Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/20/1997

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Horst Sielaff zu seinem 60. Geburtstag am 7. Februar ({0}) und dem Kollegen Dr. Gerhard Päselt ebenfalls zum 60. Geburtstag, den er am 16. Februar feierte, nachträglich ganz herzlich gratulieren. ({1}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 1997 der Bundesregierung 3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. Juni 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinten Nationen und dem Sekretariat des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen über den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens - Drucksache 13/6917 - b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Mai 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Hongkong über den Fluglinienverkehr - Drucksache 13/6918 - c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll II in der am 3. Mai 1996 geänderten Fassung und zum Protokoll IV vom 13. Oktober 1995 zum VN-Waffenübereinkommen - Drucksache 13/6916 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Kröning, Uta Zapf, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: VN-Waffenübereinkommen und Durchsetzung eines vollständigen Verbots von Anti-Personen-Minen - Drucksache 13/6965 - e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({3}), Volker Beck ({4}), Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Humanisierung der Drogenpolitik ({5}) - Heroinverschreibung - Drucksache 13/3671 4. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({6}) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({7}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertzweiunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz -- Drucksachen 13/6161, 13/6352 Nr. 2.1, 13/6976 5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS: Sorge um Arbeitsplätze und Leistungsabbau bei der Post 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({8}), Gila Altmann ({9}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Vorlage eines Gesetzes zum Schutz vor Verkehrslärm an Straßen und Schienen - Drucksache 13/6958 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Norbert Gansel, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre - Drucksache 13/6452 8. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 80/68/EWG vom 17. Dezember 1979 über den Schutz von Grundwasser gegen Verschmutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe - Drucksachen 13/6902, 13/6971 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem mache ich auf geänderte Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Bei dem in der 148. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. Dezember 1996 überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf ändert sich die Überweisung. Nunmehr soll der Gesetzentwurf dem Rechtsausschuß federführend und dem Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der Korruption - Drucksache 13/6424 Der in der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages am 30. Januar 1997 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Sicherung des Nachweises der Eigentümerstellung und der Kontrolle von Luftfahrtunternehmen für die Aufrechterhaltung der Luftverkehrsbetriebsgenehmigung und der Luftverkehrsrechte ({11}) - Drucksache 13/6820 - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir entsprechend. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e sowie Zusatzpunkt 2 auf: ZP 2 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1997 der Bundesregierung 3. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1997 der Bundesregierung „Reformen für Beschäftigung" - Drucksache 13/6800 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({12}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Mit einem Nachtragshaushalt die Arbeitslosigkeit bekämpfen und den Bundeshaushalt auf eine solide Basis stellen - Drucksache 13/6903 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({13}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Margareta Wolf ({15}), Marieluise Beck ({16}), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reformblockaden überwinden: Die ökologische, wirtschaftliche und soziale Erneuerung einleiten - Drucksachen 13/3713, 13/5077 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({17}) d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 13/6200 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({18}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß e) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Christa Nickels, Elisabeth Altmann ({19}), Gerald Häfner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsames Wort der Kirchen „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" - Drucksachen 13/3864, 13/5482 Zum Jahreswirtschaftsbericht 1997 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und zur Großen Anfrage „Gemeinsames Wort der Kirchen ,Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland' " liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung dreieinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Reformen für Beschäftigung", das ist der Titel des Jahreswirtschaftsberichts 1997, und das ist auch seine Botschaft. Die heutigen Redner werden der Forderung nach Reformen für mehr Beschäftigung nicht widersprechen. Alle werden auf ihre Weise hinzufügen: Reformen ja, aber die richtigen Reformen müssen es sein. Ich finde, das wäre keine schlechte Debatte - unterschiedliche Auffassungen über den richtigen Weg, aber Einigkeit über das Ziel. ({0}) Jeder weiß: Wenn die großen Strukturreformen auf den Weg kommen sollen, müssen Koalition und Opposition in einer Reihe von Punkten auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Das wird nicht einfach sein. Das wird allen Kompromisse abverlangen. Es gibt aber keinen anderen Weg. Die Menschen erwarten, daß die Politiker, und zwar alle, ihre Verantwortung wahrnehmen. Kompromisse zu schließen bedeutet nicht, Grundsätze aufzugeben. Deshalb sage ich für die Bundesregierung: Wir halten an unserer Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung fest. Aber: Weltweite Öffnung der Märkte und zunehmender Wettbewerb sind für uns nicht das Vehikel für ein neoliberales „roll back" in der Wirtschaftspolitik um seiner selbst willen. ({1}) Die Politik der strukturellen Reformen ist Ausdruck der Verantwortung für die wirtschaftliche Zukunft und für neue Arbeitsplätze. Es sind Maßnahmen, die sich in anderen Ländern bereits segensreich für Wachstum und Beschäftigung und zum Vorteil der Menschen ausgewirkt haben. Es kommt darauf an, Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern, so zu verändern, daß sie dem epochalen Umbruch von der Industriegesellschaft zur weltweit konkurrierenden Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft gerecht werden. ({2}) Wir haben das in Deutschland besonders schwer zu schultern, nicht nur, weil wir Besitzstände, an denen wir alle mitgewirkt haben, in Frage stellen, sondern auch deshalb, weil dieser weltweite Umbruch bei uns mit der einzigartigen, aber auch aufwendigen Aufgabe einhergeht, den wirtschaftlichen Vereinigungsprozeß voranzubringen. ({3}) Hinzu kommt die europäische Einigung, die Vorbereitung und Gestaltung der einheitlichen europäischen Währung unter Wahrung von Stabilität und Wachstum. Bei diesen Reformen und mit unserem Jahreswirtschaftsbericht geht es - das sage ich im Jahr des 100. Geburtstags von Ludwig Erhard - im Kern darum, die Funktionsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft zu erhalten und zu stärken. Die soziale Marktwirtschaft ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren, und sie bietet am ehesten Gewähr, mit dem Umbruch von der Industriegesellschaft in die Informationsgesellschaft fertig zu werden. ({4}) Angesichts von 4,6 Millionen Arbeitslosen muß es unser Ziel bleiben, die Trendwende am Arbeitsmarkt in diesem Jahr zu schaffen, und zwar auf Dauer. Hinter dieser Zahl stehen persönliche Schicksale, Ängste und zuweilen auch Hoffnungslosigkeit. Arbeitslos sind heute auch hochqualifizierte und hochmotivierte Menschen. Nicht nur die Bundesregierung ist gefordert. Ohne Lohnzurückhaltung über mehrere Jahre, ohne Lohndifferenzierung und vor allem ohne mehr Freiheit zu punktgenauen Tarifabschlüssen werden wir das gemeinsame ehrgeizige Ziel nicht erreichen: die Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000. Es ist ein gutes Zeichen, daß es in der Metallbranche jetzt Bewegung bei der Reform des Flächentarifvertrages und eine Annäherung bei den Öffnungsklauseln gibt. Trotz der ungünstigen Arbeitsmarktentwicklung im Januar bleibe ich bei den Eckwerten der Prognose des Jahreswirtschaftsberichts: rund 2,5 Prozent Wachstum in 1997 nach 1,4 Prozent im letzten Jahr. Die deutsche Wirtschaft ist seit dem Frühjahr 1996 wieder auf Wachstumskurs, und alles spricht dafür, daß sich dieser Kurs in 1997 fortsetzt. Die Rahmenbedingungen sind so günstig wie nie: niedrige Zinsen, stabile Preise, moderate Lohnentwicklung, gute Ertragslage der Unternehmen als Voraussetzung für Investitionen; der Wechselkurs ist günstig, und die außenwirtschaftliche Entwicklung ist überaus günstig. Hierauf weist auch die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht hin. An meiner Einschätzung ändern auch die jüngsten Zahlen des DIW zum 4. Quartal 1996 nicht das geringste. Diese Zahlen entsprechen unseren Annahmen; sie sind im Jahreswirtschaftsbericht enthalten. ({5}) Ich bleibe aus guten Gründen bei unserer Prognose. Am Ende des Jahres 1997 wird es weniger Arbeitslose und mehr Beschäftigte als am Ende des Jahres 1996 geben. Aber es wäre töricht, vom Wirtschaftswachstum allein die Lösung der Arbeitsmarktprobleme zu erwarten. Der Jahreswirtschaftsbericht konzentriert sich darauf, die Ursachen der Arbeitslosigkeit in Deutschland herauszuarbeiten und darauf aufbauend Lösungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu entwickeln. Wir knüpfen damit an das „Aktionsprogramm für Investitionen und mehr Arbeitsplätze" sowie an das „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" aus dem Jahre 1996 an. Beide Programme, beide Konzepte bauen auf dem vom Bundeswirtschaftsminister im Jahre 1993 erarbeiteten Standortbericht auf, und beide Programme zeigen seine Handschrift. Folgerichtig geht es auch im Jahreswirtschaftsbericht 1997 um konkrete Maßnahmen. Darauf kommt es an. Diese Maßnahmen sind in der Summe der Kern unserer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die Investitionen erleichtert und Arbeitsplätze schafft. Diese Politik konzentriert sich auf mehrere Handlungsfelder, in denen jeweils einschneidende Reformen vorangebracht wurden oder noch anstehen: die Senkung der Staatsquote und die Rückführung der Steuerlast. 50,5 Prozent Staatsquote, 43 Prozent Abgabenquote und Spitzensteuersätze auf den Ertrag von rechnerisch 59 Prozent erdrücken private Initiative, führen zur Abwanderung und schrecken ausländische Investoren ab. ({6}) Unsere Antwort ist neben anderem die große Steuerreform. Es geht um die Senkung der Lohnzusatzkosten. Dazu gehören neben anderem die Reform im Gesundheitswesen und die Rentenreform. ({7}) Es geht um eine bessere Ausstattung mit Wagniskapital. Hier wird etwas getan über die neu zugeschnittenen Förderprogramme und vor allem mit dem Dritten Finanzmarktförderungsgesetz, das noch im ersten Halbjahr 1997 vorgelegt wird. Wir wollen darüber hinaus dem Wettbewerbsprinzip durch eine Novelle des Kartellgesetzes, die ich bis zum Sommer 1997 vorbereite, und - unter anderem - durch die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte mehr Geltung verschaffen. Die Privatisierungspolitik, die mit Bahn und Telekom erfolgreich begonnen hat, wird fortgesetzt, auch bei der Gelben Post. Hier gilt es in besonderer Weise, eingefahrenes Denken zu überwinden. Die Aktionen der letzten Tage sind Beleg dafür. Meine Damen und Herren, der Mittelstand ist Herzstück der sozialen Marktwirtschaft. ({8}) Seine Förderung wird auf eine verläßliche finanzielle Grundlage gestellt. ({9}) Der Bundeswirtschaftsminister erarbeitet eine Dienstleistungsinitiative, die im Mai 1997 vorgestellt wird und mit der neue Beschäftigungsfelder im Informationsbereich, beim Umweltschutz, in den Kultur- und Freizeitbereichen erschlossen werden. Mit der Arbeitsmarktpolitik wollen wir Brücken in den ersten Arbeitsmarkt bauen. Das Arbeitsförderungs-Reformgesetz, das in wichtigen Teilen im Frühjahr dieses Jahres in Kraft treten soll, will die Zielgenauigkeit der Förderpolitik erhöhen. Forschung, Entwicklung und Innovation werden auf breiter Front gestärkt. Bei Bildung und Ausbildung geht es unter Einschluß der Tarifpartner um die Sicherung des dualen Systems, um neue, modernisierte Ausbildungsberufe, um die Förderung der Selbständigkeit und um die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Hochschulen. Schließlich sind wir durch die außenwirtschaftliche Förderung und Begleitung unserer Unternehmen dabei, auch kleinen und mittleren Unternehmen die internationalen Märkte zu öffnen. Die deutsche Außenwirtschaftspolitik hat in dieser Form in keinem anderen Land ein Pendant. Diese Reformpolitik muß immer wieder durchgesetzt werden gegen erbitterte Widerstände, auch - neben anderem - gegen eine Blockadehaltung im Bundesrat. ({10}) Jeder, der dieses Konzept kritisiert, muß sich fragen lassen, ob er ein eigenes hat, ein besseres. Da sage ich sine ira et studio: Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Konzepte, soweit sie denn überhaupt von den unseren abweichen, hatten in der Vergangenheit ihr konkretes wirtschaftspolitisches Versuchsfeld. Sie sind immer gescheitert. ({11}) - Lassen Sie mich das vortragen. Da sind die nachfrageorientierten Programme der 70er Jahre, zum Beispiel bei den Investitionen. Deren Erfolg ist umstritten. Jetzt, da es gilt, strukturelle Verwerfungen der Wirtschaft zu beseitigen, könnten solche Programme überhaupt nichts fruchten. ({12}) Auch die veralteten Vorstellungen von der Kaufkrafttheorie der Löhne helfen nicht weiter. Dies muß schon daran scheitern, daß eine Steigerung der Nettolöhne um 360 DM - wir haben das ausgerechnet - in den Betrieben mit Kostensteigerungen von 1 000 DM zu Buche schlagen würde. Wir wollen die Nachfrage, die ihr Gewicht und ihre Bedeutung hat, durch Erhöhung des verfügbaren Einkommens stärken: also weniger Steuern, weniger Abgaben und mehr Arbeitsplätze. Das schafft Kaufkraft, meine Damen und Herren. ({13}) Ein dritter Bereich. Die Politik der Dauer- und Höchstsubventionierung des sogenannten zweiten Arbeitsmarktes ist gesamtwirtschaftlich zu teuer und vernichtet mittelfristig Arbeitsplätze auf dem normalen Arbeitsmarkt, insbesondere im Mittelstand. Dabei ist der befristeten und degressiven Anlage von Maßnahmen, insbesondere in den neuen Bundesländern, durchaus eine Brückenfunktion zuzusprechen. Ich habe das immer gesagt und mich immer dafür eingesetzt. Diese Maßnahmen sind aber kein Allheilmittel. Scheitern müßte auch eine Politik, die, wie die Opposition es will, weiterhin auf die Hochsubventionierung ganzer Wirtschaftszweige, etwa Kohle und Werften, setzt. Zwar können befristete Hilfen in diesem Bereich Härten lindern und Wege in lebensfähige Strukturen öffnen, aber alles andere geht zu Lasten moderner, innovativer Wirtschaftszweige. ({14}) Scheitern müßte auch eine Politik von Teilen der SPD, die darauf setzen, gesamtgesellschaftliche Standards, etwa im Umweltschutz und in der Sozialpolitik, international abzusprechen mit dem Ziel, Wettbewerbsnachteile für entwickelte Länder abzuwenden. So verlockend der Gedanke eines solchen Superbündnisses für Arbeit vielen auch erscheinen mag: Die Schwellenländer und die Entwicklungsländer lehnen das rundweg ab. Schließlich - das sage ich in Richtung Grüne -: Nicht falsch, aber zu dünn ist auch eine Politik, die darauf setzt, durch Beschränkung auf Umweltschutz, Bahntechnologie und regenerative Energien die Arbeitsmarktprobleme der heutigen Zeit lösen zu wollen. In diesen Bereichen gibt es Wachstumspotentiale - niemand will das in Frage stellen -, aber nicht geBundesminister Dr. Günter Rexrodt nug. Was wir brauchen, ist allgemeine Technik- und Technologieakzeptanz, nicht Verweigerungspolitik in den Genehmigungsbehörden. ({15}) Völlig absurd wird es dann - das sage ich auch in Ihre Richtung, meine Damen und Herren von den Grünen -, wenn sich grüne Strategen für den Erhalt der hohen Kohlesubventionen stark machen. All diese Rezepte, Ihre Rezepte, sind in der Vergangenheit ohne Wirkung geblieben. Sie sind die Antworten von gestern auf die Fragen von heute. ({16}) So manche der Reformen, die wir machen, sind unpopulär, aber dennoch überfällig. Nicht nur der Sachverständigenrat beklagt - ich zitiere - ,,Verzögerungen und Blockaden bei der politischen Umsetzung". Die Beispiele dafür sind Legion: bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, bei der Reform der Arbeitsmarktförderung, bei der Deregulierung von Telekommunikation und jetzt wieder Gelber Post, im Arbeitsrecht, bei den Ladenöffnungszeiten, ({17}) bei der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte - ({18}) - Was gibt es denn da zu schreien? Das haben Sie doch blockiert. Der Sachverständigenrat sagt gleichzeitig - ich zitiere -: „Es ist einiges auf den Weg gebracht, mehr als wir erhoffen konnten." ({19}) - Ich zitiere nur. Das ist Ihre eigene Schande, meine Damen und Herren, die Sie nichts haben bieten können außer Kritik - ohne Vorlage eines in sich schlüssigen Konzepts. Was wir auf den Weg gebracht haben - ich nenne nur Beispiele -, sind umfassende Gesetzesänderungen im Bereich der Genehmigungsverfahren. Hierbei haben dankenswerterweise die Länder mitgewirkt. Die Reform des öffentlichen Dienstrechts, die wir angegangen sind, die erste Konsolidierung der gesetzlichen Rentenversicherung, die neuen Regelungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ({20}) die Abschaffung der Vermögensteuer und die Reform der Arbeitslosenhilfe - das sind Reformen, die Realität geworden sind. ({21}) Ich hoffe sehr, daß die Gespräche zur großen Steuerreform zu vernünftigen Ergebnissen führen werden. Aber die Steuerreform darf im Kern nicht verwässert werden. Zu nennen sind die Nettoentlastung der Bürger und Unternehmen in der Größenordnung von etwa 30 Milliarden DM, mehr Steuergerechtigkeit durch Schließen der Steuerschlupflöcher und Senkung des gesamten Tarifs bei deutlich niedrigerem Eingangssteuersatz und Senkung des Spitzensteuersatzes unter 40 Prozent. Wer diesen niedrigeren Spitzensteuersatz als Geschenk an die Reichen abtut, ({22}) der täuscht bewußt darüber hinweg, daß nur ein international attraktiver Steuersatz Investitionen und Arbeitsplätze nach Deutschland bringt ({23}) und daß nur ein attraktiver Steuersatz Menschen in unserem Land hält, Führungskräfte, qualifizierte Arbeitnehmer, Selbständige, die wir als Leistungsträger in diesem Land brauchen. Niemand möge vergessen, daß die Masse der gewerblichen Einkünfte von natürlichen Personen, nicht von Körperschaften versteuert wird. Eben diese Personen brauchen steuerliche Entlastung mit der Steuerreform. ({24}) So bedeutsam wie die Steuerreform sind Maßnahmen zur Neuordnung der sozialen Sicherungssysteme. Die Sozialbeiträge sollen wieder unter 40 Prozent sinken. Auch dies ist gemeinsam vereinbartes Ziel von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik. ({25}) Auch bei der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung bedarf es überparteilicher Zusammenarbeit. Richtig ist die Berücksichtigung der demographischen Entwicklung in der Rentenformel. Für problematisch halte ich die Vorschläge zu einer partiellen Abschaffung der Versicherungsfreiheit für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Das würde in der Schwarzarbeit enden. Auch die Familienkasse wirft kritische Fragen auf. ({26}) Das Thema der Umfinanzierung der sogenannten versicherungsfremden Leistungen - gegebenenfalls durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - kann aus wirtschaftspolitischer Sicht nicht von einer direkten und zurechenbaren Senkung der Beiträge zu den Sozialversicherungen losgelöst werden. ({27}) Wir dürfen Reformen im System nicht verzögern. Verschiebebahnhöfe vom Beitragszahler zum SteuerBundesminister Dr. Günter Rexrodt zahler sind möglicherweise unumgänglich; aber sie sind kein Allheilmittel, und sie können nicht am Anfang dieser Entwicklung stehen. ({28}) Wir brauchen ein Umdenken auch in der Kohlepolitik. ({29}) Kohlesubventionen von 10 Milliarden DM pro Jahr sind finanzpolitisch und gesamtwirtschaftlich nicht länger vertretbar. ({30}) Notwendig ist eine klare Linie über einen zeitlich abgestuften Subventionsabbau, über den Einigkeit besteht und der von regionaler Flankierung begleitet sein muß. Ich habe Verständnis für die Sorgen der Menschen in der Region um ihren Arbeitsplatz. Aber alle müssen wissen: Nur ein nachhaltiger Strukturwandel kann ihnen eine Perspektive geben. Arbeitsplätze, für die der Steuerzahler jeweils 135 000 DM im Jahr aufbringen muß, sind auf Dauer nicht sicher. ({31}) Die Bundesregierung wird in allernächster Zeit einen Finanzrahmen vorlegen, der die Förderung bis 2005 regelt. Von den Revierländern erwarte ich, daß sie sich ihrer regionalpolitischen Verantwortung stellen und einen höheren Eigenbeitrag als bisher übernehmen. Bund und Länder tragen auch in der Kernenergie eine große energiepolitische Verantwortung. Für eine Lösung bei der Steinkohle ist es unverzichtbar, daß die betroffenen Länder - und auf Bundesebene Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle und auch bei der Behandlung der Kernenergieoption eine realistische und pragmatische Haltung einnehmen. ({32}) Gut, daß sich hier ein Wandel zum Besseren zumindest abzeichnet. Nach wie vor großes Engagement erfordert der wirtschaftliche Aufbau der neuen Bundesländer. Zur Habenseite gehören dort: die Zunahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Anstieg der Investitionsquote auf rund 52 Prozent - das ist mehr, als wir in den alten Ländern je hatten -, die großen Verbesserungen in der Infrastruktur. Aber auf der Sollseite stehen: die immer noch zu schmale industrielle Basis, der mit rund 30 Prozent viel zu hohe Lohnstückkostenüberhang gegenüber Westdeutschland, die nach wie vor große Lücke zwischen der Nachfrage und der eigenen Wirtschaftsleistung in den neuen Ländern. Für Investoren ist wichtig zu wissen: Die notwendigen Hilfen für die neuen Bundesländer werden auch nach 1998 auf hohem Niveau fortgesetzt. Die Bundesregierung wird dazu im engen Kontakt mit den Ländern, insbesondere mit den neuen Ländern, ein neues Konzept noch im ersten Halbjahr 1997 vorlegen. ({33}) Meine Damen und Herren, mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland erfordern Klarheit über die gemeinsame europäische Währung - im Interesse der Unternehmen und der Bürger. Die Währungsunion verbessert europaweit die Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung. Die gemeinsame Währung verringert Wechselkursrisiken, sie spart Transaktionskosten. Sie muß und sie wird so stabil sein wie die D-Mark. Dafür wird die Europäische Zentralbank in Frankfurt sorgen. Dafür sorgt der Stabilitäts- und Wachstumspakt der beteiligten Länder. Der Bund wird alles daransetzen, die Kriterien von Maastricht zu erfüllen. Ich habe Verständnis für die Fragen der Menschen in diesem Zusammenhang. Ich halte es aber für unverantwortlich, mit den Ängsten der Menschen parteitaktische Spielchen zu treiben. ({34}) Derartige Spielchen wären eine neue Qualität, nein, ein neuer Tiefstand der politischen Auseinandersetzung in unserem Land. Und das verhindert Investitionen, das vernichtet Arbeitsplätze in Deutschland. Meine Damen und Herren, daß eine konsequente Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, eine konsequente Reformpolitik, erfolgreich sein kann, haben uns andere Länder vorgemacht, und zwar nicht nur die USA. In Neuseeland ist die Arbeitslosenquote dank einer weitgehenden Flexibilisierung der Arbeitswelt innerhalb weniger Jahre von 10 Prozent auf 6 Prozent gesunken. ({35}) - Das ist so, informieren Sie sich! In den Niederlanden haben Nullrunden in der Tarifpolitik und ein gestiegenes Angebot an Teilzeitkräften, das auch wir brauchen, während der vergangenen Jahre eine rückläufige Arbeitslosenquote bewirkt. Großbritannien ist dank moderater Lohnabschlüsse zum größten Empfängerland ausländischer Direktinvestitionen in Europa geworden. Auch Schweden, ein Land mit traditionell stark ausgeprägtem Sozialstaat, hat das Haushaltsdefizit radikal vermindert. In all diesen Ländern - und auch in anderen - ist Reformpolitik gemacht worden, wie wir sie machen, wie wir sie wollen. Diese Länder beweisen, daß konsequente Reformpolitik, daß die Umwandlung unserer Gesellschaft dazu führen kann, die Arbeitslosenquote drastisch zu reduzieren. ({36}) Auch in Deutschland werden marktwirtschaftliche Reformen die Investitions- und BeschäftigungsdynaBundesminister Dr. Günter Rexrodt mik anregen. Wer die notwendigen Reformen als Politik der sozialen Kälte abqualifiziert, macht es sich schlichtweg zu einfach. Wir korrigieren Übersteigerungen des Sozialstaats, und wir wollen den Sozialstaat damit in seiner Substanz sicherer machen. ({37}) Meine Damen und Herren, wir müssen und wir werden die Bedingungen dafür schaffen, daß die Unternehmen und die arbeitenden Menschen in Deutschland in einer radikal veränderten Welt mithalten können. Das ist eine große, das ist eine schwierige Aufgabe. Wirtschaft und Gewerkschaften haben dabei ihren Teil der Verantwortung zu tragen. Politiker aller Couleur haben dabei an herausragender Stelle mitzuwirken. Dabei wird es Kompromisse geben, aber den Grundsätzen, meine Damen und Herren, müssen wir treu bleiben. Die Reformpolitik der Bundesregierung ist im Kern ohne Alternative. Wir werden sie durchhalten, und sie wird wie anderswo am Ende ein Erfolg sein, ({38}) im Interesse neuer Arbeitsplätze und im Interesse der Menschen. Ich danke Ihnen. ({39})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte nicht geglaubt, daß die Mattheit, die Lustlosigkeit, die Ideenlosigkeit der Regierungserklärung vom 31. Januar zu steigern wäre. ({0}) Das, was Sie uns hier bieten, ist ein Dokument der Ignoranz ({1}) vor den schweren Problemen, in denen sich Deutschland befindet. ({2}) Sie maskieren das als konsequente Haltung. Tatsächlich aber wird nicht das eingelöst, was mit dem Jahreswirtschaftsbericht eigentlich erreicht werden sollte. Vor 30 Jahren, 1968, hat Karl Schiller zum erstenmal hier einen Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Er hat im Deutschen Bundestag gesagt, der Bericht sei ein Wagnis. Man hat jetzt gelernt, daß das tatsächlich so ist. Die Bundesregierung gehe dieses Wagnis bewußt ein, nämlich das Risiko, die Glaubwürdigkeit ihrer Politik im Laufe des Jahres immer wieder beweisen zu müssen. ({3}) Die Jahreswirtschaftsberichte dieser Bundesregierung sind immer mehr zu Dokumenten haltloser Ankündigungen, sinnloser Versprechungen und falscher Weichenstellungen geworden. Sonst sind sie nichts. ({4}) Was haben Sie uns, was haben Sie dem deutschen Volk alles gesagt: Führt die private Arbeitsvermittlung ein, dann gibt es eine wesentliche Belebung auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben jetzt 4,7 Millionen Arbeitslose, und wenn Sie so weitermachen, wird es noch schlimmer werden. Der Kurs muß korrigiert werden. Was Sie dem deutschen Volk zumuten, hat die Grenze dessen überschritten, was man vertreten kann. ({5}) Sie haben gesagt, die Einschränkung der Lohnfortzahlung führe zur Entlastung bei den Betrieben. Einen unproduktiven sozialen Konflikt haben Sie heraufbeschworen, sonst nichts. ({6}) Da, wo gemeinsame Verantwortung gefragt wäre, haben Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Betriebsräten, die täglich in den Betrieben und in den Verwaltungen beweisen, daß sie Verantwortung übernehmen, daß sie die Situation des Landes verstanden haben, daß sie auch bereit sind, sogar berechtigte Ansprüche zurückzustellen, ins Gesicht geschlagen und eine historische Chance zur Bildung eines wirksamen Bündnisses für Arbeit zerdeppert. ({7}) Dann haben Sie uns hier erzählt: Wenn das Schlechtwettergeld abgeschafft wird, dann sparen wir 800 Millionen DM. Das sind amtliche Begründungen der Bundesregierung. Über 200 000 Menschen haben Sie zusätzlich arbeitslos gemacht. Sie haben die öffentlichen Kassen damit erneut beschädigt. ({8}) Ich lasse es bei diesen drei Beispielen. Sie sind ja Legion. Man würde viel zuviel Zeit verbrauchen, wenn man alles aufzählen wollte, was diese Regierung angekündigt hat, und die tatsächlichen Wirkungen beschreiben würde, die daraus entstanden sind. ({9}) Die letzten Jahreswirtschaftsberichte und die Reden des Herrn Bundeswirtschaftsministers waren schon eine Zumutung. Aber das, was Sie uns heute bieten, ist ein Dokument des Unwillens, ja der Unfähigkeit, aus eigenen Fehlern zu lernen, umzuRudolf Scharping steuern, dem Land wieder Richtung und Orientierung zu geben. ({10}) Auf was soll man sich bei dieser Regierung verlassen, außer auf diesen Unwillen und diese Unfähigkeit? Der Bundeskanzler gibt im Deutschen Bundestag am 31. Januar eine Regierungserklärung ab. Ich habe das Nötige dazu gesagt. Aber wenige Wochen später verkündet der Herr Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU in einem Interview der „Wirtschaftswoche" ganz nebenbei, daß wesentliche Teile dieser Regierungserklärung überhaupt nicht mehr gelten. Was zählt denn jetzt, das Wort des Bundeskanzlers hier im Deutschen Bundestag oder das des Kanzlers im Nebenamt in der „Wirtschaftswoche"? Was ist jetzt die Orientierung für deutsche Politik? ({11}) Da stellt sich der Bundeswirtschaftsminister hierhin und kritisiert Vorschläge, die aus der eigenen Bundesregierung kommen. Es ist insofern eine neue Erfahrung, daß Sie Ihren Streit nicht mehr nur in den Gazetten austragen, sondern mittlerweile auch schon hier im Deutschen Bundestag. Was gilt denn jetzt? Das Wort von Norbert Blüm zur Rente oder das Wort von Herrn Biedenkopf zur Rente oder das, was Herr Rexrodt hier gesagt hat? Schaffen Sie doch einmal Klarheit über Ihre eigene Politik! Denn sonst kann ja keine sinnvolle Debatte entstehen. ({12}) Dann lese ich, daß aus den Reihen der Koalitionsparteien gesagt wird: Haushaltssperre ja, Haushaltssperre jetzt noch nicht, Haushaltssperre vielleicht später. Heute meldet sich einer, den ich ganz gut kenne, und sagt, wir brauchen ein Haushaltssicherungsgesetz. Wissen Sie was? Mit dieser flackernden, irrlichternden, wankenden, hin- und herschwankenden Politik verweigern Sie das, was wir am dringendsten brauchen, nämlich verläßliche, klare Orientierung für die Schritte, die in die Zukunft gegangen werden müssen. ({13}) Es mag ja sein: Wir haben sicher das eine oder andere Standortrisiko, aber das größte Standortrisiko ist die Politik dieser Bundesregierung, ist ihre Unfähigkeit, wirksam etwas für die Zukunft unseres Landes zu tun. ({14}) - Ich habe Ihnen schon einmal erzählt, was von diesen Blockadevorwürfen zu halten ist. Erstens glaubt es niemand im deutschen Volk. ({15}) Zweitens ist es schlicht gelogen; denn von den 180 Gesetzentwürfen, die den Deutschen Bundesrat erreicht haben, sind gerade einmal 15 Prozent in den Vermittlungsausschuß gekommen. Die Mehrheit dieser Vermittlungsbegehren ist mit CDU-Landesregierungen beschlossen worden. ({16}) Sie wissen doch selbst ganz genau, daß in Bayern, in Baden-Württemberg, in Sachsen viele Christdemokraten sitzen, die mit Ihrer Politik vollständig unzufrieden sind. ({17}) Wenn Sie einmal in Ihre eigenen Reihen schauen, dann wissen Sie, daß Sie nicht mehr in der Lage sind, eine konsistente Politik zu formulieren. ({18}) Anstatt dafür zu sorgen, daß die deutsche Wirtschaft sichere und verläßliche Rahmenbedingungen bekommt, gibt es ein ständiges Hin und Her. Anstatt dafür zu sorgen, daß der Staat seine Fähigkeit behält, in die Zukunft zu investieren, anstatt sie immer stärker zu belasten und zu konsumieren, machen Sie das Gegenteil dessen, was jeder kluge Mensch tun würde, nämlich die Kräfte des Zusammenhaltes, die Kräfte für die Zukunft, die Kräfte für die Innovationen in diesem Land stärken. Anstatt Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen, den täglichen Diebstahl und Mißbrauch von Arbeit und Arbeitsmöglichkeiten zu unterbinden, lassen Sie das alles laufen. Anstatt in Köpfe und Können zu investieren, hängen Sie noch immer dieser alten Ideologie nach, man müsse möglichst viel in Beton und Boden investieren. Das ist aber die falsche Strategie. ({19}) Jetzt will ich Ihnen das noch einmal mit einigen Beispielen belegen. Ich beginne mit dem Beispiel „Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt". Es ist, Herr Bundeswirtschaftsminister, unerträglich, daß in einem Land mit fast 5 Millionen statistisch erfaßten Arbeitslosen gleichzeitig 6 Millionen Menschen außerhalb der Sozialversicherung arbeiten. Es ist unerträglich, daß von diesen 6 Millionen Menschen 1,5 Millionen eine feste Tätigkeit und einen versicherungsfreien Job haben und damit noch nicht einmal zur Sozialversicherung beitragen. Sie wissen doch ganz genau, wie heftig das in dieser Koalition umstritten ist. Die CDU weiß ganz genau, daß an diesen miserablen Verhältnissen nichts geändert werden kann, weil die F.D.P. sagt, sie will es nicht - zum Schaden des Einzelhandels, zum Schaden der selbständigen Existenzen. ({20}) Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit: Wir werden am Montag beginnen zu studieren, was zählt Rudolf Scharping das Überlebensinteresse der F.D.P. oder die Zukunftsinteressen Deutschlands. ({21}) Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel. Wo sind denn die Aktivitäten des Bundesarbeitsministers, der Arbeitsverwaltung, um den täglichen Mißbrauch auf Baustellen und anderenorts durch illegale Arbeit zu unterbinden? Da hat ein Sozialminister jetzt einmal eine überraschende Sperrpunktaktion durchgeführt: Man hat auf einer einzigen Baustelle über 100 illegal Beschäftigte entdeckt. In Berlin wird ein Luxushotel gebaut. Allein auf dieser einen Baustelle hat man sofort über 30 illegal Beschäftigte entdeckt. Seriöse Schätzungen sagen, es gebe mindestens 800 000 illegale Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland. Tun Sie endlich etwas dagegen, denn daraus muß man ordentliche Arbeitsplätze machen, damit die Arbeitslosigkeit sinken kann! ({22}) Im Jahreswirtschaftsbericht und in der Rede von Herrn Rexrodt gab es dazu kein einziges Wort. Ich nenne Ihnen auch noch einmal das Stichwort der Überstunden, das der Bundeskanzler wegen des Ausschlusses der Verwechslungsgefahr in seiner Ansprache an Silvester - sonst besteht ja Verwechslungsgefahr - mittlerweile aufgegriffen hat. Das ist auch gut so. Aber auch Sie wissen doch ganz genau, daß verläßliche Politik nicht dadurch entsteht, daß Sie immer plötzlich Dinge fordern, die Sie selbst hier im Deutschen Bundestag mehrfach abgelehnt haben. Was ist denn das für eine Politik, die übersieht, was in Deutschland im Gange ist? ({23}) Ich könnte Ihnen viele solcher Beispiele nennen. Ich komme zu einem anderen Stichwort, nämlich zu dem Stichwort „sichere Rahmenbedingungen". ({24}) - Herr Kollege Schäuble, daß Sie ein begabter Polemiker sind, haben Sie hier mehrfach bewiesen. Aber eines sage ich Ihnen auch: Die Tatsache, daß Sie offenkundig mit der Politik Ihres eigenen Kanzlers in hohem Maße unzufrieden sind, daß Sie sich als Antreiber verstehen und dabei erhebliche Konflikte aufreißen, ist Ihr parteiinternes Problem. Das Elend ist nur: Es wirkt sich für Deutschland negativ aus, daß Sie Ihre Dinge nicht mehr zusammenhalten können. ({25}) Also: Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen, sichere Rahmenbedingungen gewährleisten. ({26}) Ich sage Ihnen etwas im Zusammenhang mit den Gesprächen, die sich über die Steuerfragen ergeben werden, und ich sage Ihnen etwas im Zusammenhang mit Lohnnebenkosten; denn wir werden das nicht auseinanderreißen lassen. Sie haben den Sozialstaat erst zum Lastesel Ihrer Fehler gemacht, und jetzt wollen Sie ihn zum Opfer Ihrer Fehler machen. Das werden Sie mit uns nicht erreichen. Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit: Die Senkung der Lohnnebenkosten ist nicht etwa eine Frage der Umschichtung, wie der Herr Bundeswirtschaftsminister meint, oder der Umfinanzierung. Es geht darum, einen Mißstand zu beseitigen, nämlich daß Deutschland von allen OECD-Staaten, von allen Industriestaaten auf der Erde seine Arbeitsplätze und seine Arbeitseinkommen am stärksten belastet. Es ist doch idiotisch, daß wir das am stärksten belasten, was wir am dringendsten brauchen, nämlich Arbeitsplätze, Konsumnachfrage, Menschen, die Vertrauen haben, daß ihre Arbeit sich noch lohnt, und Tarifverhandlungen, bei denen man weiß, daß man tatsächlich etwas erreicht, und durch ständige Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge alles wegfressen, was wir für den Binnenkreislauf brauchen. ({27}) Also: Die Lohnnebenkosten müssen runter, die versicherungsfremden Leistungen raus aus der Sozialversicherung. Dann können wir auch gerne streitig diskutieren, wie man das finanziert - durch Abbau von Bürokratie, durch Abbau von Subventionen und durch einen fairen Lastenausgleich. Sie haben das Angebot der SPD ausgeschlagen, die betrieblichen Substanzsteuern abzuschaffen, und Sie haben den finanziellen Rahmen dafür durch die Abschaffung der privaten Vermögensteuer zerschlagen. Das war ein unerträglich dummer Fehler. ({28}) Sie sagen immer, Sie haben ein Konzept beim Steuersystem. Was ist denn das für ein Konzept, bei dem Sie selber 44 Milliarden DM zusätzliche Haushaltslöcher zusammenrechnen? Andere, die ein bißchen genauer nachrechnen, kommen zu 55 oder mehr Milliarden DM. Sie können doch nicht dem deutschen Volk erzählen, Sie hätten ein finanz- und steuerpolitisches Konzept, ({29}) wenn an dessen Ende ein neuerliches Haushaltsloch von 50 Milliarden DM oder mehr steht, ({30}) zusätzlich zu denen, die wir schon haben. Ich weiß es doch ganz genau. Sie haben sich lange darüber unterhalten: Verkünden wir erst Entlastungen, und nehmen wir dann die SPD in Mithaftung für die Finanzierung dieser Entlastung? Es haben sich die durchgesetzt, die das so wollten - einer sitzt mir gegenüber. Die anderen, die ein geschlossenes Konzept haben wollten, das berechenbar auch die Belastungen beinhaltet, haben sich nicht durchgesetzt. Was ist dabei entstanden? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß man hier von dem Pult im Deutschen Bundestag aus flexiblen Einsatz von Arbeitskraft, lange Maschinenlaufzeiten, intelligente Organisation der Arbeit fordern und dann den Vorschlag machen kann, daß die 7,5 Millionen Menschen, die nachts, feiertags oder sonntags arbeiten müssen, vom Staat einen Strafzettel hinterhergeschickt bekommen. Wir werden dieser Strafzettelaktion nicht zustimmen, und Sie haben keine Chance, das durchzusetzen - keine! ({31}) Dasselbe gilt für viele andere Bereiche, die ich schon mit Rücksicht auf die Zeit jetzt nicht aufzähle. Aber ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Auch da wird die Frage geklärt werden, was zählt. Kommen wir zu einer wirksamen Entlastung insbesondere der Leistungsträger? Was ist das für eine Politik, die immer die Leistung in Deutschland beschwört und dann den Menschen, die für die wirtschaftliche Kraft unseres Landes die zentrale Bedeutung haben, den Leistungsträgern, den Facharbeitern, den Ingenieuren, den Handwerksmeistern, eine wirksame Entlastung verweigert? Sie können uns doch nicht erzählen, daß es wirtschaftspolitisch sinnvoll, finanzpolitisch verantwortbar oder sozialpolitisch vertretbar sei, wenn die Leute mit Jahreseinkommen zwischen 60 000 und 100 000 DM am wenigsten entlastet werden und denen dann auch noch Strafaktionen wie Erhöhung der Mehrwertsteuer, Besteuerung der Zuschläge, Eingriffe in die Rentenversicherung oder in die Altersversorgung drohen. Sie zerstören das Vertrauen in die Verläßlichkeit von Politik in Deutschland. Was Sie mit der Rentenbesteuerung oder mit den Eingriffen in die Lebensversicherung vorhaben, das ist ja auch bei Ihnen heftig umstritten. Aber wir werden Ihnen helfen, das ein bißchen zu lichten und diese Dummheiten zu vergessen. Sie haben keine Chance, die Arbeitnehmer zusätzlich zu belasten, und Sie werden auch keine Chance bekommen, den Generationenvertrag erneut zu beschädigen, wie Sie das offenkundig vorhaben. ({32}) An dieser Stelle, bei der Frage nach sicheren Rahmenbedingungen, muß ich Ihnen ins Gedächtnis rufen - ich sage das in aller Deutlichkeit -, daß keine Bundesregierung so häufig Ankündigungen in die Welt gesetzt und das Gegenteil getan hat, keine Bundesregierung so häufig die Menschen belogen und betrogen hat - keine! ({33}) Ich will Ihnen das mit Zitaten deutlich machen. Ich sage klipp und klar, - sagt der Bundeskanzler daß eine Erhöhung der Steuerlast nicht in Frage kommt. In der laufenden Diskussion muß daran erinnert werden, daß die Steuererhöhungen 1990 allein den Zweck hatten, den Aufbau der neuen Bundesländer zu finanzieren. Das ist leider falsch. Sie haben da den Sozialstaat zum Lastesel gemacht, und Sie haben den Menschen versprochen, es werde keine Steuererhöhungen geben. Mir läuft es immer kalt den Buckel herunter, wenn Sie sagen, es gebe keine Steuererhöhungen oder Sie wollten Steuersenkungen. Am Ende sind dabei immer nur Erhöhungen herausgekommen. ({34}) Ich will Ihnen zweitens sagen, was Sie den Rentnerinnen und Rentnern gesagt haben: Kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser, kein Kriegsopfer, kein Sozialhilfeempfänger braucht Leistungskürzungen zu befürchten. Gilt das noch? Die Rente bleibt tabu. Gilt das noch? Die Renten sind von Sparmaßnahmen nicht betroffen. Die Rente ist der Lohn für die Lebensleistung eines Menschen; sie steht außerhalb der Debatte. Gilt das noch? Ihre Rente ist und bleibt sicher. Meine Damen und Herren, das alles sind Zitate des, wie Sie es empfinden, wichtigsten Entscheidungsträgers der deutschen Politik. Ich sehe das anders; aber das tut jetzt nichts zur Sache. Wenn der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland in Dutzenden von Zitaten Sicherheit suggeriert und seine Regierung zu Lasten der Schwächeren in der Gesellschaft, der Rentnerinnen und Rentner das präzise Gegenteil tut, dann zerstören Sie das Wichtigste, was eine Demokratie braucht, nämlich Glaubwürdigkeit, Verläßlichkeit und Gradlinigkeit. Sagen Sie den Menschen, was Sie wollen, anstatt sie fortwährend über die wahren Absichten Ihrer Politik zu täuschen! ({35}) Das gilt übrigens auch für ein drittes Feld. ({36}) Der Staat muß mehr in die Zukunft investieren. Sie haben doch behauptet, die private Arbeitsvermittlung bringe etwas. Ich habe hier die Aussagen von wichtigen Wirtschaftsverbänden; wir haben sie alle gebeten, zu Ihren Behauptungen Stellung zu nehmen. Nichts von dem, was Sie sagen, wird von den Unternehmen oder von den Wirtschaftsverbänden wirklich geteilt. Deutschland ist mit Ihrer Politik im Bereich von Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie auf einen der hinteren Plätze abgerutscht. Sie betreiben keine Zukunftsvorsorge mehr, weder beim Schutz der Umwelt noch beim Ausbau der Infrastruktur, weder bei der Modernisierung des Bildungswesens noch beim Wissenstransfer, schon gar nicht beim Risikokapital. Ich könnte viele solcher Stichpunkte aufzählen. Unter dem Strich steht folgendes: Meine Damen und Herren, Sie haben wie keine Regierung zuvor die Zukunftsvorsorge, die Sicherung der Zukunft, vernachlässigt. Keine Regierung hat jemals die Aufwendungen für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie so stark zurückgeführt wie Sie. ({37}) Keine Regierung hat jemals so wie Sie dafür gesorgt, daß die öffentlichen Investitionen nicht mehr ausreichen. Deshalb ist es dringend notwendig, zwei Dinge miteinander zu verknüpfen: die strikte Modernisierung staatlicher Tätigkeit mit dem Ziel der Steigerung von Effizienz und Qualität und das Freischaufeln von Räumen, damit der Staat wieder in die Zukunft investieren kann, zum Beispiel bezüglich des Ausbaus der Infrastruktur. Reden Sie doch einmal mit der Bauwirtschaft! Reden Sie einmal mit den entsprechenden Verbänden! Reden Sie einmal mit den vielen anderen! Sie wissen ganz genau, daß Ihre Politik die Investitionskraft der Gemeinden ruiniert hat, den Ländern Unsicherheiten beschert hat und daß der Rückgang der Investitionen des Bundes zugleich eine Steigerung der Arbeitslosigkeit mit bewirkt hat. - Also: Strikte Modernisierung staatlicher Tätigkeit im Interesse von Effizienz und Qualität und moderne Investitionstätigkeit gehören zusammen. Ich will Sie daran erinnern: Wir haben uns mit Ihnen mehrere Male streitig auseinandersetzen müssen. Ein aktuelles Beispiel ist die Reform des Dienstrechtes. Wenn im öffentlichen Dienst das Prinzip der Leistung nicht auch in der Besoldung strikt durchgesetzt wird, wenn Sie nicht bereit sind, projektorientiert, zielorientiert und mit Spitzenfunktionen auf Zeit den öffentlichen Dienst in diesem Teil seiner Strukturen zu modernisieren, dann werden Sie nie mehr die Kraft haben, in die Zukunft zu investieren. ({38}) Ich sage Ihnen das, weil Sie hier völlig halbherzig verfahren. Das vierte ist: Sie beschädigen, anstatt es zu stärken, das, was wir am dringendsten brauchen, nämlich den sozialen Zusammenhalt. Das ist eigentlich kurios, in der Sache aber unverantwortlich. In einer Zeit, in der es wie selten zuvor darauf ankommt, das Vertrauen der Menschen in den sozialen Frieden und ihre Fähigkeit zur Bewahrung des sozialen Zusammenhalts zu stärken, ruinieren Sie es und berufen sich dann auch noch auf Ludwig Erhard. Der arme Mann kann sich ja nicht mehr wehren. ({39}) Ich sage Ihnen mit Blick auf Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung: Sie sollten endlich bereit sein, den Sozialstaat von versicherungsfremden Aufgaben zu entlasten. Schauen Sie sich einmal an, was Sie tun: Herr Seehofer schlägt eine Reform des Gesundheitswesens vor, die diesen Namen in keiner Weise verdient. Herr Geißler kommt dann und sagt: Das geht so überhaupt nicht. - Es wird auch in diesem Punkt innerhalb der Koalition gestritten. Es wird keine klare, zuverlässige Politik mehr gemacht. Auch dazu sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Sie werden keine einzige Entscheidung mit uns bekommen, wenn es nicht gelingt, den Sozialstaat wieder auf das zu konzentrieren, was er sein muß, nämlich Garant des sozialen Friedens, des sozialen Zusammenhalts und Schutz gegen große Lebensrisiken. Wenn Sie das nicht tun, läuft da nichts. ({40}) Meine Damen und Herren, ich will damit folgendes sagen: ({41}) - Daß Sie nicht zuhören können, das habe ich schon gemerkt. Wir legen Ihnen ständig Vorschläge auf den Tisch: ({42}) zum Abbau versicherungsfremder Leistungen, zur Umfinanzierung der Sozialversicherung, zur Reform des öffentlichen Dienstes, zur Gewährleistung sicherer Rahmenbedingungen usw. - fortwährend! ({43}) Die Tatsache, daß Sie ignorant sind, daß Sie alles ablehnen, was an Vorschlägen kommt, das beweist nur, daß Sie unfähig geworden sind, sich wirksam in der Sache voranzubewegen. Die Vorschläge sind Legion, Ihre Blockade auch. Wenn es überhaupt jemanden gibt, der in Deutschland aus Gründen der Ignoranz und der Ideologie Besitzstandwahrung und Blockade und Belastung der Zukunft der Jüngeren und der Familien betreibt, dann ist es diese Koalition. Ihre Politik ist am Ende; Sie sind mit Ihrem Latein am Ende. Sie gehören aus dem Amt, und zwar so schnell wie möglich! ({44})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Gerhard Stoltenberg.

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei Ihrer Rede, Herr Scharping, erinnerte ich mich daran, daß viele Jahre lang Debatten über den Jahreswirtschaftsbericht ein Höhepunkt der anspruchsvollen Diskussion in Deutschland waren. ({0}) Seit den ausgehenden 60er Jahren haben zum Beispiel Karl Schiller - ({1}) - Nein, es ist keine Nostalgie, über Karl Schiller zu reden und Ludwig Erhard. Es ist hochaktuell. Sie könnten von beiden viel lernen. ({2}) Seit den ausgehenden 60er Jahren haben Karl Schiller, Otto Graf Lambsdorff und andere beachtliche Maßstäbe gesetzt. In den letzten Diskussionen erleben wir von der SPD zunehmend Kritik ohne Alternativen, ein Übermaß an billiger Polemik, Herr Scharping, ({3}) und auch ein Bestreiten von Tatsachen. Ich glaube, Herr Scharping, daß Sie in dieser kritischen Zeit die Erwartungen der Menschen in Deutschland an eine solche Diskussion heute ebenso falsch eingeschätzt haben wie damals im November 1995 die Stimmung Ihrer Delegierten auf dem Bundesparteitag in Mannheim. ({4}) - Nein, nein, ich kann das nach diesen ganz unglaublichen Entgleisungen viel schärfer sagen: Mit gefälschten Zitaten dem Bundeskanzler Lügen vorzuwerfen, ist eine Stillosigkeit ohnegleichen. ({5}) Ich will einmal Ihren Antrag, den Sie eingebracht haben, auf die Realität hin untersuchen, jedenfalls mit einem Beispiel. Da lesen wir auf Seite 2 pauschal, daß wir „Unternehmensgewinne in nie gekannter Höhe" hätten. Das schreiben Sie in einer Zeit, wo auch viele Ihrer Kollegen ständig auf die kritische Lage im Mittelstand und in der Bauwirtschaft hinweisen und wo die Zahl der Konkurse zu hoch ist. Die betroffenen Mittelständler und Arbeitnehmer müssen sich verhöhnt fühlen, wenn die Sozialdemokraten nichts weiter dazu zu bieten haben. ({6}) Wenn Sie vielleicht meinen, damit seien die „Großen" angesprochen, dann will ich auf einen Sachverhalt verweisen, der auch sehr wichtig ist, wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen reden: Die Umsatzrendite der deutschen Aktiengesellschaften beträgt im Schnitt zur Zeit weniger als 30 Prozent der vergleichbaren amerikanischen Firmen und weniger als 50 Prozent derer in den Niederlanden. Natürlich ist das ein Punkt für Betriebsentscheidungen im Hinblick auf den drohenden und sich vollziehenden Export von Arbeitsplätzen in andere westliche Länder, den wir ändern müssen, wenn wir die Beschäftigungsprobleme in Deutschland endlich meistern wollen. ({7}) In den letzten Tagen hat die sozialdemokratische Führung ihre Kritik an der geplanten Senkung des Höchststeuersatzes bei der Einkommensteuer von jetzt 53 Prozent verschärft. Ihr ist offenbar nicht aufgefallen - trotz der Sozialistischen Internationale -, daß vor zehn Tagen in London das Programm einer erneuerten modernen Labour Party zur Wahl im Mai vorgelegt wurde. Ein Kernstück dieses Programms von Tony Blair und Gordon Brown ist die Aussage: Der Spitzensatz bei der Einkommensteuer von 40 Prozent darf auf keinen Fall erhöht werden. Die britischen Labour-Politiker haben zur Begründung ausgeführt, daß die tüchtigen, qualifizierten und erfolgreichen Mitbürger nicht überlastet werden dürfen. Das liegt im allgemeinen Interesse. Diese Einsicht einer modernen sozialdemokratischen Parteiführung mit großer Zustimmung in ihrer Wählerschaft ist von den reaktionären Parolen des Sozialneids meilenweit entfernt, ({8}) mit dem Lafontaine, Scharping und Co. immer noch meinen, in Deutschland Menschen beeindrucken zu können. Die Arroganz, mit der Sie hier aufgetreten sind, ist unangebracht, lieber Herr Scharping. ({9}) Versuchen Sie erst einmal, auf den Stand der anspruchsvollen wirtschaftswissenschaftlichen und finanzwissenschaftlichen Diskussionen und der Entwicklungen bei fortschrittlichen sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa zu kommen. ({10}) - Herr Kollege Fischer, auch bei Ihnen fällt mir einiges ein. Aber ich bin zur Zeit dabei, mich mit Herrn Scharping auseinanderzusetzen. Das tue ich mit derselben Offenheit, mit der auch Sie zu sprechen belieben. ({11}) Herr Kollege Scharping, Sie haben auf Mißstände auf dem Arbeitsmarkt hingewiesen. Da ist manches zu sagen. ({12}) Es ist doch so, daß eine sehr wichtige Reform, die diese Koalition relativ spät auf den Weg gebracht hat, in einem Punkt im Bundesrat von der SPD nicht mitvollzogen wurde. Wir haben eine notwendige ReDr. Gerhard Stoltenberg form der Sozialhilfe beschlossen. Aber an Ihren Parteifreunden im Bundesrat ist die Verwirklichung eines Abstandsgebots von 25 Prozent gescheitert. ({13}) Ich mache Sie nur darauf aufmerksam: Wenn wir wirklich Arbeitnehmerinteressen diskutieren, wenn wir die in manchen Bereichen immer noch fehlende Motivation zur Arbeit trotz hoher Arbeitslosigkeit verbessern wollen, dann müssen jede Frau und jeder Mann, die arbeiten, auch wissen, daß es ein deutliches Abstandsgebot gegenüber jenen in derselben Lebenslage gibt, die angebotene Arbeit nicht annehmen. ({14}) Wenn Sie heute hier erklären könnten oder einer Ihrer Ministerpräsidenten, zum Beispiel Herr Schröder, sagen könnte, daß wir diese Korrektur gemeinsam machen, dann hätten wir im Interesse der arbeitenden Menschen einen Ertrag. Es kann nicht so weitergehen, daß wir bei einer weit überhöhten Arbeitslosigkeit weit über eine Million legale Kontingentsarbeiter aus Nicht-EU-Ländern haben und weit über eineinhalb Millionen illegale. Das müssen wir im Interesse der deutschen und ausländischen Arbeitnehmer ändern, die hier legal arbeiten und bei uns zu hohe Steuern und Abgaben zahlen. ({15}) Aber es gab in den letzten Monaten auch einige beachtliche Beiträge sozialdemokratischer Politiker zu diesen Themen, allerdings mehr in Reden außerhalb dieses Hauses als in Diskussionen hier. Ich will das hier etwas verdeutlichen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Stoltenberg, gestatten Sie vorher noch eine Zwischenfrage zum Vorherigen?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Präsidentin, wenn das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nein. - Frau Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stoltenberg, können Sie mir nicht zustimmen, daß das Kernproblem des Lohnabstandsgebotes - denn da gibt es ein Problem - nicht etwa eine zu hohe Sozialhilfe, sondern ein zu niedriger Grundfreibetrag ist, weil heute das Existenzminimum der arbeitenden Menschen schon viel zu früh besteuert wird, und daß durch Ihre Blockadepolitik im letzten Winter, als wir den Grundfreibetrag erhöhen wollten - erinnern Sie sich? - und Sie es verhindert haben, das Problem des Lohnabstandsgebotes erst verschärft worden ist? ({0})

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Über den Grundfreibetrag und die Besteuerung der untersten Einkommensgruppen werden wir im Rahmen der Steuerreform reden. Der Vorschlag, den Einkommensteuersatz bei den niedrigsten Einkommen auf 15 Prozent zu senken, hat ja auch bei Ihnen Zustimmung gefunden. Der Hauptpunkt aber ist ein anderer, Frau Kollegin, das ist Ihnen bekannt. Wir führen eine Debatte über Parteigrenzen hinweg, ob es richtig war, in der Tarifpolitik die sogenannten Leichtlohngruppen abzuschaffen, und ob wir neben all dem anderen nicht wieder größere Anreize in der Tarifpolitik dafür schaffen müssen, daß auch einfachere Arbeiten wieder besser und umfassender von deutschen Mitbürgern angenommen werden. Da sehe ich das Hauptproblem; um es hier kurz zu beantworten. ({0}) Meine Damen und Herren, wir haben eine Arbeitslosigkeit, die uns alle herausfordert. Wir müssen sie freilich in der europäischen Dimension sehen. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist mit 10 Prozent zu hoch, in Italien und Frankreich beträgt sie allerdings 25 Prozent und in Spanien über 35 Prozent. Zugleich haben wir, worauf Herr Rexrodt schon hingewiesen hat, diesen anhaltenden, ungemein eindrucksvollen Aufbau neuer Beschäftigung in den USA mit über 10 Millionen Arbeitsplätzen seit dem Amtsantritt von Clinton vor wenig mehr als vier Jahren vor Augen. ({1}) - Das sind qualifizierte und weniger qualifizierte Tätigkeiten. ({2}) - Herr Kollege, wir dürfen doch nicht davon ausgehen, daß alle Menschen bald nur in der Computerwissenschaft und im öffentlichen Dienst und auf Grund eines Examens gehobene Tätigkeiten finden. Wir müssen auch Arbeiten für andere anbieten. Wir brauchen wieder ein breiteres Spektrum in der Arbeitswelt. ({3}) Wir müssen bestimmte Fehler, die in der Bildungspolitik und in der Bildungsberatung seit 1970 gemacht wurden, wieder korrigieren, wenn wir die Beschäftigungsprobleme meistern wollen. Deswegen ist es notwendig, den Ursachen für diese großen Erfolge in Amerika ernsthafter nachzugehen. Dazu gehören niedrigere Steuern und Abgaben, dazu gehören bessere Unternehmenserträge - ich sagte das schon -, dazu gehört viel mehr Flexibilität in der Lohnfindung, als wir es bisher in Deutschland erreicht haben. Es gibt Fortschritte, das ist wahr; ({4}) auch in den Tarifverträgen dieses Jahres gibt es Fortschritte. Sie kommen aber sehr spät und bei den großen Gewerkschaften mit ganz unterschiedlichem Tempo. Erfolgreicher auch in der Beschäftigungsentwicklung waren jene Sektoren, in denen man sich, wie zum Beispiel die IG Chemie, sehr früh auf Kooperation, Verständigung und flexible Lösungen eingelassen hat. Ich sage das auch gerne in Anerkennung des Kollegen Hermann Rappe, der wirklich ein Bahnbrecher des Fortschritts in der Tradition von Georg Leber und anderen war. ({5}) Aber es gibt andere, die sich sehr spät umorientiert haben. Daß die konfrontative Politik unter Steinkühler, von dem heute keiner mehr gerne redet, aber auch anfangs unter Zwickel, Arbeitsplätze im Metallbereich gekostet hat, ist auch eine Tatsachenfeststellung. Es ist höchste Zeit, daß sich auch diese große Gewerkschaft so umstellt, wie es andere bereits besser vorgemacht haben. ({6}) Zu Karl Schillers Grundüberzeugung - der konnte ordnungspolitisch denken, Herr Scharping - gehörte, so hat er es hier im Bundestag gesagt, daß die Verantwortung für die Arbeitsplatz- und Arbeitsmarktentwicklung in erster Linie in die Zuständigkeit der Tarifvertragsparteien fällt. Man kann nicht zunächst gegen vernünftige Lösungen demonstrieren und dann, wenn die Krise kommt, nach Bonn, Düsseldorf oder Stuttgart marschieren und den Staat anklagen. So ist nicht die Arbeitsteilung in einer freiheitlichen und sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Stoltenberg, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine zweite Zwischenfrage von Ihnen, Frau Kollegin, gestatte ich gerne noch.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stoltenberg, da Sie die gewerkschaftliche Tarifpolitik ansprechen, will ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, daß in den letzten 15 Jahren die Reallohnentwicklung hinter dem Produktivitätszuwachs geblieben ist und daß sich infolgedessen die Einkommensverteilung zu Lasten der Beschäftigten und zugunsten der Unternehmen entwickelt hat? Würden Sie eine solche Politik nicht als eine außerordentlich mäßige Lohnpolitik bezeichnen? ({0})

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Problem nicht nur der letzten 15 Jahre, sondern schon seit Anfang der 70er Jahre ist, Frau Kollegin, daß der Unterschied zwischen brutto und netto immer größer geworden ist. ({0}) - Ich gehe ja auf die Frage ein, Herr Kollege. Der Unterschied zwischen brutto und netto ist immer größer geworden. ({1}) Dabei spielen natürlich die steigenden Sozialversicherungsbeiträge eine wesentlich größere Rolle als die wachsenden Belastungen auf Grund der Steuerpolitik. In dieser Analyse können wir uns wohl einig sein. Insofern ist die Frage nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Wir haben in den Jahren 1983 bis 1990 immerhin erreicht, die Steuer- und Abgabenquote ein Stück zurückzuführen und damit eine gewisse Entlastung auch bei den Arbeitnehmern und nicht nur bei Unternehmern zu erreichen. Zweitens muß man sagen, daß es Jahre gibt, für die Ihr Hinweis zutrifft. Aber es gab in den 80er Jahren auch Zeiten, in denen wir Reallohnsteigerungen erlebt haben. Man muß also differenzieren. Vor allem aber haben wir natürlich das Problem, daß in den neuen Ländern die Entwicklung nach 1991 ganz anders gelaufen ist, als Sie eben unterstellt haben. Das ist Ihnen auch bekannt. Insofern möchte ich mich hier auf diese wenigen Anmerkungen beschränken. ({2}) - Darüber könnte man einen Vortrag halten; das wissen Sie auch. Die vorrangige Verantwortung der Tarifpartner für die Beschäftigung ist offenkundig. Aber auch wir als Gesetzgeber sind natürlich gefordert, wenn es um die Lohnnebenkosten geht. 50 Prozent sind durch Gesetze bewirkt. Hier, Herr Scharping, ist der eigentliche Widerspruch zu Ihrer aphoristischen Rede - ich will sie einmal so bezeichnen; so hat sie jedenfalls auf mich gewirkt - ganz klar zutage getreten: Man kann nicht die Absenkung der Lohnnebenkosten fordern und zugleich die dafür notwendigen Initiativen der Bundesregierung unter den Parolen des angeblichen Sozialabbaus so massiv in Frage stellen, wie Sie das getan haben. ({3}) Es gibt sozialdemokratische Kollegen, die in ihren Betrachtungen richtigere Akzente als Sie setzen. Ich habe mit großem Interesse gelesen, was Hans-Ulrich Klose, Vizepräsident unseres Hohen Hauses und früherer Bürgermeister in Hamburg, nach Presseberichten am 9. Januar in Frankfurt in einer bemerkenswerten Rede ausgeführt hat. Ich zitiere einmal die Kernsätze: „Ein radikaler Umbau des Sozialstaats ist erforderlich. Die jetzige Rentenformel ist so nicht haltbar. Die Entlastung von versicherungsfremden Leistungen reicht nicht aus." Besonders zu beachten ist Kloses Hinweis auf die einschneidenden Folgen der demographischen Veränderungen, die nach meiner Überzeugung in fast allen Debatten in Deutschland bisher nicht genügend einbezogen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Sehr gut!) Wir haben in Deutschland viele alte Tabus gebrochen. „Wir" heißt: die deutsche Gesellschaft und die öffentliche Meinung. Im Tabuzerstören waren wir Deutschen groß. Aber es gibt neue Tabus. ({0}) - Was? ({1}) - Aber Herr Kollege Fischer, das ist kein ernstzunehmender Zwischenruf. Wir reden über die Sache. Lenken Sie nicht ab! Ich gebe Ihnen ein paar Stichworte, auf die nachher einzugehen sich lohnt. Jedenfalls rege ich das einmal an. ({2}) Wir haben die Situation, daß seit Jahren auf 100 Todesfälle noch 60 Geburten kommen. ({3}) - Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Sie waren schon einmal viel besser in Ihren Zwischenrufen. ({4}) - Sie waren schon einmal viel besser in Ihren Zwischenrufen, Herr Fischer. Heute bringt das in dieser Art nichts. ({5}) - Mir ist die Sache, über die ich mit Ihnen reden möchte, zu wichtig. ({6}) - Nein, nein. Ich möchte hier wirklich über die Sache reden, weil sie für unsere weitere Diskussion vielleicht bedeutsam ist. Wir haben seit Jahren auf 100 Todesfälle noch 60 Geburten. ({7}) Über die sozialen Konsequenzen wird zuwenig geredet. Jetzt kommen die großen, führenden Zeitungen, Zeitschriften und Magazine mit Schlagzeilen, die uns alle nachdenklich stimmen müssen. Diese Printmedien reden von dem angeblich drohenden Generationenkampf; wir alle haben diese Schlagzeilen gelesen. Das ist wie immer eine Übertreibung, aber dahinter steckt doch ein ernstes Problem. ({8}) Ich lese, daß wir diese Diskussion nicht nur in der Union, gerade unter unseren jungen Freunden, haben. Ich lese in manchen Beiträgen, daß sie bei Ihnen anfängt, und zwar die Diskussion darüber, ob und wieweit eine zahlenmäßig sehr starke und erfreulicherweise länger lebende ältere Generation eine wesentlich schmalere junge Generation mit Beiträgen überlasten kann. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Hier gibt es eine Grenze, nicht nur eine ökonomische Grenze als Standort- und Investitionsfaktor, sondern auch eine Grenze im Verhältnis der Generationen zueinander. Wenn wir uns darüber verständigen könnten, müßte die Diskussion unter uns über die Einzelheiten der Rentenreform einfacher sein, als sie gegenwärtig ist. ({9}) Herr Scharping, wir haben zur Zeit in der Tat eine nicht ganz harmonische oder, anders gesagt: etwas disharmonische Debatte in der Union. ({10}) - Ich sage es nur zu Ihnen. - Daß Sie eine solche Diskussion mit Vergnügen quittieren, ist Ihnen unbenommen. Auch Sie werden diese Diskussion noch bekommen. Sie sind allerdings in Ihrer Bereitschaft, darüber zu diskutieren, noch ein Stück zurück. Das ist mein Eindruck. ({11}) Die alten Reden des Kollegen Dreßler passen einem Teil Ihrer jungen Freunde nicht mehr. Sie wissen, daß die Probleme tiefer liegen. ({12}) Ich sage hier für mich, aber auch für viele meiner Freunde den Satz: Wir sind nicht am Ende der Debatte. Beitragsstabilität in der Rentenversicherung muß in der Schlußabwägung eine besonders große Priorität bekommen, und das hat einige Konsequenzen für die Einzelheiten. ({13}) Im übrigen will ich Ihnen doch noch einmal sagen: Die ganze Sache mit dem Sozialabbau ist doch eine schlimme Geschichte ({14}) - hören Sie zu Ende -, was die Redlichkeit der Diskussion anbetrifft. Ich habe meine Heimatzeitung, die „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung", die größte Zeitung in Schleswig-Holstein in einer großen Gruppe, vom 20. Januar mitgebracht. Schlagzeile: Kommunen im Norden schlagen Alarm - Das Land kürzt Zuschüsse in allen Bereichen. ({15}) Dann werden genannt: Vereine, Sozialverbände, Kindergärten, Alterseinrichtungen und Privatschulen. Das ist die Politik der rot-grünen Koalition unter Frau Simonis in Kiel. ({16}) Herr Schröder kann ja einmal erläutern, ob er das in Niedersachsen anders macht. Es kann aber nicht angehen, daß Frau Simonis, Herr Lafontaine und andere so auftreten wie Sie hier und uns des Sozialabbaus bezichtigen, zur selben Zeit aber im eigenen Land hart vor allem die freiwilligen sozialen Leistungen in einer zum Teil kaum noch nachzuvollziehenden Weise beschneiden. Das ist intellektuell unredlich, das ist politisch unglaubwürdig. Sie sollten Schluß damit machen, meine Damen und Herren. ({17}) Natürlich müssen wir die Unternehmensteuern senken. Ich könnte weitere Sozialdemokraten zitieren, aber meine Redezeit ist allmählich zu Ende. ({18}) - Ich kann mir vorstellen, daß Sie es begrüßen, wenn Sie das nicht mehr anhören müssen. Aber das ist vielleicht doch ganz nützlich. ({19}) Es gibt eine Reihe sozialdemokratischer Politiker, die diese Meinung teilen: Die Unternehmensteuern sind zu hoch bei offenen Märkten und freiem Wettbewerb über unsere Grenzen hinaus. ({20}) Ich möchte noch einmal an Sie appellieren, zum erstenmal im Plenum: Geben Sie sich einen Stoß, und stimmen Sie morgen der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu. Tun Sie es wirklich! ({21}) Wir werden das Koppelgeschäft mit der Vermögensteuer nicht mitmachen. Sie können reden, was Sie wollen. Vranitzky als sozialistischer Bundeskanzler und Lacina als sozialistischer Finanzminister haben mit denselben Gründen, wie wir sie vorbringen, die Vermögensteuer in Österreich abgeschafft. Wir werden sie nicht wieder einführen, weil Sie uns hier in eine erpresserische Situation bringen wollen. Das geschieht nicht. ({22}) Wir wünschen eine Verständigung über die Eckwerte der Steuerreform. Bei den Steuersätzen auf gewerbliche Einkünfte in Höhe von 35/25 Prozent gibt es gewisse vorsichtige, optimistische Erwartungen. Zu dem Vorschlag des Bundesfinanzministers Theo Waigel - einem nach meiner Meinung insgesamt sehr positiven Gesamtkonzept, nämlich Steuersätze von 15 bis zu 39 Prozent - möchte ich Ihnen hier im Deutschen Bundestag noch einmal einiges sagen: Ein zu großer Abstand zwischen dem unteren Steuersatz in Höhe von 15 Prozent, dem Satz von 35 Prozent, über den wir uns vielleicht einigen können, und dem normalen Einkommensteuersatz wirft schwerwiegende verfassungsrechtliche Probleme auf. ({23}) Gegen einen zu großen Abstand gibt es auch einen ganz praktischen Grund - Sie sollten ihn in der Einzeldebatte ernst nehmen -: Wer wie Lafontaine bei einem Höchststeuersatz von 53 Prozent bleiben oder diesen nur geringfügig absenken will, muß doch endlich erkennen, daß damit nichts gegen die rasant zunehmende legale Steuervermeidung auf Grund der Freizügigkeit in der Europäischen Union getan wird. ({24}) Darüber gibt es mittlerweile Schlagzeilen in der Boulevard-Presse. Dafür brauchen Sie keine Fachzeitungen zu lesen. ({25}) Ich denke nicht nur an diese unsägliche Frau Schreinemakers. Die hochverdienenden und geschätzten Bundesligaspieler aus Köln ({26}) - wir haben in der Europäischen Union Freizügigkeit, verehrte Frau Kollegin; das hat mit dem Regieren nichts zu tun - gehen legal nach Belgien und sparen dort unglaubliche Beträge. Herr Flick fühlt sich in Österreich bei einem sozialistischen Finanzminister steuerlich viel wohler als bei uns. Das ist völlig legal. ({27}) - Sicher, wir wollen ja die Steuersätze senken, damit diese Differenzen beseitigt werden. Am stärksten hat mich ein Artikel in der „Wirtschaftswoche" im vergangenen Herbst beeindruckt, in dem detailliert geschildert wurde, wie in den verschiedenen Schweizer Kantonen die Steuersätze so extrem niedrig ausgestaltet werden, daß mittlerweile Tausende von hochverdienenden Deutschen dort ihren Hauptwohnsitz nehmen. Das ist völlig legal. Da es Ihnen nicht gelingen wird - sogar Herrn Gysi mit seiner beachtlichen Rhetorik nicht -, unsere Nachbarn zu überzeugen, daß sie wieder sozialistische Steuersätze einführen, gibt es doch für uns nur einen Weg, diesen legalen, aber unerträglichen Zustand zu beenden, nämlich unsere Steuersätze für alle abzusenken. Einen anderen Weg gibt es nicht. ({28}) Ich hätte gerne noch einiges zur Globalisierung gesagt. Aber ich muß fast darauf verzichten. Ich hätte es gerne getan, weil ich mit einem sehr beachtensDr. Gerhard Stoltenberg werten Zitat des Bürgermeisters von Hamburg, Henning Voscherau, darauf hingewiesen hätte, daß hier allmählich Ängste geweckt und formuliert werden, die wir kritisch überprüfen müssen. Die Globalisierung schafft Probleme. Sie ist natürlich aber auch eine große Chance. ({29}) Wir können uns doch nicht dagegen wenden, daß auf Grund der Globalisierung viele notleidende Entwicklungsländer die offenen Märkte nutzen, um voranzukommen und das Leben ihrer Bevölkerung zu verbessern. ({30}) Wir müssen diese Herausforderungen konsequent annehmen. ({31}) Dazu gehört, daß wir uns in der Steuerpolitik und bei den Lohnzusatzkosten angesichts offener Märkte wettbewerbsfähiger machen. Wenn wir den Grundsatz anerkennen könnten, daß das in diesen Bereichen nötig ist, dann wären wir weiter. Das aber habe ich heute bei Herrn Scharping noch nicht erkennen können. ({32}) Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Es sollte trotz der großen Probleme und Schwierigkeiten, die wir haben, nicht üblich werden - so wie Sie das betreiben -, daß die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der seit 1983 bestehenden Regierung von Helmut Kohl pauschal verzeichnet wird. Wir haben in der alten Bundesrepublik in den Jahren 1983 bis 1991 mit einer Reformpolitik, einer stark angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, beachtliche Ergebnisse erzielt: in der starken Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze in der alten Republik ({33}) - nein, auch die ist zurückgegangen; in der Zeit von 1983 bis 1991 hatten wir einen Rückgang der Arbeitslosigkeit und einen deutlich stärkeren Anstieg der Zahl der Arbeitsplätze; das war die Bilanz, Frau Kollegin -, in der Rückführung der Steuer- und Abgabenquote und im beachtlichen Anstieg der arbeitsplatzschaffenden privaten Investitionen. Die unerwartet extrem hohen Kosten für die Beseitigung der Hinterlassenschaft des SED-Regimes, die Mittel für den Aufbau Ost, haben die Prioritäten seit 1990 verändert, und sie haben erhebliche zusätzliche Ressourcen in Anspruch genommen. Aber dies wird doch im Kern von uns allen bejaht. Nun müssen wir wieder an die Erfahrungen der früheren Jahre anknüpfen, auch in der Steuer- und Abgabenpolitik und auch in der Tarifpolitik. Wir können es auch im vereinten Deutschland schaffen, wenn wir uns gemeinsam stärker auf die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft besinnen und wenn wir sie in einer veränderten Welt ohne Schönfärberei, aber auch ohne Chaosparolen mit Kompetenz und Überzeugungskraft umsetzen. Schönen Dank. ({34})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben mich persönlich angesprochen. Ich will gerne einräumen, daß mit Ihnen sachlich zu streiten viel mehr Vergnügen macht als mit Mitgliedern der Bundesregierung. ({0}) Allerdings haben Sie mir auch etwas von Zitaten gesagt, die Sie qualifiziert haben. Ich möchte Sie deshalb auf folgendes aufmerksam machen: Der Bundeskanzler hat am 16. Februar 1990 gesagt: „Kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser, kein Kriegsopfer, kein Sozialhilfeempfänger braucht Leistungskürzungen zu befürchten. " Der Bundeskanzler hat am 24. März 1993 gesagt: „Die Rente bleibt tabu." ({1}) Der Bundeskanzler hat am 22. Dezember 1993 gesagt: „Die Renten sind von Sparmaßnahmen nicht betroffen. Die Rente ist der Lohn für die Lebensleistung eines Menschen. Sie steht außerhalb der Debatte." Der Bundeskanzler hat im März 1996 auch in Ihrem Herkunftsland Schleswig-Holstein den Rentnerinnen und Rentnern geschrieben: „Ihre Rente ist und bleibt sicher." Sie haben mir gesagt, ich hätte mit gefälschten Zitaten gearbeitet. Ich habe die herzliche Bitte, daß Sie, bei allem sachlichen Streit, wenigstens diesen Vorwurf aus der Welt schaffen; denn ich kann Ihnen das mit vielen weiteren Zitaten belegen, und jedes ist Originalton Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Stoltenberg.

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Scharping, ich habe die Texte jetzt natürlich nicht zur Hand. ({0}) - Laßt mich das doch sagen. Was regt ihr euch so furchtbar auf? Ich komme doch gleich darauf. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich so erregen. Ich habe die Texte zur Zeit nicht zur Hand. Ich glaube aber, man muß sie im Gesamtzusammenhang lesen und dabei einen Unterschied beachten: ({1}) Es geht bei der jetzt geplanten Rentenreform nicht darum, Rentenanwartschaften der sich heute in Rente befindlichen Menschen für die nächsten Jahre zu kürzen, ({2}) sondern es geht darum, in einer Perspektive von 2010 bis 2040 die Weichen jetzt so umzustellen, daß die langfristige Verläßlichkeit gewahrt bleibt. Wenn wir diesen Maßstab anlegen, können wir gerne noch einmal beide - ich stehe Ihnen zur Verfügung - über die Zitate im Gesamtzusammenhang miteinander reden. Schönen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommen wir doch zu dem aktuellen Thema unserer Debatte zurück, dem Jahreswirtschaftsbericht. Dieser Jahreswirtschaftsbericht, den Herr Rexrodt heute vorgestellt hat, ist ein Dokument der Ratlosigkeit, und in wirklich keinem Punkt gibt er Antworten. Nirgendwo zeigt er Handlungswillen; nirgendwo sind Perspektiven erkennbar. Immer wieder haben Sie, Herr Rexrodt, mehr Arbeitsplätze versprochen. Auch heute war das wieder Gegenstand Ihrer Ausführungen. Vor einem dreiviertel Jahr, bei der Debatte über die Ladenöffnungszeiten, haben Sie angekündigt: Hunderttausende neue Arbeitsplätze werden da entstehen. - Die neuen Ladenöffnungszeiten gibt es. Ich frage Sie, Herr Rexrodt: Wo sind die neuen Arbeitsplätze? ({0}) Sie haben gepredigt: Der Kündigungsschutz muß abgebaut werden, damit neue Arbeitsplätze entstehen. - Der Kündigungsschutz ist seit dem 1. Oktober abgebaut; in den allermeisten Betrieben ist er sogar ganz abgeschafft. Aber wo, Herr Rexrodt, sind denn die neuen Arbeitsplätze, die durch den Abbau des Kündigungsschutzes hätten entstehen sollen? ({1}) Weiter haben Sie versprochen: Wenn die Vermögensteuer abgeschafft wird, dann gibt es ganz bestimmt neue Arbeitsplätze. - Die Vermögensteuer ist inzwischen abgeschafft worden. Wo, Herr Rexrodt, sind nun die versprochenen neuen Arbeitsplätze? Auch im Zusammenhang mit der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben Sie großspurig neue Arbeitsplätze angekündigt. - Die Lohnfortzahlung ist jetzt für 2,3 Millionen Menschen gekürzt, nämlich für alle diejenigen, die keinen gewerkschaftlichen Schutz haben. Viele Millionen Beschäftigte kommen zwar weiterhin in den Genuß der Lohnfortzahlung, haben aber einen Teil ihres Weihnachtsgeldes verloren. Und auch hier, Herr Rexrodt: Wo sind die neuen Arbeitsplätze? Sie predigen immer wieder - auch Herr Stoltenberg hat das heute getan - die Unternehmensteuern müßten sinken; dann würde mehr investiert; dann gäbe es neue Arbeitsplätze. - Sie haben die Unternehmensteuern gesenkt. 1980 kamen noch 17,1 Prozent der Steuereinnahmen von den Unternehmen; 1995 waren es noch ganze 7,6 Prozent. Die Einnahmen aus der Lohnsteuer hingegen haben sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt, von 112 Milliarden DM auf 282 Milliarden DM. Die Lohnsteuern sind also gestiegen; die Unternehmensteuern haben Sie gesenkt, ganz wie es in Ihrem Rezeptbuch vorgesehen ist. Aber, Herr Rexrodt, ich frage Sie: Wo sind die neuen Arbeitsplätze, die Sie mit diesen Rezepten schaffen wollten? ({2}) Neue Arbeitsplätze sind immer wieder versprochen worden, und jedesmal haben Sie dieses Versprechen gebrochen. Und was versprechen Sie als nächstes? Auf großen Plakaten der CDU können wir lesen: Steuerreform plus Rentenreform gleich mehr Arbeitsplätze. ({3}) So einfach kann die Welt sein - „So ist es!", sagen Sie -, zu schade nur, daß die Plakate schon ein paar Wochen alt sind. Ihre Steuerreform, Herr Waigel, ist doch ein einziges großes schwarzes Haushaltsloch. ({4}) Schon für 1998 sind 8 Milliarden DM nicht gedeckt, und 1999 fehlen ganze 44 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, das hätten wir als Oppositionspartei einmal wagen sollen, ein Gesetz vorzulegen, einen Vorschlag zu machen, dessen Umsetzung 44 Milliarden DM kostet, ohne dafür irgend einen Deckungsvorschlag zu machen. Sie würden uns in der Luft zerreißen - und das zu Recht. ({5}) Auch wir wollen eine durchgreifende Steuerreform, und zwar zum 1. Januar 1998. Aber diese Steuerreform muß aufkommensneutral gestaltet sein. In der aktuellen dramatischen Situation darf sie keine neuen Haushaltslöcher aufreißen. Wer wie Sie Steuergeschenke verteilt, muß erklären, woher das Geld kommen soll. Was Sie machen werden, das ist, denke ich, klar: zum einen drastische Erhöhungen bei der Mehrwertsteuer und zum Kerstin Müller ({6}) anderen dramatische Einschnitte bei den sozialen Leistungen. Das sollten Sie aber auch klar sagen, statt wohltönend nur von Entlastung der Steuerzahler zu sprechen. Herr Scharping, Herr Schröder, wer eine Steuerreform mitträgt, die 20 oder 30 oder 44 Milliarden DM kostet, der trägt, meine ich, auch die Verantwortung für diese Haushaltslöcher. Ich frage Sie: Wollen Sie auch die folgenden Steuererhöhungen und Sozialkürzungen mittragen? Ich befürchte, Sie begeben sich mit diesen Gesprächen auf ein sehr gefährliches Gleis. Die Steuerreform kann aufkommensneutral sein, wenn man die Schlupflöcher für die F.D.P.-Klientel tatsächlich schließt und zum Beispiel Spekulationsgewinne besteuert. Die Koalition belastet dagegen einseitig die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem die Bezieher mittlerer Einkommen und gerade nicht die Besserverdienenden. Ich sehe die große Gefahr, daß Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit bei den Gesprächen von Koalition und SPD auf der Strecke bleiben werden. ({7}) Ich sehe eine weitere Gefahr: daß Ihnen, Herr Minister Waigel, der Haushalt auch ohne die Steuerreform völlig aus dem Ruder läuft. Allein durch die Arbeitslosigkeit sind Mehrbelastungen von 22 bis 24 Milliarden DM absehbar. Sie werden eine Haushaltssperre oder globale Minderausgaben verhängen müssen. Sie werden um einen Nachtragshaushalt nicht herumkommen. Eine Katastrophe wäre es, wenn die Bundesrepublik wegen Ihrer verfehlten Haushaltspolitik die Maastricht-Kriterien am Ende verfehlen würde. Ausgerechnet wegen der Bundesrepublik müßte die Währungsunion verschoben werden. Ich sage Ihnen: Diese historische Chance gibt es nicht zweimal. Die Europäische Währungsunion muß kommen. Sie darf nicht an Ihrer Zerstrittenheit und Ihrer Klientelpolitik scheitern. ({8}) Meine Damen und Herren, bei den Renten hat die Koalition nach jahrelangem Schwindel jetzt eingestehen müssen: Die Renten sind mitnichten sicher. - Sicher ist: Das Rentensystem ist reformierbar. Aber diese Reform muß jetzt auch kommen. Herr Stoltenberg, das Chaos und die Selbstblockade in der Koalition bei dieser zentralen Aufgabe sind unverantwortlich und eine große Gefahr für die Alterssicherung meiner Generation und der folgenden. ({9}) Wir können auch nicht bis zum Jahre 2015 warten. Wir brauchen heute einen neuen, einen langfristigen und tragfähigen Generationenvertrag; denn die absehbare Altersentwicklung der Bevölkerung, die demographischen Veränderungen müssen bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden. Diese Reformen bei Steuer und Rente sind dringend notwendig. Auch das möchte ich hier ansprechen: Wer wie Sie von Entlastungen der Steuerzahler redet, darf zu der Gesundheitsreform nicht schweigen. Sie von der Koalition wollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon wieder mit 10 Milliarden DM stärker belasten. Mit dem dreisten Vorstoß, die Arbeitgeberbeiträge festzuschreiben und damit alle Risiken auf die Beschäftigten zu konzentrieren, läuten Sie das Ende unseres bisherigen, solidarisch finanzierten Sozialversicherungssystems ein - und das alles nur, um Wahlgeschenke an Ärzte und die Pharmaindustrie zu verteilen. Das werden wir nicht mitmachen. ({10}) Unter dem Strich: Was wird in Ihren Händen aus den großen Reformprojekten? Die Rentenreform erstickt im Koalitionsdschungel - es liegt nicht an uns, daß es in diesem Bereich nicht zu Reformen kommt -, die Steuerreform versinkt im 44-Milliarden-DMHaushaltsloch, und die Gesundheitsreform verkommt zur kostspieligen Klientelbefriedigung. Meine Damen und Herren von der Koalition, zu echter Reformpolitik sind Sie nicht in der Lage. Deshalb suchen Sie jetzt nach Sündenböcken. Ich möchte hierzu einige Beispiele geben. Nehmen wir die Sozialhilfeempfänger: Sie sind neuerdings schuld an der Arbeitslosigkeit - ich zitiere -, „weil die Sozialhilfeempfänger nicht arbeiten wollen". - Das ist Originalton von Herrn Glos am 31. Januar in diesem Hause. Herr Glos ist jetzt nicht da. - Ich finde, diese Aussage ist eine Unverschämtheit. Nicht die Arbeitslosen, nicht die Sozialhilfeempfänger, nicht die Opfer sind schuld an der Arbeitslosigkeit. Schuld sind die, die keine Arbeitsplätze schaffen. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Glos hat Ihnen signalisiert, daß er von dort oben zuhört.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Entschuldigung! Sie sitzen sonst immer hier vorne. ({0}) Ein weiterer Sündenbock sind die Frauen. Der Herr Bundeskanzler hat das Thema in seiner Rede ja gedrechselt genug eingeführt. Ich zitiere: ... daß heute sehr viel mehr Frauen als früher eine Erwerbstätigkeit anstreben. Wir von der Koalition kritisieren das nicht. Dann kommen die entscheidenden Worte: Aber die Folgen für den Arbeitsmarkt sind unübersehbar. Mit anderen Worten: Aber es sind eben doch die Frauen, die den Arbeitsmarkt durcheinanderbrinKerstin Müller ({1}) gen. Es ist ungeheuerlich, wie hier die alten, traditionellen Denkmuster durchbrechen. Ich sage Ihnen: Die Frauen lassen sich nicht mehr an den Rand drängen - nicht in den alten Bundesländern und schon gar nicht in den neuen. ({2}) Sie haben noch einen weiteren Sündenbock parat - das finde ich wirklich niederträchtig -: Schuld an der Arbeitslosigkeit sollen vor allem die Ausländerinnen und Ausländer sein. Menschen, die in ihrer großen Mehrheit seit Jahrzehnten in diesem Land leben, seit Jahrzehnten hier hart arbeiten und Steuern und Rentenbeiträge zahlen, werden jetzt zu Schuldigen für die Arbeitslosigkeit erklärt. Ich sage Ihnen: Das, was sich da bei der Union offensichtlich entwickelt, diese Kampagne gegen die hier lebenden Bürgerinnen und Bürger nichtdeutscher Herkunft, ist eine Gefahr für den Frieden in unserem Land. Ich kann Sie nur warnen: Mit einer solchen Kampagne werden Sie keine Wahlen gewinnen. Aber Sie werden unendlich viel Schaden anrichten. ({3}) Wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt, bleibt immer noch ein letzter Schuldiger - das war heute auch wieder so -: die Opposition - als ob es die Bündnisgrünen, als ob es die SPD wäre, die dieses Land seit 14 Jahren regiert. Ich möchte einmal aus einer anderen Bundestagsdebatte zitieren. Da hat ein namhafter Abgeordneter der Opposition Bemerkenswertes gesagt - ich zitiere -: In all diesen Jahren seit 1949 hat keine Bundesregierung solch katastrophale Ergebnisse ihrer Politik herbeigeführt wie die von Ihnen geführte. Und Sie tragen dafür die Verantwortung. Das muß deutlich werden, wer die Verantwortung trägt ... Ihre Regierungszeit ist die Regierungszeit der Schulden und der Arbeitslosen. Eigentlich müßten Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, jetzt applaudieren; denn dieser Abgeordnete war der CDU-Vorsitzende Dr. Helmut Kohl. Der Bundeskanzler hat dies im Jahre 1982 Helmut Schmidt vorgehalten. Damals gab es 2 Millionen Arbeitslose und 308 Milliarden DM Schulden des Bundes. Heute gibt es 4,7 Millionen Arbeitslose und 800 Milliarden DM Schulden des Bundes. „Sie sind der Kanzler der Schulden und der Arbeitslosen." An diesen Ihren Worten, Herr Bundeskanzler, müssen Sie sich heute und in Zukunft messen lassen. ({4}) Sie behaupten immer, die Opposition habe keine wirklichen Alternativen zu bieten. Das stimmt nicht! Die Alternativen sind da. Was wir brauchen, ist der politische Wille, sie durchzusetzen. Wir brauchen ein Sofortprogramm gegen die Arbeitslosigkeit. Dazu gehören 4 Punkte: Erstens und vor allem der Einstieg in den ökologischen Umbau durch eine ökologisch-soziale Steuerreform. Wir brauchen moderne, energiesparende, umweltschonende Technologien. Sie müssen am Markt attraktiver gemacht werden. Hier liegt unsere Chance für neue und zukunftssichere Jobs und auch für neue Ausbildungsplätze. Zweitens. Wir müssen die Lohnnebenkosten senken. Wir wollen mit dem Aufkommen aus der ökologischen Steuerreform die versicherungsfremden Leistungen in Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung endlich aus Steuern finanzieren und damit die Beitragssätze erheblich senken. Das entlastet Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen gleichermaßen. Davon reden zwar viele. Nur, das allein nützt nichts; es muß hier endlich etwas geschehen. Wir haben hierzu einen konkreten Vorschlag gemacht. ({5}) Drittens. Wir brauchen Investitionen in Zukunftstechnologien. Wir brauchen ein Investitionsprogramm für umweltfreundliche und arbeitsintensive Technologien wie die Solartechnologie, regenerative Energien, moderne Verkehrssysteme und die zweite Bahnrevolution. Viertens. Wir brauchen eine Umverteilung der Arbeit. Es kann nicht richtig sein, daß die einen sich kaputtschuften und die anderen auf der Straße stehen. Wir müssen die vorhandene Arbeit auf mehr Menschen verteilen. Neue Arbeitszeitmodelle, Belastung von Mehrarbeit, Entlastung von Teilzeitbeschäftigung; Schluß mit der Ausbeutung durch Scheinselbständigkeit und Miniverträge; Abbau von Überstunden. Es gibt hier Möglichkeiten in Hülle und Fülle. Ich muß leider sagen: Deutschland hängt in dieser Frage weit hinter den anderen Ländern in Europa zurück. ({6}) So könnten die Eckpunkte eines Sofortprogramms gegen die Arbeitslosigkeit aussehen. Dazu gehören natürlich Gespräche mit den Tarifpartnern, zu denen Sie nach Ihren Wortbrüchen kaum noch in der Lage sind. Dazu gehört aber auch der Dialog mit anderen Gruppen; ich nenne hier insbesondere die Kirchen. Wir nehmen das „Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" sehr ernst. ({7}) Unsere Große Anfrage dazu liegt vor. Wie es um Ihre Dialogfähigkeit bestellt ist, sieht man gut an diesem Punkt. Wir wollten hierzu nämlich eine eigene Debatte. Die haben Sie verweigert. Sie haben darauf bestanden, das hier mitzudiskutieren. So sieht also Ihre Bereitschaft zum Dialog mit den Kirchen aus. ({8}) Kerstin Müller ({9}) Meine Damen und Herren, ich zitiere zum Abschluß nochmals aus jener hochaktuellen Rede aus dem Jahr 1982 des Herrn Dr. Kohl: Binnen weniger Monate müssen Sie nun zum dritten Mal vor die deutsche Öffentlichkeit gehen und eingestehen, daß alles das, was Sie getan haben, nichts gebracht hat ... Sie haben das Vertrauen der Mehrheit der Deutschen nicht nur enttäuscht, Sie haben es verloren. Eine schwache Regierung, die nur noch ein Ziel hat, nämlich in den Sesseln zu bleiben, deprimiert das Land. ({10}) Heute stehen Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung den dringend notwendigen Veränderungen im Wege. Treten Sie beiseite und machen Sie endlich den Weg frei für echte Reformen! ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner wird der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Otto Solms, sprechen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin, nachdem Sie heute morgen zwei Kollegen zu ihrem 60. Geburtstag gratuliert haben, möchte ich es nicht versäumen, auch Ihnen zu Ihrem 60. Geburtstag, den Sie am Montag gefeiert haben, von dieser Stelle aus sehr herzlich zu gratulieren. ({0}) Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosigkeit, das ist das, was uns alle bewegt und besorgt. 4,6 Millionen Arbeitslose gegenwärtig, erwartete 4,1 Millionen Arbeitslose im Durchschnitt in diesem Jahr - darauf müssen sich alle unsere Gedanken konzentrieren. Wir müssen darum ringen, dieses Problem zu beseitigen. Das ist wirklich kein Anlaß für Polemik, Unterstellungen und Falschaussagen. Deswegen, Herr Kollege Scharping - er ist gegenwärtig nicht anwesend -, ({1}) war ich so enttäuscht von Ihrer Rede. Sie haben Ihr eigenes Niveau deutlich unterschritten. ({2}) Der Bundeswirtschaftsminister hat eine sehr sachbezogene Darstellung der Probleme gegeben und hat Ihnen geradezu die Hand zum Gespräch gereicht, und Sie haben diese Gelegenheit ausgelassen. Ich will auf einige Punkte eingehen; im wesentlichen hat der Kollege Stoltenberg das Notwendige gesagt, wofür ich ihm noch einmal danken möchte. ({3}) Herr Scharping hat es so dargestellt, als sei die Schaffung der Möglichkeit privater Arbeitsvermittlung als eine Lösung des Gesamtproblems verstanden worden. Das hat doch nie jemand gedacht. Nur, seit Einführung privater Arbeitsvermittlung hat sich eben auch die Arbeitsverwaltung bewegt. Das zeigt, daß Wettbewerb etwas bewirkt. ({4}) Ich besuche regelmäßig die für meinen Wohnort zuständige Arbeitsverwaltung Gießen. Ich habe bestätigt bekommen, daß sie ihre Vermittlungstätigkeit seit Einführung privater Arbeitsvermittlung voll umgestellt hat. Der Kollege Scharping hat auch gesagt, die Diskussion um die Lohnfortzahlung habe nichts gebracht. Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist der Fall. ({5}) Trotz der peinlichen und tölpelhaften Verhaltensweisen der Tarifvertragsparteien in dieser Frage ({6}) hat sich diese Gesetzesänderung deutlich spürbar bei den Betroffenen ausgewirkt. Es gibt neue Berechnungen, die das beweisen. ({7}) Ich will Ihnen das erklären: In den Unternehmen, bei denen es keine tarifvertragliche Regelung gab, ist das Gesetz unverzüglich umgesetzt worden. Das führt nach Schätzungen der Bundesregierung zu Entlastungen von 3,6 Milliarden DM. Bei den Unternehmen, die tarifvertragsgebunden sind, hat es Änderungen in den Tarifverträgen gegeben, und zwar einmal bei der Bemessungsgrundlage der Lohnfortzahlung und zum anderen bei anderen Elementen der Tarifverträge, nämlich beim Weihnachtsgeld und beim Urlaubsgeld. ({8}) Dadurch sind direkte Einsparungen von 6,6 Milliarden DM zustande gekommen. ({9}) Schließlich hat es eine Verhaltensänderung bei den Betroffenen gegeben. Die durchschnittlichen Fehlzeiten sind zurückgegangen. Auch das ist mit einem Betrag von 3 bis 4 Milliarden DM zu veranschlagen, so daß man heute sagen kann - der wiedergewählte Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages bestätigt das -, daß durch diese Gesetzesinitiative der Bundesregierung Einsparungen im Arbeitsleben von nahezu 20 Milliarden DM eingetreten sind - genau kann das keiner schätzen -, mindestens aber 13 bis 14 Milliarden DM Einsparungen. Da soll doch keiner sagen, das habe nichts bewirkt. Das ist genau das, was wir brauchen: Kosteneinsparungen, um mehr Investitionen zu erreichen, damit Arbeitsplätze entstehen können. ({10}) Der Zusammenhang ist doch immer wieder der gleiche und auch ganz einfach und schlicht: Wir müssen die Unternehmen und die Arbeitnehmer von einer zu hohen Besteuerung, von zu hohen Sozialabgaben und Lohnzusatzkosten entlasten und die Wirtschaft insgesamt von zu vielen Regelungen und zuviel Bürokratie entlasten ({11}) Wenn Sie wissen wollen, wie man das macht - ich sehe, daß es in den Reihen der SPD große Unsicherheit gibt, wie man darauf reagieren soll -, dann schauen Sie auf Ihre Nachbarn. Herr Stoltenberg hat Ihnen schon England genannt. Zu ergänzen ist das um Schweden, um Österreich, um Neuseeland, um Holland, um Dänemark. Schweden, das von Ihnen viel gerühmte Sozialland, hat bei der Lohnfortzahlung entschiedener zugeschlagen als wir - mit dem Ergebnis, daß sich die durchschnittliche Krankheitszeit halbiert hat. Schweden war das Höchststeuerland in Europa. Es ist heute, was die gewerblichen Einkünfte betrifft, das Niedrigststeuerland mit 28 Prozent Maximalbelastung. ({12}) Sollen wir uns anschauen, wie die anderen uns im Wettbewerb überholen, und wir tun nichts? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Das sehen Sie ja selbst nicht so; das ist das Interessante. Warum polemisieren Sie dann dagegen? ({13}) Herr Scharping hat gesagt, auf den Baustellen sollte mehr kontrolliert werden. - Recht hat er, aber wer ist denn dafür zuständig? Doch nicht die Bundesregierung. Es sind die Länder mit der Gewerbeaufsicht, die die Aufsicht darüber haben. ({14}) - Die Bundesanstalt, aber nicht der Bundesminister und nicht die Bundesregierung. ({15}) Die Bundesanstalt ist ein Selbstverwaltungsorgan. Das wissen Sie doch genausogut wie ich. Deswegen soll die Verantwortung da bleiben, wo sie hingehört. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat nun Vorschläge gemacht. Sie hat im letzten Jahr ein 50-Punkte-Programm vorgelegt, von dem wir Punkt für Punkt abgearbeitet haben. Hätten Sie uns im Bundesrat nicht behindert, wären die Einsparungen um weitere 12 Milliarden DM höher ausgefallen. Sie sehen, daß das so nicht weitergeht, sondern daß wir zu einem vernünftigen, zielorientierten Miteinander kommen müssen. Wir haben darüber hinaus die große Steuerreform, die Rentenreform und die Gesundheitsreform vorgeschlagen. Wir haben in allen Punkten gesagt, was wir wollen, bzw. klären in Kürze noch die offenen Punkte und werden das öffentlich vortragen. Herr Scharping hat uns aufgefordert, den Menschen zu sagen, was wir wollen. Die Bundesregierung trägt das alles konkret vor. Ich habe aber bis jetzt keine konkrete Aussage von Ihnen zu irgendeinem vernünftigen Vorschlag gehört, auch in Herrn Scharpings Rede nicht. ({16}) Zum Thema Steuerreform: Sie wissen, daß Sie sich dieser Diskussion nicht mehr entziehen können. Aber Sie haben kein Konzept. Herr Schleußer hat im „Handelsblatt" am 3. Februar 1997, also in diesem Monat, gesagt, ein Tarif von 20 bis 40 Prozent erscheine ihm vernünftig. Er hat auch in der Sache viele vernünftige Vorschläge gemacht. Übrigens hat die Steuerreformkommission der Bundesregierung einen Teil der Vorschläge von Herrn Schleußer bereits aufgenommen. Das zeigt, daß wir nicht so vernagelt sind wie viele bei Ihnen. Herr Lafontaine bestätigt immer wieder, der Spitzensteuersatz von 53 Prozent müsse bleiben. Meine Damen und Herren, Sie wissen doch so gut wie ich, daß das gar nicht der Spitzensteuersatz ist. Dazu kommt der Solidaritätszuschlag, und dazu kommt die Kirchensteuer. Dann liegen Sie bei 62 Prozent. Gott sei Dank wird der Solidaritätszuschlag ab 1998 um zwei Punkte gesenkt; ({17}) aber dann sind es immer noch 60 Prozent. Das ist höher als in fast allen Ländern in Europa. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, weil Sie meinen, daß die Höherverdienenden, die steuerlich Leistungsfähigeren mehr bezahlen sollten. Ich habe vor kurzem einen Gastvortrag in Berkeley in Kalifornien gehalten. ({18}) Dort befindet sich ein Spitzeninstitut der Informatik - es wird von der Bundesregierung mit gefördert -, an dem sich die zehn besten Nachwuchskräfte der Informatik aus Deutschland zu einem ein- oder zweijährigen Stipendium versammeln. Nun frage ich Sie: Was glauben Sie, wie viele von diesen wieder zurück nach Deutschland kommen? ({19}) Der Spitzensteuersatz in den Vereinigten Staaten beträgt 39,6 Prozent - das ist genau das, was wir vorgeDr. Hermann Otto Solms schlagen haben -, allerdings erst ab einem Einkommen von 250 000 Dollar im Jahr, nicht ab 90 000 DM. ({20}) Die Forschungsvoraussetzungen dort sind wesentlich besser. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf mein eigenes Bundesland, Hessen, mit der rot-grünen Vorzeigeregierung schaue, dann stelle ich fest: Es ist eine grün-rote Realsatire, die Sie dort erleben können. Ich habe eine Fülle von Beispielen, die ich hier nicht alle vortragen kann. Aber etwas werde ich vortragen. ({21}) Also, das ist der Wettbewerb, um den es geht: um die leistungsfähigsten Menschen in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, im Sport, in der Kultur - in allen Bereichen. Wenn wir wollen, daß diese deutschen Kräfte hierbleiben oder sogar welche aus anderen Ländern zu uns kommen und mit uns zusammen versuchen, neue Entwicklungen zu erforschen und neue Arbeitsplätze, die zukunftsträchtig sind, zu schaffen, dann können wir uns von der internationalen Entwicklung nicht abnabeln. Das geht nun einmal nicht. ({22}) Das Chaos, das bei den Grünen bezüglich der Steuerfrage besteht, ist nicht einmal von der SPD zu überbieten. Da sagt wirklich jeder etwas anderes. Interessant war ein langes Interview von Herrn Fischer im „Spiegel", in dem er angemeldet hat: „Unser Ziel muß sein", da stimme ich zu, „ein Reformklima zu entfachen." Dann haben die ihm - nach der Art der Fragestellung zu urteilen - sehr geneigten Gesprächspartner des „Spiegel" versucht, das zu hinterfragen. Auf drei Seiten im „Spiegel" ist Herr Fischer jede Antwort schuldig geblieben. Ihm ist einfach nichts eingefallen, was er reformieren will. Schließlich hat einer der Gesprächspartner - resigniert aufseufzend - zu Herrn Fischer resümierend gesagt: „Schön, wie Sie in die Ferne schweifen." Meine Damen und Herren, das geht nicht. Unsere Probleme sind hier in Deutschland und nicht sonstwo in der Welt. ({23}) Wir stellen uns den Reformaufgaben und entziehen uns ihnen nicht. ({24})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Sohns, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte im Moment keine Zwischenfrage beantworten. Ich möchte in meinem Gedankengang bleiben. Ihre Zwischenfrage würde uns sowieso nicht weiterhelfen. Ihre Bemühungen konzentrieren sich gegenwärtig nur noch darauf, der SPD hinterherzulaufen und sie zu einer Koalitionsaussage aufzufordern. ({0}) Dabei entblöden Sie sich nicht, Ihre eigenen Grundvorstellungen und Überzeugungen immer wieder selbst in Frage zu stellen. Ich denke zum Beispiel an die Steinkohleförderung in Nordrhein-Westfalen. Einen peinlicheren inhaltlichen Wechsel als diesen habe ich noch nie erlebt. Meine Damen und Herren, das gilt auch mit Blick auf die Notwendigkeit der Rentenreform. Um hier ein Mißverständnis auszuräumen: Die Vorschläge von Herrn Blüm und der Rentenreformkommission sind richtig, nur, sie reichen nicht aus. Das ist das Problem. Wenn wir dauerhafte Beitragsstabilität erreichen wollen, reichen sie nicht aus. Deswegen muß noch nachgearbeitet werden. Dabei bin ich jedoch in der Frage der Familienkasse völlig anderer Auffassung. Ich glaube, daß die familienpolitischen Leistungen durchaus in die Rentenversicherung hineingehören. Das sind keine versicherungsfremden Leistungen. ({1}) - Ich bin durchaus dafür, darüber nachzudenken, Frau Fuchs, ob nicht die Beitragszahler, die keine Kinder aufziehen, einen höheren Beitrag zahlen sollten. Darüber können wir gerne miteinander diskutieren. Das wäre eine systemgerechte Diskussion. Meine Damen und Herren, was wir hier bei den Streiks der Postmitarbeiter erlebt haben, ist geradezu peinlich. Daß Herr van Haaren die Post erledigt, bis sie wirklich erledigt ist, das wundert mich nach seinen Attitüden in den Jahren zuvor nun nicht mehr. Aber daß sich die Geschäftsführung der Post, nachdem sie nun eine achtjährige Übergangszeit zur Privatisierung der Post und zur Auflösung des Monopols bekommen hat, anscheinend nicht imstande sieht, die Post in ein modernes, wettbewerbsfähiges Dienstleistungsunternehmen zu überführen, ist nun wirklich eine tiefgreifende Enttäuschung. Man muß fragen, ob diese Geschäftsführung in der Lage ist, die Aufgabe zu bewältigen. Ich fand es wirklich unerhört, wie sie sich gestern geäußert hat. ({2}) Meine Damen und Herren, es liegt aber nicht nur an Kosten, an zu hohen Beiträgen, es liegt auch an der Überregulierung. Deswegen will ich Ihnen ein Beispiel aus dem Land der Realsatire, Rot-Grün in Hessen, geben. Dort hat ein Landwirt, ein Bauer, versucht, einen neuen Hühnerstall - das ist nun etwas ganz Profanes - für 19 000 Hühner zu bauen, die Eier legen sollten. Das Verfahren mit der hessischen Verwaltung zur Genehmigung des Bauantrags hat drei Jahre gedauert, 18 000 DM gekostet. Er brauchte neben der Baugenehmigung eine Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Es galt, die gleichen Anträge auszufüllen, wie sie für ein Atomkraftwerk verwendet werden. ({3}) Außerdem waren eine Tierschutzorganisation, der Geflügelgesundheitsdienst der Universität Gießen, der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft und schließlich das Gesundheits- und Veterinäramt anzuhören. ({4}) - In Hessen, bitte. Der Regierungspräsident in Darmstadt mußte zwölf Behörden beteiligen und zu den Erörterungsterminen vielfältige öffentliche Anzeigen schalten. Das hat nun dazu geführt, daß dieses Vorhaben in Frage steht. ({5}) Anderes Beispiel: Die hessische Wissenschaftsministerin macht die Bildungs- und Hochschulreform, indem sie 450 Stellen streicht. Bei Frauenbeauftragten, Umweltbeauftragten und anderen Beauftragten wird natürlich kein Pfennig eingespart, aber in der Bildungspolitik wird gestrichen. Dann legt sie einen Plan für eine Hochschulreform vor, in dem Dinge enthalten sind, die ohnehin schon zulässig sind. Also braucht es diesen Plan nicht mehr. Der bekannte Frankfurter Historiker Lothar Gall hat dies eine Unverschämtheit der Ministerialbürokratie genannt. Aber das ist der Grund, warum Regionen im Wettbewerb zurückfallen. ({6}) Der grüne Regierungspräsident in Gießen hat sich beschwert, weil ich ihn gescholten habe, er würde keinen Beitrag zur Beschäftigung leisten, und hat dies mit dem Argument zu widerlegen versucht, die Verwaltungshochschule Speyer habe die Arbeit des Regierungspräsidiums in Gießen besonders herausgehoben, sie sei effizient. Gerade das ist der Kern des Problems. Je effizienter diese Verwaltung die falschen Ziele verfolgt, desto weniger rührt sich in der Landschaft, weil jede Investition behindert wird. Deswegen hat die Region Hessen mit der Universität Gießen den Bio-Regio-Wettbewerb, den der Bundesforschungsminister ausgeschrieben hat, gegenüber anderen Regionen in Bayern und Baden-Württemberg verloren, mit der Argumentation, es hat keine politische Unterstützung gegeben, weder von seiten des Regierungspräsidenten, grün, noch von seiten des Ministerpräsidenten, rot; ({7}) denn: „Bio" ist etwas Gefährliches, das darf man nicht unterstützen. Dies ist geschehen, obwohl die Universität Gießen mit die geeignetste Hochschule dafür ist, weil sie einen Schwerpunkt in Bio- und Umweltfragen hat. Meine Damen und Herren, ich muß diese Beispiele bringen, denn das ist der konkrete Alltag, unter dem die Bürger leiden. Jetzt kommt es darauf an, daß wir die Voraussetzungen so verändern, daß wieder Arbeitsplätze entstehen. Sie entstehen nun einmal nur durch Investitionen, durch Risikobereitschaft, durch Engagement einzelner Menschen. Die müssen wir ermutigen und dürfen wir nicht verängstigen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es gibt den Wunsch nach zwei Kurzinterventionen. Ich gebe zunächst zu einer Kurzintervention der Abgeordneten Margareta Wolf das Wort.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Solms, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Wirtschaftsdaten in Hessen besser sind als in allen anderen Bundesländern? Ich bitte Sie darum, das doch zu tun. Sie haben vorhin - das fand ich bemerkenswert - darauf hingewiesen, daß Sie Vorträge in Berkeley halten. Sie haben des weiteren gesagt, daß die Bereiche Forschung und Entwicklung wie auch Qualifikation dort ganz im Vordergrund stehen. Auch ich bin der Meinung, daß das tatsächlich absolute Standortvorteile für die Vereinigten Staaten sind. Aber würden Sie, die Sie an dieser Regierung seit über 20 Jahren teilhaben, folgende Meldung von gestern zur Kenntnis nehmen? Für Schulen, Lehrstellen und Universitäten seien 1995 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufgewendet worden. Dies seien 0,1 Prozent weniger als 1992 ... Damit liege Deutschland unter dem Schnitt anderer Industrieländer. Vor allem an den Hochschulen und bei den Lehrstellen wirkten sich die Beschränkungen aus. Eine zweite Meldung aus dem „Handelsblatt" vom 21. Januar 1997: Die Investitionszuschüsse für erneuerbare Energien wurden seit 1994 um 7 Mill. DM zurückgefahren. Und auch für die vielbeschworenen Zukunftstechnologien gibt es nicht in jedem Fall mehr Geld: Die Investitionszuschüsse für die Mikroelektronik sanken im letzten Jahr um 10 %, während sich die Mittel für FuE-Vorhaben in diesem Bereich nur um 0,8 % erhöhten. Dieses zur Politik der Bundesregierung und zum Standort für neue Technologien, Zukunftstechnologien und Qualifikation, Herr Kollege. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Solms, wollen Sie erst antworten oder erst die zweite Intervention von Frau Professor Luft hören? - Dann Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch gebe ich das Wort zur zweiten Kurzintervention Frau Professor Luft. Bitte. ({0})

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Solms, Sie ließen ja keine Zwischenfragen zu. Daher muß ich mich jetzt auf diesem Wege an Sie wenden. Sie haben die Wirksamkeit vieler der bisher von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen beschworen. Unter anderem haben Sie sich auf die gekürzte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bezogen. Sie sagten, Milliardeneinsparungen seien dadurch erzielt worden. Nun sind aber doch Einsparungen kein Selbstzweck. Vielmehr beraten wir hier. Wie kann Entlastung von Kosten dazu führen, daß neue Arbeitsplätze entstehen? Ich würde Sie gerne fragen, inwieweit Ihrer Meinung nach durch die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei den Milliardeneinsparungen, die die Unternehmen haben, neue Arbeitsplätze entstanden sind. Unternehmer, mit denen ich mich unterhalte, Kleinunternehmer, Mittelunternehmer, sagen: Wir stellen doch nicht deshalb Leute neu ein, weil wir die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kürzen können. Vielmehr stellen sie dann Menschen ein, wenn sie Aufträge wittern und wenn sie Marktchancen sehen. Genau das ist in diesem Lande für die kleinen und die mittleren Unternehmen nicht der Fall, weil die Nachfragebeschränkung außerordentlich zugenommen hat. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt. Sie sagten, wir müßten in der Deregulierung weiterkommen. Nun ist das jüngste Beispiel der Deregulierung - Herr Minister Rexrodt klopft sich deshalb pausenlos auf die Schultern - die Abschaffung des Ladenschlußgesetzes. Weil uns sehr viele Menschen heute zuschauen, sage ich Ihnen: Wir machen hier doch nicht nur ein Spiel zwischen Koalition und Opposition. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain. Ich habe dort 30 Einzelhändlerinnen und Einzelhändler nach ihren Erfahrungen mit dem abgeschafften Ladenschlußgesetz befragt. Sie sagten mir, sie haben nicht eine Mark mehr Umsatz. Sie haben höhere Betriebskosten; sie fürchten sich sogar vor der hohen Kriminalität, wenn sie in der Winterzeit ihre Läden abends länger offenhalten. ({0}) - Jawohl. Das kann ich Ihnen an Hand von 30 Befragungen nachweisen. ({1}) Die Betriebskosten sind gestiegen; die Umsätze sind nicht gestiegen. Im übrigen stellt auch dort niemand jemand ein, nur weil er den Laden länger offenhalten kann, sondern doch nur dann, wenn er sich Gewinne verspricht. Das Problem in diesem Lande bleibt: Wir müssen die Nachfrage stärken, und wir müssen offenbar auch öffentliche Investitionsprogramme auf den Weg bringen, damit Menschen in Arbeit kommen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Dr. Sohns, Sie haben das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum Ladenschluß ist nur zu sagen: Keiner ist gezwungen offenzuhalten. Wir haben ihn nicht abgeschafft, wie Sie sagen, sondern die Ladenöffnungszeiten um anderthalb Stunden erweitert. Nun muß man über ein, zwei Jahre abwarten, wie sich die Konsumenten daran gewöhnen. Zweitens. Wann stellen Unternehmen ein? Natürlich wenn sie Aufträge bekommen. Aber Aufträge bekommen sie natürlich nur, wenn sie zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten können. ({0}) Die Wettbewerbsfähigkeit der Kostenstruktur der deutschen Wirtschaft ist im Verhältnis zu anderen Ländern zurückgefallen. Wir brauchen Kostenentlastungen, damit wieder Aufträge hereingeholt werden können und wieder mehr Beschäftigung entsteht. ({1}) Hätten Sie Herrn Rexrodt richtig zugehört, Frau Luft, dann hätten Sie mitbekommen, daß gleichzeitig, neben der Kostenentlastung, durch Steuer- und Abgabensenkungen eine Nettoeinkommenssteigerung bei den Arbeitnehmern hervorgerufen wird. Das ist der Unterschied zu einer reinen Nachfragepolitik, wie sie von Ihnen vorgeschlagen wird. Frau Wolf, Hessen hat infrastrukturell die günstigste Lage in Deutschland, mitten in der Bundesrepublik. Hessen hat den Rhein-Main-Flughafen mit der internationalen Anbindung, hat alle guten Voraussetzungen. Trotzdem ist Hessen im Vergleich zu anderen Bundesländern in den letzten Jahren zurückgefallen. Es nimmt immer noch eine gute Position ein, ist aber zurückgefallen. Für meine mittelhessische Region kann ich sagen, daß die Arbeitslosenzahlen weit über dem Durchschnitt liegen. Und dort sehe ich nicht, daß die rotgrüne Stadtregierung in Gießen oder der grüne Regierungspräsident irgendeinen konstruktiven Beitrag für mehr Beschäftigung geleistet hätte. Ich erlebe nur immer, daß sie bejammern, daß Unternehmen eingehen. Aber wo ist die Unterstützung, eine Initiative? Im Bio-Regio-Wettbewerb bestand eine riesige Chance für diese Region. Sie ist vertan worden. Warum? Weil man an diese Sache nur mit spitzen Fingern herangegangen ist und sie eigentlich nicht richtig unterstützt hat. Das zeigt doch die innere Einstellung dazu. In der Forschungsfrage stimme ich völlig mit Ihnen überein: Wir brauchen das Bekenntnis zu Forschung und Entwicklung. ({2}) Wir müssen uns dieser Frage annehmen; wir dürfen Forschung nicht bekämpfen. ({3}) Ich schaue mich auch im internationalen Bereich um, weil ich mich weiterbilden und informieren will. Die Erfahrungen, die ich dort höre, nehme ich auf und versuche, sie in Politik umzusetzen. Eine letzte Bemerkung: Alle diese Vorträge, die ich halte, halte ich selbstverständlich unentgeltlich - nur damit hier keine falschen Verdächtigungen aufkommen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Bundesminister für Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort. ({0}) - Eine Sekunde. Ich bitte um Nachsicht. Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch bin ich nicht Bundesfinanzminister. ({0}) Herr Dr. Solms, daß Ihre Vorträge nicht bezahlt werden, kann ich nachvollziehen. ({1}) Ich will mich hier aber zu Beginn mit etwas anderem auseinandersetzen. Wir haben in diesem Hause zuerst mehrere Männer gehört. Dann hat die erste Frau vom Bündnis 90/ Die Grünen gesprochen. Ich teile weiß Gott nicht alles, was sie gesagt hat, zum Beispiel nicht die Ausführungen zum Euro. Damit müßte man sich lange auseinandersetzen. Aber die Art und Weise, wie in Ihren beiden Fraktionen alle Männer in dem Moment anfingen, Zwiegespräche zu führen und Zeitung zu lesen, finde ich unerträglich, patriarchal und machohaft. Das will ich Ihnen einmal ganz deutlich sagen. ({2}) Eine zweite Bemerkung: Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben heute über den Jahreswirtschaftsbericht gesprochen; das ist ja ein Hobby von Ihnen. Wissen Sie, was ich erwartet hätte, was wirklich das mindeste gewesen wäre in einer Zeit, in der man Geschichte aufarbeitet? Sie hätten einmal etwas zu Ihren Prognosen sagen sollen, die Sie im letzten Jahr für das Jahr 1996 abgegeben haben, und zu den Realitäten, die dann eingetreten sind, um uns zu erklären, ob die heutigen Prognosen - wenn ja, aus welchen Gründen - realistischer sein könnten oder ob Sie die gleichen Grundlagen haben, ob Sie etwas verändert haben bei der Erstellung des Jahreswirtschaftsberichts. Ich nenne Ihnen nur ein paar Zahlen. Sie haben hier vor einem Jahr als Prognose für das Jahr 1996 gesagt: Für das Bruttoinlandsprodukt ist im Osten eine Steigerung von 4 bis 6 Prozent zu erwarten. Real waren es 2 Prozent. Sie haben gesagt: Die Inlandsnachfrage wird um 1,5 Prozent steigen. Tatsächlich ist sie um 0,7 Prozent gestiegen. Sie haben gesagt: Bei der Bauproduktion wird es allerdings einen Rückgang um 1,5 Prozent geben. Tatsächlich betrug er 2,7 Prozent. Und sie haben gesagt: Die öffentlichen Investitionen werden entweder um 0,5 Prozent zunehmen oder möglicherweise bis zu 1,5 Prozent zurückgehen. Tatsächlich sind sie um 6,2 Prozent zurückgegangen. Was die Richtigkeit von Prognosen betrifft, haben Sie inzwischen DDR-Niveau weit überschritten. Darüber sollten Sie gründlich nachdenken. Nichts davon haben Sie aufgearbeitet. ({3}) Bei der Einheit haben Sie etwas anderes versprochen, nämlich daß die sozialen und kulturellen Leistungen der DDR übernommen, gefestigt und sogar noch ausgebaut, die Fehlplanungen aber abgeschafft werden. Tatsächlich haben Sie es dann genau umgekehrt gemacht: Die kulturellen und sozialen Leistungen haben Sie abgeschafft, aber Fehlplanungen und Fehlprognosen deutlich ausgeweitet. ({4}) Das gilt übrigens auch für viele andere Zahlen, zum Beispiel für die ganz tragische Zahl der Erwerbslosen. Sie haben damals geschätzt, daß es in den alten Bundesländern ein Minus von 140 000 Erwerbsarbeitsplätzen geben wird; tatsächlich gab es in den alten Bundesländern Verluste von über 300 000 Arbeitsplätzen. Für den Osten haben Sie ein Plus von 20 000 bis 40 000 Arbeitsplätzen prognostiziert; wir hatten einen Verlust von 97 000 Arbeitsplätzen. Was soll ein Jahreswirtschaftsbericht, der sich im Laufe des Jahres in das Gegenteil seiner AussaDr. Gregor Gysi gen verkehrt? Darüber brauchen wir eigentlich nicht zu diskutieren. ({5}) Sie haben den Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit mit 4,3 Milliarden DM eingeplant; es wurden 12,5 Milliarden DM. Sie haben die Arbeitslosenhilfe mit 17,3 Milliarden DM eingeplant; es wurden 24 Milliarden DM. Keine Zahl stimmte. Auch das, was Sie heute prognostiziert haben, wird sich im Laufe des Jahres 1997 als falsch erweisen. Wir sind mitten in vielen Diskussionen. Herr Stoltenberg hat darauf hingewiesen, daß es auch mir nicht gelingen würde, die Regierungen in der Schweiz und in anderen Ländern davon zu überzeugen, „sozialistische Steuerpolitik" - wie Sie das nannten; die muß vielleicht noch entwickelt werden - zu betreiben. Ich will Ihnen eins verraten: Meine Vorfahren sind aus der Schweiz nach Deutschland ausgewandert. Damit will ich sagen: Im Unterschied zu Flick und anderen gab es auch noch den umgekehrten Weg. ({6}) - Ob das nun eine Sternstunde für die Schweiz oder für Deutschland war, das können wir die Geschichte entscheiden lassen. Ich möchte das einfach als offen betrachten. ({7}) Fakt ist: Sie wollen den Spitzensteuersatz von 53 Prozent bei privaten Einkünften auf 39 Prozent senken. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Damit begünstigen Sie eine ganz bestimmte Schicht in der Bevölkerung, nämlich die, die ohnehin genug und viel mehr als genug besitzt. Irgend jemand muß das doch bezahlen. Diesmal gehen Sie nicht nur an die sozial Schwächsten, sondern auch an die Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Das ist einfach unerträglich, ({8}) und zwar erstens wegen der sozialen Schieflage und zweitens, weil Sie damit Kaufkraft und Nachfrage reduzieren, die Wirtschaft somit weiter ruinieren und Arbeitsplätze vernichten. ({9}) Sie sagen, Herr Bundeswirtschaftsminister, auch Sie wollten eine Kaufkrafterhöhung, und zwar, indem Sie zum Beispiel die Belastung bei den Löhnen reduzieren, dadurch das Nettoeinkommen erhöhen und damit die Nachfrage stabilisieren. Aber machen wir uns doch nichts vor! Versuchen wir in dieser Frage doch einmal wirklich ehrlich zu sein: Wenn Sie Frau Thurn und Taxis die Vermögensteuer schenken, wenn Sie Ihre Steuer senken, wenn Sie meine Steuer senken - wir kaufen doch nicht mehr, wir sparen doch höchstens mehr! Wenn Sie die Steuern bei der Facharbeiterin und bei dem Facharbeiter senken oder wenn Sie Sozialleistungen erhöhen, dann erhöhen Sie die Kaufkraft. Bei Vermögenden ändern Sie nur das Sparverhalten, nicht das Kaufverhalten. Deshalb bringt es für die Nachfrage nichts, wenn Sie die Vermögensteuer abschaffen und den Spitzensteuersatz senken. Und die Nachfrage erhöhen Sie nicht. Herr Bundesfinanzminister, ich habe Ihnen das schon beim letzten Mal ausgerechnet: Die Bankkauffrau mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 40 000 DM spart nach Ihrem Modell 74 DM. In der Rechnung fehlen aber noch 44 Milliarden DM, die noch nicht gegenfinanziert sind. Wenn Sie dann die Mehrwertsteuer erhöhen, hat die Bankkauffrau keine Einsparung von 74 DM, sondern zahlt deutlich zu. Aber der Einkommensmillionär spart nach Ihrer Steuerreform im Jahr über 127 000 DM. Das macht die Banken reicher, führt aber nicht zur Erhöhung der Kaufkraft und ist im übrigen sozial höchst ungerecht. ({10}) Es bleibt dabei, daß Ihre weiteren Vorschläge - so zum Beispiel die Besteuerung von Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschlägen - höchst ungerecht sind und daß Sie letztlich nicht die Vermögenden und die Besserverdienenden, sondern diejenigen, die Sie früher einmal als Leistungsträgerinnen und Leistungsträger bezeichnet haben, auf diese Art und Weise zur Kasse bitten. Dafür gibt es viele Beispiele. Man muß nämlich bei Ihrer Steuerreform auch das Kleingedruckte lesen. Wenn sich die SPD jetzt zu Gesprächen begibt, kann ich nur vor einem warnen: Machen Sie kein Paket ohne Gegenfinanzierung. Sie haften ansonsten für jede Erhöhung, die später kommt. Weil Sie zu A ja gesagt haben, werden Sie dann auch zu B ja sagen müssen. Das wäre, glaube ich, nicht im Interesse dieser Gesellschaft. ({11}) Sie schlagen eine dritte Stufe der Gesundheitsreform vor. Ich muß Ihnen sagen: Bei der F.D.P. kommt man aus dem Staunen nicht heraus. So etwas von nackter Klientelpolitik habe ich wirklich selten erlebt. ({12}) Das einzige, was man Ihnen lassen muß: Sie machen es wirklich ungeschminkt und ganz offen. Von wegen, Sie sind gegen Subventionen und für freien Markt - das ist interessant -: Sie beschränken die Importe billiger Arzneimittel nach Deutschland, was die Kosten im Gesundheitswesen senken würde, aus reiner Klientelpolitik. ({13}) Da plötzlich ist nichts mehr mit freier Marktwirtschaft. Da wollen Sie plötzlich monopolisieren, je nachdem, wie Ihre Interessenlage aussieht. ({14}) Bei der Gesundheitsreform muß man über die Budgets reden. So geht es natürlich nicht. Wir können keine Situation zulassen, bei der der Arzt im November dem Kranken sagt: Es tut mir leid, mein Budget ist aufgebraucht; kommen Sie mit Ihren Schmerzen in drei Monaten wieder. Das ist völlig unerträglich. Hier braucht man sozusagen andere Wege. Aber die Kostensenkung praktisch aufzuheben und dann zu sagen, wenn die Gesundheitskosten weiter steigen, dann werden wir die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmeranteile am Versicherungssystem erhöhen, aber die Arbeitgeberanteile festschreiben, diese brauchen nie wieder mehr zu bezahlen, dann ist das wirklich eine einzigartige Klientelpolitik zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zu Lasten der Kranken. Sie gehen mit Ihrer Politik ganz eindeutig auch in die Mitte der Gesellschaft. ({15}) Ich komme dann zur Kohlesubvention und dazu, wie Sie dabei herumwettern. Wissen Sie, die ganze Kohlesubvention macht 0,6 Prozent des Bundeshaushalts aus. Aber sie sichert eine Vielzahl von Arbeitsplätzen. Wenn diese alle vernichtet werden, wird das für die Gesellschaft sehr teuer. Wir brauchen noch andere alternative Energien, nicht die Atomenergie. Solange diese nicht ausreichen, brauchen wir auch noch Kohle. Das ist auch eine gesellschaftsstrategische Frage. Deshalb sage ich: Hören Sie mit Ihrer Hetze gegen die Kohlekumpel auf! Sparen Sie an anderen Stellen! Dies wäre bei den Vermögenden, den Reichen und den Besserverdienenden angebracht, nicht immer zu Lasten dieser Leute, nur weil diese nicht Ihre Klientel sind. Natürlich gibt es keinen Kohlekumpel, der Sie wählt. Das räume ich ein. Aber das ist kein Grund, um sie derartig in Haftung zu nehmen, so wie Sie das hier täglich versuchen. Auch das will ich einmal deutlich an dieser Stelle hervorheben. ({16}) - Herr Dr. Solms, ich muß sagen: Es war eine charmante Art, wie Sie Ihren hessischen Kommunalwahlkampf in der Hoffnung betrieben haben, daß wir es nicht mitbekommen, daß aber die Wählerinnen und Wähler dort reagieren und dann anschließend F.D.P. wählen. Ich glaube, so naiv ist keiner.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schauerte?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, selbstverständlich.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Gysi, Sie haben gerade gesagt, die gesamten Kohlesubventionen machten nur 0,6 Prozent vom Bundeshaushalt aus. ({0}) Zahlen sollten stimmen. Ich darf darauf hinweisen, daß der Bundeshaushalt bei gut 450 Milliarden DM liegt und die Kohlesubventionen gut 10 Milliarden DM ausmachen. Nach meinen Grundrechenarten sind das mindestens 2,1 Prozent. Das ist ein kleiner Unterschied. Zwischen 0,6 Prozent und 2,1 Prozent liegen Welten. Diese Grundrechenarten sollte doch die PDS wenigstens beherrschen. ({1})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bedanke mich für die Nachhilfe, was die Mathematik betrifft. Ich darf nur darauf hinweisen, daß die Kohlesubventionen nicht alleine aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Insofern stimmen meine Berechnungen schon. Da kommt mehreres zusammen. ({0}) Außerdem gibt es auch noch Gegenrechnungen. Ich rechne natürlich auch, was wir dadurch einsparen, daß wir in dieser Hinsicht subventionieren. Das müssen Sie schon mitberücksichtigen. ({1}) - Nein, nein. Wir können uns noch länger über die Kohle unterhalten. Auch können wir uns über die Kohle in den neuen Bundesländern und über Standortfragen unterhalten. Ich kann Ihnen, der CDU/ CSU, nur eines raten: Wenn Sie sich weiterhin auf diese Art von Klientelpolitik der F.D.P. einlassen, werden Sie Ihren Charakter als Volkspartei endgültig verlieren. ({2}) - Ich habe ja „endgültig" gesagt. Dazwischen gibt es ja noch einen kurzen Schritt. Das erleben wir gegenwärtig und das wird Auswirkungen haben. Ganz egal, wer dann Ihr Kandidat werden sollte oder wie lange sich der bisherige ziert zu entscheiden, ob er es noch einmal wird, das wird Folgen und Auswirkungen haben, auf die ich nur hoffen kann. Es geht ja nicht um einen Wechsel der Regierung, wie es immer dargestellt wird, es geht um einen Wechsel in der Politik. Das ist das Entscheidende, das wir erreichen müssen, wenn wir wirklich etwas gegen Arbeitslosigkeit in dieser Gesellschaft tun wollen. ({3}) Sie haben hier die Ladenöffnungszeiten angesprochen. Alle diesbezüglichen Deregulierungsmaßnahmen haben nur zu Verschlechterungen geführt. Sie selber haben von Milliardeneinsparungen bei UnterDr. Gregor Gysi nehmen durch die Änderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gesprochen. Sie können aber nicht einen einzigen Arbeitsplatz nachweisen, der dadurch entstanden ist. Im Gegenteil: Sie prognostizieren trotz all dieser Maßnahmen eine höhere Arbeitslosigkeit für 1997. Das heißt, Sie glauben doch gar nicht daran, daß diese Einsparungen der Unternehmen zu Investitionen und neuen Arbeitsplätzen führen. Im übrigen ist das so lange auch nicht glaubwürdig, wie der privat entnommene Gewinn immer noch geringer besteuert wird als der Gewinn, der für Investitionen verwendet wird. Wenn Sie wirklich Investitionen wollen, müssen Sie dort Steuersenkungen vornehmen und nicht bei den privat entnommenen Gewinnen und bei den Gewinnen aus Einkommen und Spekulationen, wie Sie es die ganze Zeit treiben. Investitionen werden in dieser Gesellschaft steuerlich nach wie vor bestraft. Solange das so bleibt, glaube ich Ihnen kein Wort, daß Sie Investitionen tatsächlich fördern wollen, schon gar nicht solche, die Arbeitsplätze schaffen. ({4}) Dann muß ich Ihnen natürlich auch noch etwas zur Postreform sagen - wir werden ja nachher noch darüber diskutieren -: ({5}) Ich finde es unerträglich, wie Sie hier wieder über Zehntausende von Arbeitsplätzen diskutieren. Die dort arbeitenden Menschen kämpfen um ihre nackte Existenz. Sie haben nicht das Recht, so über sie herzuziehen, wie Sie es vorhin getan haben. ({6}) Auch zur Wahl in Hessen wollte ich noch etwas sagen: Wenn Sie hier Kommunalwahlkampf für Hessen machen - wir treten ja nicht überall an, aber in Frankfurt, Marburg und Gießen treten auch wir an -, nehme ich Ihre Kritik auf ({7}) und kann die Leute nur warnen: Machen Sie nicht den Fehler und wählen F.D.P. in diesen Städten! Wenn Sie schon etwas anderes wählen wollen, dann entschließen Sie sich für die PDS. Ich mache das einfach ganz direkt und nicht so indirekt wie Sie. ({8}) Ich kann aber auch dem nicht zustimmen, was Sie hier über den Mittelstand gesagt haben. Sie machen in Wirklichkeit eine mittelstandsfeindliche Politik. Leider habe ich nicht soviel Zeit, das zu erklären. Aber es ist der Mittelstand, der immer noch ehrlich seine Steuern in dieser Gesellschaft zahlt, und es sind nicht die Versicherungen, nicht die Banken und nicht die großen Konzerne; die haben sich aus der Bezahlung der Bundesrepublik verabschiedet. ({9}) Wissen Sie, Herr Bundesminister Rexrodt, was das schlimmste ist? In Ihrer ganzen Rede gab es kein einziges Wort zu den neuen Bundesländern, kein einziges Wort zum Osten. ({10}) Das ist zu einem solchen Nebenaspekt bei Ihnen geworden, daß ich manchmal denke, daß Sie die Aufgabe, die Vereinigung zu erreichen, inzwischen schon aufgegeben haben. Wenn Sie, Herr Stoltenberg, uns die USA als Maßstab empfehlen, dann möchte ich Ihnen eines sagen: Natürlich gibt es dort einige interessante Fortschritte, aber da gibt es auch ungeheures Elend und ungeheure Armut, und zwar selbst bei denen, die Arbeit haben. Ich kann da nur warnen. Wenn das Ihr Ziel ist, dann armes Deutschland! ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gysi, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in meiner Regierungserklärung in langen Passagen auf die Situation in den neuen Ländern eingegangen bin, daß ich über die Haben-Seite und die Soll-Seite der Entwicklung gesprochen habe und daß ich vor allem angekündigt habe, daß sich die Koalitionsparteien und die Bundesregierung in den nächsten Wochen ausführlich mit der Förderung der neuen Bundesländer für die Zeit nach 1998 befassen werden und dazu ein Konzept vorlegen werden? Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es der Fraktionsvorsitzende der SPD war, der in seinem Beitrag mit keinem Wort auf die Lage und die Situation in den neuen Ländern eingegangen ist? ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Gysi, Sie haben das Wort. ({0}) - Darf ich die Herren Ministerpräsidenten bitten, dem Redner die Möglichkeit zur Antwort zu geben. Wir unterbrechen gerne so lange, bis das möglich ist. Bitte sehr, Herr Dr. Gysi, Sie haben das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Was den zweiten Teil Ihrer Intervention betrifft, muß ich einräumen, daß der Fraktionsvorsitzende der SPD zur Situation in den neuen Bundesländern nichts gesagt hat. Aber ich bin nicht sein Verteidiger. Dazu muß er selbst Stellung nehmen. Zum ersten Teil muß ich sagen, daß Sie kaum etwas über die neuen Bundesländer gesagt haben. ({0}) - Einen Moment. Sie haben nur in Aussicht gestellt, daß eine Konzeption vorgelegt werden soll, die in den nächsten Wochen erarbeitet wird. ({1}) Wenn Sie nach sieben Jahren deutscher Einheit hier den Jahreswirtschaftsbericht vorlegen und eine Konzeption in Aussicht stellen, statt sie vorzustellen, dann sagt das alles über Ihre diesbezügliche Politik. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe nun dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland steht am Beginn eines entscheidenden Jahres. Wir brauchen eine Trendwende am Arbeitsmarkt; wir brauchen einen starken Aufschwung und einen nachhaltigen und ausreichenden Wachstumspfad für die deutsche Volkswirtschaft. Unser erfolgreiches wirtschaftspolitisches Modell, die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards, dessen 100. Geburtstag wir Anfang Februar gefeiert haben, steht vor einer weiteren Bewährungsprobe. Ich habe gerne zur Kenntnis genommen, daß sich jetzt auch Herr Scharping des Erbes von Ludwig Erhard bedient. Wir begrüßen das. Aber zu dem Zeitpunkt, als Ludwig Erhard hier noch unter uns saß, wurde Rudolf Scharping wegen Juso-Umtrieben - jedenfalls zeitweilig - aus der SPD entfernt. Trotzdem begrüßen wir es, wenn jetzt die Ideenwelt von Ludwig Erhard, der sich gegen Karl Marx weltweit durchgesetzt hat, auch in der SPD zum Tragen kommt. Ein besseres Konzept in Deutschland, in Europa und weltweit gibt es nicht. ({0}) Was wir jetzt brauchen, ist eine konzertierte Aktion für Wachstum und Beschäftigung. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen daran mitwirken. Ohne Konsens im Bundestag und im Bundesrat, ohne Konsens der Tarifpartner bleibt die Politik für den Standort Deutschland Stückwerk. Fehlender Konsens bedeutet fehlende Arbeitsplätze. Vorrang vor allen anderen Überlegungen muß jetzt die Wiedergewinnung von Beschäftigung haben. Ich bin der festen Überzeugung, daß es ausgehend von einer klaren Diagnose der Probleme am Standort Deutschland möglich sein müßte, gemeinsam zur richtigen Therapie zu gelangen. Dafür stehen wir in der Pflicht. Die aktuellen finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Bundesregierung packen das Problem der Arbeitslosigkeit an der Wurzel. Es geht um Konsolidierung der Staatsfinanzen, um Defizite, Steuern und Abgaben senken zu können; es geht um Steuersenkungen und Steuerstrukturreformen, um den Verbrauch und die Investitionen anzuregen, und um Reformen im Sozialbereich, um die Sozialleistungen auf Dauer zu sichern und Lohnnebenkosten zu senken. ({1}) Daß unsere Diagnose und auch die Medizin Konsolidierung und gezielte Wachstumspolitik richtig sind, zeigen nicht nur unsere eigenen, sondern auch die internationalen Erfahrungen. Auch ich verweise auf das, was der Kollege Stoltenberg in seiner glänzenden Rede dargestellt hat. ({2}) Die Beispiele Niederlande, Großbritannien, Skandinavien, Kanada, zum Teil Frankreich und Österreich müßten doch jedem zu denken geben. Sie können doch nicht ewig mit dem Image der rückständigsten Sozialdemokraten in Europa herumlaufen. ({3}) Das ist Ihrer Geschichte und auch des Erbes von Karl Schiller eigentlich nicht angemessen. Mit dem vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht zeichnet die Bundesregierung ein realistisches Bild der wirtschaftlichen Lage und der Herausforderungen, vor denen wir stehen. Der Kollege Rexrodt hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Rahmenbedingungen für eine Wachstumsbeschleunigung sind gut. Der Welthandel expandiert kräftig. Die deutschen Exporteure profitieren von der guten Weltkonjunktur. Die langfristigen Zinsen sind auf ein historisch niedriges Niveau unter fünf Prozent gesunken. Das erleichtert Investitionen und begünstigt den Wohnungsbau. Schließlich haben wir in Deutschland nahezu Preisstabilität, eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum. Wir wissen aber, daß die Rückführung der Arbeitslosigkeit einen langen Atem erfordert. Auf vielen Feldern haben wir die notwendigen Gegenmaßnahmen ergriffen oder eingeleitet: das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung mit seinem Umbau im Sozialsystem, die Reform der Renten- und Krankenversicherung, die Jahressteuergesetze 1996 und 1997, insbesondere die Abschaffung der arbeitsplatzvernichtenden Vermögensteuer. Meine Damen und Herren, Ihre Polemik hilft doch nicht darüber hinweg, daß der Investor in Dänemark und der Investor in Osterreich - Länder mit sozialdemokratischer Regierung - in die Lage versetzt wurden, ihre Vermögensteuer nicht mehr bezahlen zu müssen, während der Investor in Deutschland - ob in Schleswig-Holstein oder in Bayern - sie bezahlen mußte. Der Investor richtet sich doch nicht nach Ihrer Ideologie, sondern nach der konkreten Kostenbelastung. Darum war es richtig, diese Substanzsteuer abzuschaffen. ({4}) Wir werden die Konsolidierung auch im Bundeshaushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung konsequent fortsetzen. Die dritte Stufe der UnternehBundesminister Dr. Theodor Waigel mensteuerreform mit dem Wegfall der Substanzsteuer Gewerbekapitalsteuer und einer investitionsverstetigenden Gemeindefinanzreform ist der richtige Weg. Hinzu kommen unsere umfassende Steuerreform 1999 und ihre erste Stufe 1998. Im nächsten Monat werde ich den Diskussionsentwurf zum Dritten Finanzmarktförderungsgesetz vorlegen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag für den Standort Deutschland, für den Finanzplatz Deutschland und auch - das darf ich bei aller Respektierung der regionalen Finanzplätze sagen - für den Finanzplatz Frankfurt. Darum profitiert Frankfurt und damit auch Hessen von unserer Politik, nicht von der rotgrünen Politik, die in Wiesbaden betrieben wird. ({5}) Im Börsen- und Wertpapierbereich sollen umfangreiche Deregulierungsmaßnahmen dazu beitragen, die Aktie zu fördern, den Emittenten den Börsenzugang zu erleichtern und den Anlegerschutz zu verbessern. Wir denken zum Beispiel an die Modernisierung der Haftung bei fehlerhaften Börsenzulassungen oder Verkaufsprospekten, Ermöglichung einer Zulassung zum geltenden Markt für junge Unternehmen, unternehmensberichtsfreie Zulassung, Anerkennung fremdsprachiger Prospekte, Erweiterung der Befugnisse des Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel bei Überwachung der Vorschriften des Verkaufsprospektgesetzes. Mit den Veränderungen im Investmentrecht kann die private Ersparnisbildung über eine Anlage in Risikokapital vermehrt in Unternehmensbeteiligungen gelenkt werden. Weiter folgende Maßnahmen: Zulassung von gemischten Wertpapier- und Grundstückssondervermögen, Zulassung von Aktienfonds mit begrenzter Laufzeit und von Aktienindexfonds, Erweiterung der Anlagemöglichkeiten der Fonds in Derivaten und Gestattung von Wertpapierpensionsgeschäften. Der dritte Bereich umfaßt die Neuregelung des Rechts über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften. Die Eigenkapitalversorgung von innovativen mittelständischen Unternehmen kann so entscheidend verbessert werden. ({6}) Das, meine Damen und Herren, ist ein entscheidender Beitrag für mehr Wagniskapital und die Chance, mehr Existenzen zu gründen. Wir haben nicht nur eine Arbeitsmarktlücke, wir haben auch eine Existenzgründungslücke. Auch hier muß natürlich angesetzt werden, um mit mehr Existenzen - vor allen Dingen mit mittelständischen und Dienstleistungsexistenzen - zu mehr Beschäftigung und damit zu einer entscheidenden Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu kommen. ({7}) Mit guten Gründen können wir davon ausgehen: Die Arbeitslosigkeit wird bei Fortsetzung dieser Politik und bei Einleitung dieser Maßnahmen noch in diesem Jahr zurückgehen. Es wäre jedoch ein Trugschluß, zu glauben, daß der Konjunkturaufschwung alleine die Lösung der Arbeitsmarktprobleme mit sich bringt. Wir brauchen strukturelle Reformen, gezielte Wachstumsförderung und die Fortführung der Konsolidierungspolitik. Beim letzten G-7-Treffen in Berlin - ich habe mich sehr darüber gefreut, daß die Finanzminister und Notenbankgouverneure der G 7 selber den Wunsch äußerten, wieder einmal in Berlin, der alten und neuen Hauptstadt, zusammenzukommen - war man von der Aufbauleistung, die dort stattfindet, beeindruckt. Dort hat uns der Internationale Währungsfonds wieder bestätigt, daß in Deutschland 80 Prozent der Arbeitslosigkeit strukturelle Ursachen hat und daß deswegen Strukturpolitik und Flexibilität im Beschäftigungsbereich entscheidende Voraussetzungen sind, um an die Beschäftigungserfolge der Vereinigten Staaten und auch Großbritanniens, Hollands, Schwedens sowie anderer Länder entsprechend anzuknüpfen. ({8}) Sie haben - auch in der Auseinandersetzung mit dem Kollegen Stoltenberg - völlig übersehen, daß wir von 1983 bis 1992 über drei Millionen Arbeitsplätze geschaffen haben und die Zahl der Erwerbstätigen um dreieinhalb Millionen gestiegen ist, daß aber die Arbeitslosigkeit im Ergebnis nur um eine halbe Million zurückging, weil sehr viele Menschen von außerhalb zu uns nach Deutschland hereingekommen sind, nach Arbeit suchten und sie auch bekommen haben. Das müssen Sie bei Ihrer Analyse doch berücksichtigen. ({9}) Wir haben - das kann doch niemand leugnen - auf der Nachfrageseite zu hohe Lohn- und Lohnzusatzkosten, zu starre Tarifverträge und - darauf hat Kollege Solms verwiesen - ausufernde Rechtsnormen mit langen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Die Verantwortung für den Abbau struktureller Arbeitslosigkeit tragen nicht zuletzt die Tarifparteien. Nicht der Staat kann - wie in den 60er und 70er Jahren - Tausende, Hunderttausende oder Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen. Sie müssen im privaten Bereich durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, durch Angebotsorientierung und durch private Initiative geschaffen werden. Nur damit können die Probleme gelöst werden. ({10}) Wir haben in der Vergangenheit viele Vorteile aus der internationalen Arbeitsteilung gezogen. Sie hat uns Wohlstand und materielle Sicherheit gebracht. Die These wird nicht dadurch falsch, daß in den vergangenen Jahren neue Wettbewerber auf den Markt getreten sind. Die neuen Wettbewerber tun das, was wir nach dem Krieg in Europa und auf internationaler Ebene ausgenutzt haben. Darum wäre es völlig falsch, in Protektionismus oder Wettbewerbsverbote flüchten zu wollen. Wir müssen mit den Herausforderungen fertig werden und können das nicht mit den Antworten der 50er Jahre tun. Auch das gehört zu den Erfahrungen des niedergegangenen Sozialismus: Abschottung führt zu Wettbewerbsunfähigkeit und schließlich zur Verarmung. Freiheit des Marktes und sozialer Ausgleich bilden zusammen das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Ihr ist die wirtschaftliche Kraft Deutschlands und die Entwicklung eines hervorragenden sozialen Netzes zu verdanken. Meine Damen und Herren, es muß doch endlich einmal mit der Mär aufgeräumt werden, daß wir in einem sozialen Niedergang stünden oder daß ein sozialer Kahlschlag stattfände. Nach Luxemburg und Dänemark steht das deutsche Sozialleistungsniveau an der Spitze in Europa. Die Summe aller sozialen Leistungen belief sich 1989 noch auf rund 680 Milliarden DM. Heute sind es 1 180 Milliarden DM. Es kann doch niemand behaupten, daß in dieser Zeit ein sozialer Abbau oder ein sozialer Rückgang stattgefunden hätte. ({11}) Der Aufgabenbereich der sozialen Sicherheit ist auch in diesem Jahr mit mehr als 150 Milliarden DM der größte Ausgabenposten im Bundeshaushalt. Ludwig Erhard schrieb hierzu: Nichts ist in der Regel unsozialer als der sogenannte Wohlfahrtsstaat. Solche Wohltaten muß das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat seinen Bürgern mehr geben kann, als er ihnen vorher abgenommen hat. ({12}) Wahr ist: Der Bundeshaushalt 1996 schließt mit einer Defizitüberschreitung in Höhe von 18,4 Milliarden DM ab. Die Mehrbelastung des Arbeitsmarktes in der Größenordnung von 17 Milliarden DM ist nicht nur das Ergebnis der Arbeitsmarktentwicklung, sondern auch die Folge dessen, daß es im Bundesrat nicht möglich war, zu zusätzlichen notwendigen, für Bund, Länder und Kommunen eigentlich unverzichtbaren Konsolidierungen mindestens in der Größenordnung von 6 Milliarden DM zu kommen. Wir haben die Zusatzbelastungen auf dem Arbeitsmarkt 1996 mit Hilfe eines restriktiven Haushaltsvollzugs größtenteils ausgeglichen. Wenn die Gesamtausgaben im Ist 1996 nur 1 Prozent über dem Soll liegen, dann zeigt dies ganz deutlich, wie sparsam und restriktiv wir hier gearbeitet haben. Es sei mir einmal ein Vergleich von 1996 und 1994 erlaubt. 1994 hatten wir beim Abschluß in der Statistik der Finanzkennziffern mit die besten Zahlen aller G-7-Länder. Nur, damals war die Treuhandanstalt nicht berücksichtigt, war die Bundesbahn nicht berücksichtigt und waren einige andere Sonderfaktoren, die wir 1995 und 1996 in den Haushalt genommen haben, nicht berücksichtigt. ({13}) Gegenüber 1994 ist die Kreditaufnahme im Bereich des Bundes im Jahre 1996 um 11 Milliarden DM geringer. Das zeigt die Konsolidierung, die 1994, 1995 und auch 1996 stattgefunden hat. ({14}) Der Jahreswirtschaftsbericht 1997 geht von einem Staatsdefizit von 2,9 Prozent aus. Das setzt voraus, daß die im Vermittlungsverfahren befindlichen Spargesetze umgesetzt werden. Notwendige haushaltswirtschaftliche oder auch gesetzliche Einsparungen bedürfen einer differenzierten Abwägung. Einsparungen sollten weitgehend bei konsumtiven Ausgaben ansetzen. Investive Ausgaben sollten wegen ihrer Bedeutung für den Wachstumsprozeß und den Arbeitsmarkt möglichst nicht tangiert werden. Konsolidierung und Wachstumspolitik gehören immer zusammen. In jedem Fall wollen wir Konsolidierungsmaßnahmen mit einem Konzept zur Verstärkung beschäftigungsfördernder Investitionen verbinden. Ein solches Maßnahmepaket muß bereits 1997 zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirksam werden. In diese Überlegungen können auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Ausgleichsbank einbezogen werden. Sie verfügen über die notwendigen Erfahrungen und die geeigneten Instrumente, kurzfristig Wachstums- und Beschäftigungsimpulse zu geben. Insbesondere wäre daran zu denken, mittelstandsorientierte Programme aufzulegen, zum Beispiel für Investitionen in neue Technologien, in die Wohnraummodernisierung oder im Energiebereich. Das wichtigste und wirksamste Instrument für mehr Investitionen, für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung wäre das rechtzeitige Ja zu der großen, umfassenden Steuerreform, für die wir in allen sachverständigen Kreisen große Zustimmung erfahren. ({15}) Dies wäre ein Ruck für die Wirtschaft und für neue Arbeitsplätze. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer muß endlich kommen. Wichtige Teile der Steuerreform 1999 könnten auch, wie wir vorgeschlagen haben, 1998 umgesetzt werden. Darauf sollte die Wirtschaft setzen. Kluge Unternehmer handeln jetzt. Es ist das Gebot der Stunde, jetzt bei sehr günstigen Abschreibungssätzen zu investieren, um danach, 1998 und 1999, den Ertrag einer rechtzeitigen Investition mit niedrigeren Ertragsteuern zu bekommen und dann wieder für weitere Investitionen und damit für einen dauerhaften Wachstumsprozeß zu verwenden. ({16}) Das ist auch die Grundphilosophie unserer Steuerreform und der zeitlichen Komponente, die damit zusammenhängt. Wer heute investiert, profitiert sofort von günstigen Abschreibungssätzen und ab 1998 bzw. 1999 vom günstigeren Zukunftstarif. Diese Vorzieheffekte wären das beste Investitions- und Wachstumsprogramm für das Jahr 1997. Wir sollten jetzt mit dieser konzertierten Aktion für Wachstum und Beschäftigung beginnen und die wichtigen Reformen für Deutschland gemeinsam auf den Weg bringen. Angesichts von viereinhalb Millionen Arbeitslosen sollten wir bei allen Unterschieden in der politischen Auffassung im Interesse DeutschBundesminister Dr. Theodor Waigel lands zusammenstehen. Lassen Sie uns ohne taktische Scheuklappen die Probleme anpacken. Wir sind es den Bürgern in unserem Vaterland schuldig, für das drängendste Problem des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, und dafür, Menschen wieder Arbeit zu geben, gemeinsam eine Lösung zu finden. Wir laden Sie dazu ein. Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU Beifall bei der F.D.P. - Zuruf von der SPD: Ablösung der Regierung! -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Sehr gut, Theo!)

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Metzger das Wort.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Bundesfinanzminister, der Inhalt Ihrer Reden ist bekannt. Sie unterliegen dem Irrtum, der Opposition das Nichtstun vorhalten zu wollen, das Sie in der Regierung durch Unterlassen in der Vergangenheit - das hat den Reformstau bewirkt - zu verantworten haben. Ich nenne ein paar konkrete Zahlen. Sie stellen sich hier hin und bemühen den Jahresabschluß des Bundeshaushalts 1996, um sich der Konsolidierungserfolge zu rühmen. Die Konsolidierungserfolge des letzten Jahres haben sich dadurch ergeben, daß Sie im Bereich der Investitionen 5 Milliarden DM weniger ausgegeben haben, als Sie ursprünglich wollten. Sie haben damit genau das Gegenteil Ihrer eigenen Botschaft praktiziert, die da lautet: Wachstum und Beschäftigung entstehen dadurch, daß man die Investitionsausgaben des Staates erhöht. Dazu sage ich: Fehlanzeige. ({0}) - Das ist eine Kurzintervention und keine Zwischenfrage. Zum zweiten. Ihre große Steuerreform bringen Sie zu spät auf den Weg. Sie wissen, daß Steuerreformen einen Vorlauf brauchen, um mit einer Grundbotschaft, die in einer Senkung der nominalen Tarife besteht, etwas zu bewirken. Das Steueraufkommen soll ja möglichst gleichbleiben; die Staatskasse kann eben kein Geld an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben, weil sie sonst mit der einen Hand das nimmt, was sie mit der anderen Hand gibt. Sie wissen, daß diese Reform zu spät kommt, so daß Sie, Herr Finanzminister, die Maastricht-Kriterien im früheren Musterland Deutschland 1997 nicht erfüllen können. Sie wissen doch genau, daß heute die Bundesbank - und auch die Commerzbank - die Defizitquote bei 3,3 Prozent ansetzt. Sie und auch Bundeskanzler Kohl haben sich immer hingestellt und durchdekliniert: 3,0 Prozent ist gleich 3,0 Prozent. Sie versuchen jetzt, für Ihr Reformprojekt die Sozialdemokraten zu instrumentalisieren. Sie möchten die Malaise dieses Winters mit den schlechten Arbeitsmarktdaten überbrücken, bis es dann wieder, saisonbedingt, ab April - wenn der Frühling kommt, wie Sie, Herr Bundeskanzler, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gesagt haben - aufwärtsgeht. Dann haben die Sozialdemokraten ihre Aufgabe erfüllt, und Sie können sich hinstellen und weitermachen wie bisher. Wenn bei den Sachfragen eine große Koalition in bezug auf die Steuerreform zustande kommt, Herr Finanzminister, Herr Bundeskanzler, dann bekommen Sie nie eine so deutliche Senkung der Nominaltarife hin, die bewirken könnte, daß ausländische Direktinvestitionen in dieses Land kommen. Ausländische Direktinvestitionen haben bisher die Bundesrepublik gemieden, weil tatsächlich, was die steuerrechtlichen Parameter betrifft, die hohe nominale Tarifbelastung in der Spitze hemmend für den Standort Deutschland wirkt. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß Wirtschaftspolitik auch nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren funktioniert. Wenn deutsches Kapital ins Ausland fließt, um an den Absatzmärkten Arbeitsplätze zu schaffen und um so zu vermeiden, daß bei den Handelspartnern prohibitive Tendenzen aufkommen, dann bedeutet das im Umkehrschluß doch auch, daß ausländisches Kapital wieder in dieses Land hinein muß, das bewirkt, daß hier Wertschöpfung erarbeitet werden kann, für die dann in unserem Land, und nicht in England oder in Spanien Ertragsteuern gezahlt werden. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Metzger, die Zeit für Ihre Kurzintervention ist abgelaufen.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sind die Regierung, nicht wir. Sie stehen doch in dem Ruf, wirtschaftsnah und reformfähig zu sein. Sie laden die Opposition zur Mitarbeit zu einem Zeitpunkt ein, zu dem Sie schon längst versagt haben. Sie kommen zu spät.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Metzger, die Zeit für Ihre Kurzintervention ist abgelaufen. Bitte beenden Sie Ihren Beitrag.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie sich mit der SPD auf eine Regelung einlassen, dann wird dabei nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners eine Schmalspurlösung herauskommen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister Waigel, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. ({0}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Dann erteile ich dem Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder, als Mitglied des Bundesrates das Wort. ({1}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({2}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier ist vom Bundeswirtschaftsminister formuliert worden: Im Ziel, Beschäftigung zu sichern und mehr Beschäftigung in Deutschland zu erreichen, sei man sich einig. - Ich bin nicht so sicher, ob man sich mit dem Bundeswirtschaftsminister in diesem Ziel einig sein kann; ({3}) denn die Stellungnahmen, die er in der letzten Zeit außerhalb des Deutschen Bundestages abgegeben hat, legen eine ganz andere Einschätzung nahe. Da haben wir von der Klage des Herrn Rexrodt darüber gehört, daß es in Deutschland mangelnde Möglichkeiten gebe, Menschen auf die Straße zu setzen, sie zu entlassen. Dies, meine Damen und Herren, sagt der Bundeswirtschaftsminister in einer Situation, in der wir fast 5 Millionen Arbeitslose haben. Das ist nicht Politik, das ist blanker Zynismus. ({4}) Unter dem Stichwort „Wir brauchen mehr Flexibilität in der Arbeitsorganisation" - da ist was dran - vernehmen wir vom Bundesfinanzminister den Vorschlag, die Nacht- und Schichtzuschläge zu besteuern. Was passiert ökonomisch, wenn man das tut? Es wird das Gegenteil von dem passieren, was man eigentlich will. Man will teure Anlagen, Maschinen besser nutzen. Das ist ein richtiger Wunsch und ein vernünftiges Unterfangen. Aber wenn man das erreichen will, dann darf man diejenigen, die nachts und in Schichten arbeiten sollen, nicht bestrafen, sondern man muß sie ermuntern. Sonst funktioniert das Ganze nicht. ({5}) Die Vorschläge, die Menschen, die zu ungünstigen Zeiten zur Arbeit in die Fabriken gehen, zu bestrafen, sind sozial ungerecht und ökonomisch kontraproduktiv. ({6}) Kern dieser Vorschläge, die im Jahreswirtschaftsbericht stehen und die der Bundeswirtschaftsminister erläutert hat, sei das Ziel von mehr Beschäftigung. Das Instrument dafür, das er schon seit mehr als 14 Jahren vorschlägt, heißt: angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Herr Stoltenberg, ich habe Ihnen genau zugehört. Ich finde, über Ihre Polemik war nicht zu diskutieren, aber über die Inhalte. Die Frage, die man an Menschen wie Sie stellen muß, die fast von Anfang an dabei waren, ist die: Glauben Sie wirklich, daß sich die Instrumente Erhardscher Wirtschaftspolitik auf reine Angebotspolitik reduzieren lassen? Nach meiner festen Überzeugung ist das eine Verzeichnung dessen, was seinerzeit war, und deshalb nicht die Bestätigung der Vorschläge, die Herr Rexrodt hier gemacht hat. ({7}) Was, meine Damen und Herren, hat diese rein angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die Sie in der letzten Zeit permanent gemacht haben, wirklich angerichtet? Auf dem Arbeitsmarkt eine schlichte Katastrophe. Denn Sie machen nichts anderes als das, wovon Sie seit vierzehn Jahren reden: angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Wenn die Erwartungen, die Sie an diese Form der Politik stellen, erfüllt würden, dann müßten bereits paradiesische Zustände eingetreten sein; denn Sie machen doch nichts anderes als diese Politik. ({8}) Es geht nicht nur darum, was auf dem Arbeitsmarkt los ist. Was ist etwa bei der Verteilung von Vermögen in Deutschland los? ({9}) - Lassen Sie mich das bitte im Zusammenhang ausführen. Ich bin als Parlamentsredner nicht mehr so versiert wie Sie, Herr Stoltenberg. ({10}) Was ist los, meine sehr verehrten Damen und Herren, in puncto Vermögensverteilung in Deutschland als Folge einer rein auf Angebot orientierten Wirtschaftspolitik? Sie können nicht darüber hinwegsehen, daß die Konsequenz dessen gewesen ist, daß sich die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland dramatisch verändert hat, und zwar zu Lasten der arbeitenden Menschen und zugunsten derjenigen, die ihr Einkommen nicht aus Leistung, nicht aus Arbeit, sondern rein aus Vermögen beziehen. ({11}) Dies ernsthaft zu bestreiten ist falsch. Drittens. Wo hat denn die rein angebotsorientierte Politik, bezogen auf die Binnenkonjunktur, hingeführt? Wir sehen in der Exportkonjunktur zwar Lichtblicke; das ist durchaus zuzugestehen. Aber das Problem, das wir wirtschaftspolitisch und auch sozial - vor allem aber wirtschaftspolitisch - haben, ist doch, daß wir dramatische Einbrüche in der Binnennachfrage haben. Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, wie Sie sie verstehen, heißt: Die dramatischen Einbrüche in der Binnennachfrage verstärken und damit die Krise verschärfen. Das ist Ihr Konzept. ({12}) Ministerpräsident Gerhard Schröder ({13}) Dann habe ich versucht zuzuhören, was denn, nachdem man die Ergebnisse dieser angebotsorientierten Wirtschaftspolitik zur Kenntnis nehmen mußte, die Folge dessen sein soll. Gibt es Einsicht? Gibt es die Fähigkeit, zu erkennen, daß nicht das Setzen auf Keynes - das ist hier gar nicht vorzuschlagen -, sondern eine ausgewogene Balance zwischen der Beachtung der Funktion von Masseneinkommen einerseits und der Kostensituation in den Betrieben andererseits immer das Kennzeichen deutscher Wirtschaftspolitik - im Unterschied zum Beispiel zu dem, was Frau Thatcher in England vorgeschlagen hat - war? Herr Bundeskanzler, wenn ich das, was Sie von Maggie Thatcher unterschieden hat, richtig verstanden habe - ich meine jetzt nicht die Probleme im Emotionalen, sondern im Sachlichen -, dann war es doch wohl so, daß sich deutscher Konservativismus vom englischen immer dadurch unterschied, daß er um die soziale Funktion der Masseneinkommen wußte, jedenfalls zu wissen schien. Dies aufgegeben zu haben ist der eigentliche Fehler, den Sie gegenwärtig machen. ({14}) Anstatt Einkehr zu zeigen und Vernunft zu wahren, lassen Sie eine verhängnisvolle Entwicklung zu, die sich schon jetzt abzeichnet, nämlich die Entwicklung, daß die gescheiterte, insbesondere in der F.D.P. entworfene Angebotspolitik durch die Mehrheitspartei in der Koalition nicht korrigiert wird, sondern durch die F.D.P. in Verkennung der Wirklichkeit und in Hilflosigkeit verschärft wird. Das war das Kredo des Bundeswirtschaftsministers heute. ({15}) Herr Kopper hat den Herrn Wirtschaftsminister als Führungsfigur der Fußkranken in der Wirtschaftspolitik dargestellt. Ich halte das für übertrieben. Nicht die Krankheit, aber das Defizit sitzt deutlich weiter oben. ({16}) Sie werden in der aktuellen Debatte noch eines erleben: Die von Ihnen zugelassene Verschärfung einer verfehlten Politik mit all den gefährlichen sozialen Wirkungen, die wir tagtäglich erleben, wird dazu führen - ich erinnere an die Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre -, daß - das sage ich Ihnen, Kolleginnen und Kollegen aus der Union - diese brutalisierte Form der Klientelpolitik der F.D.P. die CDU um ihren Charakter als Volkspartei bringen wird. ({17}) Ich habe über die Funktion dieser Politik, was die Binnenkonjunktur und die Arbeitslosigkeit angeht, gesprochen. Ich möchte zu den Wirkungen dieser Politik, die Sie weiterhin propagieren, bezogen auf das, was auf dem Ausbildungssektor bei uns los ist, ein paar Bemerkungen machen. Deutschland war zu Recht stolz darauf, das modernste, das beste Ausbildungssystem zu haben, das es weltweit gibt. Was ist daraus in den letzten Jahren geworden? ({18}) - Gerade darauf habe ich gewartet! Wenn Sie einmal genau hingucken, dann werden Sie feststellen, daß bei uns zwar längst nicht alles in Ordnung ist - das gebe ich gerne zu -, daß es bei uns aber 3 Prozent Zuwachs bei den Ausbildungsplätzen gegeben hat, während es im Bundesdurchschnitt fast 2 Prozent weniger waren. Das reicht nicht, aber wir sind stolz darauf, daß das geleistet werden konnte. ({19}) Ich bleibe bei der Ausbildung. Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik heißt, bezogen auf die Ausbildung in den Betrieben, daß man die Kostenorientierung zum alleinigen Maßstab der Ausbildungsverpflichtung erklärt. Realität auf diesem Sektor erfordert es, daß man den Unternehmen, den ökonomischen Eliten in diesem Land sagt, daß Ausbildung eben nicht nur nach Kostengesichtspunkten beurteilt werden darf, sondern die Sicherung der Basis unserer Volkswirtschaft bedeutet. ({20}) Bei einigen heißt das - ich weiß das sehr wohl -, die bittere Pille schlucken zu müssen: Wenn man mehr Ausbildung will, als im Betrieb gebraucht wird, darf es keine Übernahmeverpflichtungen geben. Das ist gar keine Frage. Auf diesen Weg müssen sich auch die Tarifpartner begeben, sonst wird das Ganze nicht funktionieren. ({21}) - Dazu ist alles Notwendige gesagt worden. ({22}) Zum Problem der illegalen Beschäftigung. Wessen Kredo ist denn die Klage, daß man nichts gegen die illegale Beschäftigung tun kann? Wer diffamiert denn den Versuch, deutsche Bauarbeiter vor Lohndumping und billigster Konkurrenz aus anderen Ländern zu schützen, als Protektionismus? Das sind doch Sie, die das ständig diffamieren. ({23}) Ich glaube also, daß man feststellen kann, ja, feststellen muß, daß eine Politik, die allein auf Angebotsorientierung gesetzt hat, nun, da ihr Scheitern offenbar wird, zu einer Verschärfung der ökonomischen und sozialen Krise mit allen Folgen im Land führen wird. Ich glaube nicht mehr, daß von diesem Bundeswirtschaftsminister und von Ihnen, Herr Bundeskanzler, wirklich eine Lösung des Problems zu erwarMinisterpräsident Gerhard Schröder ({24}) ten sein wird. Sie sind nämlich nicht die Lösung des Problems, weil Sie Teil des Problems sind. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. ({25}) Meine Damen und Herren, wenn es noch nicht genug sein sollte: Vor ein paar Monaten haben wir volltönend gehört, man brauche die Opposition in der Steuerpolitik nicht, um ein vernünftiges, ein rationales Steuerkonzept zu entwickeln. Man nehme das nach dem bewährten Muster auseinander, packe es in Artikelgesetze, und dann werde man es, ohne die Sozialdemokraten zu bemühen, schon durchpeitschen. ({26}) Ich bin ja froh darüber, Herr Bundesfinanzminister, daß ausgerechnet in Passau nicht nur polemische Töne zu hören waren, sondern das ernsthafte Angebot gemacht worden ist: Seht ihr, ihr Sozialdemokraten, wir haben uns verschätzt, es geht doch nicht ohne euch. - Das wußten wir. Immer wenn die Krise groß genug ist, brauchen Sie uns. Aber wir werden helfen; seien Sie ganz sicher, wir werden helfen. Nur, diese Hilfe, die Sie brauchen, weil Sie nicht zurechtkommen, ist nicht um Ihre Preise zu haben. Das muß genauso feststehen. ({27}) Lassen Sie mich abschließend ein paar Bemerkungen zu den Verhandlungen machen, die Gott sei Dank beginnen. Denn das gebe ich gerne zu: Es wäre töricht von jedem in diesem Haus und in der deutschen Politik, wenn nicht der ernsthafte Versuch gemacht würde, angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen auch auf dem Felde der Steuerpolitik das zu richten, was gerichtet werden muß, um Verbesserungen zu erreichen. Keine Frage, daß das sinnvollerweise geschieht! ({28}) Die Eckpunkte dessen, was geschehen müßte, liegen auf der Hand. Ich fand es vernünftig - davon gibt es nichts abzustreichen -, daß die Besteuerung gewerblicher Einkünfte anders behandelt werden soll als die Besteuerung sonstiger Einkünfte. ({29}) Ich finde es deshalb vernünftig, weil es ein Signal sein kann - nicht: sein muß! - für ausländische Investoren. Wir werden ja sehen, was daraus erwächst. Ich halte aber das Prinzip für richtig. Richtig ist auch, daß es für die Besteuerung der sonstigen Einkünfte verfassungsrechtliche Folgen hat. Aber den Ausgangspunkt, in dieser Richtung etwas zu tun, halte ich für richtig und vernünftig. Ich glaube, meine Damen und Herren, daß Sie mit einem Eingangssteuersatz nicht etwa von 15 Prozent - das wäre ein bißchen Mogelei -, sondern von 22,5 Prozent nur unwesentlich über dem Eingangssteuersatz von 19,5 Prozent liegen, den wir vorgeschlagen haben. Ich halte es für denkbar, nötig und möglich, daß man sich in dieser Frage rasch einigt. Bei der Frage der Gegenfinanzierung, meine Damen und Herren, Herr Bundesfinanzminister, werden Sie so einfach nicht davonkommen. Sie haben mit Ihrem Steuerkonzept - wir wissen übrigens noch nicht, ob es jemals in Gesetzesform gegossen wird; darauf warten wir noch - bewußt Mut zur Lücke gehabt, nämlich zur Lücke von 44 Milliarden DM, die in Ihrem Steuerkonzept noch nicht finanziert sind. Bevor wir Finanzierungsvorschläge machen, möchten wir von Ihnen gerne hören, wie Sie sich diese Finanzierung vorstellen. Denn eines muß man der Öffentlichkeit auch einmal mal klarmachen: Politik kann nicht so aussehen, daß Sie die Wohltaten versprechen und sich die Sozialdemokraten um die Finanzierung kümmern müssen. ({30}) - Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Ich verstehe Ihre Aufregung überhaupt nicht. ({31}) - Herr Westerwelle, wenn die Intelligenz Ihrer Vorschläge mit der Lautstärke jemals Schritt halten würde, wären wir besser dran. Das will ich Ihnen sehr deutlich sagen. ({32}) Bislang ist einfacher Tatbestand, daß in dem Steuerkonzept - nicht unintelligent gemacht -, das Herr Waigel skizziert hat - in Gesetzesform haben wir es noch nicht -, eine Finanzierungslücke von 44 Milliarden DM besteht. Was immer Sie der deutschen Öffentlichkeit und wem auch immer erzählen, für die Finanzierung dieser 44 Milliarden DM werden Sie Vorschläge zu machen haben. Sonst ist das kein seriöses Unterfangen. Sonst kann es auch keine aussichtsreichen Verhandlungen geben. ({33}) Meine Damen und Herren, im Grunde ist mit diesem Konzept eines geleistet worden, nämlich daß man aus nachvollziehbaren Gründen die nominalen Steuersätze dem angepaßt hat, was real in Deutschland gezahlt wird. Aus den genannten Gründen ist das richtig. Das ist aber schon das ganze Geheimnis der Waigelschen Vorschläge. Denn die Unternehmensteuerbelastung in Deutschland - real betrachtet, nicht nominal - liegt etwa im Mittel der europäischen Konkurrenten. Wenn es also darum ging, vernünftigerweise die nominalen Sätze dem anzupassen, was in Deutschland real gezahlt wird, um ausländischen Investoren zu sagen, was sie zu zahlen haben, und ihnen zu ersparen, komplizierte Abschreibungsmöglichkeiten zu studieren, um zu einer Investitionsentscheidung zu kommen, dann ist das richtig. Das hat aber die Folge, meine Damen und Herren, daß Sie, Herr BunMinisterpräsident Gerhard Schröder ({34}) desfinanzminister, vorschlagen müssen, daß die Finanzierung der Senkung der Tarife exakt aus dieser Marge geschieht. Sie können ja nicht die nominalen Sätze dem real Gezahlten anpassen, die Finanzierung aber von den arbeitenden Menschen nehmen. Das wird nicht funktionieren, meine Damen und Herren. ({35}) - Warten wir es einmal ab. Wir kennen Ihre Vorschläge ja noch nicht. Dann macht es Sinn, wenn man Beschäftigungspolitik ernst nimmt, in die Gespräche, die jetzt Gott sei Dank losgehen, die Tatsache einzubeziehen, daß die Ergänzung angebotsorientierter Wirtschaftspolitik vielleicht dadurch geschehen könnte, daß man sich endlich um die zentralen Kosten, die Beschäftigung in Deutschland so schwer machen, kümmert, nämlich um die Arbeitskosten. Wenn Sie meinen Kolleginnen und Kollegen vorwerfen, sie hätten dazu keine Vorschläge gemacht, dann wissen Sie, daß das falsch ist. Denn sie haben sich überall wirklich die Münder fusselig geredet über die Notwendigkeit, die Senkung der Arbeitskosten dadurch hinzubekommen, daß man in der Tat Leistungen, die nicht in die Sozialkassen gehören, dort herausnimmt. ({36}) Ich sage Ihnen, es geht gar nicht anders, als das über die Erhöhung der indirekten Steuern zu finanzieren. ({37}) - Entschuldigen Sie einmal, niemand, der in diesem Haus vernünftig ist, wird doch wohl bestreiten, daß es für die Senkung der Arbeitskosten, die eine Senkung der Beitragspflichten der arbeitenden Menschen bedeutet, vernünftig ist, über die Gegenfinanzierung, über die Erhöhung der indirekten Steuern nachzudenken. ({38}) Nein, da gibt es auch gar keinen Streit. ({39}) Meine Freunde haben gesagt: dies jedenfalls nicht zur Finanzierung der Steuerreform. Das ist auch vernünftig. ({40}) Aber niemand hat gesagt, daß man sich, wenn es gelingt, die Arbeitskosten deutlich zu senken, alternative Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen müsse. Es gibt eine Kontroverse. Das ist doch zuzugestehen. Was schadet es denn, meine Damen und Herren, über die Frage, welche Form der indirekten Steuern das sein soll, nachzudenken? Das ist doch überhaupt keine Frage. Das weiß doch jeder. Sie müssen sich auch gar nicht aufregen, daß es darüber eine Kontroverse gibt. Die ist übrigens auch nicht schlimm. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen, man kann darüber nachdenken. Aber in der Tat, wenn man auf diese Weise Arbeit in Deutschland preiswerter macht - von billig ist in dem Zusammenhang wohl nicht zu reden -, dann muß man aufpassen, daß die Gegenfinanzierungsform nicht kontraproduktiv ist und nicht zu einer Verschärfung der Wettbewerbsbedingungen für unsere Industrie und produzierenden Gewerbe führt. Das ist klar. Insofern wird darüber zu streiten sein, was der richtige Weg ist. ({41}) Kurzum, meine Damen und Herren, Sie werden erleben, daß in den Gesprächen, die jetzt losgehen, die Opposition, die Mehrheit derer, die im Bundesrat ist, darauf achten wird, daß mit den ökonomisch unsinnigen, sozial gefährlichen Wirkungen einer lediglich angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gebrochen wird. Sie werden erleben, daß in diesen Gesprächen auf vernünftige Vorschläge des Bundeswirtschaftsministers eingegangen wird. Vielleicht schaffen wir es dann, im nächsten Jahr einen Jahreswirtschaftsbericht zu debattieren, der wenigstens Rudimente einer veränderten Politik und damit ein vernünftiges Eingehen auf die Probleme, die wir in Deutschland haben, enthält. Zu wünschen wäre das jedenfalls. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({42})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Dr. Gerhard Stoltenberg das Wort.

Dr. Gerhard Stoltenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ministerpräsident Schröder, weil eine Zwischenfrage nicht möglich war - Sie hatten mich vorher angesprochen -, will ich in Kürze feststellen, daß die Politik der Union und die Politik der Koalition niemals eine rein angebotsorientierte Politik war. ({0}) Das hätte nicht der Tradition Ludwig Erhards entsprochen und auch nicht den Vorstellungen Karl Schillers, der immer über einen „policy mix" sprach, also über eine Politik, die verschiedene Elemente zu beachten hat. Daß dies nach 1982 geschah, zeigen Ihnen folgende Stichworte. Erstens. Die Steuerreform der 80er Jahre mit einer Nettoentlastung von 45 Milliarden DM ist zu über zwei Dritteln den Arbeitnehmern zugute gekommen. Also hat das auch der privaten Nachfrage gedient. ({1}) Zweitens. Die Erhöhung der Realeinkommen der Rentner, die wir nach der Wiedervereinigung vor allem in den neuen Ländern erfreulicherweise massiv erreicht haben, ist nicht nur sozial gewesen, sie hat auch die private Nachfrage gefördert. ({2}) Drittens. Das Vermögensbildungsgesetz, das wir 1983 verabschiedet haben - nach vielen Jahren der Stagnation vorher in der sozialliberalen Ara -, kann man nicht als eine angebotsorientierte Maßnahme bezeichnen. Viertens. Die Verbesserung des steuerlichen Existenzminimums und die starke Erhöhung erneuter kinderbezogener Leistungen wurden 1985 beschlossen. Das waren 23 Milliarden DM Entlastungen. Das hat doch nichts mit Angebotspolitik zu tun. Das heißt: Die These, die Sie hier vorgetragen haben, ist schlicht falsch; aber eine Stärkung der Angebotsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist gerade heute geboten, auch im Interesse des Arbeitsmarktes. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Ministerpräsident, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. Ministerpräsident Gerhard Schröder ({0}): Verehrter Herr Stoltenberg, ich freue mich über die Klarstellung. Aber wenn Sie das Protokoll nachlesen, werden Sie finden, daß der Bundeswirtschaftsminister hier davon gesprochen hat, daß seine ordnungspolitischen Vorstellungen zur Erreichung der Ziele - ich habe erklärt, warum man sie damit nicht erreichen kann - angebotsorientierte Wirtschaftspolitik sind. Ich habe die herzliche Bitte: Lesen Sie es nach. Ich lasse mich gern von einem Besseren überzeugen. Im übrigen will ich ausdrücklich einräumen, daß es den Traditionen der Union immer entsprochen hat, sich nicht allein auf eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu beziehen. Indessen ist die Befürchtung nicht abwegig, daß unter dem Druck der Klientelpolitik, wie sie die F.D.P. macht, diese Traditionen zuschanden kommen. ({1}) Wenn Sie, meine Damen und Herren, einen Beweis dafür brauchen, dann brauchen Sie nur die, wie ich finde, nachvollziehbaren und auch gar nicht ohne Respekt zu verfolgenden Debatten in Ihren eigenen Reihen zwischen den Sozialpolitikern - Geißler, Blüm und wie sie alle heißen - und denen, die dann doch lieber in Richtung angebotsorientierte Wirtschaftspolitik gehen, anzuschauen. Man darf auch nicht ganz außer acht lassen, Herr Bundesfinanzminister, daß die Auseinandersetzungen in der bayerischen Volkspartei CSU, die dort zwischen Frau Stamm auf der einen und Herrn Seehofer auf der anderen Seite laufen, im Kern exakt um diese Frage gehen. Ende der Legende, was die Geschlossenheit der CSU angeht, könnte man formulieren. Es geht, Herr Stoltenberg, letztlich darum: Wollen Sie die sozialen Traditionen der Union in der Krise über Bord werfen, oder schaffen Sie es, gegen einen Koalitionspartner, der aus Existenzangst nichts davon hält, Rudimente dieser Traditionen zu bewahren? Das wird die eigentlich spannende Frage in diesem Jahr sein. Entlang dieser Frage werden die eigentlich spannenden politischen Entscheidungen in der nächsten Zeit fallen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Ministerpräsident Schröder, ich möchte mit aller Deutlichkeit klarstellen, daß es seitens der F.D.P. und auch seitens des Bundeswirtschaftsministers keinerlei Aussagen und keinerlei Erklärungen des Inhalts gibt, daß das Element der Nachfrage und der Nachfragesteigerung neben dem Element der Verbesserung der Bedingungen für das Angebot von Gütern und Leistungen außer acht gelassen wird. Ich habe mich immer, auch aus voller wirtschaftspolitischer und wirtschaftstheoretischer Überzeugung, dafür ausgesprochen, eben die richtige Balance zwischen Angebotsorientierung und Nachfrageorientierung herauszuarbeiten. Ich habe in der Rede heute und auch anderswo aber gesagt, daß es in einer Zeit, in der der Unterschied zwischen den verfügbaren Einkommen und den Bruttoeinkommen immer größer wird, darauf ankommt, die private Nachfrage dadurch zu steigern, daß wir Steuern und Abgaben senken. Durch eine Verbesserung der Angebotsbedingungen müssen wir dafür Sorge tragen, daß zusätzliche Arbeitsplätze entstehen und diese wiederum dazu führen, daß mehr privat nachgefragt werden kann. In einer Zeit - ich habe das gesagt -, in der die Unternehmen mit 1 000 DM belastet werden, damit das Nettoeinkommen um 360 DM gesteigert werden kann, kann es nicht darauf ankommen, daß wir nur auf Nachfragesteigerung setzen, sondern es muß primär darauf ankommen, daß wir die Bedingungen für die Erstellung von Leistungen und Gütern in den Unternehmen verbessern. Das ist unsere angebotsorientierte Politik, das ist unsere Reformpolitik, und das ist letztlich eine Politik, die über eine Verbesserung der Angebotsbedingungen dazu führt, daß die private Nachfrage durch zusätzliches Einkommen gesteigert werden kann. Einseitigkeit oder Einäugigkeit hat es in unserer, in meiner Wirtschaftspolitik nie gegeben. ({0}) Aber man muß die Prioritäten dort setzen, wo sie angesagt sind. In unserer Zeit, bei verschärftem internationalen Wettbewerb, ist die Aufgabe, in Deutschland Bedingungen herbeizuführen, die unsere Unternehmen zu Investitionen bringen und damit zu ArDr. Günter Rexrodt beitsplätzen führen. Von Einäugigkeit kann überhaupt keine Rede sein ({1}) und schon gar nicht von Klientelpolitik. Ich weise das mit aller Schärfe zurück. ({2}) Hier gibt es ein Konzept der Ausgewogenheit und der Balance und der Priorität an der richtigen Stelle. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Ministerpräsident, Sie können darauf antworten. Ministerpräsident Gerhard Schröder ({0}): Ich nehme Ihre Interpretationsversuche gern zur Kenntnis und will mich auch durchaus darauf einlassen. Aber lesen Sie Ihren Wirtschaftsbericht! Ich will einmal deutlich machen, was da steht. Da gibt es zum Beispiel in Ziffer 15 Bemerkungen über eine zu schwache Binnenkonjunktur. Es heißt dann - ich sage das jetzt nicht als Zitat, sondern sinngemäß -: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Konsumenten, also die, die für die Binnennachfrage sorgen sollen, von einer steuerlichen und familienpolitischen Entlastung in hohem Maß profitieren. Wir führen gerade die Auseinandersetzung darüber, ob das ausreicht; im unteren Bereich, wo Zusatzeinkommen wirklich in Nachfrage umgewandelt wird, ist das nach unserer Auffassung nicht so. Weiter diskutieren wir über die Frage, was ansonsten zu machen ist. Da sagen Sie - das liegt in der Logik dessen, was Sie eingangs gesagt haben, nicht Ihrer Interpretation -, daß - ich zitiere - die Schwäche der Masseneinkommen durch den Zuwachs der Unternehmens- und Vermögenseinkommen voll ausgeglichen wird. Dies indessen ist klassisch für eine rein angebotsorientierte Wirtschaftspolitik ({1}) und belegt genau die Behauptung, die ich Ihnen gegenüber gemacht habe. Aber ich freue mich über Ihre Einsicht. Denn wie heißt es so schön - ich bin nicht ganz so bibelfest wie der eine oder andere -: Man soll sich wirklich über jeden reuigen Sünder freuen. Insofern war das ein guter Vormittag. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, wir sollten, Herr Ministerpräsident Schröder, den Streit um die Begrifflichkeit nicht übertreiben. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, zu dem wir uns alle heute bekennen, das erfolgreich gewesen ist und weltweit als Vorbild gilt, war deswegen erfolgreich, weil es den Gedanken der größeren Effizienz eines am Markt ausgerichteten Systems mit Eigenverantwortung, Eigeninteresse, Phantasie und Kreativität verbunden hat mit sozialem Ausgleich, institutioneller Vorsorge für Risiken, die den einzelnen überfordern, und Vorkehrungen für Chancengleichheit. Das ist eine gemeinsame Politik der Koalition, der Union, das wird sie bleiben, und darüber bräuchten wir auch gar nicht sehr zu streiten. Ich denke, wir brauchen am heutigen Tag auch nicht darüber zu streiten, was der Bundeswirtschaftsminister in seiner Regierungserklärung als ersten Satz - wenn ich mich richtig erinnere - gesagt hat: daß sich alles, was wir diskutieren, und alles, worüber wir unterschiedlicher Meinung sind und miteinander streiten, bei einer Arbeitslosigkeit von 4,66 Millionen am Ende des vergangenen Monats an der Frage messen lassen muß: Bringt es mehr oder weniger Beschäftigung? Das ist die entscheidende Frage. ({0}) Vielleicht können wir uns darüber vergewissern, daß alle - Gerhard Stoltenberg hat es gerade in seiner Kurzintervention noch einmal klargestellt - niemals nur für angebots- oder nur für nachfrageorientierte Politik gewesen sind. Ich kenne keinen in diesem Haus. Wir waren eigentlich alle, vielleicht mit unterschiedlichen Akzenten, immer für ein „policy mix" zwischen angebots- und nachfrageorientierter Politik. Ich hätte noch ein bißchen mehr aus der Familienpolitik der 80er Jahre aufgezählt als Gerhard Stoltenberg: Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub bis hin zur Pflegeversicherung in den 90er Jahren. Vielleicht aber ist heute die wichtigste Frage sozialer Gerechtigkeit die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({1}) Vielleicht können wir uns wirklich in der Debatte darauf verständigen, daß das die vorrangige Frage ist und daß wir uns darauf konzentrieren. ({2}) Es wird nicht eine Maßnahme geben, mit der das Problem zu lösen ist. Natürlich kann man diskutieren, ob die Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten etwas gebracht hat oder nicht, und all die vielen anderen Maßnahmen ansprechen. Das wird im einzelnen immer schwer zu quantifizieren sein. Wir könnten uns aber doch einfach darauf verständigen. Vielleicht bringt das eine oder andere doch schrittweise etwas. ({3}) Zu diesem Punkt darf ich darauf zu sprechen kommen: Internationale Beobachter sagen, Deutschland sei ein besonders wenig kundenfreundliches Land. Wir werden uns auch darüber verständigen, Frau Kollegin, daß wir angesichts technologischer EntDr. Wolfgang Schäuble wicklungen in unserer Arbeitswelt in der industriellen Produktion allein, bei den großen Industrien, selbst bei den großen Verwaltungseinheiten Arbeitsplätze nicht schaffen können. Das ist bedauerlich, ist aber die Revolution von der Industrie- in die Informationsgesellschaft. Wenn das so ist, müssen wir in Dienstleistungen aller Art - das betrifft nicht nur die Parkplatzwächter, sondern alle - mehr Arbeitsplätze schaffen. Dienstleistungen haben etwas mit Nähe zum Menschen, mit Service, mit Kundenfreundlichkeit zu tun. Da passen die Ladenöffnungszeiten wieder hinein. ({4}) Es kann auch nur ein kleiner Beitrag in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein. Wir fragen bei jeder Maßnahme: Bringt das eher mehr oder eher weniger Arbeitsplätze? Wenn es weniger bringt, sollten wir es lassen. Wenn es eher mehr bringt, sollten wir es versuchen und auf diesem Weg weitermachen. Wenn wir diesem Maßstab Vorrang geben - darauf könnten wir uns verständigen, Herr Schröder -, dann sollten wir auch die Frage stellen: Welchen Beitrag kann unser Steuerrecht leisten? Und es muß einen Beitrag leisten; das ist unstreitig. Wir dürfen die steuerpolitischen Debatten aber nicht als Verteilungsdebatten oder als Neiddebatten führen. Wir müssen sie vielmehr als Wachstums- und Beschäftigungsdebatten führen. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Christa Nickels?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Schäuble, Sie haben gerade erwähnt, daß im Dienstleistungssektor besondere Anstrengungen nötig sind, um dort Arbeitsplätze zu schaffen. Ich stimme Ihnen zu, möchte Sie aber fragen, wie das mit der Politik der Regierung gerade im Dienstleistungssektor übereinstimmt, der die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig stärkt, den Bürgerinnen und Bürgern in breitem Maße zugute kommt und Arbeitsplätze für qualifizierte Leute im gesamten Kur- und Gesundheitsbereich schafft, die eben nicht in Spitzenjobs tätig sind. Warum ergreifen Sie da Maßnahmen, die massenhaft zu Kahlschlag in diesem Arbeitsplatzbereich führen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie bringen mich jetzt ein wenig vom Pfad dessen ab, was ich auch in Anknüpfung an die Rede von Herrn Schröder sagen wollte. Wir werden heute abend, nach Schluß der Plenardebatte, in einer Fraktionssitzung der CDU/CSU darüber reden - wir werden nicht entscheiden, weil es schwierige Fragen sind -, wie wir im Gesundheitssektor den hohen Stand an medizinischer Versorgung - wahrscheinlich sind wir weltweit führend - für die Bevölkerung erhalten können und wie wir die sich daraus ergebenden Arbeitsplätze in diesem Bereich, wo wir im Vergleich zu anderen Branchen in den letzten Jahren den höchsten Zuwachs haben, erhalten können, wie wir es aber auch bezahlbar halten. Es muß nämlich bezahlbar sein; sonst nützt das alles nichts. ({0}) Sonst fallen die Arbeitsplätze weg, ob es uns gefällt oder nicht. Die gute Absicht allein nützt nichts. Das Ergebnis ist entscheidend. Deswegen müssen wir das eine mit dem anderen verbinden. Deshalb ist für mich in der Tat auch in den Steuerdebatten die entscheidende Frage: Was können wir für die Chance auf mehr Arbeitsplätze tun? Gerhard Stoltenberg hat - ich finde, überzeugend; dem ist bislang auch nicht widersprochen worden - dargelegt, daß wir eine Entwicklung haben, bei der immer mehr Investitionen und Arbeitsplätze wegen ungünstiger steuerlicher Rahmenbedingungen aus Deutschland in das europäische Ausland abwandern bzw. nicht aus dem europäischen Ausland nach Deutschland kommen. Auch der Kollege Metzger hat in seiner Kurzintervention darauf hingewiesen, daß wir in einer Zeit globalisierter Märkte überall in der Welt investieren müssen, daß wir uns aber auch fragen müssen, warum der Rest der Welt nicht in einem vergleichbaren Maße in Deutschland investiert. Damit sind wir bei den Substanzsteuern auf investiertes Kapital. Die Vermögensteuer eignet sich natürlich für Neiddebatten und für Verteilungsdebatten. ({1}) Aber wenn wir etwas machen wollen, was unsere Probleme löst, dann dürfen wir investiertes Kapital in Deutschland nicht höher als in anderen europäischen Ländern besteuern. ({2}) Kommen Sie mir nicht mit der Ausrede privater Vermögensteuer. Sie haben keinen Vorschlag vorlegen können - weil es ihn nicht gibt -, nach dem man investiertes Kapital von der Vermögensteuer freistellt, die Vermögensteuer im übrigen aber beläßt. Sie haben den Vorschlag gemacht, Körperschaften und Kapitalgesellschaften von der Vermögensteuer freizustellen. Aber Sie haben keinen Vorschlag vorlegen können, Betriebsvermögen von der Vermögensteuer freizustellen, übriges Vermögen aber mit der Vermögensteuer zu erfassen. Das geht nämlich nicht. Bei den Ertragsteuern werden Sie übrigens dasselbe erfahren. Ich vermute, Sie wissen das; und ich vermute, daß die sozialdemokratischen Steuerpolitiker das ihrem Parteivorsitzenden gesagt haben. Wenn man akzeptiert - ich halte das für notwendig; es ist ein Dreh- und Angelpunkt aller Debatten zur Steuerreform -, daß wir bei den Körperschaftsteuersätzen und damit beim Einkommensteuersatz auf Einkünfte aus Gewerbebetrieben auf 35 Prozent herunter müssen, um unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsplätze international wettbewerbsfähig zu sein, dann kann man den Spitzensteuersatz bei anderen Einkunftsarten nicht bei 53 Prozent lassen. Das geht nicht; jeder weiß das. ({3}) Man sollte den Menschen auch nicht einreden, daß es unter Verteilungsgesichtspunkten falsch wäre, den Spitzensteuersatz zu senken. Das bringt dann nämlich wieder die Neiddebatte, die uns hindert, im Kampf für mehr Arbeitsplätze das Richtige zu tun. ({4}) Wir können eine größere Differenz zwischen dem Einkommensteuersatz auf Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb - dabei sagen auch Sie 35 Prozent; das ist richtig; das ist ja schon ein wichtiger Schritt - und dem auf Einkünfte aus anderen Einkunftsarten, als wir sie heute schon haben - wir haben zur Zeit eine Spreizung zwischen 53 Prozent und 47 Prozent -, nicht machen, ohne daß in der Praxis noch mehr Umgehungsmöglichkeiten der Besteuerung entstehen und befördert werden, weil die Menschen ihre anderen Einkunftsarten so umorganisieren, daß sie zu Einkünften aus Gewerbebetrieben werden. So, wie man seine Steuerpflicht legal ins Ausland verlegen kann - Herr Stoltenberg hat das dargelegt -, kann man sie genauso legal in Einkünfte aus den Gewerbebetrieben verlagern. Wer solche Umgehungmöglichkeiten im Steuerrecht schafft, der wird nicht mehr Arbeitsplätze - und im übrigen auch nicht mehr Gerechtigkeit - erzielen, sondern weniger. ({5}) Wir machen uns das alles nicht leicht. ({6}) - Nein, wirklich nicht. Es sind schwierige Debatten. - Wenn wir eine Steuerreform zustande bringen wollen, müssen wir die Kraft haben, den Menschen zu erklären, warum Veränderungen an dem, was bisher war, notwendig sind. Jede dieser Veränderungsdebatten ist schwierig. Sie haben ein Beispiel angesprochen: Bis heute sind Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit steuerfrei. Wenn wir abstrakt diskutieren, wird mir wahrscheinlich kein Sozialdemokrat ernsthaft widersprechen, daß es eigentlich keinen Sinn macht, Einkünfte, je nachdem zu welcher Tageszeit oder an welchem Wochentag sie erzielt worden sind, unterschiedlich zu besteuern. Steuerrecht muß gleiche Tatbestände steuerlich gleich behandeln. Das gilt übrigens auch für Kapitalerträge, also auch für die Zinsen auf Lebensversicherungen. Das kann im Prinzip nicht bestritten werden. Die Schwierigkeit ist die Umstellung von dem heutigen Zustand der Ungleichheit, auch der Ungerechtigkeit, der sachlichen Falschheit, in einen richtigen Zustand. Da muß man doch Übergangsregelungen suchen. Deswegen sagen wir, daß man bei den Kapitaleinkünften Wege finden muß. Darüber kann man reden, wie man die Umstellung sozialverträglich schafft. Tun Sie es aber doch nicht einfach so diffamierend. Herr Schröder, machen Sie doch eines nicht. Eine gleichmäßige Besteuerung - was unser Anliegen ist - beschreiben Sie mit den Worten: „Man darf die nicht bestrafen." Wenn wir eine gleichmäßige, also gerechte Besteuerung als „bestrafen" bezeichnen, werden wir unsere Bevölkerung nicht davon überzeugen können, was notwendig und richtig ist. ({7}) Lassen Sie uns darüber reden, wie wir das Ziel vernünftig erreichen. Lassen Sie uns darüber reden, was das richtige Ziel ist, und dann auch darüber diskutieren, wie man dieses Ziel erreichen kann. Dabei muß man vielleicht Schritte gehen. Auch die Sozialdemokraten sagen nicht nur Falsches. Ich habe schon öfters gesagt: Es hat doch nicht der eine nur recht und der andere nur unrecht. So ist es doch nicht verteilt. ({8}) - Herr Struck, bei Ihnen fällt meistens der Ton aus, wenn Sie zur Sache argumentieren müssen. Auch das habe ich erlebt. ({9}) Ich will Ihnen im Zusammenhang mit den Überstundenzuschlägen folgendes sagen. Sie argumentieren doch, daß es auf die Dauer nicht richtig sein kann, daß wir auf der einen Seite immer höhere Sozialversicherungsbeiträge haben und auf der anderen Seite ein immer größerer Teil von Beschäftigung bei den sogenannten geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen versicherungsfrei ist. Das Argument ist nicht so falsch, so wie mein Argument, was die Steuerfreiheit von Zuschlägen anbetrifft, nicht falsch sein kann. Die Umstellung wird allerdings dazu führen - das ist das Argument, warum wir sagen: Seid bei der Umstellung vorsichtig -, daß möglicherweise bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, mit einer pauschalen Lohnbesteuerung von 20 Prozent, versicherungsfrei, bei einer Änderung die Gefahr besteht, daß wir dabei kurzfristig weniger Arbeitsplätze und weniger Beschäftigungsverhältnisse am Ende herausbekommen, weil viele in die Schwarzarbeit abwandern. Das eigentliche Problem ist, auf einem hohen Stand von komplexen Regelungen und einem hohen Wohlfahrtsniveau die notwendigen Veränderungen durchzusetzen. Diese werden wir besser erreichen - da wir gemeinsam überzeugt sind, daß wir sie Schritt um Schritt erreichen müssen -, wenn wir nicht die eine oder andere Maßnahme so mit Neidparolen diffamieren, daß das Verständnis der Bevölkerung nicht mehr erreicht werden kann, was notwendig und nützlich ist. Deswegen plädiere ich für eine Versachlichung der Debatte. ({10}) Ich würde gerne auch einen anderen Punkt erwähnen. Das hat fast schon wieder mit der Debatte um angebots- oder nachfrageorientierte Politik zu tun. Ich glaube, wir könnten uns auf das verständigen, was Gerhard Stoltenberg heute so formuliert hat: Wir sollten den Grundsatz anerkennen, daß wir bei gloDr. Wolfgang Schäuble balisierten Märkten unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken müssen. Das ist das eigentliche Problem. Wenn wir diesen Grundsatz akzeptieren, dann hat das Konsequenzen für die Steuerpolitik, bei den Substanzsteuern wie bei den Ertrags- und Einkommensteuern, dann hat das Konsequenzen für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme und die Frage: „Wieviel können wir uns im Vergleich zu anderen leisten?" wie auch die Frage, wie wir innovationsfreundlicher und auch schneller in der Umsetzung werden können. Daß wir in Deutschland an einem Übermaß an Bürokratie in der Verwaltungswirklichkeit, von den Regelungen des Bundesgesetzgebers bis zur Anwendung durch die Kommunalverwaltungen, leiden, ist doch keine Frage. Aber bei jeder Verwaltungsvereinfachung wird uns doch von Ihrer Seite im Zweifel immer vorgehalten, wir würden damit bewährte Standards an Rechtsstaatlichkeit, Umweltschutz oder sonst irgend etwas zur Überprüfung stellen. Wir müssen bewährte Standards zur Überprüfung stellen, wenn wir die Zukunft nicht verschlafen wollen. ({11}) Ich jedenfalls glaube, daß, wenn der Grundsatz richtig ist, dann auch richtig ist, was Ihnen Helmut Schmidt vor kurzem bei der Zusammenkunft im Januar in Bonn auf die Nachfrage Ihres Parteivorsitzenden gesagt hat, ob man nicht die Beschäftigung durch sowohl öffentliche wie private Nachfrage stärken könnte. Bei öffentlicher Nachfrage nennt man das höhere Defizite. Dann heißt es auch wieder, Beschäftigung sei im Widerspruch zu dem Erreichen der Maastricht-Kriterien, was ich überhaupt nicht sehe. Ich glaube, daß Stabilität besser ist, um die Kosten zu begrenzen und damit unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Deswegen glaube ich, daß uns das Erfüllen der Maastricht-Kriterien auf dem Weg zu mehr Arbeitsplätzen hilft. Das ist kein Gegensatz, sondern das eine bedingt das andere. ({12}) Zumindest der SPD-Vorsitzende bringt ja dann in den Debatten das Argument, daß wir die private Massenkaufkraft stärken müssen und einen Mangel an privater Nachfrage haben. Er hat auch in der letzten Debatte, an der ich nicht teilnehmen konnte, gesagt: Wenn wir die private Nachfrage stärkten, würden wir unser Beschäftigungsproblem lösen. Die Antwort von Helmut Schmidt in der Veranstaltung im Bonner Universitätsclub - oder wo es gewesen war -, die ich für zutreffend halte, war, ({13}) - ich weiß nicht, Herr Kollege, ob Ihr Lachen der Ernsthaftigkeit des Problems und auch meines Bemühens angemessen ist -, daß die Rezepte von John Maynard Keynes für eine geschlossene Volkswirtschaft richtig gewesen sein mögen, in einer Zeit globalisierter Märkte aber nicht mehr funktionieren. ({14}) Wir können hier noch so viel Nachfrage durch noch mehr öffentliche Schulden oder sonst wie stimulieren; wer aber die Nachfrage erfüllt und bei wem dann die Arbeitsplätze entstehen, das entscheidet sich auf globalisierten Märkten. Wenn wir unsere Kosten erhöhen, dann werden wir nicht mehr Arbeitsplätze bekommen. Das schaffen Sie vielleicht in Korea - was für Korea erfreulich ist -, aber es löst unser Arbeitsplatzproblem nicht. ({15}) - Ja, das ist die Frage, ob man auf Grund von Veränderungen in den Gegebenheiten auch bereit ist, alte Rezepte aufzugeben und zu sagen: Wir müssen Antworten auf Probleme geben, wie sie sich Ende der 90er Jahre stellen, weil sonst die Rezepte nicht taugen. ({16}) Dann bleibe ich dabei, daß wir doch ein erhebliches Kostenproblem haben. ({17}) - Und auch ein Verteilungsproblem, aber zuerst ein Kostenproblem. Genau zu dem Punkt wollte ich kommen, Herr Kollege Fischer. Ich rede dauernd von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({18}) - Herr Kollege Scharping, das hilft doch nichts. Lassen Sie uns Punkt für Punkt darüber reden. Sie haben ja hier die Steuerdebatte eingeführt. Ich antworte auf das, was Herr Ministerpräsident Schröder gesagt hat. Darin liegt der eigentliche Sinn einer Debatte, anstatt vorbereitete Manuskripte unabhängig davon vorzulesen, was der Vorredner gerade gesagt hat. ({19}) Ich würde gerne zu der eben hier angesprochenen Frage der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme eine Bemerkung machen. Sie wissen, daß es da Diskussionen in der Union und in der Koalition gibt. Warum auch nicht? Große Parteien müssen untereinander und auch alle Parteien miteinander diskutieren. Es gibt keine einfachen Patentrezepte. Wir haben in der Koalition ein breites Maß an Übereinstimmung. Meine Position ist es seit langem, daß wir in der Frage, wieviel wir von unseren sozialen Sicherungssystemen durch Beiträge, also orientiert an den Arbeitskosten für eine Stunde, und wieviel wir durch Steuern finanzieren, zu Korrekturen bereit sein müssen. Das sage ich seit langem und halte diese Position für richtig. Ich meine nur, Herr Ministerpräsident Schröder, daß wir einen Fehler vermeiden sollten. Gerade aus Ihrem Lager höre ich häufig Äußerungen, bei denen die Gefahr besteht, so einen Fehler zu machen, nämDr. Wolfgang Schäuble lich Umfinanzierungen anstatt Einsparungen vornehmen zu wollen. Wir brauchen beides, wir brauchen aber zuerst Einsparungen. ({20}) Ich habe schon so oft hier in den Debatten gesagt: Laßt uns erst über Umfinanzierung reden, wenn wir zunächst über Einsparungen einig sind. Erst müssen Einsparungen sein. Das sind die notwendigen Arbeiten. ({21}) Daran kommen wir in der Gesundheitsreform nicht vorbei, daran arbeiten wir bei der Weiterentwicklung der Rentenversicherung. Das eine ist keine Alternative für das andere, sondern das eine und das andere sind notwendig. Dann können wir uns auch verständigen. Wer nur umfinanziert, senkt die Staatsquote nicht, doch sie muß gesenkt werden. ({22}) Deswegen ist das eine kein Dogma und auch das andere nicht. Danach kann man natürlich über Mehrwertsteuer und andere spezifische Verbrauchsteuern streiten. Ich halte übrigens das Vorgehen, was die Koalition vor Weihnachten beschlossen hat, für die intelligenteste Form ({23}) - Entschuldigung, ich sage es ja -, daß wir uns in der Europäischen Union dafür einsetzen, daß wir einen eigenen, natürlich höheren Mehrwertsteuersatz auf den Energieverbrauch einführen können. ({24}) Damit können wir Energie besteuern. Die Nachteile, die Sie bei einer Mineralölsteuererhöhung befürchten - Schädigung des Produktionsstandorts Deutschland in seiner Wettbewerbsfähigkeit - treten bei einer Mehrwertsteuererhöhung nicht auf. Sie belastet nicht die Industrie und verschlechtert nicht die Wettbewerbsfähigkeit, sondern sie verbessert die Chancen. Ich finde es hocherfreulich, daß das Mitglied der Kommission der Europäischen Union in einem Interview in diesen Tagen gesagt hat, er sehe durchaus eine Chance, daß wir die notwendige Genehmigung für einen eigenen Mehrwertsteuersatz in der Europäischen Union bekommen. Sie sehen, wir liegen nicht so weit auseinander, daß wir nicht zu einer gemeinsamen Politik kommen können, die erfolgreich Arbeitsplätze schafft. ({25}) Weil wir gerade bei dem Thema Kosten der Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit sind, möchte ich noch einmal unterstreichen - man kann ja manche Dinge nicht oft genug wiederholen -, was Gerhard Stoltenberg gesagt hat. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir in dem Streit zwischen Mehrheit und Minderheit oder zwischen den politischen Parteien so tun, als wäre in erster Linie die Politik für Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung zuständig. In erster Linie liegt dies in der Verantwortung der Tarifpartner. ({26}) Wer die Tarifpartner von dieser Verantwortung entbindet, der sorgt dafür, daß das Problem nicht gelöst werden kann. ({27}) Das ist nicht eine Schuldzuweisung. Wir müssen unsere Aufgaben erfüllen und gleichzeitig sagen, was nur die Tarifpartner tun können. Von seiten der Gewerkschaften - auch der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat es öffentlich gesagt; das ist auch für Gewerkschaftsvertreter ein beachtlicher Schritt - wird verstärkt die Überlegung vorgetragen, ob es bei dieser hohen Arbeitslosigkeit nicht klüger wäre, wenn das Einkommen der Beschäftigten gesenkt wird. Das steckt hinter der Debatte: Abbau von Überstunden und mehr Teilzeitarbeit. Das heißt doch wohl, das Bruttoeinkommen von Beschäftigten nach eigener Entscheidung abzusenken und dadurch zu erhoffen, daß mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich würde nur gerne die Frage daran anknüpfen, ob unser Problem hinsichtlich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirklich darin liegt, daß wir einen Mangel an Arbeit haben, oder ob unser Problem in Wahrheit nicht darin liegt, daß wir einen Mangel an Nachfrage nach Arbeit zu den Preisen haben, die die Arbeit pro Einheit - das ist die Arbeitsstunde - kostet. ({28}) Wenn dieses richtig ist, dann sollte man einmal unvoreingenommen darüber reden, ob es nicht günstiger wäre - wenn wir schon zu Veränderungen in den Einkommen kommen -, die Einkommen nicht durch Verringerung der geleisteten Arbeitszeit zu senken, sondern die Arbeitszeit konstant zu lassen und statt dessen den Preis pro Arbeitsstunde zu verringern. Dadurch werden wir wettbewerbsfähiger und bekommen mehr Arbeitsplätze. Das scheint mir der intelligentere Weg. Vielleicht kann man darüber auch einmal mit der Opposition, mit den Gewerkschaften und den Tarifpartnern diskutieren. ({29}) - Ja; natürlich. Bei jeder Kalkulation wird verglichen, was kostet die Arbeitsstunde da und was kostet die Arbeitsstunde dort. Je nach Antwort werden Investitionsentscheidungen getroffen und bestimmen dadurch, wo Arbeitsplätze entstehen oder wegfallen. Das ist genauso wie bei den Substanzsteuern. Diesem Mechanismus kann man nicht entgehen. Wer die Debatte darüber verweigert oder wer die Debatten öffentlich so führt, daß man nicht sachgerecht und zielorientiert um den richtigen Weg ringen kann, ({30}) der trägt am Ende die Verantwortung, daß unser Land nicht hinreichend fähig ist, die Veränderungen schnell genug zu erreichen, die notwendig sind, damit wir auch in Zukunft Vollbeschäftigung, wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit haben. ({31}) Wir sollten dieser Gefahr widerstehen. Wir wollen über die Steuerreform in der nächsten Woche Gespräche führen. Diese Steuerreform, Herr Ministerpräsident Schröder, kann man nicht aufkommensneutral durchführen. Das Prinzip niedrigerer Sätze beim Eingangssteuersatz - Sie haben ja den Eingangssteuersatz im Prinzip akzeptiert; ich halte 15 Prozent mit einer unteren Proportionalzone nach wie vor für besser; es gab auch aus Ihren Reihen viel Zustimmung - und beim Spitzensteuersatz von 35 bzw. 39 Prozent, über den wir diskutieren, halte ich für notwendig. Aus der Tarifabsenkung ergeben sich zusammen mit der Abschaffung der Körperschaftsteuer steuerliche Mindereinnahmen in einer Größenordnung von über 70 Milliarden. Sie können natürlich sagen: Die Steuerreform muß aufkommensneutral sein. Ich sage Ihnen: Das werden Sie nicht schaffen. Sie sagen, daß es keine Erhöhung von Verbrauchsteuern zur Finanzierung der Tarifsenkungen geben solle. Das werden Sie übrigens auch nicht schaffen; ich sage es Ihnen gleich vorweg. Aber Sie wollen noch nicht einmal Einsparungen. Sie haben von einer Deckungslücke von 44 Milliarden DM geredet. Wir sagen: 30 Milliarden DM netto müssen die Steuern 1999 gesenkt werden. Wir meinen, daß das auch zu schaffen ist. ({32}) Darüber müssen wir uns verständigen. ({33}) - Ich habe das gerade gesagt. Ich habe gerade gesagt: Ich glaube nicht, daß wir ohne eine Umschichtung zu den indirekten Steuern in dieser Größenordnung auskommen. Das haben wir immer gesagt; das ist gar keine Frage. ({34}) Jetzt will ich Ihnen sagen, warum ich eine Nettoentlastung für zwingend notwendig halte. Erstens ist die Steuerbelastung insgesamt zu hoch, und Umschichtung senkt nicht die Steuerbelastung, sondern verteilt sie gerechter. ({35}) Zweitens werden die Verteilungsdebatten nicht lösbar werden, weil bei einer aufkommensneutralen Steuerreform zwar das Prinzip „Niedrigere Sätze bei breiterer Bemessungsgrundlage" gut funktioniert, aber der eine das mehr zahlen muß, was der andere weniger zahlt. Da wünsche ich viel Vergnügen. Das ist bei der Art, wie in Deutschland Besitzstände verteidigt werden, unter gar keinen Umständen zu schaffen. Wir brauchen eine Nettoentlastung. Ich denke, 30 Milliarden DM bis 1999 sind angesichts verbesserter Wachstumsaussichten auch möglich. Denn wir haben eine sehr viel bessere Aussicht für die wirtschaftliche Entwicklung. Man muß in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht ja auch einmal sagen: Bis Mitte 1995 hatte die Bundesrepublik Deutschland mit der Erfüllung der Maastricht-Kriterien keinerlei Probleme. In 1995 haben wir zwei Probleme gehabt: erstens zu hohe Tarifabschlüsse und zweitens einen nicht vorhergesehenen Verfall des Dollar-Kurses auf einen Wert von 1,35 DM. ({36}) - Ja, aber das war vorhergesehen und geplant. Daß die konjunkturelle Entwicklung ab Mitte des Jahres 1995, von niemandem vorhergesehen, so eingebrochen ist, hat diese beiden entscheidenden wirtschaftlichen Ursachen. Beide Faktoren sind inzwischen wesentlich verbessert. Wir haben sehr viel vernünftigere Tarifverträge ({37}) - ja, Kollege Solms hat das dargelegt -, auch als Reaktion auf umstrittene Entscheidungen des Gesetzgebers. Wir haben ferner einen Dollar-Kurs, einen Außenkurs der D-Mark, der den realen Wert- und Austauschverhältnissen sehr viel angemessener ist als ein Dollar-Kurs von 1,35 DM. Deswegen haben wir bei niedriger Inflation, bei hoher Preisstabilität und niedrigen Zinsen gute Aussichten für eine Verstärkung des wirtschaftlichen Wachstums. ({38}) Wenn wir dieses Wachstum nutzen wollen, um unsere Probleme besser zu lösen, dann können wir die Steuern für 1999 um 30 Milliarden DM netto senken. Das ist unser Vorschlag. ({39}) Jetzt muß ich Ihnen sagen: Ihre Position ist bis jetzt nicht in sich schlüssig. Denn Sie sagen, eigentlich wollten Sie bei den oberen Steuersätzen ein bißchen weniger, bei den unteren, das sei schon gut. Bei den mittleren Einkommen kritisieren Sie, daß wir zuwenig Entlastung hätten, also wollen Sie noch größere Steuersenkungen. Gleichzeitig sagen Sie: Keine Umschichtung auf indirekte Steuern, keine Nettoentlastung. Außerdem kritisieren Sie einen Großteil unserer Vorschläge zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Dazu sage ich Ihnen: Wenn zwei plus zwei 27 ist - das habe ich kürzlich einem Kollegen aus meiner Partei aus Ihrem Bundesland gesagt -, dann kann ich eine prima Reform machen. Bei mir ist zwei plus zwei vier. Ich weiß, daß von diesem Satz nicht sehr viel Faszination ausgeht. Aber stimmig wird eine Politik nur, wenn sie die Grundrechenarten einhält. Anders geht es nicht. ({40}) Meine Damen und Herren, eines scheint mir sicher: Wir haben gar nicht soviel Grund zu Pessimismus. ({41}) - Überhaupt nicht. - Wir haben gute gesamtwirtschaftliche Rahmendaten. Wir haben eine schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt. Davon spreche ich. Wenn es gelingt, die Europäische Währungsunion auf der Basis stabiler Kriterien zu vollenden, eine stabile europäische Währung zu schaffen und damit die innovatorischen Kräfte durch die Europäische Einigung zu verstärken, ist die Bereitschaft unserer Bevölkerung, Veränderungen zu akzeptieren, um soziale Sicherheit auch für die Zukunft festzumachen, größer als das Gerede der Vertreter organisierter Interessen gelegentlich vermuten läßt. ({42}) Wenn wir diese guten Rahmenbedingungen in einer Phase von jedenfalls mittleren konjunkturell positiven Erwartungen nutzen, um unsere Strukturprobleme Schritt um Schritt zu lösen, und wenn wir uns darauf verständigen, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Vorrang hat, dann bin ich ganz sicher, daß wir miteinander eine gute Chance haben, unserem Ziel, der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000, noch in diesem Jahr ein gehöriges Stück näherzukommen. Dazu, meine Damen und Herren, möchte ich uns alle einladen. Herzlichen Dank. ({43}) ({44})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Christa Nickels das Wort.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schäuble, es tut mir leid, daß ich diese Kurzintervention machen muß. Sie hat damit zu tun, daß hier sehr viele über den Sinn oder den Unsinn der Besteuerung von Zuschlägen für Nacht- oder Feiertagsarbeit sprechen, ohne jemals über Jahre hinweg Schichtarbeiterin oder Schichtarbeiter gewesen zu sein. Wenn es mehr von solchen Kolleginnen und Kollegen gäbe, würde in diesem Parlament nicht in einer solch sophistischen und verdreherischen Art und Weise darüber gesprochen werden können, und dann könnte man es sich auch nicht leisten, solche Vorschläge zu machen. Herr Schäuble, Sie haben gesagt, es könne doch wohl nicht sein, daß gleiche Arbeit auf Dauer steuerlich unterschiedlich bewertet werde. Es gehe darum, indem man diese steuerliche Befreiung endlich abschaffe, eine Gleichheit gegenüber der gleichen Arbeit zu anderen Arbeitszeiten zu schaffen. Jeder Mensch, der Schichtarbeit leistet - das sind in Deutschland Millionen -, und alle Menschen, die mit diesen verwandt oder bekannt sind, wissen, daß diese steuerliche Privilegierung nicht damit zu tun hat, daß man etwas Gleiches unterschiedlich bewerten will, sondern daß Schichtarbeit extreme Nachteile und gesundheitliche sowie familiäre Beeinträchtigungen für diejenigen, die diese Arbeit tun, zur Folge hat. Schichtarbeit macht krank und isoliert ein Stück weit von der Gesellschaft. Schichtarbeiter haben nicht mehr in dem Maße wie andere die Möglichkeit, an Veranstaltungen teilzunehmen oder sich zum Beispiel an der Politik zu beteiligen. Schichtarbeit über Jahre hinweg bedeutet für diese Menschen, daß sie gesundheitlich wirklich sehr stark beeinträchtigt werden. Die steuerliche Befreiung der Zuschläge für diese Arbeit ist ein Ausgleich dafür. Wenn Sie jetzt sagen, das könne nicht sein, da sich steuerrechtlich eine ungleiche Systematik ergebe, dann möchte ich Ihnen darauf klipp und klar antworten: Wenn Sie das von der Systematik her ändern wollen, dann schaffen Sie andere Regularien, mit denen Sie diese Nachteile gerecht ausgleichen - dies aber bitte vorher. Sie können das nicht einseitig den Tarifpartnern zuschieben, ohne in diesem Bereich im Rahmen einer Reform des Arbeitsvertrags- und des Betriebsverfassungsrechts mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Gestaltung der Arbeitszeit zu schaffen. Das werden Sie den Menschen nicht klarmachen können. Sie sagten, daß es wichtig sei, wenn man jetzt sparen oder Härten durchsetzen müsse, dies den Leuten richtig zu erklären. Die Begründung, die Sie für die Streichung dieser steuerlichen Befreiung geliefert haben, nimmt Ihnen niemand ab, weil sie zum einen falsch ist. Wenn Sie darauf beharren, erreichen Sie zum zweiten, daß die Menschen unheimlich zornig sowie politikverdrossen werden und daß sie eine wahnsinnige Angst bekommen. Das ist der Nährboden für eine andere Art von Politik, die keiner hier in diesem Hause will. Ich will hoffen, daß Sie mit solch einer Begründung, die völlig daneben ist, endlich aufhören und entweder eine vernünftige, systematisch anders gelagerte Ausgleichsmöglichkeit schaffen oder es so lassen, wie es ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schäuble, bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Nickels, ich wollte Sie nicht in eine solche Erregung versetzen. Deswegen darf ich vielleicht zu Ihrer Beruhigung sagen: Wenn die Vorschläge zur Steuerreform, die wir unter dem Vorsitz von Finanzminister Waigel erarbeitet haben, verwirklicht werden, dann wird das Nettoeinkommen einer Krankenschwester oder eines Krankenpflegers, die regelmäßig Schichtdienst, also Nachtdienst und Wochenenddienst, leisten und dafür bisher steuerfreie Zuschläge erhielDr. Wolfgang Schäuble ten, insgesamt höher sein als ohne die Verwirklichung dieser Vorschläge ({0}) - auch ich lasse jeden ausreden und würde gerne, wenn ich der Kollegin Nickels antworte, drei Sätze sagen können -, weil der steuerliche Vorteil durch die Senkung der Steuersätze größer sein wird als der Nachteil durch den Wegfall der Steuerfreiheit der Zuschläge. Das ist die erste Antwort. Die zweite Antwort, Frau Kollegin Nickels: Die Frage der angemessenen Bezahlung für Arbeit von unterschiedlicher Belastung muß eigentlich eine Aufgabe der Tarifpartner und nicht eine Aufgabe des Steuergesetzgebers sein. ({1}) Deswegen sind wir bei diesem Punkt wieder genau an der Stelle, an der ich vorhin versucht habe, Ihr Verständnis zu gewinnen: Wir sollten uns als Gesetzgeber nicht zumuten, Probleme und Sachverhalte zu regeln, die nach der Regelung unseres Grundgesetzes in der autonomen Zuständigkeit der Tarifpartner liegen. Sie müssen das regeln, und der Steuergesetzgeber muß gleiche Tatbestände gleich behandeln. Das scheint mir der bessere Weg. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Margareta Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Schäuble, Sie haben gerade gesagt, daß wir die Steuerreform unter der Prämisse „Soziale Gerechtigkeit" und unter der Prämisse „mehr Beschäftigung" diskutieren sollten. In der Tat, es gibt einen unheimlichen Reformdruck und auch Erfolgsdruck auf diese Steuerreform. Nur, wenn ich mir die Presse der letzten Tage anschaue und mir das anhöre, was Sie gerade gesagt haben, dann glaube ich, daß das draußen nicht so ankommt. Sie sagen, wir bräuchten eine Entlastung von 30 Milliarden DM. Gleichzeitig wurde heute schon mehrmals festgestellt, daß wir eine Deckungslücke von 44 Milliarden DM haben. Dann haben Sie eine Gegenfinanzierung über eine Mehrwertsteuererhöhung angekündigt. Wer bezahlt die? Da droht doch ein Verschiebebahnhof aufgemacht zu werden. Gestern konnte die interessierte Bevölkerung im „Handelsblatt" vor dem Hintergrund der dramatischen Waigelschen Haushaltszahlen lesen: „Wir brauchen ein neues Sparpaket." Wie soll die Bevölkerung dies überhaupt als Reformkonzept begreifen? Nein, im Gegenteil: Ihr wird etwas gegeben und auf der anderen Seite überproportional wieder genommen. Es wird keine große Reform werden, und das ist ausgesprochen schade. ({0}) Zweiter Aspekt: die Unternehmensteuerreform. Sie haben selber gerade gesagt, Sie seien für die Gleichbehandlung aller Einkommensarten. Aber was haben wir denn heute in der Zeitung gelesen? Wir haben dort heute von einer Spreizung zwischen gewerblichen und privaten Einkommen gelesen. Sie alle werden verfolgt haben, daß in der letzten Zeit die meisten Ausbildungsplätze gerade im Bereich der freien Berufe geschaffen worden sind. Die fallen dann nicht unter diese Spreizung. Das heißt, Sie führen auch im Unternehmenslager eine Ungleichbehandlung herbei, und daraus folgen mit Sicherheit die entsprechenden Neiddiskussionen. Das finde ich weder für die Ökonomie in diesem Lande noch für den Standort besonders gut. Der Kollege Uldall, mein Kollege von der CDU, hat gestern im Ausschuß drei wichtige Feststellungen getroffen. Er hat gesagt, die erste Hauptschwachstelle der Wirtschaftspolitik in diesem Lande sei, daß es kein Vertrauen mehr in die Politik gebe. ({1}) Der zweite Schwachpunkt sei, daß es einen enormen Reformstau gebe, und der dritte Schwachpunkt sei, daß Energiepolitik heute nicht als Arbeitsmarktpolitik ersten Ranges betrachtet werde. Der Kollege hat recht. Aber aus diesen Feststellungen des Kollegen folgen im Jahreswirtschaftsbericht leider nicht die richtigen Antworten. Seit 15 Jahren begreifen Sie die Krise ausschließlich als Kostenkrise. Dadurch sind Strukturprobleme erheblicher Art aufgelaufen. Dadurch haben Sie für meine Begriffe den Reformstau erst recht produziert. Außerdem haben Sie historisch zwei schwerwiegende Fehler gemacht, die Ihnen heute in all ihren Folgen auf die Füße fallen. Der erste Punkt ist die deutsche Einheit. Sie haben die deutsche Einheit nicht für Innovationen genutzt. Der zweite Punkt ist die Aufgabe des Bündnisses für Arbeit am 23. April letzten Jahres. ({2}) Sie sollten daraus lernen. Sie sollten aus Ihrem Indie-Knie-Gehen vor den Verbandsvertretern von BDI und BDA lernen. Sie müßten aus der Debatte um die Lohnfortzahlung gelernt haben, daß diese Damen und Herren offensichtlich nicht die Hauptinteressen der aktiven Unternehmer in diesem Lande vertreten, denn sonst wäre die Debatte völlig anders ausgegangen. Wir kommen im Moment alle viel durchs Land, viel durch Hessen. Dabei wird man - das macht mich wirklich ratlos, und es erfüllt mich auch mit Sorge - mit einer unglaublichen Wut der Leute, mit Ohnmacht und vor allen Dingen mit einer wahnsinnigen Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und vor Abstieg konfrontiert. Ich möchte mich der These von Dahrendorf anschließen, der sagt: Nicht die Armut gefährdet unsere Demokratie, sondern die Angst vor der Armut. Diese Angst ist auch keine produktive Kraft. Sie führt eher dazu, daß sich die Leute zurückziehen, daß eine Margareta Wolf ({3}) Mentalität der Besitzstandswahrung um sich greift: Man will um jeden Preis das halten, was man hat. In der Mitte der Gesellschaft - Herr Schäuble hat vorhin von den Mittelschichten gesprochen -, also bei denjenigen, die den Sozialstaat heute noch ideell und finanziell tragen, macht sich genau diese Stimmung stark breit. Man fühlt sich zunehmend als Verlierer der Globalisierung, man hat Angst vor wirtschaftlicher und privater Unsicherheit. Ich finde das hochgefährlich. Mit Ihrer Steuerreform wirken Sie dem auch nicht entgegen. ({4}) Wir haben trotz Ihrer Sparpakete - das muß man doch einmal kritisch reflektieren - in der letzten Zeit einen rasanten, im europäischen Vergleich unglaublichen Rückgang der Investitionen zu verzeichnen; wir haben die höchste Arbeitslosenquote seit 1933, und es gibt eine Zunahme bei den Unternehmensgewinnen. Das ist einfach so. Gleichzeitig gab es von 1991 bis 1996 bei der von mir erwähnten Mittelschicht eine Zunahme der Nettobelastung um 9 Prozent. Das sind die gestaltenden Kräfte unserer Gesellschaft; sie fühlen sich - wie ich finde, zu Recht - im Regen stehen gelassen. Wir brauchen den Strukturwandel jetzt. Es muß Schluß sein mit Ihrer Krisenverwaltung; es muß Schluß sein mit einer rein additiven, scheibchenweise operierenden Politik; es muß Schluß sein mit der Mutlosigkeit, und es muß Schluß sein mit der parteipolitischen Betrachtung dieser Krise. Wir brauchen ein Modell, wie es die Niederlande vorgemacht haben. Herr Waigel, damit meine ich nicht nur Bundesrat und Bundestag. Wir müssen alle gesellschaftlichen Kräfte in diesem Land an einen Tisch bekommen, die Verbände, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Erlauben Sie mir eine kritische Bemerkung. Ich halte es in bezug auf die Handlungsfähigkeit des Verbändestaates für nicht dienlich, daß Herr Göhner, Angehöriger der CDU/CSU-Fraktion, jetzt beim BDA ist, daß Frau Yzer bei der Pharmaindustrie ist, daß Herr Philipp, der CDU-Bürgermeister aus Aachen, jetzt beim ZDH ist. Das führt nicht zu einem Schub zu mehr kreativem Diskurs in diesem Lande; ({5}) das führt eher dazu, daß der Verbändestaat und alle die Potentiale, die er in der Vergangenheit hatte, sukzessive für parteipolitische Interessen genutzt werden. Das kann nicht die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft sein. Sie müssen endlich erkennen, daß Ihre einseitige Kostenstrategie dazu führt, daß Managementprobleme, die es in den Unternehmen tatsächlich gibt, überdeckt werden und daß sich die Unternehmer bei ihrem Verharren in alten Strukturen bestätigt fühlen. Ich glaube, daß Sie eben den Unternehmern keine Anreize bieten, den wettbewerbspolitisch dringend notwendigen Innovationsschub und den Strukturwandel auszulösen. Wir meinen, daß es keine einfache Lösung gibt. Aber wir brauchen endlich Rahmenbedingungen für die konkrete Erschließung neuer Beschäftigungsfelder. Sie bestehen - das wurde heute schon gesagt; leider fehlen die Rahmenbedingungen - im Dienstleistungssektor, der in sämtlichen Statistiken, die Sie haben, immer noch unter „sonstige Beschäftigungsmöglichkeiten" ausgewiesen wird. Das zeigt, wie ernst Sie das nehmen. Neue Beschäftigungsfelder ergeben sich bei umweltfreundlichen Mobilitätsdienstleistungen, bei Management, Organisation, Berufsausbildung, im gesamten Energiesektor - wie Herr Uldall richtig gesagt hat -, aber auch im gesamten Verkehrsbereich. Wir brauchen einen neuen demokratischen Konsens aller Akteure in diesem Land; wir brauchen eine Reform der öffentlichen Verwaltung; wir brauchen - das habe ich vorhin in der Kurzintervention versucht zu sagen - eine Reform bei Bildung und Ausbildung, bei Forschung und Entwicklung. Wenn wir zukunftsfähig sein wollen, dürfen wir nicht zurückbauen; wir müssen konzertiert nach vorn bauen. Wir brauchen eine Teilzeitoffensive und Überstundenabbau. Das hat Herr Zwickel vor einem Jahr gesagt; der Kanzler sagt es jetzt. Leider geschieht gar nichts. ({6}) Ferner brauchen wir eine Qualifikationsoffensive. Wir müssen unsere Politik endlich den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen. Wenn wir das jetzt nicht tun, dann, vermute ich, werden wir noch weiter zurückgeschlagen. Ich sage: Alle gesellschaftlichen Kräfte sollten sich jetzt zusammensetzen, nicht nur SPD und CDU. Es ist doch aufgefallen, daß Kollege Schäuble den Kollegen Schröder - er ist leider nicht mehr da - vorhin in Sachen Ökologie links überholt hat. Er hat gesagt, man möge innerhalb Europas prüfen, ob eine Mehrwertsteuererhebung auf Energie tatsächlich möglich ist. Wünschenswert wäre sie als ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Sie wollen die Mehrwertsteuern erhöhen; nichts anderes haben Sie gesagt. Von Ökosteuern haben Sie gar nicht geredet. Das wird noch eine muntere Gemengelage. Ich hoffe, daß die Investitionsrahmenbedingungen für den Standort Deutschland endlich kalkulierbar und fest werden und daß das Chaos, das wir innerhalb der Regierung haben - und, mit Verlaub, auch innerhalb der SPD-Fraktion -, endlich ein Ende nimmt. Danke schön. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Friedhoff.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat mit ihrem Jahreswirtschaftsbericht 1997 zwei Aussagen deutlicher als in früheren Jahren in den Vordergrund gestellt. Die F.D.P.-Fraktion unterstützt diese Akzentuierung uneingeschränkt. Erstens. Ohne grundlegende Reformen der Wirtschafts- und Sozialverfassung in Deutschland werden wir den Weg zu mehr Beschäftigung nicht gehen können. Mit kosmetischen Korrekturen ist es nicht mehr getan. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ist den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen. Zweitens. Deshalb kann es keinen Zweifel an der gebotenen Strategie für mehr Beschäftigung geben. Sie lautet, durch Stärkung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und damit eine wirtschaftliche Dynamik freizusetzen. Wir müssen die Herausforderungen der globalisierten Märkte annehmen, statt uns an den verkrusteten Status quo zu klammern. Dies ist unsere Aufgabe. ({0}) Wir sind mit 4,6 Millionen Arbeitslosen inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem immer deutlicher wird, daß wir uns in einem Wettlauf mit der Zeit befinden. Die Konkurrenten um Arbeitsplatzstandorte bauen Subventionen ab, senken die Steuern und deregulieren die Arbeitsmärkte. In Deutschland haben wir noch immer das Kartell der Besitzstandswahrer ({1}) - diese haben die Meinungsführerschaft -, der Populisten und der Zauderer. Es ist leicht, sich in Menschenketten einzureihen und von Solidarität zu reden. Anstatt den Bergleuten an der Ruhr Mut zu machen, neue Chancen zu ergreifen, ({2}) werden ihnen trügerische Versprechungen gemacht. Wer wie SPD und Grüne verbohrt auf aussterbende Arbeitsplätze setzt, der handelt verantwortungslos. Im vergangenen Jahr ist jeder Arbeitsplatz im Steinkohlebergbau - man kann das nicht oft genug sagen - mit 136 000 DM subventioniert worden. Dieses Geld fällt nicht vom Himmel. Es gehört auch nicht dem Staat, der es beliebig verteilen könnte. Dieses Geld muß erwirtschaftet werden: von den Bürgern dieses Landes, von den Handwerkern, von kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Betriebe könnten damit durchaus Arbeitsplätze schaffen. Statt dessen werden die Arbeitskosten immer weiter in die Höhe getrieben. Für eine Arbeitsstunde muß man in Westdeutschland derzeit 45 DM bezahlen. Das sind die höchsten Kosten aller Industrieländer. Arbeit in Deutschland ist mehr als doppelt so teuer wie in Großbritannien. Und dann fragen wir uns hier ernsthaft, weshalb die Arbeitsplätze woanders entstehen! Gebetsmühlenartige Appelle an die Verantwortung der Unternehmer helfen auch nicht weiter. Wenn unsere Betriebe nicht dort investieren, wo es sich rechnet, können sie am Markt nicht mehr bestehen, weil ihre Produkte zu teuer sind. Die Frage, ob die Arbeitskosten zu hoch sind, wird nicht an runden Tischen beantwortet. Diese Meinung zu vertreten, was die Sozialdemokraten auch heute wieder getan haben, ist ein gravierender Fehler. Die Frage wird vielmehr vom Wettbewerb beantwortet. Waren und Dienstleistungen werden dort gekauft, wo sie am günstigsten zu haben sind. Jede Hausfrau verhält sich so. Nur die Opposition mit ihrer Mehrheit im Bundesrat will den Bürgern etwas anderes vormachen. ({3}) Der Bundeskanzler hat an die Gewerkschaften appelliert, auf Lohnzuwächse zu verzichten, um Arbeitslosen wieder eine Chance zu geben. Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft schätzt, daß mit einer realen Nullrunde beim Lohn innerhalb eines Jahres etwa 300 000 neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Der ökonomische Zusammenhang ist eindeutig: Zusätzliche Arbeitsplätze entstehen nur dann, wenn die Steigerung der Arbeitskosten unter dem Produktivitätszuwachs bleibt. Was aber passierte nach dem Aufruf des Bundeskanzlers? Eine unheilvolle Koalition aus SPD, Grünen, PDS und leider auch dem DGB reagiert auf diesen ökonomisch sinnvollen Vorschlag mit dümmlichen Klassenkampfparolen. Seit 1960 haben Löhne und Gehälter in Westdeutschland dreimal so stark zugenommen wie die Produktivität. Dennoch erzählen Sie den Menschen etwas vom Sozialabbau. Wenn die Arbeitsplatzbesitzer zugunsten der Arbeitslosen ein paar Jahre auf Lohnzuwächse verzichten müßten, reden Sie vom Sozialabbau. ({4}) Genau das aber wäre praktizierte Solidarität. Das wäre ein echtes solidarisches Verhalten. Wir müssen den Menschen in diesem Land immer wieder sagen: Hüten Sie sich vor den falschen Freunden, die von Sozialabbau reden, aber nur ihr eigenes Süppchen kochen wollen. ({5}) Ob eine Politik sozial ist oder nicht, bemißt sich allein daran, ob wir in der globalen Standortkonkurrenz um Arbeitsplätze bestehen können.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiermann?

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Friedhoff, ist Ihnen entgangen, daß die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen in den letzten Jahren um 28,9 Prozent gestiegen sind, während die Nettolöhne und -gehälter im gleichen Zeitraum um 0,2 Prozent gesunken sind? Ist Ihnen klar, daß die Anlageinvestitionen im Grunde genommen nur ein Viertel des höheren Gewinns ausgemacht haben, daß also Ihre Theorie, möglichst Geld freizubekommen, in diesem Zusammenhang nicht stimmt? ({0})

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist Ihre Schlußfolgerung. ({0}) Ich will Ihnen zunächst einmal darauf antworten: Wir haben in Deutschland eine sehr gespaltene Situation. Es gibt in bestimmten Bereichen, bei Waren, Überschüsse in ungeahnter Höhe. Das zeigt, daß wir in Deutschland an den Stellen außerordentlich wettbewerbsfähig sind. Aber immer dann, wenn Arbeitskosten mit ins Spiel kommen, haben wir genau das Gegenteil; dann haben wir nämlich ein Defizit in diesem Lande. Um dessen Abbau müssen wir uns bemühen, und darauf zielen - wenn Sie genau zuhören, werden Sie das feststellen - diese Vorschläge. ({1}) Lassen Sie mich noch einige Worte an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD richten. Sie haben bisher alle Initiativen der Koalition, die dazu dienten, unser Land für den Standortwettbewerb um mehr Arbeitsplätze fitzumachen, im Bundesrat gebremst und blockiert. Glauben Sie denn wirklich, daß Sie diese Reformen verhindern können, daß wir ohne diese Reformen wirklich neue Arbeitsplätze schaffen können? Wollen Sie diese Blockadepolitik gegenüber den Arbeitslosen weiterhin verantworten? Die Koalition hat Vorschläge für eine Steuerreform vorgelegt, durch die gerade die Bezieher kleiner Einkommen besonders entlastet werden. Wie Sie wissen, hat sich die F.D.P. mit besonderem Nachdruck für den geringen Eingangssteuersatz von 15 Prozent eingesetzt; ({2}) denn wir wollen die Nettolöhne erhöhen, ohne daß die Arbeit insgesamt weiter verteuert wird. Es ist gerade die Grundvoraussetzung für marktwirtschaftliche Dynamik, daß der einzelne die Entscheidungsfreiheit über sein Einkommen behält. Das Eigentumsrecht und die daraus resultierenden Leistungsanreize sind nicht nur unverzichtbares Element der freiheitlichen Ordnung, sondern zugleich die eigentliche Basis für den Massenwohlstand. Weil das so ist, sind sämtliche Spielarten des Sozialismus zum Scheitern verurteilt. Die Frage ist nur, ob wir in Deutschland in der Lage sind, die Konsequenz daraus zu ziehen und Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Die Koalition ist bereit, diesen schwerwiegenden Reformweg zu gehen. Das macht der Jahreswirtschaftsbericht in erfreulicher Klarheit deutlich. Ich bin mir sicher, daß auch die Reformbereitschaft bei den Belegschaften erheblich größer ist, als uns das viele Verbandsfunktionäre glauben machen wollen. ({3}) Es gibt inzwischen etliche Beispiele dafür, daß man sich in den Betrieben auf längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich verständigt. Sagen wir es ganz offen: Die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ist ein Symbol des Irrwegs, den wir in Deutschland zu lange beschritten haben. Was ist denn schon dabei, etwas länger zu arbeiten, wenn Arbeitsplätze dadurch wirklich sicherer werden? Nun haben wir also einige hoffnungsvolle Ansätze für echte Sozialpartnerschaft auf der Betriebsebene, und dann versuchen die Gewerkschaften, sie wegzuklagen. An wenigen Stellen ist der Reformbedarf in unserem Land so offensichtlich wie bei den Flächentarifverträgen. Daß wir uns nicht mißverstehen: Die Verantwortung der Tarifparteien gilt für beide Seiten. In diesen Tagen sind auch aus den Reihen der Arbeitgeberverbände wieder einmal Lobeshymnen auf das überkommene System zu hören gewesen. Die Tarifparteien besitzen alle nötigen Regelungsfreiheiten, um die für mehr Arbeitsplätze notwendige Flexibilisierung ohne Eingriffe des Gesetzgebers zu verwirklichen. Aber diese Freiheit beinhaltet auch eine immense Verantwortung für die Beschäftigung in unserem Land. Interessenkartelle zu Lasten der Arbeitsplätze können wir uns in Zukunft nicht mehr leisten. Die Politik in diesem Land ist gegenüber den Arbeitslosen in der Pflicht. Wir Freien Demokraten werden uns dieser Pflicht nicht entziehen. ({4}) Die Kommentatoren sind sich ja auch weitgehend darüber einig, daß die Opposition keine Alternative zur Wirtschaftspolitik der Koalition zu bieten hat. Ich will das der Opposition nicht zum Vorwurf machen. Der Weg, den wir zu gehen haben, um Arbeitsplätze durch Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen, wird steinig, aber er liegt klar vor uns. ({5}) Was mir aber hochgradig bedenklich erscheint, das ist die Leichtfertigkeit, mit der auf seiten der SPD immer häufiger das Schlagwort von der nachfrageorientierten Politik in die Debatte geworfen wird. Wir haben heute morgen einen entsprechenden Exkurs gehabt. Sagen Sie den Bürgern doch klar, was sich hinter diesem von Ihnen so positiv dargestellten oder auch positiv klingenden Begriff verbirgt: staatliche Eingriffe, staatliche Programme. Es geht also entweder um eine Erhöhung der Staatsverschuldung oder um ein weiteres Drehen an der Steuerschraube. Das eine geht zu Lasten kommender Generationen, das andere treibt die Arbeitsplätze aus unserem Land.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Immer.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wir haben von Herrn Schäuble gehört, daß bei der Steuerreform eine Deckungslücke von 30 Milliarden bleiben wird, die nachfragewirksam werden soll. Sind Sie der Meinung, daß diese 30-Milliarden-Lücke die öffentliche Verschuldung im Jahre 1998 oder 1999 nicht erhöhen wird? Können Sie uns erläutern, welchen Dukatenesel die F.D.P. gefunden hat, um diese Lücke von 30 Milliarden verschwinden zu lassen?

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie dem Kollegen Schäuble wirklich zugehört hätten ({0}) - dann haben Sie es nicht verstanden -, hätten Sie mitgekriegt, daß es eine ganze Reihe von positiven, in die Zukunft weisenden Signalen gibt, deren Folgewirkungen zur Deckung dieser Lücke durchaus ausreichen müßten. Es kommt ein zweiter Punkt hinzu: Wenn jemand heute den Steuersatz von 53 Prozent vermeidet, anschließend aber 39 Prozent Steuern zahlt, dann bleibt unter dem Strich etwas übrig - Frau Skarpelis-Sperk, Sie können noch so lachen. Sie müssen sich einmal ansehen, wie das in einigen anderen Ländern gelaufen ist. ({1}) - Ihre Reiselust ist bekannt. Aber Sie sollten dann nicht nur reisen, sondern sich dort auch darüber informieren, daß solche Steuerreformen einen großen Anteil an am Ende erhöhten Steuereinnahmen haben. Ich habe Ihnen das gerade am Beispiel von 53 und 39 Prozent zu erklären versucht; ich glaube, es war vergeblich. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Kollegin SkarpelisSperk?

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist an sich eine Intervention: Ich darf den Kollegen Friedhoff bitten, sich einmal die Reiselisten geben zu lassen und meine Reisen mit den seinen zu vergleichen, bevor er Kommentare zu meiner „Reiselust" abgibt. Ich finde, das war eine unangemessene und übrigens unwissende Anmerkung.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kenne Ihre Reisepläne für die nächste Zukunft nicht. Aber ich habe keine Probleme damit, sie mal mit den meinen zu vergleichen. ({0}) Ich möchte fortfahren: Ich hatte gehofft, daß die Einführung in die Grundlagen der Wirtschaftspolitik, die Helmut Schmidt der SPD-Führung neulich gegeben hat - auch das hat Herr Schäuble gesagt -, nicht ohne Wirkung bleiben würde. Lafontaines Formel vom „Nachfrageschub" - vielleicht können Sie das einmal nachlesen, Frau Skarpelis-Sperk - gehöre, so der Altbundeskanzler, in das Vokabular der 30er Jahre. Vielleicht sollten Sie sich einmal mit der Tatsache befassen, was damals die verheerenden politischen Konsequenzen dieses Nachfrageschubs waren. ({1}) - Ich kann Ihnen das aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vorlesen: Helmut Schmidt behält das letzte Wort. Lafontaines Formel „Nachfrageschub" gehöre in das Vokabular der 30er Jahre. Das sind die Worte von Helmut Schmidt, die er dazu gefunden hat. ({2}) Meine Damen und Herren, es gibt keine Alternative zur marktwirtschaftlichen Reformpolitik der Koalition. Nur so können wir im Standortwettbewerb bestehen. Nur so können wir wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen, und nur so werden wir die Mittel zur Verfügung bekommen, um denen zu helfen, die sich dann am Wettbewerb nicht beteiligen können. Wir Freien Demokraten werden uns mit allem Nachdruck dafür einsetzen, daß das Reformwerk „Arbeitsplätze durch Wettbewerbsfähigkeit" gelingt, wie es auch im Jahreswirtschaftsbericht beschrieben ist. Die Steuerreform ist ein großer Schritt auf diesem Weg. Die kommenden Wochen werden erweisen, ob die SPD die Kraft findet, ihre bisherige Blockadepolitik aufzugeben, und sich den ökonomischen Notwendigkeiten nicht länger verschließt. Unser Land braucht grundlegende Reformen. Die F.D.P. wird der Motor dieser Reformen für mehr Arbeitsplätze durch Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bleiben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Frau Professor Luft das Wort.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke, Frau Präsidentin. - Der verehrte Kollege Friedhoff hat eine These wiederholt, die heute schon mehrfach im Raum stand und die auch ein Grundtenor des Jahreswirtschaftsberichts ist, nämlich die These, daß die Löhne zu hoch seien und daß vor allen Dingen im Osten - das hat er nicht gesagt; da beziehe ich mich auf den Jahreswirtschaftsbericht - die Löhne der Produktivitätsentwicklung weggelaufen seien und dies die Dramatik in der Beschäftigungslage hervorrufe. Ich möchte dazu zwei Anmerkungen machen, weil man solche Thesen nicht immer so pauschal im Raum stehenlassen darf. Die erste betrifft die ostdeutsche Bauwirtschaft. In der ostdeutschen Bauwirtschaft - das läßt sich überall nachlesen - ist die Produktivitätsangleichung an den westdeutschen Durchschnitt am raschesten fortgeschritten. Die Löhne liegen dort noch unter dem Durchschnitt der westdeutschen Bauindustrie. Dennoch hatten wir in der ostdeutschen Bauwirtschaft den rasantesten Abbau von Arbeitsplätzen, den es überhaupt in irgendeiner Branche in den letzten Jahren gab. Leider ist dieser Personalabbau noch nicht zum Stillstand gekommen, sondern wird sich fortsetzen. Es lohnt also nicht, sich immer auf dieses Problem zu fokussieren. Ökonomisch unbestritten ist, daß die Löhne der Produktivitätsentwicklung nicht weglaufen dürfen. Aber wir haben hier offenbar, bezogen auf den Osten allemal, eine Reihe von anderen Problemen ins Auge zu fassen. Mit meiner zweiten Bemerkung möchte ich gern auf eine Kostenerhebung des Statistischen Bundesamtes verweisen. Die Daten stammen aus dem Jahr 1994; neuere liegen noch nicht vor. Danach hat im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe ab 1994 der Anteil der Personalkosten am Bruttoproduktionswert in den neuen Ländern mit 25,6 Prozent unter dem in den alten Ländern mit 25,8 Prozent gelegen. Das heißt, drückender als Personalkosten sind nach dieser Erhebung jedenfalls Kostenelemente wie Abschreibungen, die in bezug auf die Kostenanteile wesentlich höher sind als der Durchschnitt in den alten Ländern, Wasser- und Abwasserkosten, Energiekosten, Fremdkapitalzinsen. Wir wissen ja, daß die Banken die Eigenkapitalschwäche in den ostdeutschen Unternehmen besonders für sich ausnutzen, indem sie in der Zinshöhe mächtig zugreifen. Ich möchte also darauf hinweisen, daß allein durch die Absenkung der Kosten für Energie, für Fremdkapitalzinsen, für Wasser, Abwasser viele Unternehmen in Ostdeutschland in die Gewinnzone kommen könnten. ({0}) Dies ist ja wohl ein politisches Handlungsfeld. Nur deshalb mache ich darauf aufmerksam. Wir können den Arbeitslosen nicht immer vorgaukeln, ihr Los hänge damit zusammen, daß die, die noch in Arbeit sind, zu hohe Lohnforderungen hätten und Besitzstandswahrer seien. Wir müssen eine Vielzahl weiterer Kostenelemente ins Auge fassen. Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie möchten antworten, bitte.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben gerade von einem differenzierten Bild gesprochen, daß man bekommt, wenn die gesamten Fakten zusammengezählt werden. Ich habe vorhin gesagt, Frau Professor Luft, daß wir an vielen Stellen einen sehr positiven Effekt in der deutschen Wirtschaft haben. Deswegen ist es verkehrt, den Standort in Deutschland herunterzureden. Wir haben größenordnungsmäßig 90 Milliarden DM Handelsbilanzüberschüsse. Die müssen irgendwo herkommen. Wir haben Wachstum in Deutschland. Unser Problem ist der Arbeitsmarkt. Wenn ich die Arbeitskosten in Deutschland mit den Arbeitskosten in anderen Ländern vergleiche, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß sie in Deutschland besonders hoch sind. Andere Standortbedingungen sind in Deutschland gut. Sie haben an der einen oder anderen Stelle beklagt, daß wir sie noch besser machen können. Das bezweifle ich überhaupt nicht. Aber unser Hauptproblem liegt im Bereich der Kosten, die mit Arbeit verbunden sind. Genau hier müssen wir ansetzen; denn es nützt uns überhaupt nichts, in dem Teil der Wirtschaft tolle Ergebnisse zu haben, in dem das Ganze fast ohne Menschen funktioniert, aber in dem Bereich, wo wir die Arbeitskosten haben, die Defizite nicht abzubauen. Aus diesem Grunde gibt es im Moment nur eine Antwort: Wir müssen in diesem Bereich die Kosten senken, damit wieder mehr Arbeit in Deutschland angeboten werden kann, damit wir wieder wettbewerbsfähige Arbeitsplätze bekommen. Das geht nicht durch staatliche Interventionen. Das geht auch nicht dadurch, daß wir Arbeitsplätze subventionieren und daß wir Monopole aufrechterhalten, wie das bei der Post gefordert wird. Es geht nicht, daß wir die hohen Subventionen wie im Steinkohlebergbau haben und dann von Arbeitsplatzmaßnahmen sprechen. ({0}) Dieses ist das Problem, das wir haben. Daß das an vielen Stellen nicht begriffen wird, ist leider in Deutschland ein weiteres Faktum. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein bemerkenswerter Satz im Jahreswirtschaftsbericht steht auf seiner Seite 6: Beachtung verdiene - ich zitiere -, „daß in der Öffentlichkeit die Ziele dieser Politik", der Bundesregierung, „nach wie vor verkannt werden." Darüber beklagt sich der Minister, beklagen sich die Sachverständigen. Schwachstelle sei, so Kollege Uldall - er sei hier zum zweitenmal zitiert -, das fehlende Vertrauen der Menschen in die Politik. Abgesehen davon, daß Vertrauen bestenfalls die halbe Miete für den Erfolg der Wirtschaftspolitik ist: Woher soll denn dieses Vertrauen wachsen? Ankündigungen vom richtigen Weg und bahnbrechenden Reformen stehen die wachsende Zahl der Arbeitslosen und das Sinken der Realeinkommen der noch Beschäftigten gegenüber. Das ist Realität. ({0}) Statt Stabilisierung von Masseneinkommen und Binnennachfrage, statt Anreizen für eine ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft und Erweiterung der politischen Handlungsspielräume konzentriert sich die Regierung auf die Stabilisierung der Gewinnwirtschaft durch Lohnverzicht und Sozialabbau. Was rechtfertigt eigentlich das grenzenlose Vertrauen der Bundesregierung in privatisierte Geldvermögen, die angeblich in mehr Beschäftigung umgemünzt werden? Herr Kollege Friedhoff, ich habe großen Respekt vor Ihrer unternehmerischen Tätigkeit. Aber die Tatsache, daß sich Lohnabhängige angesichts von 4,6 Millionen Arbeitslosen bereit erklären, mehr zu arbeiten und auf Lohn zu verzichten, und Sie das noch als Erfolg verkaufen, das halte ich für schizophren. ({1}) Wie verträgt sich das Reden von hohen Löhnen, Steuern und Lohnnebenkosten mit der lapidaren Feststellung des Jahreswirtschaftsberichtes im Rückblick auf 1996 - ich zitiere -: Die Ertragsmargen der Unternehmen konnten trotz des geringen Preisauftriebs insgesamt nochmals spürbar ausgeweitet werden. Wohin müssen denn die Ertragsmargen noch wachsen, damit sie endlich in neue Arbeitsplätze münden? Es ist offensichtlich so, daß selbst, wenn alle Forderungen der Unternehmerverbände erfüllt werden, neue Arbeitsplätze in der Industrie nicht in Sicht sind. Die Privatvermögen der Bundesrepublik - die Zahlen kennen Sie besser als ich - betragen insgesamt fast 10 Billionen DM. Sie liegen zu 55 Prozent in Immobilien, zu 31 Prozent in Geld und zu ganzen 14 Prozent in Betriebsvermögen fest. Steigende Immobilienwerte und Spekulation auf den Geldmärkten bringen und sichern aber kaum einen Arbeitsplatz. Letztlich nur ein knappes Sechstel der Vermögenswerte in diesem Land ist beschäftigungswirksam angelegt. Deshalb: Machen Sie endlich in einer tatsächlich unaufschiebbaren Steuerreform das Investieren und Spekulieren in Immobilien und Geldmärkte so unattraktiv, daß schon dadurch Investitionen in Arbeitsplätze sich wieder rechnen. Schaffen Sie durch diese Steuermehreinnahmen endlich Spielräume, damit die öffentliche Hand jene Zukunftsinvestitionen tätigt und damit Arbeitslosigkeit überwinden hilft, zu der private Hände offensichtlich niemals willens und in der Lage sein werden! Kommen Sie mir auch nicht mit der Mär vom scheuen Reh Kapital. Egal, wie weit sie Steuersätze und Sozialabgaben auch heruntersetzen: Mit Billiglohnländern kann die Bundesrepublik Deutschland niemals konkurrieren. Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik hat drei große Potenzen: einen Markt mit über 80 Millionen Konsumenten, hochqualifizierte Menschen und entsprechende soziokulturelle Infrastruktur und ein, verglichen mit den meisten anderen Weltregionen, Höchstmaß an sozialer Stabilität. Ich behaupte, diese Faktoren und nicht allein ein paar Prozente mehr oder weniger Steuern und Sozialabgaben bestimmen Investitionsentscheidungen für dieses Land. ({2}) Die Bundesrepublik ist und bleibt attraktiv, solange sie diese ureigenen Potenzen erhält und ausbaut. Dieser Aufgabe muß auch eine radikal reformierte Wirtschaftsförderung verpflichtet sein. Ich will mich hier aus Zeitgründen auf einen Aspekt beschränken. Der jüngste Subventionsbericht der Bundesregierung belegt: Auf jede Mark direkter staatlicher Zuschüsse oder Zinsverbilligungen für konkrete Projekte kommen drei Mark Steuererlaß durch pauschale Investitionszulagen oder im Osten durch zusätzliche Sonderabschreibungen. Es bringt aber nichts, mit der Gießkanne in die Wüste zu ziehen. Die Folgen können wir im Osten besichtigen. Trotz anerkennenswerter Rekonstruktionen sind Innenstädte von Verödung bedroht, sind Industriebrachen entstanden, und gleichzeitig gibt es zubetonierte einstige grüne Wiesen mit Büroflächen oder Nobelwohnungen, für die weit und breit kein Bedarf in Sicht ist. Das Einkommensteueraufkommen sank wegen der Sonderabschreibung Ost von 41,5 Milliarden DM 1992 auf knapp 14 Milliarden 1995. Die öffentliche Hand wurde arm gemacht. Von einem selbsttragenden Aufschwung sind die neuen Länder dennoch genauso weit entfernt wie zuvor. Diesen wie auch anderen Irrwegen der bundesweiten Subventionsvergabe muß schnellstens ein Ende gemacht werden. Die Bundestagsgruppe der PDS wird dazu noch vor der diesjährigen parlamentarischen Sommerpause in einem umfassenden Antrag Vorschläge zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktförderung sowie zum Steuerrecht unterbreiten, die bereits ab 1998 umgesetzt werden können, wenn Sie die Einladung, die Sie von der Regierung immer so gerne aussprechen, daß alle zur Veränderung aufgerufen werden, tatsächlich ernst meinen. Keine Sorge, wir werden die übrigen Parteien in diesem Haus nicht mit zentralistischer Planwirtschaft bedrohen. Ich bitte Sie aber, die folgenden Sätze zu beherzigen: „Der wichtigste Feind der offenen Gesellschaft ist nicht länger die kommunistische, sondern die kapitalistische Bedrohung", sie wird bedroht „von übertriebenem Individualismus, von zuviel Konkurrenz und zuwenig Kooperation". Dieser Gedanke stammte weder von Marx noch von Lenin und auch nicht von mir. Er stammt von George Soros, dem anerkanntermaßen erfolgreichsten Spekulanten der westlichen Welt; der müßte Ihnen näherstehen als mir. Nachlesen können Sie ihn, ausführlich begründet, unter anderem in der „Zeit" vom 17. Januar. Danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Müller.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sicher ist diese Debatte bereits enorm weit fortgeschritten. Es macht daher schon einige Mühe, zu Punkten zurückzuführen, die man eigentlich schon hinter sich gelassen hatte. Ich wollte eigentlich darauf hinaus, daß es einige gute Gründe gibt, sich im Rahmen dieser Debatte noch einmal mit der wirtschaftspolitischen und wirtschaftlichen Situation Ostdeutschlands gesondert auseinanderzusetzen. Diese scheint mir nicht erst heute, sondern überhaupt in den letzten Monaten enorm zu kurz gekommen zu sein. ({0}) Ich meine - unabhängig von solchen spitzen Erwägungen -, dies steht wohl eher im umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung dieses Problems für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir haben es seit einem Jahr im Grunde mit einer neuen, wenig verheißungsvollen Etappe der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands zu tun, die in einigem Kontrast zu den Jahren bis 1995 steht. Ihre Politik, meine Damen und Herren, die des Herrn Bundeswirtschaftsministers, die sich seit 1992 hinter dem Begriff „Aufschwung Ost" - eine ziemlich beschönigende Bezeichnung - verbirgt, war im Prinzip Versuch und Irrtum, Übertragung altbundesdeutscher Politikelemente, die zumindest für einen begrenzten Zeitraum zu Fortschritten in strukturschwachen Räumen der Altbundesrepublik führten. Immerhin fand dies in der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung seinen Erfolg. Es mag daher hinnehmbar sein, daß es unter Berücksichtigung der seit dem 1. Juli 1990 gegebenen Bedingungen kein auf Erfahrung beruhendes, finanziell beschreibbares und in sich geschlossenes Konzept zur Konversion der DDR-Wirtschaft gegeben haben kann. Heute allerdings, meine ich, kommt man damit wohl nicht mehr über die Runden. ({1}) Ihre Privatisierungsstrategie und die Wirtschaftsförderung insgesamt, vor allem die Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, führten vorübergehend immerhin dazu, daß es nach dem überwiegenden Zusammenbruch der alten industriellen und gewerblichen Strukturen Ostdeutschlands zu einem Beschäftigungsneuaufbau kam, zu einem Zuwachs am Bruttoinlandsprodukt Ostdeutschlands und daß sich letztendlich auch der Produktivitätsrückstand verkleinerte. Die damit verbundene Dynamik ließ auf einen zeitlich beschreibbaren Aufholprozeß hoffen. Dies alles soll nicht kleingeredet werden, selbst dann nicht, wenn sich Ihre überdurchschnittliche Förderung im Baubereich am Ende als Strohfeuer erwies, welches zu einer Menge leerer Gebäude führte, also gewissermaßen Hülsen eines scheinbaren Aufschwunges, der dann doch nicht stattfindet. Seit einem Jahr befinden wir uns aber, glaube ich, in einer schwierigeren Phase der Entwicklung Ostdeutschlands, so daß man nur sagen kann: Die von uns seit 1994 ständig kritisierte und mit parlamentarischen Initiativen begleitete Ausdünnung der Förderung Ostdeutschlands hat dazu beigetragen, daß die zunehmend konjunkturabhängige ostdeutsche Wirtschaft günstigstenfalls noch Zuwachsraten des Bruttoinlandsproduktes Ost ausweisen kann, die für den Westen typisch sind. Damit ist eine Angleichung kaum noch darstellbar. Selbst im investiven Bereich haben Sie beispielsweise in den letzten beiden Haushalten im Mittelansatz für die Gemeinschaftsaufgabe 850 Millionen DM gestrichen, was sich in dieser Beziehung sehr ungünstig auswirkt. Ostdeutschland zeigt heute also das Bild einer im wesentlichen auf den Binnenmarkt ausgerichteten Regionalökonomie, die im Gegensatz zum Westen nicht in der Lage ist, von wachsenden Exporten zu profitieren, egal, wie die aktuellen Währungsrelationen zum Dollar ausfallen. Die derzeitige schwache Inlandsnachfrage behindert dann logischerweise die ostdeutsche Wirtschaft in ganz besonderem Maße. ({2}) Es gibt also keinen selbsttragenden Aufschwung. Dies ist hier nun mehrfach festgestellt worden. Selbst der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat dies in verschiedenen Zusammenhängen deutlich gemacht. Im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht werden die meisten vorhandenen Probleme wenigstens angesprochen. Allerdings lassen die von Ihnen verwendeten Zahlen zum vermutlichen Wachstum, die, wie in der Regel, reichlich optimistisch erscheinen, auch andere Schlüsse zu. Dieses Thema hatten wir heute aber schon; ich will es nicht weiter vertiefen. Also wird, so das DIW, das Ziel eines angemessenen Wachstums verfehlt. Zu fragen bleibt, wie es weitergehen soll, mit welchen politischen Rahmenbedingungen dieser Entwicklung begegnet werden soll. Sicher zu sein scheint nach allem, was die Wirtschaftswissenschaftler uns vorlegen, daß das ProChristian Müller ({3}) blem des Teilstandortes Ostdeutschland möglichst schnell gelöst werden muß. Anderenfalls würden die Belastungen für die gesamte Volkswirtschaft auf Dauer zu groß. Der damit verbundene Ansehensverlust der Politik und der Politiker selbst muß nicht näher beschrieben werden. Hören Sie vielleicht an dieser Stelle auch darauf, was Ihnen die Ludwig-Erhard-Stiftung - Ludwig Erhard spielte in der heutigen Debatte schon mehrfach eine Rolle - zu Ihren bisherigen Förderkonzepten gesagt hat: ... von Anfang an ({4}) die Strukturpolitik der Bundesregierung durch ein hohes Maß an Improvisation gekennzeichnet. Längerfristige Überlegungen zu den Mitteln und Zielen der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern wurden nicht angestellt, statt dessen verfolgte das in der Aufbaupolitik federführende Kanzleramt mit korporativen Lösungen und mit Feuerwehreinsätzen eine Strategie, die ... an kurzfristigen politischen Zielen orientiert war. Zu ebendieser Feststellung kommt auch der 15. Anpassungsfortschrittsbericht; das ist dort nachzulesen. So ist eigentlich nur festzustellen, daß es in der Tat Zeit für ein neues Förderungskonzept für Ostdeutschland ist. Dieses hat der Herr Bundeswirtschaftsminister angekündigt. Das ist auch zu begrüßen, selbst wenn bisher völlig unklar bleibt, worauf es sich eigentlich in letzter Konsequenz beziehen wird und was drinstehen wird. ({5}) Allerdings schränkt er selbst dies ein: Die Finanzierung werde angesichts der Haushaltssituation schwierig werden. Das läßt natürlich vermuten, daß es in der Tat so sein wird. Von Herrn Waigel ist in den letzten Sitzungen verschiedener Ausschüsse dieses Hauses zu hören, daß er daran denkt, die Förderung für Ostdeutschland ab 1999 radikal zu kürzen. Dies steht in interessantem Kontrast zu dem, was Herr Rexrodt heute ausgeführt hat. Er meinte, ab 1999 würde die Förderung für Ostdeutschland auf hohem Niveau fortgeführt. Es wäre schon ganz spannend zu erfahren, was dies für uns alle bedeutet. ({6}) - Ja. Ich finde, es ist schon bedeutsam, wenn die Wirtschaftsminister aller neuen Bundesländer und der Berliner Wirtschaftssenator über die Parteigrenzen hinweg gemeinsam fordern, die Wirtschaftsförderungsmaßnahmen zumindest auf dem derzeitigen Niveau fortzuführen. Ich kann angesichts der fortgeschrittenen Zeit eigentlich nur empfehlen, auf diese Leute zu hören; denn sie wissen immerhin, wovon sie reden. Zu dem DIW ist heute gesagt worden, daß das, was von ihm prognostiziert wurde, vielleicht nicht ganz so ernst zu nehmen ist. Ich halte mich aber gern an Herrn Professor Hoffmann, den Präsidenten. Sie wissen, er hat gefordert: Der Osten braucht in den nächsten Jahren mindestens so viel Geld wie bisher ... Wer jetzt die Förderung reduziert, macht den Osten zum Notstandsgebiet. Das sollte uns auf alle Fälle zu denken geben. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als nächstes hat der Kollege Paul Krüger das Wort.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern ist für das Wohlergehen des ganzen Landes eine entscheidende Frage. Nur wenn uns in absehbarer Zeit ein selbsttragender Aufschwung gelingt, werden wir das wirtschaftliche und auch das soziale Gleichgewicht in der gesamten Bundesrepublik aufrechterhalten können, werden wir unser größtes Problem, nämlich die Arbeitslosigkeit, einer Lösung zuführen können. In vielen Bereichen der neuen Bundesländer ist in den letzten Jahren eine gute Entwicklung zu verzeichnen, insbesondere beim Abbau von teilungsbedingten Rückständen. Ich erinnere hier an den Aus- und Neubau von Straßen, Schienen, des gesamten Verkehrsnetzes und an die Schaffung moderner Telekommunikationsanschlüsse. Es wurden in dieser kurzen Zeit 5 Millionen Telefonanschlüsse geschaffen. Wir haben mittlerweile das modernste Telekommunikationsnetz der Welt. Das ist eine hervorragende Voraussetzung auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Wir haben mittlerweile 3,5 Millionen Wohnungen entweder neu gebaut oder renoviert. Das entspricht der Hälfte aller Wohnungen, die es in den neuen Bundesländern gibt. Und wir haben mit der Überführung des Sozialsystems in die neuen Länder im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft die wohl größte Leistung vollbracht, die im Rahmen der Wiedervereinigung vollbracht wurde. Trotz dieser Leistungen haben wir erst die erste Hälfte des Weges hinter uns. Wir müssen konstatieren, daß die zweite Hälfte keineswegs leichter wird. Die Bundesregierung geht in ihrem Jahreswirtschaftsbericht von einem Wachstum von 2,5 Prozent in den neuen Ländern aus. Wenn man diese Wachstumsprognose mit den Zahlen der Wirtschaftsinstitute vergleicht, wird deutlich, daß es hier noch erhebliche Unsicherheiten gibt. Das heißt: Die Wachstumsraten werden viel geringer sein, als wir es ursprünglich angenommen haben. Dabei bedeuten gleiche Wachstumsraten wie im Westen nur, daß sich das Bruttoinlandsprodukt in West und Ost in. absoluten Zahlen weiter auseinanderentwickelt. Um eine Annäherung der Wirtschaft in einem vernünftigen Zeitraum zu realisieren, brauchen wir einen jährlichen Wachstumsvorsprung von mindestens 5 Prozentpunkten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Probleme in der Wirtschaft in den neuen Bundesländern sind wesentlich differenzierter als die in den alten Ländern. Wir haben eine völlig einseitige Unternehmensstruktur. Es gibt fast nur kleine und mittelständische Unternehmen. In ganz Ostdeutschland gibt es weniger Großunternehmen als im Regierungsbezirk Köln. Damit hängt auch zusammen, daß viele Unternehmen nicht in der Lage sind, zu exportieren; sie haben eine viel zu schwache Exportkraft. Trotz aller Anstrengungen gelingt es den Unternehmen nicht, ihre Produkte überregional abzusetzen. Der Anteil der neuen Länder an den gesamtdeutschen Exporten beträgt derzeit 4 Prozent. Die industrielle Basis ist viel zu schmal. Die Betriebe des verarbeitenden Gewerbes sind stark unterrepräsentiert. Die Eigenkapital- und Liquiditätssituation ist noch besonders schwierig. Die Kapitalausstattung der Unternehmen ist dort am problematischsten, wo überregionale Märkte besonders wichtig sind. Die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in den neuen Ländern sind zu klein. In den Unternehmen wird - pro Kopf der Bevölkerung gerechnet - für Forschung und Entwicklung nur rund ein Zwanzigstel dessen ausgegeben, was in den alten Ländern aufgewendet wird. Der Anteil der Unternehmen aus den neuen Ländern an forschungs- und entwicklungsintensiven Exporten beträgt derzeit unter 2 Prozent. Die Lohnstückkosten sind im Osten im Durchschnitt viel zu hoch. Sie liegen im Durchschnitt über 30 Prozent über denen in Westdeutschland. Besonders problematisch ist die Tatsache, daß die Löhne zum Teil schneller gestiegen sind als die Arbeitsproduktivität. ({0}) Die Ursachen für die geringe Arbeitsproduktivität sind sehr unterschiedlich. Wir haben eine Ursache in den suboptimalen Unternehmensstrukturen - ich habe die Größe der Unternehmen schon erwähnt. Wir haben in großen Teilen zu geringe Erlöse für die gleichen Leistungen. Und zum Teil haben wir zu hohe Kosten im Bereich der Energie und des Abwassers. Nicht zuletzt haben wir durch Eigenkapitalschwäche bedingte Investitionsrückstände. Jedenfalls hat die zu geringe Arbeitsproduktivität ihre erste Ursache nicht in den Menschen, die die Produkte herstellen; sie sind qualifiziert und motiviert. Aber den Unternehmen fehlt ein ausreichender Zugang zu überregionalen Märkten. Die deutsche Wirtschaft hat gewissermaßen „Menschen ohne Märkte" geerbt. Anders ist es dort, wo Unternehmen ihre Märkte in die neuen Bundesländer mitgenommen haben, wo die Eigenkapitalausstattung sehr gut war und wo genügend investiert wurde. Dort ist die Produktivität zum Teil erheblich höher als im Westen. Die hohen überdurchschnittlichen Lohnkosten sind also kein generelles Standortproblem der neuen Bundesländer. ({1}) Das ist auch für die Ansiedlung weiterer Unternehmen ganz wichtig. Deshalb ist eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik zwar vernünftig und richtig - insbesondere in den neuen Bundesländern -, aber darin liegt nicht die ganz große Reserve für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme im Osten. ({2}) Nötig sind vielmehr gute, innovative Produkte und Dienstleistungen, die sich auch im Wettbewerb in überregionalen Märkten durchsetzen können. ({3}) Die erste Hälfte des Weges beim Aufbau Ost war vor allem durch die Umstrukturierung einer völlig maroden sozialistischen Planwirtschaft, durch die Privatisierung von Wirtschaftsunternehmen, durch eine breitgefächerte Förderung von staatlichen und privaten Investitionen und durch den schrittweisen Aufbau eines Mittelstandes in den neuen Ländern gekennzeichnet. Bei der zweiten Hälfte des Weges kommt es nun besonders darauf an, in Ostdeutschland noch stärker Eigeninitiative zu fördern und vor allem das verarbeitende Gewerbe zu stärken. ({4}) Das bedeutet, Unternehmen zu konsolidieren und in ihrem Wachstum stärker zu fördern, weitere industrielle Unternehmen anzusiedeln, weitere Unternehmensgründungen anzuregen und die Innovationskraft der Unternehmen zu stärken, um vor allem den überregionalen Absatz stärker zu fördern. Zur Bewältigung dieser Aufgaben bleibt die „Förderung auf hohem Niveau" , wie sie der Jahreswirtschaftsbericht ankündigt, eine notwendige Voraussetzung. ({5}) Ich möchte dies anhand einiger Schwerpunkte ausführen. Herr Müller hat ja gefragt, wo wir die Schwerpunkte denn setzen werden. Ich darf Ihnen also mitteilen, wo zumindest ich bzw. die Gruppe meiner Kollegen die Schwerpunkte sieht. Erstens. Ein vorrangiges Ziel unserer Politik bleibt die Verbesserung von Ansiedlungsbedingungen. In diesem Zusammenhang sehen wir besonders eine kontinuierliche Weiterverfolgung des Aufbaus der Infrastruktur. Deshalb genießen die Verkehrsprojekte deutsche Einheit weiter erste Priorität. Darüber hinaus sind Möglichkeiten für eine weitere Beschleunigung zu nutzen. Dabei denken wir insbesondere an Möglichkeiten der privaten Vorfinanzierung. Zweitens ist es notwendig, Existenzgründungen und insbesondere das Wachstum von Unternehmen zu fördern. Wir wollen deshalb die geltenden InvestiDr.-Ing. Paul Krüger tionszulagen nicht nur beibehalten, sondern deutlich verbessern. Drittens. Um Innovationen besser zu fördern, wollen wir eine Innovationszulage nach dem Beispiel vieler führender Industrienationen einführen. Viertens. Prioritäre Bereiche der Wirtschaftsförderung sind das verarbeitende Gewerbe und die Anbieter innovativer Dienstleistungen vor allem im mittelständischen Bereich. Diese Bereiche sind bevorzugt zu fördern. Fünftens. Angesichts des immensen Nachholbedarfs, der bei der Sanierung und Modernisierung von Wohngebäuden immer noch besteht, sind weitere Anstrengungen in diesem Bereich unerläßlich. Wir werden insbesondere darüber nachdenken müssen, ob wir nicht von Sonderabschreibungen zu anderen Finanzierungsmodellen kommen und auch auf Zulagen umsteigen müssen. Sechstens. Nicht zuletzt müssen wir stärker darüber nachdenken, wie wir Überregulierungen vereinfachen und Verwaltungshandeln in den neuen Ländern beschleunigen können. Die Bürokratie hat auch um die neuen Bundesländer keinen Bogen gemacht. Hier ist auch in Zukunft ganz entschiedenes Handeln erforderlich. Die hohe Arbeitslosigkeit ist nach wie vor das größte Problem in den neuen Bundesländern. Deshalb sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in Abhängigkeit von der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen weiterhin notwendig. Dabei kommt es besonders darauf an, durch diese Maßnahmen möglichst vielen Arbeitslosen den Zugang zu einem regulären Arbeitsplatz in der Wirtschaft zu eröffnen. ({6}) In diesem Sinne haben wir als ostdeutsche Bundestagsabgeordnete eine ganze Reihe von neuen Vorschlägen zum Arbeitsförderungs-Reformgesetz eingebracht, die insbesondere Existenzgründungen durch Lohnkostenzuschüsse unterstützen und auch den befristeten Zugang von Arbeitslosen zum ersten Arbeitsmarkt über Lohnkostenzuschüsse möglich machen. Wir sehen, daß wir hier in einem ganz beträchtlichen Umfang neue Arbeitsplätze schaffen können. Es wird allein auf diesem Wege einige zehntausend neue Arbeitsplätze geben, und nebenbei können wir die Wirtschaft nachhaltig stärken. ({7}) Dieses auf die neuen Länder beschränkte Instrumentarium ist ein völliges Novum. Wir haben hier ein Zeichen gesetzt, daß man auch in solchen Bereichen innovativ sein kann. ({8}) Um so bedauerlicher ist es, daß wir durch die Blockadehaltung der SPD zum Arbeitsförderungs-Reformgesetz drei Monate Verzug bei der Einführung dieser Maßnahmen haben ({9}) und daß wir den Arbeitslosen mehr zumuten müssen, als hier eigentlich erforderlich wäre. Meine Damen und Herren, mit Recht formuliert der Jahreswirtschaftsbericht: Gemeinsames Ziel bleibt weiterhin eine leistungsfähige ostdeutsche Wirtschaft, die aus eigener Kraft am Markt besteht und genügend Beschäftigungs- und Einkommenschancen bietet. Es ist in der Tat notwendig, daß wir die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland ernst nehmen. Nur wenn wir in Ost und West gleichermaßen begreifen, wie sehr unsere Wirtschaft in ganz Deutschland von der Entwicklung in den neuen Ländern abhängt und wie sehr eine langfristige Solidarität not tut, werden wir die vor uns liegenden Herausforderungen erfolgreich bewältigen. Meine Damen und Herren von der SPD, hier sollten Sie gemeinsam mit uns das Notwendige tun, um die Probleme zu meistern. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Herr Rexrodt sein Amt im Januar 1993 antrat, hatten wir 2,9 Millionen Arbeitslose; wir haben jetzt 4,7 Millionen. Sie haben zwar jetzt angekündigt, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, haben sie aber erst einmal verdoppelt. Wenn es einen Namen für einen „Wirtschaftsminister der Arbeitslosigkeit" gibt, dann ist es der Name Rexrodt. ({0}) Herr Rexrodt, ich glaube, daß Ihnen auch bewußt sein muß, daß die Schlüsselfrage für die Beurteilung, ob Ihre Politik erfolgreich ist oder nicht - das ist auch heute in der Debatte deutlich geworden -, lautet, wie wir den Arbeitsmarkt in Ordnung bekommen. Das ist eine Schlüsselfrage für die Zukunft. Angesichts der fortgeschrittenen Diskussion möchte ich daran erinnern, daß der Jahreswirtschaftsbericht 1968 von Karl Schiller eingeführt worden ist; das ist fast 30 Jahre her. Wir hatten damals auch ein ganz bestimmtes Niveau der Debatte. Die heutige Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht war durch eine ganze Reihe von Detailfragen gekennzeichnet; aber die wirtschaftspolitische Grundsatzdiskussion hat eigentlich nicht stattgefunden. Wie wir wirtschaftspolitisch die Zukunft gestalten wollen, dazu steht im Jahreswirtschaftsbericht eine Menge - das ist wahr -; da hat sich im Jahreswirtschaftsbericht selber auch einiges verändert. Aber die Debatte war, was die Zukunftsfragen angeht, eigentlich eher blaß. Meine Damen und Herren, Herr Stoltenberg, Herr Solms und andere haben sich immer wieder auf das Beispiel Amerika berufen. Ich möchte meine kurze Redezeit zunächst darauf verwenden, ein bißchen genauer auf das Stichwort Amerika einzugehen, weil sich in Amerika schon eine Menge im Beschäftigungsbereich getan hat. Es hat ja keinen Zweck, das zu leugnen. Man muß nur einmal genauer hinschauen, welche Strukturen es gibt und woran es im einzelnen gelegen hat. In Amerika hat es in der Tat viele neue und auch zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse gegeben. Bei diesen neuen Beschäftigungsverhältnissen - von 8 bis 9 Millionen sprechen die Experten - sind etwa 20 bis 25 Prozent, so würde ich schätzen, wirkliche „bad jobs", also McDonald's-Jobs, Jobs, bei denen ganz simple Tätigkeiten verlangt werden und von denen manche Leute sogar zwei oder drei ausüben müssen, um überhaupt leben zu können. Ungefähr ein Drittel der neuen Jobs, kann man sagen, sind solche „bad jobs" . Ich glaube nicht, daß das erstrebenswert ist, auch wenn man klar sagen muß, daß wir natürlich wollen, daß alle Leute einen Job haben und notfalls auch einen solchen Job annehmen sollen. Eines ist aber klar: Es gibt einige andere Faktoren, die für uns noch interessanter sind. Es hat in den letzten Jahren in Amerika in bezug auf ausländische Direktinvestitionen einen erheblichen Anstieg gegeben. Die amerikanische Volkswirtschaft hat enorm viele ausländische Direktinvestitionen angezogen. In Ihrer Regierungszeit, von 1985 bis 1995 - das ist die neueste Statistik, die Roland Berger gerade veröffentlicht hat -, gab es ausländische Direktinvestitionen in den USA in Höhe von 477 Milliarden Dollar und in Deutschland von 27 Milliarden Dollar. Da muß man jetzt genau hinschauen; es gibt viele Rahmenbedingungen, die dabei eine Rolle spielen. Übrigens lagen auch noch Italien, England, Belgien, Holland und Schweden vor uns. Das heißt, die Frage nach unseren Bedingungen ist schon sehr wichtig. In den nächsten Tagen werden wir ja auch unter steuerpolitischen Gesichtspunkten über diese Frage reden. Das ist sicher nur ein Punkt. Dazu gehören auch manche anderen Fragen wie Genehmigungsverfahren und viele Dinge, über die wir schon geredet haben und die ausschlaggebend dafür waren, daß es im Zuge der Globalisierung eine ganze Menge ausländischer Direktinvestitionen in der amerikanischen Volkswirtschaft gegeben hat, aber bei uns eben nicht. Insofern gibt es eine Differenz. Wir haben schon vor zwei Jahren im Wirtschaftsausschuß darauf hingewiesen, daß wir uns wirklich stärker und intensiver um ausländische Investoren kümmern sollten, die hier Fabriken bauen wollen. Es wird nämlich eben nicht mehr wie früher klassisch in einer Großfabrik produziert und dann weltweit exportiert, sondern heute wird dezentral produziert. Vor wenigen Wochen haben Sie für Ostdeutschland eine solche Investment GmbH gegründet. Ich halte das für richtig, auch wenn es spät kommt. Ich halte es aber auch für Westdeutschland für dringend geboten - wir haben es vor zwei Jahren einmal angeregt -, damit man klare Bedingungen für solche Investoren schafft, die wirklich auf dem europäischen Kontinent Arbeitsplätze schaffen wollen, und sie auch bei uns eine Anlaufstelle haben, unbürokratisch behandelt werden und ihnen geholfen wird. Ein zweites Beispiel: Es ist keine Frage, daß es in Amerika in den letzten Jahren natürlich auch einen erheblichen Reindustrialisierungsprozeß gegeben hat. Wer das Detroit von Anfang der 80er Jahre kennt, eine heruntergekommene Industriestadt mit den Hauptquartieren der Automobilindustrie, und es sich heute ansieht, weiß, daß sich dort enorm viel getan hat. Reindustrialisierung heißt Modernisierung. Es hat Modernisierungen von Fabriken gegeben. Da sind auch wir in der Politik teilweise gefordert. Es gibt aber auch eklatante Defizite in der Wirtschaft. Leider haben wir heute nicht mehr Schumpetersche Unternehmer der Preisklasse eines Gottlieb Daimler oder eines Robert Bosch, sondern wir haben heute mehr Buddenbrooks der dritten Generation. Wir haben also ein echtes Defizit im Unternehmensbereich. Die Politik kann da nur helfen, aber dieser Reindustrialisierungsprozeß hat bei den echten Fertigungsarbeitsplätzen in Amerika auch geholfen. Drittes Beispiel: Wir haben gehört, daß sich bei Forschung und Technologie in Amerika eine Menge tut. Die Fachleute sprechen davon, daß Amerika wieder zum Zentrum der Kreativität geworden ist. Das ist wahr. Es hat sich eine Menge bei Forschung und Technologie bewegt, während wir in der gleichen Zeit den Forschungsetat deutlich abgesenkt und auf den wichtigen Zukunftsfeldern reduziert haben. Das gilt für Informations- und Kommunikationstechnik, für Bionik, für Mikrosystemtechnik, für Umwelttechnik und für eine ganze Reihe von wichtigen Zukunftstechnologien. Die Elite der deutschen Forschung hat vor wenigen Tagen ein „Manifest gegen den Niedergang" veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt: Die Bundesrepublik Deutschland ist in Gefahr, entscheidende Zukunftschancen zu verspielen .. . Eine Politik, die Ausbildung und Forschung keine Priorität einräumt, verspielt die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Sie nimmt der Jugend das Vertrauen in die Zukunft und den Mut zum vorausschauenden Handeln. Wenn diese Elite der deutschen Forschung fordert, daß man endlich umdenkt und neue Ansätze findet - gerade auch bei Forschung und Technologie, bei Innovation -, dann ist das ein Alarmsignal, das wir aufgreifen müssen. Wir können die Politik nicht so weitertreiben und die Anstrengungen in bezug auf die Schlüsselfragen der Zukunft reduzieren. ({1}) Das sind Punkte, die wir sehen müssen. Es ist einmal gut, sich das am amerikanischen Beispiel vor Augen zu führen. Wir waren früher die Ausbildungsadresse Nummer 1 in der Welt. Wenn Sie sich ansehen, wo heute die Eliten von morgen aus Japan, Indonesien und Indien ausgebildet werden, dann werden Sie feststellen, daß dies überwiegend in Amerika geschieht. In Amerika werden gegenwärtig 80 000 Inder an den Universitäten ausgebildet; bei uns sind es 800 - unsere deutschen Universitäten sind auch in einem schlechten Zustand. In Amerika werden 100 000 Japaner ausgebildet; bei uns sind es 1 300. ({2}) - Das sind ganz wichtige Zahlen, weil man weiß, daß die Auszubildenden von heute die Geschäftspartner von morgen sind. Das ist doch völlig klar. ({3}) Das heißt: Wir haben auf diesem Sektor eine ganze Menge Defizite sich aufstauen lassen, über die wir dringend reden müssen. Schauen Sie sich nicht zuletzt einmal die Situation im Bereich der Existenzgründungen an! In Amerika sind die Bedingungen für Existenzgründer, zum Beispiel in bezug auf das Risikokapital, wesentlich besser. Wir haben auf diesem Sektor einen erheblichen Nachholbedarf. Deswegen bin ich dafür, daß man das amerikanische Beispiel nicht schwarzweiß malt und nicht nur auf die „bad jobs" schaut, die es in der Tat gibt und die ein soziales Problem darstellen. Aber es gibt viele interessante Entwicklungen, auf die wir eingehen müssen. In diesem Bereich hat Deutschland viel verschlafen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, daß wir mit dem Hauptstadtumzug, für den sehr viel Geld ausgegeben werden muß, eine große Chance hätten, eine Lokomotive für den Durchbruch zur Informationsgesellschaft in diesem Lande zu bekommen? Wie bewerten Sie das, was die Bundesregierung unter (fiesem Aspekt in ihren bisherigen Planungen bezogen auf Parlament und vor allen Dingen auch auf (lie entsprechenden Ministerien gemacht hat?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist überhaupt keine Frage: Wenn wir über die Zukunft der Wirtschaft nachdenken, dann müssen wir nicht nur die Ärmel hochkrempeln, wir müssen auch das Denken umkrempeln. Dazu gehört, daß man versucht, neue Techniken wie die Informationstechnik zu nutzen. Diese Techniken werden im Zusammenhang mit der Entscheidung für Berlin als Metropole bis jetzt völlig unzulänglich genutzt. Das ist völlig klar. Es gibt konkrete Beispiele, mit denen man nachweisen kann, daß man altertümlich reagiert: Man packt alles in den Speditionswagen und zieht dann irgendwann um; Stichwort: Umzugsunternehmen Deutschland. Man kann die Probleme mit Hilfe der Informationstechnik sehr viel einfacher lösen. Da gebe ich Ihnen vollständig recht. Wir haben auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnik ein Riesenpotential, das wir leider viel zu wenig nutzen, nicht nur bei der Hauptstadtfrage, nicht nur bei dem Umzug, sondern auch bei vielen anderen Fragen wie den Existenzgründungen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Otto Schily?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei mir ist die Uhr schon abgelaufen. Aber natürlich gestatte ich die Zwischenfrage.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Mosdorf, hatten Sie auch den Eindruck, daß der Kollege Fischer mit seiner Zwischenfrage daran erinnern wollte, daß die SPD sehr vernünftige Vorschläge gemacht hat, den Umzug von Bonn nach Berlin im Sinne der Modernisierung der Bundesverwaltung zu nutzen, und daß die Bundesregierung diese Vorschläge leider in den Wind geschlagen und sich dafür eine scharfe Rüge des Bundesrechnungshofes eingehandelt hat?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das kann ich nur bestätigen. ({0}) Es ist überhaupt keine Frage: Die Chance eines solchen Neuanfangs ist nicht genutzt worden. Herr Schily, lassen Sie mich folgendes hinzufügen und damit zum Schluß kommen: Ich glaube, daß die Chance des Neuanfangs nicht nur im Zusammenhang mit der Hauptstadtfrage, sondern allgemein in der Wirtschaftspolitik gesucht werden muß. Wir müssen von dem Grundsatz ausgehen, daß wir vor fundamentalen Veränderungen stehen und daß wir uns diesen Veränderungen stellen müssen, und zwar mit offensiven Konzepten. Wer zu spät die Kosten berücksichtigt, der ruiniert die Substanz eines Unternehmens. Wer zu früh allein die Kosten betrachtet, der tötet die Kreativität. Mein Eindruck ist, daß die Bundesregierung sowohl zu spät wie auch zu früh handelt, nämlich sowohl die Kreativität tötet wie auch die Kosten über Jahre hat steigen lassen. Wir stecken in unserem Land jetzt in einem Reformstau. Wir kommen aus diesem Reformstau nicht heraus, wenn zu den leeren Kassen auch noch die leeren Köpfe kommen. Wir kommen nur mit einer neuen und intelligenten Wirtschaftspolitik aus dieser Krise heraus. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem ich mir diese Regierungserklärung und die Debattenbeiträge angehört habe, muß ich eine Anmerkung machen: Wo sind denn eigentlich all die Herren, die verlangt haben, daß wir in diesem Parlament miteinander diskutieren? Wo ist Herr Schäuble, der gesagt hat, er finde es nicht gut, wenn hier permanent Reden verlesen werden, statt daß man wechselseitig auf die Debattenbeiträge eingeht? ({0}) Herr Kohl ist nicht mehr da, Herr Waigel ist nicht mehr da, Herr Schäuble ist nicht mehr da. Auch Herr Stoltenberg, der so dringend angemahnt hat, daß wir mit ihm diskutieren, ist nicht mehr da. Das ist eine peinliche Situation. Das ist keine Debattenkultur, wie es die eben genannten Herren, die sie angemahnt haben, hier präsentieren. ({1}) - Sie sind die Regierung, Sie haben die Vorschläge vorgelegt. Es ist eine Frage der Kultur, ob Sie bereit sind, mit der Opposition darüber zu reden, oder nicht. ({2}) Bleibt es bei den Vorschlägen, die im Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt und in den Debattenbeiträgen noch einmal verstärkt worden sind - ich will zum Kern dieser Frage kommen, nämlich nicht zu den phantastischen Vorschlägen für die nächsten fünf bis zehn Jahre, sondern zu dem, was der Jahreswirtschaftsbericht zur Konjunkturentwicklung, zu den Fakten der Arbeitsmarktlage und zur Entwicklung in Ostdeutschland sagt -, dann wird es auch in diesem und im nächsten Jahr dramatisch steigende Arbeitslosenzahlen im Vergleich zum Vorjahr geben. Von dieser Debatte geht für die Millionen Arbeitslosen in diesem Land kein Zeichen der Hoffnung aus, leider kein einziges. ({3}) Dabei haben Sie eigentlich günstige weltwirtschaftliche Bedingungen. Die Konjunktur hat sich von dem Schwächeanfall zu Beginn des letzten Jahres erholt, wenn auch nur zögerlich. Die Exporte haben schon in 1996 kräftig zugelegt. Im Jahr 1997 wird es wieder einen kräftigen Zuwachs geben, besagt der Jahreswirtschaftsbericht und sagen die Institute. 1996 gab es einen neuen Rekord mit über 100 Milliarden DM Exportüberschuß, und er soll im Jahre 1997 sogar auf 120 Milliarden DM steigen. Die Gründe für die schwache Konjunktur und die steigenden Arbeitslosenzahlen liegen also nicht im globalen Wettbewerb, wie uns Minister Rexrodt, Herr Stoltenberg und Herr Schäuble weismachen wollen. Denn die Exportkonjunktur boomt und steigt zu neuen Nachkriegsrekorden weiter an. Sie liegen auch nicht in der Konkurrenz der Niedriglohnländer, sonst gäbe es keine Handelsbilanzüberschüsse mit unseren östlichen Nachbarn und den meisten Ländern Südostasiens. Warum springt also der Funke nicht vom boomenden Export auf die schwache Binnenkonjunktur über, wie das in den Nachkriegskonjunkturen noch immer der Fall war? Warum gibt es eine Lethargie bei den Ausrüstungsinvestitionen? Gerade einmal 4 Prozent Zuwachs - das sind die schwächsten Investitionen, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Westeuropa haben, in Ihrer Regierungszeit. ({4}) Warum gibt es beim Bau einen Produktionseinbruch, der sich auch 1997 fortsetzen wird, wenn man die weiteren Kürzungen bei den öffentlichen Investitionen sieht, insgesamt um mehr als 2 Prozent? Warum bleibt der private Verbrauch mit plus 1,5 Prozent so schwach? Warum wird das Bruttoinlandsprodukt auch nach den optimistischen Schätzungen gerade einmal um 2,5 Prozent zunehmen? Wie wir alle wissen, ist dieses schwache Wachstum weder ausreichend, um ein weiteres Ansteigen der Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, noch genügend, um das Standortproblem Ostdeutschlands zu lösen. Ostdeutschland allein brauchte zehn Jahre lang Wachstumsraten von 4 bis 5 Prozent, um Anschluß zu finden und um ohne großen Transferbedarf auf eigenen Beinen stehen zu können. Herr Kollege Krüger, wenn man diese schwachen Dinge, die im Jahreswirtschaftsbericht stehen, und das, was Sie vorgeschlagen haben und was noch nicht einmal innerhalb der Koalition konsensfähig ist, betrachtet, dann kann man nur sagen: Es wird Nacht in Ostdeutschland, wenn es mit den Vorschlägen der Koalition so weitergeht. ({5}) Wenn man sich Ihre Reden anhört und die Lehren der Neoliberalen, nach denen diese Koalitionsregierung 15 Jahre lang vorgegangen ist, verfolgt, dann dürfte es derartige Arbeitslosenzahlen und eine derartige Investitionslethargie gar nicht geben. Denn an den Löhnen kann es nicht liegen. 15 Jahre lang sind die Reallöhne schwächer gestiegen als die Arbeitsproduktivität. Wo sind denn Herr Stoltenberg oder Herr Schäuble? Beide haben hier erzählt, die Tariflöhne seien schuld gewesen. Auf welche Lohnquote, bezogen auf das Bruttosozialprodukt, wollen Sie die Arbeitnehmer denn noch zurückdrängen - zurück auf das Niveau der 40er Jahre? ({6}) Denn das Niveau, das Ende der 60er Jahre bestand, haben Sie bereits erreicht. Bezüglich der Masseneinkommen sollten auch Sie einmal zur Kenntnis nehmen: Sie haben die Einkommensverteilung zugunsten der Unternehmer massiv verbessert. Die Steuerquote beim Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen liegt mittlerweile bei unter 25 Prozent. Es waren SpiegelfechDr. Sigrid Skarpelis-Sperk tereien und Ablenkungsmanöver, die Ihre Herren hier vorgenommen haben, als sie mit Nominalzahlen hantiert haben. Sie wissen doch selber, daß Deutschland im europäischen Vergleich im Bereich der Unternehmensteuern kein Hochsteuerland ist, sondern im Mittelfeld liegt. Auch das Preisniveau ist stabil. Eigentlich haben Sie hervorragende Angebotsbedingungen zur Verfügung. Es hat dennoch keine wesentliche Beschleunigung der Investitionsdynamik gegeben - im Gegenteil. Ihre Politik aber setzt seit 15 Jahren auf dasselbe Pferd: auf die Verbesserung der Angebotsbedingungen und auf den Export. Sie begreifen eines nicht: Zwei Drittel der Arbeitsplätze in diesem Land hängen nicht vom Export ab, der wichtig ist, sondern davon, wie sich die Binnenkonjunktur entwickelt. Die kümmert Sie bei all Ihren Erklärungen einen feuchten Kehricht. ({7}) Seit 15 Jahren haben Sie die wirtschaftspolitische Verantwortung in diesem Land. Trotzdem haben Sie die Stirn, mit keinem Wort über eine Binnennachfrage von gerade einmal 1,5 Prozent Zuwachs zu sprechen. Sie haben die Stirn, nicht darüber zu sprechen, wie es am Bau, in der Gastronomie, im Textilbereich und im Tourismus aussieht. Sie haben die Stirn, kein Wort zu den schwachen Bereichen der Konsumgüterindustrie und zum Dienstleistungsbereich zu sagen. Herr Waigel ist ja nun leider nicht mehr anwesend. ({8}) Frau Karwatzki aber kann man nun wirklich eines mitgeben: Es ist doch phantastisch, mit welchen Sparhaushalten der Bundesfinanzminister Jahr für Jahr antritt. Er spart am Anfang des Jahres. Die öffentlichen Investitionen sind jedes Jahr insgesamt um 4 Prozent zurückgegangen - in diesem Bundeshaushalt um 6 Milliarden DM. Was ist das Ende? Wir haben ein negatives Schuldenparadox: je stärker die Kürzungen, desto höher die Arbeitslosigkeit und desto größer die Löcher in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden. Was Sie im Moment machen, entspricht der klassischen Politik der 30er Jahre, als man mittels der öffentlichen Fiskalpolitik die Wirtschaft zurückfuhr und dadurch höhere Arbeitslosigkeit erzeugte. Ich meine: So kommen Sie nicht zu einer Konsolidierung der Staatshaushalte. Das haben Sie auch im vergangenen Jahr nicht geschafft. So werden Sie auch die Maastricht-Kriterien nicht punktgenau erreichen, sondern zielgenau verfehlen. ({9}) Ungerührt verkünden die Herren Kohl, Waigel und Rexrodt, der Patient Deutschland habe auf die ihm verabreichte Medizin nicht angesprochen, ergo müsse man die Dosis erhöhen. Also noch mehr Steuergeschenke an die Oberen, noch mehr kaputtsparen? Sogar Kanzler Kohl - er ist nicht mehr anwesend - fordert eine mehrjährige Lohnpause für Otto Normalverbraucher. Die sollen den Gürtel noch enger schnallen und weniger Geld bei längeren Ladenöffnungszeiten ausgeben. Diesen Irrwitz soll er einmal jemandem erklären: Die Leute haben real weniger zum Ausgeben, sollen aber während längerer Ladenöffnungszeiten mehr kaufen. Erklären Sie mir einmal, wie das gehen soll! ({10}) - Davon verstehen Sie weiß Gott nichts, wie Leute mit weniger Geld mehr ausgeben können. Das zeigen Sie mir erst einmal; vielleicht schaffen Sie das. ({11}) Auf die Idee, daß das die falsche Medizin ist, die Sie dem Patienten zehn Jahre lang verordnet und eingetrichtert haben, sind Sie allerdings nicht gekommen. Deswegen ist das Vernünftigste, was das deutsche Volk derzeit tun könnte: Es sollte sowohl den Arzt wie auch die Therapie wechseln. Solange Sie trotz Außenhandelsüberschüssen und neuen Rekorden immer nur auf eine Seite starren und vergessen, daß zwei Drittel der Arbeitsplätze im Inland geschaffen werden und daß die Stabilisierung der Binnennachfrage einschließlich mehr öffentlicher Investitionen und Zukunftsforschung das eigentliche Problem ist, kann man dem Volk nur anraten: Arzt wechseln, das heißt, Rücktritt der Bundesregierung und eine vollständig neue Therapie. Sie haben 15 Jahre lang Zeit gehabt, vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen; aber von Aufschwung zu Aufschwung hat es nur höhere Arbeitslosenzahlen und höhere Staatsschulden gegeben. Ich meine, Sie gehören weg, damit sich die Situation verbessert. ({12}) - Zuruf von der CDU/CSU: Der Beifall ist genauso dürftig wie die Rede!)

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6800, 13/6903 und 13/6200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, Drucksache 13/6963, soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Jahreswirtschaftsbericht. Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6966 zur Großen Anfrage soll zur federführenden Beratung dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung dem Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Überwindung von Reformblockaden; das ist Drucksache 13/5077. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3713 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 n sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: 14. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zweiten und Dritten Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals ({0}) - Drucksache 13/6440 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({1}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung fahrpersonalrechtlicher Vorschriften - Drucksache 13/6629 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({2}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen - Drucksache 13/6671 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({3}) Rechtsausschuß d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung - Drucksache 13/197 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes - Drucksache 13/6619 ({4}) Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes - Drucksache 13/6830 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({6}) Ausschuß für Gesundheit g) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Ausweis der Mittel für den Bundesnachrichtendienst - Drucksache 13/6531 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Brigitte Adler, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reinheitsgebot bei Schokolade - Drucksache 13/6536 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({7}) Ausschuß für für Gesundheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Schmidbauer ({8}), Klaus Kirschner, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rettungsdienst in der gesetzlichen Krankenversicherung - Drucksache 13/6578 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bierstedt, Dr. Ruth Fuchs und der Gruppe der PDS Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates - Drucksache 13/6778 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({9}) Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union k) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der Waldmann-Kaserne in München - Drucksache 13/6832 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer l) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({10}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Kontrollkriterien für die Bewertung und Entscheidung bezüglich neuer Technologien im Rüstungsbereich - Drucksache 13/6449 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({11}) Ausschuß für Wirtschaft Verteidigungsausschuß Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß m) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({12}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: „Möglichkeiten und Probleme bei der Verfolgung und Sicherung nationaler und EG-weiter Umweltschutzziele im Rahmen der europäischen Normung" - Drucksache 13/6450 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union n) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({14}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Machbarkeitsstudie zu einem „Forum für Wissenschaft und Technik" - Drucksache 13/6451 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({15}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfes eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. Juni 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinten Nationen und dem Sekretariat des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen über den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens - Drucksache 13/6917 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfes eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Mai 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Hongkong über den Fluglinienverkehr - Drucksache 13/6918 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({16}) Finanzausschuß c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll II in der am 3. Mai 1996 geänderten Fassung und zum Protokoll IV vom 13. Oktober 1995 zum VN-Waffenübereinkommen - Drucksache 13/6916 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({17}) Verteidigungsausschuß d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Völker Kröning, Uta Zapf, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD VN-Waffenübereinkommen und Durchsetzung eines vollständigen Verbots von AntiPersonen-Minen - Drucksache 13/6965 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({18}) Verteidigungsausschuß e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({19}), Volker Beck ({20}), Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Humanisierung der Drogenpolitik ({21}) - Heroinverschreibung - Drucksache 13/3671Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({22}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15l sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Zunächst kommen wir zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 15 a: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 13/4386 - ({23}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({24}) - Drucksache 13/6721 Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem eben festgestellten Stimmverhältnis angenommen worden. Tagesordnungspunkt 15 b: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({25}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß j 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Frankfurt/ Main, ehemaliges US-Shopping-Center ({26}) - Drucksachen 13/6456, 13/6847 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Susanne Jaffke Kristin Heyne Jürgen Koppelin Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkte 15c bis 15g: c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({27}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1996; Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 01 - Erstattung von Fahrgeldausfällen - - Drucksachen 13/6404, 13/6445 Nr. 4, 13/ 6747 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel Antje Hermenau Ina Albowitz d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({28}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 06 - Zuschuß des Bundes an die Rentenversicherung der Arbeiter in den neuen Ländern ({29}) - und Titel 656 07 - Zuschuß des Bundes an die Rentenversicherung der Angestellten in den neuen Ländern ({30}) - - Drucksachen 13/6176, 13/6352 Nr. 1.1, 13/ 6748 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel Antje Hermenau Ina Albowitz e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({31}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1996; Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 Titel 656 03 - Beteiligung des Bundes in der knappschaftlichen Rentenversicherung - - Drucksachen 13/6360, 13/6445 Nr. 2, 13/ 6749 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel Antje Hermenau Ina Albowitz f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({32}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1996; Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 656 58 - Zuschüsse zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit - ({33}) - Drucksachen 13/6361, 13/6445 Nr. 3, 13/6750 - Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Jürgen Koppelin Karl Diller Kristin Heyne Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({34}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1996; Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 642 01 - Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz - Drucksachen 13/6343, 13/6352 Nr. 1.2, 13/6751 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Pützhofen Jürgen Koppelin Dr. Rolf Niese Wer stimmt für diese fünf Beschlußempfehlungen? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 15 h: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({35}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Neunzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 13/5946, 13/6091 Nr. 2.1, 13/ 6785 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 15 i: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 175 zu Petitionen - Drucksache 13/6839 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 175 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 15j: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 176 zu Petitionen - Drucksache 13/6840 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. vor, der die Beschlußempfehlung 1, die Eingabe gegen die Verlegung des Katholischen Militärbischofsamtes von Bonn nach Berlin, betrifft. Der Kollege Dehnel wird diesen Änderungsantrag, den Sie in Ihren Unterlagen nicht haben, vortragen. Bitte.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Für die CDU/CSU-Fraktion und die F.D.P.-Fraktion möchte ich einen Änderungsantrag vortragen: Der Bundestag möge beschließen, die Petition 5-13-14-5821-027004 betreffend Militärbischofsamt der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielen Dank. - Um diesen Änderungsantrag geht es jetzt. Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Schmidt gemeldet.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will an dieser Stelle das Verfahren monieren, das dazu geführt hat, daß wir nun ein unendliches Hin und Her haben. Der Petitionsausschuß hatte eine klare Entscheidung getroffen, nämlich, diese Petition, die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Militärbischofsamtes kommt, zur Berücksichtigung zu überweisen. Das ist eine sehr starke Form. Das hätten wir heute mit Recht, wie ich finde, auf dem Tisch haben können, und darüber hätten wir abstimmen können. Die CDU/CSU, die im Ausschuß offensichtlich unterlegen war, versucht nun, durch einen Nachbesserungsantrag wenigstens in die Richtung zu kommen, in die die Berücksichtigungsvorschläge eigentlich weisen. Wir werden deswegen diesem Änderungsantrag der CDU/CSU und F.D.P. nicht zustimmen können. Vielmehr finden wir, daß es richtig wäre, diesen Antrag zur Berücksichtigung zu überweisen. Wir werden deswegen gegen den Änderungsantrag, mit dem die Petition zur Erwägung überwiesen werden soll, stimmen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ebenfalls zur Geschäftsordnung hat sich die Kollegin Nickels gemeldet.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ein wenig zur Aufklärung beitragen. Ich rede zur Geschäftsordnung. Es gab im Petitionsausschuß eine überwältigende Mehrheit für diesen Berücksichtigungsbeschluß. Inhaltlich waren wir uns alle vollkommen einig. Wir haben gesagt, daß wir es richtig finden, daß die Bundesoberbehörde Katholisches Militärbischofsamt da zu sein hat, wo das Verteidigungsministerium seinen ersten Sitz hat, und der ist in Bonn. Jetzt geht es um die Voten. Der Petitionsausschuß hat mit Mehrheit beschlossen, diese Petition zur Berücksichtigung zu überweisen. Die Mehrheitsverhältnisse sind klar; es sind die gleichen wie im Plenum. Jetzt bittet die CDU/CSU-Fraktion darum, einen Erwägungsbeschluß zu fassen. Die Stoßrichtung ist die gleiche. Nur ist „Erwägung" etwas schwächer; sie ist ein starker Prüfauftrag mit der Maßgabe, Abhilfe zu schaffen. Warum sich Ihre Meinung in zwei Wochen ändert, können wir nicht beurteilen. Ich bin aber froh, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, daß Sie einen Antrag nach § 112 unserer Geschäftsordnung gewählt haben, über den wir heute abstimmen können; denn ursprünglich war darum gebeten worden, die Petition in den Ausschuß zurückzuüberweisen. Das wäre allerdings wirklich ein Präzedenzfall für ein nicht mehr arbeitsökonomisches Verfahren gewesen. Daher stimme ich dem Geschäftsordnungsantrag zu, Herr Dehnel, diesen Änderungsantrag heute aufzusetzen. Unsere Fraktion wird aber bei dem Berücksichtigungsbeschluß bleiben und Ihren Antrag zur Sache ablehnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit können wir jetzt über den eben verlesenen Änderungsantrag abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition und eine Stimme aus der CDU/CSU angenommen worden. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses mit der soeben beschlossenen Änderung ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der gesamten Opposition angenommen worden. Tagesordnungspunkt 15 k: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 177 zu Petitionen - Drucksache 13/6841 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 151: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 178 zu Petitionen - Drucksache 13/6842 Dazu liegt ein gemeinsamer Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/6981? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Wer stimmt für die Sammelübersicht 178 in der Ausschußfassung? - Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 178 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Zusatzpunkt 4: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({2}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Einhundertzweiunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 13/6161, 13/6352 Nr. 2.1, 13/6976 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der gesamten Opposition angenommen worden. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS Sorge um Arbeitsplätze und Leistungsabbau bei der Post Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerhard Jüttemann.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die berechtigten Protestdemonstrationen der Beschäftigten der Deutschen Post AG am Montag und die anstehende Entscheidung der Regierungskoalition am Dienstag machten es aus Sicht der PDS nötig, eine Aktuelle Stunde einzufordern. Der bisher kursierende Entwurf der Bundesregierung für ein neues Postgesetz verhieß sowohl den Beschäftigten der Deutschen Post AG als auch deren Kunden eine wenig erfreuliche Zukunft. Denn für Tausende der ersteren bedeutet dieser Entwurf schlicht ihre baldige Entlassung, und für Tausende von Postfilialen bedeutet er die Schließung mit entsprechenden Folgen für die Bevölkerung. Daraus ist nie ein Geheimnis gemacht worden. 35 000 Arbeitsplätze will die Post AG bis zum Jahr 2000 vernichten, nachdem seit 1989 schon 70 000 Arbeitsplätze abgewickelt worden sind. Außerdem sollen weitere 7 000 bis 8 000 Postfilialen geschlossen werden. Das alles ist landesweit bekannt. Aber die Bundesregierung als 100prozentiger Eigentümer der Post denkt gar nicht daran, irgendeinen Versuch zu starten, dieses Katastrophenprogramm zu stoppen. Ganz im Gegenteil: Am Dienstag dieser Woche hat sich diese Regierung gedacht „Wenn schon, denn schon" und noch einen draufgesetzt: Freigabe aller Briefe über 100 Gramm für den Wettbewerb. Die Reaktion der Deutschen Post AG kam prompt. Sie kündigte als Konsequenz aus diesem sogenannten Kompromiß der Bundesregierung einen - ich zitiere -„dramatischen Abbau von Arbeitsplätzen" sowie Portoerhöhungen an. Beides - der dramatische Abbau von Arbeitsplätzen und die Portoerhöhungen - war doch sowieso schon anvisiert. Was erwartet die Bürgerinnen und Bürger und die Postbeschäftigten denn jetzt? Wie viele Menschen werden jetzt über die geplanten 35 000 hinaus zusätzlich entlassen? Ich frage das die Damen und Herren von der Bundesregierung und die Initiatoren dieses Beschlusses vom Dienstag - die F.D.P. -, die sonst nicht müde werden, uns Tag für Tag zu erklären, daß sie die Arbeitslosenzahlen bis zum Jahr 2000 halbieren wollen. Ist der „Postkompromiß" vielleicht Teil dieses Programms? Sie erklären uns, der sogenannte Wettbewerb werde Arbeitsplätze schaffen. Abgesehen davon, daß bei Fremdfirmen auch nicht annähernd so viele Arbeitsplätze entstanden sind, wie die Post AG vernichtet hat: Haben Sie sich einmal angesehen, was für Arbeitsplätze da entstehen? ({0}) Es sind zum allergrößten Teil prekäre Arbeitsverhältnisse, nicht sozialversichert, weit unter Tarif bezahlt. ,,Turnschuhbrigaden" werden diese Beschäftigten, die keine Chance auf ein Normalarbeitsverhältnis mehr haben, von der Deutschen Postgewerkschaft genannt. Werden Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, erst Ruhe geben, wenn Sie das ganze Land zu einem „Turnschuhbrigadeland" gemacht haben? ({1}) Sie erklären uns weiter, ihr Wettbewerb führe zur Portoabsenkung. Warum weiß die Post das nicht? Warum hat sie gerade als Reaktion darauf weitere Portoerhöhungen angekündigt? Warum gibt es auch im Paketbereich, der schon seit über 20 Jahren im Wettbewerb steht, keine fallenden, sondern ständig steigende Preise? Die Europäische Union hat im Dezember vergangenen Jahres beschlossen, bis zum Jahr 2002 lediglich 2 Prozent des gesamten innergemeinschaftlichen Zustellverkehrs für den Wettbewerb freizugeben. Sie hatte gute Gründe dafür. In der Bundesrepublik dagegen sind schon jetzt 5 Prozent freigegeben. Ab 1998 wären es nach dem ursprünglichen Postgesetzentwurf 25 Prozent gewesen, jetzt werden es 43 Prozent sein. Sie wissen, daß das nur das Ende der Deutschen Post AG bedeuten kann - mit all den katastrophalen sozialen Folgen, die ein solcher Niedergang hervorrufen müßte. Vielleicht ist es ja gerade das, was Sie eigentlich anstreben. Aber dann sagen Sie es hier klipp und klar, damit alle wissen, woran sie sind. Wir fordern von der Bundesregierung in dieser aktuellen Stunde fünf Dinge: Erstens. Ein unbefristetes Monopol der Deutschen Post AG für Briefpost einschließlich Direktwerbung bis 350 Gramm. Zweitens. Im Postgesetz müssen für alle Anbieter postalischer Dienstleistungen soziale Standards festgelegt werden, die ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zulassen, Tarifbindung und umfassenden Kündigungsschutz gewährleisten sowie Scheinselbständigkeit ausschließen. Drittens. Es müssen Leistungsgarantien festgelegt werden, die einen qualitativ hochwertigen und flächendeckenden Universaldienst zu erschwinglichen Preisen gewährleisten. Viertens. Das gegenwärtige Postfilialnetz muß in vollem Umfang erhalten und durch Erweiterung der vorgehaltenen Produktpalette um kommunale und private Dienstleistungen kontinuierlich ausgebaut werden. Fünftens. Bei der Liberalisierung des Postwesens dürfen sowohl dem Inhalt als auch dem Tempo nach in der BRD keine schärferen Kriterien gelten als innerhalb der Europäischen Union. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Wolfgang Bötsch.

Dr. Wolfgang Bötsch (Minister:in)

Politiker ID: 11000228

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! In dieser Woche stand und steht die Post besonders im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Die Regierungskoalition hat sich vorgestern auf die Grundlinien eines neuen Postgesetzes geeinigt. Am Montag fand eine Großdemonstration der Deutschen Postgewerkschaft statt, eine nach Art. 5 unserer Verfassung zulässige Vertretung von Meinungen und Interessen. ({0}) - Wollen Sie das bestreiten, Herr Kollege Barthel? - Nein. Heute beschäftigt sich der Bundestag mit dem Thema „Sorge um Arbeitsplätze und Leistungsabbau bei der Post". Das ist das Thema der Aktuellen Stunde, aber nicht das, was über die Agenturen durch die Pressestelle des Deutschen Bundestages verbreitet wurde. Herr Kollege Jüttemann, ich kenne Sie aus dem Ausschuß eigentlich als einen sehr umgänglichen Kollegen. Und auch bei sonstigen Zusammenkünften im Ministerium kann man mit Ihnen reden. ({1}) Das steht etwas im Gegensatz zu der Inszenierung Ihres Auftritts heute. Lassen Sie mich zunächst einmal auf das Thema Arbeitsplätze eingehen, den ersten Teil im Titel dieser Aktuellen Stunde. Ich will betonen, daß ich für jeden Verständnis habe, der sich Sorgen um seinen Arbeitsplatz macht, auch für jeden, der deswegen demonstriert. Das gilt für die Beschäftigten der Post ebenso wie für die Beschäftigten im Kohlebergbau und viele andere Arbeitnehmer hier bei uns in Deutschland. ({2}) - Ich rede als Postminister, und da sage ich meine Meinung, Herr Kollege Schmidt. Andererseits darf aber kein verantwortungsbewußter Politiker die Augen vor der Realität verschließen. Und diese Realität heißt: Sicher sind mittelfristig nur solche Arbeitsplätze, die sich auch betriebswirtschaftlich rechnen. Wer hier mehr verspricht, handelt unredlich. Auch die Deutsche Post AG kann sich diesen ökonomischen Notwendigkeiten nicht verschließen. Wie Sie wissen, werde ich in der nächsten oder übernächsten Woche einen Entwurf für das neue Postgesetz in das Kabinett einbringen. Dieser sieht vor, die Postmärkte ab 2003 vollständig dem Wettbewerb zu öffnen. Das Entstehen von Wettbewerb erfolgt aber nicht alleine durch die formale Liberalisierung der Postmärkte. Vielmehr sind bereits heute viele Postdienstleistungen, auch Briefe, einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt. Telefax und E-mail ermöglichen das Übersenden von schriftlichen Nachrichten innerhalb weniger Augenblicke. Es gibt also hier schon Wettbewerb. Werbesendungen unterliegen auch der Konkurrenz mit anderen Werbemedien, etwa dem Fernsehen. In einem solchen wettbewerblichen Umfeld kann sich die Deutsche Post AG keine unproduktiven Arbeitsplätze erlauben. ({3}) - Der weiß das auch. Mit der von uns vorgesehenen befristeten Exklusivlizenz eröffnen wir der Post aber die Möglichkeit, den notwendigen Arbeitsplatzabbau sozial verträglich zu gestalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Begriff des „Leistungsabbaus", wie es in dem Titel der Aktuellen Stunde heißt, kommen. Zunächst möchte ich feststellen, daß ich den Begriff „Leistungsabbau" im Zusammenhang mit der Post schlichtweg für unzutreffend halte. Sie strukturiert um, und dies ist notwendig. ({4}) Die Post ist dabei, sich auf den Wettbewerb einzustellen. Dies liegt nicht nur im unternehmerischen Interesse der Post, Herr Kollege Bury, dies ist vielmehr auch politisch so gewollt. Leistung und Qualität verbessern heißt das Gebot der Stunde - und nicht Leistungsabbau. Ein Unternehmen, das dem Wettbewerb ausgesetzt ist oder demnächst insgesamt den Wettbewerb zu bestehen hat, kann sich gar keinen Leistungsabbau erlauben. ({5}) Die Post hat hier in den letzten Jahren viel getan. Mit Hilfe von Automatisierung und organisatorischen Änderungen hat sie erreicht, daß 90 Prozent aller Briefe - auch im wiedervereinigten Deutschland - am nächsten Tag zugestellt werden. Verbesserungen bei der Schnelligkeit und der Zustellungsqualität hat sie auch im Frachtbereich erreicht. Allerdings ist die Kostensituation nach wie vor derart ungünstig, daß Defizite zu verzeichnen sind. Die Post arbeitet mit Hochdruck daran, ihre Qualität zu verbessern, und läßt ihr Qualitätsprofil durch externe Institute laufend überprüfen. Wenn die Post heute bestimmte Schalter schließt, weil sie aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden können, so ist das auch darauf zurückzuführen, daß die Kunden - zumindest in ihrer Mehrheit - diese Leistungen zuwenig in Anspruch nehmen. Wenn Sie heute in einem Dorf fragen, ob eine Postfiliale im Ort erhalten werden soll, werden Sie kaum jemanden finden, der mit Nein antwortet, nicht einmal der örtliche Abgeordnete der F.D.P. wird mit Nein antworten. ({6}) Die örtliche Poststelle nutzen dann aber doch nur wenige. Vom Verkauf von zwei, drei Briefmarken am Nachmittag kann eine Poststelle allerdings wirtschaftlich nicht betrieben werden. ({7}) Irgend jemand muß die Kosten dafür tragen. Das ist eine ähnliche Situation, wie wir sie bei Streckenstillegungen bei der Bahn zu verzeichnen hatten. Dort gab es Demonstrationen am Ende der Stichbahn, und nach der Demonstration sind die Leute in den bereitgestellten Omnibus wieder eingestiegen und zurück in die Kreisstadt gefahren. Sie hätten den Bahnhof überhaupt nicht gefunden, geschweige denn, daß sie die Absicht hatten, mit der Bahn zurückzufahren. Eine ähnliche Situation haben wir auch bei der Post. Die Leute erledigen ihre Postgeschäfte einfach dort, wo sie arbeiten: im Zentrum. ({8}) Darauf muß Rücksicht genommen werden. Man wird hier und da auch auf Agenturen umstellen. Ich bekenne mich dazu, daß ich ein Anhänger des Agenturmodells bin. Das ist für den Kunden besBundesminister Dr. Wolfgang Bötsch ser, als wenn er eine Poststelle hat, die nur drei Stunden geöffnet ist. ({9}) Da muß er immer die genauen Öffnungszeiten im Kopf haben. Es ist besser, wenn er eine Agentur hat, die - ohne oder mit Änderung der Ladenöffnungszeiten - den ganzen Tag geöffnet ist, und dort die postalischen Leistungen entgegennehmen kann. ({10}) Ich weiß, Frau Kollegin Fuchs, daß man nicht überall ausschließlich mit betriebswirtschaftlichen Kriterien arbeiten kann. Daher gibt es gegenwärtig auch noch Monopol- und Pflichtleistungen, die die Post erbringen muß, auch wenn die Kosten nicht in jedem einzelnen Segment gedeckt werden können. Ich habe im letzten Jahr die Postkundenschutzverordnung erlassen, in der genau geregelt ist, mit welcher Qualität die Post Leistungen erbringen muß. Auch Regelungen zur Schalterdichte sind darin getroffen und Regelungen, wie man etwa mit Kommunalpolitikern, mit Abgeordneten vor Ort umzugehen hat, wenn man Schließungen beabsichtigt. Herr Kollege Bury, ich stehe nicht an, mich bei Ihnen für die Vorstöße zu bedanken, die Sie gerade in dieser Frage immer wieder gemacht haben. Ich habe dieser Tage noch einmal einen Brief des Vorsitzenden der Deutschen Post AG erhalten, in dem er mir ausdrücklich bestätigt, daß Anweisung gegeben ist, sich an diese Kriterien zu halten. Ich werde Ihnen den Brief zuleiten, weil Sie mir einzelne Fälle genannt haben, in denen dies nicht der Fall war. Meine Damen und Herren, auch in Zukunft, das heißt nach der vollständigen Liberalisierung der Postmärkte, wird es einen Universaldienst geben, der bereitgestellt werden muß. Das ergibt sich aus dem Grundgesetz. Unser Ziel ist es aber, diesen Universaldienst mit möglichst wettbewerbskonformen Mitteln sicherzustellen. Meine Damen und Herren, wir werden im Laufe der nächsten Wochen bei verschiedenen Gelegenheiten, in der ersten Lesung, in der zweiten Lesung und sicherlich auch in der Öffentlichkeit, Gelegenheit haben, über das neue Postgesetz, das notwendig ist, weil unser jetziges am 31. Dezember ausläuft, zu diskutieren. Dann werden wir sicherlich auf die Details noch einzugehen haben. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Martin Bury.

Hans Martin Bury (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000312, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Endlich debattieren wir im Deutschen Bundestag über die Pläne der Regierungskoalition für das neue Postgesetz. Viel zu lange streiten sich CDU/CSU und F.D.P. schon über einen Referentenentwurf des Bundespostministers. Schon der Entwurf war nicht gut, das Ergebnis des Koalitionsgezerres ist noch schlechter. ({0}) Die Fraktion „Feinde der Post" , kurz: FDP, tritt die Interessen von Postkunden und -beschäftigten mit Füßen. ({1}) Das Monopol, das schleunigst fallen muß, meine Damen und Herren, ist nicht das Briefmonopol der Post, sondern das Monopol der F.D.P. auf das Bundeswirtschaftsministerium. ({2}) Die hohlen Phrasen von Liberalisierung und Arbeitsplätzen helfen uns ebensowenig wie der Glaube der PDS an Kundenorientierung und Erfolg staatlicher Behörden in Wettbewerbsmärkten. Die SPD will eine schrittweise und kontrollierte Marktöffnung im Einklang mit der Europäischen Union zum Nutzen der Verbraucher. ({3}) Wir wollen auch in Zukunft flächendeckend zuverlässige und preisgünstige, hochwertige Postdienstleistungen für alle sicherstellen. Das Unternehmen, das diesen Infrastrukturauftrag erfüllt, die Deutsche Post AG, muß zur Deckung der bestehenden und entstehenden Sonderlasten einen entsprechenden finanziellen Ausgleich erhalten. Zu diesem Zweck soll die Deutsche Post AG einen reservierten Bereich behalten, aus dem sie die notwendigen Erträge zur Deckung von Defiziten bei der Erbringung des Universaldienstes erzielt. ({4}) - Ich komme zu Ihrer Frage, Herr Kollege Weng. - Dieser reservierte Bereich muß Briefsendungen und Infopost enthalten. Er darf nicht von vornherein befristet sein und soll regelmäßig überprüft und gegebenenfalls angepaßt werden. Die „Koalition der Posträuber" will das Monopol mit dem Fallbeil beenden, aber Sie wollen nicht dafür verantwortlich sein, daß dann Köpfe rollen. Reichen Ihnen 4,7 Millionen registrierte Arbeitslose in Deutschland immer noch nicht? ({5}) Mit dem SPD-Konzept, das dem Bundestag bereits seit Mai letzten Jahres vorliegt, wird ein qualitativ hochwertiges, preisgünstiges und flächendeckendes Postangebot für alle Bürger gesichert. Zugleich geHans Martin Bury ben wir dem Unternehmen die Möglichkeit, in den Wettbewerb hineinzuwachsen und die erforderlichen Anpassungen sozialverträglich vorzunehmen. Wir retten Arbeitsplätze und soziale Sicherheit für die Beschäftigten im Postsektor. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vernichtet weitere Arbeitsplätze. Er provoziert die massenhafte Ausweitung ungeschützter Arbeitsverhältnisse. Herr Kollege Weng, CDU/CSU und F.D.P. belasten mit ihren Plänen Privatkunden sowie kleine und mittlere Unternehmen mit höherem Porto und schlechteren Postdienstleistungen. Wenn es nach Ihnen geht, müssen kleine Leute und Mittelstand zum normalen Porto in Zukunft noch ein Notopfer Bötsch auf den Brief kleben, um die Rabatte der Großkunden zu bezahlen, die die F.D.P. dem Postminister abgenötigt hat. ({6}) Die Regierungskoalition ist nur eines: konsequent - konsequent in ihrer Politik der wirtschaftlichen Unvernunft und der sozialen Kälte. 23 000 Postler haben dieser Bundesregierung am Montag in Bonn die gelbe Karte gezeigt. Es wird höchste Zeit, daß die Menschen in Deutschland Ihnen die rote Karte zeigen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Meister.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte, da in der Überschrift dieser aktuellen Stunde auch vom „Leistungsabbau bei der Post" die Rede ist, in der Tat einen dramatischen Leistungsabbau im Bereich der Post in Deutschland, meine Damen und Herren von der PDS, zugeben. Dies betrifft allerdings einen postfremden Bereich, der sich nicht auf den Transport, sondern auf das Öffnen von Briefen spezialisiert hatte. Wir in der Union betrachten es als wesentlichen Fortschritt, daß wir keine staatlich bestellten Brieföffner und Briefleser in diesem Lande mehr haben, meine Damen und Herren. ({0}) Über diesen Abbau von Leistungen des Staates haben wir allen Grund zur Freude, auch wenn die Antragsteller der Aktuellen Stunde dieses gerne vergessen machen wollen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfahrungen in allen Wirtschaftsbereichen zeigen, daß ein fairer Wettbewerb allen am Wirtschaftsprozeß Beteiligten, insbesondere unseren Bürgern, nutzt. Die Kunden profitieren von Leistungen und günstigeren Preisen. Die Arbeitnehmer müssen sich zwar auf Änderungen einstellen, diese Veränderungen dienen aber dem Aufbau von produktiven und damit langfristig sicheren Arbeitsplätzen. Diese Zusammenhänge wurden und werden von einer großen Mehrheit des Hauses geteilt. Denn nicht zuletzt die Postreform II, die die Grundlage dafür bildet, daß wir jetzt über ein neues Postgesetz diskutieren müssen, wurde von den Regierungsfraktionen und der SPD mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet, meine Damen und Herren. Unbestreitbar bringt die Umwandlung eines Monopolunternehmens für dessen Beschäftigte in der ersten Phase Probleme mit sich. Herr Kollege Bury, man kann eine Umwandlung natürlich nicht verlangen, ohne sich eine Frist zu setzen, wie Sie es eben getan haben. Ein Ziel kann man nur erreichen, wenn man es sich inhaltlich und auch zeitlich klar vorgibt. Wenn Sie die zeitliche Vorgabe weglassen, verwerfen Sie dieses Ziel. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens ergibt sich aus einem guten Verhältnis von Leistung und Preis. Hierfür ist eine Stärkung der Produktivität notwendig sowie eine stärkere Automatisierung. Wir müssen natürlich bilanzieren, daß von den 380 000 Mitarbeitern, die 1990 bei der gelben Post beschäftigt waren, im Jahre 1996 nur noch 290 000 dort beschäftigt gewesen sind. Aber zum einen sollten wir berücksichtigen, daß die Umsetzung und Änderung des Personalstandes sozialverträglich erfolgt ist. Es gab keine Entlassungen. Zum zweiten sollten wir beachten, daß wir in den Bereichen Infopost und Frachtpost heute bereits Mitbewerber und Konkurrenten haben, die über die Arbeitsplätze bei der Post AG hinaus selbstverständlich auch Arbeitsplätze bereitstellen. Damit ist genau das eingetreten, was wir angestrebt haben, daß nämlich nicht nur bei der Post AG Arbeitsplätze existieren, sondern auch bei Wettbewerbern. Auch entspricht es unserer Zielsetzung, daß unsere Gesetzgebung dafür sorgt, daß wir sozial gesicherte Arbeitsplätze haben. Sie sollten, wenn Sie das bestreiten, einmal die Konzepte des Kollegen Blüm nachlesen. Er hat sie vor wenigen Wochen, in der letzten Sitzungswoche, hier vorgetragen. Gerade zum Thema Scheinselbständige und 610-DM-Verträge gibt es klare Vorgaben. Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit günstigerer Tarife - der Herr Postminister hat es angesprochen - ergibt sich selbstverständlich auch auf Grund der internationalen Konkurrenz. Wir haben vor kurzem das Thema Remailing diskutiert. Das Remailing zeigt sehr deutlich, daß wir einen Kostendruck von internationaler Seite auf die Post AG haben und deshalb natürlich Strukturen schaffen müssen, die konkurrenzfähig sind. Der Postminister hat darauf hingewiesen, daß wir mit E-Mail und Fax elektronische Konkurrenz haben. Wir können, Herr Kollege Jüttemann, nicht diesen Wandel in der Welt ignorieren und die Augen zumachen, sondern wir müssen überlegen, wie wir Strukturen schaffen können, die dieser Wandlung in der Welt Rechnung tragen. ({1}) Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen. Die Post AG und auch die Telekom AG haben in Deutschland allein im Jahr 1995 22 Milliarden DM investiert. Diese 22 Milliarden DM schaffen und sichern auch Arbeitsplätze, zwar nicht bei diesen Unternehmen, aber bei Mittelständlern und anderen Unternehmen, die diese Investitionen umsetzen. ({2}) Allein im Bereich Frachtpost- und Briefpostzentren werden 8 Milliarden DM investiert. Wenn wir schon über Arbeitsplätze diskutieren, dann müssen diese Investitionen berücksichtigt werden. ({3}) Letztendlich möchte ich anmerken, daß viele Tante-Emma-Läden, die wir in Deutschland haben, ohne die Umwandlung von Postfilialen in Postagenturen natürlich auch nicht mehr haltbar gewesen wären. Diese Arbeitsplätze wären verlorengegangen, wenn wir nicht die zusätzlichen Dienstleistungen der Post AG integriert hätten. Das sind Tatsachen, die wir vor Ort vorfinden. Ich möchte gar nicht auf die Verbesserung der Serviceleistungen eingehen. Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß wir selbstverständlich Sonderlasten für die Post AG haben: Infrastrukturleistungen, den Universaldienst, die Personalkosten und auch die Pensionszahlungen. Dies allein macht 5 Milliarden DM pro Jahr aus. Wir sind der Meinung, daß eine gleitende Überleitung der Monopolsituation in den Wettbewerb sinnvoll ist. Wir wollen das verträglich für die Mitarbeiter, verträglich für die Kunden machen. ({4}) Aber wir wollen in Zukunft in Deutschland auch hier wettbewerbsfähige Strukturen. Schönen Dank. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Manuel Kiper, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Manuel Kiper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002697, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat mit der Kabinettsentscheidung vom 17. Februar den Angriff auf die Substanz der Post AG beschlossen. Der F.D.P.-Wirtschaftsminister hat die kurzfristige völlige Liberalisierung der Post erzwungen. Dies ist eine Niederlage für Sie, Herr Postminister. Dies ist aber vor allem eine Niederlage für die Garantie der flächendeckenden und kostengünstigen Versorgung mit postalischen Leistungen. Die Bundesregierung opfert den Versorgungsauftrag, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Bundesregierung verspricht - Herr Kollege Meister hat das eben wieder sehr deutlich gemacht -, Wettbewerb schaffe Arbeitsplätze. Aber diese Bundesregierung vernichtet Arbeitsplätze unter dem Liberalisierungsdogma. ({0}) Der Bundeswirtschaftsminister setzt auf überstürzte Liberalisierung des Postmarktes. Herr Rexrodt beschimpft die Briefträger - ich habe das gestern abend erlebt - als schnöde Besitzstandswahrer, als die Leute von gestern; Effizienz sei angesagt, maximaler Wettbewerb solle Effizienz bringen. ({1}) - Sehr richtig, Frau Kollegin. Richtig ist tatsächlich, auf Teilpostmärkten mittel- und langfristig mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Falsch ist es aber, im Postbereich wie bei der Telekommunikation auf maximalen und sofortigen Wettbewerb zu setzen. Die Politik der Bundesregierung ist auch deshalb falsch, weil die Postmärkte dauerhaft völlig anderen Entwicklungen als die Telekommunikationsmärkte unterliegen werden. Die schematische Übertragung der Liberalisierung im Telekommunikationsbereich auf den Postsektor ist ein fataler Kurzschluß. Die Politik der Bundesregierung ist deshalb falsch, weil die postalische Versorgung buchstäblich täglich neu auf die Beine gestellt werden muß. Ohne die Möglichkeit technischer Innovation, ohne finanzielle Absicherung des Infrastrukturauftrags nach Art. 87 f des Grundgesetzes durch einen reservierten Bereich, ohne all dies hieße Wettbewerb nur Abbau der Kundennähe, Filialschließungen und Personalabbau bei der Post AG einerseits und Rosinenpickerei und Sozialdumping bei den Konkurrenten andererseits. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die F.D.P. erzwingt diesen Kurs, weil sie die Steuergeschenke für ihre Klientel finanzieren muß. Die F.D.P. setzt auf diese Karte der radikalen Abmagerung der Post AG mit dem Ziel von nur noch 5 000 Eigenfilialen, um aus dem Verkaufserlös der Post AG die Waigel-Löcher zu stopfen. Die F.D.P. riskiert mit diesem Kurzschluß die Entstehung von Waigel-Kratern durch leere Pensionskassen bei der Post AG. Die F.D.P. erzwingt den Personalabbau von weiteren 30 000 Mitarbeitern bei der Post; die Post zahlt dadurch aber auch weniger in die Pensionskassen. Die Postreform II ist von dieser Bundesregierung so gestrickt worden, daß nunmehr die Finanzlücke bei den Postpensionen, die der Bund schließen muß, um 21 Milliarden DM auf 75 Milliarden DM anwächst. Der Bund ist für die Deckung verantwortlich. Die F.D.P. beschert diesem Land weitere ungedeckte Hypotheken. Dies muß hier in aller Deutlichkeit gesagt werden. ({3}) Damit ist klar: Die Turbo-Liberalisierer von der F.D.P. finanzieren rücksichtslos die Steuergeschenke für ihre Klientel auf Kosten der Zukunft durch noch größere zukünftige Haushaltslöcher. Die CDU hat sich in ihrer Postpolitik wieder einmal vorführen lassen. Die Kollegen Bötsch und Müller sagen, es komme darauf an, den Wettbewerb mit Augenmaß zu gestalten und ihn schrittweise, aber nachhaltig zu fördern. Die Bundesregierung wahrt jetzt aber nicht mehr Augenmaß; vielmehr öffnet sie mit Brachialgewalt und weit jenseits des europäischen Gleichklangs die Postmärkte und gefährdet die Grundversorgung und Tarifeinheit im Raume. Es kommt deshalb jetzt darauf an, erstens den Infrastrukturauftrag ernst zu nehmen, die Tarifeinheit im Raume und Kundennähe der Post zu garantieren. Das Postamt von gestern kann hierbei nicht der Maßstab sein. Bürgerservicebüros, wie wir sie vorgeschlagen haben, Postagenturen oder auch das „Postamt an der Haustür" müssen sich flächendeckend ergänzen. Dieser Infrastrukturauftrag muß finanziell angemessen und langfristig abgesichert werden. Zweitens. Der überstürzte Personalabbau bei der Post AG durch Frühpensionierungen zu Lasten des Bundeshaushalts muß eingeschränkt werden. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit ist eine weiter forcierte Ausdünnung im Postbereich finanz- wie sozialpolitisches Harakiri. Drittens. Die weitere Postreform muß sozial- und ökologisch verträglich gestaltet werden. Herr Wissmann muß sein Versprechen halten, 70 Prozent der Frachtpost auf die Bahn zu bringen. Effizienz hierzulande darf nicht heißen, daß Turnschuhbrigaden ohne Sozialversicherung sozial abgesicherte Arbeitsplätze ersetzen. Meine Damen und Herren, die Post mit ihrem noch einzigartigen Schalter- und Zustellnetz verdient eine Zukunft und nicht die Abrißbirne der F.D.P. Ich danke Ihnen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff, F.D.P.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir haben heute eine Sternstunde in diesem Parlament, was die Vorstellungen angeht, wie in Deutschland die Zukunft gestaltet werden soll, wie wir in Deutschland mit dem Problem der Arbeitslosigkeit fertig werden wollen. Ich habe heute und auch jetzt gerade wieder gelernt, daß Monopole Arbeitsplätze sichern. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn irgendwo Arbeit vorhanden ist und ich sie monopolisiere, dann wird diese Arbeit in der Regel nicht mit besonderen Leistungsmerkmalen gemacht; denn sonst bräuchte ich sie nicht zu monopolisieren, sonst bräuchte der Monopolist keinen Schutz. Ich stelle fest: Auf der linken Seite des Hauses hören wir, daß Monopole Arbeitsplätze sichern. Wenn Arbeit vorhanden ist, dann muß diese auch ausgeführt werden. Je mehr Nachfrage nach Arbeit da ist, desto mehr Arbeit entsteht. Es ist also genau das Gegenteil der Fall. Im übrigen ist das auch bei allen anderen Dienstleistungen bisher so gewesen. Ähnliches Geschrei gab es, als es darum ging, die Telekom freizuschalten, als es darum ging, sich im Bereich der Funknetze zu betätigen. ({0}) Am Ende war das Ergebnis, daß wir zusätzliche Arbeitsplätze hatten und nicht weniger. ({1}) - Die sind im Bereich der Telekommunikation. Das können wir uns ansehen, Frau Fuchs, weil Sie immer dazwischenschreien. Informieren Sie sich einmal! Ein Monopol nutzt auch dem Kunden nicht. Hier ist vom „Leistungsabbau bei der Post" die Rede. Es ist ja komisch, wenn wir in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen können, daß der Verband der Postbenutzer schreibt - ich darf das zitieren -: Das alles nur, weil die Politiker nicht die Postkunden vor der Post schützen und den notwendigen Druck auf die Post ausüben, sondern statt dessen Europas teuerster Post zum 1. September 1997 eine weitere Preiserhöhung um 10 Prozent bei den Briefen und um bis zu 25 Prozent bei Zusatzleistungen wie Einschreiben genehmigt haben,... Ich habe das Gefühl, daß zumindest die Postbenutzer, denen Sie offensichtlich den Leistungsabbau zumuten wollen, das nicht anders sehen - ({2}) - Ja, es sind immer die Lobbyisten, wenn sich die Leute äußern, die das leidvoll erfahren. Und die werden dann auch noch gescholten. ({3}) Ich kann Ihnen sagen, daß ich in meinem Unternehmen Probleme habe, den Kunden in fernen Ländern zu erklären, daß wir für das Versenden mehr bezahlen müssen und deswegen unsere Preise erhöhen. Es liegt an den Zuschlägen für die Post AG und für die Deutsche Telekom, die wir auch noch haben. Ich kann Ihnen zeigen, was das in der betriebswirtschaftlichen Rechnung eines Unternehmens ausmacht, das diese Dienste in Anspruch nimmt und in Anspruch nehmen muß, und Ihnen verdeutlichen, daß Monopole dazu führen, daß die Unternehmen weniger wettbewerbsfähig sind. ({4}) Ich will einen weiteren Satz sagen: Monopole führen zu Strukturen, die, wenn sie lange genug vorhanden waren und verkrustet sind, im Wettbewerb nicht bestehen können. Davor hat die Post offensichtlich große Angst. Auch hier darf ich noch einmal auf die „Frankfurter" verweisen und einen Satz vorlesen: Die Post werde im achten Jahr von einem Vorstand geleitet, der nun schon seit sieben Jahren erkläre, sich auf den Wettbewerb vorzubereiten, sagt Hübner. - Der Vorsitzende des Verbandes der Postbenutzer. - Noch sei jedoch nichts geschehen. Was ist in den letzten Tagen geschehen? Es gibt eine Vereinbarung, daß 14 Prozent der Briefe ab nächstem Jahr in die Konkurrenz gestellt werden. Das heißt, in diesem Bereich wird das Monopol aufgehoben. Was erklären daraufhin sofort nicht nur die Gewerkschaft, sondern sogar die Unternehmensleitung durch ihren Sprecher? ({5}) - Ich unterscheide da noch. - Die Herren erklären: Tausende von Arbeitsplätzen gehen verloren, selbstverständlich müssen wir das Porto erhöhen. Wenn das das Unternehmertum in Deutschland ist, dann haben Sie mit Ihren häufig an die Unternehmer gerichteten Schimpfkanonaden, daß sie nichts leisten, völlig recht. Schützen Sie sie aber bitte nicht davor, ihre Schularbeiten zu machen; denn dann kommen wir hier nicht weiter. ({6}) Es würde den Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland bedeuten, wenn wir zusätzliche Kosten, die nicht notwendig sind, der übrigen Wirtschaft aufdrücken. Sie müssen immer davon ausgehen: Das Geld, das an dieser Stelle zusätzlich gebraucht wird, fällt nicht vom Himmel. Es muß eingesammelt werden. Und der Staat kann es diesen Leuten nicht beliebig zuteilen. Ich danke Ihnen. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi, PDS.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Meister, trotz Ihrer ausgesprochen billigen Polemik zu Beginn Ihrer Rede werden Sie die Probleme nicht retuschieren können, mit denen wir es gegenwärtig gerade auch bei der Post zu tun haben. ({0}) Im Unterschied zur F.D.P. bin ich kein ideologischer Anhänger von Verstaatlichung. Ich räume durchaus ein, daß es sinnvolle Privatisierungen gibt. Sie aber sind der ideologische Anhänger dahin gehend, daß alles, aber auch alles privatisiert werden soll und sich der Bund aus allem herauszuhalten hat. Damit sind nur zwei Probleme verbunden. Wenn der Staat dies macht, dann hat er natürlich auch nicht mehr die Fähigkeit, seine eigentliche Funktion wahrzunehmen, nämlich die des kulturellen, ökologischen und sozialen Ausgleichs. ({1}) - Nein, das sind schon strategische Fragen. ({2}) Die großen Konzerne, die großen Versicherungen und Banken zahlen schon heute keine Steuern mehr, weil sie auf diesen Staat nämlich gar nicht mehr angewiesen sind. In dem Moment, in dem Sie die Kommunikation, irgendwann auch noch die Straßen, die Bahn und alles privatisiert haben, gibt es hinter dem Staat keine ökonomische Kraft mehr. Ein Staat, der nur die Rechtsetzungsbefugnis hat, aber keine ökonomische Kraft, wird in seiner Rechtsetzung nicht mehr ernst genommen. Das wird die Folge davon sein. ({3}) Nicht alles im Leben rechnet sich. Aber auch die ältere Frau, die in einem Dorf wohnt, muß die Möglichkeit des postalischen Verkehrs haben, und sie muß die Möglichkeit haben zu telefonieren, und zwar zu sozial verträglichen Preisen. Ich räume ein, daß sich das nicht rechnet. Es wird kein privates Unternehmen geben, das diese Dienstleistungen erbringen wird. Sie organisieren das jetzt so, daß wir irgendwann vor der Situation stehen, daß wir reine Verlustgeschäfte staatlich übernehmen müssen, weil Sie alles, was sich lohnt, privatisiert haben. ({4}) An staatlichen postalischen Dienstleistungen werden die hängenbleiben, um die sich kein Privater kümmert, weil er damit keinen Gewinn erzielt. Das heißt, alles wird über die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler finanziert. Sie haben nämlich die Ausgleichsmöglichkeiten gekappt. Die Telekom hat Gewinn gemacht. Damit hätten wir viele Bereiche in der gelben Post finanzieren können. Aber genau das, diese Art des Ausgleichs, wollen Sie ja nicht. ({5}) Das Problem ist: Sie sind viel ideologischer, als sie es der Gegenseite dieses Hauses vorwerfen. ({6}) Sie haben nur eine Idee. Das ist die Idee der Liberalisierung und der Privatisierung, und zwar völlig unabhängig von den Folgen, die Sie damit im einzelnen anrichten. Richtig wäre es, nach den Kriterien der Vernunft zu entscheiden. Danach gibt es Fälle, wo es sinnvoll ist, und Fälle, wo es sinnlos ist. Das ist kein Prinzip, auf dem man reiten kann. Sie können das am Beispiel anderer Länder, wo das alles schon versucht worden ist, sehen. Was kommt denn dabei heraus? Es kommt immer dabei heraus, daß es Rabatte gibt. Rabatte gibt es immer für Großkunden. Natürlich wird es auch bei der gelben Post Rabatte für Großkunden geben, die TauDr. Gregor Gysi sende Briefe am Tag aufgeben. Aber der einzelne Kunde und die einzelne Kundin werden das dann zu bezahlen haben. Deren Gebühren werden erhöht werden. Im übrigen ist es ein starkes Stück, daß Sie sich hinstellen und sich über Gebührenerhöhungen aufregen. Dabei gibt es im Augenblick nur einen Eigentümer, nämlich die Bundesrepublik Deutschland. Wer hat denn als Eigentümer etwas damit zu tun, was bei der Post geschieht und was dort nicht geschieht? ({7}) - Auch wenn Sie das wünschen: Die Verwandlung in Tiere fällt selbst Menschen aus den neuen Bundesländern schwer. Deshalb kann ich auch nicht zur Brieftaube werden. Aber Sie organisieren die Post so, daß wir irgendwann wieder auf die Brieftaube angewiesen sein werden. ({8}) Das ist das eigentliche Problem Ihrer Politik. ({9}) Ich sage Ihnen noch etwas anderes. Die Postlerinnen und Postler sind auf die Straße gegangen, weil sie sich - völlig zu Recht - davor fürchten, daß Sie über Ihre entsprechende neue Gesetzgebung wiederum Zehntausende Arbeitsplätze abbauen, indem Sie nämlich ein Monopol aufheben und damit natürlich die Dienstleistungen verschlechtern, die im übrigen schon wesentlich verschlechtert worden sind. Die Postämter liegen heute schon ein wesentliches Stück vom Wohnort entfernt. Es bringt nichts, daß jemand aus einem Dorf 40 Kilometer fahren muß, um einen Brief aufgeben zu können. Aber auch in einer Großstadt wie zum Beispiel Berlin sind die Wege wesentlich länger geworden. Es ist überhaupt nicht kundenfreundlich, was Sie da organisieren. Die demonstrierenden Menschen fürchten ganz zu Recht um ihre Arbeitsplätze. Und dann sagen Sie, Sie würden die woanders schaffen. Das ist genau das Versprechen, mit dem Sie seit Jahren auftreten. Wahr geworden ist immer nur die erste Hälfte, nämlich daß Arbeitsplätze vernichtet werden; wahr geworden ist noch nie die zweite Hälfte, nämlich daß irgendwo neue Arbeitsplätze entstehen. Deshalb unsere scharfe Kritik an dieser Art von Postpolitik. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Professor Wolfgang Schulhoff, CDU/CSU.

Prof. Wolfgang Schulhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist kein Wunder, daß die PDS diese Aktuelle Stunde beantragt hat. ({0}) Es ist Teil ihrer Ideologie, die hier zum Ausdruck kommt. Sie ist immer noch mit ihren sozialistischen Wurzeln verbunden. Für sie bleibt nach wie vor das Zentralverwalten der Wirtschaft das Allheilmittel. ({1}) Wenn Sie, lieber Herr Gysi, das auch relativieren wollen, Ihre Sprache demaskiert Sie. ({2}) Aber diese Überzeugung gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Alle sozialistischen Systeme sind kläglich und unter hohen Verlusten gescheitert. Es nutzt überhaupt nichts, sich heute damit abzugeben. ({3}) Sie geben die Antworten von gestern auf die Fragen von heute und morgen. Sie sind rückständig, Sie sind reaktionär. ({4}) Allerdings wundert es mich, daß sich die SPD diesem Geschrei anschließt. Regierung und Opposition haben bisher erfolgreich die Postreformen I und II und die damit verbundene Privatisierung der drei Postunternehmen einvernehmlich umgesetzt. Über den einzuschlagenden Weg der Liberalisierung der Post sind wir uns doch einig. Warum jetzt diese parteipolitischen Spielchen, die uns in der Sache doch gar nicht weiterbringen? ({5}) Warum, Herr Bury, diese Polemik hier? Der von der Koalition gefundene Kompromiß zum geplanten Postgesetz stellt einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen der Post AG und den Erfordernissen einer notwendigen und erfolgversprechenden Liberalisierung dar. ({6}) Auf die Einzelheiten der Vereinbarung ist hier schon eingegangen worden. ({7}) - Der Minister hat dazu meiner Ansicht nach hervorragend Stellung bezogen. Die bisherigen Erfahrungen im Bereich der Telekommunikation haben doch eindeutig gezeigt, daß branchenbezogen netto keine Arbeitsplätze verlorengegangen sind. Ganz im Gegenteil, es entstehen immer neue Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem Bereich, und ein Ende des Booms ist gar nicht absehWolfgang Schulhoff bar. Andere Branchen bauen ab, und hier wird aufgebaut. ({8}) Meine Damen und Herren, gehen Sie denn mit geschlossenen Augen durch die Welt? Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch im Postdienst ab. Eine zunehmende Arbeitsteilung, national wie international, wird die Nachfrage nach differenzierten Postdienstleistungen auch in Zukunft weiter steigen lassen. Zukunftsangst ist hier doch völlig fehl am Platze. ({9}) Es geht uns nicht um Leistungsabbau bei der Post, sondern um Leistungswettbewerb in einem Wirtschaftsbereich, der ein wichtiger Standortfaktor für die Bundesrepublik Deutschland ist, wie meine Vorredner eben so treffend dargestellt haben. ({10}) In der Telekommunikation haben unzählige kleine und mittlere Betriebe ihre Chance erkannt und bieten innovative, kundenfreundliche und preiswerte Lösungen an. ({11}) Dort entstehen auch die neuen Arbeitsplätze. Etwas Ähnliches - lieber Herr Bury, Sie werden sich später noch daran erinnern, was ich heute gesagt habe - wird es auch im Bereich der Post AG geben. Auch hier wird der Mittelstand auf die Bedürfnisse der Nachfrager reagieren und neue Produkte anbieten. Der Postmarkt wird flexibler, kundenorientierter und Dienste zu einem günstigeren Preis anbieten. Meine Damen und Herren, es ist doch gar nicht gesagt, daß die Post AG auf diesem Markt nicht bestehen kann. Viele Mitarbeiter werden sich im Hinblick auf die Erfordernisse des Marktes sicherlich umstellen müssen. Hoheitliches Denken ist nicht mehr am Platze. Aber wenn wir der Post AG den notwendigen unternehmerischen Handlungsspielraum geben, wird sie sich auch behaupten können. Der Vorstand der Post AG hat jedenfalls meiner Ansicht nach seine Hausaufgaben gut gemacht. Ich habe Vertrauen zu ihm und auch zu den Mitarbeitern, daß sie im Wettbewerb bestehen können. ({12}) Klar ist, daß es eine gewisse Reglementierung geben muß, um den Infrastrukturauftrag im Postbereich weiterhin zu gewährleisten. Um es klar zu sagen: Egal, wie das Postgesetz am Ende der Beratungen aussehen wird, die Garantie, daß jeder Bundesbürger seine Post zugestellt bekommt, unabhängig davon, wo er wohnt, bleibt bestehen, und zwar zu einem verantwortbaren Preis. Die Kosten für die Bereithaltung eines flächendeckenden Vertriebsnetzes müssen solidarisch getragen werden. Sie dürfen nicht dem einzelnen Verbraucher, der fern der Ballungsgebiete wohnt, angelastet werden. Zusammengefaßt: Unsere Vorschläge sind interessenpolitisch ausgewogen, mittelstands- und verbraucherfreundlich und weisen ordnungspolitisch in die richtige Richtung. Das vorgesehene Postgesetz paßt in doppelter Hinsicht in das wirtschaftspolitische Konzept der Bundesregierung. ({13}) Der Wirtschaftsstandort Deutschland soll durch mehr Wettbewerb zukunftsfähig gemacht werden. Gleichzeitig wollen wir wieder an die Erfolgsrezepte der sozialen Marktwirtschaft stärker anknüpfen. ({14}) Lassen Sie mich in dem Zusammenhang zum Schluß Ludwig Erhard zitieren, den Sie ja neuerdings auch sehr gerne zitieren. Er schreibt: Das ist ja gerade das Geheimnis der Marktwirtschaft, und das macht ihre Überlegenheit gegenüber jeder Art von Planwirtschaft aus, daß sich in ihr sozusagen täglich und stündlich die Anpassungsprozesse vollziehen, die Angebot und Nachfrage, Sozialprodukt und Volkseinkommen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Beziehung zu richtiger Entsprechung und so auch zum Ausgleich bringen. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Ich bedanke mich. ({15})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Christine Kurzhals, SPD.

Christine Kurzhals (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002712, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schulhoff, wir sind der PDS dankbar, daß diese Aktuelle Stunde stattfindet; obwohl ich, die ich aus dem Osten komme, der PDS sonst nicht sehr dankbar bin. Man muß nämlich über diese Probleme reden. Wieder einmal wedelte der Schwanz mit dem Hund und bereitete damit dem Hund unwahrscheinliche Probleme. Ich brauche hier nicht zu erklären, wer Hund und wer Schwanz ist. Wenn es um sogenannte Reformen der Bundesregierung geht - das haben wir den ganzen Tag schon gehört -, fallen mir eigentlich nach diesen ganzen Debatten nur zwei Worte ein: Kahlschlag und Katastrophe. ({0}) Die Koalitionsvereinbarung zum Postgesetz vom Anfang dieser Woche fügt sich da nahtlos an. Wahrscheinlich sind 4,6 Millionen Arbeitslose nicht genug für die Koalition. Mit dieser Koalitionsvereinbarung wird ein Konsens in Sachen Postgesetz mit den Sozialdemokraten jedenfalls nicht zustande kommen. ({1}) Denn jedesmal, wenn die F.D.P. denkt, sie habe den marktwirtschaftlichen Stein der Weisen gefunden, finden Katastrophen auf dem Arbeitsmarkt statt. ({2}) Auch diesmal gefährden Sie Zigtausende Arbeitsplätze. Wiederum läßt sich die CDU/CSU auf diesen Deal ein und gefährdet damit bewußt einen der größten Arbeitgeber in Deutschland. Auch künftig soll die Deutsche Post verpflichtet werden, flächendeckend Infrastrukturleistungen im Postwesen für alle Bürger zu einheitlichen und erschwinglichen Preisen anzubieten. Die Einnahmequellen aber verweigert die Regierung der Post. Sie läßt die Post, wie schon Kollege Meister sagte, mit diesen Milliardenbeträgen, die sie an Pensionsverpflichtungen aus der Behördenzeit hat, im Regen stehen. Diese Verpflichtungen liegen weit über denen vergleichbarer eventueller Wettbewerber. Frei von diesen Lasten werden sich die künftigen Wettbewerber der Post die lukrativen Nischen heraussuchen können. Um wettbewerbsfähig zu sein, muß die Post dann natürlich rationalisieren. Das bedeutet in jedem Fall Stellenabbau. Gerade im Osten Deutschlands zählte die Post als sicherer Arbeitgeber. Dies ist jedoch nur ein schöner Traum gewesen, genauso wie der Traum von den blühenden Landschaften. Alleine in Sachsen sind 7 000 Arbeitsplätze in Gefahr. Erschwerend kommt für die ostdeutschen Postangestellten noch hinzu, daß Ende des Jahres der Kündigungsschutz ausläuft. Sie befürchten, daß im Osten verstärkt Stellenabbau von der Post betrieben wird. Hier ist es nämlich leichter, Entlassungen vorzunehmen, weil weder im Schalter- noch im Zustelldienst oder sonstwo Beamte eingesetzt sind. Zum Beispiel arbeitet in Ostdeutschland ein Filialangestellter derzeit durchschnittlich 20 Stunden in der Woche. Bei einer Entlassung würde die Höhe seines Arbeitslosengeldes weit unter dem Sozialhilfesatz liegen. Das wäre eine Katastrophe für die Betroffenen. Neben den Beschäftigten werden die Bürgerinnen und Bürger als Kleinkunden die Zeche zahlen: weniger Filialen, weniger Service, höhere Preise. ({3}) Das spüren die Bürger in meinem ländlichen Wahlkreis jetzt schon. Die Vorschläge der Koalition würden diesen Prozeß verschärfen und beschleunigen. Für die geplante Liberalisierung der Postmärkte brauchen wir einen tragfähigen Rahmen. Mein Kollege Bury ist darauf schon eingegangen. Bloß, der Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU, Herr Kollege Meister, ist, daß wir den Universaldienst und seine dauerhafte solide Finanzierung durch einen nicht von vornherein zeitlich begrenzten reservierten Bereich vorsehen. ({4}) Entsprechend der wirtschaftlichen Lage der Post AG und der Marktentwicklung ist dieser reservierte Bereich immer wieder zu prüfen und dann freizugeben. Das ist der große Unterschied. ({5}) Übrigens ist das - oder besser gesagt: war das einmal - die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion. So erklärte der postpolitische Sprecher Elmar Müller Ende Dezember 1995: Die Arbeitsgruppe Post und Telekommunikation der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt deshalb vor, zur Abgrenzung des Monopolbereiches zwischen Brief- und Massensendungen/Infopost nicht mehr zu differenzieren, sondern den Bereich unter 100 Gramm einheitlich für die Deutsche Post AG zu reservieren. Dies erscheint zur Finanzierung eines preisgünstigen Universaldienstes und angemessener Infrastrukturleistung der Post AG ausreichend. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, ich muß einmal ganz vorsichtig auf die Zeit hinweisen.

Christine Kurzhals (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002712, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Ich fordere Sie auf, zu Ihren eigenen Positionen wieder zurückzukommen. Hören Sie endlich auf, Arbeitsplätze in Deutschland zu vernichten! Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, Bedingungen für neue Arbeitsplätze zu schaffen, dann ist es Ihre Pflicht, die vorhandenen zu erhalten. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Transformation von der Verwaltungsbehörde zu einem markt- und kundenorientierten Dienstleister ist das Kernziel der Postreform. Mit der erzielten Einigung über die Eckpunkte eines neuen Postgesetzes wird die Koalition diesem Ziel gerecht. Das ist nicht zuletzt auch ein Verdienst von Bundespostminister Dr. Wolfgang Bötsch, dem ich bei dieser Gelegenheit herzlich danken möchte. ({0}) Der Infrastrukturauftrag gewährleistet flächendekkend angemessene und ausreichende DienstleistunRenate Blank gen, die auch nach Auslaufen des Monopols bzw. der Exklusivlizenz erbracht werden. ({1}) - Aber natürlich. Wie sehen diese Dienstleistungen aus? Ich glaube, daß die Abholzeiten bei den Briefkästen der Deutschen Post AG im Interesse der Verbraucher noch verbesserungswürdig sind. Vielleicht sind auch die Zustellzeiten noch verbesserungswürdig. Allerdings ist die Schnelligkeit der Beförderung der Deutschen Post AG nach der Formel „E plus 1" unübertroffen. ({2}) Diese unübertroffene Schnelligkeit „E plus 1" finde ich gerade im Zeitalter des Fax hervorragend. Zum Filialkonzept. Von einem Kahlschlag, wie immer behauptet wird, kann überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich muß die Post aber sorgfältig abwägen, wie das Filialnetz veränderten Gegebenheiten angepaßt und eventuell umgestellt werden kann. Postagenturen sind dazu eine wirtschaftliche und kundenfreundliche Möglichkeit. Ihre Einrichtung hat sich bewährt. Die Post richtet zunehmend mehr Agenturen ein. Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Zahl nennen: In Deutschland gibt es noch zirka 17 000 Postfilialen und Postagenturen. In den USA, die flächenmäßig natürlich wesentlich größer als die Bundesrepublik Deutschland sind, gibt es 25 000 Poststellen. Jeder kann diese Zahlen auf die Fläche bezogen umrechnen. Ich erwähne noch einmal meine Vision von Nachbarschaftsläden, die in Stadt und Land neben dem Einzelhandelssortiment auch Postdienstleistungen vertreiben, Bankgeschäfte abwickeln, Bausparverträge abschließen, Lebensversicherungen verkaufen sowie nebenbei auch noch als Kommunikationszentrum für Gespräche dienen. Das ist aus meiner Sicht echte Dienstleistung. ({3}) Auch die Sicherung der Dienstleistung der Post auf dem flachen Land ist mit dem Landzusteller gesichert. Seit dem 1. Dezember 1996 haben rund 17 000 Landzusteller der Post eine Postfiliale sozusagen im Gepäck. Herr Gysi, wenn Sie sich etwas mehr mit der Post beschäftigt hätten, dann hätten Sie nicht solche Äußerungen gemacht. Dann wäre Ihnen nämlich hinsichtlich der Versorgung auf dem flachen Land der Landzusteller eingefallen, der ein ungeheures Vertrauen der Bevölkerung genießt. Ich brauche hier nicht die einzelnen Bereiche des Landzustellers aufzuzählen. Das ist ein hervorragender Service der Post. ({4}) - Der Landzusteller hat eine gute Zukunft. Beschäftigen Sie sich doch einmal damit! Die Postgewerkschaft hätte wirklich guten Grund, positiv über das Unternehmen Post zu reden und es konstruktiv in den Wettbewerb zu begleiten. Natürlich ist es legitim, eine Demonstration abzuhalten. Ich glaube aber, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre ganze Kraft darauf richten würden, dem Unternehmen Deutsche Post im Wettbewerb zu einer Marktspitze zu verhelfen, dann wäre das noch richtiger. ({5}) Die Deutsche Post muß in den nächsten Jahren ihre Unternehmenspolitik verstärkt an den Anforderungen des Wettbewerbs ausrichten. Hier ist auch die Dienstleistung am Menschen und vom Menschen gefragt. Der neue Entwurf für das Postgesetz schafft dazu eine kalkulierbare Basis, sowohl für das Unternehmen Post als auch für die Arbeitsplätze der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und insbesondere für die Kunden. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel, SPD.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Post kommt nicht aus den Negativschlagzeilen heraus: Verluste im Frachtbereich, Löcher in der Pensionskasse, Filialschließungen, Personalabbau. Dazu kommt jetzt noch diese Bundesregierung mit ihrem Postgesetzentwurf. Tagtäglich können wir den Frust bei den Kunden und bei den Beschäftigten erleben. Allein aus meinem Wahlkreis und der näheren Umgebung bekomme ich täglich Einladungen, Protestschreiben und Unterschriftenlisten gegen Filialschließungen und -umwandlungen. Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß bei Herrn Bötsch noch ein paar mehr solcher Petitionen und Unterschriftensammlungen eingehen. Die Bürgerinnen und Bürger erleben ein Schwarzer-Peter-Spiel ohnegleichen und das auch noch mit gezinkten Karten. Es gibt zwei Sorten von Postfilialen, Herr Friedhoff. Die einen Postfilialen, die jetzt geschlossen und privatisiert werden, sind diejenigen, die die Post AG im Rahmen - wie es immer so schön heißt - ihrer unternehmerischen und betrieblichen Selbständigkeit schließt. Das sind natürlich die Filialen, bei denen die Regierungspolitiker leider nichts machen können. Es gibt aber dann noch andere Filialen, die zum Glück erhalten bleiben, zumindest noch eine Zeitlang. Das sind die Filialen, die durch den persönlichen und heldenhaften Einsatz von Regierungspolitikern erhalten werden. Zum Beispiel geschah dies in meinem Wahlkreis in Andechs, dort, wo der heilige Berg mit dem Kloster steht und das gute Bier herkommt. In der Nähe ist der Wohnsitz von Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Sie hat versucht, in der Regionalpresse den Eindruck zu erwecken, als wäre die Filiale durch ihr persönliches Engagement und das des Aufsichtsratsmitgliedes der Post AG Herrn Funke gerettet worden. Wenn das keine marktwirtschaftliche Politik ist! ({0}) Leider macht die Führung der Post AG aber durch ihr ungeschicktes Agieren der Bundesregierung ihr Doppelspiel leicht. Die Post AG behauptet, sie habe ein Filialkonzept, das der Regulierungsrat, also die Politik, abgesegnet habe. Sie behauptet, bei ihrer Umwandlungs- und Schließungsstrategie werde sie entsprechend den Kundenbedürfnissen und der Nachfrage handeln. Sie behauptet, ihr sogenanntes Filialkonzept sichere auch im Jahr 2001 noch den grundgesetzlichen Infrastrukturauftrag und die regulatorischen Vorgaben - und das mit 10 000 statt 17 000 Filialen insgesamt, mit 5 000 statt 13 000 eigenen Filialen. Wahr ist aber: Das Filialkonzept ist kein Filialkonzept, sondern eine Gebrauchsanweisung zur Selbstdemontage. Wahr ist: Das Filialkonzept enthält keinerlei unternehmerische oder strukturelle Vorgaben und Kriterien. ({1}) - Es kann schon rein zahlenmäßig nicht aufgehen, liebe Frau Blank. Eine grobe Schätzung zeigt doch, daß im Jahr 2001 von den 15 000 Gemeinden in der Bundesrepublik die Hälfte ohne eine Filiale dastehen wird und drei Viertel der Gemeinden ohne eine posteigene Filiale, also ohne Dienstleistungsangebot. Wahr ist auch, daß sich der Regulierungsrat aus gutem Grund mit diesem Konzept gar nicht beschäftigt hat. Wahr ist auch, daß die Post AG dazu übergeht, gerade umsatzstarke und mittelgroße Filialen jetzt zu privatisieren, also solche, die der Regulierungsrat als Mittelpunktfilialen vorgesehen hat. Sie straft damit ihre eigenen Reden Lügen. Wahr ist auch, daß von den vielgepriesenen Postagenturen jetzt immer mehr aufgegeben und geschlossen werden, die gerade in kleinen Orten mit großem Aufwand und großem Pomp eröffnet worden sind. ({2}) - Was ich sage, stimmt, Frau Blank. Der Verdacht, daß die Postagentur eine Zwischenstation, sozusagen ein leicht lösliches Bonbon bis zum totalen Abzug der Post aus dem Land darstellt, läßt sich einfach nicht mehr zerstreuen. Durch sein schneidiges Auftreten und seine Schönrederei hat der Post-AG-Vorstand oft den Eindruck erweckt, es sei alles in Butter, und die Post AG sei fit für den Wettbewerb. Was sich hinter dieser Glitzerfassade verbirgt, wird höchstens den eigenen Beschäftigten vorgeführt, wenn es wieder einmal darum geht, ihnen Verzichtleistungen und Mehrarbeit abzupressen. Das heißt, uns wird es schwergemacht, den Menschen zu erklären, daß die politischen Vorgaben fehlen oder falsch sind. Trotz des Beschlusses von Bundestag und Bundesrat anläßlich der Postreform II, trotz zwingenden Handlungsbedarfs gibt es bis heute keine Lösung für die Kooperation von Postbank und Post AG. ({3}) Auch heute ist offensichtlich wieder kein Ergebnis zustande gekommen. Diese Kooperation wäre aber eine unabdingbare Voraussetzung für die bessere Auslastung des Filialnetzes und für die Rettung der beiden Unternehmen. Statt dessen steht Wort gegen Wort. Der Postminister steht bei der Post AG im Wort für eine kostenlose Übertragung von 25 Prozent der Postbankaktien an die Post AG. Die F.D.P. steht bei sich selber und bei was weiß ich wem im Wort, genau dieses zu verhindern. Vielleicht gibt es ja bald einmal eine Einigung. Wir warten seit Jahren darauf. Die bekanntgewordenen Vereinbarungen der Koalition hinsichtlich des Gesetzes verspielen womöglich die letzte Chance, der Post eine reelle Grundlage zu verschaffen, einerseits im Wettbewerb zu bestehen und die Infrastruktur zu sichern und andererseits den gemeinsamen Anstrengungen, die es im Regulierungsrat über die Parteigrenzen hinweg gegeben hat, zum Erfolg zu verhelfen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Achten Sie bitte auf die Zeit.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dazu noch einmal einige Fakten: Vom heutigen Monopolbereich in Höhe von 15 Milliarden DM bleiben nach den Plänen der Koalition gerade noch 9 Milliarden DM übrig. Stellen wir einmal diese 9 Milliarden DM den politischen Lasten gegenüber, dann stellen wir fest: Pensionslasten in Höhe von 4 Milliarden DM, Kosten des Filialnetzes in Höhe von 4,5 Milliarden DM. Das heißt, dies alles muß letzten Endes aus diesen 9 Milliarden DM finanziert werden.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen. Das ist zuviel.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl, ich bin gleich fertig.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Nein, Sie müssen jetzt, nicht gleich, zum Schluß kommen.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch ein Satz.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Sie sind bereits eine Minute über Ihrer Redezeit. Das ist zuviel.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigung. - Wir sind froh, daß es heute zu dieser Aussprache gekommen ist, damit sich die Koalition der Posträuber nicht im Schatten der anderen Versagensbereiche - Renten, Gesundheit und Steuern - davonstehlen konnte, und daß jetzt endlich in der Öffentlichkeit die Diskussion in Gang kommt. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Elmar Müller, CDU/CSU.

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wer einen Vergleich zwischen der Diskussion heute morgen bis heute mittag um die Arbeitsplätze und den Wirtschaftsstandort Deutschland und der Diskussion von heute nachmittag, wie sie von der linken Seite geführt wurden, anstellt, dem muß auffallen, daß heute morgen immerhin einige Redner der SPD sprechen durften, die sich auch mit den modernen Strukturen der Wirtschaft befaßt haben ({0}) - beispielsweise Herr Mosdorf, der uns erst vor gut einer Stunde vorgeführt hat, was in der Bundesrepublik Deutschland notwendig ist, nämlich die Orientierung an den Amerikanern, an deren Neugründungen von Unternehmen im Dienstleistungsbereich und an deren Senkung der Arbeitskosten, um neuen Arbeitsplätzen Chancen zu geben. Heute nachmittag durften dann ausschließlich die nach rückwärts Gewandten sprechen ({1}) - wie Herr Bury, der in erstaunlicher Weise einen Salto mortale nach hinten gemacht hat. Herr Kollege Meister hat zu Recht daran erinnert, daß die SPD hier nun den Eindruck erweckt, als ob sie bei der Postreform II nicht dabei war. ({2}) Diesen Schritt haben Sie mit getan. Nun stehlen Sie sich aus der Verantwortung. ({3}) Denn damals haben wir den Schritt gemacht, daß das Unternehmen seine Strukturen in Zukunft als Aktiengesellschaft selbst organisieren soll. Das tut es auch. Deshalb hat sich die Politik - das wird ihr auch immer wieder vorgeworfen - möglichst aus den Strukturen herauszuhalten. Meine Damen und Herren, deshalb denke ich, daß das, was wir am Dienstag in der Koalition vereinbart haben, ein tragfähiger Kompromiß ist, ({4}) der, wie es auf europäischer Ebene vereinbart worden ist, bei Briefen einen reservierten Bereich bis zu 350 Gramm vorsieht, der eine Größenordnung im Umsatz zu den 100 Gramm von etwa 14 Prozent ausmacht. In Mark und Pfennig sind das plus/minus 1,5 Milliarden DM. Der Bereich, dei in den Wettbewerb geht, ist ja nicht der Bereich, den die Post verliert, sondern um den muß sie künftig kämpfen. ({5}) Der Info-Bereich hat es bewiesen. Auch da haben wir seinerzeit, auch von der Gewerkschaft, wirklich regelrechte Horrorzahlen zu Entlassungen usw. gehört. Aber nichts hat sich ereignet. Im Gegenteil, der InfoBereich, der frühere Drucksachenbereich, ist im Umsatz und auch im Gewinn gestiegen. Das hat die Post fertiggebracht. Hier hat sie bewiesen, daß sie im Wettbewerb bestehen kann. Das, was die SPD nun vorschlägt, nämlich ein Monopol auf Dauer, ist auch rein rechtlich nicht haltbar. Eine Aktiengesellschaft mit einem Dauermonopol ist nicht möglich. Art. 87 f des Grundgesetzes sagt ausdrücklich, daß das Postunternehmen und der Wettbewerb den künftigen Markt bestimmen sollen. ({6}) - Kollege Bury, nicht kleinreden. Das, was wir nun als Kompromiß gefunden haben, vor allem im zweiten Teil, nämlich ein fünfjähriger Übergang, wird nun dafür sorgen, daß sich die Post in der Tat in den nächsten fünf Jahren möglichst sanft auf den Wettbewerb einrichten kann. Es ist gewährleistet, daß sie den Altlastenbereich, vor allem die Pensionslasten, aus ihren Erträgen finanzieren kann. Das finde ich gut. Die Post hat in den vergangenen Jahren in großartiger Weise 8 Milliarden DM in die Modernisierung und in Modernisierungskonzepte gesteckt. Das Briefkonzept und das Frachtkonzept sind Bereiche, die inzwischen greifen, Bereiche, bei denen sich die Post im Hinblick auf Struktur, Mechanisierung und Modernisierung schon heute wirklich weit vor künftigen Wettbewerbern befindet. Das war der notwendige Schritt. Im Gegensatz zu einigen Kollegen hier muß ich ausdrücklich sagen: Hier hat das Unternehmen, an der Spitze Herr Zumwinkel, in hervorragender Weise seine Aufgaben wahrgenommen. Diese Entscheidungen sind noch nicht überall sichtbar. Aber ich glaube, das Unternehmen hat bewiesen, daß es in die Zukunft denken kann. Nun hat Frau Kollegin Kurzhals Behauptungen in die Welt gesetzt, daß der Schwanz mit dem Hund gewedelt habe. Möglicherweise meinen Sie damit den Postminister, nicht zu Unrecht. Ich erinnere daran, daß er vor anderthalb Jahren im Jahr des Hundes in China zum Professor auf begrenzte Zeit ernannt wurde. Ich weiß nicht, wie ich Ihre Aussage bewerten soll. Ich erinnere mich an eine Bemerkung des früheren CSU-Vorsitzenden Strauß, der zur SPD in der sozialliberalen Koalition seinerzeit immer gesagt hat: „Hier wedelt der Schwanz mit dem Dackel." Ich weiß nicht, was angenehmer ist. Ich bedanke mich. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Anke Fuchs, SPD.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem ich den ganzen Tag der Debatte zugehört habe, weil es mich wirklich umtreibt, was in diesem Land mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Arbeitslosigkeit vor sich geht, muß ich Ihnen sagen, daß ich von dem neuen liberalen Zynismus schon sehr erschüttert bin. ({0}) Herr Kollege Friedhoff, seit über 15 Jahren stellen Sie den Wirtschaftsminister. Immer haben Sie uns Sozialabbau und Arbeitsplatzreduzierung gepredigt, und nach jeder dieser Wellen ist die Arbeitslosigkeit wieder gestiegen. Wann denken Sie eigentlich mit uns zusammen um und lernen: Für eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik braucht man nach Karl Schiller beides: soviel Staat wie nötig und soviel Markt wie möglich? Ihr Kapitalismus pur ruiniert unsere Demokratie. Ich mache mir große Sorgen, wie es eigentlich weitergehen soll, wenn Sie solche Komplexe wie dieses Postgesetz hier in einer Art und Weise behandeln, daß es einem fast den Magen umdreht, wenn man dem zuhören muß. ({1}) Ich habe auch den Eindruck, Sie verabschieden sich aus dem Verfassungskonsens. Denn was haben wir mit der Postreform gemacht? Wir haben gesagt: Art. 87 f des Grundgesetzes: Infrastrukturauftrag. Davon verabschieden Sie sich, wenn Sie jetzt die Pläne durchsetzen, die Sie mit dem Entwurf des Postgesetzes auf den Tisch gebracht haben. Es geht doch nicht darum, daß wir jemandem unternehmerische Entscheidungen abnehmen wollen, sondern es geht um die Frage, wie wir das Postgesetz gestalten, ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Der Gesetzgeber ist also gefragt, wenn es darum geht: Wie erfüllen wir die Forderung der Europäischen Union, dafür zu sorgen, daß ihre Mitgliedsländer eine Postversorgung von hoher Qualität zu erschwinglichen Preisen vorsehen, deren Finanzierung gewährleistet werden muß? Das ist das erste, was in diesem Gesetzgebungsverfahren geklärt werden muß. ({2}) Das zweite ist, daß es einen Infrastrukturauftrag gibt. Ihn kann man nicht mal eben „locker vom Hokker" mit Ihren marktwirtschaftlichen Instrumenten erfüllen. Vielmehr braucht man auch andere Instrumente; darüber werden wir im Zusammenhang mit dem Postgesetz zusammen mit Ihnen diskutieren. Wir haben in unserem Antrag „Infrastruktur sichern, Wettbewerb fördern - Grundsätze zur Neuordnung des Postsektors" im Mai 1996 unsere Vorschläge vorgelegt. Damit wird gewährleistet, daß die Infrastruktur des Postwesens erhalten bleibt und wir nicht zu jenen Turnschuhakrobaten übergehen müssen, die Sie uns als Landzusteller anbieten wollen. Das wird mit uns nicht funktionieren. ({3}) Wir sollten auch die Kundeninteressen berücksichtigen. Die F.D.P. ist eine kleine Klientelpartei. Sie hüpft überall da herum, wo man Geld verdienen kann. ({4}) Aber Sie verkennen, daß es Unsicherheiten bei den Menschen gibt, wenn Postfilialen geschlossen werden, wenn es mit den Postagenturen nicht funktioniert und wenn man sich die Frage stellt: Wird bei mir eigentlich noch zugestellt? In einer Zeit mit derartig vielen Veränderungen wird man keine politische Akzeptanz bekommen, wenn man die Menschen auf dem Weg zu den Veränderungen nicht begleitet. Sie können die Menschen nicht immer nur allein lassen und Leistungen abbauen. Das ist mit uns nicht zu machen. ({5}) Der dritte Punkt. Es geht um die Frage: Welche Auswirkungen hat das auf die Arbeitsplätze? Sie tun wiederum so, als ob für die Arbeitsplätze, die hier abgeschafft werden, an anderer Stelle neue kämen. Ich habe es vorhin schon gesagt: Dieses Lied mit seinen vielen Strophen kennen wir schon. Aber immer ist die Arbeitslosigkeit gestiegen. Ich will Ihnen die Belastungen durch die Arbeitslosigkeit noch einmal vor Augen führen. Die mehr als 4 Millionen arbeitslosen Menschen belasten unser Gemeinwesen mit 160 Milliarden DM. Deswegen muß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus ökonomischen und sozialen Gründen Vorrang haben; sonst kommen wir nicht wieder auf die Beine. ({6}) Wir werden dafür sorgen, daß der Umstrukturierungsprozeß, wenn er denn nun in Angriff genommen werden muß, nicht zu Lasten der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze geht. So weit kommt es noch, daß wir sagen müssen: Nehmt das, was euch auf dem Arbeitsmarkt angeboten wird. Das sind dann noch mehr 610-DM-Arbeitsverträge. Dazu sage ich: Nein, wir brauchen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse für die Menschen, die bei der Post beschäftigt sind. Ich glaube, man kann in der Lizenz gewisse Auflagen vorsehen, mit denen man so etwas gewährleisten kann. Wir jedenfalls werden keinen Beitrag dazu leisten, daß ordentliche Arbeitsplätze abgebaut werden und daß Leute in Turnschuhen die Briefe zustellen. Das wird mit den Sozialdemokraten nicht zu machen sein. ({7}) Anke Fuchs ({8}) Deswegen fordere ich Sie, Herr Minister Bötsch, auf: Kämpfen Sie einmal gegen die F.D.P.! Machen Sie das mit uns zusammen! Wir sehen uns. Im Bundesrat wird darüber diskutiert. Dann sehen wir uns wieder, und wir werden versuchen, daß wir es hinbekommen, daß die Regelungen in bezug auf den reservierten Bereich zeitlich nicht von vornherein befristet sein müssen. Sie haben unsere Vorstellungen nicht richtig begriffen. Wir sagen: 100 Gramm für alle Postsendungsarten. Dann müßten vernünftige Auflagen in die Lizenz hineingeschrieben werden. In diese Richtung kann es gehen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion freut sich, daß die Postler auf die Straße gegangen sind. Wir haben mit ihnen zusammen demonstriert, und wir stehen auf ihrer Seite. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 6 auf: 4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Ferner, Michael Müller ({1}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Minderung des Verkehrslärms an Straßen und Schienen - Drucksachen 13/1042, 13/5390 Berichterstattung: Abgeordneter Heinz-Günter Bargfrede ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({2}), Gila Altmann ({3}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorlage eines Gesetzes zum Schutz vor Verkehrslärm an Straßen und Schienen - Drucksache 13/6958 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({4}) Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Heinz-Günter Bargfrede, CDU/CSU.

Heinz Günter Bargfrede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000095, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Lärmschutz an Straßen und Schienenwegen in der Bundesrepublik Deutschland kann sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. ({0}) Die heute in Deutschland geltenden Grenzwerte für Lärmemissionen zählen zu den schärfsten in Europa. Die Bundesregierung hat durch die kräftige Förderung zahlreicher Forschungsvorhaben und durch die Verabschiedung fortschrittlicher Verordnungen wichtige Prioritäten gesetzt. Für Lärmschutzmaßnahmen an Bundesfernstraßen wurden bis Ende 1995 rund 4,6 Milliarden DM ausgegeben. Jährlich werden für diesen Zweck rund 400 Millionen DM aufgewendet. Bisher wurden rund 750 Kilometer Lärmschutzwälle und Steilwälle sowie rund 1 320 Kilometer Lärmschutzwände errichtet. Zusätzlich finanzierte der Bund rund 600 000 Quadratmeter Lärmschutzfenster. Der Bund leistet darüber hinaus mit der Fertigstellung von 29 Ortsumgehungen bzw. Ortsumfahrungen im Jahre 1996 und weiteren 25 Maßnahmen im Jahre 1997 einen wesentlichen Beitrag, um Lärm und Abgase aus den Städten und Gemeinden zu verbannen und die Lebensqualität in den Stadtkernen zu erhöhen. Bis 1994 sind vom Bund an Schienenwegen Lärmschutzmaßnahmen in Höhe von 374,09 Millionen DM getroffen worden. Davon entfielen 348,15 Millionen DM auf aktive und fast 26 Millionen DM auf passive Lärmschutzmaßnahmen. Mit den beachtlichen Investitionen für Neubau- und Ausbauvorhaben bei der Schiene wird auch die Anzahl der Lärmschutzmaßnahmen an der Schiene künftig deutlich erhöht, wodurch immer mehr Schienenwege lärmschutzmäßig gesichert sein werden. Hinzu kommen die enormen Aufwendungen für lärmmindernde Tunnelbauten und Brückenbauten mit durchgehendem Schotterbett. Meine Damen und Herren, wir sind der Auffassung, daß Lärmschutz vorrangig an der Quelle selbst ansetzen müßte, das heißt am Fahrzeug und am Fahrweg. ({1}) Bereits 1984 wurde für die weite Verbreitung lärmarmer Lkw der Begriff „geräuscharmes Kraftfahrzeug" in die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung eingeführt. 1996 konnten die Lärmemissionsgrenzwerte für Neufahrzeuge aller Kfz-Klassen EU-weit deutlich und verbindlich abgesenkt werden. Meine Damen und Herren, wir brauchen leisere Reifen, und wir brauchen die Weiterentwicklung und den Einsatz lärmmindernder Straßenbeläge. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die vom Bundesverkehrsministerium und vom Bundesumweltministerium betreuten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben auf diesen Gebieten. Das Rollgeräusch ist auch die wichtigste Geräuschquelle der Schienenfahrzeuge. Durch konstruktive Verbesserungen können die Geräusche neuer Fahrzeuge merklich gesenkt und die Emissionen alter Fahrzeuge mittelfristig vermindert werden. Die technische Entwicklung trägt bereits heute durch folgende Maßnahmen zur Schallvermeidung an der Quelle bei. Scheibenbremsen sind 9 Dezibel leiser als Klotzbremsen. Radabsorber verringern das Rollgeräusch um 4 Dezibel. Durch Kapselung der Antriebsaggregate kann eine Schalldämmung von bis zu 25 Dezibel erzielt werden. Bei dieselgetriebenen Fahrzeugen kann zum Beispiel der Auspuffschall durch Reflexionsschalldämpfer um bis zu 20 Dezibel gesenkt werden. ({2}) - Toll wäre es, wenn man das alles zusammenziehen könnte; das stimmt, Frau Ferner. Auch bei Fahrzeugen der Straßen-, Stadt- und U- Bahnen kann durch eine schalloptimierte Fahrzeugkonstruktion in Verbindung mit ergänzenden Oberbaumaßnahmen eine erhebliche Lärmminderung erzielt werden. Verbesserungen an Fahrzeugen müssen durch den Einsatz neuester Technik und moderner Materialien beim Fahrweg ergänzt werden. Allein der Einbau lückenlos verschweißter Gleise führt gegenüber den früheren Stoßlückengleisen zu Pegelverringerungen von 6 Dezibel. Während ältere Brückenkonstruktionen den Schall oft noch verstärkten, erhalten moderne Bauwerke ein durchgehendes Schotterbett. Das mindert den Schall um bis zu 15 Dezibel. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen hat der Verkehrsausschuß die Bundesregierung um regelmäßige Berichterstattung hinsichtlich der technologischen Entwicklung von Fahrbahnbelägen, von Straßen und Schienen sowie bei Fahrzeugen ersucht. Meine Damen und Herren, gerade beim Lärmschutz ist es wichtig, daß wir den technischen Fortschritt unbedingt ständig im Auge behalten und Neuerungen sofort berücksichtigen, wenn es gilt, Baumaßnahmen durchzuführen oder neue Fahrzeuge zu bestellen. Wir setzen auf den technischen Fortschritt gerade in diesem Bereich und erhoffen uns noch weitere Verbesserungen. Auf das Problem der Bündelung von Verkehrswegen, das wir im Ausschuß schon häufig angesprochen haben, ({3}) wird im einzelnen in gekonnter Weise mein Kollege Michael Jung eingehen. Das spare ich mir jetzt. ({4}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal unterstreichen, daß der Bund im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten Lärmsanierung an Straßen haushaltsgesetzlich vorsieht. Diese Möglichkeiten haben auch die Länder und Gemeinden an den Landesstraßen und an ihren Gemeindestraßen. ({5}) Aber sie machen so gut wie keinen Gebrauch davon, ({6}) weil ihnen dafür ganz einfach das notwendige Geld fehlt. - Frau Ferner, es mag im Saarland anders sein. Das Land schwimmt ja bekanntlich geradezu im Geld. An dem Zustand des fehlenden Geldes würde sich auch durch ein neues Gesetz nichts ändern. Für eine Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen des Bundes würden bei einer Pegeldifferenz von 10 dB zwischen Vorsorge und Sanierung Kosten von rund 5 Milliarden DM entstehen. Das kann inzwischen etwas mehr sein. ({7}) Auf jeden Fall ist klar: Diese Mittel stehen uns zur Zeit nicht zur Verfügung. Wir streben mittelfristig - das möchte ich klar sagen - auch für den Schienenweg eine haushaltsgesetzliche Regelung an. Wir würden gern noch mehr tun, müssen aber als verantwortungsbewußte Politiker stets auch das finanziell Machbare und das gesamtwirtschaftlich Verantwortbare im Auge behalten. ({8}) Dies sehen übrigens auch SPD-Landespolitiker so, zumindest dort, wo sie in der politischen Verantwortung stehen. Sie lehnen - genau wie wir - eine gesetzliche Regelung der Lärmsanierung nachdrücklich ab. Bereits in der Debatte am 18. Mai 1995 habe ich von dieser Stelle aus darauf hingewiesen, daß eine gesetzliche Regelung der Lärmsanierung der Zustimmung des Bundesrates bedarf. ({9}) Ich habe Sie, Frau Ferner und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dringend gebeten, in dieser Sache in den eigenen Reihen endlich einmal Klarheit zu schaffen. ({10}) Diese Klarheit ist inzwischen geschaffen worden, leider nicht durch die SPD-Bundestagsfraktion, sondern durch einen im Bundesrat eingebrachten Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen. Dieser Antrag zur gesetzlichen Regelung der Lärmsanierung ist am 8. November 1996, also vor wenigen Wochen, im SPD-dominierten Bundesrat abgelehnt worden, Frau Ferner. ({11}) - Nein; sie wissen, wie sie mit ihren Finanzen umzugehen haben. Dagegen gestimmt hat unter anderem das Land Hamburg, das vom finanzpolitischen Bundessprecher der SPD regiert wird. ({12}) Abgelehnt hat den Antrag auch das Land Niedersachsen, das vom wirtschaftspolitischen Sprecher der Bundes-SPD regiert wird. Die Kollegin Ganseforth ist heute nicht im Plenum. Vielleicht spricht sie gerade mit Herrn Schröder, um ihn noch umzustimmen. Es wäre gut gewesen, wenn sie entsprechende Gespräche in Hannover rechtzeitig geführt hätte. Meine Damen und Herren von der SPD, es ist nach der Ablehnung im Bundesrat vor wenigen Wochen nur folgerichtig, wenn Sie Ihren Antrag heute zurückziehen. ({13}) Denn eines ist nach dieser Abstimmung klar: Selbst wenn wir heute Ihrem Antrag folgten selbst wenn wir ein Gesetz zur Lärmsanierung beschlössen, würde das anschließend mit den Stimmen SPD-regierter Länder im Bundesrat abgelehnt werden. ({14}) Wenn die SPD-Bundestagsfraktion trotz der vor wenigen Wochen erfolgten Klarstellung im Bundesrat heute an ihrem Antrag festhält, dann ist das für mich der Gipfel unglaubwürdiger Politik. Doppelzüngiger kann man eine Politik nicht mehr betreiben. ({15}) Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, von den Koalitionsfraktionen halten an unserer verantwortungsbewußten Politik fest und lehnen deshalb den Antrag der SPD ab. Übrigens - ich bin nicht mehr dazu gekommen, darauf einzugehen - werden wir auch den Antrag der Bündnisgrünen ablehnen. Wir können ihn anschließend im Verkehrsausschuß noch einmal beraten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({16})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf, SPD.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bargfrede, wir werden diesen Antrag selbstverständlich nicht zurückziehen. ({0}) Ich meine, Sie sollten die Länder erst mit den nötigen Finanzmitteln ausstatten bzw. den Ländern nicht ständig sämtliche Finanzmittel streichen, bevor Sie uns auffordern, da entsprechend tätig zu werden. ({1}) Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen. Seit der ersten Lesung dieses Antrages am 18. Mai 1995 hat es fast zwei Jahre gedauert. Über ein Jahr ist seit der Anhörung zum Verkehrslärmschutz im Januar 1996 vergangen. Die Geschichte der Bürgerforderungen in Sachen Lärmschutz an diese Bundesregierung und ihre wechselnden Verkehrsminister, die wir hier im Parlament vorgetragen haben, begann 1984. Heute werden wir wohl einen weiteren Höhepunkt dieser Entwicklung erleben. Nach dem, was Sie gesagt haben, nehme ich an, daß Sie unseren Antrag ablehnen werden. ({2}) Bei der Anhörung im Januar 1996 stellten alle Sachverständigen fest, daß sich zwei Drittel aller Bundesbürger durch Straßenlärm belästigt fühlen und ein Sechstel der Bundesbürger, also mehr als 10 Millionen Einwohner dieses Landes, tagsüber einem Lärmpegel ausgesetzt sind, der weit über der Zumutbarkeitsgrenze von 65 Dezibel liegt. Sie haben weiter festgestellt, daß insbesondere der nächtliche Lärm - auch wenn er nicht bewußt wahrgenommen wird - gesundheitsgefährdend ist. Lärmgeplagte Bürger leiden nach übereinstimmender Meinung der Sachverständigen unter Streßreaktionen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zwei Prozent aller Herzinfarkte sind eindeutig lärmverursacht. Lärmschutz ist also auch Gesundheitsschutz. Und außerdem, Herr Bargfrede: Wenn das alles wahr ist, was die Sachverständigen gesagt haben - und ich zweifele nicht daran -, kann es mit der Lärmpolitik dieser Bundesregierung nicht so weit her sein. ({3}) Die Anhörung zum Lärmschutz hat nämlich eines sehr deutlich gemacht: Die bisherige Politik der Bundesregierung ist unverantwortlich, und der Bürger ist der Leidtragende. Die Forderung der SPD nach einer zeitgemäßen, modernen Lärmgesetzgebung - das war das klare Resultat der Sachverständigenanhörung - ist mehr als berechtigt. Beispielhaft möchte ich hier zwei Grundforderungen anführen: erstens die Änderung der unzureichenden Rechtsgrundlage im Lärmschutz und zweitens die Forderung, die Gesamteinwirkung aller Verkehrsgeräusche zum Maßstab für Lärmschutzmaßnahmen zu machen. ({4}) Ich möchte die Notwendigkeit der Forderung nach einer rechtlichen Grundlage der Lärmsanierung an allen Verkehrswegen, nach einem Verkehrslärmschutzgesetz, mit Zitaten aus dieser Anhörung beAngelika Graf ({5}) gründen, die Ihnen eigentlich noch heute in den Ohren klingen müßten. Ich beziehe mich zum Beispiel auf Redebeiträge des Herrn Professor Dr. Berkemann, Richter am Bundesverwaltungsgericht. Er beklagt die Situation für die Bürger und für die Rechtsprechung und ficht für einheitliche Richtlinien an neuen und bestehenden Straßen, ebenso aber auch an neuen und bestehenden Bahnstrecken und an parallel geführten Bahn- und Autobahnstrecken. Für einen gesetzlichen Anspruch der betroffenen Mieter war der Sachverständige des Bundesumweltamtes, Herr Gottlob. Herr Professor Dr. Schulze-Fielitz von der Uni Würzburg hat ausgeführt: Der Gesetzgeber muß handeln. Er ist verpflichtet, Gesundheitsbeeinträchtigungen und Gesundheitsgefährdungen abzubauen. Wie wollen die Politiker rechtfertigen, daß ein großer Teil der Bevölkerung zunehmend durch Verkehrsbelastungen in ihrer Gesundheit beeinträchtigt wird? Er fährt wörtlich fort: Ich halte den Punkt Lärmsanierung für besonders vordringlich, verfassungsrechtlich und politisch ... Da muß man vordringlich ansetzen. Wörtlich sagte dazu Professor Berkemann: Wir haben gar keinen Gesetzgeber im Bereich der Lärmsanierung. Ehrlich gesagt, warte ich eigentlich seit Jahren auf einen Prozeß, wo ein Kläger, unterstützt vielleicht von anderen, den Mut hat, diese Frage so tief durchzuloten, daß er dann auf den Grund der Art. 2 und 14 GG stößt. ({6}) Verordnungen, Richtlinien, Verwaltungsvorschriften lösen seiner Ansicht nach das Problem nicht. Er meint, man müsse endlich der Tatsache gerecht werden, daß bei der Summation von Lärmbelastungen die Kosten für den Schutz vor der Belastung durch gesetzliche Vorgaben unter denen, die den Lärm emittieren, aufgeteilt werden müßten. Herr Professor Berkemann hat wörtlich gesagt: Man kann dem Bürger nicht zumuten, verschiedene Kosten, verschiedene Straßen, Baulastträger und Lärmträger sozusagen parallel zu verklagen. Ihm hat sich Helmuth Schulze-Fielitz von der Uni Würzburg voll angeschlossen: Das Bundes-Immissionsschutzgesetz, so sagt er, stellt nicht ab auf die Gesamtheit der Emissionen, die von den verschiedenen Verkehrsträgern verursacht werden. Es kommt also beim Bau einer neuen Autobahn zu der paradoxen Situation, daß es zwar dort Schallschutz gibt, aber die alte Bahnstrecke, die nebendran läuft und auch belastet, in diesen Lärmschutz nicht eingeschlossen wird. ({7}) Das ist perfekter Unsinn, so meine ich. ({8}) Dennoch gehen Sie nicht auf unsere Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung in diesem Bereich ein. Der Antrag der SPD enthält eine ganze Menge an Vorschlägen, die ohne größere Kosten verwirklicht werden könnten. Ich nenne einige Stichworte: Tempolimit, Bekämpfung des Verkehrslärms an der Quelle beim Fahrzeug, die Verwendung von Flüsterasphalt usw. Wenn Sie, meine Damen und Herren, heute unseren Antrag wieder ablehnen, wird ein weiteres Mal deutlich: Sie handeln wider besseres Wissen. ({9}) Denn bei der Anhörung ist alles ganz klar gesagt worden. Wenn Sie keine Lehren aus den wissenschaftlichen Anhörungen zu ziehen bereit sind, dann frage ich Sie: Warum machen wir sie dann eigentlich? ({10}) Und noch etwas zum Thema Lärm: Wovor die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande ebenfalls Schutz brauchen, ist der Lärm um nichts, den Sie in vielen Fällen veranstalten. Der Verkehrsminister wird mir bestätigen, daß seine Kollegin Merkel für eine nette, kleine Broschüre Geld ausgegeben hat. Sie heißt „Laut ist out" und ist im Dezember 1996 erschienen. ({11}) Die Ministerin preist in diesem Zusammenhang auch die Erfolge der Regierung in Sachen Lärmschutz. Gleichzeitig wird es aber immer lauter in unserer Republik. Meinen Sie nicht, daß das Geld für die Broschüre am besten für Lärmschutz ausgegeben worden wäre? ({12}) Schauen wir uns doch als Beispiel einmal das Trauerspiel um den Lärmschutz an der neuen ICE- Strecke von Köln nach Frankfurt an. Herr Jung wird sicherlich nachher noch etwas dazu sagen. Am 12. Juni 1996, bei der letzten Behandlung des heute anstehenden Antrags der SPD, hat der Berichterstatter der CDU, Sie, Herr Bargfrede, vollmundig erklärt, es werde in dem Bereich der Strecke, wo sie mit der A 3 parallel verlaufe, ein Pilotprojekt mit gemeinsamen Lärmschutzmaßnahmen geben. Die Mittel dafür würden aus dem Verkehrshaushalt zu Lasten anderer Maßnahmen aufgebracht. Ich habe mich gefreut für die Menschen, weil ich auch einmal in diesem Wahlkreis war und die Probleme kenne. ({13}) Noch im Oktober 1996 haben Sie dies weiter so unterstrichen. Das ist alles nur leeres Geschwätz, viel Lärm um nichts. Es gibt keine einzige Mark mehr als ursprünglich vorgesehen. In diesem Titel sind Angelika Graf ({14}) 439 Millionen DM für den Umweltschutz eingestellt. Es ist nichts dazugekommen. Ich hatte gehofft, Sie würden zum Beispiel etwas aus dem Transrapid-Titel herausnehmen. ({15}) Wir brauchen eine klare gesetzliche Grundlage für die Finanzierung von Lärmschutz an Schienen. Die Bürger dürfen nicht abhängig sein vom Goodwill und dem Kassenstand irgendwelcher Landesregierungen und der DB AG. Wenn die Bahn im internationalen Wettbewerb und im Wettbewerb zwischen Straße und Schiene bestehen will, müssen Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, dafür endlich die Voraussetzungen schaffen. Um beim belasteten Bürger auf Akzeptanz zu treffen, gehört dazu auch ein Lärmschutz an der Schiene, der dem an der Straße entspricht. Für diesen Lärmschutz muß der Bund die notwendigen Mittel bereitstellen. ({16}) Der politische Wille, Lösungen im Lärmschutz zu suchen und sie in manchen Fällen schnell umzusetzen, muß vorhanden sein. Ich sehe ihn bei dieser Regierung schlicht und einfach nicht. Fest steht für mich eines: Die Kosten, die durch Ihre mangelnde Bereitschaft, gesetzliche Regelungen zu treffen, bisher entstanden sind, belaufen sich insgesamt nicht auf fünf-, wie Sie meinen, Herr Bargfrede, sondern auf zweistellige Milliardenbeträge. Bereits einige Millionen davon können meiner Meinung nach zusammen mit den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen viele Menschen von den Qualen einer Dauerbeschallung durch Verkehrslärm erlösen. Das sind wirklich Qualen. Kollegin Müller wird sicherlich bei den Petitionen noch entsprechend darauf eingehen. Außerdem meine ich, daß auch im Tiefbau dadurch etliche Arbeitsplätze gesichert werden könnten. Denn die Bauindustrie liegt dank der Politik Ihrer Regierung ja deutlich darnieder. ({17}) Ökologische Investitionen in die Zukunft nennen wir so etwas. Ist Herr Minister Wissmann da? ({18}) - Nein, er ist nicht da. Das ist typisch. - Herr Staatssekretär, sorgen Sie bitte dafür, daß Herr Minister Wissmann endlich handelt, bevor der Berg unerledigter Lärmschutzmaßnahmen noch weiter anwächst und auf die nächste Regierung - hoffentlich unsere - zukommt. Tun Sie etwas! Lassen Sie mich mit einem Zitat schließen. Unser oben schon mehrfach zitierter Sachverständiger, Richter Berkemann vom Bundesverwaltungsgericht, fragte im Laufe seiner Ausführungen: Was machen wir mit einem schweigenden Gesetzgeber, der seinen Schutzpflichten nicht nachkommt? ({19}) - Richtig. Die Antwort wird ihm und Ihnen die nächste Bundestagswahl geben. ({20})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Bargfrede! So geht es ja nicht. Sie stellen sich hier vorne hin und erwecken den Eindruck, wir lebten in dem lärmsaniertesten Land der Welt oder zumindest Europas und jeder, der etwas anderes erzählt, wisse nicht, wovon er spricht. Ich kann Ihnen eines versichern. Ich war gestern bei einer Veranstaltung im Landkreis Neuwied bei Koblenz im Nachbarbundesland Rheinland-Pfalz eingeladen. Ich sage Ihnen: Dort waren Hunderte von Menschen, die in einer riesigen Anhörung des Landkreises mit Sachverständigen quer durch die gesamte Landschaft glaubwürdig berichtet haben. Sie haben nachts in ihren Schlafzimmern an der rechtsrheinischen Bahnstrecke zum Teil Lärmpegel in Werten von 85 dB. Diese Menschen stehen nachts senkrecht im Bett. Wenn Sie sich dann hier hinstellen und den Eindruck zu erwecken versuchen, es gebe kein Problem, dann ist das einfach zynisch, oder Sie wissen nicht, wovon Sie reden. ({0}) Ich möchte Ihnen zunächst ein paar schlichte Beispiele zur Kenntnis geben, bevor ich über drei Knackpunkte der vorliegenden Anträge sprechen werde. Es ist eine schlichte Tatsache, daß Lärm zugenommen hat. Es war besagte Umweltministerin Angela Merkel, die in der besagten Broschüre, von Kollegin Graf schon angesprochen, die Umfragen zitiert hat. Zwei Drittel der Menschen in unserem Land beklagen sich inzwischen vor allem über Straßenlärm. Die Hälfte der Menschen leidet unter dem Fluglärm. Das haben wir bereits an anderer Stelle zu diskutieren gehabt. Immerhin ein Fünftel der Menschen beklagt sich über Lärm an Bahn- und Schienenstrecken. ({1}) - Herr Kollege Kuhn, machen Sie sich erst einmal kundig, bevor Sie unqualifizierte Zwischenbemerkungen machen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Herr Kuhn: Es handelt sich nicht nur um Belästigung. Es handelt sich um die Tatsache: Lärm macht krank. Albert Schmidt ({2}) Jeder von uns hat die Chance gehabt, an der Anhörung des Verkehrsausschusses am 17. Januar letzten Jahres teilzunehmen. Dort haben uns die Sachverständigen vorgetragen. Zum Beispiel hat uns das Umweltbundesamt darauf hingewiesen, daß nach seinen Schätzungen 2 000 Todesfälle im Gefolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen heute auf Verkehrslärm zurückzuführen sind. Das sind doch keine Petitessen, von denen man hier spricht. Da besteht ernsthafter Handlungsbedarf. Von dieser schlichten Tatsache geht sowohl der Antrag der SPD als auch unser Antrag aus. Dieser Ansatz ist richtig. ({3}) Er setzt jedoch voraus, daß sich die Bundesregierung mit diesen Anliegen endlich einmal ernst auseinandersetzt und auch die Anhörung zur Kenntnis nimmt. Denn wer trotz des geballten Sachverstandes, der dort aufgetreten ist, heute so tut, als ob es keinen Handlungsbedarf gibt, setzt sich dem Vorwurf aus, an dieser Stelle mit der Gesundheit der Menschen fahrlässig umzugehen. Anders kann man es nicht sagen. Lärm ist weder nur ein technisches noch nur ein gesundheitliches Problem. Lärm ist auch ein soziales Problem. Diesen Gesichtspunkt möchte ich kurz darstellen. Häufig sind es gerade die Schutzbedürftigsten der Gesellschaft, die besonders zu leiden haben. Es sind die alten Menschen und die Kinder, weil die Nachtruhezeiten nicht entsprechend berücksichtigt sind. Es sind aber auch Menschen mit niedrigen Einkommen, die in diesen Lärmslums entlang den Trassen leben, wo infolge der zunehmenden Verlärmung die Mieten immer niedriger werden, überhaupt noch bezahlbar sind. Hingegen sind die Mieten in Ruhegebieten inzwischen unerschwinglich, so daß wir auch hier immer mehr eine Korrelation zwischen sozialem Abstieg und Lärmslums bekommen. ({4}) Ich möchte auf drei Knackpunkte der vorliegenden Anträge kurz eingehen. Der erste Punkt ist die Situation der Anwohnerinnen und Anwohner an bestehenden Verkehrswegen. Wir haben in unserem Land die verrückte Situation, daß es Anspruch auf Lärmsanierung nur bei der sogenannten wesentlichen baulichen Änderung von Straßen oder Schienenwegen gibt, also zum Beispiel beim Bau zusätzlicher Fahrspuren, zusätzlicher Gleise usw. ({5}) Wenn sich aber zum Beispiel das Geschwindigkeitsniveau erheblich verändert, wenn sich das Verkehrsaufkommen erheblich steigert und wenn zum Beispiel ein deutlich höherer Lkw-Anteil hinzukommt, dann gibt es diese Ansprüche nicht. Bei bestehenden Straßen liegen die Emissionsgrenzwerte für eine Lärmsanierung für reine und allgemeine Wohngebiete bei 70 dB tags und bei 60 dB in der Nacht, also wesentlich höher als beim Neubau von Straßen, bei denen ein Mittelungspegel von jeweils nur 59 bzw. 49 dB zulässig ist. Dieser Zustand ist unhaltbar. Wir verlangen deshalb in unserem Antrag: Es darf langfristig keinen Unterschied mehr zwischen Lärmschutz an bestehenden und Lärmschutz an neu geplanten Verkehrswegen geben. So einfach ist das. ({6}) Wir verlangen mittelfristig eine Senkung der entsprechenden Werte auf die Werte nach der DIN-Norm 18005 für den Städtebau. In geradezu verfassungswidriger Weise aber sind die Anwohnerinnen und Anwohner an Bahnstrecken beeinträchtigt; Frau Kollegin Graf hat es schon angesprochen. Entlang der Schiene gibt es - um das einmal ganz klar zu sagen -, von wenigen Neubaustrekken abgesehen, bei uns weitgehend überhaupt keinen Lärmschutz. Deshalb häufen sich die Eingaben beim Petitionsausschuß. Es sind doch nicht lauter Verrückte, die die Eingaben schreiben. Die Stapel von Petitionen kommen von all den Betroffenen entlang den Schienenstrecken. Das verrückte Ritual, das sich immer abspielt, ist folgendes. Der Petitionsausschuß erkennt das Anliegen an, sogar der Bundesverkehrsminister erkennt es an. Aber - jetzt kommt die große Einschränkung - es heißt regelmäßig: Wir haben für diese Lärmsanierung kein Geld. Das ist ein merkwürdiger Zustand. Denn das besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß Belange der gesundheitlichen Vorsorge hinter fiskalische Belange zurückgestellt werden. Das darf in einem zivilisierten Land doch nicht sein. ({7}) Daß dies verfassungsrechtlich bedenklich ist, möchte ich an einem Zitat von Professor Berkemann vorführen, den auch Kollegin Graf schon erwähnt hat. Er hat in der Anhörung des Verkehrsausschusses vor einem Jahr folgendes gesagt: Das Fehlen eines positiv-rechtlich geregelten Rechtsanspruchs - also eine gesetzliche Regelung auf Lärmsanierung auch für den Schienenverkehr ist rechtsstaatlich bedenklich. Es kann grundrechtlich kein wirklicher Zweifel bestehen, daß ein entsprechender Schutzanspruch - gestützt auf Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 GG - durchaus in Betracht kommt. Es ist dem Gesetzgeber dringlich anzuraten, diesen Anspruch zu legeferieren. - Also auf deutsch gesagt: dieses Gesetz endlich zu machen. Wenn es seitens der SPD oder der Bündnisgrünen beantragt wird, dann sagen Sie, es besteht kein Handlungsbedarf. Das ist doch aberwitzig. ({8}) Albert Schmidt ({9}) In der Tat hat auch der Bundesverkehrsminister, und zwar mit Schreiben an den Petitionsausschuß vom 29. März 1994, schon einmal versprochen, „sich ... dafür ein[zu]setzen, eine haushaltsrechtliche Regelung zur Finanzierung von Lärmsanierungsmaßnahmen zu schaffen". Auf deutsch gesagt: daß es für diesen Zweck endlich Geld gibt. Doch was ist knapp drei Jahre nach dieser Ankündigung passiert? Nichts. In einer Antwort auf eine SPD-Anfrage teilt derselbe Verkehrsminister bzw. sein Staatssekretär Anfang 1997 mit, daß weiterhin „eine verpflichtende Rechtsgrundlage fehlt" und - jetzt hören Sie genau zu! - „ein entsprechender Investitionsbedarf nicht" vorliegt. Das heißt im Klartext: Man verspricht, sich darum zu kümmern, macht dann die Hausaufgaben nicht und beklagt nachher schulterzuckend, daß leider nichts passiert ist, weil nichts gegangen ist. Auch so kann man natürlich Regierungspolitik machen. Ich möchte Ihnen eines aber deutlich sagen: Lärmschutz und Lärmsanierung gibt es nicht zum Nulltarif, das ist wohl wahr. Es wäre unredlich, nur zu verlangen und zu fordern, ohne auch zu sagen, wie dies finanziert werden soll. Ich mache dazu zuerst eine polemische und dann eine sachliche Bemerkung. Die polemische Bemerkung, die ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen kann, ist: Wenn eine Regierung glaubt, sich solche Luxusinvestitionsruinen wie den Transrapid leisten zu müssen, wenn unwirtschaftliche Bahnstrecken in der Qualität der ICE- Strecke durch den Thüringer Wald für 8,5 Milliarden DM vergraben werden - auch das wird ein Milliardengrab werden -, wenn die Ostsee-Autobahn für viele Milliarden projektiert wird und Geld auf diese Weise verbraten wird, es beim Lärmschutz aber plötzlich heißt: „Jetzt ist uns leider das Geld ausgegangen", dann ist das eine sehr eigenartige Politik. ({10}) - Herr Kollege, das war die polemische Bemerkung. Jetzt komme ich zu der sachlichen Bemerkung. Es geht bei den Schienenstrecken um ein Investitionsvolumen von 4,4 Milliarden DM. Das ist die Zahl, die das Verkehrsministerium nennt und die auch die Deutsche Bahn AG in der besagten Veranstaltung gestern genannt hat. Auch wir wissen, daß das Geld nicht von heute auf morgen in einem Hauruck-Verfahren zur Verfügung stehen kann. Wir schlagen ein Zehn- oder Zwölfjahresprogramm, gestaffelt in Jahresschritte zu 300 oder meinetwegen 200 Millionen DM, vor, damit man an den neuralgischsten Stellen überhaupt einmal anfängt. Mit einem solchen Aktionsprogramm Lärmschutz Schiene wäre man nach zehn oder zwölf Jahren ein gutes Stück weiter, als wir heute sind. Sie werden in den Ausschußberatungen Gelegenheit bekommen, sich positiv auf diesen Vorschlag zu beziehen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bargfrede?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne.

Heinz Günter Bargfrede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000095, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt, Sie sagten eben, daß auch nach Ihren finanziellen Vorstellungen dieses Programm etwa zehn bis zwölf Jahre dauern wird, bis der letzte Anspruch erfüllt ist. Gleichzeitig wollen Sie aber allen Bürgern ab sofort einen Rechtsanspruch auf entsprechende Sanierungen einräumen. Meinen Sie nicht, daß all die Bürger, die nicht im ersten oder zweiten Jahr dran sind, sondern erst in sieben oder acht Jahren, morgen auf der Matte stehen und diesen Rechtsanspruch einklagen und damit gewaltige Prozeßlawinen auf Bund, Länder und Gemeinden zukommen?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege, das Unanständige an Ihrer Frage, das unausgesprochen mitschwingt, ist folgendes: Indem Sie mich dies fragen, geben Sie indirekt zu, daß Sie diesen Rechtsanspruch nicht einräumen, weil Sie sonst die Leute mit ihren Rechten ernst nehmen müßten; Sie müßten nämlich Geld zur Verfügung stellen. So ergibt diese Frage einen Sinn. ({0}) Ich will Ihnen aber ganz nüchtern und sachlich darauf antworten. Ich habe von einer schrittweisen Angleichung der Grenzwerte, von einer schrittweisen Reduzierung gesprochen. Ich habe davon gesprochen, daß in einem mehrjährigen Programm Gelder zur Verfügung gestellt werden müssen. Jeder Verwaltungsrichter und jede -richterin in diesem Lande wird Ihnen bestätigen können, daß zuerst die eklatantesten Fälle drankommen müssen, wenn das Geld knapp ist, und die weniger eklatanten Fälle der Reihe nach abgearbeitet werden. Diesen grundsätzlichen Einwand als Begründung für das Nichtstun geltend zu machen, wie Sie mir einreden wollen, ist aber die schlechteste Lösung. ({1}) Ich komme zu dem dritten Knackpunkt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Das ist die Situation an den sogenannten gebündelten Verkehrswegen. Auch das ist schon angesprochen worden. Es ist durchaus vernünftig, daß man bei der Verkehrsplanung Lärmachsen bündelt und neue Lärmwege parallel zu vorhandenen baut, um nicht neue Landschaften zu verlärmen. Aber im Moment ist die Situation verrückt: Der betroffene Bürger und die betroffene Bürgerin müssen ihre Betroffenheit durch jeden einzelnen Verkehrsweg nachweisen. Möglicherweise haben sie zum Beispiel den Autobahnlärm von links und das Kreischen der Güterzüge von rechts; sie sitzen genau dazwischen. Beide Einzelgeräusche sind knapp unter dem Grenzwert. Zusammen sind sie weit über dem Grenzwert. Aber sie können keine Rechtsansprüche geltend machen, weil es sich um die Summe aus zwei verschiedenen Geräuschen handelt. So wahnsinnig ist die Situation im Moment. Albert Schmidt ({2}) Dabei kann es nicht bleiben. Wir schlagen deshalb vor, daß man hier nicht so lebensfremd verfährt, sondern Bezug nimmt auf das, was die Menschen hören, und das ist das Geräusch in seiner Summe aus verschiedenen Verkehrsadern, aus verschiedenen Verkehrsachsen. Darauf muß man sich beziehen. Diese Ansicht teilt im übrigen auch der Petitionsausschuß des Bundestages, wenn er sagt, daß dem Geist der Immissionsschutzgesetzgebung durch das bisherige Verfahren widersprochen wird.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege, Sie achten auf die Zeit!

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluß. Es gibt noch eine Fülle von Einzelmaßnahmen, die wir vorgeschlagen haben, die Sie im Antrag werden nachlesen können. Wir werden bei der Ausschußberatung Gelegenheit haben, im einzelnen darüber zu sprechen. Ich finde, sowohl der Antrag der SPD, der heute in abschließender Lesung zur Abstimmung steht, als auch unser Antrag verdienen Unterstützung, wobei ich zumindest die Hoffnung habe, daß in Einzelpunkten jenseits grundsätzlicher Differenzen Einigung über das eine oder andere möglich ist. Die Menschen draußen, die vom Lärm geplagt sind, freuen sich über jeden konkreten Einzelschritt, und sei er noch so klein, der ihre Situation erleichtert. An sie sollten wir denken und nicht nur an das Portemonnaie des Finanzministers, der davon auch nicht reicher wird. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, F.D.P.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Lärm entwickelt sich ganz offensichtlich zum Lieblings- und Dauerthema von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, insbesondere der Verkehrslärm. Der der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses zugrundeliegende Antrag war bereits mehrfach Gegenstand von Beratungen im Plenum und in den Ausschüssen. Es hat eine umfangreiche Anhörung gegeben, die schon zitiert worden ist. Es liegt nun auch noch ein Antrag auf Vorlage eines Entwurfs eines Verkehrslärmschutzgesetzes vor. In der letzten Woche haben wir uns über den Fluglärm unterhalten. Der Grund für das Lärmen der Opposition ist relativ offensichtlich: Das Thema Lärm ist angesichts des knappen Geldes und der nicht zu leugnenden Belastung durch Verkehrslärm ein für die die Regierungsverantwortung tragenden Fraktionen ausgesprochen undankbares. Einerseits nämlich - das muß deutlich gemacht werden - kann niemand in diesem Haus die Notwendigkeit einer umfassenden Lärmvorsorge und -sanierung leugnen wollen. ({0}) Andererseits - das ist die Kehrseite der Medaille und gehört mit dazu - lassen sich mit den in den Vorlagen erhobenen und auf den ersten Blick, Herr Kollege Schmidt, durchaus attraktiven Forderungen nach weitreichenden Maßnahmen zum Lärmschutz sicherlich einige Punkte auf der nach oben offenen Populistikskala machen, ({1}) womit sich dann umgekehrt trefflich behaupten läßt, daß die böse Koalition die Bürger in der Verkehrslärmkatastrophe alleine läßt - oder zumindest so ähnlich. Nicht zu leugnen ist allerdings die Tatsache, daß für die teils tauglichen, teils weniger brauchbaren Vorschläge der Opposition, das hochindustrialisierte Deutschland mit seiner hohen Verkehrsdichte gewissermaßen zu einer Oase der Ruhe zu machen, über das gegenwärtige Niveau hinaus kaum finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Das ist im übrigen kein sonderlich neues Phänomen; denn auch in der Vergangenheit waren Forderungen nach mehr Lärmschutz billig und letztlich nur dazu da, Erwartungshaltungen zu erzeugen, die aber angesichts der Kosten nie und nimmer erfüllt werden konnten. Das gilt losgelöst von der jeweiligen Regierungsmehrheit, die das Sagen hatte. So verhält es sich auch mit dem vorliegenden Entwurf eines Verkehrslärmgesetzes. Er entspringt dem streng staatsgläubigen Politikverständnis von Bündnis 90/Die Grünen, daß mit einem Gesetz alle Probleme gelöst werden könnten. ({2}) Offenbar unberücksichtigt sind dabei wiederum die finanziellen Folgen geblieben, die ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Lärmschutz, wie im Gesetzentwurf beziehungsweise im SPD-Antrag vorgesehen, hervorruft. Für die Lärmsanierung an den bestehenden Schienenwegen des Bundes würden weit mehr als 4 Milliarden DM erforderlich sein. Hinzu kämen mehr als 7 Milliarden DM für die Lärmsanierung an Straßen, von denen allerdings die Länder, Kreise und Gemeinden alleine rund 5,5 Milliarden DM aufzuwenden hätten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Mehrheit im Bundesrat diesen Vorschlag mit sehr großer Freude aufnehmen würde, von den Kommunen ganz zu schweigen. Es wäre sicher auch den Bürgern kaum zu vermitteln, wenn sie für eine umfassende Lärmsanierung neue Belastungen zu tragen hätten. Über die negativen Auswirkungen von Verkehrslärm besteht weitgehend Einigkeit. Zwar werden wie immer verschiedene Lärmquellen auf gleichem Niveau subjektiv unterschiedlich beurteilt. Es hängt auch davon ab, wo der Lärm entsteht: Eine Geräuschkulisse von 60 dB im Urlaub wird immer noch als erholsam empfunden, 55 dB in der Nacht sind hingegen störend. Doch trotz unterschiedlicher Ergebnisse entsprechender Untersuchungen zu den Auswirkungen von Lärm auf die Gesundheit scheint festzustehen: Lärmbelastungen stellen unter bestimmten Bedingungen nicht unerhebliche Gesundheitsrisiken dar und können Auslöser sowohl psychischer als auch physischer Erkrankungen sein. Das ist ganz unstrittig. Es wäre allerdings falsch, den Eindruck zu erwekken, als würde in unserem Land im Bereich Lärmschutz überhaupt nichts geschehen. Als Mittelpunkt der Gesetzgebung haben sich das Bundes-Immissionsschutzgesetz und dessen Durchführungsverordnungen weitestgehend bewährt. Auch wenn die Bundes-Immissionsschutzverordnung keine Bestimmungen zur verbindlichen Lärmsanierung an bestehenden Strecken beinhaltet, zeigt die Summe von immerhin 4,3 Milliarden DM, die bis 1994 für Lärmschutzmaßnahmen ausgegeben worden ist, daß der Bund nicht untätig bleibt und daß deswegen gewisse Vorwürfe zumindest teilweise ins Leere laufen. Die erst vor wenigen Tagen in Kraft getretene Schallschutzmaßnahmenverordnung bringt eine erneute Verbesserung im Interesse der vom Verkehrslärm betroffenen Bürger. Gegenwärtig wird im Umweltministerium eine neue TA Lärm erarbeitet. Dennoch gibt es aus Sicht der F.D.P. Bereiche, in denen über die bestehenden Bestimmungen nachgedacht werden muß. Zwei seien an dieser Stelle genannt: der sogenannte Schienenbonus, der aus unserer Sicht insbesondere auf hochfrequentierten Strekken nur bei optimalen technischen Voraussetzungen an Fahrzeugen und Fahrweg gerechtfertigt sein dürfte, und der bei paralleler Streckenführung von Straße und Schiene entstehende Bündelungslärm - dieser Punkt ist schon angesprochen worden -, dem durch die bestehenden, lärmtechnischen unterschiedlichen Regelungen nicht wirksam begegnet wird. Das ist, glaube ich, ziemlich unstrittig. Zudem ist es in der Vergangenheit zu geradezu unsinnigen Lärmschutzmaßnahmen an parallel verlaufenden Strecken gekommen, bei denen die ohnehin knappen Mittel alles andere als wirksam eingesetzt wurden. ({3}) Die Koalition hat dies allerdings erkannt und im Ausschuß für Verkehr die entsprechenden Beschlüsse gefaßt. Durch den von der Bundesregierung vorzulegenden Bericht über technische Entwicklungen bei Fahrwegen und Fahrzeugen wie beispielsweise bei Reifen, Zug- und Wagenrädern, Straßenbelägen und Gleiskörpern werden wir sicherlich wertvolle Erkenntnisse gewinnen, ob und inwieweit der Schienenbonus noch gerechtfertigt ist oder gegebenenfalls modifiziert werden muß. Darüber hinaus soll der Bund an der neuen ICE-Strecke Köln - Rhein-Main, die nachweislich in Teilen parallel zur bereits existierenden Autobahn A 3 verläuft, erstmals Lärmschutzmaßnahmen verwirklichen, obwohl für einen solchen Fall - noch - keine gesetzlichen Regelungen existieren. So wünschenswert mehr Lärmschutz auch sein mag, es muß doch auch differenziert werden. Nicht immer bringen aktive Immissionsschutzmaßnahmen wie Lärmschutzwände oder -wälle die gewünschten oder - besser gesagt - erwarteten Effekte. Insbesondere an den bestehenden Schienenstrecken, die, wo sie als Lärmquelle störend wirken, in der Regel in städtischen Bereichen verlaufen, sind Schallschutzmaßnahmen technisch und finanziell nur sehr schwierig zu realisieren. Auch im Bereich des innerörtlichen Straßenverkehrs sind dem herkömmlichen Lärmschutz durchaus Grenzen gesetzt. Ich glaube, Mauern durch Städte sollten eigentlich der Vergangenheit angehören. Langfristig vielversprechender erscheint uns im Hinblick auf das Minderungspotential die Forcierung der Lärmminderung an den Geräuschquellen selber, ({4}) wobei durch technische Maßnahmen am Pkw oder Lkw bis zu 8 dB, beim Schienenschleifen oder lärmtechnisch optimierten Bau von Schienenfahrzeugen gar bis zu 20 dB erreicht werden können. ({5}) Die Bahn forscht darüber hinaus im Rahmen ihres Lärmreduktionsprogramms in zahlreichen Bereichen, um die Lärmemissionen ihrer Züge weiter zu minimieren. Mit Maßnahmen wie dem Einbau elastischer Zwischenplatten zwischen Betonunterbau und Gleis beim festen Fahrweg bis hin zum Gemeinschaftsprojekt ,,Low-noise train" sind die Weichen zu einem deutlichen Minus an bahnbedingtem Lärm längst gestellt. Auch im Straßenverkehr haben sich die Verbindung von berechenbaren europaweiten Grenzwerten für Kfz, die seit 1980 insgesamt dreimal verschärft worden sind, und die Verbesserungen am Fahrzeug bewährt. Die letzte Absenkung des Lärmgrenzwertes für Pkw von 77 dB auf 74 dB entspricht einer Halbierung der Schalleistung. Die Lärmminderung bei den schweren Lkw ist noch eindrucksvoller: 25 neue Lkw von heute sind so laut wie ein einziger aus dem Jahre 1980. Da ab einem Anteil von 10 Prozent am Straßenverkehr der Schwerlastverkehr bereits die Hauptlärmquelle darstellt, sind die Fortschritte in dem Bereich besonders wirksam. Deswegen ist es, Herr Kollege Schmidt, auch relativ unsinnig, dauernd Tempobeschränkungen von 100 km/h auf den Autobahnen zu fordern. In der Regel ist der Anteil von Lkw auf Autobahnen höher als 10 Prozent. Damit bringen 100 km/h überhaupt nichts. ({6}) Diese pauschalen Forderungen klingen in etwa so, als wenn ich nach einem Mittel rufe, das vom Fußpilz bis zum Haarausfall gegen alles wirken soll. Das klappt nicht. Durch Anreizmechanismen wie zum Beispiel Fahrverbotsausnahmen muß auf diesem erfolgversprechenden Weg weitergegangen werden. Ich verweise auf die Erfahrungen mit den Start- und Landegebühren am Flughafen. Die seit 1996 europaweit geltenden neuen Geräuschgrenzwerte für Pkw, Lkw und Busse könnten dabei ebenfalls eine Etappe sein. Zum Abschluß sei noch einmal gesagt: Lärm ist ein Problem; keiner kann das gering achten. Die F.D.P. ist sich dessen bewußt und wird deswegen auch die vielfältigen Anstrengungen und Erfolge in den Bereichen der Lärmvorsorge, der Lärmsanierung und der Lärmforschung weiterhin unterstützen. Allerdings - auch das muß klar sein - wird der Lärmbekämpfung mit einem Gesetz ohne entsprechende realistische Mittelausstattung allenfalls ein Bärendienst erwiesen. Deswegen werden wir den Antrag der SPD ablehnen. Noch ein Wort zu Ihrem Antrag, Herr Kollege Schmidt. Es wird Sie nicht überraschen, daß wir diesem Gesetz unsere Zustimmung nicht geben können. Ich zitiere einmal aus Ihren Vorschlägen: Straßenlärm ist durch ... die Möglichkeit von Fahrverboten ... auf Gemeindestraßen in Kur- und Erholungsorten . . ., zeitlich befristete Fahrverbote insbesondere am Wochenende und Straßenrückbau zugunsten niedrigerer Geschwindigkeiten zu begegnen. Stichstraßen in Erholungsgebiete sind grundsätzlich für den motorisierten Individualverkehr ... zu sperren .. . ({7}) Das ist eine Greuelliste moderner bündnisgrüner Politik, die unsere Zustimmung nicht finden kann. Ich bin interessiert daran, wie die anderen Leute, die diesen Gesetzentwurf lesen, tatsächlich über Ihre Vorschläge denken. Herzlichen Dank. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Winfried Wolf, PDS.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Werter Präsident! Werte Damen und Herren! Die Erlaubnis des Herrn Präsidenten unterstellt, gebe ich zunächst einem Promi und dann einem Privilegierten zum Thema Lärm das Wort. Erstes Zitat: Nunmehr habe ich, als den ... schändlichsten Lärm, das wahrhaft infernalische Peitschenknallen in den hallenden Gassen zu denunzieren, welches dem Leben alle ... Sinnigkeit nimmt .. . ({0}) Fuhrknechte, Sackträger, Eckensteher und dergleichen sind die Lastenträger der menschlichen Gesellschaft; sie sollen durchaus human behandelt werden. Aber ihnen darf nicht gestattet sein, durch mutwilligen Lärm den höheren Bestrebungen des Menschengeschlechts hinderlich zu werden. Zitat Nummer zwei: Gefährlich, da unerwartet, ist der plötzliche Lärm: Schrilles Autohupen ist durchaus in der Lage, die feinen Härchen im Innenohr - die Transporteure des Schalldrucks - zu zerbrechen. Irreversible Hörschäden sind dann die Folge. Das erste Zitat - es ist gesagt worden - stammt von dem Philosophen Arthur Schopenhauer, ({1}) das zweite aus „Profitravel", einer Beilage zur „Wirtschaftswoche", die sich vor allem an Geschäftsreisende wendet. Zwischen beiden Zitaten liegen knapp eineinhalb Jahrhunderte. Als ich auf der Anhörung des Verkehrsausschusses zum Thema Verkehrslärm Anfang letzten Jahres vor dem Lärmsachverstand der Nation das Schopenhauer-Zitat wiedergab, antwortete Professor Ising vom Umweltbundesamt, es gebe, ergänzend zu Schopenhauer, „auch ein uraltes Zitat über Lärmschwerhörigkeit"; das „steht in der Bibel" . Er fuhr fort: Aber die Menge des Verkehrslärms, also Umweltlärm, mit Dauerschallpegeln über 70 und bis zu 80 Dezibel, das hat es zu Schopenhauers Zeiten nirgends auf der Welt gegeben. Damit ist diese Lärmbelastung wirklich in eine neue Qualität gekommen. Damit wird bei den heutigen Menschen das Leben durch Lärm verkürzt. Dabei geht es im Grunde gar nicht primär um Lärm im Extrembereich und um Lärmtote. Die neue Qualität wird von dem Dauerlärm, dem wir ausgesetzt sind, bestimmt. Seit der Jahrhundertwende hat sich der Lärm einer Großstadt mehr als verdreifacht. Der Duden kann gar nicht so schnell Krach schlagen, wie Lärm sich in neuen Vokabeln niederschlägt: „Verlärmung", „Lärmteppich", „akustischer Müll", „Lärmabfall", „Flüsterasphalt", „Schalldruck" - das ist nur eine Auswahl aus dem modernen Lärmlexikon. Im übrigen fügt sich das hier debattierte Wortungetüm - ich weiß, es geht manchmal nicht anders - eines Verkehrslärm-Schutzgesetzes in die Reihe der Erweiterung unseres Wortschatzes in Folge fortgesetzter Zerstörungsprozesse ein. Apropos Zerstörung, diese trifft auch die Lyrik. Wer kann noch glaubwürdig rezitieren: Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch ... Darauf, daß solche Lyrik im Lärm moderner Zeiten untergeht, verweisen recht prosaisch die beiden zur Debatte stehenden Anträge. Diese stellen fest, daß selbst in Erholungsgebieten die Verlärmung über- und unterhalb der abgestorbenen Wipfel enorm zugenommen hat. Dabei könnte der Teufelskreis kaum deutlicher werden: Die bisher noch ruhigen Erholungsräume werden dadurch verlärmt, daß die Menschen unter dem Lärmteppich des Dickichts der Städte hervorkriechen, in ihre lärmenden Blechkisten steigen, auf lärmenden Autobahnen und Schnellstraßen - teilweise entlang von Lärmschutzwänden - in diese Erholungsräume flüchten, um hier selbst hochtoxischen Lärmsondermüll zu hinterlassen. Jetzt also ist das deutsche Parlament aufgefordert, in Sachen Lärmschutz aktiv zu werden. Die beiden zur Debatte stehenden Anträge gehen in die richtige Richtung. Wir können beiden zustimmen, auch dem, was vor mir die Kollegin Graf und der Kollege Schmidt ausführten. Wir sollten uns jedoch als Ausgangsbasis für alle Rufe nach „Silentium" vier zentrale Grundlagen der Lärmproblematik vor Augen halten: Erstens. Gut die Hälfte des aktuellen Lärmmülls ist Folge des Straßenverkehrs. Zweitens. Der Lkw-Verkehr, der „nur" 10 Prozent des Kraftfahrzeugverkehrsaufkommens ausmacht, ist zu rund der Hälfte für den gesamten Kraftfahrzeugverkehrslärm verantwortlich. Drittens. Rund ein Drittel aller Haushalte, die über „erhebliche Lärmbelästigung" klagen, macht dafür den Fluglärm als wesentlichen Lärmemittenten aus. Viertens. Der Schienenverkehr ist ebenfalls wesentlicher Lärmemittent, was veralteter Technik und der besonders unzureichenden gesetzlichen Grundlagen in dem Sektor geschuldet ist. Wenn wir diese vier Erkenntnisse in die Debatte einbringen, dann läßt sich doch ganz ruhig und sachlich feststellen: Der Straßenverkehr im allgemeinen soll laut Bundesverkehrswegeplan weiter wachsen. Diesbezüglich ist seit Jahrzehnten Planübererfüllung zu vermelden. Beide zur Debatte anstehenden Anträge behandeln übrigens den hieraus resultierenden entscheidenden Aspekt der Verkehrsvermeidung eher stiefmütterlich. Der Lkw-Verkehr wächst gut doppelt so schnell wie der Pkw-Verkehr. Er soll sich in den kommenden 15 Jahren nochmals verdoppeln. Der Luftverkehr wächst nochmals schneller. Flughafenbau und -ausbau stehen überall ganz oben auf den Tagesordnungen. Demnach müßten Lkw-Verkehr, Flugverkehr und allgemeiner Kfz-Verkehr im Zentrum jeder Lärmbekämpfung stehen. ({2}) Es gibt kostenneutrale und sehr effiziente Forderungen zur Entlärmung, die nicht von der Realität losgelöst sind, Herr Friedrich. Geschwindigkeitsbeschränkungen, Nachtfahrverbote für Lkw und Nachtflugverbote für Airports sind solche Maßnahmen. Dies wird hier eher en passant diskutiert, wohl, weil bekannt ist, daß der Trend in die entgegengesetzte Richtung geht und zum Beispiel auch unter Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen der Nachtflugverkehr ausgeweitet wird. ({3}) Statt diese entscheidenden Maßnahmen ins Zentrum zu stellen, wird ausgiebig über immanent-technische Entlärmungsmöglichkeiten debattiert. Begeben wir uns für einen Augenblick konkret auf diese profane Ebene: Allein das Verbot von breiten Reifen - oder Lärmemissionsgrenzwerte für Reifen in Verbindung mit Tempolimits - würde eine Lärmminderung bewirken, die weit mehr als alle anderen technisch-immanenten Forderungen zur Lärmminderung bringt. Es sind nämlich die Reifen, die ab einer bestimmten Geschwindigkeit entscheidend für den emittierten Lärm eines Kfz sind. Ein abgekapselter Motor oder ein Auspuff-Schallschutz sind da drittrangig. Doch wir stellen eine andere, immer mehr Lärm produzierende Tendenz fest: Die Reifen werden immer breiter, es gilt „dick ist schick", auch wenn dies die Verkehrssicherheit unterminiert - Stichwort Aquaplaning - und die Raserei begünstigt. Oder als weiteres Beispiel der Schienenverkehr, der, wie ich sagte, ein wesentlicher Lärmemittent ist: Nirgendwo findet sich auch nur ein Wort zur „festen Fahrbahn". Diese neue, statt im Schotterbett kornplett in Beton verlegte Schienenfahrbahn ist nicht nur hinsichtlich der Haltbarkeit und der höheren Kosten problematisch, sie ist auch mit erheblich höheren Lärmemissionen verbunden. Dennoch wird exakt diese Schienentechnik trotz entgegenlautender Empfehlung des Bundesrechnungshofes unter anderem bei den neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken verwandt. Und wieder finden sich die neuen Bundesländer in der Rolle der Versuchskaninchen. ({4}) Zum Schluß nochmals zurück zum eingangs angeführten Zitat aus der „Wirtschaftswoche". Dort heißt es auch: Der wahre Gegner der Gesundheit ist der Dauerlärm. ... Auch vor dem heimischen Aktenberg lauern Dezibel überall. Egal welcher Arbeitsplatz, ob Schreibtisch oder Bildschirm, Lärm . . . ist immer präsent. Selbst das monotone ,Singen' eines modernen PC, hervorgerufen durch VentiDr. Winfried Wolf latoren, ... kann das Gehör nachhaltig strapazieren ... Wer am Bildschirm arbeitet, sollte [daher] so oft wie möglich den PC einfach abschalten. Diese Worte richten sich wohlgemerkt an Geschäftsleute, an Profi-Traveller. Wir sind uns alle, insbesondere mit der F.D.P., einig, daß dies eine hochsensible Klientel ist, die nicht nur scheu wie ein Reh in ruhige Steueroasen flüchtet, sondern auch ein offenes Ohr für die eigene Gesundheit betreffende Argumente hat. In diesem Sinne sollten wir partei-, gruppen- und klassenübergreifend ({5}) den Schlußsatz des Zitats verallgemeinern und in aller Ruhe - fernab jeglichen kleinlichen Parteiengezänks und -lärms, versteht sich ({6}) diesen Satz sinngemäß, Herr Friedrich, in Gesetzesform gießen: So oft wie möglich „einfach abschalten" . Danke schön. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel, daß wir heute ein wichtiges Thema behandeln. Es gibt auch keinen Zweifel daran, daß sich viele Bürger in unserem Lande durchaus durch Verkehrslärm belästigt fühlen. Wenn man in den verschiedenen Regionen unseres Landes unterwegs ist, dann spürt und hört man das und möchte manchmal auch mehr helfen, als man dazu in der Lage ist. Man muß aber auch wissen, daß wir in unserem Lande unwahrscheinlich viel nicht zuletzt gegen den Verkehrslärm tun, daß bei uns unvergleichlich mehr geleistet wird und es mehr gesetzliche Auflagen gibt als in irgendeinem europäischen, geschweige denn außereuropäischen Land. ({0}) Wir haben ja bei der Anhörung der Sachverständigen Anfang 1996 gehört, daß das Thema Lärm auch psychologisch sehr interessant ist. Es ist ja hier schon der eine oder andere Vergleich angesprochen worden. Ich erinnere mich noch an das Beispiel eines Sachverständigen, der darauf aufmerksam machte, daß ein Urlauber, an einem Wasserfall übernachtend, 80 dB durchaus als erholsam betrachten könne, zu Hause aber 50 dB bei einem Lkw als sehr lästig empfindet. ({1}) Insofern ist es schwierig, wirklich eine Antwort von Rechts und Gesetzes wegen zu geben. Es ist sicher so, daß Menschen in unserem Lande durchaus über Jahre, möglicherweise Jahrzehnte, so sehr von Lärm belästigt wurden, daß sie dabei krank geworden sind. Auf der anderen Seite stellen wir fest, daß sich junge Leute, aber nicht nur junge Leute, Kopfhörer auf den Kopf setzen und ich weiß nicht wieviel dB sich selbst freiwillig zumuten. Man fährt zu Rockkonzerten, ({2}) man hört laute Musik und lautes Fernsehen. Wenn ich hier in Bonn an die Heussallee denke, stört mich manchmal nachts noch ein leiser Fernsehapparat, der von einer anderen Wohnung in mein Zimmer dringt. Ich schätze einmal, daß es sich dabei nur um 10 dB handelt. Aber das ist mir nachts um 1 oder 2 Uhr auch schon zuviel. ({3}) Um dem Ernst dieses Themas gerecht zu werden, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß wir gesetzliche Grenzwerte haben, wie sie in keinem anderen Land Europas bestehen. Das gilt nicht nur für den Lärmschutz. Wir haben zwischenzeitlich bei uns ein Qualitätsniveau, zum Beispiel im Bereich des Natur- und Umweltschutzes, erreicht, daß man sagen kann: Die Gelder, die wir für Lärmschutz, für die Erhaltung von Natur und Umwelt im Zusammenhang mit dem Straßenbau ausgeben, stellen für unser Land ein unvergleichliches Markenzeichen gegenüber allen anderen Ländern dar. ({4}) Wir halten es für notwendig, das Geld für diese Bereiche auszugeben. Das wird auch für die weiteren Jahre gelten. Wir wollen darüber hinaus in unserem Land - darauf ist eben schon von dem Kollegen Bargfrede hingewiesen worden; die Bundesregierung hält dies auch für wichtig - den Lärm vor allen Dingen schon an der Quelle beseitigen. ({5}) Das ist das Entscheidende, das nicht nur hier bei uns in Deutschland, sondern überall in der Welt geschehen muß. Es kann nicht der Weisheit letzter Schluß sein, kreuz und quer durch Deutschland an Schienenstrecken und an Straßen Lärmschutzwände zu errichten. Es wäre wunderschön, wenn es im Verlauf der Jahre gelingen könnte, durch technische und wissenschaftliche Fortschritte zu erreichen, daß die gesetzlich vorgeschriebenen Werte auch ohne solche Lärmschutzwände eingehalten werden könnten. Wieso schließt man das eigentlich aus? Wir haben doch schon gewaltige Entwicklungen hinter uns.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Staatssekretär, gestatten Sie Zwischenfragen - ich frage gleich für beide - des Kollegen Schmidt und des Kollegen Dr. Schuster?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte sehr, Herr Kollege Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich habe eine ganz konkrete Zwischenfrage zu Ihrem letzten Satz Ihrer Rede. Sie haben von den technischen Fortschritten gesprochen. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt - das hat im übrigen auch der Kollege Friedrich ausgeführt -, daß es diese technischen Fortschritte gibt, daß Sie durch einen Mix von Maßnahmen - die berühmten Lärmschürzen, die am Rand des Güterwaggons angebracht werden, und eine ganz niedrige Lärmschutzmauer in unmittelbarer Gleisnähe, die nicht höher ist als 38 Zentimeter - eine Verminderung des Lärmes am Güterzug um bis zu 20 dB erreichen können, was eine Absenkung des Lärmniveaus auf nur noch ein Viertel bedeutet? Ist Ihnen bekannt, daß dies nicht eine Frage der technischen Entwicklung - diese technischen Möglichkeiten gibt es; sie sind von der DB AG getestet worden -, sondern eine Frage der Finanzierung ist? Sie müssen Geld dafür zur Verfügung stellen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Staatssekretär, sollen wir die Frage von Herrn Dr. Schuster gleich dazunehmen?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich, Herr Präsident. Herr Staatssekretär, ich kann Ihren Ausführungen nur zustimmen, daß man, wenn irgendwie möglich, den Lärm bereits an der Quelle packt. Können Sie mir sagen, warum Sie dann ausgerechnet bei der ICE-Schnellbahn Frankfurt-Köln, da Sie doch die Probleme kennen, die Betonbahn bauen, die 4 bis 5 Dezibel Lärm zusätzlich verursacht? Jeder weiß, daß diese feste Fahrbahn anstelle des Schotters - ich bin kein Verkehrspolitiker - erstens zusätzliches Geld kostet und zweitens die zusätzlichen 4 bis 5 Dezibel Lärm, die einen Sprung in der Lärmbelastung darstellen, ausmacht.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Herr Kollege Schuster, ich möchte mit Ihrer Frage anfangen. Auf das Thema Neubaustrecke Köln-Frankfurt werde ich gleich noch gesondert eingehen, wenn es die Zeit zuläßt. Es ist natürlich in erster Linie nicht die Frage des Lärms aufgeworfen, wenn man bei einer neuen Strecke eine Betonfahrbahn, also eine feste Fahrbahn, im Rahmen eines Pilotprojektes realisieren will, um dort Erfahrungen zu sammeln. Mit Blick auf die Lärmproblematik, die Sie angesprochen haben, möchte ich zum Ausdruck bringen und zusagen, daß das, was wir zu dieser Neubaustrecke gesagt haben, auch weiterhin gilt. Wir haben gesagt, daß die Bewohner an dieser Strecke durch das Anlegen dieser Neubaustrecke des Schienenweges nicht zusätzlich durch Lärm belästigt werden, ob mit fester Fahrbahn oder ohne feste Fahrbahn. Das gilt weiterhin auch über den heutigen Tag hinaus. ({0}) Herr Kollege Schmidt, Sie haben die Frage aufgeworfen, ob mir diese technischen Neuerungen bekannt sind. Selbstverständlich sind sie bekannt. Ich weiß nicht, ob ich auf Anhieb diese Minderung um 20 dB bestätigen kann. Aber es ist eine erhebliche Minderung. Nicht zuletzt Heinz Dürr ist auf diesem Gebiet tonangebend gewesen, was er bei einem Besuch anläßlich einer Aussprache im Verkehrsausschuß dargetan hat, um mit dazu beizutragen, daß wir durch technische Neuerungen imstande sind, mit einem relativ geringen Finanzaufwand zu erheblichen Lärmreduzierungen zu kommen. ({1}) Wir setzen uns dafür ein. Wir werden auch durchsetzen, mit der Bahn zusammen, daß diese technischen Neuerungen schnellstmöglich umgesetzt werden. Aber den ersten Teil Ihrer Frage sehe ich noch nicht so weit, als daß er von heute auf morgen schon umgesetzt werden könnte. Das Anbringen von Geräuscheinschränkungsmitteln an der Lokomotive und der Bau von niedrigen Lärmschutzwänden, auch wenn sie niedriger sind, nahe an dem Fahrweg wird sicherlich von der Bahn bald aufgegriffen werden, vor allen Dingen bei Vorsorgemaßnahmen. Wenn ich richtig informiert bin, haben wir das auf der Strecke Hamburg-Berlin im dortigen laufenden Planfeststellungsverfahren schon vorgesehen, ({2}) so daß ich Ihnen möglicherweise schon in den nächsten Tagen schriftlich mitteilen kann, daß auch schon eine solche technische Neuerung an einer Strecke der DB AG angewandt wird. Ich bin aber nicht sicher, das jetzt hier festverbindlich sagen zu können. Aber wenn es dort nicht geschehen ist, dann wird es bald sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. Wir haben bei dem Versuch, schon an der Quelle zu Lärmminderungen zu kommen, erhebliche Fortschritte zu vermelden. Es sind eben schon einige Zahlen und Vergleiche genannt worden, zum Beispiel daß zwei Pkw nun nicht lauter sind als vor zehn Jahren noch ein Pkw, oder daß zehn Lkw und Omnibusse vom Baujahr 1994 zusammen nur noch so laut sind wie ein einziger Lkw vom Anfang der 80er Jahre. Wir müssen auch in anderen Bereichen weiter auf Innovation setzen, zum Beispiel bei der Entwicklung leiser Reifen und lärmmindernder Straßenbeläge. Da haben wir - der Kollege Bargfrede hat auch das angesprochen - schon bei dem flüsternden Asphalt zwischenzeitlich eine Reduzierung von 3 dB. Das müßte es doch eigentlich sein, es beim Fahrweg, an den Fahrzeugen, bei den Reifen, bei der Weiterentwicklung der Technologie zu schaffen, die Lärmbelastung insgesamt zu mindern. Ich sage Ihnen schon jetzt hier im Februar 1997: Bei der Position, die der Bundesrat einnimmt und auch bei der Finanzlage des Bundes und auch der Kommunen werden wir nicht imstande sein, zu einer gesetzlichen Neuregelung zu kommen, die die Grenzwerte, die der Bund bei Ländern und Kommunen und auf allen Schienen und Straßen, die wir in Deutschland haben, bei der Lärmvorsorge zuläßt. Insofern müssen wir den Versuch unternehmen, an der Quelle dafür zu sorgen, daß der Lärm begrenzt wird. Das bringt für alle Bürger unseres Landes am meisten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Altmann?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ja.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie haben gerade darauf hingewiesen, daß Sie alle Möglichkeiten technischer, aber auch sonstiger Art unter dem Aspekt von finanziellen Engpässen prüfen und verwirklichen wollen und daß der Zeitaspekt eine große Rolle spielt. Ich würde von Ihnen gerne wissen, wie Sie den Zusammenhang zwischen Tempolimit und verringerter Reifenbreite beurteilen. Wir wissen, daß es vom Lärmverminderungseffekt sehr viel bringt. Es gibt den Großversuch von Heilbronn, der, ich glaube, vor zwei Jahren im Zusammenhang mit Ozon durchgeführt worden ist. Dabei kam heraus, daß ein Tempolimit eine riesige Verringerung des Lärms bewirkt. ({0}) Zusammen mit einer technischen Neuerung, das heißt weniger breiten Reifen, bringt das einen Effekt, der sofort umzusetzen wäre und weniger kostet. Damit haben die ganzen Argumentationen, die hier angeführt werden, nichts zu tun und laufen letztendlich ins Leere.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Es ist schon ein starkes Stück, wenn nach den Ausführungen, die die verschiedenen Kollegen - und auch ich in den ersten fünf Minuten meiner Rede - gemacht haben, noch immer gesagt wird, daß nichts getan werde. Entweder hört man nicht zu, oder man ist nicht bereit, auf die Argumente, die vorgetragen werden, einzugehen. ({0}) Vielleicht bestehen ja auch Hörschäden, oder vielleicht ist man auf andere Weise schon irgendwie lärmbeeinträchtigt, so daß man das nicht ganz mitbekommen hat. ({1}) Um das aber einmal aufzugreifen: Wenn man glaubt, auf den deutschen Straßen durch Geschwindigkeitsbegrenzungen für Pkws - um diese kann es ja nur gehen - zu Lärmminderungen zu kommen, dann ist man auf dem Holzweg. Da kann man forschen und Gutachten anfordern, wo immer man will: Auf den deutschen Autobahnen und Bundesstraßen kommt die Lärmbelastung hauptsächlich von den Lkws. Die Pkws - ob sie 80, 90 oder 100 und auf Autobahnen über 100 Stundenkilometer fahren -, kommen kaum zur Geltung. Insofern ist es eine völlige Fehlannahme, wenn man glaubt, auf diese Weise Lärmemissionen beschränken zu können. Die Belastung durch Reifen ist sicher zu beachten. Es könnte sein, daß das eine oder andere insgesamt zum Tragen kommt. Dazu möchte ich aber auch sagen, daß das im Vergleich zu den Belastungen, die ansonsten durch Lkws entstehen, auf keinen Fall zu einer Entscheidungsfindung führen kann, auf die wir gesetzlich oder rechtlich zurückgreifen sollten. Wir haben neben dem Bemühen, den Lärm an der Quelle zu reduzieren - man wird ihn nie ganz beseitigen können -, eine Menge finanzieller Aufwendungen geleistet. Das haben Sie mit uns zusammen getan. Das ist ja kein Geld der CDU/CSU, der F.D.P. oder der SPD, sondern das ist das Geld der Steuerzahler. Dieses Geld setzen wir gemeinsam ein, um den Lärm da zu reduzieren, wo er nach unserer Meinung zu hoch ist. ({2}) Es sind Beträge in Höhe von 3,6 Milliarden DM für Lärmvorsorgemaßnahmen an Bundesfernstraßen und von rund 1 Milliarde DM an den Schienenwegen allein von 1980 bis 1995 aufgewandt worden. Wir haben vor kurzem eine Verordnung in Kraft treten lassen: die Verkehrswege-Schallschutzmaßnahmenverordnung. Sie regelt im Rahmen der Lärmvorsorge die Voraussetzungen dafür, daß Bewohner und Nutzer von Gebäuden, die in der Nähe von Straßen und Schienenwegen stehen, künftig noch wirksamer vor Verkehrslärm geschützt werden können. Die neue Verordnung benennt die schutzbedürftigen Räume, zum Beispiel Schlaf-, Unterrichts- und Büroräume, definiert die Schutzmaßnahmen, zum Beispiel Schallschutzfenster sowie Verstärkungen an Dächern und Außenwänden, und regelt den Umfang der Schutzmaßnahmen. Sie schafft eine Gleichbehandlung der Betroffenen und gibt den Bürgern mehr Rechtssicherheit. Wir haben aber auch klare Regelungen für Lärmschutzmaßnahmen an bestehenden Straßen und Schienenwegen. Das muß gesagt werden. Das ist in Deutschland deswegen nötig geworden, weil das Bundes-Immissionsschutzgesetz 1974 in Kraft getreten ist. Bis 1974 sind in Deutschland - anders als bei den Schienenstrecken - viele neue Straßen gebaut worden. Für diejenigen, in deren Nähe nach 1974 eine Autobahn oder Bundesstraße gebaut wurde, bestand eine gesetzliche Regelung, die Lärmschutzmaßnahmen ermöglichte. Wir als Bundesregierung sahen uns veranlaßt, nach Mitteln zu suchen, damit auch diejenigen Bürger, die von einer Straße, die vor 1974 gebaut wurde, Lärmbelästigung erfuhren, im nachhinein über eine Sanierung den entsprechenden Schutz erhielten. Dieser Schutz ist nicht ganz so gut wie die Lärmvorsorge bei Neubaumaßnahmen. Im Vergleich aber zu den anderen Regelungen in Europa und sonst in der Welt ist auch die Lärmsanierung ein vorzüglicher Schutz, den wir denjenigen Bürgern geben, die an deutschen Autobahnen und Bundesstraßen wohnen. Im Rahmen der Lärmschutzmaßnahmen an Bundesfernstraßen haben wir eine Bilanz vorzuzeigen, die sich sehen lassen kann: Insgesamt haben wir Lärmschutz- und Steilwälle in einer Länge von 750 Kilometern sowie Lärmschutzwände in einer Länge von rund 1 320 Kilometern errichtet. Das sind zusammengenommen über 2 000 Kilometer. Man muß sich einmal vorstellen, was das bedeutet: ein Aufwand in Milliardenhöhe. Zusätzlich finanzierte der Bund rund 600 000 Quadratmeter Lärmschutzfenster. ({3}) Das ist die Leistung des Bundes, mit Steuergeldern bezahlt; das muß gesagt werden. Einigen ist das schon zuviel, was wir für diese und für andere Dinge aufwenden. Aber es ist gesetzlich festgelegt. Das soll so sein und wird auch so bleiben. Nur, das jetzt - ich sage das noch einmal - auf die Länder, auf die Kommunen und auf alle Schienenwege, die schon seit Jahrzehnten und oft länger bestehen, übertragen zu wollen ist einfach nicht umsetzbar. Das ist einfach unrealistisch. ({4}) Man müßte eigentlich den Kollegen Schröder von Niedersachsen einmal bitten - heute morgen war er ja hier -, zu erläutern, weswegen Niedersachsen und die Mehrheit des Bundesrates den Antrag, den Nordrhein-Westfalen in den Bundesrat eingebracht hat, abgelehnt haben. Das haben sie doch nicht gemacht, um unsere Bevölkerung zu ärgern oder um zu sagen: Wir haben nichts dafür übrig, daß Lärmschutz betrieben wird. - Nein, sie haben es einfach deswegen gemacht, weil sie das nicht bezahlen können. Das kostet Milliardenbeträge. Wenn man das auf die Gemeindewege übertragen würde, dann würde da wahrscheinlich ein zweistelliger Milliardenbetrag zum Tragen kommen. ({5}) Deswegen will ich noch einmal sagen - das gehört auch dazu, um das Thema zukunftsbezogen in den Griff zu bekommen -: Wir müssen es - bei allem Geld, das wir aufwenden, um den entstehenden Lärm zu mindern - noch besser als bisher schaffen, an der Quelle von Anfang an dafür zu sorgen, daß überall dort, wo Verkehrswege in Anspruch genommen werden, eine so deutliche Lärmreduzierung eintritt, daß der Lärm von den Bürgern auch wirklich ertragen werden kann. So muß der Weg eigentlich sein. Solange wir das noch nicht erreicht haben, werden wir für Lärmvorsorgemaßnahmen und Sanierung zusätzliches Geld aufwenden müssen. Nun habe ich noch die Zeit, um - weil das Thema hier auch schon angesprochen wurde - ein paar Sätze zur Problematik der Neubaustrecke KölnFrankfurt zu sagen. Frau Kollegin Graf, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben zwar recht damit, daß in die Finanzierungsvereinbarungen noch nicht mehr Geld als die von Ihnen genannten 439 Millionen DM eingestellt wurde. Aber ich darf dazu mit einem Zwischensatz sagen: 439 Millionen DM sind überwiegend für Verkehrslärmschutzmaßnahmen zur Verfügung gestellt worden. ({6}) Stellen Sie sich einmal vor, was das heißt, wieviel Geld wir insgesamt für derlei Dinge ausgeben und was für einen erheblichen Umfang das ausmacht. Nur, um bei dieser Frage zu bleiben: Wir haben zugesagt, daß die Bürger keine zusätzliche Lärmbelastung erfahren werden. Das ist ein ganz schwieriges Thema. Denn es kann durchaus sein, daß der neue Schienenweg, der dort angelegt wird, teilweise zu deutlichen zusätzlichen Belastungen führt, weil die Werte der Lärmvorsorge, die für das Anlegen eines Schienenweges gelten, zwar nicht durch die Gesamtbelastungen, die neu entstehen, wohl aber im Zusammenhang mit der A 3, die größtenteils parallel läuft, erreicht werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Graf?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Bitte sehr, mittendrin, aber okay.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß sich der Umwelttitel im Ganzen auf 439 Millionen DM beläuft, wobei die Lärmschutzmaßnahmen in diesen Umwelttitel hineingerechnet werden müssen. Ich frage mich, wie Sie mit diesem Betray gewährleisten möchten, daß die Belastungen für Angelika Graf ({0}) die Bürger nicht höher werden. Ich bitte Sie, mir ganz konkret zu beantworten, welche Maßnahmen Sie hierfür vorsehen.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Frau Kollegin Graf, ich habe gerade gesagt, daß diese 439 Millionen DM nicht dafür eingesetzt werden, sondern daß der Bund zugesagt hat, dafür zusätzliches Geld zur Verfügung zu stellen. ({0}) Ich war gerade dabei, zu erläutern, wie schwierig es ist, dies in die Tat umzusetzen, aber nicht der Finanzen wegen, sondern der Technik wegen. ({1}) Denn wenn zum Beispiel die Bahn jetzt insgesamt gar nicht den Faktor erreicht, der bei der Lärmvorsorge normalerweise erreicht werden müßte, wird aber durch die Bündelung möglicherweise der Gesamtwert überschritten, und es kommt zu einer Zusatzbelastung. ({2}) Dann kann es durchaus sein - das ist sogar in den meisten Fällen so -, daß in diesem Fall besser eine Lärmschutzvorrichtung an der A 3 angebracht würde. Denn wenn man im Rahmen einer kleinen Maßnahme Lärmschutzeinrichtungen an der A 3 anbringt, bringt das mit einem relativ niedrigen finanziellen Aufwand viel mehr, als wenn man Millionenbeträge einsetzte, um die Lärmemissionen an der Bahnstrecke noch um einige dB zu reduzieren. Es ist also ein Riesenpaket. Es muß in jedem Einzelfall untersucht werden. Sie dürfen nicht vergessen, daß es nicht eilig ist. Es gibt die politische Zusage, daß es gemacht wird. Sie steht. Es gibt zusätzliche finanzielle Mittel. Wir werden schon in wenigen Wochen von der Bahn AG die entsprechende schriftliche Vorlage bekommen, und die werden wir dann rechtzeitig dem Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages zur Verfügung stellen. Gar keine Frage. ({3}) Aber es muß doch in jedem einzelnen Fall dargelegt werden, welche Lösung die günstigste ist. Darauf besteht ja nicht zuletzt auch die Opposition zu Recht; das verstehe ich. Aber es muß dann auch dargelegt werden, bis wann das umgesetzt wird. Die Bahnstrecke wird etwa im Jahr 2004 fertiggestellt werden. Das heißt, die Lärmschutzmaßnahmen, die an der Strecke vorzusehen sind, müssen spätestens bis dahin umgesetzt sein. Die Bürger vor Ort sollen sehr schnell Klarheit darüber bekommen, wie man die einzelnen Maßnahmen umsetzen will, daß sie bezahlt werden und daß der Bund die Zusage einhält, daß es durch diese neue Bahnstrecke zwischen Köln und Frankfurt zu keiner zusätzlichen Lärmbelastung für die Bürger in dieser Region kommt. Wir haben unser Wort gegeben; die Zusage gilt. Abschließend möchte ich noch sagen, daß sich natürlich jetzt die Frage stellt, wie es in Zukunft die DB AG und die Bundesregierung bei vergleichbaren Strecken halten. Weil das eine sehr wichtige Frage ist, deren Lösung sehr ins Geld gehen kann, müssen wir darauf bestehen, daß es zunächst eine Einzelfallregelung ist, daß es sich um ein Pilotprojekt handelt. Aber wir müssen natürlich davon ausgehen, daß eine solche Regelung, die wir dort finden, auch gegebenenfalls in anderen, vergleichbaren Fällen angewandt wird, die es in Zukunft in Deutschland noch geben wird. Deswegen bitte ich, an die Lösung dieser Fragen mit Bedacht heranzugehen. Wir drücken uns nicht und betreiben auch kein Versteckspiel. Vielmehr bekommt der Verkehrsausschuß die Vorlage in nächster Zeit. Dann werden wir das Ganze in aller Offenheit diskutieren; wir werden vortragen, was es kostet. Dann haben wir auch eine gute Grundlage für die Entscheidung, ob und wie wir diese Lösung auf vergleichbare Fälle übertragen und dort anwenden können. Die Bundesregierung tut wirklich, was sie kann. In der Frage der Lärmreduzierung und der Lärmbeseitigung tut sie es in den Fällen, wo sie dazu beauftragt ist und wo sie Verantwortung und eine Verpflichtung übernommen hat. Auch die Lösung dieser Frage soll ein Markenzeichen unseres Landes und der Bundesregierung bleiben. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention hat sich die Kollegin Barbara Hendricks gemeldet.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bundesregierung tut was sie kann, aber sie kann eben nicht viel. So ist das, Herr Staatssekretär. ({0}) Sie, Herr Carstens, haben in Ihrer Rede ausgeführt, daß Sie es rundweg ablehnen, Lärmsanierungsmaßnahmen an bestehenden Schienenstrecken vorzunehmen. Das ist ja nicht neu; das wissen wir im Parlament. Das bekommen wir jedes Jahr im Haushaltsausschuß zu hören. Ich möchte Sie stellvertretend für die Bundesregierung bitten, jedenfalls nicht mit zwei Zungen zu sprechen. Ich habe persönliche Erfahrungen aus meinem Wahlkreis. Die sogenannte Betuwe-Linie, also die geplante Güterverkehrsstrecke von Rotterdam in Richtung Ruhrgebiet, geht von Emmerich an durch meinen Wahlkreis. Dabei handelt es sich um eine bestehende Schienenstrecke, an der nach Ihren Aussagen keine Lärmsanierungsmaßnahmen vorgenommen werden. Immer wieder, bei allen möglichen Bürgerforen, sagen Vertreter des Bundesverkehrsministeriums - das geht hin bis zu ausgewachsenen Abteilungsleitern -: Ja, der Bundesverkehrsminister ist für Lärmsanierungsmaßnahmen an bestehenden Schienenstrecken; wir werden uns auch in Zukunft dafür einsetzen. - Hinterher hat es ihnen dann halt leid getan, daß die Haushaltsmittel nicht zur Verfügung gestellt worden sind. Hören Sie also bitte endlich mit dieser Doppelzüngigkeit auf, und sorgen Sie dafür, daß den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort das gesagt wird, was Sie zu tun bzw. zu unterlassen gedenken. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wollen Sie antworten, Herr Carstens?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich weiß gar nicht, wie man von Doppelzüngigkeit reden kann, wenn man sich das angehört hat, was ich gesagt habe. Auf irgend jemanden, der irgendwo im Lande etwas gesagt haben soll, hier im Bundestag zurückzugreifen, halte ich nicht für anständig. Unsere Abteilungsleiter kennen die Aussagen des Ministers und des Parlamentarischen Staatssekretärs. Es stimmt, daß wir uns schon seit einigen Jahre bemühen, Finanzmittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Das ist uns nicht gelungen; das tut uns leid. Aber dazu stehe ich auch. Ich habe mich hier nicht auf den Finanzminister berufen, sondern habe nur erklärt, daß wir dazu nicht imstande waren. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Müller.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, bei Ihnen am Haus fahren jeden Tag 1 000 Menschen vorbei und schütten Ihnen 1 Tonne Müll vor die Haustür. Unverschämt, würden Sie denken. Aber genau das passiert hier jeden Tag millionenfach; denn dieser Müll ist akustischer Abfall: Straßenlärm, Schienenlärm, Fluglärm. Herr Friedrich, da Sie Ihre Rede damit begonnen haben, daß Sie es etwas merkwürdig finden, daß das Thema Lärm offensichtlich zum Lieblingsthema der SPD und der Grünen geworden ist, muß ich Sie fragen: Was glauben Sie eigentlich, wozu Sie hier sitzen? ({0}) Sie sitzen hier als Parlamentarier, um die Probleme und Nöte der Menschen im Land aufzunehmen und um sich um Besserung der jeweiligen Situation zu bemühen. ({1}) Wenn das Thema Lärm Sie nicht interessiert und Sie meinen, wir liefen irgendwelchen Dingen hinterher, kann ich Ihnen nur sagen: Tausende von Menschen - das sehen wir auch an den Zuschriften an den Petitionsausschuß - sind von diesem Problem betroffen. Den Menschen geht es schlecht, sie werden krank. ({2}) Wir haben daher die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, uns hier mit diesem Thema zu befassen und nach Abhilfe zu suchen. ({3}) Der Lärm in diesem Land hat ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Große Teile Deutschlands sind verlärmt und, wenn man der Anhörung Glauben schenkt, gesundheitspolitisch eigentlich unbewohnbar. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger ist durchschnittlich einem Lärmpegel von 55 dB am Tag und 10 Millionen Menschen sind einem Lärmpegel von 65 dB in der Nacht ausgesetzt. Schon bei 50 dB - so die Mediziner - ist der Schlaf erheblich gestört. Ich will noch einmal auf die Fakten eingehen, die in der Sachverständigenanhörung im Bundestag gerade von den Medizinern genannt wurden. Verkehrslärm ist einer der Hauptverursacher von Herz- und Kreislaufbeschwerden. Lärm erhöht den Blutdruck, die Blutfettwerte. Das Herzinfarktrisiko von Menschen in lärmgeplagten Regionen liegt deshalb um 10 Prozent höher als in ruhigen Gegenden. Das Bundesgesundheitsamt geht davon aus, daß 2 Prozent aller Herzinfarkte durch Verkehrslärm verursacht werden. Kollege Schmidt hat die Zahl 2 000 genannt. Wir haben ausgerechnet, daß es 2 250 Tote auf Grund von Herzinfarkten, also mehr als Drogentote, im Jahre 1996, gab. Verkehrslärmgeplagte Menschen leiden häufiger unter Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Depressionen. Menschen, die ständigem Lärm ausgesetzt sind, altern schneller. Amerikanische und Schweizer Studien haben bewiesen, daß Kinder in lauten Straßen in ihrer Lern-, Schreib- und Leseentwicklung schwächer sind als andere Kinder. Menschen können sich an Lärm einfach nicht gewöhnen. Er führt früher oder später unweigerlich zu psychosomatischen Krankheiten. Der Lärm verursacht jedes Jahr riesige volkswirtschaftliche Kosten. Der Deutsche Arbeitsring zur Lärmbekämpfung hat 25 Milliarden DM ausgerechnet. Wenn Abgeordnete des Deutschen Bundestages eine Expertenanhörung machen, müßte man meinen, daß sie dies tun, um etwas daraus zu lernen und um Konsequenzen zu ziehen. ({4}) Für die Koalitionsparteien kann man dazu nur sagen: Weit gefehlt. Hier gilt: Viel gehört, nichts gelernt. Beim Ziehen von Konsequenzen: komplette Fehlanzeige. ({5}) Jutta Müller ({6}) Ich glaube, Herr Bargfrede und auch Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, wir hätten in diesem Bereich so ungeheuer viel getan, dann haben Sie die Tragweite der Problematik noch immer nicht richtig erkannt: Lärm ist gesundheitsschädlich. Wir haben jede Menge Eingaben. Deshalb haben wir uns als Petitionsausschuß an den Verkehrsausschuß gewandt mit der Bitte: Macht doch einmal eine Anhörung! Nehmt euch dieses Themas an! Denn wir brechen unter all den Eingaben zusammen. Es tut uns auch nicht gut, wenn wir das als Material immer an die Regierung überweisen. ({7}) - Die tut nichts. Aber den Menschen wird suggeriert: Jawohl, das Parlament hat eure Not erkannt. Wir werden euch helfen. Wir haben die Dinge sogar nicht nur als Material überwiesen. Ich erinnere einmal an die uralte Geschichte betreffend die Schienenstrecke Hannover-Lehrte. Diese Petition haben wir zur Berücksichtigung überwiesen. ({8}) Ich sage einmal: Im Petitionsausschuß sitzen nicht nur dumme Leute, auch wenn es manchmal ein bißchen so dargestellt wird. Immerhin war damals Frau Dempwolf Berichterstatterin. Sie ist ja sogar zur Staatssekretärin aufgestiegen, kann also nicht so dumm sein. Herr Carstens, natürlich gibt es technischen Fortschritt. Es ist auch viel getan worden. Der Lkw ist heute bei weitem nicht mehr so laut wie der vor 20 oder 30 Jahren. ({9}) Aber das Problem ist, daß es durch die ständige Zunahme der Quellen für die Menschen immer mehr wird, daß sie sich dem Lärm überhaupt nicht mehr entziehen können. Daß Deutschland beispielsweise sehr viel dichter besiedelt ist als andere europäische Staaten, hat auch ein bißchen damit zu tun. Sie müssen auch sehen, daß die technischen Fortschritte, die gemacht wurden, durch die Zunahme an Quellen einfach aufgefressen werden. ({10}) Da helfen auch Broschüren nicht. Ich habe die Broschüre „Laut ist out" gelesen und fand sie wirklich toll. Das ist eine schöne Broschüre. Schön wäre es, wenn der Titel stimmen würde. Aber leider ist das Gegenteil der Fall. In 1995 haben sich wieder mehr als 20 000 Menschen an den Petitionsausschuß gewandt, um gegen Verkehrslärm zu protestieren. Sie haben uns ihre individuellen Situationen geschildert. Es sind schlimme Fälle dabei. Das sind nur die Zahlen aus 1995. Ich rede also nicht von dem, was wir in 1994, 1993 usw. hatten. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Auch im Bericht 1996, der zur Zeit in Vorbereitung ist, werden die Petitionen, bei denen es um Lärmschutz geht oder bei denen sich die Petenten diesbezüglich Hilfe von uns versprechen, wieder in ähnlichem Ausmaß dabeisein. Das heißt, es ist immer noch nichts passiert. Frau Merkel hat in ihrer schönen Broschüre auch geschrieben, daß der Bund dafür zuständig ist, in Rechtsvorschriften Grenzwerte festzulegen, bei deren Überschreiten die Bürger Anspruch auf Maßnahmen zur Lärmminderung haben. Schön! Aber genau das ist das, was Sie nicht tun. Sie verschleppen die Novelle zum Lärmschutzrecht nun schon seit Jahren. Mir ist aufgefallen, daß Ihnen sowohl im Umweltausschuß, der mitberatend war, als auch im Verkehrsausschuß keine sachlichen Gründe gegen unseren Gesetzentwurf eingefallen sind. ({11}) Es sind Ihnen nur finanzielle Gründe eingefallen. Es hat immer geheißen, es sei kein Geld da. Sachlich hat eigentlich niemand etwas dagegen gesagt. ({12}) Ich denke, da muß man sich den Haushalt einmal ein bißchen anschauen. Ich persönlich meine, es wäre eventuell schon Geld da. Es ist nicht genug Geld da, um alles auf einmal zu machen. Das ist völlig richtig; da sind wir uns einig. Aber meiner Meinung nach könnte man aus dem Straßenbautitel noch einiges freischaufeln. Ich fand es bezeichnend, daß Sie den größten Teil Ihrer Rede auf das Thema Straße verwandt haben. Die Schiene ist kaum vorgekommen. Mein Gott, Herr Carstens, Sie sind doch nicht Staatssekretär für Straßenbau, sondern Sie sind Staatssekretär für Verkehr. Für Straßenbau würde ein Abteilungsleiter reichen. ({13}) Ich meine, Sie müssen sich in diesem Zusammenhang auch mit der Schiene und vor allen Dingen mit den bestehenden Schienenwegen beschäftigen. Was Ihre Haltung in den Ausschüssen betrifft - die Kollegin Elke Ferner hat es vorhin gesagt; das war genau der richtige Ausdruck -, so reagiert man wie folgt: Es gibt viel zu tun. Lassen wir es liegen. ({14}) Deshalb glaube ich, daß es nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage des fehlenden politischen Willens ist. Wenn der da wäre, dann könnten wir uns sicherlich einig werden. Sie haben als Bundesregierung den Amtseid geleistet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Wenn ich mir das ansehe, was die Gesundheitsexperten in der Anhörung gesagt haben, dann meine ich, daß Sie diesen Eid in der Frage der Lärmschutzpolitik brechen werden. Ich möchte noch auf eines zurückkommen, was ich sehr wichtig finde - das hat der Kollege Schmidt von den Grünen vorhin angesprochen -, nämlich daß der Jutta Müller ({15}) Verkehrslärm auch ein soziales Problem ist. Ruhe und Stille, das wird immer mehr zu einem Luxusgut. Das können sich nur noch Wohlhabende leisten, die ein Haus im Grünen haben. ({16}) Da das die Klientel der F.D.P. ist, beschäftigt sie sich nicht mit Lärm und sieht das nicht. ({17}) - Ich kenne doch Ihre Politik. Diese Leute müssen natürlich, wenn sie vom Grünen in die Stadt wollen, um ihre Geschäfte zu erledigen, ihr Auto benutzen und lärmen dann vor der Haustür anderer Leute herum. ({18}) Die Masse der sozial Schwächeren mit geringem Einkommen bleibt dem Verkehrslärm ausgeliefert. Dieser Lärm rückt diesen Menschen immer mehr auf die Pelle. Es gibt eine Untersuchung der Bundesanstalt für Landeskunde und Raumordnung, auf die ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen will, in der ausgerechnet worden ist, daß man mit den Autobahnen immer näher an die Häuser heranrückt. Die Experten der Anhörung haben beispielsweise auch gefordert, man möge Ruhe- und Lärmschutzzonen einrichten, in denen sich die Menschen erholen können. ({19}) Diese Forderung ist zwar nachvollziehbar, bedeutet für mich aber eine Kapitulation vor dem heute existierenden Verkehrslärm. Das klingt so ein bißchen nach Sciencefiction und George Orwell. Denn es vermittelt ja die Botschaft: Leute, ertragt diesen geistestötenden Lärm, und wenn ihr ganz lieb seid, dann dürft ihr am Wochenende auch einmal in die Schutzzone. ({20}) So weit darf es, denke ich, nicht kommen. Ich fordere die Regierungsparteien und die Bundesregierung auf, endlich etwas zur weiteren Reduzierung des Verkehrslärms zu tun. Unser Antrag, den wir heute vorlegen, ist ein guter Ansatz, kann helfen, mit dem zu beginnen, was notwendig wäre. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie heute unserem Antrag hier zu, oder stimmen Sie in Zukunft im Petitionsausschuß anders ab! ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolf Bauer.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Sensibilität gegenüber der Lärmbelästigung ist größer geworden und steigt permanent. ({0}) Die Empfindungen unserer Bevölkerung sind ja bereits angesprochen, die Zahlen dazu genannt worden. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich glaube auch, daß wir uns in diesem Haus über die wesentlichen, prinzipiellen Dinge einig sind, die wir machen müssen. Da besteht wohl kein Dissens. Probleme und das Bedürfnis nach Lösungen sind unbestritten - es muß etwas geschehen. Wir müssen nur nach Wegen und Möglichkeiten suchen. Frau Müller, wenn Sie jemandem hier aus diesem Haus unterstellen, daß er das nicht mit dem nötigen Ernst sieht, dann ist das sehr bösartig. So sollte man in diesem Haus nicht miteinander umgehen. ({1}) Ich meine, mit Polemik kommen wir nicht weiter. Wir müssen nach dem Machbaren suchen. Wir müssen uns die Frage stellen: Was ist der Preis für unsere Mobilität? Wir können nicht auf der einen Seite permanent diese Mobilität einfordern und auf der anderen Seite die Rechnung aufstellen: Sie ist mit Lärm verbunden, also lehnen wir sie ab. Wir müssen durch ein vernünftiges Bündel von verkehrspolitischen, technischen, aber auch städtebaulichen Maßnahmen versuchen, die Lärmbelästigung auf ein erträgliches, vernünftiges Maß zurückzuführen. Weil dies heute mehrmals angesprochen wurde: Ich will hier eine Lanze für den Güterkraftverkehr brechen, der immer als Hauptübeltäter hingestellt wird. Meine Damen, meine Herren, denken Sie einmal an die volkswirtschaftliche Bedeutung unseres Güterkraftverkehrs. Da müssen Sie doch einfach einsehen, daß wir ihm auch die Möglichkeit des Einsatzes geben müssen. ({2}) Hier ein Nachtfahrverbot zu fordern, halte ich - man sehe es mir persönlich nach - für Schwachsinn. Das würde den Tod unserer Volkswirtschaft bedeuten. So kommen wir nicht weiter. ({3}) Gerade im Lkw-Bereich ist in technischer Hinsicht sehr viel getan worden. Denken Sie alleine an das Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz von 1994. Es sind da doch Erfolge durch Berücksichtigung neuer Aspekte zu verzeichnen. Also prügeln Sie doch nicht immer auf ein und demselben Tatbestand herum. Es wird heute sehr viel von Lärm in Verbindung mit der sozialen Frage gesprochen. Früher, als es um die Pkw-Besteuerung gegangen ist, haben wir diese Elemente doch gerade nicht hineinbringen wollen, weil wir sozial Schwache damit nicht noch zusätzlich belasten wollten. Also können Sie uns doch auch hier keine soziale Kälte nachsagen. Genau das Gegenteil von dem, was Sie permanent behaupten, ist der Fall. Wir müssen uns über die Probleme unterhalten, wir müssen nach Lösungen suchen. Es gibt gute Lösungen; der Staatssekretär und einige Vorredner haben sie aufgezeigt. Gerade wenn man daran denkt, daß im Bereich der Lärmsanierung sehr viel getan worden ist, obwohl kein Rechtsanspruch besteht, dann muß man doch zum Schluß kommen: Das ist einfach gute Arbeit unseres Verkehrsministeriums, seiner Mitarbeiter und des Ministers selbst. ({4}) - Na ja, das ist nicht so schlimm. ({5}) Wir haben uns über viele Dinge bereits unterhalten; vieles wäre auch eine Wiederholung. Aber in der ganzen Diskussion ist kurz angeklungen, daß immer geklagt wird, daß in der Vergangenheit vieles vernachlässigt worden sei. Meine Damen, meine Herren, warum ist von der Härtefallregelung, die zehn Jahre Gültigkeit hatte, nicht ausreichend Gebrauch gemacht worden? Das waren finanziell andere Zeiten. Da hätte man etwas tun können, aber es ist wahrscheinlich verschlafen worden. Hier hätten doch die Länder und die Kommunen Anträge stellen können und in diesem Bereich weiterkommen können. Aber damals ist nichts geschehen. Man muß doch einsehen, daß wir jetzt finanzielle Probleme haben - die Gründe sind klar -, und kann nicht fordern, was einfach finanziell nicht möglich ist. Es ist auch gesagt worden: Ziel der Bundesregierung ist es, mittelfristig auch Lärmsanierung an bestehenden Eisenbahnstrecken durchzuführen. Wir werden sie dabei tatkräftig unterstützen. Es ist letztendlich auch wichtig, daß wir zu einer Verbesserung der Akzeptanz der Schiene kommen, weil das ein Anliegen sowohl des Gesetzgebers als auch der Bahn AG ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ferner?

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, Frau Kollegin Ferner.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bauer, ich kann mich zumindest seit der Haushaltsberatung 1991 daran erinnern, daß wir Jahr für Jahr über Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen diskutiert haben. Bisher gab es die unterschiedlichsten Begründungen für Ihr Nichthandeln. Mal war es zuwenig Geld, mal war es zuviel Geld. ({0}) Dann ist es für das kommende Jahr in Aussicht gestellt worden, und dann war wieder nichts. Wir sind jetzt schon im siebten Jahr, wo ich zumindest an der Diskussion beteiligt bin. Sagen Sie uns doch einmal bitte, wann „mittelfristig" ist und wann wenigstens einmal ein Einstieg in die Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen gemacht wird.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage ist relativ leicht zu beantworten. Wir haben aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt auch wegen der Wiedervereinigung, einen finanziellen Einschnitt, und da mußten andere Prioritäten gesetzt werden. ({0}) - Ob das Ihnen paßt oder nicht, das ist eine Tatsache. ({1}) Ich kann mich genauso wie Sie daran erinnern, daß wir mit dem Einstieg in die Lärmsanierung beginnen wollten. Wir haben es selbst vorgeschlagen. ({2}) - Es gibt doch Vorschläge von uns. Unser verkehrspolitischer Sprecher, Dirk Fischer, hat das damals selbst vorgeschlagen. Aber dann kamen diese Schwierigkeiten im finanziellen Bereich, und wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß es im Moment nicht finanzierbar ist. Die Härtefallregelung betraf die Zeit davor. Ich fordere nur ein, daß es damals hätte gemacht werden können. Damals waren die finanziellen Möglichkeiten noch vorhanden. ({3}) Nehmen Sie doch Ihr Forderungsprogramm. Da wird zum Teil externe Anlastung gefordert. Die Erhöhung der Mineralölsteuer wird gefordert. Das sind doch alles nicht die Rezepte, die wir in dieser Zeit brauchen. Wir wollen keine weiteren Abgaben für unsere Bevölkerung. Es ist auch nicht sinnvoll, das jetzt zu machen. Wir werden das verhindern und in dieser Form nicht mittragen. Wir bleiben immer wieder bei dem Problem hängen: Wer soll das Ganze letztendlich bezahlen? ({4}) - Sobald wir mittelfristig die Möglichkeit haben, finanzielle Ressourcen bereitzustellen, werden wir das tun. ({5}) - Okay. Da müssen Sie aber vorher die Wahl gewinnen, und das schaffen Sie nicht. ({6}) Ich will ganz schnell noch auf die Problematik eingehen, wer letztendlich bezahlen soll. Soll nun der Bund bezahlen, sollen die Länder bezahlen, oder sollen die kommunalen Gebietskörperschaften bezahlen? Ich möchte Ihnen noch einmal die Zahlen zu den öffentlichen Straßen sagen: Wir haben über 11 000 Kilometer Bundesautobahnen und fast 42 000 Kilometer Bundesstraßen. Das sind 53 000 Kilometer. Demgegenüber haben wir jeweils zwischen 80 000 und 90 000 Kilometer Land- und Kreisstraßen, und es kommen über 420 000 Kilometer Gemeindestraßen hinzu. Das macht fast 600 000 Kilometer. Das Verhältnis ist ganz grob 1 : 10. Daran können Sie schon erkennen, warum die gesetzlichen Grundlagen bisher am Bundesrat gescheitert sind. Die nachgeordneten Gebietskörperschaften sind nämlich gar nicht in der Lage, das finanziell zu leisten. Wer das fordert, verhält sich einfach unredlich, weil er genau weiß, daß das nicht so ist. ({7}) Man kann sich natürlich hinstellen und erklären: Ja, der Bund soll alles bezahlen. Das ist eine einfache Lösung. Aber so einfach ist es nun auch wieder nicht zu machen. Ich unterstütze das, was der Kollege Bargfrede vorhin gesagt hat; denn er hat recht. Der SPD-dominierte Bundesrat wird diese gesetzlichen Regelungen alle ablehnen. Er wird da einfach nicht mitspielen. ({8}) Es nützt auch wenig, wenn die Frau Graf kritisiert, daß eine unzureichende Rechtsgrundlage vorhanden ist. Ich meine, es sind eine ganze Reihe von Beispielen, über die man sich noch unterhalten müßte, was Sie in Ansätzen in Ihrem SPD-Antrag angesprochen haben. ({9}) Leider kann man nicht mehr auf alles eingehen. Über neue Technologien haben Sie zum Beispiel kaum gesprochen. Wir hätten gewaltige Möglichkeiten, auch was den Lärm angeht, mit einem besseren und stärkeren Einsatz von Telematik mehr zu erreichen. ({10}) - Sie lachen darüber, weil sie noch nicht nachvollziehen konnten, welche Perspektiven überhaupt in der Telematik stecken. Ich habe eine Zahl gefunden, die hochinteressant ist. Eine Verringerung bzw. Beseitigung des Stop- and-go auf unseren Straßen würde uns eine Verringerung bis zu 15 dB bringen. Das wäre doch eine vernünftige Politik, dafür zu sorgen, da möglichst schnell weiterzukommen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oesinghaus? - Die Zeit ist dann aber auch bald abgelaufen.

Günter Oesinghaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001635, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, empfinden Sie es nicht geradezu als zynisch, wenn Sie hier einerseits beklagen, wie arm diese Bundesregierung ist, um Lärmschutz zu finanzieren, wo Sie andererseits aber vor einigen Wochen die Vermögensteuer in Höhe von zirka 9 Milliarden DM für die Reichsten und Superreichen in dieser Gesellschaft abgeschafft haben? Wäre da nicht Spielraum für zirka 200 Millionen DM als Einstieg für eine Lärmsanierung gewesen? ({0})

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch wenn ich mir eine Rüge der Präsidentin zufüge: Aber auf so einen Schwachsinn möchte ich nicht antworten. ({0}) - Natürlich ist das einfach. Ich kann hier alles anführen. Sie können auch den Jäger 90 bringen und was weiß ich nicht alles. Wir können alles bringen, natürlich. Aber das hilft uns doch nicht weiter. ({1}) - Ja, die Steinkohle bringen wir auch noch. Lassen Sie uns die Polemik einmal herausnehmen und wirklich zur sachlichen Auseinandersetzung kommen, aber das scheint mit dieser Opposition wohl kaum möglich zu sein. - Frau Präsidentin, ich höre sofort auf. Ich höre heute in fast allen Oppositionsbeiträgen immer etwas vom Transrapid. Nehmen Sie doch einmal die Lärme, die durch den Transrapid entstehen. Sie sind alle nachgewiesenermaßen niedriger als bei ICE-Strecken. ({2}) - Ja, dann lügen die Gutachten. Sie stimmen im Zweifelsfall, Frau Ferner, nur nicht, weil sie Ihnen nicht passen. Aber das kann man doch letzten Endes nicht machen. Man könnte den Antrag noch zerpflücken und noch vieles dazu sagen, aber meine Redezeit ist abgelaufen. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, daß wir zu einer guten Lösung im Sinne einer Lärmverminderung für unsere Bevölkerung kommen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Berthold Wittich.

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich kurz ein Zitat aufgreife, das meine Kollegin Angelika Graf in die Debatte eingeführt hat. Sie zitierte einen Sachverständigen mit der Frage: Was machen wir mit dem schweigenden Gesetzgeber, der seinen Schutzpflichten nicht nachkommt? Herr Kollege Bargfrede, Sie haben zwar die Leistungen des Gesetzgebers rhetorisch geschickt, wie ich zugeben möchte, bejubelt, aber zur Schutzpflicht des Gesetzgebers haben Sie geschwiegen. Das ist uns zuwenig. ({0}) Ich schiebe eine weitere Frage nach: Wo bleibt eigentlich in Ihren Überlegungen der lärmgestreßte Mensch? Wo bleibt die geschundene Umwelt? Wir dürfen doch die Vorstellung einer menschenwürdigen Gesellschaft, einer humanen und umweltgerechten Verkehrspolitik nicht den Gesetzen der reinen Ökonomie unterwerfen. Da machen wir Sozialdemokraten nicht mit. ({1}) Daß die lärmenden Blechlawinen nicht selten Lebensqualität und Gesundheit der Anrainer unter sich begraben, möchte ich aus der Sicht des persönlich Betroffenen, aus der Perspektive eines nordhessischen Bürgers darstellen. In unserer Region verdichten sich wie in einem Brennglas die Verkehrsprobleme unserer Gesellschaft, vor allem im Transitverkehr nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze. Auf den Straßen hat sich das Verkehrsaufkommen verdoppelt, in vielen Teilabschnitten vervierfacht, auf der A 4 - dem Abschnitt zwischen Kirchheim und Eisenach - mindestens verzehnfacht. - Sie wissen das, Sie waren vor kurzem in unserer Region. Besorgniserregend hoch ist der Anteil des Güterund Schwerlastverkehrs. Die dort lebende Bevölkerung wird mit unzumutbaren Belastungen konfrontiert: mit verpesteter Luft, schleichender Vergiftung und unerträglichem Lärm. Das ist inhuman. Meine Damen und Herren, diesen betroffenen Menschen helfen keine Berichte, diesen betroffenen Menschen hilft kein Pilotprojekt, wie es in der Beschlußempfehlung der Regierungsparteien vorgesehen ist. Wer diesen lärm- und streßgeplagten Anwohnern ein Stück Lebensqualität zurückgeben will, der ist aufgefordert, vor allem im Bereich der Lärmbekämpfung eine Kurskorrektur zu verwirklichen, deren Richtung durch verbindliche Regelungen der Lärmsanierung an bestehenden Straßen und Schienen bestimmt sein muß. Fest steht: Die gegenwärtige Praxis ist unzureichend. Diesen Zustand, der das Ergebnis einer unzulänglichen Rechtsgrundlage ist, dürfen wir im Interesse der Menschen und um des Schutzes der Umwelt willen nicht länger hinnehmen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie, Herr Kollege, eine Zwischenfrage des Kollegen Friedrich?

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Wittich, ich frage Sie einmal als hessischer Abgeordneter. Wenn Sie das so darstellen und tatsächlich so meinen: Warum setzen Sie sich dann nicht dafür ein, daß die hessische Landesregierung etwas mehr Autobahnausbau genehmigt, wo dann Lärmschutz nach der Lärmvorsorgeverordnung möglich wäre, und warum zwingen Sie wegen dieser Verweigerungshaltung den Verkehr weiterhin mitten durch die Orte und über die Bundesstraßen, wo es, wenn überhaupt, um Vorschriften über Lärmsanierung geht?

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Friedrich, die Grundsatzentscheidung in der Frage der A 44 ist gefallen. Sie allerdings sind mit der Trassenführung nicht einverstanden, weil Sie nämlich Ihr politisches Süppchen kochen wollen. ({0}) Ich bin auch dagegen, daß man dauernd auf Landesregierungen verweist. Wir sind in die Pflicht genommen, Beispiel zu geben und Zeichen zu setzen, Zeichen für unsere Bereitschaft, die Probleme anzupakken. ({1}) Erlauben Sie mir, daß ich auf einen weiteren Aspekt unseres Antrags aufmerksam mache, wiederum aus der Sicht des Betroffenen. Meinen Wohnort durchquert die B 27. Auf dieser Straße verdichtet sich der Verkehr in der Nord-Süd-Relation immer mehr, weil in Fulda bzw. in Friedland die Lkw-Fahrer diese Bundesstraße durch das Fulda- und Werratal bevorzugen, um die Steigungen der A 7 im hessischen Mittelgebirge zu umfahren. Die Bürgerinnen und Bürger, die in unmittelbarer Nähe der B 27 wohnen, erfahren, besser gesagt: erleiden alltäglich den Infarkt des Verkehrssystems Straße. Das Ziel einer massiven Reduzierung der Lärmbelastung kann nicht erreicht werden, denn parallel zur B 27 verläuft die Bahnstrecke Frankfurt-Erfurt, die Hessen und Thüringen verbindet und als Schienenweg eine wichtige Brückenfunktion zwischen Ost- und Westdeutschland wahrnimmt. Diese Magistrale verlärmt jedoch die Transitregion total, rund um die Uhr, und bedroht existentiell Gesundheit und Leben der an der B 27 lebenden Bevölkerung. Wegen der schnellen Zugfolge verlangen die betroffenen Menschen die Einleitung von Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung des aus dem Schienenverkehr resultierenden Lärms. Wenn wir den Sorgen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger Rechnung tragen wollen, sind wir aufgefordert, Mittel für ein Lärmsanierungsprogramm an der Schiene einzustellen, ({2}) um dem gesundheitsgefährdenden Ausmaß der Lärmbelastung erfolgreich zu begegnen. Unverzügliches Handeln ist angesagt. Wir machen uns schuldig, wenn wir unserer Verantwortung für die Betroffenen nicht gerecht werden und die Lösung des Problems auf die lange Bank schieben. Meine Damen und Herren, an diesem konkreten Beispiel, das auf persönlichen Erfahrungen beruht, wird in besonderem Maße die Lärmschutzproblematik eng beieinanderliegender paralleler Verkehrswege sichtbar. Wir müssen endlich mit der unzulänglichen Praxis Schluß machen, den Lärm jedes Verkehrsweges isoliert zu erfassen. Die Summe der von diesen Verkehrswegen ausgehenden Lärmemissionen muß Kriterium und Voraussetzung für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen sein, um die Lärmeinwirkungen zurückzudrängen und den betroffenen Kindern, Männern und Frauen eine Perspektive für die Zukunft zu eröffnen, eine Perspektive, die dem im Grundgesetz verankerten Anspruch auf menschenwürdiges Leben und körperliche Unversehrtheit gerecht wird. ({3}) Weil ich dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit oberste Priorität zuordne, unterstütze ich die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung, ({4}) wie sie in Punkt 4 und 5 unserer Eckpunkte für ein umfassendes Programm zur Minderung des Verkehrslärms gefordert wird. Unbestritten ({5}) - das ist nicht lächerlich ({6}) und wissenschaftlich erwiesen ist, daß ein Tempolimit zur Verstetigung und Verlangsamung des Verkehrsflusses führt. ({7}) Im Falle der Realisierung wäre die Absenkung des Verkehrslärms die logische Konsequenz. Aber das ist doch nur ein Aspekt des Problems. Ein Tempolimit würde auch die Anzahl und Schwere der Unfälle senken, ({8}) würde den Kraftstoffverbrauch reduzieren und die Umwelt schonen. Wer menschliches Leben retten und die Umwelt schützen will, muß sich für die Durchsetzung eines Tempolimits stark machen. Es kostet nichts und wirkt sofort. ({9}) In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern - hier bin ich anderer Auffassung als Herr Dr. Bauer -, daß auch die vermehrte Umsetzung von Nachtfahrverboten geeignet ist, einen entscheidenden Beitrag zur Reduzierung des Lärmstresses zu leisten. ({10}) Diese Maßnahme trägt dem Erholungs- und Ruhebedürfnis der Menschen in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende Rechnung. Das ist ein Stück Humanität, das wir an die Betroffenen zurückreichen müssen. Hier steht die Politik in der Pflicht. ({11}) Weil die Anhörung der Sachverständigen am 17. Januar 1996 schonungslos aufgedeckt hat, daß permanente Lärmeinwirkung die an Straßen und Schienen lebenden Bürgerinnen und Bürger, insbesondere Kinder und alte Menschen, krank macht, werden wir Sozialdemokraten die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung nicht entlassen, die Bevölkerung wirksam vor Verkehrslärm zu schützen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie, die Abgeordneten der Regierungsparteien, bitten, unserem Antrag zuzustimmen und damit unmißverständlich deutlich zu machen, daß Sie den Interessen von Millionen Menschen und deren Gesundheit im weitesten Sinne Vorrang einräumen. Falls Sie sich dieser zentralen Aufgabe entziehen, verstärken Sie die Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft und ruinieren das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das demokratisch verfaßte Gemeinwesen. Lassen Sie uns heute handeln, ehe es zu spät und der Vertrauensverlust zu groß ist! ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Jung.

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich habe die Debatte sehr aufmerksam verfolgt und muß sagen, daß ich über das eine oder andere an polemischen Zwischentönen deswegen überrascht bin, weil auch durch die Redner der Koalition Michael Jung ({0}) deutlich geworden ist, daß die Frage des Lärms für uns ein wichtiges Thema ist ({1}) - Frau Kollegin Ferner, hören Sie sich doch zumindest den ersten Satz an - und daß wir uns deswegen sachlich damit auseinandersetzen wollen. Wir können es uns nicht so einfach machen, wie Sie es getan haben. Das hängt natürlich damit zusammen, daß Sie keine Verantwortung tragen. Dann nämlich würde sich das Ganze hier vollkommen anders ausnehmen. Ich war doch sehr überrascht, daß die Kollegin Müller vorhin gesagt hat, im Straßenbautitel gebe es doch noch ausreichend Luft für derartige Maßnahmen. Von Ort zu Ort ziehen die SPD-Politiker, die in Bonn den Straßenbauhaushalt abgelehnt haben, und werfen der Regierung vor, sie sei schuld, daß die jeweilige Maßnahme vor Ort nicht realisiert werden könne. ({2}) Das ist doch doppelzüngig: Auf der einen Seite lehnen Sie es ab und fordern eine Reduzierung dieser Mittel, auf der anderen Seite sagen Sie vor Ort, die Regierung sei schuld, daß es nicht genug Mittel gibt. So machen Sie das landauf, landab. Ich könnten Ihnen eine Fülle konkreter Beispiele nennen. ({3}) - Daß Sie nervös werden, wenn man den Finger in die Wunde legt, verstehe ich. Hören Sie aber trotzdem weiter zu. Das kann durchaus helfen. Ein zweiter Punkt, der die Doppelzüngigkeit besonders unterstreicht - deswegen sage ich das auch in einer Deutlichkeit -: Wie verhalten sich denn Ihre Kommunalpolitiker und Landespolitiker dort, wo sie Verantwortung tragen? Warum hat der Bundesrat, wo die SPD die Mehrheit hat, diese Initiative abgelehnt? Warum haben Bundesländer wie Niedersachsen und andere diese Initiative abgelehnt? ({4}) - Frau Kollegin Ferner, Sie reden doch sonst über Einheitlichkeit in der Politik. Was Sie hier fordern, sollten Sie doch mal dort umsetzen, wo Sie die Mehrheit haben. Nur dann wird das glaubwürdig, nicht anders. ({5}) Diese Bundesländer wissen sehr wohl, daß 80 Prozent der Straßen in Deutschland keine Bundesstraßen sind und daß diese Forderungen dann auch bei ihnen umgesetzt werden müßten. Sie wissen aus der Verantwortung heraus, die sie dort tragen, daß es die notwendigen Finanzmittel derzeit nicht gibt. Das ist der Punkt. Man sollte sich hier nicht hinstellen und sagen, wir wären verantwortungslos und würden Vorschriften des Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit, nicht beachten, nur weil es angesichts der Frage der Finanzierung eine außerordentlich schwierige Problematik ist. Ich muß Ihnen sagen: Ich kann es nicht mehr hören, wenn jedesmal dieselben abgedroschenen alten Stichworte kommen. Da soll die Vermögensteuer, soll der Transrapid zur Finanzierung dienen. Das tragen Sie am Tag zehnmal für verschiedene Ausgabelükken vor, die Sie schließen wollen. Das ist genauso unglaubwürdig. Um bei dem Stichwort zu bleiben, das wir im Verkehrsausschuß intensiv behandeln: Gerade beim Transrapid haben wir in den jüngsten Tagen durch Anfragen aus den USA und aus Australien gesehen, ({6}) wie sehr unsere Absichten, ihn zu einem Exportschlager zu machen, durch die Realität getragen werden. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gila Altmann?

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es nicht von der Zeit abgeht, Frau Präsidentin, gerne.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sicher nicht.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Jung, wären Sie nicht bereit, sich vom Transrapid nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten - es geht immerhin um 5,6 Milliarden DM plus das, was sonst noch hinzukommt; Robin Wood hat in seinen Berechnungen sogar von 11 Milliarden DM gesprochen; damit könnte man schon eine ganze Menge machen -, sondern gerade unter Lärmgesichtspunkten zu verabschieden, und könnten Sie nicht gleichzeitig zur Kenntnis nehmen, daß der Transrapid bei 500 Stundenkilometern 104 Dezibel an Lärm erzeugt und bei 400 Stundenkilometern immer noch 93 Dezibel? Das sind Meßwerte, die bei Lathen gemessen worden sind.

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, wenn Sie bereit wären, Ihre Vorurteile über Bord zu werfen, vielleicht auch mal auf der Versuchsstrecke zu fahren und Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen, daß gerade die Umweltverträglichkeit des Transrapid eines der Argumente für die Kaufabsichten anderer ist, dann könnten Sie nicht zu einer solchen Fragestellung kommen. ({0}) Im übrigen muß ich sagen: Wir sind sehr wohl darauf angewiesen, unsere Exportfähigkeit unter Beweis zu stellen. Das hängt mit dem Thema zusammen, das wir heute morgen debattiert haben. Michael Jung ({1}) Ich nenne auch die anderen Dinge: Geschwindigkeitsbegrenzung, Tempolimit - das sind die Ladenhüter, die wir schon x-mal gehört haben und die zur Lösung der Probleme nichts beitragen, ({2}) genausowenig wie die Forderung, generell innerorts 30 km/h einzuführen. Wir haben bewußt eine Regelung gewählt, nach der vor Ort entschieden werden kann, ob man 30-km/h-Zonen einrichtet und ob die vom Bürger angenommen werden. Das ist vor Ort viel besser zu beurteilen, als wenn das der Bundesgesetzgeber generell für alle Gemeinden vorschreiben würde. ({3}) In den wenigen Minuten, die ich noch habe, möchte ich zu einem speziellen Thema etwas sagen, das mir, Frau Kollegin Graf, sehr am Herzen liegt, weil ich der direkt gewählte Abgeordnete des wunderschönen Wahlkreises - Sie haben ihn ja besucht - Rheingau-Taunus-Limburg bin, durch den die Neubaustrecke führen wird. ({4}) - Man formuliert Fragen immer aus eigener Erfahrung, Frau Kollegin Ferner. Bei mir ist es immer so, daß ich etwas sage, das ich hinterher halten kann. ({5}) Deswegen möchte ich dazu folgendes klar sagen: Eines der Argumente für die Führung entlang der A 3 war ein ökologisches, nämlich die Verkehrsadern zu bündeln - in diesem Fall die A 3 und die neue Schnellbahn. ({6}) Wenn dies eines der Argumente war, dann ist es unsinnig - ich sage das in aller Deutlichkeit -, die beiden Verkehrswege bei der Berechnung des Lärms isoliert zu betrachten. ({7}) Deswegen ist die Summation ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Dazu habe ich in der Anhörung wichtige Fragen gestellt. Daher bin ich dankbar, daß die Bundesregierung das auf Grund meiner Initiative in der Arbeitsgruppe, Herrn Staatssekretär Carstens, aufgenommen hat und an dieser Strecke in einem Pilotprojekt modellhaft überprüfen wird, wie das mit der Summation und der nicht höheren Belastung der Bevölkerung funktioniert. Die Einzelfallregelung möchte ich Ihnen noch einmal ausdrücklich vorlesen. Sie lautet wie folgt: Durch zusätzliche und damit über die Anforderungen der Verkehrslärmschutzverordnung hinausgehende Lärmschutzmaßnahmen soll dafür gesorgt werden, daß die Anwohner keiner höheren Lärmbelästigung ausgesetzt werden als vorher. ({8}) Das heißt, der summierte Lärmpegel soll den Wert der Lärmvorbelastung nicht überschreiten. Ihre Frage zum Thema der Mittel in der Vereinbarung zwischen Bund und Bahn AG von vorhin, Frau Kollegin Graf, umfaßte deswegen nur den halben Teil der Wahrheit, weil es weiter heißt, daß selbstverständlich dann der Bund der Bahn AG zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen müsse, ({9}) weil die Bahn AG nämlich Maßnahmen ergreift, die aus ihrer Sicht und objektiv betrachtet rechtlich nicht geboten sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Jung, gestatten Sie - Michael Jung ({0}) ({1}): Frau Präsidentin, eine Zwischenfrage meines Wahlkreiskollegen Schuster lasse ich selbstverständlich gerne zu. ({2})

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann mir nicht vorstellen, Herr Kollege, daß man mit einem solchen Zwischenruf in die Heimatzeitung kommt. Dafür ist das Problem der Betroffenen viel zu groß. Herr Kollege Jung, dankenswerterweise hat der Herr Staatssekretär auf meine Zwischenfrage hin noch einmal betont, daß diese Einzelfallregelung eintreten wird und eine zusätzliche Finanzierung in Aussicht gestellt wird. Meine Frage an Sie lautet, da ich mir die finanzielle Entwicklung unabhängig davon, wer in Bonn regiert, vorstellen kann: Wären Sie für eine Übergangsphase bereit, einer Geschwindigkeitsreduktion der Schnellbahn von 300 km/h auf 200 km/h zuzustimmen, falls das entsprechende Limit überschritten wird? Denn Ihnen und mir liegt eine interne Studie der Bundesbahn vor, wonach die Reduktion von 300 km/h auf 200 km/h 12 Dezibel ausmacht. Der Zeitverlust - das hat Herr Carstens vor Jahren einmal schriftlich beantwortet - beträgt auf der Strecke von Frankfurt nach Köln 5 Minuten -53 Minuten statt 48 Minuten. Wären Sie bereit, sich für diese 5 Minuten Zeitverlust zugunsten des Lärmschutzes einzusetzen?

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schuster, diese Frage stellt sich so einfach deswegen nicht, weil diese zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen rechtzeitig zur Inbetriebnahme dieser neuen Schnellbahn - egal, ob sie jetzt in die Zeit fällt, die der Herr Staatssekretär mit dem Jahre 2004 genannt hat, oder ob sie früher stattfindet, wie wir hoffen ({0}) realisiert sind. Michael Jung ({1}) Ich möchte aber noch einmal die Darstellung der Beschlußlage vervollständigen, weil ich darin unterbrochen worden bin. Es gibt für die genannten Aufgaben zusätzliche Mittel durch die Bundesregierung, die sie zur Verfügung stellen muß. Die Deutsche Bahn AG ist beauftragt, die Anwendungsfähigkeit dieses Konzeptes für alle in Betracht kommenden Einzelfälle entlang der Neubaustrecke Köln-RheinMain zu prüfen, damit wir diese Erfahrungen - wie es die Bundesregierung eben ausgeführt hat - dann für andere, vergleichbare Fälle nutzen können. Dabei wird auch ein Thema auftauchen, das ich für wichtig halte. Mein Vorredner hat über Nordhessen gesprochen. Wir sind uns sicher darüber einig, daß die südhessische Region noch stärker verkehrlich belastet ist: durch die große A 3, durch Fluglärm, zusätzlich durch die Bahn usw. Dort handelt es sich um Ballungsgebiete. Da stellt sich natürlich auch die Frage der Lärmsanierung zum Beispiel an der Autobahn. Gerade im Bereich der A 3 gibt es einige Fälle, bei denen die Grenzwerte zur Lärmsanierung in Kürze wohl überschritten werden. Ich hielte es für fatal, wenn wir jetzt nur auf einige Monate und nicht auf den Zeitpunkt schauten, zu dem die Bahn fertiggestellt sein wird und die Grenzwerte überschritten werden. Es ist ja überaus vernünftig - das ist vorhin auch ausgeführt worden -, Lärmschutzmaßnahmen zu ergreifen, die gleichzeitig Bahn und Autobahn berücksichtigen und dann, wenn es um den Neubau der Bahn geht, auch an der Autobahn realisiert werden können. Auch das hat die Bundesregierung gesagt, und das halte ich für absolut vernünftig. Meine Damen und Herren, über die restlichen Fragen werden wir uns sicherlich weiterhin intensiv auch im Ausschuß unterhalten. Die Bereitschaft der Union, alles zu tun, was sie auch angesichts der finanziellen Umstände tun kann, um für den Schutz der Bürger zu sorgen, ist eindeutig und wird hoffentlich auch von Ihnen nicht in Frage gestellt. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Minderung des Verkehrslärms an Straßen und Schienen; das ist Drucksache 13/5390. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1042 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/6958 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie Zusatzpunkt 7 auf: 5. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1996/1997 ({0}) - Drucksache 13/5983 - ({1}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 13/6892 - Berichterstattung: Abgeordnete Otto Regenspurger Thomas Krüger Rezzo Schlauch Dr. Max Stadler Maritta Böttcher bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 13/6989 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz Oswald Metzger b) Beratung der Unterrichtung durch die Präsidentin des Deutschen Bundestages Bericht der Präsidenten des Deutschen Bundestages über die Entwicklung der Bezüge der hauptberuflichen Amts- und Mandatsträger auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene sowie bei öffentlichen Einrichtungen - Drucksache 13/6637 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4}) Haushaltsausschuß ZP7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Norbert Gansel, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre - Drucksache 13/6452 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({5}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Otto Regenspurger.

Otto Regenspurger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird hoffentlich endlich gut, könnte man das Gesetz überschreiben, das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten. Das Gesetz über die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge in Bund und Ländern, über das wir heute befinden, berücksichtigt weitestgehend das Tarifergebnis für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes vom 20. Juni 1996 und die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse. Die Besonderheiten dieses Gesetzes liegen unter anderem darin, daß es, wie schon das Anpassungsgesetz 1988, Maßnahmen zur Verbesserung der Bezüge über einen längeren Zeitraum, nämlich jetzt für zwei Jahre, beinhaltet. Den öffentlichen Haushalten bringen derartige Regelungen nicht zuletzt die notwendige Planungssicherheit. Zu den Maßnahmen des Gesetzes im einzelnen: Für das Jahr 1996 sollen Bezügeempfänger mit aufsteigenden Gehältern eine einmalige Zahlung von 300 DM erhalten. Die Zahlungen wurden bereits vorgenommen. Sie entsprechen einer Bezügeverbesserung von jahresdurchschnittlich rund 0,5 Prozent und liegen damit um ein Vielfaches unter den Neuabschlüssen der gewerblichen Wirtschaft von rund 1,8 Prozent. Da die jährliche Sonderzuwendung weiterhin nur auf dem Niveau von 1993 gewährt und zudem die Arbeitszeit verlängert wurde, ist weitestgehend eine Kompensation der Mehrkosten für die Einmalzahlung eingetreten. Für das laufende Jahr 1997 sieht das Gesetz unter anderem Einkommensverbesserungen ab 1. März um 1,3 Prozent vor; bei Empfängern von Bezügen der Besoldungsordnung B, der Besoldungsgruppen C 4 und R 3 bis R 10 dagegen erst ab 1. Juli. Die im Vergleich zum Tarifabschluß für den öffentlichen Dienst überwiegend um zwei Monate verzögerte Bezügeverbesserung entspricht einer Anhebung von nur noch jahresdurchschnittlich 1 Prozent. Zusätzlich hat die Bundesregierung 1997 den Wegfall beider Arbeitszeitverkürzungstage inzwischen durch eine eigene Rechtsverordnung geregelt. Das führt bei den Bundesbeamten rein rechnerisch bereits zu einer echten Null-Runde. Durch die Verschiebung der allgemeinen Bezügeerhöhung und der erneuten Festschreibung der jährlichen Sonderzuwendung auf dem Stand von 1993 ergeben sich für die öffentlichen Haushalte 1997 sog Minderausgaben von mehr als 1,3 Milliarden DM. Diese Entlastung ist angesichts der äußerst angespannten finanziellen Situation der öffentlichen Haushalte unerläßlich. Für die Betroffenen bedeuten die Maßnahmen hingegen einen nicht unerheblichen zusätzlichen Sparund Konsolidierungsbeitrag, der nur wegen der wirtschaftlichen und finanziellen Gesamtsituation gerade noch zumutbar erscheint. Es müssen aber wenigstens zwei Punkte besonders herausgestellt werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten: Erstens. Der seit 1975 bei den Beamten und Versorgungsempfängern entstandene Rückstand bei der Einkommensentwicklung vergrößert sich weiter auf deutlich über 12 Prozent. Zweitens. Die im gleichen Zeitraum erzielten bescheidenen realen Einkommenszuwächse für diesen Personenkreis verringern sich wieder auf knapp 11 Prozent. Sie erreichen damit nicht annähernd die vergleichbaren Steigerungen der Gesamtwirtschaft von über 24 Prozent. Erst recht können sie nicht mit denen der gewerblichen Wirtschaft von über 30 Prozent konkurrieren. Ich sage das sehr bewußt, weil wir nämlich immer wieder darüber diskutieren müssen, wie gut der öffentliche Dienst besoldet sei. Es ist eben nicht so, daß es im öffentlichen Dienst nur Beamte der höheren Einkommensgruppen gibt, sondern wir haben sehr viele im einfachen und mittleren Dienst, die hier auch ihren Beitrag leisten. Unberücksichtigt bleiben soll schließlich auch nicht, daß die Anpassungsmaßnahme angesichts der vom Sachverständigenrat, den Wirtschaftsforschungsinstituten und der Bundesregierung prognostizierten Rahmendaten für das laufende Jahr nicht die volle Angleichung der Bezüge an die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung sicherstellt. So wird 1997 übereinstimmend von einem Wirtschaftswachstum von bis zu 2,5 Prozent und einer Preissteigerung um 1,5 Prozent ausgegangen. Die Nichtberücksichtigung der Beamtenanwärter bei den Anpassungsmaßnahmen 1996 und 1997 folgt allein dem Tarifergebnis vom 20. Juni 1996. Zeit- und inhaltsgleich mit diesem Ergebnis sieht das Gesetz hingegen eine Anhebung des Bemessungssatzes nach der zweiten Besoldungsübergangsverordnung vor. Zum 1. September 1997 werden die Bezüge in den neuen Bundesländern auf das Niveau von 85 Prozent der für das bisherige Bundesgebiet geltenden Bezüge angehoben. Auch wenn nicht verkannt wird, daß bereits in über 50 Tarifbereichen die volle Angleichung der Bezüge in den neuen Bundesländern an das Westniveau wirksam oder für die nahe Zukunft vereinbart worden ist, darunter unter anderem auch der öffentliche Dienst in Berlin, war eine weitere Verbesserung der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung im Beitrittsgebiet leider nicht möglich. Bevor dort nicht der erwartete Konsolidierungsprozeß eingesetzt hat, lassen sich auch heute noch keine seriösen Perspektiven für weitere Angleichungen aufzeigen. Wir sind aber gewillt, dies so bald wie möglich zu tun. Das Gesetz sieht ferner die Aussetzung einer Anpassung von Amtsbezügen vor. Die Mitglieder der Bundesregierung und die Parlamentarischen Staatssekretäre des Bundes setzen damit neben der bereits bestehenden Absenkung ihrer Amtsbezüge ein weiteres persönliches Zeichen ihres Sparwillens. ({0}) - Jahr für Jahr haben sie es aber getan, Herr Conradi. Sie haben die Erhöhung der Amtsbezüge ausgesetzt. Eine Fortführung wird dem weiteren Verfahren überlassen bleiben. Sie haben auf jeden Fall auf die Erhöhung der Amtsbezüge verzichtet. Ich empfehle den Ländern, die das bis jetzt noch nicht gemacht haben, dies auch zu tun. ({1}) Es wäre an der Zeit, daß nicht immer auf das Bundesgesetz Bezug genommen wird, sondern es sollten auch diejenigen, die immer wieder in den Ländern munter meckern, selbst handeln und verzichten, wie es vom Bund vorgemacht wird. Ich kann das so nicht mehr ertragen. ({2}) Deshalb haben wir in einer Entschließung die Länder aufgefordert, die Amtsbezüge der Mitglieder der Landesregierungen und der hauptamtlichen Amtsund Mandatsträger - auch im kommunalen Bereich soll das gelten - künftig durch Landesrecht ohne dynamische Verweisung auf Bundesrecht eigenständig zu regeln. ({3}) Dies wäre ein wichtiger Beitrag im Rahmen des föderativen Aufbaus unseres Staates. Dieses Gesetz verlangt von den Empfängern von Dienst-, Versorgungs- und Amtsbezügen insgesamt einen besonderen, aber noch angemessenen Sparbeitrag. Es berücksichtigt mit maßvollen Anpassungsvorhaben die schwierige finanzielle Situation der öffentlichen Haushalte, und zwar aller öffentlichen Haushalte. Die Vorhaben sollten daher heute die Zustimmung aller finden, damit sich der Erhöhungsbetrag auf dem Gehaltszettel schnellstmöglich wiederfindet. Ich denke hier ganz besonders an die Bezieher kleiner Einkommen, die auf jeden Pfennig angewiesen sind. ({4}) Das ursprüngliche Gesetzeswerk mußte allerdings entgegen früheren Gepflogenheiten noch um weitere Vorhaben angereichert werden. Es ist ein Stilbruch im Vergleich zu früher, als wir im Zuge von Besoldungsanpassungen nichts angereichert, sondern alles so belassen haben. So waren die Ergänzungswünsche des Bundesrates zur Angleichung der Ämterstruktur für Professoren an den Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg durch Streichungen des Professorenamtes in Besoldungsgruppe C 2 ebenso zu berücksichtigen wie die Verlängerung der für das Beitrittsgebiet geltenden Sonderregelung um drei Jahre. Es handelte sich dabei im wesentlichen um Vorschriften zur Verteilung der Versorgungslasten für den Beamten- und Soldatenbereich sowie um die Geltung der Ermächtigungsgrundlage zum Erlaß besoldungs- und versorgungsrechtlicher Übergangsregelungen in den neuen Bundesländern. Außerdem galt es, die Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes über die Verfassungswidrigkeit bestimmter Vorschriften in § 55 Bundesbesoldungsgesetz auch mittels Übergangsregelung möglichst umgehend umzusetzen. Auch zu diesen Ergänzungen und Änderungen des Gesetzes wird hier - ich bitte darum - Ihre Zustimmung erwartet. Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung geht ein Gesetzgebungsverfahren zu Ende, das im Ablauf sicherlich nicht zu den Sternstunden des Parlamentes zählt. ({5}) - Deshalb nicht, weil ich einige Verquickungen sehe. Es ist allerdings gut - das sage ich deutlich -, daß es im Parlament auch möglich ist, etwas, das in Ausschüssen festgeschrieben wurde, aber nicht die Mehrheit des Hauses findet, wieder zurückzuüberweisen. Das ist eine gute parlamentarische Sache. Aber manche Überlegungen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt haben, kann ich nicht akzeptieren. ({6}) - Aber Herr Conradi, wollen Sie den kleinen Leuten wirklich die Besoldungsanpassung wegnehmen? ({7}) - Wenn Sie das Gesetz gekippt hätten, wäre es aber so gewesen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Conradi?

Otto Regenspurger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erinnern Sie sich, Herr Abgeordneter, daß wir hier in zweiter Lesung eine Mehrheit gegen das Gesetz hatten und daß ich mich auf Bitten der Parlamentarischen Geschäftsführer mit der Rücküberweisung in der Erwartung einverstanden erklärte, daß das Gesetz substantiell geändert würde? ({0}) Dann haben aber die Fraktionsvorstände und der Innenausschuß erst einmal gesagt: Es wird überhaupt nichts geändert. Da habe ich mich allerdings vergeigt gefühlt. Erst unter dem Druck, das Gesetz möglicherweise auch beim zweiten Mal hier scheitern zu lassen, sind Sie zu einer minimalen Änderung bereit gewesen.

Otto Regenspurger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Conradi, ich erkenne ohne weiteres an, daß Sie mit Ihrer Rücküberweisung das Gesetz damals gerettet haben. Damit ist den Beziehern kleiner und mittlerer Bezüge kein Schaden entstanden. Dafür danke ich Ihnen an dieser Stelle. ({0}) - Das mache ich gerne, Frau Albowitz, das ist überhaupt keine Frage. Ich danke allen, die mitgewirkt haben, daß die Leute endlich ihr Geld kriegen. Ich möchte auch einmal einen Dank an den öffentlichen Dienst insgesamt aussprechen. Der öffentliche Dienst ist nicht so schlecht, wie er ständig dargestellt wird. Das soll an dieser Stelle auch einmal gesagt werden. In den Fällen, in denen die öffentlich Bediensteten angepflaumt werden, stellen wir uns als Politiker vor sie und sagen danke schön für das, was sie leisten. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte in den Dank natürlich auch meine Mitberichterstatter einbeziehen, und zwar ganz besonders Herrn Stadler und Herrn Krüger, die in den Vorgesprächen und auch in den Beratungen - da gab es keine Auseinandersetzungen, auch das muß ich sagen - konstruktiv miteinander gearbeitet haben. Auch den Mitarbeitern, die mitgewirkt haben, sage ich ein Dankeschön. Es gab sicherlich hektische und aufgeregte Situationen. Lassen Sie uns heute nicht weiter in Hektik und Aufregung miteinander streiten, sondern lassen Sie uns die Sache gemeinsam angehen. Heute gilt es: Lassen wir den Entwurf zum Gesetz werden. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Regenspurger hat die Details des Gesetzentwurfs zutreffend wiedergegeben; das muß ich nicht wiederholen. Herr Regenspurger, in aller kollegialen Wertschätzung, ich muß Ihnen doch widersprechen: Ich würde im Zusammenhang mit diesen Beratungen zwar nicht von einer Sternstunde des Parlamentes reden wollen, aber dem Kollegen Conradi ist in der Tat zu danken, daß er es ganz alleine in offener Feldschlacht - ich kenne nur einen Kollegen, der das schafft; das ist eben Peter Conradi - geschafft hat, diesen Gesetzentwurf kurz vor Beendigung der Beratung noch einmal zur Beratung in den Innenausschuß zurückzuüberweisen, um sicherzustellen, daß einiges präzisiert und klargestellt wird. Darauf wird hier noch einmal einzugehen sein. Es ist ganz gut, zu erwähnen, daß wir ohne diese Initiative heute nicht da ständen, wo wir, durchaus auch einvernehmlich, stehen. Das war sehr konstruktiv. Ich will hervorheben, daß die Anhebung der Besoldung für die Beamten mit linear 1,3 Prozent sicherlich sehr maßvoll ist. In unserer Fraktion war insbesondere der Sparbeitrag der wirklich gutbezahlten Beamtinnen und Beamten umstritten. Da hätten sich manche von uns noch ein bißchen mehr vorgestellt angesichts der Tatsache, daß Beamte einen sicheren Arbeitsplatz haben und die Bezüge relativ hoch sind. Es gab einen Vorschlag zur Kappungsgrenze. Wir haben uns darauf geeinigt, daß für bestimmte höhere Besoldungsgruppen die lineare Besoldungsanpassung erst am 1. Juli 1997 erfolgen soll. Das ist sicherlich ein vernünftiger, vertretbarer Kompromiß, der uns allen geholfen hat. Uns war sehr wichtig, daß wir noch einmal darüber nachdenken, was denn eigentlich den Unmut im Hause - nicht nur in unserer Fraktion, sondern fraktionsübergreifend - hervorgerufen hat. Dieser Unmut liegt darin begründet, daß sich die Bundesländer einfach an die Entscheidungen des Bundesgesetzgebers angekoppelt haben. Das wäre vielleicht noch verständlich. Aber insbesondere die Spitzen dieser Bundesländer nehmen für sich in Anspruch, was sie einem anderen Verfassungsorgan, nämlich dem Deutschen Bundestag, vollmundig abgesprochen haben. ({0}) Das hat natürlich zu einigen Überlegungen geführt. Es ist dem Bundesinnenministerium zu danken, daß dort auch verfassungsrechtliche Überlegungen stattgefunden haben. Wir beraten heute erneut vor leeren Bänken des Bundesrates. Wir können nahezu übereinstimmend in diesem Hause feststellen: Wir, der Deutsche Bundestag, sind der Auffassung, daß die Entscheidungen über die Amtsbezüge insbesondere der Beamten der Landesregierungen und anderer Spitzenbeamter auf der Landesebene - kommunaler Wahlbeamter, Oberbürgermeister, Landräte - durch den jeweiligen Landesgesetzgeber zu treffen sind. Es gilt dabei nicht die automatische Anpassung an die Entscheidung des Bundesgesetzgebers. Das sorgt für Klarheit und für klare verfassungsrechtliche Verantwortlichkeiten. ({1}) Herr Staatssekretär Waffenschmidt, wir erwarten von Ihrem Hause, daß auch Sie im Rahmen Ihrer Zuständigkeiten darauf achten - Sie sind von seiten der Bundesregierung in besonderer Weise für die Verfassung mitverantwortlich -, daß der Bundesrat, das heißt: die Länder, diese Überlegungen in die Tat umsetzen. Wir können die Länder nicht zwingen; sie haben sich bei uns angekoppelt. Wir können uns nicht abkoppeln, sondern die Abkopplung kann nur von den Ländern selber vorgenommen werden. Dies ist ein wichtiger Punkt. Das Plenum und der Innenausschuß werden nachhaken. Wir haben die herzliche Bitte, daß auch von Ihrer Seite nachgehakt wird. Sie haben ja entsprechende Möglichkeiten, mit den Ländern in den geeigneten Gremien darüber zu diskutieren. Nach Abschluß der Beratungen im Innenausschuß sind wir insgesamt gesehen zu vernünftigen ErgebDieter Wiefelspütz nissen gekommen, so daß ich heute zum Abschluß meines Beitrages sagen kann: Nach intensiver Diskussion sind wir - die SPD-Bundestagsfraktion - der Auffassung, daß wir diesem Bundesbesoldungsanpassungs- und -versorgungsgesetz in der geänderten Form zustimmen werden, weil das Ganze so vertretbar erscheint. Wir sind der Auffassung, daß Tarifvereinbarungen im öffentlichen Dienst im Prinzip auch auf den Bereich der Beamtenschaft übertragen werden sollten - mit gewissen Abschwächungen insbesondere dort, wo es sich die betreffenden Beamten und Beamtinnen auch relativ gut leisten können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der heutigen Debatte sind einige Tagesordnungspunkte verbunden worden, die im Grunde genommen wenig miteinander zu tun haben. Ich habe ein bißchen die Sorge, daß wieder einmal alles vermischt wird. Vielleicht hat jemand gestern abend das „Nachtjournal" bei RTL gesehen. ({0}) Ich habe in dieser Sendung ein Interview ({1}) - das war nicht der Punkt, auf den ich hinauswollte; ich wollte Ihnen nur schildern, was ich dort am eigenen Leibe erlebt habe - zum Thema „Übergangsgelder bei Regierungsmitgliedern" gegeben. Durch die Moderation seitens des Senders ist daraus etwas geworden, was sich mit Übergangsgeldern der Parlamentarier beschäftigt hat. Kein Mensch, der diese Sendung verfolgt hat, konnte erkennen, daß es bei dem, was da gesagt wurde, um ein völlig anderes Thema ging, weil man offensichtlich noch immer nicht bereit ist, die Bezüge der Parlamentsmitglieder und die der Mitglieder der Bundesregierung auseinanderzuhalten. Ich denke, dies gibt heute Anlaß, darüber zu sprechen. Auch ich danke ausdrücklich Herrn Kollegen Conradi für diese Initiative, die den Finger in eine offene Wunde gelegt hat. Ich schließe mich dem an, was hier gesagt wurde, daß es dringend notwendig ist, daß dieses Verstecken im Rahmen der Gesamtanpassung und dieser Automatismus endlich beendet werden und daß Bund und Länder in je eigenen Gesetzen die Bezüge auch der Regierungsmitglieder regeln. Ich möchte nur kurz auf das Thema Besoldungsanpassung eingehen: Wenn stimmt, was Peter Grottian errechnet hat, dann ist es so, daß in vergleichbaren Bereichen die Bezüge bzw. die Nettoeinkommen der Beamten wieder deutlich stärker als die der Angestellten gestiegen sind - dies erst recht durch die Änderungen im Rentenbereich, die die Beamten nicht betreffen. Umgekehrt ist es so, daß Bund, Länder und Gemeinden hier vor einer absehbaren gewaltigen Lawine von Kosten stehen, die kaum zu bewältigen sein wird. Von heute bis zum Jahr 2040 werden sich die Versorgungskosten den Schätzungen zufolge versechsfachen. Ich denke, daß dies Anlaß ist, um gründlich darüber nachzudenken, ob es so weitergehen kann. Wir haben im Rahmen dessen, was wir heute hier debattieren, wenigstens an einer Stelle den Versuch machen wollen, einzugreifen, indem wir gefordert haben, bei den B-Bezügen eine Nullrunde einzulegen und nur bei den niedrigeren Beamteneinkommen die Erhöhung greifen zu lassen. Wir haben uns bedauerlicherweise damit nicht durchgesetzt. Was ich aber nun vor allen Dingen ansprechen will, was auch die SPD mit ihrem Antrag beabsichtigt und was, wie ich heute den Zeitungen entnommen habe, auch in der Bundesregierung intensiv zur Debatte steht, ist - das ist längst überfällig - die Frage der Anpassung der Übergangsgelder bzw. der Altersbezüge bei Regierungsmitgliedern. Lassen Sie mich hier sehr deutlich sagen: Ich bin nicht bereit, dies alles in einen Topf zu werfen, also hier von „der politischen Klasse" oder von den „Parlamentariern" zu sprechen, wenn Regierungsmitglieder gemeint sind. Wir haben vor einiger Zeit in einer schmerzhaften Diskussion und Entscheidung in diesem Hause etwas erklärt, was meines Erachtens selbstverständlich sein sollte, nämlich daß Übergangsgelder ihren Sinn darin haben, eine vorübergehende Berufs- oder Einkommenslosigkeit auszugleichen. Ich denke, sie haben Sinn, wenn ich mir manche Kollegen anschaue, die acht, zwölf oder sechzehn Jahre hier in diesem Haus sehr viel Arbeit geleistet haben und dann in einen Beruf zurückkehren, in dem das, was sie an Erfahrung mitbringen, längst nicht mehr Stand des Wissens und der Technik ist. Sie brauchen im Grunde enorm viel Zeit und Kraft, um das aufzuholen, was sich in der Zwischenzeit an Entwicklungen vollzogen hat, um überhaupt wieder in den Beruf hineinzukommen. Dafür sind Übergangsgelder gedacht. ({2}) Wer aber Übergangsgelder als ein Zubrot zu einem ohnehin schon enormen Einkommen oder, wie im Falle einer Kollegin des Hauses, zu zwei ohnehin schon enormen Einkommen versteht, der hat das nicht nur mißverstanden, sondern diese Praxis schadet uns allen, dem Ansehen des Parlaments und dem Ansehen der Politik in unserem Land. Ich erinnere deshalb daran, daß unsere Fraktion schon in der 11. Legislaturperiode, zuletzt aber auch in dieser Legislaturperiode, am 25. November 1995, einen Antrag eingebracht hat, der genau diese Sache zu regeln versucht. Ich finde es schon ausgesprochen ärgerlich, daß die Bundesregierung in diesem Bereich, der nun wirklich ihr ureigenster Regelungsbereich wäre, eine solche Regelung bis heute vermieden hat. Das, was der Bundesregierung als Apparat zur Verfügung steht, um derartige Fragen zu regeln, ist verglichen mit dem, was dem Parlament zur Verfügung steht, ein Vielfaches. ({3}) - Herr Stadler, man hat doch unheimlich viel unter dem Aspekt „Wir müssen sparen" und „Wir müssen den Gürtel enger schnallen" gemacht. Der Bundeskanzler ist immer das lebende Gegenbeispiel, aber das sind doch die Parolen. Man hat unter diesem Aspekt unzählige Gesetze vorbereitet, manchmal über Nacht, bis hin zur Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Aber diesen ungeheuren Wildwuchs im Bereich der Regierungsmitglieder, der uns allen wirklich schadet, hat man nicht beseitigt. So ist es eben bis heute so, daß schon nach sehr kurzer Zeit der Mitgliedschaft in der Bundesregierung Ansprüche für Übergangsgelder, die sich auf gewaltige Summen und lange Zeiten erstrecken, und Ansprüche für eine Altersversorgung, für die kein Mensch mehr Verständnis hat, erworben werden. Andere Bürgerinnen und Bürger müssen Jahrzehnte in die Rentenkasse einzahlen, um auch nur einen Bruchteil dessen zu erwerben, was Regierungsmitglieder bereits nach einem oder zwei Jahren erreicht haben. Ich meine, daß es dringend nötig ist - nicht nur, weil ich höre, daß das Gesetz gerade vorbereitet wird, und deswegen die Hoffnung habe, daß man noch eine Anregung geben kann -, daß jetzt nicht nur das geregelt wird - ({4}) - Wir stimmen heute über den SPD-Entwurf nicht ab, wir werden ihn überweisen, aber wir haben keinen Dissens mit diesem Entwurf; wir werden ihn ganz und gar unterstützen. ({5}) Es gibt aber eine Reihe weiterer Fragen, die noch geklärt werden müssen, etwa bei den Altersbezügen von Regierungsmitgliedern, bei der Frage der Anrechnung von Übergangsgeldern auf private Einkünfte und bei der Frage, ob es denn zum Beispiel richtig ist, Herr Wiefelspütz, daß die Übergangsgelder bei Regierungsmitgliedern und Staatssekretären ebensolange gezahlt werden, wie man Mitglied der Regierung war. Sie wissen, daß das bei Abgeordneten ungleich viel kürzere Zeiträume sind. Ich finde es schwer begründbar, warum das bei der Regierung so ungleich viel länger ist. Ich finde auch schwer begründbar, warum bei den Altersbezügen die Summe höher ist und die Zeiten, in denen Anwartschaften erworben werden, ungleich viel kürzer sind: Im Bundestag muß man acht Jahre Mitglied sein, um Anwartschaften zu erreichen, in der Bundesregierung nur zwei Jahre. Hier ist vieles, was geändert werden könnte, damit auch die andere Seite endlich einmal nachzieht und den Appell, zu sparen und mit öffentlichen Geldern sinnvoll umzugehen, ernst nimmt. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Max Stadler.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung geht ein Gesetzgebungsverfahren zu Ende, das ohne weitere Wertung in seinem Verlauf als eigentümlich bezeichnet werden darf. ({0}) Zunächst waren für die Anpassung der Dienstbezüge von Beamten, Richtern und Soldaten zwei Grundsätze allgemein unstrittig: Erstens. Der öffentliche Dienst muß in finanziell schwierigen Zeiten seinen Anteil an der Einsparung von Haushaltsmitteln leisten. Zweitens. Gleichwohl haben auch Beamte, Richter und Soldaten sowie die Versorgungsempfänger des Bundes, der Länder und Gemeinden ein Anrecht auf Anpassung ihrer Bezüge entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse. Diesen beiden Prinzipien hat der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung entsprochen. Er sah eine lineare Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge um 1,3 Prozent sowie die Gewährung einer Einmalzahlung in Höhe von 300 DM für 1996 vor. Dies entsprach einer Übernahme des Ergebnisses der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. So schien es zunächst, als würde im Dezember im Plenum lediglich ein Routinebeschluß zu fassen sein. Daß dies nicht so kam, war das Verdienst des Kollegen Conradi, der mit seinem damaligen Beitrag den berechtigten Ärger über die Verweisungsregelungen in den Ländergesetzen zum Ausdruck gebracht hat. Dieser Ärger ist deswegen berechtigt, weil die Bundesländer, genauer gesagt: die Landesregierungen und damit die Ministerpräsidenten und auch kommunale Wahlbeamte, über sogenannte dynamische Verweisungen an dem Anteil haben, was der Bundestag beschließt. In Wahrheit aber geht es selbstverständlich um Regelungen, die eigenständig und vor allem in einem transparenten Verfahren von den Landtagen der Bundesländer zu treffen wären. Eigentümlich war aber wiederum unser Verfahren der Zurückverweisung an den Innenausschuß deswegen, weil damit die allgemeine Erwartung verbunden worden war, wir könnten an diesem unguten Zustand der Verweisungsregelungen der Länder etwas ändern. ({1}) Die sorgfältige Beratung im Innenausschuß hat aber ergeben, daß dies nicht in unsere Zuständigkeit fällt, so daß uns nur der Appell an die Bundesländer bleibt, dies in eigener Zuständigkeit in Ordnung zu bringen. ({2}) Ich habe diesbezüglich bereits einen Briefwechsel mit der bayerischen Staatskanzlei geführt, vor allem deswegen, weil der Freistaat Bayern ja zu denjenigen Bundesländern gehört, die in ganz besonderer Weise immer auf ihre Eigenstaatlichkeit pochen. Wie nicht anders zu erwarten war, teilt die bayerische Staatskanzlei nicht die Auffassung des Bundesinnenministeriums, diese Verweisungen, mit denen man eine Länderentscheidung praktisch auf den Bund delegiert, seien verfassungswidrig. Unter Bezugnahme auf einige Rechtsprechungen des bayerischen Verfassungsgerichtshofs wird die Verfassungsmäßigkeit dieses Zustands betont, aber auch behauptet, der jetzige Zustand sei verfassungspolitisch richtig. Dem möchte ich hier entschieden entgegentreten. ({3}) Es bleibt uns nur der Appell an die Bundesländer, in dem Sinne zu verfahren, wie es Herr Wiefelspütz schon ausgeführt hat. Es wäre aber der falsche Weg gewesen, wegen dieses Bund-Länder-Konflikts nun die Besoldungserhöhung insgesamt scheitern zu lassen. Das wäre zu Lasten der Beamten gegangen. Das wäre völlig unangemessen gewesen. Insofern war das Verfahren eigentümlich, als der Innenausschuß gar nicht anders konnte, als im Prinzip bei der ursprünglichen Gesetzesfassung zu bleiben. Daß nun im Kompromißwege zum Nachteil der Angehörigen der Besoldungsordnung B bzw. der Besoldungsgruppen C 4, R 3 bis R 10 ({4}) nicht nur wie bei den Angehörigen der anderen Besoldungsgruppen eine weitere Verschiebung der Anpassung - im Vergleich mit dem Tarifbereich - um zwei Monate, sondern eine Verschiebung auf den 1. Juli beschlossen worden ist, ist etwas, was mit der ursprünglichen Streitfrage, wie sie im Dezember im Plenum erörtert worden ist, nicht das geringste zu tun hat. ({5}) Ich bin der Auffassung, daß es eine sachliche Begründung für diese Ungleichbehandlung kaum gibt. Wir hatten dies aber im Rahmen des Kompromisses zu akzeptieren, weil sonst eine Mehrheitsbildung nicht möglich gewesen wäre. Die Änderungsanträge der Grünen dagegen waren für uns nicht akzeptabel. Das gilt auch für den Antrag, in dem gefordert wird, die Sicherheitszulage zu streichen. Ich möchte aber die Gelegenheit benutzen, um anzukündigen, daß die Koalition das Zulagenwesen insgesamt durchforsten will und schon alsbald ein Gesamtkonzept dafür vorlegen wird, welche Zulagen heute noch gerechtfertigt erscheinen und welche Zulagen ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Es ist aber nicht der richtige Weg, jetzt, in diesem Gesetzgebungsverfahren, eine einzelne Zulage herauszugreifen, wie dies Bündnis 90/Die Grünen gewünscht haben. Weil meine Redezeit abläuft, möchte ich nur kurz auf das Thema eingehen, auf das Herr Häfner mehr Zeit verwendet hat. Die Eckpunkte, die gestern vom Kabinett verabschiedet worden sind, wonach private Einkünfte, jedenfalls berufliche Einkünfte, auf die Übergangsgelder angerechnet werden, finden die Billigung der F.D.P.-Fraktion. Einen entsprechenden Gesetzentwurf, zu dem der Innenminister gestern aufgefordert worden ist, werden wir unterstützen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es in Ordnung, wenn die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen dem Bundestag zumindest eine Diskussion wert ist und nicht, wie bisher üblich, ohne Debatte verabschiedet wird. Das hat letztlich Herr Conradi bewirkt, wofür ich ihm dankbar bin. Die Arbeitslosen, Kranken, Behinderten, Ausländerinnen und Ausländer, BAföG-Studierenden usw., denen mit der Sparpolitik der Bundesregierung eine Kürzung nach der anderen zugemutet wird, haben ein Recht darauf, zu erfahren, daß auch in anderen Bereichen über mögliche Einsparungen zumindest nachgedacht wird. Dabei kommen aber einige - wie ich meine: nicht ganz unberechtigte - Fragen auf. Auf der einen Seite müssen Arbeitslose ihren Lebensunterhalt teilweise aus Abfindungen bestreiten, während auf der anderen Seite Parlamentarische Staatssekretäre oder Parlamentarische Staatssekretärinnen mit vergleichsweise astronomischen Abfindungssummen von einem gut dotierten Job in einen anderen - vielleicht sogar besser dotierten - Job wechseln. Auf der einen Seite werden Lernbehinderte in das soziale Aus getrieben, weil Förderlehrgänge nicht mehr finanziert werden können, während auf der anderen Seite manche keine größeren Sorgen haben, als über die Wahrung ohnehin nicht zu knapp bemessener Besitzstände zu verhandeln. Auch hierzu ist bereits ein Beispiel genannt worden. Die Liste sozialer Ungerechtigkeiten ließe sich beliebig erweitern. Aber damit bin ich auch schon bei einem Problem, nämlich den Motiven, auf Grund deren hier heute diskutiert wird. Mehrere Abgeordnete erklärten ihre Ablehnung des Gesetzentwurfs in der Sitzung am 12. Dezember damit, daß den Amts- und Mandatsträgern in Deutschland in der laufenden Tarifrunde ein dem der Bundestagsabgeordneten vergleichbares Opfer abverlangt werden müsse und daß sich die Zurückhaltung bei der Einkommensentwicklung nicht nur auf die Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung beschränken dürfe. Diese Erklärungen lassen vielleicht auch einen Umkehrschluß zu. Wäre die Diätenanpassung turnusmäßig erfolgt, hätte hier möglicherweise niemand ein Problem gehabt - und das Gesetz wäre wie gewöhnlich ohne Debatte durchgegangen. Wie die Stellungnahmen von Gewerkschaften und Beamtenbund zeigen, gibt es noch ganz andere Gründe, weswegen man gegen das vorliegende Gesetz sein könnte. Das sind die zeitliche Abkopplung der Besoldung von der Bezahlung im öffentlichen Dienst, die Forderung nach Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungsplätze für die Nichtanpassung der Anwärterbezüge entsprechend dem Tarifergebnis und nicht zuletzt die Zementierung von Ungleichbehandlung von Besoldungsempfängerinnen und -empfängern in Ost und West. Ich will auch nicht verhehlen, daß ich noch ein weiteres Problem sehe. Die aus dem Obrigkeitsstaat stammenden Grundsätze des Beamtentums zielen darauf ab, den staatlichen Verwaltungsapparat mittels spezifischer Demokratieeinschränkungen und Privilegien gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern abzuschotten und so unter allen Bedingungen funktionsfähig zu halten. Wenn jetzt auch von Regierungsseite der Beamtenstatus teilweise in Frage gestellt wird - das tun Sie ja -, insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer, so geschieht das vor allem aus finanziellen Gründen. Im Grunde genommen soll der Beamtenstatus jedoch dauerhaft gewahrt werden. Aus unserer Sicht sollte es aber weniger um die Bewahrung eines solchen abgeschotteten Apparates gehen als vielmehr - längerfristig - um eine transparente, bürgernahe Verwaltung, die den abgehobenen Staatsapparat wieder vom „Herrn" zum „Diener" macht. ({0}) Ich möchte abschließend an noch etwas erinnern, meine Damen und Herren. Es ging in der Rede von Herrn Conradi in der Sitzung im Dezember eben doch um etwas anderes, Herr Stadler: Es ging um die B- und R-Besoldung. Das ist nicht angemessen behandelt worden. ({1}) Deshalb stimmen wir beiden Grünen-Anträgen zu. Zum Schluß möchte ich sagen: Da die Anpassung für die unteren und mittleren Besoldungsgruppen unbedingt erforderlich ist - Herr Stadler, Sie haben gesagt, die Menschen brauchen diese Bezüge dringend -, werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Stimme enthalten. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche nicht zum Besoldungsanpassungs- und -versorgungsgesetz. Dazu möchte ich nachher vor der Abstimmung eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben. Ich spreche jetzt im Namen meiner Fraktion zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Parlamentarischen Staatssekretäre. Fangen wir beim Übergangsgeld an: Das Übergangsgeld soll den Übergang von einer zeitlich befristeten politischen Tätigkeit in eine andere berufliche Tätigkeit erleichtern. Das hat Herr Häfner hier schön dargelegt. Aber in vielen Fällen war das Übergangsgeld nicht für den Übergang in einen anderen Beruf notwendig, sondern es hat den Abschied vom Amt versüßt. Der Bundestag hat aus dieser Entwicklung seine Konsequenz gezogen. Wir haben das für uns geändert: Zukünftig werden ab dem zweiten Monat nach dem Ausscheiden alle Erwerbs- und Versorgungseinkünfte aus öffentlichen und aus nichtöffentlichen Kassen angerechnet. Die Bundesregierung ist diesem Beispiel des Hauses nicht gefolgt. Sie wollte vom goldenen Handschlag zum bitteren Abschied vom süßen Amt nicht lassen. Als ich im letzten Herbst vorschlug, das Bundesministergesetz zu ändern, war die Begeisterung auch in meiner Fraktion gering. Das ist verständlich; denn wir rechnen nicht nur damit, daß wir alle 1998 wiedergewählt werden, sondern die meisten von uns hoffen, daß sie für die Regierung auserwählt werden. ({0}) Es ehrt meinen Fraktionsvorstand, daß er meinem Vorschlag gefolgt ist. Spötter behaupten allerdings, er sei dem Vorschlag in der Hoffnung gefolgt, die Koalition werde ihn ablehnen. Wir haben Ihnen im letzten Herbst angeboten, gemeinsam das Ministergesetz zu ändern. Wir haben mit Herrn Minister Bohl gesprochen, und wir haben mit den Koalitionsfraktionen gesprochen. Sie haben das abgelehnt. Jetzt haben Sie den Schaden und sind blamiert. Die Bundesregierung kündigt hastig an, sie wolle das alles ändern. Herr Staatssekretär Waffenschmidt, die Gesetze ändert der Bundestag und nicht die Bundesregierung. Wir sehen Ihren Initiativen gespannt entgegen. ({1}) Aber lassen Sie uns das Gesetz so ändern, daß das Übergangsgeld dann wirklich auch ein Übergangsgeld in eine neue Erwerbstätigkeit ist und nicht ein goldener Handschlag. Da gibt es zwei Fragen, die schwierig sind und die man klären muß: Das eine ist, was eigentlich mit jemandem geschieht, der vom Amt in den Ruhestand geht. Wozu braucht der noch ein Übergangsgeld? Ich zum Beispiel gehe nächstes Jahr mit 66 Jahren vom Amt des Abgeordneten in den Ruhestand. Da brauche ich doch kein Übergangsgeld mehr. Ich meine, das sollten wir neu regeln. Das andere ist: Eine Änderung der Regelung zum Übergangsgeld ist nach meiner Rechtsauffassung auch rückwirkend möglich. Das Argument, alle Rechtstatbestände bei Amtsantritt dürften während der Amtszeit nicht geändert werden, ist erstaunlich. Dann dürfte die Bundesregierung nicht einmal die Beihilfeverordnung ändern. Natürlich gibt es einen hohen Vertrauensschutz hinsichtlich der Versorgungsansprüche; darüber besteht kein Zweifel. Aber wenn das Übergangsgeld häufig gar nicht seiner Zweckbestimmung entsprechend gezahlt wird, sondern nur als Zubrot zum Ausscheiden, dann muß das geändert werden können, notfalls auch für Abgeordnete. ({2}) Ich will nun einige kritische Anmerkungen zum Fall Yzer machen. Ich finde es erstaunlich, daß eine vom Volk gewählte Abgeordnete Zeit hat, neben der Arbeit als Abgeordnete als Geschäftsführerin eines Verbandes für 400 000 DM im Jahr - so hört man unwidersprochen - tätig zu sein. Offensichtlich gibt es hier zwei Arten von Abgeordneten: Die einen nehmen ihre Arbeit ernst, für die anderen dagegen ist das Abgeordnetengehalt gerade ein Zubrot zu dem Gehalt aus einem anderen Beruf, den man in einem Verband ausübt. Frau Yzer ist nicht die einzige, auf die das zutrifft. ({3}) Das Grundgesetz schreibt eine angemessene Bezahlung der Abgeordneten vor. Angemessen wäre - darüber sind wir uns einig - die Besoldung eines Bundesrichters. Die haben wir noch lange nicht erreicht. Aber wenn wir das mit dem hohen Anspruch, mit der hohen Belastung und auch der hohen Verantwortung unseres Amtes begründen, dann nimmt uns das doch niemand mehr ab, wenn eine Bundestagsabgeordnete neben ihrem Abgeordnetenmandat mit 135 000 DM im Jahr für 400 000 DM in einem Verband tätig ist. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lattmann?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Herbert Lattmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Conradi, ich stimme einem Teil Ihrer kritischen Bemerkungen ausdrücklich zu. Können Sie mir Ihrerseits darin zustimmen, daß das von Ihnen Gesagte nicht nur dann gelten darf, wenn es um Geschäftsführer von Arbeitgeberverbänden geht, sondern daß man bei allen Verbandstätigkeiten - bis hin zu den Gewerkschaften - die gleichen Maßstäbe anlegen muß und daß wir da ein großes Problem in Gänze haben - nicht nur bezogen auf diesen Fall?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darüber sind wir nicht im Streit. Dem stimme ich zu. - Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Diäten-Urteil 1975" im fünften Leitsatz gesetzliche Vorkehrungen dagegen gefordert - jetzt zitiere ich -: ... daß Abgeordnete Bezüge aus einem Angestelltenverhältnis ohne die geschuldeten Dienste zu leisten, nur deshalb erhalten, weil von ihnen im Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird, sie würden im Parlament die Interessen des zahlenden Arbeitgebers ... vertreten und nach Möglichkeit durchzusetzen versuchen. Einkünfte dieser Art - so das Verfassungsgericht sind mit dem unabhängigen Status der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf gleichmäßige finanzielle Ausstattung in ihrem Mandat unvereinbar. ({0}) Die Koalitionsfraktionen wollten vor zwei Jahren unserem Antrag auf Offenlegung dieser Nebeneinkünfte nicht folgen. Damals haben sie einen Entschließungsantrag durchgesetzt mit dem Inhalt, der Geschäftsordnungsausschuß solle die Verhaltensregeln prüfen und feststellen, ob nicht Änderungen der Anzeigepflichten über Nebentätigkeiten und Einkünfte im Hinblick auf potentielle Interessenkonflikte notwendig seien. So furchtbar ernst hat die Koalition es nicht gemeint. Denn: In dem Antrag stand, der Geschäftsordnungsausschuß solle vor dem Sommer 1996 sein Prüfungsergebnis vorlegen, damit das Haus entscheiden könne. Die Frist ist längst verstrichen; nichts liegt vor. Wir sollten die Koalitionsmehrheit im Geschäftsordnungsausschuß mit allem Nachdruck auffordern, ihre Arbeit zu tun und uns jetzt Vorschläge zu unterbreiten, wie man solche Interessenkonflikte zukünftig behandeln will. ({1}) Unser Gesetzentwurf will die Gehälter für Mitglieder der Bundesregierung von der Beamtenbesoldung abkoppeln. Seit 1990 - das ist hier bereits gesagt worden - hat die Bundesregierung viermal darauf verzichtet, an der Besoldungserhöhung teilzunehmen. Aber urn das deutlich zu machen: Immer wenn das Jahr vorbei war, sprangen die Gehälter automatisch wieder in die B-Besoldungstabelle. Das heißt, es war immer nur ein Verzicht für ein Jahr - anders als der Verzicht der Abgeordneten, die letztes Jahr mit ihrem Verzicht auf jährlich 6 300 DM im Jahr einen Verzicht auf viele Jahre geleistet haben. Die heimliche Anpassung der Gehälter der Mitglieder der Bundesregierung entspricht nicht der verfassungspolitisch gebotenen Transparenz. Sie sind keine Beamte, auch wenn einige von ihnen sich wie Beamte aufführen. Wir sollten ihre Bezüge deshalb von der Beamtenbesoldung trennen. Wir nennen deshalb im Gesetz die heutigen D-Mark-Beträge. Damit mich niemand mißversteht: Wir sind nicht der Meinung, die Mitglieder der Bundesregierung seien zu hoch bezahlt. Im Verhältnis zu den weit überhöhten Spitzengehältern in der Wirtschaft - man muß sich darüber klar sein, daß Frau Yzer zusammen mit ihrem Abgeordnetengehalt mehr als der Bundeskanzler bekommt - sind die Gehälter in der Politik gewiß nicht überhöht. Als Oppositionsabgeordneter, der viel vom Leistungsprinzip hält, würde ich dem eiPeter Conradi nen oder anderen Bundesminister, etwa dem Herrn Bundeswirtschaftsminister, gerne das Gehalt kürzen, ({2}) aber ich will einräumen, daß andere Minister, etwa Norbert Blüm, mit dem wir ja viel streiten müssen, gewiß ihr Geld wert sind. ({3}) - Ich will sie jetzt nicht alle aufführen. Ich habe das auch nicht im Namen meiner Fraktion gesagt; das war meine persönliche Meinung. Ich bin sicher, der Bundestag wird, wenn wir die Amtsbezüge für Mitglieder der Bundesregierung von den Bezügen der Beamten abkoppeln, die Bundesregierung nicht im Regen stehen lassen. Wir werden auch ihre Bezüge regelmäßig erhöhen, am besten zusammen mit den Abgeordnetenbezügen. Darüber wollen wir mit Ihnen in den Ausschüssen reden. Wir sind auch für andere Lösungen offen. Der Abgeordnete Horst Eylmann und die Vizepräsidentin Antje Vollmer haben beispielsweise vorgeschlagen, die Amtsbezüge aller politischen Ämter auf Bundesebene durch ein Amtsbezügegesetz zu regeln. Das hat vieles für sich; das muß man überlegen. Vielleicht kommen wir uns in den Ausschüssen da näher. Wir sind also nicht festgenagelt auf das, was wir hier vorschlagen. Wir sind verhandlungsbereit. Der Fall Yzer hat nicht nur dem Ansehen der Bundesregierung geschadet; er schadet dem Ansehen des ganzen Hauses. Lassen Sie uns diesen Schaden rasch gemeinsam aufarbeiten! ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Horst Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst zum Besoldungsanpassungsgesetz. Ich möchte für die Bundesregierung gerne noch einmal sagen: Mit diesem Gesetz wird ein wesentlicher Beitrag zur Einschränkung der öffentlichen Ausgaben geleistet. Wie in den vergangenen Jahren erbringen auch in diesem Jahr Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger einen eigenständigen, zusätzlichen Sparbeitrag. Beamte, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger mit Festgehältern leisten durch die halbjährliche Verschiebung noch einen weiteren Sparbeitrag, um auch auf diese Weise zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beizutragen. Ich will in diesem Zusammenhang auch noch gerne darauf hinweisen, daß die Anpassungsnovelle, die heute endlich verabschiedet werden soll, den Anforderungen an Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in einem sachdienlichen Maße gerecht wird. Bei der gegenwärtigen angespannten finanziellen Situation aller öffentlichen Haushalte kommt der Entwicklung der Personalausgaben ganz herausragende Bedeutung zu. Den größten Einfluß auf die Entwicklung haben, wie Sie alle wissen, die linearen Erhöhungen. Was heute verabschiedet wird und ein echter Sparbeitrag ist, hilft, die Ausgabendynamik abzubremsen. Wie schon bei vorangegangenen Gesetzen dieser Art bewegen wir uns natürlich zwischen zwei Spannungspolen: einerseits für die Beamten das Notwendige zu tun, die mit Recht verlangen, an die allgemeine Einkommensentwicklung angekoppelt zu sein, aber andererseits für die Arbeitgeber - Bund, Länder und Gemeinden - die Ausgaben in einer sachgerechten Weise im Lot zu halten. Meine Damen und Herren, ich möchte, wie es hier schon angeklungen ist, bei dieser Gelegenheit ausdrücklich - es ist mir sehr wichtig, dies für die Bunderegierung auszusprechen - unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, insbesondere den vielen in den unteren und mittleren Gehaltsgruppen, herzlich Dank sagen für ihre sachgerechte Arbeit, die sie für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande leisten. Ich meine, bei einem solchen Gesetzgebungsakt sollte man das auch zum Ausdruck bringen. ({0}) Oft wird in einer geradezu billigen, populistischen Weise über den öffentlichen Dienst hergezogen. Ich denke - man darf das auch einmal im Parlament sagen -, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande dürfen, auch wenn man einmal Vergleiche mit anderen Ländern zieht, ein gutes Stück dafür dankbar sein, daß ihnen für viele öffentliche Dienstleistungen, die sie erwarten - im kommunalen Bereich, im Landesbereich und im Bundesbereich -, eine gut ausgebildete und insgesamt gesehen fleißige Beamtenschaft, ein gut funktionierender öffentlicher Dienst zur Verfügung steht. Dafür wollen wir dankbar sein. Das dient unserem Staat auch insgesamt. Das sollte man aus diesem Anlaß sagen. ({1}) Kollege Conradi und andere haben noch zusätzliche Punkte hier eingebracht. Ich will in der Kürze der uns zur Verfügung stehenden Zeit nur folgendes sagen. Meine Damen und Herren, es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung gestern Eckpunkte zum sogenannten Übergangsgeld beschlossen hat. ({2}) Auf das Übergangsgeld für ausscheidende Mitglieder der Bundesregierung und auch für Parlamentarische Staatssekretäre wurden bereits bisher Einkommen aus dem öffentlichen Dienst angerechnet. Bei einigen ist das in der Berichterstattung untergegangen. Nicht vorgesehen war bisher eine Anrechnung von Erwerbseinkünften aus privater Berufstätigkeit. Für die Anrechnung von Erwerbseinkünften aus privater Berufstätigkeit auf das Übergangsgeld wird nun die volle Anrechnung vorgesehen. Das heißt, das Übergangsgeld wird künftig um den vollen Betrag der Erwerbseinkünfte aus privater Berufstätigkeit gekürzt. Die Anrechnung beginnt ab dem zweiten Monat eines eventuellen Bezugs von Übergangsgeld. Das gilt auch - das wurde von einigen Diskussionsrednern hier angesprochen - für alle amtierenden Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentarische Staatssekretäre. Es gilt also nicht nur für die Zukunft, sondern auch die gegenwärtigen Amtsinhaber haben sich hier in die Pflicht genommen. Meine Damen und Herren, der Bundesminister des Innern wird hierzu unverzüglich einen Gesetzentwurf vorlegen. Herr Kollege Conradi, lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zu Ihren allgemeinen Bemerkungen sagen, die im wesentlichen das Parlamentsrecht angehen. Da aber eine ehemalige Staatssekretärin von Ihnen besonders angesprochen wurde, möchte ich auch dazu noch etwas sagen. Wissen Sie, wenn man den Bereich Wirtschaftsverband anspricht, in dem ein Mitglied dieses Hauses jetzt tätig ist, muß man fairerweise auch alle anderen Bereiche anleuchten, in denen Kolleginnen und Kollegen neben ihrem Mandat tätig sind. ({3}) Wenn wir gerecht diskutieren wollen, können wir nicht nur über eine Person sprechen, die seit kurzem in einem Wirtschaftsverband tätig ist. ({4}) Wir müssen auch über die reden, die hauptamtliche Gewerkschaftsführer sind und die viele andere Positionen innehaben. Lassen Sie mich auf Grund der kurzen Zeit, lieber Kollege Conradi, das eben einmal zusammenfassend ausführen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Heißt das, daß Sie keine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz zulassen wollen?

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Im Augenblick nicht. Ich bin dem Kollegen Conradi eben schon in anderer Weise entgegengekommen. Er wird das verstehen. Ich möchte die Anregung geben: Wenn wir schon aus Anlaß des Falles, der mehrfach angesprochen wurde, diskutieren, dann rate ich uns, auch darüber nachzudenken, wie man Mandat und Beruf ein Stück weit mehr miteinander verbinden kann. Es hilft nicht, wenn wir an anderer Stelle, immer wieder klagen, daß zu viele aus dem öffentlichen Dienst im Deutschen Bundestag sitzen und Arbeiter sowie Beschäftigte aus der Wirtschaft, dem Mittelstand kaum die Möglichkeit haben, ein Mandat zu übernehmen. Ich möchte uns alle aufrufen - jeder in seiner Partei -, mit dafür zu sorgen, daß wir die Arbeit des Deutschen Bundestages so gestalten, daß wir mehr als bisher Beruf und Mandat miteinander verbinden können, damit wir noch besser als bisher zu einer wirklich breiten Volksvertretung kommen. Das wird uns allen guttun. ({0}) Ich denke, wir sollten jetzt nicht nur die Situation einer parlamentarischen Staatssekretärin anführen. Wir müssen etwas tiefer pflügen. Das, was wir heute verabschieden, das, was ich für die Bundesregierung bezüglich des Übergangsgeldes angekündigt habe, und das, was die Kollegen aus allen Fraktionen vorgetragen haben, sind Anregungen, die wir verfolgen sollten. Wir alle sind aufgerufen, uns den aktuellen Herausforderungen zu stellen. Was wir heute tun, wird dem, was uns aufgetragen ist, in einem hohen Maße gerecht. Ich bin zuversichtlich, daß wir das auch in den anderen Bereichen schaffen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Wiefelspütz das Wort.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Waffenschmidt, ich will Sie auf folgendes hinweisen: Wir wollen das Thema Nebentätigkeiten wirklich nicht parteipolitisch instrumentalisieren. Das hat auch Kollege Conradi nicht getan. Er hat das ausdrücklich hervorgehoben. Aber ich denke, Herr Kollege Waffenschmidt, wir sind in einem Punkt einer Meinung: Wir wollen im Parlament nicht nur, nicht ausschließlich den Berufspolitiker haben. Es ist völlig klar: Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie man Mandat und eine berufliche Tätigkeit miteinander in Verbindung bringen kann. Ich will aber auf eines hinweisen, worüber wir ebenfalls, glaube ich, einer Meinung sind: Als Volksvertreter schulden wir unserem Amte den Hauptteil unserer Arbeitskraft. ({0}) Mitglied des Deutschen Bundestages zu sein ist eine Vollzeitbeschäftigung. Wenn jemand dazu noch eine bestimmte berufliche Tätigkeit ausübt, dann kann das nur ein Nebenamt sein; es darf nicht Hauptbeschäftigung sein. Darüber sollten wir uns einig sein. ({1}) Das hat nichts mit irgendeiner parteipolitischen Präferenz zu tun. Das gilt für Christdemokraten genauso wie für Sozialdemokraten. Schönen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1996/1997 auf Drucksachen 13/5983 und 13/6892, Buchstabe a. Der Kollege Conradi möchte nach § 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Bitte.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe im Dezember das Gesetz angehalten und möchte heute begründen, warum es mir schwerfällt, dem Gesetz in der vorliegenden Form zuzustimmen. Was nun vorliegt, ist keine substantielle Änderung, sondern allenfalls Kosmetik. Der Innenausschuß hat eine kleine Änderung vorgenommen. Die Gehaltserhöhung für alle Besoldungsgruppen von B 3 an aufwärts - da sind die Ministerpräsidenten, Landräte und Oberbürgermeister eingeschlossen - wird um vier Monate verschoben. Das bedeutet bei einem Wahlbeamten in B 3 - er bekommt im Jahr 135 000 DM, also soviel wie ein Bundestagsabgeordneter - für 1997 einen Einkommensverlust von ganzen 600 DM. Nur zum Vergleich und zur Erinnerung: Die Abgeordneten leisten für den gleichen Zeitraum durch den Verzicht, der letztes Jahr hier beschlossen worden ist, 6 300 DM an Sparbeitrag. 6 300 DM für den Abgeordneten, 600 DM für den Beigeordneten einer Gemeinde bei gleichem Einkommen! Die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf fällt mir schwer, weil die fraktionsübergreifende Wohltätigkeit des Innenausschusses gegenüber den Beamten - manchmal könnte man glauben, es handele sich um einen Unterausschuß des Deutschen Beamtenbunds - nach dem Prinzip von Kaiser Wilhelm II. - ich müßte sagen: Willfried I. - „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Beamte" entschiedenere Einschnitte verhindert hat. Ich hätte einen größeren Sparbeitrag der Beamten aus den höheren Einkommensgruppen gewünscht: eine Nullrunde und die Verpflichtung, für das eingesparte Geld neue Stellen im öffentlichen Dienst für junge Menschen zu schaffen. Das hätte viele Menschen im Land überzeugt. ({0}) Ich bin traurig darüber, daß sich dafür in diesem Haus keine Mehrheit findet. Ich werde dem Entschließungsantrag zustimmen. Wir sind es leid, mit der Beamtenbesoldung Jahr für Jahr die Gehälter von Politikern zu erhöhen, die sonst immer auf die Souveränität ihrer Länder, auf den Föderalismus und das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden pochen, sich aber dann, wenn es an die eigenen Gehälter geht und unangenehm wird, unter dem warmen Mantel der Beamtenbesoldung verstecken wollen. ({1}) Als es um die Abgeordnetendiäten ging, haben sich die Ministerpräsidenten - der Freistaat ausgenommen; das wollen wir lobend erwähnen - massiv eingemischt und Offenheit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit gefordert. Soll das für ihre eigenen Gehälter nicht zutreffen? Ich werde .dem Gesetzentwurf trotz aller Bedenken zustimmen, weil der Bundestag mit der Zurückverweisung und Änderung dieses Gesetzentwurfs ein wenig von der Selbstachtung zurückgewonnen hat, die wir in den elenden Diätendebatten 1995 und 1996 verloren haben. Damals hatte ich gehofft, unsere „Oberen", das Präsidium, die Bundesregierung, die Fraktionsvorsitzenden, die Ministerpräsidenten, die alle auch Abgeordnete sind, würden sich angesichts dieser perfiden, giftigen Debatte in einer gemeinsamen Erklärung vor die Abgeordneten und vor unsere Arbeit stellen, so wie sie erwarten, daß wir uns vor sie stellen, wenn sie zu Unrecht angegriffen werden. Wer Loyalität einfordert, muß Loyalität zeigen. Wenn das Hin und Her um diesen Gesetzentwurf bei unseren „Oberen" diese Einsicht ein wenig vertieft hat, dann hat der Streit möglicherweise doch eine heilsame Wirkung gehabt. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt endgültig zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1996/1997, Drucksachen 13/5983 und 13/6892 Buchstabe a. Dazu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/6957? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/ CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/6977? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der Mehrheit der SPD gegen einzelne Stimmen der SPD, gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Mehrheit der SPD bei wenigen Gegenstimmen der SPD, gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der PDS angenommen. Vizepräsidentin Michaela Geiger Der Innenausschuß empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/6892 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6637 und 13/6452 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 39 zu Petitionen ({1}) - Drucksache 13/1411 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Frau Abgeordnete Christel Hanewinckel hat das Wort.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rede heute zum Änderungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion zu einer Petition - das möchte ich vorwegschicken -, bei dem es nicht darum geht, die Aufenthaltserlaubnis für einen Asylbewerber zu erreichen, sondern darum, etwas genauer hinzusehen, wie die Praxis in diesem Lande ist, wenn es um die Prüfung von Asylanträgen geht. Bei der Petition des Rumänen Cornel-Ion Valcu hat der Ausschuß am 17. Mai 1995 mit der Mehrheit der Abgeordneten aus CDU/CSU und F.D.P. für Abschluß gestimmt. Das ist nichts Neues, wird bei Petitionen abgelehnter Asylbewerber doch meist blindlings der Argumentation des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gefolgt. Neu ist übrigens auch nicht, daß die SPD wie in diesem Fall gut 20 Monate - 20 Monate, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind fast zwei Jahre - darum gekämpft hat, ihren Änderungsantrag endlich im Plenum debattieren zu dürfen. ({0}) Seit der Einreise des rumänischen Asylbewerbers sind somit rund sieben Jahre vergangen, seit seiner Abschiebung bereits zwei Jahre. Das Asylverfahren von Herrn Valcu war von Anfang an reine Formsache. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge folgt in der Beurteilung seines Asylantrages nur der Vorgabe der Bundesregierung, wonach Anträge aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat als offensichtlich unbegründet abzulehnen sind - Punkt, Schluß, aus. Doch die Art und Weise, wie die Asylgründe des Herrn Valcu von den Verantwortlichen geprüft wurden, wirft für diejenigen, die sich ernsthaft mit diesem Fall befaßt haben, Fragen auf. Das Vorhandensein einer Liste sicherer Herkunftsländer enthebt die Behörden und die Gerichte ihrer bisherigen Aufgabe, jeden Einzelfall individuell zu prüfen. Dementsprechend ist die Erstellung dieser Liste durch den Gesetzgeber allerdings mit großer Verantwortung verbunden. Wichtig wäre also zu wissen: An Hand welcher Kriterien wird diese Liste, der die Behörden oft blind vertrauen, erstellt? Nutzt die Bundesregierung tatsächlich, wie ihr vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben, alle zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen über die Situation in einem Land? Zum dritten: Wer überprüft diese Listen in welchem Abstand? Festzustellen ist: Bisher handelt die Regierung zum größten Teil nach eigenem Ermessen und Gutdünken. Eine regelmäßige Überprüfung der sicheren Herkunftsstaaten im Innen- oder im Auswärtigen Ausschuß findet nicht statt. Dabei war der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber im Urteil vom 14. Mai letzten Jahres eindeutig. Er soll die Entwicklung der allgemeinen politischen Verhältnisse, die Rechtslage und -anwendung in den entsprechenden Ländern beobachten und entsprechend reagieren. Das Bundesinnenministerium ist auf diesem Ohr leider taub. Knapp vier Wochen nach dem Urteil ließ es verlauten, nach wie vor gebe es keinerlei Handlungsbedarf. Also läuft alles weiter wie bisher. Entscheidend sind die Berichte des Auswärtigen Amtes. Deren Grundton ist naturgemäß schon durch die diplomatische Rücksichtnahme geprägt. Keine kleine Rolle spielt sicher auch das Interesse daran, die Zahl der Asylbewerber möglichst gering zu halten. So lesen sich die Auskünfte des Ministeriums oft nicht mehr wie objektive Berichte zur Menschenrechtssituation, sondern wie ein Schriftsatz der Bundesrepublik Deutschland zur Abwehr potentieller Asylbewerber. ({1}) Doch nicht nur, daß die Lageberichte des Auswärtigen Amtes der einzig maßgebliche Anhaltspunkt für die Entscheider des Bundesamtes sind; sie sind darüber hinaus regelmäßig veraltet. Der Bescheid des Bundesamtes im Falle des Petenten stammt vom August 1993. Der - wohlgemerkt: damals neueste - Bericht des Auswärtigen Amtes, der dort zitiert wird, stammt vom Dezember 1991. Das heißt, die dem Bescheid zugrunde liegenden Informationen waren 20 Monate alt. Die andere wichtige Frage, die sich mir im Falle des Petenten stellte, lautet: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit für den als „sicher" abgestempelten Asylbewerber, eine politische Verfolgung bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu beChristel Hanewinckel weisen? Oder ist die derzeitige Praxis nicht vielmehr darauf angelegt, daß er diese Möglichkeit gar nicht hat? Der Asylbewerber, der aus einem Listenland kommt, hat seinen Antrag offensichtlich unbegründet gestellt. Will er nun seine individuelle Verfolgung glaubhaft machen, werden ihm vom Bundesamt abermals die bei sicheren Herkunftsstaaten durchweg positiven Lageberichte des Auswärtigen Amtes entgegengesetzt. Herr Valcu hatte das Pech, aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland zu kommen. In seinem Fall wurde daher kurzer Prozeß gemacht. Seine Schilderung, er sei nach friedlichen Demonstrationen für seine demokratische Partei dreimal verhaftet worden, davon einmal für drei Tage ohne Zugang zu einem Anwalt und mit Schlägen seitens der Polizisten, war für die Entscheider unbeachtlich. Ich zitiere aus der Entscheidung des Bundesamtes vom 11. August 1993: Teilnehmer an Demonstrationen, die gegen die Politik der derzeitigen Regierung gerichtet sind, müssen nicht mit politischer Verfolgung rechnen. Punkt, aus, vorbei. Von individueller Prüfung kann hier überhaupt keine Rede sein. Doch was heißt das eigentlich für unsere Praxis? Bedeutet es, daß Asylbewerber in der Haft halb totgeschlagen werden und sich diesen Zustand bis zur Anhörung in Deutschland bewahrt haben müssen? Reichen wiederholte Verhaftungen auf Grund der Zugehörigkeit zu einer demokratischen Partei, Schläge in der Haft, Drohanrufe, die Kinder umzubringen, wenn kein Parteiaustritt erfolgt, usw. nicht aus, um die Aufmerksamkeit der Behörden zu wekken? ({2}) Ein Blick in die von Amnesty International zur Verfügung gestellten Unterlagen hätte genügt, um eine andere Sicht der Verhältnisse im damaligen Rumänien zu bekommen. Im Bericht zur Menschenrechtslage vom Mai 1995 heißt es: Menschenrechtsverletzungen nehmen in Rumänien kein Ende, obwohl die politische Führung dieses Landes im Oktober 1993 bei der Aufnahme in den Europarat zugesichert hat, den Menschenrechten gemäß international anerkannten Grundsätzen Geltung zu verschaffen. Immer wieder erhält amnesty international Berichte ... über Folter und Mißhandlung von Verhafteten sowie über zweifelhafte Todesfälle in Polizeigewahrsam. Das geschieht immer in Fällen von gewaltloser politischer Demonstration. Ich zitiere weiter: Das ... Problem wird dadurch verschärft, daß Sicherheits- und Ordnungskräfte in Rumänien mit Straflosigkeit rechnen können, wenn sie Menschenrechtsverletzungen begehen. Und: Obwohl seit dem Sturz von Präsident Ceausescu im Dezember 1989 Verbesserungen im Menschenrechtsbereich zu verzeichnen sind, unterließ es die rumänische Regierung bisher völlig, die Vorschriften der internationalen und europäischen Menschenrechtsabkommen, die sie unterzeichnet hat, wirksam umzusetzen und tatsächlich zu realisieren. Ähnlich schildern auch andere Menschenrechtsorganisationen die Menschenrechtssituation in Rumänien im April 1991. Die Berichte dieser international anerkannten Gruppen weisen viele Parallelen zu den Angaben des Petenten auf. Ich finde es daher äußerst bedenklich, bei der Prüfung eines Asylbewerbers aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland derart an der Oberfläche zu bleiben wie im vorliegenden Fall. Eine regelmäßige Überprüfung der sicheren Herkunftsstaaten auf Grund aktueller Daten und unter Hinzuziehung von international anerkannten Menschenrechtsorganisationen sollte unser Standard werden. ({3}) Das Asylverfahren ist einfacher geworden. Wir sollten aufpassen, daß wir es uns nicht zu einfach machen. Deshalb soll diese Petition der Bundesregierung als Material und den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen werden, damit die entsprechenden Vorgehensweisen der Bundesregierung im Blick auf die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten in Zukunft überprüft werden können und die Praxis endlich eine andere werden kann. Vielen Dank. ({4})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile jetzt dem Kollegen Norbert Röttgen das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Kollegin Hanewinckel, ich habe es schade gefunden, daß Sie in weiten Teilen Ihrer Rede sehr allgemeine Verdächtigungen ausgesprochen haben, ohne sie zu konkretisieren, und in entscheidenden Stellen schlicht sachlich falsche Behauptungen aufgestellt haben. Das finde ich angesichts des Themas, um das es hier geht, nämlich um Asylanträge, sehr schade. Deshalb will ich mich bemühen, konkret auf diesen Fall einzugehen; denn nur wenn wir konkret den Sachverhalt würdigen, werden wir dem Thema und dem Schicksal, das hinter diesen Asylanträgen steht, gerecht. Zunächst einmal müssen wir sehen, in welcher Weise dieser Asylantrag in Deutschland geprüft worden ist. Zunächst hat ein Verwaltungsverfahren stattgefunden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat entschieden, daß ein Asylgrund nicht bestehe. Dagegen haben die Petenten dann den einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz eingeholt. Ihr Antrag ist von einem deutschen unabhängigen Gericht als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen worden. Nach dem Verfahren des einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes hat dann der gerichtliche Rechtsschutz in der Hauptsache vor dem Verwaltungsgericht stattgefunden. Auch das deutsche Verwaltungsgericht hat den Asylgrund mit dem Hinweis auf die zutreffenden Ausführungen des Bundesamtes eindeutig verneint. Ich finde es sehr selbstgerecht, sich hier hinzustellen und zu sagen, das sei alles blindlings und leichtfertig gemacht worden. Wie Sie sich über das Urteil eines unabhängigen deutschen Gerichtes hinwegsetzen, finde ich sehr selbstgerecht und der Justiz gegenüber auch nicht in Ordnung, zumal Sie Ihre Auffassung nicht begründet haben, sondern nur sehr pauschal geblieben sind. ({0}) Wir haben es also mit einem Fall zu tun, der vor ungefähr 3 Jahren rechtskräftig gerichtlich abgeschlossen worden ist. Auch von Ihnen ist keine konkrete Beanstandung an dem Verfahren vorgetragen worden. Darum ist dieser Asylantrag zu Recht abgelehnt worden. Wir müssen - wenn überhaupt - konkret kritisieren. Ein paar Kritikpunkte werden von Ihnen ja auch vorgetragen. Auf diese Kritikpunkte möchte ich eingehen. Zunächst wird gesagt, das Bundesamt habe bei seiner Entscheidung im Jahr 1993 auf einen veralteten Bericht des Auswärtigen Amtes - auf den Asyllagebericht aus dem Jahr 1991 - zurückgegriffen. Auf den ersten Blick mag diese Kritik auch plausibel klingen. Das Vorgehen findet seine sachliche Rechtfertigung aber darin, daß das Ereignis, auf das die Petenten ihren Asylantrag gestützt haben, aus dem Jahr 1990 stammt. Darum mußte der zeitnahe Asyllagebericht aus dem Jahr 1991 berücksichtigt werden. Es nützt nichts, das im Asyllagebericht 1994 nachzulesen. Sie müssen den Asyllagebericht wählen, der auf die Ereignisse Bezug nimmt, auf die der Petent sein Asylbegehren stützt. Was Sie kritisiert haben, ist insofern sachwidrig. Vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist genau der richtige Asyllagebericht verwendet worden. Ich möchte mich auch ganz entschieden gegen die Kritik wenden, die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, auch die Behörden würden ihren Entscheidungen keine aktuellen Asyllageberichte zugrunde legen. Diese Behauptung haben Sie, Frau Kollegin Hanewinckel, aufgestellt. Daß Sie diese falsche Behauptung aufgestellt haben, finde ich in hohem Maße unerfreulich, um es einmal sehr zurückhaltend zu sagen. ({1}) Aber ich nutze die Gelegenheit, um Sie in meinem Beitrag über die Situation aufzuklären. Vielleicht stellen Sie im Anschluß daran Ihre Frage.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Sie lassen sie also jetzt nicht zu, Herr Abgeordneter?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Anschluß daran. Ich habe kritisiert, daß Sie diese falsche Behauptung aufgestellt haben, und ich möchte jetzt auch sagen, warum sie definitiv falsch ist. Das Auswärtige Amt erstellt zur Zeit Berichte über die menschenrechtliche Lage und die sogenannte Asyllage in 54 Ländern dieser Welt. Nach einer Umfrage bei den Landesinnenministern gibt es unterschiedliche zeitliche Abstände, in denen diese Berichte erstellt werden. In ganz besonders problematischen Ländern wird alle drei Monate ein neuer Asyllagebericht erstellt. Alle drei Monate! Kollegin Hanewinckel behauptet, es gebe nur veraltete Berichte. In etwas weniger problematischen Ländern werden alle sechs Monate neue, aktuelle Berichte erstellt. Bei einer dritten Kategorie von Ländern - dazu zählt Rumänien, über das wir gerade reden - wird jährlich ein Bericht zur Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Land erstellt. Diese Berichte werden natürlich auch den Landesinnenministern und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zugesandt, damit sie mit diesen aktuellen Informationen arbeiten können. Es ist also wirklich zu kritisieren, wenn in so wichtigen Fragen falsche Behauptungen aufgestellt werden. Sie müssen sich informieren. Die Bundesregierung, auch die Koalitionsfraktionen nehmen die Beobachtung der asylrelevanten Lage in den Ländern sehr ernst. ({0}) Es wird sorgfältig beobachtet, und die Behörden, die über die Asylanträge entscheiden, werden aktuell informiert. Darum ist Ihre Kritik in der Sache falsch, und Ihr Antrag ist darum auch ohne jegliche Grundlage. Das dritte, was Sie angesprochen haben, betrifft die Frage der allgemeinen Situation in Rumänien und die Qualifizierung Rumäniens als sicherer Herkunftsstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 3 GG. Diese Einordnung basiert auf den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Das Auswärtige Amt schöpft natürlich alle verfügbaren Quellen aus, es macht sich ein eigenes Bild. Es werden politische Oppositionsparteien befragt, es werden die Berichte von Amnesty International ausgewertet, es werden andere EU-Botschaften konsultiert. Es wird also ein umfassendes Bild der menschenrechtlichen Lage erstellt. Sie haben gesagt, hier sei Einseitigkeit in der Politik der Bundesregierung vorhanden. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird alles an Informationsquellen ausgeschöpft, was vorhanden ist. Das war die zweite Falschbehauptung, die Sie aufgestellt haben. Auf dieser Bewertung der Lage in Rumänien beruht die Qualifizierung als sicherer Herkunftsstaat. Ich halte das übrigens auch, nachdem ich in Vorbereitung dieser Debatte noch einmal den Menschenrechtsbericht von Amnesty International für das Jahr 1996 gelesen habe, für zutreffend. Selbstverständlich befindet sich Rumänien im Übergang von einer Diktatur zu einem Rechtsstaat. Zu glauben, daß Sie die faktische Verfassung, aber auch die rechtliche Situation in einem Land von heute auf morgen per Knopfdruck verändern können, ist eine Illusion. Aber zugleich ist eine deutlich positive Entwicklung in Rumänien festzustellen, wenn auch mit andauernden Defiziten in der rechtlichen Praxis. Das will ich überhaupt nicht bestreiten. Selbst dann, wenn Asylgründe mit Blick auf dieses Land nicht bestehen, ist damit die menschliche Situation überhaupt noch nicht erfaßt; das ist mir völlig bewußt. Aber eine dem Staat zurechenbare politische Verfolgung findet in Rumänien nicht mehr statt. Es gibt Ausschreitungen einzelner Beamter etwa im Strafvollzugsbereich; eine dem rumänischen Staat zurechenbare politische Verfolgung ist hingegen nicht feststellbar. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wenn im übrigen die SPD oder andere in diesem Haus nicht dieser Auffassung sind, möchte ich darauf hinweisen, daß die Qualifizierung als sicherer Herkunftsstaat kein Exekutivakt der Regierung ist. Das ist ein Gesetz, das dies so qualifiziert. Es ist das Asylverfahrensgesetz, das nur mit Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates zustande kommt. Wenn also die SPD der Auffassung ist, Rumänien sei kein sicherer Herkunftsstaat, dann muß sie einen Gesetzentwurf einbringen. Sie müssen dieses aber klar bekennen und auch die SPD-Mehrheit im Bundesrat davon überzeugen, daß hier eine andere Bewertung angemessen ist. Nach meiner Überzeugung ist die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat und die realistische Bewertung der Situation in Rumänien zutreffend Eine letzte Bemerkung: Selbst wenn ein Land als sicherer Herkunftsstaat eingruppiert ist, bedeutet das nicht, daß Anträge von Asylbewerbern aus diesen Ländern von vornherein ohne Aussicht auf Erfolg sind. Diese Eingruppierung bedeutet lediglich eine Vermutung, und zwar eine widerlegbare Vermutung. Der Asylbewerber aus diesen Ländern, die als sichere Herkunftsstaaten gelten, kann diese Vermutung widerlegen und sagen: In meinem Einzelfall ist es tatsächlich so, daß ich politisch verfolgt bin. Darum ist auch hier eine widerlegbare Vermutung gegeben, und der Anspruch auf Asyl kann im Einzelfall nachgewiesen werden. Als letztes, Kollegin Hanewinckel, will ich Ihnen sagen, daß mich die Selbstgerechtigkeit, ({1}) der Monopolanspruch auf Moral und die kritische Bewertung in diesen Fragen sehr gestört haben. Sie haben den anderen Fraktionen im Petitionsausschuß vorgeworfen, ({2}) dort blindlings alles nachzuvollziehen, was das Bundesamt entscheidet. Sie haben der Bundesregierung in der Sache falsche Tatsachen vorgehalten. Sie sollten sich zunächst genauer über die Sache informieren und dann erst Ihre moralischen Urteile treffen. Die fallen dann nämlich im Ergebnis anders aus. Herzlichen Dank für Ihr Zuhören. ({3}))

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Christel Hanewinckel zu einer Kurzintervention.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin erstaunt über das Talent des Herrn Kollegen Röttgen. Offenbar hat er eine Menge von dem vergessen, was im Petitionsausschuß auf der Tagesordnung stand. Nur ein Beispiel: Vielleicht erinnern Sie sich nicht daran, daß wir eine Anhörung zur Lage in Zaire hatten. Dabei wurde uns sehr deutlich gesagt, daß sich das Auswärtige Amt nicht in der Lage sieht, zu diesem Land einen entsprechenden Bericht zu erstellen. Sie haben ja behauptet, daß das Auswärtige Amt alle Länder genauestens überprüft, die entsprechenden Menschenrechtsorganisationen einbezieht und dann den Bericht erstellt. Ich denke, Sie können es im Protokoll nachlesen, daß damals klipp und klar gesagt wurde, daß sich das Auswärtige Amt in diesem Fall, wie auch in einigen anderen Fällen - das haben wir in den letzten sechs Jahren immer wieder zu hören bekommen -, nicht in der Lage sieht, eine richtige und entsprechende Einschätzung der Lage vorzunehmen. Sie erinnern sich vielleicht auch nicht daran, daß gerade der Punkt im Petitionsausschuß schon ziemlich oft gerügt worden ist - nicht nur von meiner Seite -, daß das Auswärtige Amt veraltete Lageberichte zur Verfügung stellt. Ich erinnere Sie noch an einen weiteren Punkt: Es ist selbst uns Abgeordneten ausgesprochen schwer gemacht worden, überhaupt eine Möglichkeit zur eigenen Überprüfung zu erhalten und Lageberichte zur Kenntnis zu bekommen. Das ist inzwischen unter der Bedingung möglich, daß wir versprechen, niemandem etwas aus diesen Berichten zur Kenntnis zu geben. Mein nächster Punkt: Wenn Sie mir vorwerfen, daß ich mich nicht genug darum gekümmert hätte und hier etwas Falsches miteinander verglichen hätte, dann kann ich diesen Vorwurf gut zurückgeben. Sie haben das gleiche getan, indem Sie feststellen, daß die Situation 1996 in Rumänien eine andere ist. Natürlich, aber das war überhaupt nicht mein Punkt. Mein Punkt war, daß der Asylbewerber 1990 gekommen ist, 1993 sein Asylverfahren begann und er 1995 abgeschoben wurde. Es macht in der Tat nicht viel Sinn, wenn ich mir dann einen Lagebericht sowohl für die Entscheidung als auch für die Abschiebung heranziehe, der für den Zeitpunkt, zu dem die Abschiebung passierte, einfach nicht zutreffend ist. Das haben Sie selber, so denke ich, sehr gut gesagt, nur haben Sie andersherum argumentiert. Mein letzter Punkt: Es geht doch nicht - das müßten Sie als Jurist eigentlich besser als ich wissen - um ein Gesetz, in dem sichere Herkunftsstaaten festgeschrieben sind. Es gibt eine entsprechende gesetzliche Regelung, auf die sich dieses Haus geeinigt hat, gemäß der es eine Liste von sicheren Herkunftsstaaten geben soll. Aber welches Land auf dieser Liste steht, lieber Herr Kollege Röttgen, ist wahrlich nicht im Gesetz geregelt. Das ist vielmehr der Punkt, den ich hier eingefordert habe, daß diese Liste immer wieder genauestens überprüft und überarbeitet werden muß. Vielleicht können Sie das aufgreifen, auch wenn Sie weiterhin Bonbons verteilen. Vielen Dank. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Kollege Röttgen, Sie haben das Recht zu antworten.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte nur ganz kurz die Wiederholung einer Falschbehauptung korrigieren. Es war gut, daß ich das Protokoll der Anhörung von Staatsminister Hoyer im Petitionsausschuß mitgebracht habe. Sie haben behauptet, er habe dort anderes berichtet. Ich darf darum aus dem Protokoll, das Sie mir ja zur Lektüre empfohlen haben, kurz vorlesen. Es geht um die Asyllageberichte. Zitat Staatsminister Hoyer: Diese würden gegenwärtig bezogen auf 52 Länder erstellt, - heute sind es 54 und zwar mindestens einmal jährlich. Etwa 30 würden tatsächlich jährlich und etwa 10 halbjährlich erstellt. Eine ganze Reihe von Ländern seien darüber hinaus in noch kürzeren Abständen Gegenstand der Berichterstattung. Teilweise geschehe dies ad hoc oder auf den konkreten Fall bezogen ... Die Berichte bezögen sich natürlich auf alle Informationsquellen, die dem Auswärtigen Amt zur Verfügung stünden. Dies schließe selbstverständlich auch Informationen von amnesty international und von den im jeweiligen Lande tätigen politischen Parteien mit ein. Dies ist also die Bestätigung genau dessen, was ich gesagt habe, und die Wiederlegung Ihrer Behauptung. Sie müssen sich mehr mit der Sache befassen und dann zur Moral kommen. Danke sehr. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Kollegin Amke Dietert-Scheuer.

Amke Dietert-Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002640, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie schon gesagt worden ist: Da die Petenten im Laufe des langen Verfahrens und vor allen Dingen auf Grund der Verzögerungen, die bei der Aufsetzung von Asylpetitionen zur Debatte vorgenommen werden, inzwischen bereits abgeschoben sind, kann es in dieser Debatte nur noch darum gehen, die Fragwürdigkeit des Verfahrens zu beleuchten, und zwar insbesondere der Umgang mit den sogenannten sicheren Herkunftsländern. Diese Einstufung als sicheres Herkunftsland, auch wenn es - wie Herr Röttgen richtig sagt - im Einzelfall eine widerlegbare Feststellung ist, zementiert von vornherein ein Vorurteil und veranlaßt die Entscheider dazu, wie in diesem Rumänien-Fall auch geschehen, offensichtliche Verfolgungstatbestände zu ignorieren und abzuwerten. Um dies deutlich zu machen, möchte ich aus dem Bescheid des Bundesamtes zitieren. Massive körperliche Übergriffe gegen den Petenten werden darin nicht einmal bestritten, aber folgendermaßen bewertet: Auch das Vorbringen, es sei im Rahmen behördlicher Maßnahmen zur Anwendung körperlicher Gewalt gekommen, kann nicht zu einer Anerkennung führen. Hierin ist kein vom rumänischen Staat motiviertes Vorgehen der Behörden gegen bestimmte Einzelpersonen zu sehen. Vielmehr handelt es sich um einmalige Ausschreitungen von Exekutivorganen ... Einzelne Angehörige der Polizei- und Ordnungskräfte ... halten trotz des demokratischen Wandels an alten Gepflogenheiten fest. Abgesehen davon, daß dies von vornherein schon eine Verharmlosung ist, weil es sich um keine einmalige Ausschreitung handelt und der Petent mehrfach brutal zusammengeschlagen und inhaftiert wurde, muß man feststellen, daß folgendermaßen argumentiert wird: Es ist ein sicherer Herkunftsstaat, also muß der Asylantrag offensichtlich unbegründet sein und abgelehnt werden.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Amke Dietert-Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002640, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, jetzt muß ich einmal eine Zwischenfrage stellen. Sie haben behauptet, daß dieses Land praktisch unsicher wäre. Sie behaupten das immer wieder in Ihren Darstellungen. Wäre es nicht angesichts der Besucher, auch der Parlamentarier, die hier zu Gast waren, besser gewesen, daß sich dieser Asylant an die dortigen Behörden und an den dortigen Petitionsausschuß, den es dort natürlich im Parlament gibt, gewandt hätte? Das wäre sinnvoller gewesen, als in die Bundesrepublik zu kommen und sich hier um Asyl zu bemühen. ({0})

Amke Dietert-Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002640, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erstens ist dazu zu sagen, daß der von Ihnen angesprochene Petitionsausschuß zu dem Zeitpunkt, als der Petent geflohen ist, noch nicht existierte. Zweitens will ich gerne zugestehen, daß es inzwischen auch in Rumänien ab dem Zeitpunkt, als diese Vorfälle passierten und der Petent geflohen war, weiAmke Dietert-Scheuer tere Entwicklungen gegeben hat. Wie sogar im Bundesamtsbescheid selbst gesagt worden ist, war es verbreitet, daß Polizei und Ordnungskräfte noch an sogenannten alten Gepflogenheiten festhielten. Drittens ist es so gewesen, daß diese Ordnungskräfte auch noch ganz massiv von ehemaligen Securitate-Angehörigen durchsetzt waren. Genau darauf führt der Petent seine Verfolgung auch zurück. Insofern muß man sagen, daß zumindest zu dem Zeitpunkt solche innerstaatlichen Abhilfen äußerst fragwürdig gewesen wären. Außerdem sage ich nicht, Rumänien sei generell und für alle unsicher. Ich bin allerdings grundsätzlich der Meinung, daß es unsinnig ist, ein Land von vornherein als sicher zu bezeichnen; denn das Asylrecht ist ein Individualrecht, es muß daher im Einzelfall geprüft werden. ({0}) - Ja, aber von daher ist es unsinnig, von vornherein Vorurteile festzulegen und es den Asylbewerbern damit weiterhin zu erschweren. Die Tendenz, Asylbewerbern nicht zu glauben und alles abzutun, ist sowieso vorhanden. Das muß man nicht noch dadurch verstärken, daß man von vornherein sagt: Der Staat ist sicher. Grundsätzlich und auch im Falle Rumänien ist das in dem Sinne ganz bestimmt nicht gegeben. Ihr Kollege Röttgen hat das selbst zugestanden. Er hat gesagt, es handele sich dabei um einen Staat, der in einem Übergangsprozeß von einer Diktatur zu einer Demokratie ist. Das ist sicherlich richtig; aber genau darum kann man nicht davon reden, das Rechtssystem des Staats sei grundsätzlich sicher. Man hat durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, daß es auch weiterhin politische Verfolgung gibt - wenn auch ganz bestimmt nicht in dem Maße wie vorher unter dem Regime von Ceausescu. Gerade der Hinweis auf die Existenz von staatlichen Übergriffen macht deutlich, daß es noch politische Verfolgung gibt. Es reicht auch nicht aus zu sagen, die Übergriffe lägen nicht im Willen des Staates. Alle menschenrechtsverletzenden Staaten sagen, sie seien für die Übergriffe nicht verantwortlich. Aber selbst wenn es, objektiv gesehen, nicht im Interesse des Staates ist, hilft das dem Flüchtling wenig. Die Aufgabe des Staates ist es dann nämlich, solche Übergriffe zu verhindern. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sagt: Politisch verfolgt ist man entweder, wenn die Verfolgung vom Staat ausgeht oder wenn der Staat nicht willens oder in der Lage ist, derartige Übergriffe zu verhindern. Von daher sind dem Staat unabhängig von jeglichen Absichtserklärungen Übergriffe von Exekutivorganen zuzurechnen. Zu der Problematik der sicheren Herkunftsländer habe ich vorhin schon das Nötige gesagt. Diese Einstufung ist ein unsinniges Instrument. In diesem Fall muß ich allerdings auch die SPD daran erinnern - sosehr wir auch den Antrag als solchen als Schritt in die richtige Richtung begrüßen -, daß gerade sie natürlich maßgeblich für die Einführung der Listen mit sicheren Herkunftsländern und auch für das unselige Flughafenverfahren verantwortlich ist, in das Asylbewerber nicht zuletzt darum geraten, weil sie aus solchen angeblich sicheren Herkunftsländern stammen. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Kollege Günther Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will noch einmal darauf hinweisen: Wenn ein Asylbewerber einen Antrag stellt und der Antrag rechtskräftig abgelehnt wurde, so ist dieser Asylbewerber grundsätzlich zur Ausreise verpflichtet. Frau Kollegin Dietert-Scheuer, ich weiß, daß Sie dieses so nicht akzeptieren und daß Sie gerne den Petitionsausschuß als weitere Instanz einrichten möchten. Aber dies ist nicht der Fall. Ich glaube, es ist auch richtig so, daß der Petitionsausschuß sich auf seine Aufgabe konzentriert, nämlich parlamentarische Kontrollinstanz der Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu sein. ({0}) Auch der Petitionsausschuß kann, Frau Kollegin Dietert-Scheuer, keine Härtefall- oder Gnadenentscheidungen erwirken. Ich glaube, auch dies ist richtig. Es gibt für uns als F.D.P.-Fraktion keine Anhaltspunkte, auf Grund deren das Bundesamt aufgefordert werden könnte, seine Entscheidungen abzuändern. Kollege Röttgen hat richtigerweise darauf hingewiesen, daß die Entscheidung des Bundesamtes in einem Urteil des Verwaltungsgerichtes Osnabrück als rechtmäßig bestätigt wurde. Frau Kollegin Dietert-Scheuer, Sie haben nicht darauf hingewiesen, daß es auch eine zweite Anhörung gegeben hat. Auch an dieser zweiten Anhörung ist nichts zu beanstanden. Ich bin sogar der Auffassung, daß dies für die Fairneß und die Sicherheit unserer Verfahren spricht. Ich weise also an dieser Stelle die Kritik der Berichterstatter der Opposition zurück. Ich teile sie nicht. Ich kann auch die von Ihnen, Frau Kollegin Hanewinckel, vorgetragene Kritik überhaupt nicht teilen, wenn es darum geht, einen Herkunftsstaat als sicher oder unsicher einzustufen. Es besteht für uns kein Zweifel, daß die entsprechenden Berichte der Bundesregierung, die wir in dieser Hinsicht erhalten, auch zuverlässig sind. Ich denke, alles Weitere kann ich mir hier auch aus Zeitgründen ersparen. Herr Kollege Röttgen hat dazu alles gesagt. Frau Kollegin Hanewinckel, einen Vorwurf möchte ich noch zurückweisen. Das betrifft die heutige pauschale Kritik an den Geschäftsführern. Wenn Sie darauf hinweisen, daß dieses Verfahren im Parlament so lange gedauert hat, dann wenden Sie sich doch bitte dahin gehend an Ihren eigenen GeschäftsGünther Friedrich Nolting führer, daß er sich nicht rechtzeitig um Ihr Anliegen gekümmert hat, ({1}) wenn es denn so wichtig ist, wie Sie es hier vorgetragen haben. Ansonsten will ich abschließend darauf hinweisen, daß wir der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zustimmen und den Änderungsantrag der SPD ablehnen werden. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile der Kollegin Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß schon sagen, daß ich diese Diskussion hier ziemlich zynisch finde. Zum Fall der Familie Valcu sind zunächst einmal zwei Punkte festzustellen: Erstens hat das Asylrecht hier überhaupt nichts mehr mit Humanität zu tun. Zweitens zeigt es sich auch hier, daß ein humanes Umgehen mit Altfällen im Grunde ebenfalls nicht praktiziert wird. Denn diese Familie hat hier fünf Jahre gelebt. Die Kinder sind fünf Jahre lang erfolgreich hier in die Schule gegangen. Letztendlich hat man die Familie nach Rumänien ausgewiesen mit der Hauptbegründung - das ist hier schon genannt worden -, daß dies ein sicherer Herkunftsstaat sei. Ich teile das Anliegen in dem Antrag der SPD und auch das, was die Kollegin Hanewinckel hier vorgetragen hat, voll und ganz. Ich könnte stundenlang Beispiele dafür geben, daß das Auswärtige Amt beispielsweise Berichte nicht zur Verfügung stellt. Ein Beispiel stelle ich hier in den Raum: Bosnien-Herzegowina. Über dieses Land werden sogar monatlich Berichte erstellt. Sie sind aber vertraulich und nicht einmal Mitgliedern des Innenausschusses - als solches spreche ich hier heute - zugänglich. Das heißt, wir müssen dort erst selber hinfahren, um uns schlau zu machen, wie die Situation vor Ort ist. Dann erfahren wir das, was das Auswärtige Amt schon seit Monaten in Berichten verfaßt hat. Ich möchte außerdem hinzufügen, daß nicht nur „amnesty international" über Rumänien umfangreiche Informationen, was Menschenrechtsverletzungen angeht, veröffentlicht hat. Es gibt auch das Berliner Institut für Flüchtlings- und Migrationsforschung, das eine ganze Studie über die Situation der letzten Jahre in Rumänien verfaßt hat. Wenn sich das Bundesamt tatsächlich hätte informieren wollen, dann wäre das meines Erachtens kein Problem gewesen. Zur SPD möchte ich noch sagen, daß die genaue Untersuchung, was sichere Herkunftsländer sind, ein Punkt ist. Der zweite Punkt ist, daß wir auch unsere Nachbarländer, die sogenannten Drittstaaten, betrachten müssen. Wir haben vor kurzem aufgedeckt, daß Menschen, die in Polen ein Asylverfahren beantragt haben, kein korrektes Asylverfahren erhalten. Ich denke, auch das muß überprüft werden. Das geht in eine ähnliche Richtung. Denn Sie wissen, daß es die Rücknahmeabkommen gibt und daß die Menschen aus Polen, die Asylanträge stellen wollen, abgeschoben werden, weil sie aus Polen, also einem sogenannten Drittstaat, kommen. Wie gesagt, wir werden diesem Antrag zustimmen. Ich sehe, meine Redezeit ist auch schon abgelaufen. ({0}) - Sie sind ein Demagoge. Danke. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zur Petition zum weiteren Aufenthalt abgelehnter Asylbewerber im Bundesgebiet, Drucksache 13/1411. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir jetzt zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/ 6979? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 88 zu Petitionen ({1}) - Drucksache 13/3149 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Helmut Heiderich.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die vorliegende Petition greift in den schwierigen Bereich der Entschädigungsregelung im Rahmen des Entschädigungsrentengesetzes ein. Es geht um Opfer des Nationalsozialismus aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Dort erhielt die Mehrzahl von ihnen eine sogenannte Ehrenpension für Kämpfer gegen den Faschismus oder als Opfer des Faschismus. Oft war allerdings der Bezug dieser Leistungen nur durch eine besondere Treue zum SED-Staat zu erlangen. Nicht zuletzt aus diesem Grund mußte mit dem Entschädigungsrentengesetz, das 1992 - übrigens in breitem politischen Konsens von CDU/CSU, F.D.P. und SPD - verabschiedet wurde, eine Lösung gefunden werden, die sowohl den Ansprüchen der Verfolgten gerecht wird als auch den Grundsätzen von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit genügt. Das Gesetz sorgt deshalb grundsätzlich dafür, daß den Betroffenen die bisherigen Leistungen fortgezahlt werden. Für zwei Bereiche bedurfte es aber zusätzlicher Festlegungen. Zum einen wurde sichergestellt, daß auch diejenigen Personen Leistungen erhalten, denen man im Arbeiter- und Bauernstaat den Anspruch verweigert hatte, weil sie sich nicht entsprechend regimetreu verhalten hatten. Eine solche Benachteiligung ist durch dieses Gesetz jetzt ausgeschlossen. Auf der anderen Seite wurde aber auch die Möglichkeit geschaffen, diejenigen vom weiteren Leistungsbezug auszuschließen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatten oder aber ihre Stellung im DDR-System in schwerwiegendem Maße, wie es im Gesetz heißt, zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer mißbraucht hatten. Schon an dieser Formulierung können Sie erfassen, daß es eine schwierige Abgrenzung war, die damals im Gesetzgebungsverfahren erörtert und abgestimmt werden mußte. Umfangreiche Verhandlungen vor der Gesetzesentwicklung wurden gerade über diesen Punkt durchgeführt. Man einigte sich am Ende auf diese eben genannte bewußt weite Auslegung. Über diese beiden eben genannten Korrekturmöglichkeiten hinaus ist zusätzlich und ausdrücklich noch eine Härtefallregelung in § 8 des Gesetzes vereinbart worden. Danach können auch Personen, die, obwohl sie Verfolgte des Nationalsozialismus sind oder als solche anerkannt sind, weder Anspruch auf Entschädigungsrente nach diesem Entschädigungsrentengesetz haben noch eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten, trotzdem gleichwertige Entschädigungsleistungen auf Grund entsprechend nachgeschalteter Richtlinien erhalten. Dies sind die bekannten „Richtlinien für eine ergänzende Regelung über Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet" . Ich glaube, man macht es sich auch zu leicht, wenn man vor diesem Hintergrund sagt: Hätte man damals gewußt, daß es noch ganz besondere Fälle wie beispielsweise den in der vorliegenden Petition gibt, dann hätte man sich anders entschieden. Wenn man die Entscheidungsfindung und die Debatte von damals verfolgt, dann kann man feststellen, daß auch die heute vorliegende Problematik bereits dort ausführlich erörtert und besprochen wurde. Nach den eben genannten Richtlinien ist im übrigen auch derjenige rentenberechtigt, der die DDR nach dem 30. Juni 1969, das heißt nach Auslaufen des Bundesentschädigungsgesetzes verlassen hat und seinen Wohnsitz im Bundesgebiet nach dem Stand vom 2. Oktober 1990 genommen hat. Auch aus diesem Grunde ist eine Überweisung dieser Petition zur Berücksichtigung überflüssig, weil auch dieser Gedankengang damals berücksichtigt worden ist und in die Formulierung der Bestimmungen mit eingegangen ist. ({0}) Die Härtefallregelung nach § 8 des Gesetzes kommt übrigens auch für den Antragsteller in Betracht. Interessant ist, daß der Petent diesen Weg aber bisher nicht in Anspruch genommen hat, obwohl ihm das vom Ausschuß mehrfach vorgeschlagen worden ist. Er beharrt weiterhin auf der Anerkennung nach dem allgemeinen § 3, der eigentlich nur für diejenigen vorgesehen ist, die ihren Wohnsitz im Gebiet der ehemaligen DDR beibehalten haben. Wenn man die Petition genauer studiert, hat man den Eindruck, daß es dem Petenten offenbar gar nicht um seine persönlichen materiellen Bedingungen geht, sondern daß es ihm darum geht, dieses Entschädigungsrentengesetz zu kritisieren als - ich zitiere - „ein Instrument zur Wahrung von Privilegien ehemaliger SED-Anhänger". Er zieht daraus seine Schlußfolgerungen und schreibt, es sei ein Gesetz zur „Mißachtung der Interessen und Ideen ehemaliger Gegner der DDR" . Ihm geht es offensichtlich um eine politische Beurteilung dieses Gesetzes. Das läßt sich auch deutlich den weiteren Darstellungen entnehmen, die in seiner Petition zu finden sind. Das mag vielleicht - ich möchte das an dieser Stelle erwähnen - an seiner für einen Verfolgten eigentlich untypischen Vita liegen. Der Petent ist 1944 in Frankreich geboren und ist erst Ende der 50er Jahre in die DDR übergesiedelt. Er ist dort später dann als Sohn eines Verfolgten selbst als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt worden. Das wurde ihm 1976 wieder aberkannt, weil er einen Ausreiseantrag gestellt hat und weil er als Regimekritiker zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden ist. 1977 konnte er in die Bundesrepublik ausreisen. Ich meine, ihm geht es letztlich wohl um die Frage, in welchem Umfang das millionenfache Unrecht eines totalitären Staates durch nachfolgende Rechtsstaatlichkeit aus der Welt geschafft oder wiedergutgemacht werden kann. Aber auch über diese Frage ist vor der Verabschiedung des Gesetzes mit den Betroffenen - ich nenne hier insbesondere den Zentralrat der Juden - lange gesprochen und verhandelt worden. Man war sich darüber einig, daß Willkür und Diskriminierung des SED-Staates letztlich mit keinem rechtsstaatlichen Mittel völlig ungeschehen gemacht werden können. Ich möchte einen Punkt herausgreifen. Allein um sicherstellen zu können, daß nach dem Gesichtspunkt der SED-Nähe niemand zu Unrecht eine Leistung bezieht - das wird ja vom Petenten kritisiert -, hätte man eine generelle Überprüfung jedes einzelnen Falles vornehmen müssen. Doch allen Seiten ist schon bei der Beratung des Gesetzentwurfes klargeworden, daß eine solche Vorgehensweise unzumutbar für alle wirklich Verfolgten gewesen wäre. Der damalige SPD-Berichterstatter hat in diesem Hause ausdrücklich erklärt, daß eine über die Gesetzesregelung hinausgehende Regel- oder EinzelfallHelmut Heiderich prüfung für ihn nicht akzeptabel sei und daß man einer Unterscheidung zwischen guten und schlechten Verfolgten eine Absage erteilt habe. Daß in der damaligen DDR genau diese Unterscheidung gemacht wurde, daß vielen Betroffenen dadurch erneutes Unrecht entstanden ist, wurde im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens ausdrücklich berücksichtigt. Es bestand auch kein Zweifel, daß dies nicht in jedem einzelnen Punkt nachträglich ganz genau korrigiert werden kann Von einer Gesetzeslücke kann dennoch nicht die Rede sein. Die Härtefallklausel stellt eine Gleichbehandlung von Personen, denen kein Anspruch nach der allgemeinen Vorschrift des § 3 zusteht, mit den nach diesem Gesetz Anspruchsberechtigten sicher. Das Anliegen des Petenten ist wegen seiner grundsätzlichen Ausrichtung - er orientiert sich nicht an seinem persönlichen Entschädigungsrecht, sondern stellt das Gesetz grundsätzlich in Frage - sowohl von der Kommission als unbegründet zurückgewiesen wie auch von dem Petitionsausschuß als nicht erfüllbar abgewiesen worden. In dem konkreten Fall liegt kein Anspruch auf Leistungen nach dem ERG vor, da der Betroffene bereits 15 Jahre im alten Bundesgebiet wohnte, als das Gesetz in Kraft trat, und damit seine Ansprüche nach dem Territorialprinzip verloren hatte. Der Petent hat - darauf will ich ausdrücklich verweisen - jedoch nach wie vor die Möglichkeit, beim Bundesministerium der Finanzen einen Antrag auf Bewilligung von Entschädigungsleistungen auf der Grundlage der von mir bereits erwähnten Richtlinien - im Rahmen der Härtefallregelung - zu stellen. Somit besteht aus meiner Sicht kein Anlaß, die Gesetzeslage von 1992 nachträglich zu verändern. Der Weg zu diesem Gesetz war äußerst steinig. Viele Untiefen mußten ausgelotet und überbrückt werden. Es wäre auch unter diesem Gesichtspunkt, denke ich, nicht richtig, dieses Gesetzesverfahren wegen des Anliegens des Petenten noch einmal aufzurollen. In dem vorliegenden Fall verhindern es nach meiner Auffassung nicht mangelhafte Rechtsvorschriften, den möglichen Weg zu persönlicher Entschädigung zu beschreiten. Es liegt beim Petenten selbst, diesen Weg zu beschreiten. Dies können wir ihm aber weder abnehmen noch vorschreiben. Deswegen plädieren wir nach wie vor dafür, das Petitionsverfahren abzuschließen. Die Argumente und Positionen sind ausreichend ausgetauscht, die Möglichkeiten geprüft. Es ergeben sich auch durch Wiederholungen keine neuen Beurteilungen. Schönen Dank. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Vielen Dank, Herr Kollege Heiderich. Jetzt hat das Wort der Kollege Reinhold Hiller.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als langjähriges Mitglied des Petitionsausschusses bin ich enttäuscht, welche schlimmen Folgen eine Gesetzgebung für die Bürgerinnen und Bürger hat und wie groß daraus der Vertrauensverlust für unsere Demokratie häufig werden kann. Die hier in Rede stehende Petition ist dafür ein besonders krasses Beispiel. Zunächst möchte auch ich aus meiner Sicht die Fakten darstellen. Der Petent jüdischer Herkunft wurde in der DDR 1959 als Hinterbliebener eines Verfolgten des Naziregimes anerkannt. Diese Anerkennung war in der DDR mit wesentlichen Vorteilen verbunden. 1 500 Mark monatlich bei einer Pensionierung mit 62 Jahren lagen deutlich über dem damaligen Durchschnitt. Die DDR wollte sich damit auch ideologisch von den Verhältnissen in der Bundesrepublik abgrenzen, wo die Aufarbeitung des NS-Regimes lange auf sich warten ließ und viele Nazis einflußreiche Positionen erhielten. Gleichzeitig erhielten überproportional viele Mitglieder der Nomenklatura der DDR diese Rente. Im Zuge der Einheit wurden durch das Entschädigungsgesetz Teilrenten für diesen Personenkreis anerkannt. Diese Teilrenten begünstigten die Verfolgten des Naziregimes, aber auch viele linientreue Staatsbürger der DDR, auch die der Partei- und Staatsführung, sofern ihnen keine Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen werden konnten. Nun zurück zu dem Petenten. Nach seiner Anerkennung als Verfolgter hat sich der Petent gegen das SED-Regime aufgelehnt. Der Preis war hoch: Er erhielt 1977 eine Freiheitsstrafe. Gleichzeitig wurden ihm seine Ehrenrechte aberkannt und damit auch die VdN-Rente. Danach übersiedelte er in die Bundesrepublik. Hier schrieb er mehrere Bücher über das SED-Regime, eines herausgegeben von dem Osteuropaexperten Professor Leonhard. Nach der Einheit stellte auch der Petent einen Antrag auf Entschädigungsrente. Er wollte die gleiche Rente bekommen, wie sie für diejenigen gezahlt wird, die bis zum Fall der DDR mitunter die Diktatur linientreu unterstützten. Warum wurden die Anträge des Petenten abgelehnt? Die Kommission zum Entschädigungsrentengesetz teilte dem Petenten mit, daß diese Regelung, die 1992 in Kraft getreten ist, nur für diejenigen gelte, die zum Zeitpunkt der Vereinigung Bürger der DDR waren. Später wurde dem Petenten mitgeteilt, es fehle ein Attest für einen etwaigen Körperschaden für den Zweck des Bezuges der VdN-Teilrente. Dieses wurde sogar rückwirkend für 1990 verlangt. Später stellte die obengenannte Kommission fest: Die generelle Unzufriedenheit an den dortigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen rechtfertigt nicht, diesen Zurechnungszusammenhang zu verneinen. Dieser Zurechnungszuammenhang bedeutet, daß der mit der Ausreise verbundene Entzug der VdNReinhold Hiller ({0}) Rente keine rechtsstaatswidrige Entscheidung der DDR-Stellen beinhalte. Meine Damen und Herren, ersparen Sie mir die weitere Darstellung der juristischen Begründungen. Diese Juristerei läßt Menschlichkeit ebenso vermissen wie die Kenntnis über die Unmenschlichkeit des SED-Regimes in diesem konkreten Fall. Das betone ich. Herr Kollege Heiderich, Sie haben darauf hingewiesen, wie das Gesetz zustande gekommen ist. Davon will ich mich in keiner Weise distanzieren. Ich mache mir aber die Aussage des Petenten zu eigen - ich zitiere -: Es ist ... sehr gewagt, von einer Freiwilligkeit meiner Ausreise zu sprechen. Schließlich hat sich der Petent öffentlich gegen die DDR gewandt und wurde inhaftiert. Wer hier von Freiwilligkeit spricht, hat von der DDR nichts begriffen. Heute muß man resigniert feststellen, daß Opfer benachteiligt werden, während Täter begünstigt werden können. Unabhängig davon, wie man die Frage der Renten für SED-Verantwortliche beurteilt, darf es nicht sein, daß Anhänger des DDR-Regimes ihre Renten behalten dürfen und diejenigen, die auf Grund ihrer Opposition ihr Land verlassen mußten oder im Gefängnis gesessen haben, ihre Renten als jüdische Hinterbliebene von Verfolgten des Naziregimes verlieren. Widerstand wird in diesem Fall bestraft; Linientreue kann sich lohnen. Diese Formel darf es, auch wenn sie juristisch noch so klug begründet wird, nicht geben. ({1}) Nachdem wir gesehen haben, daß die Koalitionsfraktionen nicht bereit sind, sich in diesem Fall zu bewegen, werde ich diese Angelegenheit an das Berliner Büro von Frau Bohley weiterleiten, damit sie diesen Fall in die Gespräche mit Bundeskanzler Kohl einbeziehen kann. ({2}) Wir alle sollten uns engagieren - das ist unsere Aufgabe im Petitionsausschuß -, um diese Ungerechtigkeiten, sofern wir sie erkennen, auch an Hand von Einzelfällen zu beseitigen. Dies ist wichtiger als die Briefe des Bundesjustizministers an den lieben Onkel Herbert von Arnim, in denen es darum geht, eventuell zu späterer Zeit große Teile Brandenburgs wieder in den Besitz der Familie von Arnim zu bringen. ({3}) Zum Schluß möchte ich Ihnen ein weiteres Zitat des Petenten vortragen: Im nachhinein wird mein Engagement für die Menschen in der DDR, das wohl Beweis genug für die Unfreiwilligkeit meiner Ausreise ist, ... von den Mitgliedern der Kommission lächerlich gemacht, während andere mir bekannte VdN-Anerkannte - darunter auch Familienangehörige meiner Altersklasse in der Tat freiwillig, nämlich mit einem Reisepaß in der Tasche in der DDR geblieben waren. Sie hatten freiwillig und treu ere-geben bis zu letzten Minute ihrem sozialistischen Staat gedient und lassen sich heute ihre Treue vom bundesdeutschen Feindstaat entlohnen. Und jetzt kommt der entscheidende Punkt, Herr Kollege Heidrich - das ist wieder ein Zitat -: Wäre ich als ein SED-Anhänger in der DDR geblieben, dann würde mir heute niemand die Entschädigungsrente streitig machen. Das ist der entscheidende Punkt, bei dem das Gesetz nur eine unbefriedigende Antwort gibt. ({4}) - Ich habe doch gesagt, daß ich anerkenne, wie das Gesetz zustande gekommen ist. Nur, das ist nicht Sache des Petitionsausschusses. Hier geht es darum, Einzelfälle zur Kenntnis zu nehmen und auf sie zu reagieren. Das ist unsere Aufgabe. Wir sind nicht der Innenausschuß. ({5}) Dieser Fall ist mehr ein politischer als ein juristischer. Für Politik sind wir zuständig. So schreibt der Petent - noch einmal Zitat; Herr Heiderich, ich habe Ihnen zugehört und bitte Sie deshalb, das jetzt zur Kenntnis zu nehmen; dann werden Sie auch verstehen, warum wir unterschiedliche Positionen haben -: Im übrigen meine ich, daß Gesetze, auch das Entschädigungsrentengesetz, von Menschen für Menschen gemacht wurden und daß sie deshalb kein unumstößliches Abstraktum sind. Wenn also ein Fall auftaucht, der beim Konzipieren eines Gesetzes gar nicht bedacht wurde, oder wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, sollte das Gesetz von denjenigen durchdacht werden, die es konzipiert und beschlossen haben, und die sitzen, wie ich meine, im Bundestag. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich mich mit meiner Angelegenheit an den Petitionsausschuß des Bundestages gewandt habe. Vielleicht können Sie mir doch noch helfen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Sie hat im Petitionsausschuß einen Antrag auf Berücksichtigung gestellt. Darüber stimmen wir heute ab. Es wäre schön, wenn wir zumindest einsähen, daß es nicht in Ordnung ist, wenn dieses Gesetz Viten, wie hier beschrieben, produziert. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Petition ist wieder ein gutes Beispiel für die Kleinlichkeit des bundesdeutschen Entschädigungsrechts für die Opfer des Nationalsozialismus - eine Kleinlichkeit, die im krassen Gegensatz zu der Großzügigkeit bei der Kriegsopferversorgung steht, bei der Versorgung auch mancher Täter. Antragsschlußfristen, Wohnsitzvoraussetzungen, ein Regelungsdschungel - all das kennzeichnet das Entschädigungsrecht und verhindert oftmals, daß den Opfern des Nationalsozialismus zu ihren rechtmäßigen Ansprüchen verholfen werden kann. ({0}) Welch Unterschied zwischen den Regelungen für die Kriegsopfer, dem Bundesversorgungsgesetz, und Bundesentschädigungsgesetz oder dem Entschädigungsgesetz! Während hier überall Schlußfristen greifen, kennt das Bundesversorgungsgesetz diese Schlußfristen nicht. Ich habe gerade die Information bekommen, daß holländische ehemalige SS-Angehörige in den letzten zwei Wochen vermehrt Anträge bei der Landesversorgungsanstalt in Aachen stellen: Renten nach Kriegsopferversorgungsrecht. Diese werden ihre Rentenansprüche realisieren können; die Opfer des Nationalsozialismus scheitern an engherzigen, komplizierten Regelungen, wie der hier vorliegende Fall beweist. Insgesamt ist die Öffnungsregelung beim Entschädigungsrentengesetz offensichtlich höchst unbefriedigend. Die letzten Zahlen des Bundesfinanzministeriums von 1994 zeigen: Bei 1 143 Anträgen auf Neubewilligungen nach dem Entschädigungsrentengesetz gab es damals 580 Entscheidungen; davon waren lediglich 36 positiv. Alle anderen scheitern an den engen Voraussetzungen. Wir als Grüne und das Land Hessen haben diese engen Voraussetzungen schon damals im Bundesrat mit einem Antrag kritisiert und für eine Öffnung plädiert. Denn wir haben auch die eigentlich gescheiterte Trennung zwischen den anerkannten NS-Opfern, die unter das Bundesentschädigungsgesetz fallen, und denjenigen, die allenfalls Leistungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz Westdeutschlands bekommen können, nachvollzogen. Auch diese Trennlinie, die wir eigentlich schon als politisch falsch erkannt hatten, haben Sie bei der Abfassung des Entschädigungsrentengesetzes dummerweise nochmals nachvollzogen. Ich finde diesen Einzelfall auch besonders schokkierend, weil seine Behandlung gegen den Geist des Gesetzes verstößt. Mit der Öffnungsklausel wurde eigentlich bezweckt, daß diejenigen, die aus politischen Gründen in der DDR aus den Regelungen der Ehrenpension herausgefallen sind, diese nachträglich bekommen können, um NS-Opfer, die auch SED-Opfer geworden sind, nicht aus der Regelung auszugrenzen und sie gleichberechtigt in das Entschädigungswerk für Ostdeutschland einzubeziehen. Hier scheitert jemand an den engen Voraussetzungen. Eines, Herr Heiderich - ich verstehe es wirklich nicht -, müssen Sie mir erklären: Wenn der Petent tatsächlich nach den außergesetzlichen Richtlinien die gleichen Leistungen bekommen kann, warum wird bei der Ablehnung nicht automatisch die Akte abgegeben und dafür gesorgt, daß er diese Rente erhält, wenn dem so ist? Warum muß man die Opfer durch die Instanzen treiben, von Pontius zu Pilatus schicken und immer ein anderes Amt zuständig machen? Die Leute empfinden jede Ablehnung als Demütigung, als Abwertung ihres Verfolgtenschicksals. Deshalb sollten wir diese Dinge einmal aus der Perspektive der Opfer und nicht aus der Perspektive der abwimmelnden Verwaltungen sehen und hier entsprechend großzügig und für die Opfer gerecht verfahren. Ich kann nicht sehen, daß das in diesem Fall geschehen ist. Deshalb muß die Bundesregierung meiner Meinung nach über diese Praxis nachdenken. Darum bin ich für eine Berücksichtigung dieser Petition. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sehe, daß die Entscheidung des Petitionsausschusses, das Anliegen des Petenten nicht zu unterstützen, vom Einsender als bitter empfunden werden muß. Dennoch sind wir der Auffassung, daß die Grundsätze unseres Sozialstaats diese Entscheidung rechtfertigen. Im vorliegenden Fall besteht zunächst kein Zweifel daran, daß die Aberkennung der Ehrenpension in der ehemaligen DDR im Jahr 1976 mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar gewesen ist, lagen ihr doch vor allem die regimekritischen Äußerungen des Petenten zugrunde. Herr Kollege Hiller, ich denke, hier besteht Übereinstimmung. Klar ist aber auch - dies ist hier von entscheidender Bedeutung -, daß die Zahlung einer Ehrenpension in der ehemaligen DDR grundsätzlich daran geknüpft war, daß der Betroffene auch in der ehemaligen DDR lebte. Herr Kollege Hiller, Herr Kollege Beck, Sie hätten darauf hinweisen sollen, daß dieses Prinzip wie in den meisten Staaten auch in der Bundesrepublik Deutschland gilt. Herr Kollege Hiller, ich will es noch einmal sagen: Der Petent hatte zum Stichtag - das war der 30. April 1992 - seinen Wohnsitz bereits seit fast 15 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Auch das Entschädigungsrentengesetz läßt leider keine andere Entscheidung zu. Dem Petitionsausschuß ist auch darin zuzustimmen, daß eine Gesetzesänderung unter Vertrauensschutzgesichtspunkten, durch die dem Anliegen des Petenten entsprochen werden könnte, nicht geboten ist. Der Grund dafür ist, daß der Petent bei Inkrafttreten des Entschädigungsrentengesetzes schon mehr als ein Jahrzehnt in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat. Er konnte daher nicht erwarten, daß ihm nach dem Mauerfall nunmehr eine solche Rente nach den Grundsätzen der ehemaligen DDR zugeprochen würde. Mir ist bewußt - Herr Kollege Hiller, Sie haben darauf abgezielt -, daß all dies für die Betroffenen juristische Fragen sind. Sie entsprechen jedoch den Grundsätzen, die dem deutschen Sozialstaat zugrunde liegen. Herr Kollege Hiller, da Sie schon lange Mitglied im Petitionsausschuß sind, haben Sie uns darauf aufmerksam gemacht, daß wir diese Grundsätze zu beachten haben. Gestatten Sie mir noch einen Hinweis. Es wäre der Sache angemessener gewesen - wenn es denn so ernst ist, wie Sie es dargestellt haben -, wenn Sie die Polemik in Ihrer Rede weggelassen hätten. Vielen Dank. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Vielen Dank, Herr Kollege Nolting. Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sicher braucht das Sozialrecht zeitliche und territoriale Kriterien für die Bewilligung oder den Ausschluß von Leistungen. Das liegt sozusagen in der Natur der Sache. Zu welch skurrilen Entscheidungen das jedoch im Prozeß der deutschen Einheit führen kann, zeigt uns der heute vorliegende Fall. Die Bundesrepublik und die DDR haben zwar 40 Jahre autark agiert, aber sie waren doch nicht frei von Bewegungen der Bürgerinnen und Bürger „zwischen den Welten". So der Petent, der nach Ausreiseantrag und Haft im Jahre 1977 von der DDR in die Bundesrepublik übersiedelte. Die Ehrenpension als Verfolgter des Naziregimes war ihm im Zusammenhang mit dem Prozeß 1976 aberkannt worden. Nun, nach der staatlichen Einheit wandte er sich an die Kommission, die im Zusammenhang mit der Überleitung der Ehrenpensionen in Entschädigungsrenten 1992 gebildet wurde. Diese rehabilitierte ihn de facto politisch, stellt aber den Wiederbezug der Entschädigung nicht wieder her, weil der Petent nicht alle Bezugskriterien erfüllt. Allerdings ist nicht das Kriterium ausschlaggebend, das der Petent benennt: das Fehlen der Bestätigung eines 20prozentigen Körperschadens aus dem Jahre 1990, sondern daß der Petent zum Stichtag 30. April 1992, bis zu dem Wiederherstellungsanträge gestellt werden konnten, nicht - wie es im Amtsdeutsch so schrecklich heißt - im Beitrittsgebiet gewohnt hat. Die dadurch entstandene Situation, daß er als einstiger DDR-Kritiker nun ohne Entschädigungsrente für erlittenes Unrecht in der Nazizeit dasteht, im Unterschied zu den in der DDR Gebliebenen, halten auch wir rechtlich für problematisch. Insofern unterstützen wir den Änderungsantrag der SPD zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die Petition der Bundesregierung wegen der entstandenen Gerechtigkeitslücke zur Berücksichtigung zu überweisen. Wenn der Petent allerdings beklagt, daß er die Kommission als unpolitische soziale Rentenstelle erlebt habe, so trügt der Schein. Diese Kommission wirkt sehr wohl politisch, allerdings in eine andere Richtung als die vom Petenten erwartete. Seit 1992 werden durch diese Kommission ohne Unterlaß per Verwaltungsakt mit sofortiger Wirkung Ehrenpensionen bzw. Entschädigungsrenten aberkannt. Berufliche Stellungen und Positionen in der DDR müssen per se für den Nachweis von Menschenrechtsverletzungen herhalten. Antifaschistisches Engagement wird damit relativiert. Kein gutes Zeichen in diesen Tagen! ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu Petitionen zur Zahlung einer Entschädigungsrente nach dem Entschädigungsrentengesetz, Drucksache 13/3149, liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/6980? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 80/68/EWG vom 17. Dezember 1979 über den Schutz von Vizepräsidentin Michaela Geiger Grundwasser gegen Verschmutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe - Drucksachen 13/6902, 13/6971 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Susanne Kastner Dr. Jürgen Rochlitz Günther Bredehorn Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu Zusatzpunkt 8 zu Protokoll zu geben.*) Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist dies mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung, Drucksachen 13/6902 und 13/6971. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, F.D.P. und SPD bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Roland Sauer ({1}), Uta Titze-Stecher, Dr. Burkhard Hirsch und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutze der Nichtraucher ({2}) - Drucksache 13/6100 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerald Häfner, Volker Beck ({4}), Cem Özdemir, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Nichtraucher in der Öffentlichkeit ({5}) - Drucksache 13/6166 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({6}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - *) Anlage 3 Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Roland Sauer.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Nichtraucherschutzgesetzes wurde von 136 Abgeordneten aus CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebracht. Diese Anzahl ist für eine Gesetzesinitiative, die nicht von einer Fraktion, sondern von einzelnen Parlamentariern ausgeht, außergewöhnlich hoch. Viele Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht zu den Unterzeichnern des Gesetzentwurfs gehören, wollen sich im Laufe der Beratungen erst noch ihre Meinung bilden. Dies ist ihr gutes Recht. Ich hoffe, es werden noch viele der derzeit Unentschiedenen zu uns stoßen. ({0}) Bei diesem Thema gehen verständlicherweise die Emotionen hoch. Ich möchte aber gleich klarstellen: Es gibt keinen Krieg gegen die Raucher. ({1}) Sie werden nicht an den Pranger gestellt, sie werden nicht stigmatisiert oder kriminalisiert. Es gibt kein absolutes Rauchverbot. Wir wollen nur dort den Nichtraucherschutz durchsetzen, wo Nichtraucher zwangsläufig mit Rauchern zusammentreffen müssen, nicht ausweichen können und zum unfreiwilligen Mitrauchen gezwungen sind, ({2}) also in öffentlichen Räumen, in Verkehrsmitteln und, was ganz wichtig ist, am Arbeitsplatz. ({3}) Der Grund dafür liegt neben der Belästigung in der nachgewiesenermaßen erheblichen gesundheitlichen Schädigung durch das Passivrauchen. Der Tabakrauch enthält ca. 4 000 Schadstoffe, davon 50 krebserzeugende Substanzen. Auch im Nebenstrom und nicht nur im Hauptstrom sind krebserzeugende Substanzen vorhanden. Der überwiegende Teil der Wissenschaft, das Deutsche Krebsforschungszentrum, die Deutsche Krebsgesellschaft, die Deutsche Krebshilfe, die Deutsche Herzstiftung sowie das frühere BGA und die WHO, die Weltgesundheitsbehörde, haben mehrfach vor den Gesundheitsrisiken des Passivrauchens gewarnt. Darum haben auch jetzt wieder viele Gesundheitsorganisationen, Gesellschaften sowie namhafte Wissenschaftler an den Bundestag appelliert, diesem Nichtraucherschutzgesetz zuzustimmen. Erst dieser Tage haben Sie von der Heidelberger Erklärung gehört, in der 28 namhafte deutsche Forschungseinrichtungen und Gesundheitsorganisationen den Bundestag auffordern, diesem Nichtraucherschutzgesetz zuzustimmen. Wollen wir dies als verRoland Sauer ({4}) antwortliche Politiker in den Wind schlagen, so wie das manche Kollegen machen? Nach Studien des Deutschen Krebsforschungszentrums ist das Lungenkrebsrisiko um 30 bis 40 Prozent höher, wenn Nichtraucher mit Rauchern zusammenleben müssen. Jährlich sterben in Deutschland nicht nur über 100 000 Menschen durch das Aktivrauchen, sondern nachgewiesenermaßen - wenn das die Tabakindustrie auch bestreitet - auch 400 Menschen an den Folgen des Passivrauchens. Die Tabakindustrie wird auf die Dauer die vielen wissenschaftlichen Studien und diese Schadensbilanz nicht bestreiten können. Sie sollte deshalb ihre Werbekampagnen stoppen und der Wahrheit die Ehre geben. ({5}) Für wie dumm halten eigentlich die Werbemanager der Zigarettenindustrie unsere Bürger, wenn sie ihnen weismachen wollen, Kekse essen sei gefährlicher als Passivrauchen? Dümmer und blöder geht es nicht mehr. ({6}) In 90 Ländern der Erde gibt es bereits einen Nichtraucherschutz. Es ist also weltweit anerkannt, Nichtraucherschutz durchzusetzen. 14 EU-Staaten haben eine gesetzliche Regelung des Nichtraucherschutzes. Die EG hatte bereits 1989 die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaffen. Dies hatte ebenfalls der Bundesrat 1992 und 1993 gefordert. Wir ziehen daraus nun mit einem moderaten Gesetzentwurf die Konsequenzen - moderat, weil wir neben Nichtraucherzonen auch Raucherzonen vorsehen, weil wir zu einem fairen Miteinander von Rauchern und Nichtrauchern beitragen wollen. Dieser neue, überarbeitete Entwurf hat gravierende Änderungen erfahren. Wir nehmen im Gegensatz zu den Grünen die Gaststätten aus der gesetzlichen Regelung heraus, nachdem uns der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband erklärt hat, er werde bei einer freiwilligen Lösung eine große Aktion für die Einrichtung attraktiver Nichtraucherzonen in deutschen Gaststätten starten. ({7}) Wir akzeptieren das. Wir werden dies allerdings nach einer gewissen Zeit, Herr Kollege Heinrich, überprüfen. Was wollen wir? ({8}) Erstens. Wir wollen ein Rauchverbot in Innenräumen, die öffentlichkeitsorientiert sind oder als Arbeitsplatz genutzt werden. ({9}) Zweitens. Wir wollen in Einrichtungen der Verfassungsorgane des Bundes, zum Beispiel bei Behörden und Gerichten, ein Rauchverbot durchsetzen. Die Länder und die Kommunen werden durch unsere Rahmengesetzgebung für ihre Einrichtungen gleichgerichtete Gesetze erlassen. Drittens. Bei öffentlichen Verkehrsmitteln, zum Beispiel bei der Bahn, bei Reisebussen, beim Luftverkehr wollen wir dies ebenfalls durchsetzen. Hier gibt es zwar schon gewisse, aber nicht ausreichende Teillösungen. Im übrigen - das haben sehr viele Gegner unserer Initiative offensichtlich übersehen - gibt es schon seit 1928 eine Verordnung die die Schaffung von Nichtraucherabteilen in Eisenbahnzügen vorschreibt. ({10}) Wenn wir heute einen Zug besteigen, ist es zu einer Selbstverständlichkeit geworden, zwischen Nichtraucher- und Raucherabteilen wählen zu können. ({11}) Genau dies wollen wir, weil es anders nicht geht, auch im öffentlichen Bereich durchsetzen. ({12}) Wer würde da noch auf die Idee kommen, wie es die Gegner des Gesetzes vorschlagen, in jedem einzelnen Abteil mit den Mitreisenden auszuhandeln, ob und wieviel geraucht werden darf? Das ist ein Vorschlag der Gegner unserer Initiative. ({13})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter Sauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Bitte schön.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Bitte.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Sauer, ich habe zwei Fragen. Ich, bis vor einem Jahr Raucherin, stelle sie als Nichtraucherin. Sie haben die Züge angesprochen. Mir ist aufgefallen, daß gerade die IC-Züge so gestaltet sind, daß es zwar eine Abteilung zwischen Raucher- und Nichtraucherbereich gibt, aber dieser Übergang offen ist, so daß der Rauch hinüberzieht. Warum kann man da nicht Einfluß nehmen? Hätte man das vielleicht im Prozeß der Privatisierung tun sollen? Eine andere Frage. Ich finde es andererseits nicht gut, wenn Raucher sozusagen in Käfige gesperrt werden, ({0}) also in Glaskästen, wo es dann gar keine Belüftung mehr gibt, so daß die Raucher nicht nur ihren Rauch einatmen müssen, sondern den Rauch der anderen im potenzierten Maße mit. Ich denke, das kann nicht im Interesse der Raucher sein. Wenn man mit dem Problem so umgeht, läuft es in Richtung einer Kriminalisierung. ({1})

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben sicher recht, daß die Abteilung der Raucher von den Nichtrauchern nur durch halbhohe Glasscheiben in den neuen IC-Zügen keine Lösung ist; denn durch die Zirkulation verteilt sich der Tabakrauch im ganzen Waggon. Deswegen müssen wir uns natürlich schon bemühen, bei der Deutschen Bahn, wenn wir dieses Nichtraucherschutzgesetz durchgebracht haben - ich bin sehr optimistisch, daß wir hier eine Mehrheit bekommen -, eine andere Regelung durchzusetzen. Ich glaube, daß uns das gelingen wird. Letztlich wollen wir ein Rauchverbot am Arbeitsplatz durchsetzen, da die bestehenden gesetzlichen Regelungen, § 5 der Arbeitsstättenverordnung sowie die TA Luft, nicht ausreichen. Daher gibt es auch so viele arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen, in denen die Arbeitnehmer ihr Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz einklagen. Dies ist der Fall, wenn zum Beispiel der Personalrat oder der Betriebsrat das Anliegen eines Arbeitnehmers auf einen gesunden, rauchfreien Arbeitsplatz nicht aufgreift und dem Arbeitgeber bzw. Dienstherrn diesen Wunsch nicht nahebringt und durchsetzt. Deswegen sind viele der Arbeitnehmer gezwungen zu klagen. Kritiker des Gesetzentwurfes wenden ein, die bestehenden gesetzlichen Regelungen reichten aus. Die Praxis spricht auf Grund der hohen Zahl an Klagen eindeutig gegen diese Behauptung. Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist in der Frage des Passivrauchens nicht eindeutig geklärt. Daher bleibt dem Arbeitnehmer, wie gesagt, nur der Klageweg. Da 70 Prozent der Arbeitnehmer wie im übrigen auch 70 Prozent der Bevölkerung Nichtraucher sind, ist es höchste Zeit, am Arbeitsplatz Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. ({0}) Im übrigen haben mehrere Gerichte den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber schon mehrfach aufgefordert, hier eine klare gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit wirklich jedermann sein Recht bekommen kann. Weiter wird gesagt: Eine gesetzliche Reglementierung ist unnötig. Wir lösen alles mit Toleranz und Rücksichtnahme. - Dies ist sicher ein vernünftiger Gedanke. Wir haben dies über Jahre hinweg versucht und haben geglaubt, dies wäre eine Lösung. Aber dagegen - das sage ich noch mal - spricht die große Zahl von Prozessen, in denen sich Arbeitnehmer ihren rauchfreien Arbeitsplatz erstreiten müssen. Dies muß man sehen, wenn man den Gesetzentwurf mit dem Argument der Toleranz abtun will. Nach Auskunft renommierter Wissenschaftler sind 60 Prozent der Raucher nikotinabhängig. Sie können verständlicherweise von Leuten, die abhängig sind, keine Rücksicht und Toleranz erwarten. Das ist leider nicht möglich. Deswegen brauchen wir in dieser Sache ein Gesetz. Nun gibt es kein absolutes Rauchverbot. Die Argumentation, durch das Nichtraucherschutzgesetz würde es zu einem Steuerausfall von 23 Milliarden DM sowie zu einem Verlust von 500 000 Arbeitsplätzen kommen, steht auf sehr wackeligen Beinen. Wie kann man denn so kurzsichtig sein, wenn es um Menschenleben geht und die volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens mit, von den Wissenschaftlern ausgerechnet, rund 80 Milliarden DM jährlich zu Buche schlagen? Ich sage es nochmal: Es handelt sich doch nicht um ein absolutes Rauchverbot, sondern um ein Gesetz zum Schutze des Nichtrauchers. Das heißt im Klartext: Jeder kann nach wie vor so viel rauchen, wie er will. Lediglich in öffentlichen Räumen, in Verkehrsmitteln und am Arbeitsplatz sollen Nichtraucher vor dem unfreiwilligen Mitrauchen, dem Passivrauchen, bewahrt werden. ({1}) Der gebotene Nichtraucherschutz wird durch einen fairen Kompromiß zwischen den Interessen der Raucher und der Nichtraucher erreicht. Er sieht vor, daß in bestimmten Innenräumen Raucher- und Nichtraucherzonen eingerichtet werden. Das Rauchen wird also nicht verboten, sondern lediglich auf die Raucherzonen beschränkt. Über 75 Prozent haben sich bei TED-Umfragen von Fernseh- und Rundfunkanstalten für unser Nichtraucherschutzgesetz ausgesprochen. Ein Ausreißer ist die „Bild"-Zeitung, die dies reißerisch aufgemacht hat. Dabei kam ein anderes Umfrageergebnis heraus. Bei allen anderen seriösen Zeitungen, bei Fernseh- und Radiosendungen ist das Ergebnis eindeutig: 75 Prozent der deutschen Bevölkerung sind für diesen Nichtraucherschutz. ({2}) Wir wären gut beraten, dieses Votum zu beachten. Ich bitte Sie, unser moderates Nichtraucherschutzgesetz zu unterstützen. ({3})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt unsere Kollegin Uta Titze-Stecher.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich heute abend diesen Raum betreten wollte, erschreckten mich die schwarz befrackten Herren vor der Tür mit der Hiobsbotschaft: „Frau Titze-Stecher, die Debatte zum Nichtraucherschutzgesetz ist abgesetzt worden. " Aber auch das hätten wir verkraftet. Zur Vorgeschichte seien mir ein paar Anmerkungen gestattet. Mit der heutigen Debatte - also mit der ersten Lesung des Entwurfs eines Nichtraucherschutzgesetzes - machen wir bereits den zweiten interfraktionellen Versuch, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen. Beim ersten Versuch in der letzten Legislaturperiode sind wir unter wesentlich ungünstigeren Vorzeichen gestartet. Zum einen gab es den ungünstigen Zeitpunkt; das war der Sommer 1994. Wie jeder in diesem Hause weiß, waren wir damals mitten im Bundestagswahlkampf. Keiner in der engeren Fraktionsführung hatte angesichts von Millionen von rauchenden Wählern ein Interesse daran, diese Wähler mit diesem Gesetz zu konfrontieren. Das zweite war - das muß ganz klar gesagt werden - der Unwille der Fraktionsführungen, ein Gesetz dieser Art zu beraten und zu verabschieden. Wie bekannt, wird nirgends so viel geraucht und gepafft wie in der Politik und in den Redaktionsstuben. An letzterem liegt es natürlich auch, daß unser durchaus ernst gemeinter erster Versuch zum Teil von den Medien lächerlich gemacht und abgemeiert worden ist. Im Vergleich dazu ist der zweite Versuch mit einer komfortablen Unterstützungsgruppe ausgestattet. Der Kollege Sauer hat die 134 Kolleginnen und Kollegen genannt ({0}) - 136? Also noch zwei mehr! -, die sich für den interfraktionellen Gesetzentwurf ausgesprochen haben. Wenn ich die sechs namentlich genannten Kollegen der Bündnisgrünen dazuzähle - ich nehme an, daß dahinter die Mehrheit der grünen Fraktion steht -, dann ist die Gesamtanzahl ein Beweis dafür, daß zwei Jahre intensiver Vorbereitung und Diskussion die Gruppe der Unterstützer haben verbreitern können. Wir stehen dabei erst am Beginn eines Diskussionsprozesses, der im federführenden Gesundheitsausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen weitergeführt werden muß und der unter Umständen dazu führt, daß eine öffentliche Anhörung das Bewußtsein für die Notwendigkeit eines gesetzlich verankerten Nichtraucherschutzes herbeiführt. Meine Hoffnung ist, daß am Ende dieses Diskussionsprozesses das so dringend notwendige Gesetz noch in dieser Legislaturperiode erlassen werden kann. Das ist also - wie der Kollege Sauer ausgeführt hat - keine spinnige Idee von Abgeordneten, die „nichts Besseres zu tun haben oder nichts zu tun haben" - so die Schelte von Kollegen in einem Artikel der „Zeit". Wir wissen genau, wer das gesagt hat, Kollege Sauer. Vielmehr verlangen relevante Gremien seit Jahren einen gesetzlichen Nichtraucherschutz. Ich erwähne in aller Schnelle: Bereits 1974 hat die damalige Bundesregierung in der Drucksache 7/2070 folgenden Standpunkt vertreten: Obwohl bislang nur höchst ungenügende Daten über die tatsächliche Gefährdung ... durch „Passivrauchen" vorliegen, muß als Analogieschluß zugelassen werden, daß es diese Gefährdung tatsächlich gibt, „auch wenn es der Verband der Zigarettenindustrie bis heute nicht glaubt und abstreitet" , könnte man hinzusetzen. Der Rat der Europäischen Gemeinschaften hat in einer Entschließung aus dem Jahre 1989 all seine Mitgliedstaaten aufgefordert, in öffentlich frequentierten und zugänglichen Räumen und Verkehrsmitteln den Nichtraucherschutz gesetzlich zu verankern. Selbst diese Bundesregierung hat 1990 ein Aktionsprogramm zur Förderung des Nichtrauchens und knapp zwei Jahre später die Konzeption zur Verbesserung der Luftqualität in Innenräumen beschlossen. Die Länderregierungen - auch das ist erwähnt worden - haben bereits zweimal, nämlich 1992 und 1993, die Bundesregierung um entsprechende Nichtraucherschutzinitiativen ersucht. Die überwiegende Mehrheit, wie vom Kollegen Sauer durch TED-Umfragen belegt, wünscht einen gesetzlichen Nichtraucherschutz. Unter der überwiegenden Mehrheit befinden sich natürlich auch Raucherinnen und Raucher. Inzwischen ist die Bundeskompetenz in diesem Bereich einwandfrei und klar erwiesen, so daß die Bringschuld der Bundesregierung offenbar ist. Wir bieten einen veritablen, komfortablen, ausgearbeiteten Gesetzentwurf an, auf den die Bundesregierung nur zurückzugreifen braucht. Zum Anliegen des Gesetzentwurfes selbst: Der Titel ist Programm. Es geht um den Schutz des Nichtrauchers, nicht um ein Totalverbot des Rauchens oder gar um eine Diskriminierung von Rauchern. ({1}) Der Unterschied zu anderen vergnüglichen Lastern ist allerdings augenfällig. ({2}) - Ja, das können Sie ruhig wissen, Herr Kollege, weil der Unterschied nämlich die Notwendigkeit des Gesetzentwurfes klar macht. Aber Sie brauchen sich ja nicht betroffen zu fühlen. Alkohol schädigt nur Ihre eigene Leber. Exzessives Essen erhöht das eigene Gewicht. Zu viel Arbeiten macht die Nerven krank, aber nur die eigenen. Riskante Sportarten können den eigenen Körper verletzen. - Ich hatte ja gehofft, daß Herr Möllemann als dezidierter Gegner des Rauchens hier sitzt. Den nehme ich bei den Sportarten aus, denn vom Fallschirmspringen scheint er etwas zu verstehen. ({3}) Der wesentliche Unterschied zum Rauchen ist bei den vergnüglichen Lastern nur der: Zum Rauchen entscheide ich mich freiwillig. Das heißt, die Gesundheitsschädigung gehe ich bewußt ein. Der Mitraucher hingegen wird dazu gezwungen. Genau da wird die Argumentation der Gegner löcherig. ({4}) Wenn immer die Rede von der Freiheit des Individuums und dessen Recht auf dieses oder jenes ist, dann hat das da seine Grenzen, wo ein anderer nachgewiesenermaßen geschädigt wird. Das ist hier der Fall. Deswegen ist das Anliegen dieses Gesetzentwurfes, dem der Gesundheitsschutz vor die Gesundheitsschädigung geht, ausgesprochen notwendig. Rauchen soll, wie gesagt, weiterhin erlaubt sein. Rauchen kann, wer will, so viel er will, bloß nicht mehr überall, wo es ihn gerade juckt. Die Begründung liegt auf der Hand: Rauchen ist schädlich, Passivrauchen infolgedessen logischerweise auch. Nun stellt sich die Frage, was eigentlich das Rauchen so schädlich macht. Auch auf diese Frage ist Herr Kollege Sauer eingegangen. Im Tabakrauch sind fast 4 000 Schadstoffe enthalten, darunter 50 Kanzerogene, unter anderem solche Stoffe wie Dioxine, als Seveso-Gift bekannt, Furane und Formaldehyd. ({5}) - Nein, nein, ich rauche nicht heimlich. ({6}) - Wenn, dann würde ich so etwas offen machen. Zu Lastern muß man auch stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Im übrigen sage ich hier einmal etwas außerhalb des Protokolls. ({8}) - Außerhalb meiner vorbereiteten Rede. Das Fatale ist ja folgendes: Die meisten meiner Freunde rauchen. Ich akzeptiere das, nur nicht in meinen eigenen Räumen. Das wiederum wird auch seitens der Raucher akzeptiert. Aber darauf, weshalb trotzdem ein Gesetz notwendig ist, komme ich gleich noch zu sprechen. Daß das Thema so emotional abgehandelt wird, ist klar. Es handelt sich um eine Sucht, und betroffen sind Millionen von Rauchern. Das ist eine relevante Bevölkerungsgruppe. Immerhin rauchen 37 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen. Sie rauchten im letzten Jahr 165 Milliarden Zigaretten, ließen sich diesen Spaß 36 Milliarden DM kosten - es sei ihnen gegönnt, nur nicht uns Nichtrauchern -, und es flossen in die Kassen von Herrn Waigel 20,7 Milliarden DM an Tabaksteuer. Nun gibt es das Argument der Gegner des Nichtraucherschutzes: Wie seid ihr blöd! Durch dieses Gesetz wollt ihr, daß weniger geraucht wird. Dann werden weniger Steuern in die Kasse von Herrn Waigel fließen. Außerdem werden Arbeitsplätze in der Tabakindustrie gefährdet. Das sind unseriöse, weil falsche Behauptungen. ({9}) Wir verbieten ja nicht das Rauchen, sondern wir beschränken es. Wie schon gesagt, jemand, der raucht, muß sich daran gewöhnen müssen, daß er das nicht jederzeit und an jedem Ort kann. Allerdings wissen auch wir, daß es die rauchfreie und rauschfreie Gesellschaft niemals gegeben hat, nicht gibt und niemals geben wird. Genau darauf nimmt unser Gesetzentwurf auch entsprechend Rücksicht. Ein paar Fakten zur Schädigung durch Rauchen kann ich Ihnen nicht ersparen: Rauchen ist ursächlich verantwortlich für 80 bis 90 Prozent der Lungenerkrankungen, 80 bis 90 Prozent der chronischen Atemwegserkrankungen, 25 Prozent aller Herzerkrankungen und gute 30 Prozent aller Krebserkrankungen, von der Akutbelästigung gar nicht zu reden. Es verursacht also - in einem Satz, Krebs, Herz- und Gefäßkrankheiten, schädigt auch die Gesundheit von Föten im Mutterleib. Das ist nicht neu. Seit 1989 schreibt eine EU-Richtlinie vor, daß genau diese Tatbestände auf die Zigarettenpackung aufgedruckt werden. Wer es also wissen wollte, der konnte es wissen. Außerdem haben Raucher - vielleicht kann das manchen Raucher vom Rauchen abhalten - gemäß einer Notiz in der „Süddeutschen Zeitung" von Anfang Februar nur eine 42prozentige Chance, 73 Jahre alt zu werden. Im Gegensatz dazu haben Nichtraucher eine doppelte Chance. Das ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie des Royal Free Hospital über die Langzeitfolgen bei 8 000 männlichen Rauchern. ({10}) Nun gut, ich könnte Ihrem Geschrei entnehmen, Sie wollen ja gar nicht 73 Jahre alt, vielleicht zum Pflegefall und zur Last für Ihre Familie und Umgebung werden. Aber Raucher sollen wenigstens wissen, welches Risiko sie eingehen und in welches mittelbare Risiko sie Nichtraucher stürzen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren hat am 11. Dezember letzten Jahres bei der Vorlage ihres Jahrbuches geschätzt, daß im letzten Jahr über 100 000 Menschen, nämlich 95 000 Männer und 17 000 Frauen an den Folgen des Rauchens verstorben sind. In Europa schätzt man diese Zahl auf 800 000. Das heißt: Durch Rauchen sterben mehr Menschen als an Aids, Unfällen, Mord, Selbstmord und illegalen Drogen zusammengenommen. Wenn das kein Grund ist, ein Gesetz zu machen, heiße ich Emma. ({11}) Die amerikanische Environmental Protection Agency hat Tabakrauch in Umgebungsluft zusammen mit so schlimmen Stoffen wie Asbest, Arsen, Benzol und Radongas in die Liste der Humankanzerogene der Klasse A aufgenommen. Für all diese Stoffe gilt: Es gibt keine unschädliche Konzentration. Die Mengen summieren sich verlustlos bis hin zur Erkrankung. Tabak kann also durchaus als Umweltgift Nr. 1 gelten. Zum Gesetzentwurf selbst: Der Kollege Sauer hat ausgeführt, daß wir nur da regelnd eingreifen, wo sich Raucher und Nichtraucher begegnen und ein gesetzlicher Interessensausgleich notwendig ist, weil es in meinen und unseren Augen unzumutbar ist, daß sich Raucher diskriminiert fühlen, wenn der Appell erfolgt: „Nun drück einmal deine Zigarette aus, sie stört mich! " oder „Ich bin allergisch! ". Ich finde es auch menschenunwürdig und unzumutbar, daß ein Nichtraucher jedes Mal bitten, betteln und appellieren und auf Verständnis hoffen muß. ({12}) Ich benutze bei dieser Gelegenheit in Interviews immer folgendes Bild: Wenn ich einmal im Charterflugzeug - wie auch Sie vielleicht in Urlaub fliege, dann ist mir doch nicht zuzumuten, daß ich von Reihe 15 oder 18, ab der das Rauchen erlaubt ist, bis zum Schluß gehe und jedem meine persönliche Leidensgeschichte erzähle. Bis ich durch bin, bin ich schon längst am Ferien- oder Zielort angekommen. ({13}) Der Gesetzentwurf regelt also nur das Verhalten in öffentlich orientierten Räumen, Behörden, Krankenhäusern usw., in Verkehrsmitteln und am Arbeitsplatz. Die Behauptung, daß wir in Räume ohne Publikumsverkehr regelnd eingreifen - berühmt der alleine in seinem Lkw sitzende Fahrer -, stellt eine ausgesprochene Polemik dar. Da, wo kein Regelungsbedarf besteht, weil etwa nur ein Raucher den Raum besetzt und darin ohne Publikumsverkehr arbeitet, kann jeder machen, was er will. Logische Konsequenz: Im Gesetzentwurf haben wir im Gegensatz zum Gesetzentwurf von vor zwei Jahren den Gaststättenteil abgehängt. Herr Sauer hat dazu das Notwendige gesagt. Man wird überprüfen müssen, ob das Versprechen der DEHOGA, für ein ausreichend erhöhtes Angebot für Nichtraucher in Hotels und Gaststätten zu sorgen, auch erfüllt wird. Bestehende betriebsinterne Vereinbarungen - darauf weisen uns die Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten und auch die Betriebsräte immer wieder hin - reichen nicht. Auch dazu ist schon ausgeführt worden, daß gerade die Anzahl der Prozesse, in denen sich Nichtraucher die gute Luft gerichtlich erkämpfen müssen, der Beweis für die Notwendigkeit eines entsprechenden Gesetzes sind, durch das ein Bezugspunkt geschaffen wird; das heißt, nur durch so ein Gesetz wird Rechtssicherheit und -klarheit geschaffen. Nicht verhehlen will ich, daß es mir persönlich nicht nur bekannt ist, sondern ich auch Verständigung zwischen Rauchern und Nichtrauchern, also einen fairen Interessensausgleich jenseits von Gesetzen, erfahren habe ({14}) - ja, aber hören Sie mal weiter zu -, allerdings nur da, wo man sich in kleinen und übersichtlichen Gruppen kennt und wo ich jemanden ansprechen kann. Das Beispiel Flugzeug habe ich Ihnen ja schon vorgebetet. Das heißt: In anonymen Gruppen, wie in der U- und S-Bahn und im Flugzeug, ist es einfach unzumutbar, sich persönlich zu bemühen, rauchfreie Luft zu erhalten. ({15}) Ich halte die Sanktionen in unserem interfraktionellen Gesetzentwurf für die Verstöße gegen das gesetzliche Rauchverbot für zivil: Rauchen außerhalb der Raucherzonen wird mit 100 DM Bußgeld, die Verstöße des Hausrechtsinhabers gegen die Auflagen des Gesetzes werden mit 100 bis 5 000 DM geahndet. Auch die Gurtpflicht hat sich erst dann eingebürgert, als der Griff in das Portemonnaie drohte. Das ist sozusagen der kleine Biß, mit dem wir das Gesetz bewehren. Die von den Medien und auch Teilen der Kollegenschaft hochgespielte Vorstellung einer Raucherpolizei weisen wir natürlich zurück. Die Polizei hat andere Dinge zu tun. Außerdem denke ich, daß bei Rauchern eine persönliche Ansprache möglich ist. Mir erscheint die Vorstellung, daß ein Raucher bewußt in einer gekennzeichneten Nichtraucherzone raucht, einfach zu theoretisch. Wenn er es denn einmal tut, dann ist ihm offensichtlich die neue Gesetzeslage noch nicht bekannt. Dann kann man ihn darauf hinweisen. Jeder hat Mund und Verstand. Ich denke, daß Raucher dieses Gesetz mit der Zeit genauso respektieren und einhalten, wie es sein muß, da sie nicht weniger gesetzestreu sind als die Nichtraucher. Der Gesetzentwurf der Grünen regelt in einer Art Artikelgesetz weit mehr Bereiche als der interfraktionelle Gesetzentwurf. Ich denke, daß der Kollege Häfner dazu seine Ausführungen machen wird. Ich möchte nur drei Punkte ansprechen: Der gesamte Gaststättenteil, den wir nach reiflicher Diskussion abgehängt haben, wird durch die drei Ausnahmen, Herr Häfner, die Sie anbieten, verwässert. Wenn ich das mache, dann brauche ich gar nichts zu machen. Ich denke, Sie wären auf dem besten Wege, wenn Sie mit uns den Kompromiß suchten. Die ärztliche Aufklärungspflicht halte ich für überflüssig; denn ein Arzt, der seinen Beruf ernst nimmt, wird dies jetzt schon tun; das heißt, Eltern über die Schäden von Passivrauchen bei Kindern aufklären. Außerdem steht der Großteil der Ärzte hinter diesem Anliegen. Über den Ausgleichsfonds für gesundheitliche Aufklärung und über das Werbeverbot für Tabakerzeugnisse kann man reden. Auch die Abschaffung der Automaten muß man sowohl im Gesundheits- als auch im Wirtschaftsausschuß debattieren können. Es ist verständlich, daß die ökologische Partei mit Maximalforderungen in den Ring steigt. Aber ich denke, daß es angesichts der von Herrn Sauer erwähnten Heidelberger Erklärung von dieser Woche dringend notwendig ist, ein nationales Programm zur Tabakprävention für Kinder und Jugendliche aufzulegen. Neben dieser Erklärung muß auch betont werden, daß der interfraktionelle Gesetzentwurf der Einstieg in einen gesetzlich verankerten Nichtraucherschutz ist. Ich bitte Sie, dieses mitzutragen. Guter Wille aller Beteiligten vorausgesetzt, wäre eine Verabschiedung noch in dieser Legislaturperiode möglich.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Kollegin, jetzt ist Ihre Redezeit wirklich zu Ende.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Schluß noch ein Wort des Dankes an den Kollegen Sauer. Es wäre eine Zierde für dieses Haus, wenn wir öfter so loyal und kollegial zusammenarbeiten würden, wie wir dies in allen Phasen der Entstehung dieses Gesetzentwurfes gemacht haben. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Ich erteile jetzt dem Kollegen Gerald Häfner das Wort.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Titze-Stecher hat es schon gesagt: Tabakrauch ist für 80 bis 90 Prozent aller chronischen Atemwegserkrankungen und für 80 bis 85 Prozent aller Lungenkrebserkrankungen - ich erspare Ihnen die anderen Krankheitsfolgen - verantwortlich. Laut Statistik - das ist eine erschreckende Zahl - müssen etwa 500 Millionen Menschen der gegenwärtigen Weltbevölkerung damit rechnen, an den Folgen des Tabakrauches zu sterben. Raucher haben im mittleren Alter, also zwischen 35 und 69 Jahren, eine dreimal höhere Todesrate als Nichtraucher. Ich denke, das dürfte an Zahlen reichen, um die Gefahren des Tabakrauchs unmißverständlich deutlich zu machen. Trotzdem wollen wir niemandem das Rauchen verbieten. Das muß jeder für sich selbst entscheiden. Es gehört meines Erachtens zu einer liberalen Gesellschaft, daß sich ein Mensch sogar selbst schädigen darf, wenn er es möchte, ohne daß dies den Staat oder den Gesetzgeber angeht. ({0}) - Völlig richtig. Das ist bei der gegenwärtigen Politik wahrscheinlich eine noch sehr viel kurzfristiger wirkende Schädigung. Danke für den Hinweis. Trotzdem verteidigen wir gemeinsam eine Gesellschaft, in der dieses Recht besteht, sich - egal, ob durch falsches Wählen oder durch das Anstecken von Zigaretten - selbst zu schädigen. ({1}) - Jetzt haben Sie doch ein bißchen Humor, junger Mann. ({2}) Die Liberalität hört allerdings an der Stelle auf, an der ein Mensch, der für sich entschieden hat, Gift zu nehmen, dieses Gift z. B. gegen deren Willen anderen aufzwingt. Wenn ich also zum Beispiel im Getränk gelöstes Gift zu mir nehme, geht das niemanden etwas an. Wenn ich es aber auch in die Getränke anderer Menschen rühre, dann würde zu Recht die Polizei bzw. der Strafrichter auf den Plan gerufen und müßte erklären: Das ist nicht mehr zulässig, da müssen wir einschreiten. So verhält es sich meines Erachtens mit dem Problem, über das wir heute sprechen. Es geht nicht um das Rauchen an sich, sondern es geht um das Passivrauchen, um das unfreiwillige Mitrauchen. „Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit" steht auf jeder Zigarettenschachtel. Ich finde, das ist falsch. Rauchen gefährdet eben nicht nur die Gesundheit des Rauchers. Dieser Spruch wiegt auch den sozial verantwortlichen Raucher in der trügerischen Sicherheit, er würde damit nur sich selbst schädigen, und damit sei das doch schließlich seine Privatangelegenheit. Deshalb reagieren auch viele Raucher so erstaunlich allergisch auf Bitten von Nichtrauchern, doch vorübergehend auf das Rauchen zu verzichten, weil sie meinen, das sei doch ihre ganz persönliche Angelegenheit. Sie meinen, es wolle ihnen irgend jemand reinreden, sie bemuttern oder ihnen Vorschriften machen. Nein: Rauchen gefährdet eben nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch die Gesundheit ihrer Mitmenschen! Das ist die Realität. Das wissen wir heute. Und weil wir es wissen, sehen wir uns veranlaßt, hier einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen. Erst in den 80er Jahren hat man nämlich überhaupt begonnen, systematische Untersuchungen über das Passivrauchen anzustellen. Seither wissen wir immer mehr zum Beispiel über die Zusammenhänge zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs sowie all den anderen Schädigungen. So wissen wir zum Beispiel - das haben Frau Titze-Stecher und Herr Sauer ebenfalls angesprochen -, daß etwa 400 Lungenkrebstote im Jahr nachweislich auf Passivrauchen zurückgehen. Wir wissen - und das ist ebenfalls eine erschrekkende Tatsache -, daß nur 20 Prozent des Zigarettenrauches vom Raucher selbst eingeatmet und etwa 80 Prozent an die Umgebung abgegeben werden. Dabei haben amerikanische Untersuchungen geGerald Häfner zeigt, daß 34,5 Prozent der Nichtraucher mindestens zehn Stunden am Tag dem Tabakrauch ausgesetzt sind und daß '70 Prozent aller Kinder in Wohnungen mit mindestens einem Raucher leben. Und wir wissen, daß dort die Konzentrationen - das muß auch uns als Grüne aufrütteln - bestimmter Schadstoffe oft dasjenige um ein Vielfaches übersteigen, was etwa nach den MAK-Grenzwerten am Arbeitsplatz zulässig ist. Bezogen auf einzelne Schadstoffe kann beim Passivrauchen gelegentlich sogar das 100fache der zulässigen Schadstoffkonzentration am Arbeitsplatz erreicht werden. Wer über diese Zahlen und Zusammenhänge Bescheid weiß, muß etwas tun. Denn es geht eben beim Passivrauchen nicht nur um Belästigung. Es geht dabei um massive gesundheitliche Gefahren und Schädigungen. ({3}) Der Gesetzgeber muß zum Schutz der Passivraucher etwas tun, aber nicht etwa um das Rauchen zu verbieten oder zu kriminalisieren; wir wollen keinen Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, was sie um ihrer selbst willen zu tun oder zu lassen haben. Vielmehr wollen wir Schutzrechte, Abwehrrechte gegen Gefährdungen für die Bürgerinnen und Bürger. Konkret bedeutet das nach unserem Entwurf ein Rauchverbot in öffentlichen Räumen, in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln. Am Arbeitsplatz dagegen wollen wir kein generelles Rauchverbot, weil es keinen Sinn machen würde, etwa drei Rauchern das Rauchen zu untersagen, wenn sie sich zusammen ein Büro teilen und sich niemand gestört fühlt. Vielmehr wollen wir einen individuellen Anspruch, einen einklagbaren Anspruch auf einen rauchfreien Arbeitsplatz für jede und jeden Arbeitnehmer im Gesetz verankern. ({4}) Wir wollen im Gaststättenbereich - und das unterscheidet uns nun erneut von den Autorinnen des Gruppenentwurfs; aber ich weiß ja, daß Sie das ursprünglich auch wollten; nun lassen Sie uns doch einmal sehen, wie weit wir damit kommen -, daß die Ausweisung von Nichtraucherräumen, Nichtraucherbereichen gesetzlich vorgeschrieben wird - nicht für die kleinen Eckkneipen, nicht für die sogenannten Stehausschänke in München oder Hamburg, sondern für die größeren Gaststätten ab 50 Plätzen, dort, wo das auch praktisch möglich ist. Weiter wollen wir Werbebeschränkungen im öffentlichen Raum mit dem Ziel eines stärkeren Kinder- und Jugendschutzes, also keineswegs ein generelles Werbeverbot. Wir wollen die Werbung zum Beispiel nicht einschränken im Kino bei Filmen für Erwachsene, nicht in den Zeitschriftenläden. Aber da, wo vor Schulen auf den Straßen riesige Plakatwände mit Zigarettenwerbung hängen, wo Kinder und Jugendliche vorbeigehen, wollen wir stärkere Einschränkungen. Wir wollen künftig deshalb auch eine Einschränkung der Zugänglichkeit von Zigarettenautomaten für Kinder und Jugendliche - auch dazu haben wir Vorschläge im Gesetzentwurf gemacht. Wir wollen eine Verstärkung der gesundheitlichen Aufklärung, und zwar durch einen eigenen Fonds, den wir aus einer besonderen Abgabe von 10 Prozent des Werbeetats der Zigarettenhersteller speisen wollen. Diese Idee habe ich übrigens in Kalifornien kennengelernt. Dort wird eine ganz ähnliche Regelung schon angewandt, und zwar außerordentlich erfolgreich. Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen:

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ja, aber kurz.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich begrüße den Gruppenantrag außerordentlich. Ich freue mich, daß er zustande gekommen ist. Ich freue mich aber auch, daß sich unsere Fraktion als einzige dazu durchgerungen hat, ein solches Gesetz, von allen Fraktionsmitgliedern getragen, vorzulegen. Ich erinnere daran, daß - laut Forsa - 69 Prozent der Bevölkerung und übrigens sogar 49 Prozent der Raucher ein derartiges Nichtraucherschutzgesetz begrüßen. Das bedeutet, daß, um wenigstens ein dem vergleichbares Ergebnis im Deutschen Bundestag zu erzielen, in den anderen Fraktionen offenbar noch sehr, sehr viel zu tun ist. Ich wünsche mir zum Schluß, daß sich alle diejenigen in diesem Hause, die Interesse daran haben, daß es nun endlich - wir sind in diesem Bereich in Europa fast das Schlußlicht - zu einer maßvollen und angemessenen gesetzlichen Regelung kommt, bald zusammensetzen und versuchen, gemeinsam die bestmögliche Lösung zu finden, damit wir dann endlich aus dem Parlament herausgehen und sagen können: Wir nehmen Art. 2 des Grundgesetzes - die Verpflichtung zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit - auch im Hinblick auf das Problem des Passivrauchens ernst und wägen deshalb die verschiedenen Interessen und Rechtsgüter in einem Gesetz gegeneinander ab. Ein solches Gesetz wollen wir nicht nur ein-, sondern auch durchbringen. Ich möchte an alle appellieren, dies nach Kräften zu unterstützen. Danke sehr. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Häfner, ich möchte zunächst sagen, daß ich persönlich mit Ihnen in der Forderung nach dem Verbot des Aufstellens von Zigarettenautomaten sehr übereinstimme. Wir müssen uns darüber im klaren sein: Kein anderes Suchtmittel ist in unserer Gesellschaft derartig privilegiert. Der Zugang zu keinem anderen Suchtmittel wird so leichtgemacht, wie es bei Zigaretten geschieht. Im Umkreis von 200 Metern um ein Haus kann ich bei drei Zigarettenautomaten Tag und Nacht Zigaretten erwerben. Warum machen wir so etwas nicht mit Alkohol? Warum machen wir so etwas nicht auch mit anderen Suchtmitteln? ({0}) Das hat Gründe. Ich denke, es gibt sachlich keinerlei Rechtfertigung, an dieser Praxis festzuhalten. ({1}) Herr Häfner, ich möchte aber noch etwas zu dem Problem der Raucher in den Fraktionen sagen. Ich finde, Sie können mit Stolz vermerken, daß die Raucher Ihrer Fraktion auch heute nicht anwesend sind, aber offenkundig - ich nenne das einmal so - ihren guten Willen gezeigt haben, indem sie den Antrag haben passieren lassen. Wir sollten aber ehrlicherweise sagen: Der Umgang mit Raucherinnen und Rauchern der Grünen, der Sozialdemokraten und der Christdemokraten ist auch bis in das Parlament hinein sehr schwierig. Denn sie alle eint eines: Wer bereit ist, sich selber - in Kenntnis der Folgen - so zu schädigen, wie es Raucher an sich selbst tun, von dem kann man nicht von vornherein erwarten, daß er gegenüber anderen wirklich Rücksicht übt. Es gibt bei vielen Raucherinnen und Rauchern, die uns gegenüber immer beteuern, sie seien doch rücksichtsvoll, eine Selbsttäuschung. Man kann sie jede Woche dabei ertappen, daß sie offenkundig in einer gewissen Schizophrenie leben. Kolleginnen und Kollegen, ich meine deshalb, die Debatte hier im Parlament würde erst richtig spannend, wenn sich die Raucherinnen und Raucher - davon gibt es leider Gottes viel zu viele - mit uns auf diese Diskussion auch wirklich einlassen würden. ({2}) Wir werden darüber eine wunderbare Debatte und eine wunderbare Ausschußberatung führen. Am Schluß wird die schweigende Rauchermehrheit - so fürchte ich ein bißchen - den Gesetzentwurf abblokken. Also versuchen wir, die Raucherinnen und Raucher in diese Debatte einzubeziehen. Vielleicht meldet sich hier ja noch einer zu Wort. Erst dann wäre es eine ehrliche und spannende Debatte. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Catenhusen, ich will Ihnen darauf kurz erwidern: Zum einen: Die wenigsten werden sich daran erinnern, daß es vor langer Zeit in der Bundesrepublik tatsächlich noch möglich war, Alkoholerzeugnisse auch aus Automaten zu kaufen. Es gab damals an vielen Orten Schnaps- oder auch Bierautomaten. Sie sind aber dann durch Gesetz verboten worden, und zwar seinerzeit mit dem Argument des Jugendschutzes. Wegen des Jugendschutzes darf Alkohol nur noch durch Menschen im Geschäft, am Kiosk oder in der Kneipe verkauft werden. Etwas ganz ähnliches wollen wir endlich auch im Hinblick auf die Zigarettenautomaten durchsetzen. Wir wollen diese gar nicht verbieten. Wenn der Zigarettenautomat in der Kneipe neben dem Tresen hängt, ist das völlig in Ordnung; wenn er aber neben der Schule hängt, wäre das künftig nicht mehr in Ordnung. ({0}) - Ja, ich weiß, darin stimmen wir überein. In einem anderen Punkt erlaube ich mir aber, Ihnen leicht zu widersprechen. Das betrifft nicht nur meine Fraktion, sondern hoffentlich auch alle anderen. In meiner Fraktion nämlich - und darauf bin ich stolz - haben diesem Gesetzentwurf Nichtraucherinnen und Nichtraucher genauso wie Raucherinnen und Raucher zugestimmt. Auch hier in der Debatte sitzen gegenwärtig in den Reihen meiner Fraktion - ich weiß das bei den meisten, lieber Herr Kollege Catenhusen - einige Raucher. Das mag ja doch auch bei Ihnen so sein. Lassen Sie uns doch bitte das Anliegen des Nichtraucherschutzes nicht als eine Frage begreifen, die Raucher und Nichtraucher spaltet, sondern als etwas, bei dem alle einigermaßen rücksichts- und verantwortungsvollen Menschen - egal ob Raucher oder Nichtraucher - zusammenstehen und sagen müssen: Bestimmte elementare Regeln und Schutzrechte wollen wir alle gemeinsam in diesem Land vereinbaren, damit wir andere nicht über Gebühr und unnötig schädigen. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich gestehe: Ich bin Gelegenheitsraucher - ich bin nicht nikotinabhängig -, stimme aber gegen das Nichtraucherschutzgesetz. ({0}) All die Argumente, die hier vorgetragen worden sind, empfinde ich ein bißchen als Schattenboxen. Es bestreitet doch überhaupt niemand die Gefährlichkeit des Rauchens. Es ist doch völlig unnötig, das hier als Gegenposition darzustellen, die nicht Ihren Antrag mittragen will. Wir stimmen sehr wohl mit dem Bereich überein, der in dem Lösungsvorschlag in den ersten zwei Absätzen des Gesetzentwurfs bezeichnet worden ist. Nur, die Konsequenz, die wir letztendlich daraus ziehen, ist eine andere als die Ihre. Denn wir sind nicht der Meinung, daß wir eine staatlich-gesetzliche Regulierung brauchen, sondern wir sind der Meinung, daß eine gegenseitige Rücksichtnahme wichtig ist, ({1}) daß man in einem Bereich, in dem man schon heute große Erfolge hat, in dem man weiß, daß es Möglichkeiten gibt, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln und in anderen öffentlichen Einrichtungen, nicht zwangsläufig auf Konfrontationskurs gehen muß, sondern daß man sehr wohl vernünftig miteinander umgehen kann, ({2}) um dem Nichtraucher, der sich tatsächlich belästigt fühlt, entsprechend Rechnung zu tragen. ({3}) Das, was Sie hier tun, ist illiberal. Es ist ein Setzen auf zusätzliches staatliches Handeln, wo wir eigentlich die Verantwortung der Menschen für ihre eigene Umgebung verlangen ({4}) und das in deren eigener Reglementierung und eigener Verantwortung geregelt haben wollen. ({5}) Es entspricht nicht meiner Auffassung - ich vertrete hier die übergroße Mehrheit meiner Fraktion - von Demokratie und Liberalität, daß die Freiheit des einzelnen durch den Staat dort eingeschränkt werden darf, wo es nicht unumgänglich ist. ({6}) Herr Sauer, ich habe mich über Ihre wirklich sehr sachliche Einführung gefreut. Der Herr Kollege Catenhusen hat hier eine Schärfe hereingebracht, die ich eigentlich gar nicht verstehen kann. ({7}) Wir sind uns der Gefährlichkeit des Rauchens doch alle bewußt. Das ist eine Frage, wie wir miteinander umgehen und ob wir hier wirklich den Staat brauchen. Von den Grünen erwarte ich nichts anderes, als daß sie alles reglementieren wollen. Das ist völlig klar. Das ist die Art, die wir von ihnen aus anderen Bereichen gewohnt sind.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Heinrich, können Sie einmal eine Pause machen? ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich mache gerne eine Pause.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich muß Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten. Gestatten Sie? - Bitte.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Frage geht in die Richtung, was Sie zum Beispiel in der Bahn machen wollen. Das ist ja ein öffentlicher Raum. Dort gibt es Verbote. Da gibt es Nichtraucher- und Raucherabteile. Sie sagen, diese Reglementierung sei nicht nötig. Wie stellen Sie sich denn vor, daß Nichtraucher in der Bahn geschützt werden, wo man ja nicht ausweichen kann? ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich möchte Sie fragen, ob Sie auch dem Kollegen Dr. Gysi eine Zwischenfrage gestatten. Dann machen wir das gleich mit, damit wir ein bißchen vorankommen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, mit Blick auf die Uhr ist das sicher sinnvoll.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, ich wollte nur der Ehrlichkeit halber zunächst darauf hinweisen, daß ich sicherlich das bin, was man einen abhängigen Raucher nennt. Ich rauche nicht nur gelegentlich. ({0}) Ich möchte aber zusätzlich darauf hinweisen, daß ich gerade deshalb davon überzeugt bin, daß wir den Schutz der Nichtraucherinnen und Nichtraucher gerade als Raucher permanent verletzen, wenn wir nicht staatliche Gebote bekommen, die uns klar auf diesen Schutz orientieren. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das ist jetzt aber genug an Hinweis. Jetzt die Frage!

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Frage ist: Wenn Ihre Logik stimmt, dann müßten Sie eigentlich auch für die Freigabe von Rauschmitteln etc., auch von solchen aus anderen Ländern, sein, weil Sie der Meinung sind, daß Überzeugung reicht und daß man nicht mit Verboten zu operieren braucht. Meine zweite Frage: Könnte es nicht sein, daß Sie weniger Liberalismus und Demokratie bewegen als die Interessen der Tabakindustrie? - Danke schön. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit den Interessen der Tabakindustrie habe ich nichts zu tun. Wir sind traditionell, durch die Historie unserer Gesellschaft, mit dem Tabak vertraut. Wir sind nicht mit dem vertraut, was Sie „andere Rauschmittel" genannt haben. ({0}) Deshalb ist es grundsätzlich nicht akzeptabel, daß Sie das eine mit dem anderen vergleichen. Zwar sind beide Suchtmittel, aber mit dem einen können wir umgehen - das haben wir gelernt -, mit dem anderen nicht. Von der Gefährlichkeit möchte ich gar nicht reden. Hier handelt es sich doch um völlig andere Dimensionen, die es uns verbieten, Rauschgift- und Tabakkonsum in einen Topf zu werfen. Herr Gysi, das ist die Antwort auf Ihre Frage. Zu der Frage von Herrn Dr. Wodarg in bezug auf die Bahn. Wir haben festgestellt, daß es beim Luftverkehr heute Nichtraucherflüge gibt. Das ist möglich gewesen. Das gleiche müßte auch bei der Bahn möglich sein, wenn die Bahn AG das will. Die Bahn AG braucht kein Nichtraucherschutzgesetz, um in ihren Waggons das Rauchen vollständig zu verbieten. ({1}) Ich spreche mich nicht dafür aus; ich lege nur dar, ob gesetzlicher Handlungsbedarf hier gegeben ist. Das ist keine Frage für den deutschen Gesetzgeber; es ist eine Frage für die Deutsche Bahn AG, nämlich die, ob sie hundertprozentig Nichtraucherwaggons will oder nicht. Insofern ist das als Antwort auf Ihre Frage eine klare Aussage. ({2}) - Was das soll? Das war die Antwort auf die Frage, wie man in öffentlichen Verkehrsmitteln einen entsprechenden Schutz vorsehen kann. Ich sage, daß es möglich ist, ohne Gesetz einen hundertprozentigen Schutz zu haben. Wir sehen das bei den Flügen der Lufthansa und anderen innerdeutschen Flügen. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Heinrich, es gibt weitere Wünsche nach Zwischenfragen. Ich rate aber dem Haus, diesen Wunsch künftig etwas zu dämpfen, damit wir die vorgesehene Zeit einigermaßen einhalten können. Bitte schön, Herr Kollege.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie gestatten, Herr Präsident: Das ist meine erste Zwischenfrage. Ich bin nicht für diejenigen verantwortlich, die vor mir möglicherweise die Zeit überzogen haben. Ich möchte ganz einfach meinen lieben Kollegen Heinrich fragen, ob es wirklich nur eine Frage ist, die an die Bahn AG zu richten ist, oder nicht auch eine Frage an diejenigen, die für die Gesundheit unserer Kinder, die in den Bahnabteilen sitzen, verantwortlich sind. ({0}) Unsere Kinder müssen nämlich mitrauchen und bekommen keinen Schutz von der Bahn AG und bisher auch nicht vom Staat. Weiterhin möchte ich fragen: Ist Ihnen bekannt, in welchem Maße Kinder geschädigt werden, wenn sie sich über viele Stunden in einem Raucherabteil aufhalten müssen, weil es dazu keine Alternative gibt? ({1})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Daß Sie dazu verurteilt sein sollen, mit Kindern, insbesondere mit Kleinkindern, in einem Raucherabteil zu sitzen, das sehe ich nicht ein. Wenn heute eine Familie eine Reise unternehmen will, dann kann sie sehr wohl ein Nichtraucherabteil buchen. ({0}) Sie bekommen eine entsprechende Reservierung, und dann können Sie im Nichtraucherabteil fahren. ({1}) Tun Sie doch nicht so, als ob die Deutsche Bahn AG entsprechende Reservierungen nicht berücksichtigen würde. Solche Reservierungen sind doch möglich. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ja erst die erste Lesung. Wir können uns ja noch intensiv unterhalten. Ich finde es auch hochspannend, wie die Diskussion weitergeht. Ich möchte zum Abschluß noch einmal ganz deutlich sagen, daß wir Liberalen erst dann auf gesetzliche Regelungen setzen, wenn es eine eindeutige wissenschaftliche Datenlage gibt. ({3}) Herr Sauer, Sie selber haben gesagt, daß es noch keine eindeutige wissenschaftliche Datenlage in bezug auf die Gefahren des Passivrauchens gibt. ({4}) Wir werden eine gesetzliche Regelung für eine solche Konfliktsituation, wie sie jetzt vorliegt, auf keinen Fall mittragen. Herzlichen Dank. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Heinrich, Sie haben gesagt, es gebe keine gesicherte wissenschaftliche Datenlage in bezug auf die Gefährlichkeit des Passivrauchens. Ich bin anderer Ansicht, und alle medizinischen Fachleute bestätigen die Gefährlichkeit des Passivrauchens. ({0}) Aber ich möchte ausdrücklich sagen: Selbst wenn das nicht nachgewiesen wäre - das ist es -, reicht für mich schon die Belästigung der Nichtraucher. Wie oft sind wir Nichtraucher in öffentlichen Gebäuden, in politischen Sitzungen, auf Parteitagen, bei Gericht oder wo auch immer damit konfrontiert worden, daß Raucher nicht bereit waren, mit dem Rauchen aufzuhören? Es gibt viele rücksichtsvolle Raucher. Sie haben auf die Rücksichtnahme abgestellt. Ich kenne viele rücksichtsvolle Raucher, die, wenn man sie darum bittet, aufhören zu rauchen. Aber es gibt auch die anderen. Ich möchte verhindern, daß immer die Nichtraucher dazu getrieben werden, zu quengeln und zu nörgeln, daß sie es sind, die bitten müssen: Hören Sie doch bitte auf zu rauchen. ({1}) Das will ich nicht mehr. Ich belästige andere Leute auch nicht. ({2}) - Mit meinen Reden zu Ihren Haushaltslöchern vielleicht; das gebe ich zu. ({3}) Ich möchte keinen Raucher missionieren, wie es in den USA geschieht. Wenn Raucher rauchen wollen, dann sollen sie es auch dürfen. Ich möchte aber nicht, daß andere dadurch belästigt werden. Wir wollen uns bei den rücksichtsvollen Rauchern bedanken. Es gibt aber auch die anderen. Deswegen möchte ich - ich bin Juristin; deswegen benutze ich das Wort - die Notwendigkeit, dies erklären zu müssen, im Grunde umdrehen: Derjenige, der nicht bepafft werden will, hat auch das Recht darauf und muß nicht die anderen darum bitten, das Rauchen zu unterlassen - wenn man Kinder dabei hat, erst recht nicht. ({4}) Ich habe über Jahre miterlebt, wie man bei der Lufthansa um einen Flug betteln mußte, auf dem nicht geraucht wurde. ({5}) - Das ist doch egal. Es ist doch nur vorbei, weil wir gedrängt und gedrängt haben. Dies ist eine Station, an der das Drängeln weitergeht. Bis heute können Sie bei der Lufthansa noch immer keine Interkontinentalflüge bekommen, auf denen nicht geraucht wird. Bei den amerikanischen Airlines geht das. Warum auch nicht? Die Beweislast muß bei dem liegen, der rauchen will. Die Beweislast soll nicht bei dem liegen müssen, der einen Raucher darum bittet, endlich mit dem Rauchen aufzuhören. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte nur noch einmal unterstreichen, daß ich durchaus zugestehe, daß es Belästigungen gibt. Das ist gar keine Frage. Was uns trennt, ist Ihr Ansatz, daß Sie eine Lösung per Gesetz wollen. Wir setzen auf die Einsicht. Das ist vielleicht mühsamer; das dauert vielleicht länger. ({0}) - Doch, wir haben Fortschritte erzielt. Der Hotel- und Gaststättenverband hat freiwillig einer klaren Regelung zugestimmt. Das zeigt doch, daß es möglich ist. Verzweifelt doch nicht gleich, sondern seht zu, daß es in diesem Bereich Fortschritte gibt. Daß der Hotel- und Gaststättenverband mittlerweile Nichtraucherzimmer anbietet und ermöglicht, daß Sie im Frühstückszimmer in aller Ruhe, ohne Belästigung durch Raucher frühstücken können - was ich jedem zugestehe; ich verstehe das doch -, zeigt, daß wir kein Gesetz brauchen, um dieses Problem zu regeln. Dieses Beispiel macht ganz deutlich, daß es ohne gesetzliche Regelung geht. Ich glaube, die grundsätzlichen Haltungen und Ansätze können wir heute nicht auflösen. Wir sind für eine liberale Rücksichtnahme gegenseitiger Art. Sie wollen ein Gesetz. Sie wollen das Ganze par ordre du mufti. Sie wollen mehr Bürokratie. Sie wollen ein Ordnungsrecht. Sie wollen all das, was wir nicht wollen. Wir wollen nicht mehr Staat, sondern wir wollen weniger Staat im unmittelbaren Verantwortungsbereich des einzelnen, wo es auch ohne geht. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort für eine weitere Kurzintervention hat die Kollegin Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, darf ich Sie darauf hinweisen, daß Sie, wenn Liberalität Ihr oberstes Prinzip in der Politik ist, das dann aber auch auf alle Rauschmittel anwenden müßten? Ansonsten ist das, was Sie vorgetragen haben, sehr unlogisch. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Haschisch noch um die Jahrhundertwende ein legales Rauschmittel in Deutschland war und die Menschen damals sehr wohl wußten, damit umzugehen. Daß es verboten wurde, hatte andere, wirtschaftliche Gründe. Das steht im Zusammenhang mit der Erfindung des Einsatzes des Heroins. Das war schon damals von sehr starken wirtschaftlichen Gründen bestimmt. Das gilt auch für die weitere Verdrängung von Hanf in der Produktion und Verarbeitung zum Beispiel von Schiffstauen. Sie haben gesagt, die Menschen müssen den Umgang damit lernen. Dann stellt sich für mich die Frage: Warum verbieten Sie dann den Umgang und selbst eine sachgerechte Information zu den anderen Rauschmitteln? Dazu gehören ein freier Zugang - zumindest bei Haschisch - und eventuell auch eine Probe. Auf Grund dessen, was Sie vorhin gesagt haben, muß ich annehmen, daß Sie mit anderen Rauschmitteln ebenfalls so frei umgehen können. Dazu gehört ein Eintreten zum Beispiel gegen die Suggestivwerbung. Es handelt sich ja nicht einfach nur um eine Werbung für Tabakwaren, sondern um eine wahre Suggestivwerbung. Eine solche gibt es noch immer bei Kinder- und Jugendvorstellungen im Kino, wo nach der Werbung auf einer schwarzen Leinwand steht: „Rauchen ist gefährlich für Ihre Gesundheit" - und das bei Disney-Filmen, wenn also Kinder im Kino sind, die noch nicht einmal lesen können. Ich denke, wir müssen der Fürsorgepflicht des Staates in vollem Umfang Rechnung tragen. Es geht nicht an, daß auf der einen Seite Verbote ausgesprochen werden, auf der anderen Seite aber, wenn es einem nicht paßt, Liberalität gepredigt wird. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss, PDS.

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, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen füllen sie buchstäblich Bände - wissenschaftliche Untersuchungen, die auf die Folgen des Passivrauchens aufmerksam machen, Lösungsvorschläge von Verbänden und Initiativen - ich erinnere nur an den Gesetzentwurf, den die Nichtraucherinitiative Deutschlands uns Abgeordneten schon 1992, in der 12. Legislaturperiode, zugestellt hat -, Aufforderungen von Nichtraucherinnen und Nichtrauchern, als Gesetzgeber endlich tätig zu werden. Lange genug, denke ich, wurde das Passivrauchen verniedlicht. Unfreiwillig den giftigen Tabakcocktail einatmen zu müssen ist nicht nur lästig. Nach den vorliegenden medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen kann an der Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens wohl nicht mehr gezweifelt werden. Zwangsweises Inhalieren des in die Umgebungsluft entweichenden Tabakrauchs verursacht Augenbrennen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Atemwegserkrankungen, Durchblutungsstörungen und Herzleiden. Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat wiederholt auf die zirka 50 krebserregenden Substanzen im Tabakrauch und die jährlich 400 infolge Passivrauchens an Lungenkrebs sterbenden Menschen verwiesen. Bemerkenswert finde ich die Feststellung des Bundesgesundheitsamtes, wonach das Krebsrisiko durch Passivrauchen mindestens hundertmal höher ist als das in Räumen mit einer Asbestkonzentration von 1 000 Fasern je Quadratmeter. Insofern hat der Slogan des Bundes gegen Zwangsmitrauchen durchaus seine Berechtigung: „Viel Angst, viel Furcht vor dem Asbest - doch Tabakrauch stinkt wie die Pest und gibt uns ebenso den Rest." ({0}) Auf jeden Fall rechtfertigen die Risiken passiven Zwangsmitrauchens für Nichtraucherinnen und Nichtraucher Maßnahmen zum Schutz des Rechts auf Gesundheit sowie ein Rauchverbot an Arbeitsplätzen und in öffentlichen Einrichtungen. Bekanntlich zeigen Appelle und Bitten nach Rücksichtnahme von Raucherinnen und Rauchern kaum eine Wirkung. Der Schutz von Nichtraucherinnen und Nichtrauchern ist nur über den gesetzlichen Weg durchzusetzen. An dieser Stelle sei auf die EG-Richtlinie von 1989 über das Rauchverbot in öffentlich zugänglichen und frequentierten Räumen verwiesen, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, im Wege der Gesetzgebung Maßnahmen zu treffen, die ein Rauchverbot in öffentlich zugänglichen und frequentierten geschlossenen Räumen sowie in allen öffentlichen Verkehrsmitteln beinhalten und die in den genannten Einrichtungen gegebenenfalls abzugrenzende Raucherbereiche und außerhalb dieser Bereiche im Konfliktfall das vorrangige Recht des Nichtrauchers auf Gesundheit vorsehen. Gesetzlicher Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz entlastet durch einen geringeren Krankenstand das Gesundheitswesen und die Wirtschaft, verbessert durch verminderte Schadstoffkonzentrationen in Innenräumen den Umweltschutz, entspricht den Anforderungen an einen modernen Rechts- und Sozialstaat und ist nicht zuletzt eine Angleichung an internationale Standards. Sie haben in der Debatte heute vormittag gebetsmühlenhaft das amerikanische Beispiel beschworen. Ich denke, hier sollte sich die Bundesregierung tatsächlich etwas an dem amerikanischen Vorbild orientieren. ({1}) Insofern sind - auch wenn sie gewiß noch nicht weit genug gehen - die beiden heute zur Debatte stehenden Gesetzentwürfe zu begrüßen. Übrigens finde ich es lächerlich, bei diesem zweifellos Fraktionsgrenzen sprengenden Thema nicht auch auf PDS-Abgeordnete zuzugehen. ({2}) Bekanntlich gibt es in Sachen Rauchen auch bei uns solche und solche, wobei ich Ihnen sagen will, daß sowohl die einen als auch die anderen bei uns für einen gesetzlichen Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz eintreten. Am weitergehenden Entwurf der Bündnisgrünen begrüße ich besonders die geforderte Begrenzung der Raucherzonen auf ein Viertel, was im übrigen dem Anteil der Raucherinnen und Raucher an der Bevölkerung entspricht, den vorgesehen Ausgleichsfonds für gesundheitliche Aufklärung und das festzuschreibende Werbeverbot für Hörfunk, Fernsehen und öffentliche Flächen. Den in der Begründung der Grünen gegebenen Hinweis darauf, daß Rauchverbote in der Praxis sehr schwer durchsetzbar sind, finde ich wichtig. Berechtigt ist auch der Hinweis der Bündnisgrünen, daß Rauchende nicht das Recht haben, andere zu schädigen, indem sie ihre Rechte auf Kosten Dritter durchsetzen, und daß das Recht der Nichtraucher vorzugehen habe. „Die Raucher dürfen als 29-Prozent-Mehrheit bestimmen, wo sich die Nichtraucher als 70-Prozent-Minderheit aufhalten dürfen."

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, Ihre Zeit.

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, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bin sofort fertig. - „Durch Zwangsberauchung habe ich als gesunder Mensch Behindertenstatus", formulierte treffend die Berliner Kämpferin gegen das Zwangsmitrauchen Irm Seufert. Meine Damen und Herren, als Abgeordnete tragen wir Verantwortung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und, so denke ich, speziell für die der Kinder, die als Passivraucherinnen und Passivraucher ganz besonders betroffen sind. ({0}) Da es in der Tat genügend Argumente für einen gesetzlichen Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz gibt, appelliere ich an Sie: Der Worte sind genug gewechselt, lassen Sie uns endlich Taten sehen!

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, bitte.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die vorliegenden Entwürfe sind so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner. Deshalb könnten wir die parlamentarischen Beratungen in entsprechendem Tempo erfolgreich beenden. Wir sollten ein Zeichen setzen und -

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Würden Sie jetzt bitte Ihren letzten Satz sagen? Frau Kollegin, ich meine es ernst. Sie können nicht sagen, Sie kämen zum Schluß, und unentwegt weiterreden. Sie haben jetzt mehr als eine Minute überzogen. Das kann ich nicht hinnehmen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich denke, bei solch einem Thema kann man vielleicht -

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Es tut mir leid. Ich habe Regeln, die ich zu beachten und durchzusetzen habe.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lassen Sie uns dieses Gesetz zum diesjährigen Weltnichtrauchertag, dem 31. Mai, in Kraft setzen. Es wäre nur der erste Schritt zum Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Peter Basten, CDU/CSU.

Franz Peter Basten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002623, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Nichtraucher - mit gelegentlichen Einschränkungen. Der Tabakgenuß löst bei mir weder Sucht noch Leidenschaft aus. Ich bin nicht abhängig, aber, so gebe ich zu, ich genieße. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Bemerkung Bezug nehmen, die vorhin gemacht worden ist: Tabak ist ein Genußmittel und kein Rauschmittel. ({0}) Ich bitte darum, die Debatte so fair zu führen, daß wir die Debatte über Rauschmittel unter gegebenen Umständen als solche führen, aber hier über Genußmittel reden. Man sollte das fairerweise, um der Sache willen, nicht miteinander vermischen. ({1}) - Das ist auch ein Genußmittel. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin auch kein Lobbyist der Tabakindustrie. Das Genußmittel meines Wahlkreises ist im übrigen viel schöner als Tabak, nämlich Wein. Dennoch bin ich ein entschiedener Gegner beider Vorlagen zum Nichtraucherschutz.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Basten, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häfner?

Franz Peter Basten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002623, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Basten, darf ich Ihre Argumentation, es handele sich bei Tabak doch nicht um ein Rausch-, sondern nur um ein Genußmittel, entnehmen, daß Sie an den Drogen offensichtlich der Rauch stört und nicht die gesundheitsschädigende Wirkung? Denn das ist ja wohl das gleiche. ({0})

Franz Peter Basten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002623, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die gesundheitsschädigende Wirkung der Drogen ist um ein vielfaches größer und hat ganz andere Wirkungen als die gesundheitlichen Schäden von Genußmitteln. Auch das ist wissenschaftlich erwiesen. Herr Kollege Häfner, ich glaube, darüber brauchen wir heute gar nicht zu diskutieren. Ich erkenne ausdrücklich an, daß Nichtraucher Rücksicht verdienen. Aber müssen wir denn die Ausübung menschlicher Anstands- und Rücksichtspflichten ausdrücklich kodifizieren? Die beiden vorgelegten Entwürfe sind der sichtbare Beweis dafür, daß wir uns nicht mehr zutrauen, als mündige, selbständige und vernünftige Menschen - rauchende und nichtrauchende - unterschiedliche Interessen und Lebensgewohnheiten in Eigenverantwortung zu koordinieren. Müssen wir zur Erreichung dieser Ziele den Weg gesetzlicher und administrativer Entmündigung gehen? Meine Vorstellung von freien Menschen, die verantwortlich in einer freien Gesellschaft leben, ist, daß wir nicht von der Wiege bis zur Bahre nach dem Staat rufen. Und es gehört im übrigen ja auch gar nicht zu unseren Grundüberzeugungen, so zu verfahren. Im Gegenteil: Wir proklamieren immer wieder die Freiheit. Gleichzeitig jedoch verregulieren wir alle Lebenssachverhalte. Ich will, daß die rechts- und regelungsfreien Räume möglichst groß sind, daß wir nur dort regeln, wo ein unabweisbares Regelungsbedürfnis besteht. ({0}) Ich sehe im vorliegenden Falle ein solches unabweisbares Regelungsbedürfnis überhaupt nicht. ({1}) Im Gegenteil: Wir schaffen zusätzliches Konfliktpotential zwischen Rauchern und Nichtrauchern. Vor allen Dingen schaffen wir eine gesetzliche Regelung, die niemand einhält, die niemand kontrollieren kann und will, weil die Leute - lassen Sie mich das so salopp sagen - auch gar nicht so bekloppt sind, wie wir manchmal glauben. Ich verweise auf das fehlgeschlagene Experiment in Frankreich. Frankreich hat eine solche Gesetzgebung, und kein Mensch hält sich daran. Die Folge bei uns wird eine ähnliche sein. Wir machen uns mit einer solchen Initiative bei der Bevölkerung nur lächerlich. Glauben Sie es mir, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Die Begründung des Entwurfs auf Drucksache 13/ 6100 läßt die Katze aus dem Sack. Dort heißt es: Angesichts der Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens wäre ein absolutes Verbot von Tabakerzeugnissen an sich die richtige Konsequenz. Es geht offensichtlich nicht nur um Nichtraucherschutz. Die Raucher sollen gezwungen werden, weniger zu rauchen. Ich will aber nicht vor mir selbst geschützt werden, lieber Gesetzgeber. ({3}) Zu den Entwürfen im einzelnen. Ich bleibe beim Entwurf auf Drucksache 13/6100. Der grüne Entwurf ist keinen Deut besser. Er setzt lediglich noch ein paar Skurrilitäten drauf. Sie wollen gleich auch noch eine Abgabe erheben. Hier ein paar praktische Fälle - da geht es selbst über die hier beschriebene Zielsetzung weit hinaus -: Ich sitze in der Kanzlei und bearbeite morgens Akten und berate mittags Mandanten. Zumindest nach dem Gruppenentwurf auf Drucksache 13/6100 gilt für meinen Arbeitsraum ein ganztägiges Rauchverbot. Wenn sich das Arbeitszimmer in das Wahlkreisbüro verwandelt, gilt das gleiche. Ich meine, eine vernünftige Verständigung - so praktiziere ich es auch - mit Mandant und Petent könnte das Problem auch ohne gesetzliche Regelung lösen, und sie löst es auch. ({4}) Oder ein anderer Fall: Drei Schreibkräfte sitzen in einem Arbeitszimmer - zwei Raucher, ein Nichtraucher. Der Nichtraucher sagt: Mich stört Zigarettenrauch überhaupt nicht; ich mag ihn. Er kann nicht auf seine Kosten kommen. Der Gesetzgeber sagt nämlich: Rauchen verboten. Ich frage: Weshalb will der Gesetzgeber diesen Nichtraucher zu seinem Glück eigentlich zwingen? Das ist auch die Folge dieses Gesetzentwurfs. Das muß man einmal deutlich sehen. Sie haben hier Dinge formuliert, die weit über das hinausgehen, was Sie als Ihre Ziele propagieren. Es ist ein schlecht gemachter Gesetzentwurf, auch gesetzgeberisch technisch schlecht gemacht. Überarbeiten Sie ihn, bevor wir in weiteren Lesungen darüber noch einmal reden. ({5}) Glaubt denn einer der Gesetzesinitiatoren, so ein mittelständischer Unternehmer oder Selbständiger verfüge über so viel Raumkapazität, daß er noch gesonderte Raucherzimmer einrichten könne? Wer rauchen will, muß auf die Straße. Doch das darf er nicht, weil er während der Arbeitszeit seinen Arbeitsplatz nicht einfach verlassen darf. Wie soll die Einhaltung des Gesetzes kontrolliert werden? Wie soll sie überwacht werden? Soll der Chef in regelmäßigen Abständen Kontrollgänge durchführen und fragen: Wer hat hier geraucht? ({6}) Das erinnert mich an meine Zeit als Internatsschüler. Der unzufriedene Nichtraucher, der auf dem Gesetz besteht, kann natürlich auch die Polizei rufen. Die schreitet ein, nimmt die Ordnungswidrigkeit auf und leitet ein Verfahren ein. Da kann ich Ihnen nur sagen: Gute Nacht, Frieden am Arbeitsplatz! Gute Nacht, dereguliertes Deutschland! Ich kann Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie diese Gesetzentwürfe vorgelegt haben, nur zurufen: Ziehen Sie Ihre Gesetzentwürfe zurück, und lassen Sie die Tassen im Schrank! ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Kollege Burkhard Hirsch, F.D.P.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin meiner Fraktion für die Minuten dankbar, die sie mir einräumt, um für die Minderheit der Fraktion zu sprechen. Deswegen sage ich gleich am Anfang: Es gilt auch das geschriebene Wort, weil ich kürzen muß, was ich sagen will. Ich kann die Emotionen nicht verstehen. Es wird eine ernsthafte Debatte darüber beginnen, ob das Passivrauchen wirklich schädlich ist - dessen sind wir uns sicher - und in welchem Umfang. Allein davon sollten wir die endgültige Entscheidung abhängig machen, wie wir uns in dieser Frage verhalten. Meine Fraktion sagt, das gehe auch alles im Wege von freiwilligen Vereinbarungen. Das ist aber schon deswegen nicht überzeugend, weil es die Raucher und die Nichtraucher schlechthin, mit denen man Vereinbarungen schließen könnte, gar nicht gibt. Es gibt vielmehr eine Vielzahl von Menschen, die rauchen oder nicht rauchen, die sich vernünftig verhalten oder nicht, die Rücksicht nehmen oder denen die Interessen anderer völlig gleichgültig sind. Wenn alle Menschen sich verantwortungsbewußt oder wenigstens vernünftig verhalten würden, könnte man selbst auf den größten Teil der Zehn Gebote verzichten, bestimmt auch auf fast alle Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder des Ehegesetzes. ({0}) Ich bin seit fast 30 Jahren verheiratet und habe die familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches noch nie gebraucht. So wird es den meisten von Ihnen auch gehen. Aber wir kämen doch deswegen nicht auf die Idee, diese Bestimmungen aufzuheben und zu sagen, daß man das auch durch freiwillige Vereinbarung regeln könnte. Wozu macht man eigentlich ein Gesetz? ({1}) Rechtssätze sind Konfliktnormen, also Regelungen für die Fälle, in denen es kein Einvernehmen gibt. So schützt der Gesetzgeber deswegen bestimmte Interessen und Rechtsgüter durch seine Entscheidung, weil sie wichtig sind, weil man Vereinbarungen nur zwischen gleichen Partnern treffen kann und weil er es dem einzelnen in vielen Fällen nicht zumuten will, sich um Vereinbarungen zu bemühen, bei denen dieser den anderen unterlegen ist oder in denen dieser einfach keinen Partner findet, mit dem man etwas vereinbaren kann. Wie soll ich in einer Behörde mit Publikumsverkehr vereinbaren, ob dort geraucht werden darf oder nicht? Ein Blick in die arbeitsrechtliche Rechtsprechung, Herr Kollege, zeigt in aller Einzelheit, daß es eben dann nicht angeht, dem einzelnen Arbeitnehmer einen Arbeitsgerichtsprozeß mit allen Folgen, die das im Erwerbsleben hat, zuzumuten, wenn es sich um etwas wirklich Schädliches handelt. ({2}) Deswegen muß man eindringlich darauf hinweisen, daß es hier nicht um irgendeine Läßlichkeit geht oder darum, auf gesetzgeberischem Weg Höflichkeiten zu erzwingen. Vielmehr geht es um den Schutz der Gesundheit von Menschen, die ohne eine solche Entscheidung gezwungen sind oder gezwungen werden, am Arbeitsplatz, in Verkehrsmitteln, in Behörden gegen ihren Willen mitzurauchen oder sich sonst durch Arbeitsgerichtsprozesse hindurchzuquälen und sich der Anfeindung derjenigen auszusetzen, die vom Nikotin abhängig sind und das verdrängen. Wer rauchen will - da stimme ich Ihnen völlig und ohne jede Einschränkung zu -, soll es tun, bis er umfällt. Das ist mir egal. Sie können es wirklich machen. Aber es gibt kein Recht, andere gesundheitlich zu schädigen. ({3}) Deswegen wollen wir für das Recht derjenigen eintreten, die nicht rauchen wollen und die nicht dazu gezwungen werden dürfen. Das ist das, was wir wollen. Wenn Sie uns im Laufe der Gesetzgebung Vorschläge machen wollen und können, wie man den Text verbessern kann: Herzlich willkommen. Sie sind dazu eingeladen. Meinem lieben Kollegen Heinrich möchte ich sagen: Lieber Kollege, wir sollten nicht am Anfang einer Beratung eines Gesetzes sagen: Das lehnen wir ab. Vielmehr sollte man erst einmal sehen: Was zeigen die Beratungen, kann man es verbessern, hanDr. Burkhard Hirsch delt es sich um eine Lappalie oder um Gesundheitsfragen? Dann erst sollte man entscheiden. Ich werde dafür eintreten, möglichst viele Kolleginnen und Kollegen dafür zu werben, diesem Gesetz zuzustimmen, damit wir dafür eine Mehrheit bekommen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/6100 und 13/6166 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Gruppe der PDS Kontinuierliche Berichterstattung über Einkommens- und Vermögensreichtum in der Bundesrepublik Deutschland ({0}) - Drucksache 13/6527 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({1}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi, PDS.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abgeordnetengruppe der PDS hat einen Antrag vorgelegt, der in gewisser Hinsicht auch vorbeugende Wirkung haben soll. Wie wir wissen, hat die Koalition die Vermögensteuer am 1. Januar 1997 abgeschafft, natürlich unter anderem mit der Folge, daß es künftig keine statistischen Erhebungen mehr über Vermögen geben wird, weil dieses nicht mehr erfaßt ist. Eine der Folgen davon wird sein, daß, wenn zum Beispiel die Opposition Vorschläge zu steuerrechtlichen oder anderen Veränderungen einbringt und versuchen will, zu berechnen, welche Folgen das in der Gesellschaft haben kann, sie allein auf unseriöse Schätzungen angewiesen ist, weil es überhaupt keine statistischen Erhebungen über Reichtum und Vermögen in der Gesellschaft gibt. Dann würde im übrigen die Koalition kommen und sagen, daß diese Forderung zur steuerrechtlichen Änderung entgegen den Annahmen der Opposition viel weniger oder gar nichts einbringen würde, und würde uns sozusagen des Dilettantentums beschuldigen, obwohl die Voraussetzungen, daß wir dort nicht mehr sachkundig exakt Auskunft geben können, darin liegen, daß es keine Erfassung über Reichtum und Vermögen gibt, die es ermöglicht, solche Vorschläge seriös zu unterbreiten und hinsichtlich der Folgen auch zu berechnen. - Das ist der eine Grund, weshalb wir diesen Antrag gestellt haben. Der zweite hängt natürlich mit den Veränderungen dieser Gesellschaft zusammen. Seit Jahren ist es so, daß auf der einen Seite der Reichtum in der Gesellschaft wächst, auf der anderen Seite wächst Armut, zum Teil auch Not. Es gehört einfach zu einem kompletten Bild der Gesellschaft, daß man nicht nur Armutsberichte abgibt - wobei übrigens die Kirchen, wie ich finde, eine sehr positive Rolle spielen -, sondern daß man sich natürlich auch mit dem Reichtum in einer Gesellschaft befaßt. Dies ist auch erforderlich, um zu wissen: Was ist eigentlich zum Verteilen da? Nimmt der Reichtum zu? Konzentriert er sich in immer weniger Händen, oder nimmt er ab? Wird er, durch welche Umstände auch immer, gerechter verteilt? Weil es in diesem Hause überhaupt nicht üblich ist, einen Reichtumsbericht abzugeben, über die Vermögensentwicklung, auch über die Konzentration von Geld und anderen Vermögenswerten in der Gesellschaft etwas zu sagen, halten wir es erforderlich, daß der Bundestag die Bundesregierung auffordert, jährlich auch einen Reichtumsbericht diesem Bundestag vorzulegen. Dieser Reichtumsbericht könnte dann für uns die Grundlage sein, zu bewerten, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Armut und der Zunahme von Reichtum gibt, und er könnte die Grundlage sein, Veränderungen in der Verteilung des Reichtums innerhalb dieser Gesellschaft zu fordern. Ich bleibe dabei, daß derjenige, der wirksam Armut bekämpfen will, auch Reichtum begrenzen muß. Anders wird es nicht gehen. ({0}) Aber dazu muß man etwas wissen, und dazu müssen wir den Reichtum in der Gesellschaft kennen. In dem Maße, wie Sie die statistischen Erhebungen dazu zurückziehen, werden wir diesbezüglich auskunftsunfähiger. Dabei kann es nicht bleiben. Ich nenne Ihnen nur noch ein Beispiel. Wir haben einmal versucht, herauszubekommen, wie eigentlich die Entwicklung der Zahl der Einkommensmillionäre ist. Die Statistik reicht bis in das Jahr 1989. Danach erfahren Sie von Bundesbehörden nichts, Sie sind auf Schätzungen von wissenschaftlichen Instituten angewiesen, die uns sagen, daß zum Beispiel die Zahl der Einkommensmillionäre um 40 Prozent zugenommen hat. Wenn ich das hier sage, können Sie es natürlich bestreiten und sagen: Das stimmt gar nicht. Ich kann dann auch Ihre Aussage nicht widerlegen, weil es dazu keine statistischen Erhebungen gibt. Dabei kann es unmöglich bleiben. Eine Gesellschaft ist verpflichtet, statistisch die Armut zu erfassen, sie ist verpflichtet auch das Lebensniveau des gesamten Volkes zu erfassen. Dazu gehört aber auch die Erfassung von Reichtum, um Möglichkeiten zur Umverteilung zu erschließen. Hier wollen wir aber noch gar keine Umverteilung fordern, hier geht es nicht um eine soziale Gesetzgebung. Hier geht es nur darum, daß die Bundesregierung verpflichtet wird, künftig einmal jährlich einen Reichtumsbericht vorzulegen. ({1}) Wenn Sie dazu nein sagen sollten, dann sage ich Ihnen gleich, daß es dafür nur einen einzigen Grund geben kann: daß Sie sich des Reichtums in dieser Gesellschaft und erst recht seiner Zunahme schämen. Danke schön. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Heinz Seiffert, CDU/CSU.

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, Sie sagen, man muß wissen, was zum Verteilen eigentlich da ist. Sie sagen „Reichtum begrenzen". In dieser Freiheitsund Wirtschaftsordnung ist privates Eigentum und Privatvermögen ein konstitutives Element. Es ist deshalb eine der wichtigsten Aufgaben veranwortungsvoller Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu setzen, daß möglichst jeder Eigentum und Vermögen bilden kann. Hiervon hängt ab, inwieweit der einzelne dann eigenverantwortlich sein Leben gestalten kann oder ob er auf Unterstützung durch den Staat angewiesen ist. Mit der Garantie, sich nach eigenen Kräften Eigentum zu schaffen und zu erhalten, nimmt das Grundgesetz soziale und ökonomische Ungleichheiten ganz bewußt in Kauf. Natürlich sind die Möglichkeiten und der Wille des einzelnen zur Bildung von Vermögen unterschiedlich verteilt. ({0}) Vermögensbildung resultiert aus der allgemeinen Handlungsfreiheit eines jeden Menschen und kann doch nicht politisch verordnet oder zugeteilt werden. Politik in der sozialen Marktwirtschaft muß sich fragen, inwieweit solche Unterschiede toleriert werden können oder inwieweit die Politik aufgerufen ist, Korrekturen für eine sozial noch gerechtere Eigentumsordnung anzubringen. Dies fordert im übrigen auch die Sozialbindung des Eigentums und den Sozialstaat heraus. Wir stellen uns dieser Herausforderung. Unsere Politik ist gekennzeichnet vom Bestreben, Rahmenbedingungen für eine gerechtere Verteilung der Vermögen zu schaffen. Das gilt für die Bildung von Geldvermögen - hier verweise ich auf die staatliche Vermögensbildung -, dies gilt für die Verbesserung der schulischen wie außerschulischen Bildung durch Ausbildungsförderung, duales Bildungssystem, neuerdings sogar das Meister-BAföG. Hier werden für den einzelnen Bedingungen geschaffen, die es ihm ermöglichen, sein Leben individuell zu gestalten und auch zu Vermögen zu kommen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Seiffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heuer, PDS? ({0})

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Wir werden diese Politik auf jeden Fall fortsetzen und die Rahmenbedingungen zur Vermögensbildung - ich sage es noch einmal - auf breiter Basis weiter verbessern. Bei allen Problemen von Armut, die wir auch in der Bundesrepublik Deutschland haben, lassen sich diese gottlob nicht mit denen in den Armutsregionen der Welt vergleichen, wie Sie es in Ihrem Antrag ansprechen. Auch die sogenannten Reichtumsquellen in diesen Ländern, die zum Teil auf wenig demokratischen Strukturen beruhen, erlauben keinen Vergleich mit der Vermögensbildung in unserem Rechtsstaat und in dieser sozialen Marktwirtschaft. Ein solcher Vergleich spräche unserem Sozialstaat und unserem in der Welt anerkannten sozialen Netz hohn. Ihn zu fordern zeugt von wenig Kenntnissen der tatsächlichen Situation. Es wäre gerade in Deutschland, das die Antragsteller selber als eines der reichsten Länder der Erde bezeichnen, bitter nötig, einen allgemeinen Konsens für eine Politik herzustellen, in der Eigenverantwortung und eigene Leistung im Vordergrund stehen und in der der Sozialstaat dort eingreift, wo die Eigenverantwortung Probleme nicht zu lösen vermag. ({0}) Wir versuchen dies mit der Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Dies unternehmen wir in der Gesundheitsreform und mit einer Reform des Rentensystems. Wenn der Staat nicht mehr für alles und jedes einstehen soll und die dafür erforderlichen Mittel seinen Bürgern beläßt, dann verbessern wir die Chancen jedes einzelnen Bürgers in allen Einkommensgruppen erheblich, sich selber Vermögen zu bilden. Dies ist der Weg, wie wir den Wohlstand für alle in unserer sozialen Marktwirtschaft mehren wollen. Dazu brauchen wir keinen weiteren bürokratischen Bericht. Neue Statistiken bringen keine gerechtere Vermögensverteilung, zumal in einer Zeit, wo wir dringend auf den Abbau von Bürokratie angewiesen sind. Wir lehnen diesen Antrag also ab, weil er zur Problemlösung völlig ungeeignet ist. Wir lehnen ihn aber auch ab, weil er eine Haltung offenbart, die wir keinesfalls mittragen können und wollen. Er zielt in der Wirklichkeit nicht auf die Lösung sozialer Probleme ab, sondern auf die Erzeugung einer Neidideologie und auf die Wiederbelebung eines längst überwundenen Klassendenkens in unserer Gesellschaft. ({1}) Auch die Damen und Herren Antragsteller müssen sich daran gewöhnen, auch wenn es ihnen offensichtlich schwerfällt, daß es in der Rechts- und Gesellschaftsordnung dieses Grundgesetzes keine willkürliche Sozial- und Wirtschaftslenkung gibt, wie es anderswo - wie man weiß, ohne größeren Erfolg - der Fall gewesen ist. Auch Sie von der PDS müssen sich daran gewöhnen, daß Eigentum und Vermögen im Rechtsstaat Grundlagen der Privatautonomie sind. Das privatnützige Streben und Gestalten des einzelnen brauchen wir zur Erhaltung und zur Gestaltung der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Der Staat kann nur, wie wir es tun, versuchen, mit seiner Politik die Rahmenbedingungen zu gestalten, die es jedem ermöglichen, Vermögen zu bilden, aber auch Anreize geben zur Vermögensbildung. Der Hauch des Klassenkampfes, der durch diesen Antrag weht, kann dies mit Sicherheit nicht leisten. Die mit diesem Antrag angestrebte Politik würde nur noch mehr dazu beitragen, daß Vermögen in andere Länder abwandert und uns in der Bundesrepublik Deutschland für die Investitionen nicht mehr zur Verfügung steht. ({2}) Eine solche Politik vergißt, daß privates Vermögen nicht etwa ein auszumerzendes Übel, sondern eine zwingende Notwendigkeit für unsere Unternehmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen ist. Auch deshalb werden wir den Antrag natürlich ablehnen. ({3}).

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich erkläre es lieber gleich öffentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es gab einen Antrag auf eine Kurzintervention. Alle hier im Hause wissen, daß die CDU/CSU eine Fraktionssitzung hat. Auf solche Dinge nehmen wir üblicherweise Rücksicht, indem wir die Debatten nicht verlängern. ({0}) Deshalb mache ich von meinem Ermessen Gebrauch: Der Präsident kann Zwischenbemerkungen zulassen; er muß aber nicht - und er tut es nicht. ({1}) - Ich habe Sie nur deswegen angeguckt, weil Sie der Chef sind. Das Wort hat jetzt der Kollege Herbert Meißner, SPD.

Herbert Meißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus, daß die „Zahl der Woche" des Statistischen Bundesamtes vom 12. November 1996 die PDS veranlaßt hat, Ihren Antrag auf Drucksache 13/6527 zu stellen. Die Gruppe der PDS hat einen Antrag zu einem Reichtumsbericht in sage und schreibe 17 Zeilen als Aufforderung an die Bundesregierung formuliert. ({0}) - Diese Begründung steckt aber dahinter. Wir Sozialdemokraten haben diesem Thema bereits in der 12. Wahlperiode, besonders aber in der jüngsten Zeit durch viele Kleine und Große Anfragen unsere besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Erstellung von zuverlässigen Daten über Einkommen, über Vermögen, die Aussagen über Arbeitsplätze, Arbeitslosigkeit und die sich daraus ergebenden sozialpolitischen Folgen sind äußerst wichtige Themen. Diese Fragen können nicht nur unter bundespolitischen Aspekten gesehen werden. Nein, sie müssen auch unter europäischen, vielleicht sogar unter weltweiten Aspekten gesehen werden. Wir Sozialdemokraten haben unter anderem in unserem letzten Antrag zu diesem Thema vom 29. Juni 1995 in einer Kleinen Anfrage die „Effektive Belastung der Steuerpflichtigen durch die Einkommensteuer" hinterfragt. In einer Kleinen Anfrage vom 20. September 1995 haben wir die „Entwicklung der Aufkommen bei der Vermögen- und Erbschaftsteuer" hinterfragt. In einer Großen Anfrage vom 21. September 1995, „Entwicklung der Vermögen und ihre Verteilung", haben wir Sozialdemokraten uns ebenfalls mit diesem Thema ausführlich beschäftigt. ({1}) - Das ist natürlich ein Fleißkärtchen wert. Da haben Sie recht. ({2}) Außerdem gibt es weitere Anträge und Anfragen, wie zum Beispiel die Kleine Anfrage über „Die wirtschaftliche Situation von Kindern und Familien", die beim Reichtum ebenfalls eine äußerst wichtige Rolle spielen. Es ist eindeutig festzustellen, daß neben der wichtigen und unerläßlichen nationalen Bedeutung eine internationale Betrachtung viel Sinn macht. Von besonderer Bedeutung ist aber nicht nur der Reichtum. Von besonderer Bedeutung ist die Armut in der reichen Bundesrepublik. Erstaunlicherweise wurden im November 1996 diesbezüglich statistische Daten des Jahres 1992 veröffentlicht. Dies veranlaßt mich zu der Frage, ob denn das Statistische Bundesamt in der Erstellung von so wichtigen statistischen Daten immer mehrere Jahre hinterherhinkt. Das ist eine aus meiner Sicht beeindruckende Negativleistung eines Bundesamtes. Man muß tatsächlich erschrocken sein, wenn die Bundesregierung anhand derartiger Daten ihre AufHerbert Meißner gaben zu lösen versucht, und das tut sie nach unserer Auffassung wohl manchmal. Wenn also Zahlenmaterial mit mehrjähriger Rückständigkeit benutzt wird, kann man nur Schlimmes befürchten. Dennoch ist die „Zahl der Woche" beeindruckend, insbesondere wenn die PDS dazu von der Bundesregierung einen Reichtumsbericht fordert. Von den Einkommensmillionären, deren Zahl von 1989 bis 1992 - sie wird nach Angaben des Amtes nur alle drei Jahre erhoben - um 38 Prozent auf über 25 000 gestiegen ist, sind etwa 300 aus den neuen Bundesländern. Bereits im Februar 1996 gab es nach seriösen Schätzungen etwa 150 000 Millionäre in der Bundesrepublik Deutschland. Heute dürfte die Zahl der Einkommens- und Vermögensmillionäre die Marke 200 000 bereits überschritten haben. Dieser sprunghafte Anstieg von Millionären in Deutschland auf der einen Seite hat auf der anderen Seite einen dramatischen Anstieg von Haushalten im sogenannten Armutsbereich, sicherlich auch von Sozialhilfeempfängern zur Folge. Dieser mittelbare Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut in der Bundesrepublik führt neben vielen gesellschaftlichen Verwerfungen auch zu einer gefährlichen, aber tatsächlichen Spaltung der Gesellschaft. Betrachten wir die Situation weiter, so kann man nur sorgenvoll in die Zukunft schauen. Bei über 4,6 Millionen Arbeitslosen - Tendenz: immer noch steigend - werden auch die Zahlen der Armen und Sozialhilfeempfänger weiter steigen. Ich möchte noch einmal auf unsere Große Anfrage zur Armut in der Bundesrepublik Deutschland zurückkommen. Wenn in unserer Gesellschaft, die über einen enormen Reichtum verfügt, immer mehr Menschen in existentielle Not geraten, dann ist eine gesellschaftliche Schieflage entstanden, die Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, zu verantworten haben. In Ihrer Antwort, die Sie dazu gegeben haben, stellen Sie aber fest, daß Armut und soziale Ausgrenzung für die Politik der Bundesregierung eine besondere Herausforderung bedeuten. Sie behaupten weiter, daß Sie in der Vergangenheit Ihre Beiträge zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung geleistet haben und auch in der Zukunft leisten wer den. Sie stellen weiter fest, daß Armut in der Bundesrepublik allerdings nicht als Mangel an Mitteln zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, zu verstehen ist. An anderer Stelle heißt es wörtlich: „Auch die Zahl der Sozialhilfebezieher ist kein Armutsindikator. " Ich gebe Ihnen den Rat: Gehen Sie doch einmal zum Hauptbahnhof Bonn. Sie werden in kürzester Zeit feststellen können, daß dort Armut vorhanden ist, die es nach Ihrer Definition überhaupt nicht geben dürfte. ({3}) Oder sind das alles Wohlhabende, die nach ein paar Groschen betteln? In Ihrer unendlichen Weisheit sind die Verringerung von Sozialleistungen und jetzt auch noch die Besteuerung von Renten Ihre neuesten Rezepte. Gegen demographische Veränderungen, die es zweifellos gibt, ist unverändert die Verlängerung der Lebens-. und Wochenarbeitszeit Ihr ernsthaftes Rezept. Sie betreiben eine Politik der sozialen Kälte. Sie betreiben eine Umverteilung von unten nach oben. ({4}) In dieser Aussage liegt der eigentliche Knackpunkt der Zusammenhänge. Das zeigt die Notwendigkeit von Erhebungen zuverlässiger statistischer Daten über Armut und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist von besonderer politischer Bedeutung, wenn die Gruppe der PDS einen Antrag zu einem Reichtumsbericht an die Bundesregierung stellt. In einem Reichtumsbericht kann die CDU ganz wunderbar feststellen, daß es Reichtum in der Bundesrepublik in Hülle und Fülle gibt. ({5}) Bei nahezu 200 000 Millionären ist diese Tatsache für viele Bereiche der Wirtschaft als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme von besonderer Art zu erkennen. Die Kürzungen der Mittel für Forschung und Bildung führen unter anderem zu einem weiteren Arbeitsplatzabbau für Professoren an Fachhochschulen und Universitäten. Ob aber der Zuwachs an Mitteln für Professoren an Eliteschmieden in Arlington oder Cambridge oder an den eidgenössischen Privatschulen in der Schweiz eine Verbesserung für deutsche Professoren hervorruft, ist fraglich. ({6}) Außerdem ist es eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Immobilienbeschaffer oder Makler, natürlich weltweit. Und es kann auch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für besonders findige Steuerberater gelten, um weitere Steuerschlupflöcher für Vermögende zu finden. Natürlich werden auch die Security-Firmen von den weiteren Beschaffungsmaßnahmen profitieren, denn sie müssen den Reichtum mit immer mehr Leuten schützen. Das gilt natürlich auch für die Branche der Bodyguards, die für den Schutz ganzer Familienstämme notwendig ist. Nicht erst seit heute wissen wir, daß der Generalsekretär der CDU, Hintze, bei seiner Suche nach eventuellen Gesinnungsgenossen nicht nur das bekommt, was er gerne haben möchte, sondern auch - wie erst jüngst passiert - das nimmt, was er bekommen kann. Nicht nur wir, sondern auch die Damen und Herren der Presse sind bereits jetzt neugierig, ob eine neue textile Farbkombination mit rot-schwarzen Ringelsöckchen in Frage kommt. Wir lehnen diesen Antrag zunächst ab. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe der Debatte mit wachsender Fassungslosigkeit gelauscht. ({0}) Auch ich bin der festen Überzeugung, daß man von der PDS immer die finstersten Machenschaften erwarten muß. Als ich die Rede des Kollegen Seiffert gehört habe, habe ich mich gefragt, ob die jetzt gerade den Sozialismus ausrufen. Daraufhin habe ich noch einmal den Antrag der PDS zur Hand genommen. Kollege Seiffert, die fordern einen Bericht über Einkommen und Vermögen. Sie können dazu sagen, das sei Ihnen zu viel Arbeit; aber Sie müssen sich deswegen doch nicht zum Apologeten des Reichtums und der Reichtumskonzentration machen. Machen Sie hier doch einmal halblang! ({1}) Die haben nichts anderes als einen schlichten Bericht gefordert. Herr Kollege Meißner hat dann den Rechenschaftsbericht seiner Fraktion abgeliefert und erzählt, wie viele Anfragen sie schon gestellt hat. Die können alle in den Bericht eingehen. Wir haben ja festgestellt, daß die Datenlage dürftig ist. Dann haben wir ja vielleicht schon etwas Material. ({2}) Ich möchte noch einmal feststellen, daß wir hier über die schlichte Forderung reden, über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in diesem Lande statistisch valide zu berichten. ({3}) Ich kann kein Skandalon daran entdecken. Meine Damen und Herren von der Koalition, wir haben seit 1963 ein Gesetz zur Bildung eines Sachverständigenrates - ({4}) - Ich habe das besser gelesen als Sie. ({5}) Seit 1963 haben wir ein Gesetz zur Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. ({6}) In diesem Gesetz wird unter anderem festgelegt, daß eine der Aufgaben dieser sogenannten Fünf Weisen darin besteht, über die Verteilung von Einkommen und Vermögen zu berichten. Es ist noch gar nicht so lange her, daß einige führende Ökonomen dieses Landes in der „Wirtschaftswoche" geschrieben haben, sie verfügten nicht über ein sie selber als Ökonomen befriedigendes statistisches Instrumentarium, um diese Angaben zu erstellen. Die Deutsche Bundesbank, die eine der wenigen Quellen dafür ist, sagt ebenfalls, daß sie nicht in der Lage ist, Daten herauszugeben, die man eigentlich befriedigend fände. Ich darf Sie auch noch einmal daran erinnern, daß wir meiner Kenntnis nach hier im Bundestag über Anträge und nicht über deren Begründungen abstimmen. Ich teile auch nicht alles, was die PDS in ihrer Begründung geschrieben hat. Aber die Forderung nach einem solchen Bericht ist doch nicht absurd. ({7}) Wir haben in unserem Land große Entscheidungen in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik zu treffen. Für diese Entscheidungen ist die Verständigung über Gerechtigkeitsideen sowie darüber, ob die Verteilung angemessen ist, wichtig. Was soll ich davon halten, daß Sie bereits bei der Forderung nach einem Bericht derartig verschreckt sind? ({8}) Das ist mir völlig unverständlich. Ich kann dem nur entnehmen, daß Sie offensichtlich das fürchten, was dabei herauskommen kann. ({9}) Aber das kenne ich ja. Es ist noch nicht lange her, daß wir in diesem Hause darüber diskutiert haben, ob wir einen Armutsbericht machen. Ich sage es hier noch einmal: Es geht dabei nicht um Datenfriedhöfe, nicht um neue Bürokratie und irgendwelche überflüssigen Statistiken. Wenn aber eine Gesellschaft so zentrale und bedeutende Fragen zu behandeln hat, wie es bei uns derzeit der Fall ist, dann muß sie auch eine Grundlage haben, auf der sie sich verständigen kann: zum Beispiel über das Maß an Ungleichheit, das sie hinzunehmen und nicht mehr hinzunehmen bereit ist. Ein solcher Reichtumsbericht könnte ähnlich wie ein Armutsbericht dafür eine Grundlage bieten. In diesem Sinne bitte ich, jetzt zu dem Antrag zurückzukommen, der hier vorliegt, und nicht mehr über Schimären zu debattieren. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P.

Prof. Gisela Frick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002656, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Fischer, die Frage hätte ich jetzt vom Podium aus auch gestellt. Es war leider nicht klar, ob Sie zustimmen oder nicht. Wir haben es schon häufig erlebt, daß die Argumentation so und die Schlußfolgerung nachher eine andere ist. Aber das haben Sie jetzt klargestellt; Sie stimmen also zu. Meine Kollegen von der PDS, mit Ihrem Antrag auf die Erstattung eines Reichtumsberichtes haben Sie sich selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. ({0}) Warum? Herr Gysi, Sie haben in erfrischender Offenheit gesagt, daß dieser Bericht die Aufgabe haben soll, darzustellen und zu zeigen, was zum Verteilen da ist. Mit anderen Worten heißt das: Sie haben Ihre alte Umverteilungsideologie immer noch nicht aufgegeben und immer noch nicht erkannt, daß die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, die auf einem solchen Umverteilungssystem basieren, nicht zu mehr Wohlstand in der Bevölkerung führen ({1}) und insbesondere auch nicht zu mehr Wohlstand in den einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten führen, sondern daß ganz im Gegenteil alle diese Systeme, die auf Umverteilung beruhen, in den letzten Jahren kaputtgegangen sind und eine verheerende Bilanz hinterlassen haben. Wir haben mittlerweile alle Mühe damit, sie wieder herzurichten. Diese Systeme führen nicht zu Wohlstand. Das hätten Sie doch in der Zwischenzeit einsehen können. Sie haben es offensichtlich immer noch nicht verstanden. Deshalb muß ich jetzt sagen: Wir brauchen einen solchen Reichtumsbericht nicht. ({2}) Insofern waren nämlich die Ausführungen des Kollegen Meißner ganz aufschlußreich. Eines der letzten Fleißkärtchen hat sich nämlich die SPD ziemlich genau vor einem Jahr verdient. Da haben Sie eine sehr umfangreiche Anfrage gestellt. Diese ist sehr umfangreich und sehr ordentlich beantwortet worden. Von daher haben wir sehr viel Material vorliegen. Es gibt dabei also überhaupt keine Klagen. Sie müssen verstehen, daß unser Gesellschaftssystem gerade darauf beruht, daß man unter anderem auch Reichtum erwerben kann. ({3}) - Ja natürlich, wir reden ja auch darüber. Das ist doch gar nicht das Problem. Ich habe Ihnen nur gesagt, daß Sie diesen Bericht wollen, um nachzuweisen, was zu verteilen ist. ({4}) Das ist die absolut falsche Fragestellung. Eben das versuche ich Ihnen hier zu erklären. Es geht darum, daß eine Gesellschaftsordnung allen möglichst gleichmäßig die Chancen einräumt, auch Wohlstand zu erwerben. Was der einzelne daraus macht, ist natürlich unterschiedlich und hängt von den Begabungen und anderen Möglichkeiten ab. ({5}) Wir können damit keine Ergebnisgleichheit erreichen. Das suggerieren Sie nämlich durch die Anforderung eines solchen Berichtes. Deshalb lehnen wir von der F.D.P. diesen Antrag ab. Danke schön. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/6527 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neue Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland ({0}) - Drucksachen 13/4287, 13/5181 - Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen Krautscheid, Zumkley, Beer, Nolting, von Einsiedel und für die Bundesregierung des Parlamentarischen Staatssekretärs Wilz. *) Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6978. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS abgelehnt. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Februar 1997, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.