der Streckenführung dichtbesiedelte Gebiete und Ballungszentren ausgenommen. Aber jeder weiß und versteht, daß dies wegen der dichten Besiedlung unseres Landes nicht überall möglich ist. Das Konzept für die Flugausbildung der Luftwaffe und für das Streckensystem bei Nachtflügen sieht vor, das Flugaufkommen möglichst ausgewogen auf alle Bundesländer zu verteilen und nicht alles neu zu machen, weil es in Westdeutschland seit 30 Jahren Nachttiefflug gibt. Verehrte Frau Kollegin Zapf, wir hätten das ab Januar in Kraft setzen können. Aber ich hatte zugesagt, daß wir die Ausschüsse vorher informieren. Das konnten wir im Dezember nicht mehr, weil sie sich da erst konstituiert haben. Ich pflege aber Wort zu halten. Wir werden pro Woche nur noch 4 bis 20 Maschinen erleben - ich glaube, das ist ein großartiger Beitrag -, die nur noch mit begrenzten Geschwindigkeiten, nicht am Wochenende und nicht an Feiertagen fliegen. Ich bitte, auch die Bevölkerung darüber aufzuklären und uns in der Informationspflicht zu unterstützen. ({1}) Meine Damen und Herren, das bedeutet, daß es insgesamt nicht um ein Mehr, sondern um ein Weniger an Belastungen durch den Flugbetrieb geht. Wir genießen nicht nur gemeinsam Frieden, Freiheit und die wirtschaftlichen Vorteile der Stationierung, wir müssen auch gemeinsam die unvermeidlichen Belastungen tragen und fair teilen. Nicht zuletzt gebietet es die Fürsorgepflicht den Soldaten der Luftwaffe gegenüber, ihnen für ihren schwierigen Auftrag jede Unterstützung zu gewähren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir diesen Auftrag gerade in diesem Jahr - 40 Jahre Bundeswehr und fünf Jahre Armee der Einheit - Seite an Seite erfüllen, uns zu den Frauen und Männern der Bundeswehr bekennen und ihnen für das, was sie über viele Jahre hinweg geleistet haben, danken. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Zapf das Wort.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege und Staatssekretär Wilz, ich möchte hier in aller Form, aber auch in aller Schärfe die Unterstellungen, die in Ihrem Redebeitrag enthalten waren, für die SPD zurückweisen. ({0}) Wir haben weder nur mit hirnloser Emotionalität argumentiert noch uns von irgendeiner Verantwortung für die Bundeswehr distanziert, die wir sehr wohl immer wieder an den Tag legen. Wir haben uns keinerlei Verstoßes gegen die Fürsorgepflicht schuldig gemacht. Wir sind lediglich anderer Auffassung über die Notwendigkeiten und haben auch Belege dafür angeführt. Ich habe u. a. einen US-General, der hier in der Bundesrepublik einmal Kommandant der gesamten Luftflotte der USA war, zitiert. Ich denke, das kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Wir haben uns in keiner Weise - weder heute noch sonst irgendwann - einen Zweifel am Kern der Aufgabe der Bundeswehr zuschulden kommen lassen. Ich finde es unerhört, wenn Sie dies in einer unerträglich emotionalen Art und Weise mit den humanitären Einsätzen verquicken und damit unterstellen, daß wir die Leistungen, die die Piloten und die Bundeswehr insgesamt durch die humanitären Flüge erbracht haben, nicht genügend würdigten und ihnen dafür nicht dankten. ({1}) Der Unterschied zu unserer Auffassung besteht lediglich darin, daß wir glauben, daß wir angesichts der jetzigen Lage mit Vorwarnzeiten und alternativen Übungsmöglichkeiten auf den hohen Bereitschaftsgrad bezüglich der Fähigkeiten der Piloten, wie er früher erforderlich war, verzichten können, daß diese Fähigkeiten vielmehr in der Zeit, die ab der Vorwarnung zur Verfügung steht, eingeübt werden können und wir damit in ausreichendem Maße der Fürsorgepflicht für das Leben der Soldaten Sorge tragen, gleichzeitig aber die Fürsorgepflicht für die betroffene Bevölkerung nicht ganz aus den Augen lassen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu antworten.

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Verehrte Frau Kollegin! Erster Punkt: Ich habe nicht von hirnloser Emotionalität gesprochen, sondern ausschließlich die Frage nach der Emotionalität und der Stimmungsmache gestellt. Wenn Sie die Emotionalität für sich mit Hirnlosigkeit in Verbindung bringen wollen, ist das Ihre Sache. Ich habe nicht davon gesprochen. Zweiter Punkt: Wenn Sie jetzt versucht haben, deutlich zu machen, daß Sie ein Stück der Verantwortung mittragen wollen, dann hat Ihnen offensichtlich mein Beitrag geholfen, sich jetzt anders zu bekennen als gerade am Rednerpult. Herzlichen Dank dafür! ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/326 und 13/406 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Wir kommen zu Punkt 8 der Tagesordnung: Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS Kampfeinsätze der Bundeswehr - Drucksache 13/136 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({0}) Verteidigungsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort hat die Kollegin Andrea Lederer.

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden am Ende der heutigen Debatte folgendes erleben: Staatsminister Schäfer wird erklären, daß niemand, auch nicht die Bundesregierung, den Abzug der UN-Truppen aus Bosnien-Herzegowina wolle, daß die NATO-Planungen nach wie vor Eventualplanungen seien, die konkreten Vorbereitungen auch auf seiten der Bundeswehr nur für den Fall der Fälle getroffen würden, ({0}) der neue Brief der NATO an die Bundesregierung keine verbindliche Anfrage nach Bundeswehrtruppen darstelle, daß folgerichtig auch die neue Antwort der Bundesregierung keinen präjudizierenden Charakter habe und es demzufolge auch nicht nötig sei, das Parlament damit zu befassen und eine konstitutive Entscheidung herbeizuführen. ({1}) Wer es glaubt, wird selig, kann ich da nur sagen. Die Bewertung der Lage im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ist die eine Sache, die Vorbereitung der NATO auf einen möglichen Abzug der UN-Truppen und die Beteiligung der Bundeswehr hieran eine andere. Um letzteres geht es in dieser Debatte. Wir wollen hierzu nicht nur eine Debatte, wir wollen die Öffentlichkeit, die zu dieser Stunde hier fast nicht mehr vorhanden ist, auf folgende Entwicklung aufmerksam machen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Helmut Schäfer?

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Oh ja, gerne.

Helmut Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001932, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, angesichts der Tatsache, daß Sie gerade eben festgestellt haben, was ich nachher in meiner Rede sagen werde, erlaube ich mir nur die Frage, ob Sie in der Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt schon so weit gediehen sind, daß Sie meine Redemanuskripte bereits vorher zugestellt bekommen. Das wäre ja ein Fortschritt in der Zusammenarbeit zwischen Ihrer Partei und der Bundesregierung.

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Abgeordneter Schäfer, es würde wahrscheinlich Sie erschrecken, wenn es mit der Zusammenarbeit so weit gediehen wäre. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich davon ausgehe, daß die Rede so verlaufen wird, wie ich es gerade geschildert habe. Das genau ergibt sich aus der Zusammenarbeit mit Ihnen im Auswärtigen Ausschuß. Nichts anderes erklären Sie dort. Es tut mir leid, es handelt sich dabei, finde ich, um die Öffentlichkeit täuschende Sprechblasen. ({0}) Zur Sache! Im Dezember richtete die NATO die Frage an die Bundesregierung, ob und in welchem Umfang die Bundesregierung bereit sei, Truppen für die Planungen eines UN-Abzugs zur Verfügung zu stellen. Artig informierte die Bundesregierung die Ausschüsse und erklärte, es handele sich um eine unverbindliche Anfrage. Sie wolle sie bejahen, allerdings noch keine konkreten Angaben über die Art der Unterstützung machen, die sie leisten wolle. Das erfolgt u. a. mit dem Argument, man wolle nicht den Eindruck erwecken, daß hier eine Entscheidung fallen solle, ohne das Parlament zu beteiligen. Die Antwort sei also unverbindlich, und der SPD-Obmann nickte dazu. Nunmehr richtet sich die neue Anfrage genau auf die Konkretisierung dieses Angebots. Die Planungen sind weitgehend abgeschlossen. Die NATO will also wissen, was sie von welchem Staat im Fall des Abzugs bekommt - aus ihrer Sicht logisch. Wieder soll ein bejahender Brief von der Bundesregierung diese Planungen weiter stützen. Wiederum ist alles unverbindlich, die Antwort ebenso wie die Anfrage, und leider nickt der SPD-Obmann wiederum. Immer noch muß der Bundestag mit der Frage nicht befaßt werden. Ich kann mir die Argumentation lebhaft vorstellen, die dann vorgetragen wird, wenn es denn zum konkreten Abzug kommen sollte, den ja angeblich niemand will. Das zentrale Argument der Bundesregierung wird sein, daß man sich nunmehr nicht lächerlich machen könne. Die NATO rechne doch fest mit spezifiziert zugesagten Bundeswehrtruppen. Sie habe ihre Planungen darauf ausgerichtet. Und dann kommen noch ein paar sattsam bekannte Floskeln dazu: kein Sonderweg für Deutschland, und es gehe um die Hilfe für die Bündnispartner. Ich sage Ihnen eines: Die bundesdeutsche Öffentlichkeit wird für dumm verkauft, das Parlament vorgeführt. Politik und Militär schaffen in diesem Land derzeit Fakten unter Umgehung einer Kontrolle durch das Parlament. Wir haben das Urteil aus Karlsruhe scharf kritisiert, weil es leider diese Sicherheitspolitik, die Militarisierung der deutschen Außenpolitik, zuläßt. Ich habe aber in der damaligen Debatte von dem einzigen Wermutstropfen für die Bundesregierung gesprochen, der notwendigen Parlamentsbeteiligung. Was Sie mit Ihrer Politik machen, ist, diese winzige Karlsruher Hürde auch noch zu konterkarieren, nämlich Entscheidungen zu treffen und danach das Parlament zu fragen, ob es diese abnicken will. ({1}) - Das genau ist die Situation. Seit Dezember steht fest, daß mindestens 70 Offiziere der Bundeswehr im Falle des Abzugs auf dem Boden Bosnien-Herzegowinas im Hauptquartier der NATO stationiert werden sollen. Zugesagt sind ECR- Tornados, Tornados für die Aufklärung sowie weitere Flugzeuge und ein großes Marinekontingent. Wir wissen, daß die Aufstellung der Krisenreaktionskräfte auf Hochtouren läuft. Wir wissen, daß bereits jetzt z. B. in der Luftlande- und Lufttransportschule in Altenstadt Szenarien trainiert werden, die Bundeswehrsoldaten auf einen kämpferischen Einsatz in Jugoslawien vorbereiten sollen. Wir haben einen Paradigmenwechsel hinsichtlich des Selbstverständnisses der Soldaten und Offiziere, hinsichtlich der Rolle der Bundeswehr und der Mittel der deutschen Außenpolitik zu gewärtigen . Es ist hier schon mehrfach der skandalöse Beitrag des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Klaus Naumann, in der Zeitung „Soldat und Technik" erwähnt worden. Das ist der ideologische und strategische Hintergrund für all die Planungen, die derzeit laufen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Gern.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Lederer, wären Sie, nachdem Sie gestern an der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses von Anfang bis Ende teilgenommen haben, bereit, von Ihrem Gesäusel zu einem konkreten Vorwurf an die Bundesregierung überzugehen und die Bundesregierung hier zu bezichtigen, daß sie den Auswärtigen Ausschuß gestern bewußt angelogen hat, indem sie erklärt hat, es handele sich bei der jetzigen Antwort auf den neuen Brief der NATO ({0}) nicht um eine Erklärung, die eine Bindungswirkung im Hinblick auf eine spätere Verpflichtung dieses Hauses auslösen würde, hinsichtlich Bündnisverpflichtungen das abzusegnen, was dann angefordert werden würde? Sind Sie also bereit, statt sich hier in vagen Vermutungen zu ergehen, ganz klipp und klar die beleidigende Behauptung in den Raum zu stellen, daß die Bundesregierung in Gestalt der Herren Kinkel und Schönbohm den Auswärtigen Ausschuß gestern bewußt angelogen hat?

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Irmer, erstens zeigt Ihre Fragestellung, daß Sie von dem, was ich gesagt habe, offenkundig getroffen sind, weil Sie nämlich selber befürchten müssen, daß die Bundesregierung, der Ihre Fraktion angehört, hier vermutlich in einer österlichen Sondersitzung stehen und erklären wird: Wir können nun nicht mehr zurück; wir haben der NATO das und das zugesagt; sonst brechen die gesamten Planungen zusammen. Zweitens habe ich in meiner Rede nicht von Lüge geredet. Ich räume ohne Probleme ein - ich habe die Sitzung von Anfang bis Ende verfolgt -, daß sowohl der Außenminister Kinkel als auch Herr Schönbohm erklärt haben, es sei alles unverbindlich. Als aber ein Kollege die Frage aufgeworfen hat - ich meine sogar, mich zu erinnern, daß Sie, Herr Irmer, es waren -, ob der Bundestag noch immer nein sagen könne - wissen Sie, was da im Ausschuß passiert ist? -, haben alle gelacht, Ihre Fraktion hat gelacht, die SPD-Fraktion hat gelacht, weil es eine solch absurde Vorstellung ist, daß über Wochen Vorbereitungen getroffen werden, Zusagen gemacht werden, bei Bündnispartnern eine breite Zustimmung in diesem Land suggeriert wird und dann unmittelbar, bevor es hier losgehen soll, ein Nein erfolgt. Das ist genau die Politik, die Sie machen: scheibchenweise vorbereiten, die Vorbereitungen innerhalb der Bundeswehr und der NATO durchziehen. Dann sollen wir hier eine Entscheidung abnicken, wenn sie woanders schon längst getroffen worden ist. Das werfe ich vor, und das werde ich hier noch hundertmal vorwerfen. ({0}) Ich will noch ergänzen, was Kollege Zwerenz und Kollege Einsiedel hier bereits zu dem für meinen Geschmack zentralen Zitat vorgetragen haben. Dieser Beitrag, Herr Irmer, ist der ideologische und strategische Hintergrund für das, was die Bundeswehr an Aufgabe haben soll und wie sich die deutsche Außenpolitik offensichtlich gestalten soll. Vielleicht lesen Sie ihn einmal, ich kann ihn Ihnen gern zukommen lassen. Da sagt Herr Naumann: Gefordert ist eine neue strategische Aktion bis hin zur Prävention, um das politische Ziel der Konfliktverhinderung durch flexible Nutzung des gesamten Spektrums politischer, wirtschaftlicher und militärischer Mittel zu erreichen. Das ist es. Militärische Mittel zur Prävention? Zur Prävention von Krieg? Krieg um Prävention gegen einen Krieg zu erreichen? Erklären Sie das doch bitte einmal. Das ist nichts anderes als die Militarisierung der Außenpolitik, der Versuch, bestimmte Interessen u. a. mit militärischen Mitteln durchzusetzen. ({1}) Ich möchte noch einige Sätze zur Lage in Jugoslawien sagen. Das Schlimme ist wirklich: Alle sind sich einig, daß ein Abzug der UN-Truppen eine katastrophale Wirkung hätte. Es sind sich sehr viele darüber einig - u. a. gibt es dazu sogar Äußerungen vom amerikanischen Verteidigungsminister -, daß die Diskussion hierüber und die in der Öffentlichkeit gezielt zur Schau gestellte intensive und konkrete Vorbereitung auf einen solchen Abzug bereits die Wirkungen haben, die unter Umständen ein solcher Abzug noch in viel schlimmerem Ausmaß herbeiführt. Das ist ein ganz katastrophales Signal für diejenigen, die sich tatsächlich noch um eine friedliche Lösung dieses schrecklichen Krieges bemühen. Natürlich ist auch die Entscheidung Tudjmans, das Mandat für die UNPROFOR-Truppen in Kroatien nicht zu verlängern, ein verheerendes Signal. Sollte es dabei bleiben, ist sicherlich eine Eskalation dieses Krieges vorprogrammiert. Deshalb kann es nur darum gehen, eine friedliche Lösung dieses Konflikts herbeizuführen, und das möglichst vor dem Auslaufen des kroatischen Mandats. Zu begrüßen ist daher die Initiative des französischen Außenminister Juppé zu einer Jugoslawien-Konferenz. Zu fordern ist, daß die Bundesregierung, und zwar auch nach der Reise des Außenministers, nicht aufhört, ihre Beziehungen nach Kroatien wahrzunehmen und den Präsidenten Tudjman davon abzuhalten, das Mandat nicht zu verlängern. Sie haben in dieser Frage eine besondere Verantwortung, weil es nämlich die Bundesregierung war, die mit einer sehr schnellen und sehr problematischen Anerkennungspolitik zu einer sehr gefährlichen Situation beigetragen hat. Diese Verantwortung muß wahrgenommen werden. ({2}) Diese diplomatischen Anstrengungen müssen auf der innenpolitischen Seite eine Entsprechung erfahren: Anerkennung von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern als politische Flüchtlinge, keine Abschiebung von Flüchtlingen in das ehemalige Jugoslawien, finanzielle Stärkung der zivilen und humanitären Organisationen. Militärisches Gerassel aber, wie es wieder einmal die bundesdeutsche Diskussion und auch die NATO- Planungen prägt, ist nicht nur gefährlich, sondern auch kontraproduktiv. Schluß mit dieser katastrophalen Diskussion über die NATO-Intervention zum Zweck des Abzugs, den angeblich keiner will! Schluß mit der Vorbereitung einer deutschen Beteiligung hieran. Belügen Sie nicht die deutsche Öffentlichkeit, indem Sie Fakten schaffen, die in ihrer militarisierten Logik nicht mehr rückgängig zu machen sind. Ich danke. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun der Abgeordnete Bierling.

Hans Dirk Bierling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000179, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben zu dieser späten Stunde - völlig überflüssigerweise, wie ich meine - über einen Antrag der PDS zu beraten, der wohl von ihr selbst nicht ernstgenommen werden kann. ({0}) Rechtsanwälte wie Gysi oder Lederer sollten doch wohl fähig sein, Gerichtsurteile zu lesen. Ich kann also eigentlich nur annehmen, daß die PDS den krampfhaften Versuch unternimmt, sich zum Hüter parlamentarischer Rechte in der Demokratie hochzustilisieren. ({1}) Hochverehrte Frau Kollegin Lederer - - Nein, streichen Sie lieber das „hochverehrte"; man soll vor diesem Haus nicht lügen. Kollegin Lederer, Sie haben gesagt, Sie hätten das Urteil aus Karlsruhe kritisiert, und damit haben Sie letztlich bewiesen, daß Sie die Verfassungsorgane oder zumindest eines der Verfassungsorgane, für deren Rechte Sie hier eintreten, nur sehr zum Teil respektieren. ({2}) Demagogie, Frau Lederer, ist auch kein Mittel einer redlichen Politik. Aber ich glaube, wir sollten, da auch nicht alle Kollegen, die heute hier sind, gestern Gelegenheit hatten, an der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses teilzunehmen, zur Sache reden. Der Bundestag hat über Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets mit einfacher Mehrheit zu beschließen, sagt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zu diesem Problemkreis ganz eindeutig aus. Aber ich betone noch einmal: über Einsätze! Die Notwendigkeit der Umstrukturierung der Bundeswehr und der Aufstellung von Krisenreaktionskräften ist eine politische Entscheidung, die in der seit 1989/90 veränderten Situation Deutschlands im Deutschen Bundestag wohl kaum noch jemand ernsthaft bezweifeln wird. Unsere Einbindung in die NATO und unsere Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen fordern von uns Solidarität gegenüber den Partnern und in unserem Engagement für Krisengebiete der Welt, in denen Menschen unsagbares Leid erdulden. Wir müssen heute nicht ein weiteres Mal die ganze Diskussion darüber führen, ob und inwieweit sich Deutschland an militärischen Einsätzen im früheren Jugoslawien beteiligen soll und darf. ({3}) Die eben schon erwähnte Solidarität fordert von uns, daß wir wenigstens in Krisensituationen wie dem eventuell erforderlichen Abzug der Blauhelme aus dem Hexenkessel Bosnien Hilfestellung leisten, um Schaden von den dort immerhin im Auftrag der vereinten Nationen eingesetzten Soldaten und Zivilisten abwenden zu helfen. Auch für diesen eventuellen Zweck verfügt die Bundeswehr heute über die Zwarteilung in Krisenreaktionskräfte und solche zur Landdesverteidigung. Der politische Auftrag im Rahmen der Bündnisse, der UNO oder der OSZE verlangt aber gerade fur Krisenreaktionskräfte eine handwerkliche Ausbildung und Schulung, die anders geartet ist als die von reinen Landesverteidigungskräften. Es ist eine Selbstverständlichkeit für alle Exekutivorgange ihr Ausbildung so zu betreiben, daß sie für alle Eventual fälle zur Verfügung stehen, die im Rahmen ihres Auftrages vorkommen könnten. Ein Verteidigungsminister müßte vom Parlament wohl scharf gerügt werden, wenn er insofern seiner Pflicht zum Wohle des Landes und zur Sicherheit der ihm anvertrauten Soldaten nicht nachkäme. ({4}) Nun haben wir es im Falle eines eventuell erforderlich werdenden Out-of-area-Einsatzes zum Schutze und zur Unterstützung des Abzuges der Blauhelme aus Bosnien mit einem Hilfeersuchen zu tun, das zur Zeit noch gar nicht offiziell vorliegt. Das muß man wohl noch einmal sagen. Der Bundesregierung liegt der bekannte Brief der NATO vom Dezember letzten Jahres vor, in dem um Aufklärung darüber gebeten wird, mit welcher deutscher Hilfe man im Ernstfall rechnen könne. Dazu gibt es die Antwort der Bundesregierung vom 20. Dezember 1994. Über beide Briefe wurden die zuständigen Ausschüsse vom 21. Dezember 1994 ausführlich informiert. Seit diesem Montag nun liegt der Bundesregierung ein weiterer Brief vor, der um detailliertere Angaben bittet. ({5}) Über diesen wurden die Fraktionsvorsitzenden und die Ausschüsse gestern ebenfalls informiert. Auch auf diesen Brief wird die NATO eine Antwort erhalten, aber auch durch diese Antwort ist ein Einsatz noch nicht automatisch programmiert. Sobald aber ein präzises Hilfeersuchen vorliegt, muß die Bundesregierung sofort entscheiden und das Ergebnis dem Parlament zur Beschlußfassung zuleiten. Es entsteht also auch im Falle eines Hilfeersuchens kein Automatismus, und die derzeitige Planung der NATO - auch das muß man hier noch einmal sagen - für eine Rückholaktion der Blauhelme sieht einen Vier-Stufen-Plan vor, in dessen dritter Phase deutsche Soldaten überhaupt erst in Frage kämen. Damit ist die notwendige Zeit für Regierungsentscheidungen und das parlamentarische Verfahren wohl sichergestellt. Eine Einsatzentscheidung ist also bis heute nicht getroffen, und das Parlament wird auch weiter über vorbereitende Schritte informiert. ({6}) - Ja, natürlich. Aber Sie sehen ja, Frau Lederer ist dies offenbar nicht bekannt. ({7}) Wenn allerdings der Bundesminister für Verteidigung und in Frage kommende Teile der Bundeswehr die Zeit nicht nutzen würden, um sich auf Aufgaben vorzubereiten, die eventuell auf sie zukommen, würden wir alle hier im Deutschen Bundestag wohl jetzt oder später Kritik üben, und das mit Recht. Die Gruppe der PDS hat also mit Drucksache 13/ 136 beantragt, daß jegliche vorbereitende Aktivitäten zur Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Rahmen der Maßnahmen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien einzustellen bzw. zu unterlassen seien. Sie begründet das mit der noch fehlenden Entscheidung des Deutschen Bundestages. Aber gerade darauf ging ich ja gründlich ein: Diese Entscheidung ist für den Einsatz, nicht aber für die Vorbereitung notwendig. Nach Mitteilung des Bundesministeriums für Verteidigung kann heute festgestellt werden - ich habe da noch einmal gründlich nachgefragt -, daß eine spezielle Vorbereitung oder Ausbildung für die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens eventuell einzusetzenden Verbände zur Zeit gar nicht stattfindet. Demzufolge ist der vorliegende Antrag der PDS im Grunde gegenstandslos. Die CDU/CSU-Fraktion wird diesen Antrag aus den genannten Gründen ablehnen. ({8}) Im übrigen - und damit lassen Sie mich schließen - können wir die selbsternannten Hüter der Demokratie bei der PDS wohl mit gutem Gewissen insofern beruhigen, als die Bundesrepublik Deutschland selbst im Falle der Vorbereitung eines Hilfseinsatzes für den Abzug von Blauhelmen aus Bosnien diese Vorbereitung nicht so weit treiben wird, wie das Ihre Vorgängerpartei mit Honecker und Krenz im Falle der Planung für den Einmarsch in die Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren tat. In der Bundesrepublik Deutschland sind heute weder bereits Kriegsorden geprägt noch Frontberichterstatter benannt, wie das seinerzeit in der DDR war. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Voigt.

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Die PDS kritisiert die Einsätze der UN-Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien mit Begriffen, die weder völkerrechtlich begründet noch politisch der Lage in Bosnien-Herzogowina angemessen sind. Die Einsätze der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien fußen völkerrechtlich auf den entsprechenden beiden Kapiteln der UNO-Charta. In beiden Kapiteln kommt der Begriff der Kampfeinsätze nicht vor. Dieser Begriff eignet sich bei uns zum innenpolitischen Schlagabtausch, aber er ist ungeeignet für eine präzise völkerrechtliche Beschreibung dessen, was die Vereinten Nationen heute im ehemaligen Jugoslawien tun. ({0}) Zweitens. Der Begriff „Kampfeinsätze" führt auch politisch in die Irre. Der Auftrag der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien ist es, Menschen zu helfen, zwischen Kämpfenden zu schlichten, Waffenstillstände zu überwachen, also zu einer Verringerung und Einhegung von Kampfhandlungen beizutragen. ({1}) Es ist nicht ihr Auftrag, die militärischen Kräfteverhältnisse zwischen den bosnischen Regierungstruppen, den bosnischen Serben und den kroatischen Verbänden zu verändern. Das ist es übrigens, was die amerikanischen Konservativen gerade kritisieren. Es ist auch nicht ihr Auftrag, die Kampfparteien mit militärischen Mitteln zu einer Einstellung der Kampfhandlungen oder zur Annahme von Friedensplänen zu zwingen. Drittens. Die Blauhelme der Vereinten Nationen sind für Kampfeinsätze auch zahlenmäßig zu schwach, militärisch nicht ausgerüstet und an für Kampfeinsätze ungeeigneten Orten stationiert. Meine größte Sorge ist nicht, daß die UN-Blauhelme andere bekämpfen, sondern daß sie selber zu Geiseln und Opfern von Kämpfenden werden. ({2}) Es hat sich in der Praxis gezeigt, daß die mit Leopard-Panzern ausgerüsteten dänischen Blauhelmeinheiten erfolgreicher und mit weniger Opfern - übrigens nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unKarsten D. Voigt ({3}) ter der Zivilbevölkerung - besser zur Beendigung der Kampfhandlungen beitragen können als die schlecht ausgerüsteten UN-Blauhelme aus Bangladesh in der Region von Bihac. Deshalb ist eine Verbesserung der Ausrüstung der UNPROFOR-Verbände erforderlich, übrigens gerade um die Zahl der Opfer zu verringern. ({4}) Viertens. Der Einsatz der UN-Blauhelme hat bisher nicht zur Beendigung der Kampfhandlungen geführt. Aber in Sarajevo würden ohne ihren Einsatz heute keine Menschen mehr leben können. Ihr Einsatz hat Hunderttausenden das Leben gerettet. Ihr Einsatz hat im letzten Jahr in Bosnien zur Verringerung und in einigen Teilen des Landes zur Einstellung von Kampfhandlungen geführt. Gerade deshalb sollten wir als Parlament insgesamt darauf drängen, daß die USA das Waffenembargo nicht aufheben, damit UNPROFOR weiter arbeiten kann. ({5}) Deshalb wollen wir die Fortsetzung des UNPROFOREinsatzes. Wir danken den Staaten, die BlauhelmEinheiten in das ehemalige Jugoslawien entsandt haben, ausdrücklich. Fünftens. Auch Deutsche haben in Bosnien-Herzogowina mit zivilen Hilfsorganisationen helfen können. In Mostar war es Hans Koschnik mit seinen zivilen und seinen uniformierten polizeilichen Mitarbeitern. In Sarajevo waren es die humanitären Hilfstransporte der Luftwaffe. Diese Deutschen sind dort willkommen, gleichgültig, ob sie mit oder ohne Uniform helfen. Als Polizisten und Soldaten haben sie auf der Donau, in der Adria und in den AWACS-Flugzeugen zu der Überwachung und Durchführung der Beschlüsse des Sicherheitsrates beigetragen, ohne daß dies zu einer Eskalation der Kampfhandlungen geführt hätte. Wir dürfen uns auch in Zukunft nur dann an Maßnahmen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien beteiligen, wenn wir dadurch Menschen helfen und zu einer Verhinderung von Kämpfen und einer Deeskalation der Konflikte beitragen können. ({6}) Daran haben wir selber, die Menschen im ehemaligen Jugoslawien, aber auch unsere Partner in der UNO und in der NATO ein gemeinsames Interesse. Wir sollten gemeinsam überlegen, wie auch Deutschland den Vereinten Nationen mehr als bisher im ehemaligen Jugoslawien helfen könnte. ({7}) Regierungen, deren Länder im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht besetzt waren, wünschen heute den Einsatz von Blauhelm-Soldaten der Bundeswehr, und dies nicht, weil wir die Erinnerung an deutsche Verbrechen verdrängen, sondern weil wir bereit sind, uns zu erinnern und aus der Geschichte deutscher Verbrechen zu lernen. ({8}) Aber aus der deutschen Geschichte lassen sich keine eindeutigen und erst recht keine dogmatischen Schlußfolgerungen für die Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Blauhelmeinsätzen ableiten. Wir können uns nicht durch politische Dogmen der schwierigen Aufgabe der Prüfung eines jeden Einzelfalls entziehen. Das gilt prinzipiell auch für das ehemalige Jugoslawien, obwohl - das sage ich ganz bewußt - die praktische Vernunft gerade hier eine militärische Zurückhaltung der Deutschen empfiehlt. Sechstens. Wir wollen, daß die UNO-Blauhelme in Bosnien und Kroatien bleiben. Wenn trotz dieses Wunsches Bedingungen eintreten, die den Abzug dieser Verbände unvermeidlich machen, dann ist es zwar nicht völkerrechtlich zwingend, aber politisch und moralisch geboten, daß wir unseren Partnern in der UNO und der NATO bei diesem Abzug helfen. ({9}) Dieses politische Prinzip ist für uns Sozialdemokraten klar, auch wenn es die CDU in bezug auf die Sozialdemokraten immer wieder in Frage zu stellen versucht. ({10}) Über die nach meiner Meinung in unserer deutschen Debatte politisch überbewerteten, militärtechnisch aber durchaus wichtigen Einzelheiten einer deutschen Beteiligung, wie die Beteiligung deutscher Tornados, kann man legitimerweise unterschiedlicher Meinung sein, und zwar sowohl politisch wie auch militärisch. Das ist aber nicht das entscheidende Kriterium unserer Solidarität mit den Verbündeten. Man kann so oder so entscheiden und trotzdem solidarisch sein. Aber helfen und sinnvoll helfen müssen wir. ({11}) Aber daß - das sage ich in Richtung PDS - ein Abzug und auch der militärische Schutz ein insgesamt defensiver Vorgang sind, ist keine Frage. Was gibt es denn Defensiveres als Abzug? ({12}) Darüber sollte unter uns im Bundestag eigentlich völlige Einigkeit herrschen. Siebentens und abschließend. Vor einem jeden Einsatz der Bundeswehr muß der Bundestag nach vorheriger sorgfältiger Beratung in den zuständigen Ausschüssen entscheiden - das ist Verfassungsrecht, das ist zwischen den Fraktionen des Bundestages unumstritten -, und noch davor müssen auch die Bundestagsausschüsse konsultiert werden. Ich will Karsten D. Voigt ({13}) nicht, daß wir alles erst erfahren, beraten und entscheiden, wenn es sozusagen bereits entschieden ist. Ich möchte eine vorherige Information und Konsultation der Ausschüsse und auch des Plenums. ({14})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Pflüger möchte eine Zwischenfrage stellen.

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte, daß, wenn Planungen in der NATO abschließend beraten werden, von denen eine politische Bindungswirkung ausgehen, keine Zusagen vor einer Entscheidung zumindest der Ausschüsse gegeben werden. ({0}) Auch das gehört über die Einsatzentscheidung hinaus zur gemeinsamen Vereinbarung. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Voigt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pflüger?

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern. Herr Kollege Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Voigt, ich möchte Sie vor dem Hintergrund der großen Zustimmung, die Sie für Ihre Rede aus meiner Fraktion bekommen, gern fragen, ob Sie den Beitrag von Frau Wieczorek in der heutigen „Woche " und die diversen Interviews von Herrn Lafontaine gelesen haben und ob Sie einräumen, daß noch viel Überzeugungsarbeit notwendig ist, bis diese ihre Position auch in der SPD geteilt wird. ({0})

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege, erst einmal habe ich mich umgesehen und festgestellt, daß ich von der SPD-Fraktion ein bißchen mehr Zustimmung als von Ihrer erhalten habe. ({0}) Ich freue mich aber, wenn ich Zustimmung auch von Ihnen bekommen habe. Zweitens glaube ich, daß Sie in bestimmten Fragen fixiert sind. Oskar Lafontaine z. B. hat sich in einem Interview zur NATO-Erweiterung geäußert. Das haben Sie nicht bemerkt. ({1}) Es handelt sich um eine Äußerung, die manche von Ihnen nicht erwarten und ihrem Vorurteil nicht entspricht. Ich stimme ihr zu. Heidi Wieczorek stimmt dem übrigens genauso zu. Ich weiß nicht, was Sie haben. ({2}) - Das gehört aber zur NATO. ({3}) Sie führen die Diskussion doch immer unter dem Gesichtspunkt der Solidarität mit den NATO-Partnern. Ich sage, daß nicht nur in der Frage der NATO-Mitgliedschaft, sondern auch der Frage der NATO-Erweiterung eine breite Mehrheit - die beiden von Ihnen genannten darunter - in der SPD besteht. Deshalb verstehe ich Ihre Kritik an diesem Punkt überhaupt nicht. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Voigt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Graf Einsiedel?

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nachdem die PDS vorher in der üblichen despektierlichen Art ohne Sachauseinandersetzung diffamiert worden ist, sage ich in diesem Fall sehr gerne ja. Ich halte nichts davon, wenn wir im Plenum weiter so miteinander umgehen. Herr Einsiedel, deshalb höre ich Ihre Frage besonders gern.

Heinrich Einsiedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002645, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Herr Kollege Karsten Voigt, wenn ich Ihrer Argumentation folgen würde: Warum beschließen wir hier im Bundestag dann eigentlich nicht sofort, daß wir in dem Fall, daß der Abzug der Blauhelme unvermeidlich ist, unseren Beitrag dazu leisten werden? Wieso wollen wir das erst in dem Moment, an dem Tag, wo es nötig ist, entscheiden, so wie die SPD 1914 den Kriegskrediten zugestimmt hat, als der Krieg schon begonnen hatte? Dann treffen Sie die Entscheidung doch jetzt, und sagen Sie es ehrlich! ({0}) Kollege Pflüger hat doch vollkommen recht, daß Ihre Haltung ein Jein ist. ({1})

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege von Einsiedel, Sie haben Kriegserfahrung im Zweiten Weltkrieg, aber Sie haben keine UNO-Erfahrung. Die UNO-Erfahrungen zeigen, daß die politischen Rahmenbedingungen, unter denen ein solcher Abzug stattfindet, und die Lage, die in Bosnien-Herzegowina zu dem Zeitpunkt herrscht, heute durch PlaKarsten D. Voigt ({0}) nungen der NATO nicht erfaßbar sind, so daß es eine Unverantwortung wäre, wenn man nicht nur zur Planung ja sagt - nicht einmal das haben wir getan -, sondern jetzt auch schon zum Einsatz ja sagt, den wir in den Bedingungen und in den Details nicht kennen. Auch die NATO wird sich vorbehalten, den konkreten Bedingungen gemäß die Planungen zu verändern. Deshalb kann noch gar nicht entschieden werden. ({1}) Wir haben im Auswärtigen Ausschuß und im Verteidigungsausschuß in den letzten Wochen mehrfach umfangreiche Informationen bekommen. Ich sage ausdrücklich, und das in Ihre Richtung, Herr Irmer: Es gibt bisher keinen Anlaß, an den Zusagen der Bundesregierung zu zweifeln, daß sie uns weiterhin umfassend informieren will und daß sie den Ausschuß vor einer Planungszusage konsultieren will. Wir würden da natürlich nur dann unser Votum abgeben, wenn wir uns mit der Fraktion rückgekoppelt haben. Vor einem Einsatz erfolgt natürlich aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Entscheidung des Plenums. Bisher haben wir keinen Zweifel daran, daß die Bundesregierung diese Zusagen einhält. Zum Abschluß lassen Sie mich sagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wir werden weiter mit Argusaugen darüber wachen, daß die Bundesregierung diese Zusage tatsächlich einhält. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun die Frau Kollegin Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist tatsächlich fast fünf vor zwölf, und das auch in der politischen Situation. Ich glaube, daß hier einige Auseinandersetzungen am Punkt und am Sinn des Antrages der PDS vorbeigehen. 50 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs steht Deutschland heute kurz vor dem ersten Kampfeinsatz seiner Soldaten im ehemaligen Jugoslawien. Daß wir an dieser Stelle über den bevorstehenden Einsatz der Bundeswehr sprechen, ist keine Initiative der Bundesregierung, die ja alles tut, um diese Debatte wegzudrücken. In der bewährten Salamitaktik werden immer mehr Truppenteile - wir erfahren das von Ausschußsitzung zu Ausschußsitzung tatsächlich nur scheibchenweise - für diesen Kampfeinsatz auf dem Balkan vorbereitet, ohne daß das Parlament entsprechend den Rechts- und demokratischen Grundsätzen an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden soll. ({0}) Tabubrüche - und dazu gehört der Einsatz in Jugoslawien durch deutsche Soldaten - diskutiert man nicht gern, Sie schon gar nicht und auch Karsten Voigt nicht, sondern man stellt die Bevölkerung vor vollendete Tatsachen. Die bisherige Unterrichtung des Parlaments durch die Bundesregierung über die bereits im Dezember gemachten Zusagen gegenüber der NATO zur Unterstützung im Falle des UNPROFOR-Abzuges ist absolut unzureichend. Wer Kampfflugzeuge, Eliteeinheiten, die verharmlosend „Verfügungstruppen" genannt werden, auf die Kriegsbeteiligung vorbereitet und ausbildet, schafft Fakten, die der Bundestag später allenfalls noch abnicken darf, und zwar mit einer äußerst knappen Mehrheit, einer Regierungsmehrheit, die dieser politischen Entscheidung keinesfalls das angemessene Gewicht gibt. ({1}) Die Planungs- und Entscheidungsmacht aber liegt bei den Militärs, wie z. B. bei General Peter Heinrich Carstens, der für die NATO-Planungen mitverantwortlich ist. 50 Jahre nach dem Sieg über den Nazismus wollen Sie die Bundeswehr vorbereiten oder vorbereiten lassen, damit sie in eine Region einmarschieren kann, über die deutsche Soldaten schon einmal unerträgliches Leid und Vernichtung gebracht haben. ({2}) Das, Karsten Voigt, hat zumindest auch begrenzt Herr Rühe verstanden. Du hast hier noch nicht einmal erwähnt, was damit an Eskalationsgefahr verbunden ist. Aber es geht hier nicht nur um Ex-Jugolslawien. Es geht um die Umsetzung der seit langem geplanten Militarisierung der Außenpolitik. Militärs und Machos machen die deutsche Außenpolitik seit Ende des Ost-West-Konflikts. Es hat 1992 mit dem Naumann-Papier begonnen, das Herr Stoltenberg noch ans Parlament weiterreichen durfte. Heute planen die Militärs eine Umstrukturierung der Bundeswehr, und friedenspolitische Möglichkeiten werden ausgeschlossen. ({3}) Die Politik folgt freiwillig. Der Kollege Zierer stellte fest: Wenn wir einen Befehl der UNO bekommen, Soldaten und Flugzeuge zu schicken, dann können wir nicht nein sagen. Die NATO-Tagung am letzten Wochenende sah das ganz anders. Sie will nicht mehr Befehlsempfänger der UNO sein, sondern selber bestimmen, wann die Truppen zum Einsatz kommen. Verehrte Kollegen und Kolleginnen, vier Minuten Redezeit sind nicht genug, um dieses ernste Thema zu behandeln. Aber die Dominanz des Militärischen unterläuft den Primat der Politik. General Naumann sowie Verteidigungsminister Rühe kürzen zugunsten des Aufbaus von Interventionstruppen jede Möglichkeit, noch zivil zu schlichten und zu unterstützen. Es geht nicht mehr um die Menschen in Jugoslawien. Es geht nur noch um den sicheren Abzug der UNO- Blauhelme, wenngleich wir deren Tätigkeit bisher überaus schätzen. Dem Antrag der PDS können wir zustimmen. Auch wenn die SPD in dieser Frage zerrissen werden würde: ({4}) Wir würden ihm zustimmen, ihn aber auch kritisieren. Er unterläßt es, Alternativen zur staatlichen Gewaltpolitik aufzuzeigen. Gerade das ist heute unser Anliegen. In seiner Begründung beschränkt er sich darauf, die nach dem Karlsruher Urteil nur noch notwendige einfache und äußerst fragwürdige Regierungsmehrheit im Bundestag für eine Politik einzuklagen, die wir aus grundlegenden friedens- und außenpolitischen Erwägungen ablehnen, und zwar mit aller Entschiedenheit. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gemengelage ist heute abend sehr deutlich geworden. Den Koalitionsfraktionen, aber auch der SPD geht es um die Menschen im ehemaligen Jugoslawien, und es geht ihnen um die Menschen, die als Soldaten unter dem Blauhelm der UNO versucht haben, dort zu helfen und größeres Unheil abzuwenden. Es ist heute deutlich geworden, daß es den drei Fraktionen genau um diese beiden Probleme geht. Herr Voigt hat mit dankenswerter Klarheit auf einen Punkt hingewiesen, der auch uns sehr am Herzen liegt: Es geht auch um die Wahrung der Rechte dieses Parlaments gegenüber der Bundesregierung. Ich kann dem, was sie, Herr Voigt, gesagt haben, auch in diesem Punkt voll zustimmen. ({0}) Ich komme jetzt zu der anderen Seite des Hauses, zu der PDS und den Grünen. Ich sehe, daß Herr Poppe da hinten kein sehr glückliches Gesicht macht, was mich auch nicht wundert, da er der Rede von Frau Beer lauschen mußte. Ich stelle fest, daß es der PDS und den Grünen nicht um diese drei Themen geht, die ich angesprochen habe, sondern es geht ihnen um Ideologie. Es geht Ihnen darum, haltlose Vorwürfe, die Sie seit jeher gegen die Bundesregierung und gegen die drei Fraktionen erheben, hier durch kontrafaktische Behauptungen und durch Nebelkerzen weiter zu stützen. ({1}) Das weise ich mit Entschiedenheit zurück. ({2}) Meine Damen und Herren, Ihr Antrag ist so formuliert, als ob es Ihnen um die Bundestagsbeteiligung ginge. Frau Lederer, ich verstehe das überhaupt nicht. Sie waren gestern dabei. Sie haben recht - da hat allerdings keiner gelacht -: ({3}) Ich habe der Bundesregierung noch einmal ausdrücklich die Frage gestellt. Wir haben im Dezember davon gesprochen, daß bei einer weiteren Anfrage der Nato, bei einer weiteren Antwort seitens der Bundesregierung möglicherweise eine nicht rechtliche, aber faktische Bindungswirkung entstehen könnte, die uns in das Dilemma bringen könnte, daß wir zwar die politische Entscheidung noch nicht getroffen haben, aber die militärische Planung schon so weit gediehen ist, daß bei einem Rückzug unsererseits dann die ganze Aktion entweder nicht mehr stattfinden könnte oder jedenfalls gefährdet wäre. Das wollen wir nicht. ({4}) Wir wollen nicht der NATO den Eindruck vermitteln, wir beteiligten uns an etwas, zu dem wir dann nachher doch noch nein sagen müssen. Deshalb lege ich so großen Wert darauf, daß dieses Haus der ihm von Karlsruhe zugeschobenen, zuerkannten, auferlegten Verantwortung zu einem Zeitpunkt gerecht wird, wo wir noch in vollem Umfang Herren dieses Verfahrens sind. Das ist wichtig. ({5}) - Und Frauen; natürlich. Günter Nolting, ich danke dir. Meine Damen und Herren, darauf kommt es doch an. Wir müssen uns hier in der Tat Gedanken darüber machen, wann wir aufgefordert sind, falls es denn überhaupt zu dieser Entscheidung kommen sollte, diese Entscheidung zu treffen. Da wird es zwischen uns - der SPD 'Ind jedenfalls mir - vermutlich noch Diskussionen geben müssen; denn ich erinnere mich daran, daß Sie mit Recht gesagt haben: Vorratsbeschlüsse darf es hier nicht geben. Die darf es auch nicht geben. Wir müssen genau wissen, unter welchen politischen und militärischen Voraussetzungen sich die deutschen Hilfen darstellen würden. Wir wissen heute nicht, ob überhaupt der UNO-Sicherheitsrat den Abzug beschließt. Wir wissen nicht, unter welchen Umständen der vor sich gehen wird. Wir wissen nicht, was uns dann abverlangt werden würde und wo wir sinnvoll helfen könnten. Ich nehme auch das Argument sehr ernst, daß wir von Fall zu Fall - je nach der Anforderung - prüfen müssen, ob nun gerade Deutsche die Richtigen sind, eine solche Aufgabe mit zu erfüllen. Das sind alles sehr, sehr ernsthafte Fragen, die man nicht pauschal und auf Vorrat mit Ja oder Nein beantworten kann, sondern die sehr sorgfältiger, intensiver Prüfung im Einzelfall, und zwar bis in die Details, bedürfen. Dem allen entziehen Sie sich. Ich würde es begrüßen, wenn Sie hier einfach sagen würden: Uns paßt die ganze Richtung nicht; wir wollen das nicht; wir verweigern uns. ({6}) - Ja, dann sagen Sie das. Das ist gut. Dann bin ich zufrieden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Irmer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Beer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit Vergnügen gestatte ich eine Zwischenfrage.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Irmer, Sie sagten eben, daß man ja noch gar nicht weiß, ob die UNO beschließt, UNPROFOR zurückzuziehen. Ist Ihnen bekannt, daß die Regierung Kroatiens beschlossen hat, das UNO-Mandat nicht zu verlängern? Ist Ihnen bekannt, daß seitens der Bundesregierung eine Zusage gegenüber der NATO erteilt worden ist, für den Fall des UNPROFOR-Abzuges Sanitäter in einer gemischten Einheit mit militärischer Begleitung in einer Stärke von 600 Mann sowie eine Infanterieeinheit nach Jugoslawien zu schicken, zuzüglich zu dem schweren Gerät, was uns bereits im Dezember durch die Bundesregierung mitgeteilt worden ist, und meinen Sie, daß diese Zusage der Bundesregierung nicht ernstzunehmen ist?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Beer, Sie haben zwei Fragen gestellt. Erstens: Ob mir nicht bekannt sei, daß der kroatische Präsident Tudjman den Abzug von UNPROFOR verlangt hat. Selbstverständlich ist mir das bekannt. Aber ich habe mit großem Interesse vorhin gehört - war es von Ihnen selbst, war es von Frau Lederer? Es kam jedenfalls aus dieser ideologischen Ecke -, ({0}) daß Sie erstaunlicherweise die Bundesregierung dafür gepriesen haben, daß sie sich gegenüber dem Präsidenten Tudjman dafür eingesetzt hat, diese Order nach Möglichkeit zurückzunehmen. Wir haben uns ernsthaft darum bemüht. Bundesaußenminister Kinkel ist dort gewesen, er hat dort gesprochen. ({1}) - Das hat nicht nur Herr Kinkel getan; das haben sehr viele getan. Im Augenblick ist geradezu eine diplomatische Offensive im Gange, Herrn Tudjman von dieser unseligen Entscheidung abzubringen, und wir hoffen, daß wir damit Erfolg haben. Und Sie haben eben selber gesagt, daß Sie das für richtig halten. Sie haben zumindest Beifall gespendet. Also, ist doch in Ordnung. Natürlich ist mir das bekannt. Dann versuchen wir doch, gemeinsam dafür zu sorgen, daß die Voraussetzungen erst gar nicht eintreffen. Jetzt komme ich zu Ihrer zweiten Frage. Ich muß im übrigen diese Bemerkung erläutern. Das stammt nicht von mir. Das stammt von Bazon Brock, der von kontrafaktischen Behauptungen spricht. Ich mache mir das zu eigen, weil mir das einen Ordnungsruf wegen unparlamentarischer Äußerungen erspart. Ich sage also: Die kontrafaktische Behauptung, die Sie aufgestellt haben, geht dahin, daß die Bundesregierung bereits Zusagen gemacht hätte. Das ist nicht wahr. Die NATO hat gefragt: Was käme denn in Frage, was könntet ihr denn unter Umständen? Eine völlig unverbindliche Antwort, die ungeachtet ihrer Unverbindlichkeit vorher in den parlamentarischen Gremien nicht nur mitgeteilt, sondern ausgiebig diskutiert worden ist! Frau Beer, ich nehme an, daß Sie vor Weihnachten im Verteidigungsausschuß dabei waren. Jedenfalls ist Frau Lederer im Auswärtigen Ausschuß dabei gewesen. Und das ist doch gerade der Punkt, auf den es uns ankommt, Frau Beer: daß hier keine Verbindlichkeit herbeigeführt wird, ehe die politische Entscheidung getroffen wird, die uns und niemand anderem obliegt. Die Bundesregierung muß selbstverständlich die Entscheidung vorbereiten, damit wir etwas haben. Das ist nicht unsere Aufgabe, sondern eine klassische Aufgabe der Exekutive. Aber wir haben die politische Entscheidung zu treffen, ob wir das wollen oder nicht. Und wir müssen in den Stand gesetzt werden, diese politische Entscheidung zu einer Zeit zu treffen, wo eben dies nicht eintreten kann, was Sie immer behaupten, daß uns dann nämlich gesagt werden würde: Jetzt ist es schon zu spät; jetzt kommt ihr aus den Planungen nicht mehr heraus, ohne die ganze Aktion zu gefährden. Genau dies ist mein Anliegen, daß dies nicht geschieht. Der Deutsche Bundestag muß seine Verantwortung, die ihm Karlsruhe übertragen hat, rechtzeitig wahrnehmen können, muß sich aber dieser Verantwortung auch gegenüber den Opfern im ehemaligen Jugoslawien und gegenüber unseren Bündnispartnern und anderen Nationen bewußt sein, die ihre Soldaten dort im Interesse der Rettung von Menschenleben und der Milderung des Elends der täglichen Lebensgefahr ausgesetzt haben. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun Staatsminister Helmut Schäfer.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VerStaatsminister Helmut Schäfer wirrendes geschieht zu dieser späten Stunde. Herr Voigt hätte sein Redeexemplar mit meinem vertauschen können. Ich stelle fest: Es ist für die Sache, für die auch ich eintrete, wesentlich kämpferischer gewesen. Ich werde sehr viel sachlicher, sehr viel zurückhaltender reden. Es gibt plötzlich keinen Unterschied mehr zwischen BÜNDNIS 90 und der PDS. Auch das ist heute abend eine interessante Feststellung. Es ist erstaunlich, wie die Ideologien anfangen, einander zu gleichen. Wo sind da noch die Unterschiede, wenn hier ständig militärische Süchte unterstellt werden, die Sie doch brauchen, um Ihre Ideologie überhaupt aufrechtzuerhalten? Sie sehnen sich doch geradezu nach solchen Einsätzen, um uns zu brandmarken. Sie werden daran scheitern. ({0}) - Herr Zwerenz, im übrigen sollten Sie nicht diejenigen durch Zwischenrufe beleidigen, die zu den wenigen Lesern Ihres Werks gehören. Ich zähle mich dazu. Wenigstens früher habe ich gelegentlich hineingesehen. Bitte, gehen Sie gnädig mit uns um! Ich habe Germanistik studiert; insofern mußte ich mich mit Ihnen beschäftigen. Seien Sie bitte so sachlich, wie ich es Ihnen gegenüber immer war, wenn ich Ihre Schriften aufschlug! Also, bitte schön, etwas weniger Ideologie und Haß, sondern etwas mehr Sachlichkeit! ({1}) Ich habe bei Ihnen allen, die Sie jetzt den möglichen Rückzug der UNPROFOR-Truppen bereits im Vorfeld als schreckliches Ereignis darzustellen versuchen, dem gar nicht beigestanden werden darf, immer wieder feststellen können, daß Sie ständig sowohl die UNO als auch die NATO als auch Europa oder wen auch immer als Versager in Jugoslawien herausgestellt haben. Es gab doch interessanterweise gerade von denen, die einen denkbaren deutschen Einsatz von Anfang an abgelehnt haben, die Tendenz, zu sagen: Dieser Konflikt ist leider noch deshalb im Gange, weil man militärisch nicht konsequent genug etwas unternommen hat. All diese Widersprüche müssen wir uns hier langsam einmal klarmachen. Sie können hier natürlich gerne sagen: Deutschland darf sich unter gar keinen Umständen beteiligen. Den mit uns verbündeten Streitkräften, die auf unseren Wunsch und mit unserer Zustimmung an unserer Stelle im ehemaligen Jugoslawien tätig geworden sind, um humanitäre Hilfslieferungen dort an den Mann und die Frau zu bringen und dabei wirklich Großes geleistet haben, dürfen wir nicht helfen, weil wir uns in unserer eigenen Ideologie verstrikken. Ich sage Ihnen: Wenn wir eine solche Politik weiter betreiben, sollten wir aufhören, die Welt ständig mit unserer Moral zu überziehen und zu sagen, sie tue zuwenig. ({2}) So kann es nicht mehr weitergehen, meine Damen und Herren. So können Sie sich außerhalb des Bundestages nirgendwo mehr sehen lassen. Frau Wieczorek-Zeul, auch Sie nicht. Es tut mir furchtbar leid. Sie behaupten dauernd - gerade Sie, die ich sonst schätze; wir sind ja Nachbarn -, wir säßen hier und warteten geradezu darauf, daß wir den ersten Einsatz proben könnten. Wenn Sie die Überlegungen, die angestellt werden müssen, die jeder Staat anstellen muß für den Fall, daß ein solcher Rückzug überhaupt eintritt und die Truppen, die zurückmarschieren, vor Angriffen geschützt werden müssen, nicht anstellen wollen, dann, muß ich Ihnen sagen, brauchen Sie keine Sorge zu haben, daß ein großer militärischer Einsatz der Deutschen erfolgen wird. Das, was wir tun können und unter historischen Gegebenheiten tun müssen, ist im Vergleich mit dem, was andere tun werden, auch dann noch gering. Trotzdem müssen wir dem zustimmen. Ich stimme Herrn Voigt in jeder Hinsicht zu: Wir müssen dem zustimmen. Auch schon in der Planungsphase muß informiert werden. Stellen Sie sich doch bitte nicht hier hin, Frau Beer - ich dachte, Sie wären inzwischen ein bißchen älter geworden; ich habe Ihre Entwicklung in den letzten vier Jahren verfolgt: Sie erzählen noch immer das gleiche -, mit der Behauptung, Sie würden nicht informiert. Sie werden im Ausschuß wöchentlich über Einzelheiten informiert. Sie können hier doch nicht den Eindruck erwecken, als plane die Bundesregierung heimlich, gegen den Willen des Parlaments und der Ausschüsse, unvorstellbare Militäreinsätze. Ich bin Herrn Voigt sehr dankbar, daß er gesagt hat: Hören Sie mit diesem leichtfertigen Gerede von „Kampfeinsätzen" auf! Es geht darum, daß wir, wenn wir als ein Staat, der in der NATO Mitglied ist, auch etwas tun müssen, wenn Streitkräfte, die zum Schutz der Bevölkerung eingesetzt werden konnten, weil sie keine historischen Reminiszenzen zu haben brauchen wie wir, diesen Staaten helfen sollen, laut Ihrer Ideologie sozusagen Kampfeinsätze erproben wollen. Nein, wir müssen das tun, was uns unsere Verpflichtung in diesem Bündnis auferlegt. Wir müssen konsequent sein. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

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Herr Lippelt, ich bin mit Ihnen so oft so einverstanden, daß ich glaube, wir könnten das, was die Kollegen jetzt von ihrer Bettruhe abhält, vielleicht draußen unter uns besprechen. Ich möchte jetzt nicht mehr Ihre Zwischenfrage zulassen. Ich möchte sehr bald zum Schluß kommen; denn ich sehe, auf der Uhr ist schon Nullzeit. Lassen Sie mich noch einmal sehr deutlich sagen: Es besteht kein Zweifel daran, daß wir alles tun, um zu erreichen, daß erstens Herr Tudjman seine Entscheidung zumindest modifiziert, daß es nicht zu einem Abzug der UNPROFOR-Truppen kommen muß, auch wenn man möglicherweise einen Teil der Truppen wegen der kroatischen Einstellung abziehen muß. Wir wollen aber weitere schlimmere Entwicklungen verhindern. Zweitens. Wir müssen an den amerikanischen Kongreß appellieren, daß er nicht zur Unzeit dieses Waffenembargo aufhebt und damit eine Entwicklung heraufbeschwört, die hier keiner wollen kann. Die Bundesregierung will sie auch nicht. Wir müssen natürlich alles tun, daß die Kontaktgruppe nach Wegen sucht - und sie hat es ja getan, denken wir an den Bundesaußenminister in Sarajevo, an die Gespräche in München -, um die festgefahrenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Aber wir haben es doch dort mit Leuten zu tun, mil denen seit Jahren verhandelt wird, und zwar intensivst und immer wieder. Wenn Ergebnisse zustande kommen, weigert sich eine Partei, diese Ergebnisse zu tragen. Das ist doch die Situation. Dann kann man nicht sagen: Prävention, diplomatische Wege. Richtig, das wollen wir ja. Aber Sie müssen doch auch sehen, wie unsäglich schwer es bisher gewesen ist, eine Lösung dieses Konfliktes herbeizuführen. Wir würden es sehr bedauern, wenn UNPROFOR vor einer Lösung des Konfliktes abziehen muß - nicht, weil wir einen Einsatz wollen, nicht, weil die Bundesregierung darauf hofft - wie Sie das hier dargestellt haben -, daß der Kampfeinsatz der Bundeswehr endlich am Modell Jugoslawien zustande kommt. Das will hier niemand. Wir wollen, daß UNPROFOR so lange bleibt, bis zum Schutz der Menschen dort eine friedliche Lösung gefunden wird. Wenn sie gegen ihren Willen, aber auf Grund der Entwicklung zurück müssen, dann müssen wir allerdings solidarisch helfen - was alle Länder dieser Welt in diesem Falle auch tun werden -, daß die Menschen, die dort sind, daß die Streitkräfte, auch heil wieder nach Hause kommen. Deshalb kann beim besten Willen ein solcher Antrag, wie ihn die PDS heute abend gestellt hat, von niemandem gutgeheißen werden. Herr Lippelt, mich wundert es sehr, daß Sie dem noch mit Beifall Ihre Verwirrung bezeugen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, Sie bescheinigen mir einige Schätzung Ihrerseits; ich kann das umgekehrt auch sagen. Aber weshalb weichen Sie so von dem Thema ab, um das es bei diesem Antrag geht? Weshalb erinnern Sie sich nicht daran, daß wir Sie bei Ihren ersten Informationen über die Tornados darauf aufmerksam machen mußten, daß Sie über längst geschehene Einsätze nicht korrekt unterrichtet hatten? Ich erinnere an Ubdina, ich erinnere an die Artikel aus der „Aviation Weekly". Unser Problem besteht doch darin, daß wir Ihren Informationen trotz all Ihrer Ausführlichkeit auf Grund von Nachweisen nicht mehr mit der hinreichenden Sicherheit glauben konnten. Das hat einen solchen Antrag von unserer Seite hervorgerufen. Ich möchte es doch ablehnen, daß Sie hier jetzt mit dem vorhandenen, sehr ernsten moralischen Problem kommen, wo es uns von unserer Seite aus zunächst einmal um die Prozeduren der Unterrichtung und die Korrektheit der Regierung geht.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort zu einer zweiten Kurzintervention dem Kollegen Schwarz-Schilling.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hier wird sehr viel über die moralische Frage gesprochen. Es wurde eigentlich vornehmlich darüber gesprochen, ob der Gang der Ereignisse in der Entscheidungsfindung seitens der Bundesregierung betreffend des Abzuges formell in Ordnung ist oder nicht. Da haben wir festgestellt: Zumindest unter den großen Fraktionen und der F.D.P. besteht hier völliges Einverständnis. Ich möchte allerdings noch auf etwas anderes hinweisen: Währenddessen wir hier sitzen und uns über die theoretische Möglichkeit eines Abzugs und eines Einsatzes unterhalten, haben Menschen in der Bihac-Tasche seit Tagen nichts gegessen. In den letzten zwei Tagen sind 14 Kinder im Krankenhaus dort wegen Unterernährung gestorben, weil die Mütter sie nicht mehr ernähren konnten. Sie bekommen jeden Tag entsprechende Meldungen, wenn Sie wissen wollen, was wirklich passiert. Stellen wir uns hier eigentlich niemals die Frage, was wir noch tun können, um solche unglaublichen Situationen vor unserer Tür schnellstens zu beenden? Da stellt sich für mich auch die Frage - auch wenn ich weiß, daß es nicht den allgemeinen Beifall findet -, ob es nicht die humanitärsten Einsätze von NATO und UNPROFOR wären, solchen hungernden Menschen zu helfen, wenn die Risiken nicht allzugroß sind. Der Korridor zwischen Kroatien und Bihac ist 25 km lang. Die Kroaten waren bereit, diesen im Dezember zu machen. Wir, die westlichen Mächte, haben die Kroaten davon abgehalten, ohne den Menschen in Bihac, die dort jetzt verhungern, eine Alternative zu bieten. Wir sind für das, was dort geschieht, mit verantwortlich.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatsminister Schäfer, Sie haben die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen.

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Herr Kollege Lippelt, zunächst zu Ihnen: Ich habe versucht, die wesentlichen Elemente dessen, was uns in dieser Stunde bewegen muß, herauszustellen. Die Versuche, ständig von neuem zu behaupten, wir unterrichteten nicht korrekt, nicht frühzeitig genug, weise ich zurück. Das ist einfach nicht zutreffend. Ich weiß nicht, was Sie mit Ihren Tornados wollen. Ich kann nur sagen: Es gibt bislang keine Entscheidung. Es gibt die Bitte, zu sagen, was wir im Falle des Falles tun können. Darüber muß nachgedacht werden. Darüber muß man natürlich auch Papiere schreiben, und darüber muß man Sie informieren und uns informieren. Das ist ganz selbstverständlich. Herr Kollege Schwarz-Schilling, zu Ihnen darf ich sagen: Ein Einsatz der Kroaten in diesem Falle hätte Kampf bedeutet. Der Auftrag der UNO dort ist, Kampf zu vermeiden, zwischen den Gegnern zu bleiben, um Kämpfe zu verhindern. Es gibt aber auch den Auftrag, den hungernden Menschen zu helfen und alles zu tun, um in die belagerten Teile von Bihac hineinzukommen. Das wird versucht; es gibt Möglichkeiten. Es bleiben trotzdem Teile dieses BihacGebietes noch nicht erreichbar. Aber angesichts des Mandates, das die UNO hat, nämlich keine Kampfeinsätze zu machen - worauf Herr Voigt von Anfang an hingewiesen hat -, ist es nicht möglich, gewaltsam die Öffnung in diese belagerten Gebiete zu erzwingen. Vielmehr muß die UNO versuchen, in mühsamen Bemühungen, wie Sie wissen, mit den kämpfenden Parteien die Zusage zu erreichen, kampflos in diese Gebiete zu kommen. Das ist die Tragik der ganzen Situation, in der wir uns befinden. Wir können dieses Dilemma nicht dadurch lösen, daß wir hier Scheingefechte führen, um über angebliche Einfälle der Bundesregierung sozusagen Kampfeinsätze vorzubereiten und hier eine deutsche Tradition aufzugeben, die uns nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt war. Ich glaube, so sieht es wirklich nicht aus, sondern wir müssen Probleme mit lösen, und wir müssen lernen, daß wir uns nicht mehr verstecken können, wenn es darum geht, diese Probleme zu lösen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Wir sind damit am Schluß der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/136 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann wird so verfahren. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Februar 1995, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.