Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/16/1997

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich nachträglich Glückwünsche aussprechen: zunächst einen ganz herzlichen Glückwunsch an den Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff zu seinem 70. Geburtstag am 20. Dezember. ({0}) Ich hoffe, wir können ihn mit seiner Kantigkeit und Eigenständigkeit noch lange unter uns hören. Das gehört zum demokratischen Prinzip. ({1}) Ich gratuliere ebenso herzlich dem Kollegen Dr. Albert Probst zu seinem 65. Geburtstag am 29. Dezember ({2}) und ganz herzlich unserem Kollegen und Bundesminister Dr. Klaus Kinkel zu seinem 60. Geburtstag am 17. Dezember. ({3}) Nachdem ich die Glückwünsche ausgesprochen habe, möchte ich mitteilen, daß der Abgeordnete Dietmar Thieser am 19. Dezember 1996 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Die Kollegin Vera Lengsfeld ist am 16. Dezember 1996 aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ausgeschieden und gehört seit dem 17. Dezember 1996 der Fraktion der CDU/CSU an. ({4}) Interfraktionell, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({5}), Brigitte Adler, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ziviler Friedensdienst - Expertendienst für zivile Friedensarbeit - Drucksache 13/6204 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Armin Laschet, Christian Schmidt ({6}) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Irmgard Schwaetzer, Ulrich Irmer, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P.: Verstärkung deutscher Beiträge zur Krisenpräventation und Friedenspolitik - Drucksache 13/6389 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt ({7}), Dr. Angelika Köster-Loßack, Winfried Nachtwei und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit als Beitrag zu einer Politik der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung - Drucksache 13/6713 5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara - Drucksachen 13/5725, 13/6702 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Schuldenerlaß für Forderungen aus Geschäften der DDR mit 29 Staaten der Dritten Welt - Drucksache 13/6719 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Bilateraler Schuldenerlaß für die am wenigsten entwickelten Staaten - Drucksache 13/6720 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Adelheid Tröscher, Joachim Tappe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung der Medien im südlichen Afrika - Drucksache 13/6726 9. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Bekämpfung der Kinderarbeit in der Welt - Drucksache 13/6732 10. Wahl einer Stellvertreterin der Präsidentin 11. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({9}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckart von Klaeden, Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig sowie weiterer Abgeordneter der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Eckpunkte für die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen - Drucksache 13/6591 12. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen CDU/CSU und F.D.P.: Ruf nach Demokratie und Reform auf dem Balkan 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dr. Günther Maleuda, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Eckpunkte für ein Gesetz zum Schutz des Bodens ({10}) - Drucksache 13/6715 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 14. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Visumspflicht für Kinder und Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten Des weiteren soll der unter Tagesordnungspunkt 6 aufgeführte Bericht betreffend die Machbarkeitstudie „Forum für Wissenschaft und Technik" ohne Aussprache an den zuständigen Ausschuß überwiesen werden. Ich weise darauf hin, daß die Beratungen ohne Aussprache heute erst nach der Wahl einer Vizepräsidentin des Bundestages aufgerufen werden. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Bei dem in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. November 1996 überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf ändert sich die Überweisung. Nunmehr soll der Gesetzentwurf dem Finanzausschuß federführend und dem Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Die Mitberatung des Innenausschusses entfällt: Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Maritta Böttcher, Dr. Ludwig Elm, weiterer Abgeordneten und der Gruppe der PDS zur Änderung des Bundesrückerstattungsgesetzes - Drucksache 13/5803 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({11}) Rechtsausschuß Der in der 138. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. November 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Abkommen vom 4. November 1995 zur Änderung des Vierten AKP- EG-Abkommens von Lomé sowie zu den mit diesem Abkommen in Zusammenhang stehenden weiteren Übereinkünften - Drucksache 13/5903 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({12}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß Der in der 148. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. Dezember 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung und dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR - Drucksache 13/6496 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({13}) Innenausschuß Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Der in der 148. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. Dezember 1996 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Fraktion der SPD: Forderungen an den Europäischen Rat in Dublin am 13./14. Dezember 1996 zur Überprüfung des Vertrages von Maastricht - Drucksache 13/6495 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Als Nachfolgerin des Abgeordneten Dietmar Thieser ist die Abgeordnete Helga Kühn-Mengel am 23. Dezember 1996 Mitglied des Deutschen Bundestages geworden. ({15}) Ich heiße Sie herzlich willkommen, Frau Kühn-Mengel, und wünsche uns eine gute Zusammenarbeit. Sind Sie mit den vorher angesprochenen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung in der Kernzeit um eine Debatte über die Zuspitzung der Lage auf dem Arbeitsmarkt zu erweitern und eine Debattenzeit von zwei Stunden vorzusehen. ({16}) Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? - Das ist der Fall. Kollege Struck, bitte.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ein Skandal, daß die Regierungskoalition und die Regierung sich weigern, heute über die Arbeitsmarktsituation in Deutschland zu diskutieren. ({0}) Es gibt keine wichtigere Aufgabe als die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. ({1}) Ich empfinde es als einen Affront gegenüber dem Parlament, Frau Präsidentin und meine Damen und Herren, daß der Bundeskanzler in dieser Debatte nicht einmal anwesend ist. ({2}) Ich muß den Bundeskanzler, so schwer mir das auch fällt, aus seiner Neujahrsansprache zitieren. Er hat dort wörtlich gesagt: Wir Deutschen können nicht einfach weitermachen wie bisher. Wer dies versucht, verspielt unsere Zukunft. Dr. Peter Struck Da hat er recht. Aber Sie wollen so weitermachen wie bisher, und das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({3}) Es ist ein Akt von politischer Drückebergerei und eine Flucht vor den Konsequenzen der eigenen Politik, wenn Sie sich heute weigern, angesichts von drohenden 4,5 Millionen registrierten Arbeitslosen - wir wissen, daß die tatsächliche Zahl viel höher ist - vor dem Parlament zur Lage am Arbeitsmarkt Stellung zu nehmen. Es ist ein Skandal, daß wir eine Katastrophenmeldung nach der anderen, heute wieder die erhöhte Nettokreditaufnahme und eine drohende Haushaltssperre, zur Kenntnis zu nehmen haben und der Finanzminister nicht einmal anwesend ist, um zu diesem Thema Stellung zu nehmen. ({4}) Ich glaube Ihnen gern, daß es Ihnen nicht angenehm ist, mit dieser vernichtenden Bilanz der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik vor den Bundestag zu treten. Noch weniger angenehm ist Ihnen auch, wenn man - wie diese Regierung - immer noch keine konkreten Vorschläge zur Besserung der Lage am Arbeitsmarkt hat. Denn was ist im letzten Jahr und seit dem letzten Jahr passiert? Sie haben andauernd Programme zur angeblichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung vorgelegt, und nichts ist eingetreten. Das Gegenteil ist eingetreten, die Lage ist schlimmer geworden. Darüber müssen wir heute und hier diskutieren und nicht dann, wenn es Ihnen gefällt. ({5}) Es ist die verfassungsgemäße Pflicht der Bundesregierung, unserem Volk Antwort zu geben, wie es weitergehen soll, und dies nicht durch einen intellektuellen Leuchtturm der deutschen Nationalökonomie namens Rexrodt, sondern durch den Bundeskanzler persönlich. ({6}) Diese Regierung ist nicht ehrlich. Sie verdeckt ihre eigentlichen Absichten. Deshalb kommt ihr die offene Aussprache über die Massenarbeitslosigkeit sehr ungelegen. Sie wollen weg von den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Grundlagen, die den Aufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg erst möglich gemacht haben. Es geht Ihnen nicht um aktuelle ökonomische oder arbeitsmarktpolitische Problem- oder Krisenbewältigung. In Wahrheit, meine Damen und Herren, wollen Sie die Grundrichtung dieser Republik verändern. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung ist doktrinär und dogmatisch am Prinzip der Angebotsorientierung ausgerichtet. Sie verleugnen jeden gesellschaftspolitischen und dabei auch arbeitsmarktpolitischen Anspruch. Wir fordern von Ihnen, von CDU/CSU und F.D.P., Ihren Kurs zu korrigieren und umzukehren. Darüber wollen wir im Parlament debattieren. Das ist der Ort, an dem die demokratische Auseinandersetzung stattfinden soll. ({7}) Wir verlangen von Ihnen: Kehren Sie zurück zu den Grundlinien der sozialen Marktwirtschaft, zurück zu einer marktwirtschaftlichen Politik, bei der Parlament und Regierung ihrer Verpflichtung gerecht werden und dem Marktgeschehen sittliche, humane und soziale Normen geben! Warum scheuen Sie eigentlich diese Debatte, meine Damen und Herren? Es wird Ihnen nicht gelingen, das erste Problem in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Europa, das Problem der Massenarbeitslosigkeit, zu verschweigen und durch vorgebliches aktionistisches Handeln zu verdecken. Wir werden Sie zwingen, im Deutschen Bundestag Rede und Antwort zu stehen - wenn nicht heute, dann das nächste Mal. Wir verlangen von Ihnen, meine Damen und Herren, - ({8}) - Ja, ja, wir können immer über Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosigkeit diskutieren. Wir werden das jedenfalls von Ihnen erwarten. Denn es ist Aufgabe dieser Regierung, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, nicht aber, sich in Aktionismus zu ergehen. ({9}) Der Bundeskanzler ist gefordert, nicht irgendein Minister. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Hörster.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die Ausführungen des Kollegen Struck gehört hat, der müßte - wenn wir es nicht alle besser wüßten - den Eindruck haben, der Kollege Struck sei entweder gestern oder im letzten Jahr gar nicht in diesem Hause gewesen. Denn wir haben gestern im Plenum des Deutschen Bundestages über die Arbeitsmarktlage diskutiert. ({0}) - Entschuldigung, wir haben gestern über die Arbeitsmarktzahlen diskutiert, ({1}) und wir haben im vergangenen Jahr - falls es Ihnen entgangen sein sollte, Herr Fischer -, ({2}) in nicht weniger als in vierzehn großen Debatten die Frage des Arbeitsmarktes und der Arbeitsplatzsicherung erörtert. ({3}) Diese Koalition hat zu Beginn des vergangenen Jahres ein Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung aufgelegt, das wir in diesem Hause diskutiert haben, ({4}) zu dem wir die notwendigen Gesetzesbeschlüsse in diesem Hause in zweiter und dritter Lesung gefaßt haben, ({5}) dessen volle Wirksamkeit aber dadurch behindert wird, daß die Opposition jede Mitwirkung an diesem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung verweigert und im Bundesrat die Verabschiedung notwendiger Gesetze blockiert. ({6}) Es macht keinen Sinn, mit Ihnen über dieses Thema zu diskutieren, solange Sie selbst keine konkreten Vorschläge unterbreiten, ({7}) wie man das Problem der Arbeitslosigkeit besser in den Griff bekommt. Es besteht große Einmütigkeit in diesem Hause, daß ein wesentlicher Grund für die Arbeitslosigkeit zum Beispiel die Höhe der Arbeitskosten ist. ({8}) Wenn ich mir aber anschaue, was Sie betreiben, wenn es darum geht, die Arbeitskosten zu senken, wenn ich zum Beispiel die Leidensgeschichte von Gewerbekapital- und Gewerbeertragsteuer betrachte, ({9}) über die wir seit eineinhalb Jahren diskutieren, um Arbeitskosten und die Kosten für Arbeitsplätze zu senken, und dann feststelle, daß Sie jegliche Mitwirkung verweigern und im Bundesrat alles blockieren, ({10}) so finde ich, es macht wirklich wenig Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutieren. ({11}) Wenn nach Aussage des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit durch das Scheitern des Arbeitsförderungsgesetzes Gestaltungsspielräume für arbeitsfördernde Maßnahmen in Milliardenhöhe blockiert werden - und zwar deswegen, weil wir dieses Gesetz nicht verabschieden können, weil der Bundesrat seine Mitwirkung versagt -, ({12}) dann ist im Grunde genommen alles erklärt. Ich stelle mir denjenigen vor, der in meinem Alter arbeitslos oder arbeitsuchend geworden ist ({13}) und der dann Ihre Anträge sieht, der sieht, wie alles blockiert wird, ({14}) der sich dann anhören muß, daß der Kollege Schulz - er wird das ja gleich darstellen - meint, er könne das Problem der Arbeitslosigkeit mit „Ramba-Zamba" im Bundestag bekämpfen. Ich finde, daß wir damit die Menschen in ihren Sorgen um den Arbeitsplatz nicht ernst nehmen. ({15}) Wer die Menschen in der Sorge um den Arbeitsplatz ernst nimmt, der muß entscheiden, der muß handeln, ({16}) aber nicht nur fortdauernd reden. Deswegen fordere ich Sie auf: Beenden Sie Ihre Blockadehaltung im Bundesrat, blockieren Sie nicht weiter die Maßnahmen, die wir gesetzgeberisch eingeleitet haben! Dann helfen Sie den Menschen, die Arbeit suchen; dann helfen Sie den Menschen, die einen Arbeitsplatz brauchen; dann tun Sie ein gutes Werk! ({17}) Deswegen lehnen wir die Aufsetzung der von Ihnen gewünschten Debatte ab. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat das Wort Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Hörster, Blockadepolitik beginnt dort, wo man sich der Aussprache, der Auseinandersetzung verweigert. ({0}) Es ist sicherlich viel komfortabler, vom Teleprompter die frohe Neujahrsbotschaft abzulesen und sich nicht der Aussprache im Deutschen Bundestag zu stellen. Es scheint Ihre Absicht zu sein, uns heute noch nicht einmal das versammelte, sondern das abwesende Schweigen des Herrn Dr. Kohl zu präsentieren. ({1}) Und wenn ich Sie lachen sehe, Herr Hintze: Anstatt mit Hinterbanksangeboten hausieren zu gehen, sollten Sie Ihr Pfaffenköpfchen lieber anstrengen, wie wir sichere Arbeitsplätze in diesem Land bekommen. ({2}) Aber ich sehe gerade, der große Zampano ist soeben erschienen - ich revidiere mich: Nicht Ramba-Zamba wollen wir hier veranstalten, sondern wir möchten, daß dieser Mann hier Rede und Antwort steht. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Aber, Herr Werner Schulz, es ist immer noch der Bundeskanzler und nicht der große Ramba-Zamba-Mann. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, um das noch einmal deutlich und ganz formell und korrekt im Namen meiner Fraktion zu sagen: Wir wünschen, daß der Herr Bundeskanzler, Herr Dr. Helmut Kohl, heute hier eine Regierungserklärung zur Situation auf dem Arbeitsmarkt und zur Lage der Wirtschaft in diesem Land abgibt. ({0}) Das ist wirklich das wichtigste Problem in diesem Land, und es ist kein Theater, daß sich 4,2 Millionen und noch mehr Menschen den Kopf zerbrechen, wie es weitergeht, und keine Antwort bekommen. Es ist unannehmbar, was hier passiert. Wir haben vor über einem Jahr eine Parlamentsreform beschlossen, die zum Inhalt hatte, daß wir am Donnerstag in der Kerndebatte das wichtigste und brennendste Thema behandeln. Was gibt es denn Wichtigeres und Brandaktuelleres als diese Situation? ({1}) Ich kann dem BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel nur zustimmen, der gestern auf einer Pressekonferenz gesagt hat: Diese Massenarbeitslosigkeit ist die Gefahr für unser System. Nicht die PDS. - Nicht die PDS, Herr Hintze, sondern die Massenarbeitslosigkeit! ({2}) Die laufende Gefahr heißt doch: Jeder Arbeitslose mehr ist ein Demokrat weniger. Da liegt das Problem. ({3}) - Jawohl, natürlich ist es so! Schauen Sie sich doch einmal an, warum die Leute politikverdrossen sind, warum die Zahl der Nichtwähler steigt, warum sich so viele abwenden. Stellen Sie sich dieser Situation, stellen Sie sich diesen Problemen! Ich muß Ihnen sagen: Ich habe schon einmal erlebt, wie ein System zusammenbricht bzw. wie ein System durch Ignoranz und Ratlosigkeit der Führung in Schwierigkeiten kommt. Das ist auch die momentane Situation. Dazu kommen Massenflucht und Verdruß. Das erleben wir momentan in einer gefährlichen Form, indem Arbeitsplätze ins Ausland verschwinden und es eine Rekordzahl an Insolvenzen gibt. Ich bitte Sie, tun Sie nicht so, als ob Sie sich hier damit überhaupt nicht mehr beschäftigen müßten, als ob Sie über den Dingen stehen oder über den Dingen sitzen - je nachdem, wie man die politische Auseinandersetzung in diesem Land betrachtet. Deswegen noch einmal klipp und klar: Wir möchten, daß das Thema „Massenarbeitslosigkeit" heute nach der Afrika-Debatte auf die Tagesordnung gesetzt wird. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind mit niemandem in diesem Haus auseinander, wenn es um die Feststellung geht, daß die Frage der Arbeitslosigkeit das zentrale Thema der deutschen Politik ist. Aber dieses Thema ist doch am Deutschen Bundestag nicht vorbeigegangen. Wir haben im letzten Jahr Woche für Woche über die Problematik diskutiert, und diese Woche ist mit der gestrigen Debatte ja keine Ausnahme. Die große Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht wird im Februar auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages stehen. Was erwarten die Bürger eigentlich von uns, vom deutschen Parlament? ({0}) Immer neue Debatten? Immer neue Reden? Immer neue Stellungnahmen von diesem und jenem? Nein! Sie erwarten Taten. ({1}) Helmut Schmidt hat gerade in diesen Tagen der Opposition und insbesondere der SPD die Leviten gelesen. Wer den Menschen statt dessen Ramba-Zamba anbietet, wie es die Opposition für heute morgen angekündigt hat, der verhöhnt die Menschen in ihrer Not. ({2}) Wir stehen für die Taten und lehnen deshalb diese schlimme Showinszenierung der Opposition heute morgen ab. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt Kollegin Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin, Sie haben den Kollegen Schulz vorhin darauf aufmerksam gemacht, daß Herr Kohl noch Bundeskanzler dieser Bundesrepublik ist. Ich denke, er wird es nicht mehr lange bleiben, wenn nicht endlich die Probleme dieses Landes angepackt werden. Ich werde den Eindruck nicht los, daß Sie die Aussicht auf 4,5 Millionen Arbeitslose völlig kaltläßt. Hier werden Anfang des Jahres die neuen Zahlen zur Arbeitsmarktentwicklung vorgelegt, aber wir bleiben bei der Tagesordnung, so wie wir sie im Dezember vereinbart hatten. Wozu eine Änderung? - So wichtig ist es nun auch nicht, daß es ein paar hunderttausend Arbeitslose mehr gibt?! Nun hat die Opposition drei Anträge auf Aktuelle Stunden vorgelegt, Anträge, die sich sehr ähnlich waren, und wir haben das Angebot unterbreitet, aus diesen Anträgen eine vereinbarte Debatte abzuleiten - endlich einmal eine gemeinsame Initiative der Opposition in diesem Haus. ({0}) Aber genau das haben Sie abgelehnt. Ich denke, die gestrige Aktuelle Stunde auf Antrag der PDS hat genau verdeutlicht, daß es notwendig ist, darüber zu diskutieren, damit Lösungen auf den Tisch kommen und Alternativen tatsächlich ernsthaft angegangen werden. ({1}) So hat der Abgeordnete Friedhoff von der F.D.P. gestern unter anderem gesagt, es sei gut, daß wir uns häufiger mit diesem Thema beschäftigen. Bundesarbeitsminister Blüm meinte, wir müßten in den Wettbewerb um den besten Weg eintreten. Aber genau diesen Wettbewerb verweigern Sie heute, indem Sie die Debatte verweigern ({2}) vielleicht ganz einfach deshalb, weil Sie davon ausgehen, daß Sie diesen Wettbewerb verlieren würden. ({3}) Kollege Hörster, Sie haben auf die Aktuelle Stunde von gestern verwiesen. Sie wissen genausogut wie ich, daß eine Aktuelle Stunde anderen geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen unterliegt als eine vereinbarte Debatte. In einer Aktuellen Stunde können wir zum Beispiel keine Anträge stellen. Das aber ist in einer Debatte möglich. ({4}) Sie haben gefordert, daß Anträge der Opposition endlich auf den Tisch kommen. Sie liegen seit Jahren auf dem Tisch, ({5}) aber sie werden von Ihnen nicht ernsthaft diskutiert. ({6}) Warum sollten wir nicht zum Beispiel einmal darüber nachdenken, in diesem Haus eine EnqueteKommission „Auswege aus der Arbeitslosigkeit" einzurichten, um tatsächlich mit Experten zu beraten, um gemeinsame Lösungen auf den Tisch zu packen? - Sie verweigern diese Debatte, Sie verweigern diese Lösungen. Ich kann nur davon ausgehen, daß Sie offenkundig keine Lösungen haben. Wir werden uns nachher in der Kernzeit mit dem Thema „Fremdenverkehr in den neuen Bundesländern" beschäftigen. ({7}) Das ist sicher ein wichtiges Thema. Der Antrag der Opposition auf Veränderung der Debatte liegt heute vor; Sie können darüber abstimmen. Der Fremdenverkehr in den neuen Bundesländern ist sicher ein wichtiges Thema, aber vermitteln Sie einmal nach draußen, daß dieses Thema wichtiger ist als die Frage der Arbeitslosigkeit, als die Frage der Beschäftigung mit Lösungen dieses Problems. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zu diesem Geschäftsordnungspunkt eine Runde vereinbart. Nachdem wir bei der Behandlung des Geschäftsordnungsantrages jetzt schon sehr tief in die inhaltliche Debatte eingestiegen sind, werden wir zu diesem Geschäftsordnungsantrag jetzt nach § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung die Runde beenden und über den Antrag abstimmen. Es wird eine zweite Frage sein, wer danach neue Geschäftsordnungsdebatten führen will. Ich stelle damit fest, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? ({0}) Wer stimmt dagegen? ({1}) Enthaltungen? - Damit ist der Aufsetzungsantrag abgelehnt. ({2}) - Die Mehrheit wird offenbar bestritten. ({3}) Ich fordere unser Parlament auf, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Mehrheit hier oben nicht bestritten wird. ({4}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum, daß wir uns auf das verständigen, was von hier oben aus wahrgenommen worden ist. ({5}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 a bis 2 r sowie die Zusatzpunkte 2 bis 9 auf. 2. Debatte zur Entwicklungspolitik und Afrikapolitik a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Robert Antretter, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 13/2223 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({6}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Ausschuß für Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Jochen Feilcke, Dr. Bernd Klaußner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Jürgen Koppelin und der Fraktion der F.D.P. Selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung in der Entwicklungszusammenarbeit - Drucksache 13/6381 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Becker-Inglau, Dr. Ingomar Hauchler, Dr. R. Werner Schuster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung in der Entwicklungszusammenarbeit - Drucksache 13/3896 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlies Pretzlaff, Dr. Winfried Pinger und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P. Zur Überwindung von Kinderarbeit in Entwicklungsländern beitragen - Drucksache 13/6716 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Entwicklungspolitische Folgerungen aus der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung ICPD 1994 in Kairo - Drucksachen 13/4393, 13/5887 - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Ingomar Hauchler, Dr. R. Werner Schuster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Entwicklungspolitisches Jugendprogramm „Solidarisches Lernen" - Drucksache 13/4119 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({10}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Ingomar Hauchler, Horst Sielaff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gezielte Politik zugunsten der Entwicklungsländer durch die Europäische Union und Abbau der Subventionierung von Agrarexporten - Drucksache 13/3903 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({11}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Dr. Ingomar Hauchler, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Intensivierung der Agrarförderung in den Entwicklungsländern - Sicherung der Welternährung und Beitrag zur Bewältigung globaler Probleme - Drucksache 13/5143 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({13}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Jochen Feilcke und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P. Verschuldung der Entwicklungsländer - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine neue Initiative zur Entschuldung der Entwicklungsländer - Drucksachen 13/4670, 13/2458, 13/6626 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen Feilcke Adelheid Tröscher Wolfgang Schmitt ({14}) Roland Kohn j) Beratung der Großen Anfragen der Abgeordneten Dr. Uschi Eid und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur Lage in Afrika und zur Afrika-Politik der Bundesregierung ({15}) - Drucksachen 13/1480, 13/1481, 13/4532 - k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschlands Verantwortung für Subsahara Afrika - Drucksache 13/6725 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16}) Auswärtiger Ausschuß l) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uschi Eid und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schritte der Bundesregierung zur Unterstützung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Burundi - Drucksachen 13/3837, 13/4862 - m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Karl Lamers und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Dr. Uschi Eid und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Irmgard Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P. Initiativen zur Herstellung des Friedens im Sudan - Drucksache 13/6730 - n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt ({17}), Dr. Angelika Köster-Loßack und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutsche Afrikapolitik - Solidarität mit den Menschen Afrikas ist notwendig - Drucksache 13/6581 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({18}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Karl Lamers, Winfried Pinger und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Imrgard Schwaetzer, Ulrich Irmer, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P. Afrikapolitik: Für Frieden und Entwicklung - Drucksache 13/6717 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({19}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung p) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Gerald Häfner, Wolfgang Schmitt ({20}), Volker Beck ({21}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Rwanda - Drucksache 13/6165 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß ({22}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuß q) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({23}) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({24}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Transfer von Zuwendungen in Höhe der Einnahmen aus der Kaffeesteuer in den Süden - Drucksachen 13/2358, 13/5027 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Winfried Pinger Brigitte Adler Wolfgang Schmitt ({25}) Roland Kohn ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({26}), Brigitte Adler, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ziviler Friedensdienst - Expertendienst für zivile Friedensarbeit - Drucksache 13/6204 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({27}) Auswärtiger Ausschuß ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Armin Laschet, Christian Schmidt ({28}) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Irmgard Schwaetzer, Ulrich Irmer, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P. Verstärkung deutscher Beiträge zur Krisenprävention und Friedenspolitik - Drucksache 13/6389 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({29}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt ({30}), Dr. Angelika Köster-Loßack, Winfried Nachtwei und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit als Beitrag zu einer Politik der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung - Drucksache 13/6713 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({31}) Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({32}) zu dem Antrag der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara - Drucksachen 13/5725, 13/6702 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl-Heinz Hornhues Präsidentin Dr. Rita Süssmuth ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Schuldenerlaß für Forderungen aus Geschäften der DDR mit 29 Staaten der Dritten Welt - Drucksache 13/6719 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({33}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Bilateraler Schuldenerlaß für die am wenigsten entwickelten Staaten - Drucksache 13/6720 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({34}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Adelheid Tröscher, Joachim Tappe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung der Medien im südlichen Afrika - Drucksache 13/6726 Überweisungsvorschlag : Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP9 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bekämpfung der Kinderarbeit in der Welt - Drucksache 13/6732 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({35}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familien, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich bitte darum, daß diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die den Plenarsaal verlassen wollen, dies unmittelbar tun, damit wir die Debatte fortsetzen können. ({36}) - Ich fordere noch einmal die Kollegen auf, daß sie uns einen geordneten Fortgang der Debatte ermöglichen. Das Wort hat der Kollege Pinger.

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftspolitik beinhalten brennende Probleme, über die wir ständig diskutieren: gestern und sicher auch wieder in der nächsten Sitzungswoche. Ich halte es für gut, daß wir heute in der Kernzeit auch über Entwicklungspolitik sprechen können. ({0}) Ich zitiere aus dem Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. zur Afrikapolitik: 180 Millionen Menschen in Afrika haben nicht genug zu essen; 23 Millionen Kinder leiden an Mangelernährung; 6 Millionen Menschen sind Flüchtlinge. Unterdrückung, Bürgerkriege und Massenflucht haben wirtschaftliche, soziale und ethnische Konflikte als Ursache. Hier müssen alle Versuche zur Lösung ansetzen. Über eine Milliarde Menschen in absoluter Armut, die nicht genug zu essen, kein festes Dach über dem Kopf und kein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung haben: Auch das stellt wahrlich ein Problem dar, über das wir diskutieren müssen. Es ist ein Skandal, daß es uns als internationaler Gebergemeinschaft nicht gelungen ist, die Zahl der Menschen in absoluter Armut in den letzten 30 Jahren wesentlich zu verringern. Auf der anderen Seite wäre sie aber angesichts der Bevölkerungsexplosion viel höher, wenn keine Entwicklungshilfe geleistet worden wäre. Die Herausforderung bleibt aber bestehen, diese Zahl zu verringern. Wir führen heute die Debatte zu einem Zeitpunkt, zu dem auf allen Gebieten der Politik gespart werden muß, weil die Verschuldung in der Bundesrepublik zu hoch ist und die Bürger nicht noch weiter mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden dürfen. Im Gegenteil: Die Nettoneuverschuldung muß zurückgeführt, die Staats- und die Abgabenquote müssen gesenkt werden, damit der Standort Deutschland gesichert bleibt. Diese Sicherung des Standortes Deutschland ist die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß wir weiterhin Milliardenbeträge für die Entwicklungshilfe aufwenden können. Wenn in der Sozialpolitik gespart werden muß und auch wichtige Investitionen, zum Beispiel im Forschungsbereich, zurückgestellt werden müssen, dann kann auch die Entwicklungspolitik von dem Sparprozeß leider nicht ausgenommen werden. ({1}) Das ist eine bittere Wahrheit, der wir uns stellen müssen. Um so größer ist die Herausforderung für uns alle, mit weniger Mitteln dieselbe oder sogar noch eine größere Wirkung der Entwicklungspolitik zu erzielen. Es besteht kein Anlaß, vor dieser Herausforderung von vornherein zu resignieren. ({2}) Wir werden uns dieser Herausforderung stellen und die notwendigen Konsequenzen ziehen; ({3}) das heißt: unsere Kriterien noch schärfer fassen, Prioritäten noch deutlicher setzen, aber auch Nachrangigkeiten festlegen, was noch schwerer ist. Gerade die Festlegung von Nachrangigkeiten führt leicht zum Streit, was sich noch zeigen wird. Zu den schärferen Kriterien gehört, daß wir noch mehr auf Privatinitiative, Eigenverantwortung und Selbsthilfe setzen müssen und noch weniger auf staatliche Bürokratie setzen dürfen. ({4}) Staatliche Bürokratie hat sich in viel größerem Umfang als unfähig und korrupt erwiesen, als wir das jahrelang für möglich gehalten haben. Insofern haben wir Erblasten früherer verfehlter Entwicklungspolitik abzutragen: die verfehlte Modernisierungs- und Industrialisierungsstrategie der 60er und 70er Jahre, bei der man meinte, durch den Export von Industrieanlagen und einer Industrialisierung von oben eine Wirtschaftsentwicklung in den Entwicklungsländern herbeizuführen. Was geschah, ist: Aufbau von Staatsindustrien, Staatswirtschaft und maroden Unternehmen. Es kam die verfehlte Grundbedürfnisstrategie der 60er, 70er und 80er Jahre, bei der man glaubte, die absolute Armut dadurch beseitigen zu können, daß man große staatliche Bürokratien aufbaute. Auch das war verfehlt. Nun müssen wir weiter umsteuern. Wir haben das seit Jahren getan. Wir müssen es jetzt noch konsequenter tun. Wir müssen auf Selbsthilfe und Privatinitiative setzen. ({5}) Wir müssen in der Entwicklungspolitik öfter nein sagen. Es hat keinen Zweck, marode staatliche Strukturen weiter zu finanzieren. Wir müssen nein sagen, wenn es darum geht, daß solche Strukturen weiter aufrechterhalten werden sollen, wenn von maroden Staatsunternehmen rote Zahlen geschrieben werden und es dann die Aufgabe der internationalen Gebergemeinschaft sein soll, diese roten Zahlen auszugleichen und das Unternehmen zu finanzieren. Das ist keine Entwicklungspolitik. Damit hält man einen Zustand aufrecht, der beseitigt werden muß. Wenn wir öfter nein sagen müssen, dann hat das oft härtere Konsequenzen. Wir tun es. ({6}) Zum Beispiel hat es bei der Entwicklungspolitik mit Bangladesch - sicher ist das ein ganz armes Land, 120 Millionen Menschen auf der doppelten Fläche Bayerns -, keinen Zweck, alte Projekte weiter fortzuführen. Wir haben die Konsequenz gezogen, zunächst einmal die Entwicklungshilfe von 80 Millionen DM auf 55 Millionen DM herunterzufahren und damit Bangladesch aus der Zahl der zehn größten Empfängerländer herauszunehmen. Es müssen Veränderungen stattfinden. Entwicklungshilfe darf nur in dem Maße geleistet werden, in dem die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen geändert werden. Die Kriterien, die die Bundesregierung gesetzt hat, sind anzuwenden. Wir messen Art und Umfang der Entwicklungszusammenarbeit an der Einhaltung der Menschenrechte ({7}) - ich komme darauf -, Partizipation der Bevölkerung, Rechtssicherheit, Marktwirtschaft und am entwicklungsfreundlichen Verhalten der Entwicklungsländer. In der Tat leisten wir Entwicklungszusammenarbeit auch in Ländern, in denen diese Kriterien nicht oder nicht voll erfüllt sind. Unser Maßstab ist nicht der Status quo. Unser Maßstab ist die Veränderung, der Trend, der zu erkennen ist. Es können wie bei Vietnam oder China die Veränderungen zunächst einmal auf wirtschaftlichem Gebiet stattfinden. Wenn aber durch konsequente Einführung von Marktwirtschaft - das geschieht in Vietnam und in China - Freiheitsräume geschaffen werden und wenn wirtschaftliche Liberalität eintritt, dann, meine ich, können wir die Hoffnung haben - und wir haben sie -, daß sich langfristig - ich sage: langfristig - dann auch die politischen Verhältnisse in Richtung Verbesserung der Menschenrechte und Partizipation der Bevölkerung ändern werden. Dies gilt für diese Länder, das gilt für die Türkei, Indonesien und andere Länder. ({8}) Wir müssen öfter nein sagen. Das gilt auch für schwarzafrikanische Länder. Ich halte die Kritik nicht für berechtigt, daß wir in diese Länder noch mehr Mittel geben sollten. Immerhin fließen 27 Prozent der Mittel nach Schwarzafrika. Insbesondere fließen über 2 Milliarden DM multilaterale Hilfe jährlich in diese Länder. Das heißt, multilaterale Hilfe des Europäischen Entwicklungsfonds und multilaterale Hilfe der Weltbank. Wir sind an diesen Institutionen so beteiligt, daß wir einen Großteil der Mittel zur Verfügung stellen. Wir haben mit Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Bildungsförderung die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Armutsbekämpfung ist in erster Linie selbsthilfeorientiert. In diesem Anliegen sind wir uns hier im Parlament erfreulicherweise einig. Um dies zu betonen, liegen Anträge der Regierungskoalition und auch der Opposition vor. ({9}) - Ob sie besser sind, werden wir im einzelnen noch im Ausschuß diskutieren. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Es gibt durch den Staat auch eine Armutsbekämpfung, die nicht Hilfe zur Selbsthilfe ist, die wir aber dennoch in zwei Bereichen unterstützen sollten. Erstens. Auch mit Hilfe des Staates im Entwicklungsland die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen insgesamt und vor allem für die Armen zu verbessern ist unsere Aufgabe. Armut ist in der Regel die Folge von Diskriminierung und Unterprivilegierung. Soweit der Staat dafür verantwortlich ist, muß er die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern. Wir bieten dazu Hilfe an. Erfreulicherweise gibt es immer mehr Länder, die bereit sind, unsere Hilfe zu erbitten und entgegenzunehmen. ({10}) Zweitens. Der Staat im Entwicklungsland muß in den Kernbereichen, bei staatlichen Dienstleistungen seine Funktion erfüllen, zum Beispiel bei der Grundbildung in den Schulen oder beim Basisgesundheitsdienst. Dazu sollten wir Hilfe leisten. Die UNDP-Formel „20-20" gibt dazu eine wichtige Orientierung. Meine Damen und Herren, neben diesen staatlichen Aufgaben ist das Wichtigste die Selbsthilfe der Armen und Ärmsten. Sie stellen in den meisten Ländern die Mehrheit der Bevölkerung dar. Ohne Beteiligung dieser Mehrheit gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung, die breit angelegt ist. Die wirtschaftliche Entwicklung von oben ist gescheitert. Das war die alte, verfehlte Industrialisierung- und Modernisierungstheorie. Es geht also um eine Wirtschaftsentwicklung von unten. Dies bedeutet eine Beteiligung aller am produktiven Prozeß. Armutsbekämpfung bedeutet für uns keine Almosenverteilung und Sozialfürsorge, sondern sie bedeutet, den Armen und Ärmsten eine Chance zu geben, sich an diesem produktiven Prozeß zu beteiligen. ({11}) Hierfür gibt es erstaunliche Projekte und hervorragende Ergebnisse, die mit unserer Hilfe erstellt worden sind und auf die wir hinweisen können. Ich nenne noch einmal - man kann es nicht oft genug zitieren - die berühmte Grameen Bank in Bangladesch. Sie hat über zwei Millionen Kunden, die alle zu den Ärmsten zählen. Über 90 Prozent der Kunden - in einem islamischen Land - sind Frauen und Analphabeten. Sie bekommen Kredit. Dadurch sind sie in der Lage, ihre Situation relevant zu verändern. Sie zahlen 23 Prozent Zinsen. Bei 8 Prozent Inflation bedeutet das eine effektive Belastung von 15 Prozent. 2 Prozent sind ein Zwangspflichtsparbeitrag. Es bleiben 13 Prozent Realzinsen. Unsere Bevölkerung würde dazu sagen: Das ist zu hart. Diese Ärmsten sind bereit und in der Lage, diese Zinsen zu zahlen. Sie zahlen die Kredite zu über 98 Prozent zurück. Über die Jahre hinweg verbessern sie relevant ihre Situation. Sie haben am Tag eine zweite Mahlzeit. Sie haben auf der Hütte ein festes Wellblechdach, das nicht wegfliegt, wenn ein Sturm kommt. Sie haben eine Wasserpumpe vor dem Hause und dadurch frisches, sauberes Wasser. Das sind für Millionen von Menschen wahrliche Erfolge. ({12}) Wir haben für die Grameen Bank zu einer Zeit Hilfe geleistet, als sie dieses Geld brauchte, um an die zwei Millionen Kunden heranzukommen. Wir haben in einer Größenordnung von 30 Millionen DM Kapitalhilfe und in einer Größenordnung von 25 Millionen DM insbesondere technische Hilfe geleistet. Damit konnten Bankworker ausgebildet werden, die übrigens zu den Kunden hingehen. Die Kunden kommen nicht zur Bank; sie würden eine Bank nie betreten. Lassen Sie mich ein anderes Feld der Privatinitiative nennen, Privatinitiative auch beim Mittelstand. Aber was ist Mittelstand in den Entwicklungsländern? Das ist die Fahrradwerkstatt auf dem Bürgersteig. Das ist die Autowerkstatt unterm Baum. Das ist der Friseurladen, der durch den Stuhl, den man draußen hinstellt, und den Spiegel, den man an die Bretterwand heftet, errichtet wird. Das ist der Mittelstand. Aber auch diesem Mittelstand müssen wir helfen. Wir haben in Deutschland doch ein bewährtes Instrumentarium: Volksbanken. Wir haben sie in der Vergangenheit gefördert. Aber ich meine, wir könnten, nein, wir müssen mehr tun. Wir haben die Bank für den kleinen Mann in Deutschland: Sparkassen. Wir fördern Sparkassen in den Entwicklungsländern über die Stiftungen des Sparkassenverbandes. Wir müssen noch mehr tun. Wir fördern berufliche Bildung nicht mehr in den verfehlten gewerblichen Schulen alter Art, in Staatsschulen, die dann eines Tages in einem desolaten Zustand sind, sondern im dualen System, das heißt, durch die Eigenverantwortung der Handwerker selbst. Wer Prioritäten setzen will - wir sollten sie noch deutlicher setzen -, muß Nachrangigkeiten festlegen. ({13}) Ich stelle die Frage, ob wir nicht in Zukunft manches Projekt der Infrastruktur, der Versorgung mit Energie, Telekommunikation, Verkehr und sogar mit Wasser und Wasserentsorgung, in einigen Schwellenländern vom dortigen Staat finanzieren lassen müssen. Eine Aufnahme auf dem Kapitalmarkt würde natürlich die Verzinsung teurer machen und die Gebühren für die Benutzer erhöhen. Ich weiß nicht, ob wir das nicht einigen Ländern zumuten müssen, um Spielraum zu erhalten.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Pinger, kommen Sie zum Schluß.

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Schluß: Wir können und müssen Prioritäten setzen. Wir müssen noch schärfer sehen, wo Nachrangigkeiten festgelegt werden müssen. Wir stehen vor einer schwierigen Aufgabe und auch vor manchen Auseinandersetzungen unter uns. ({0}) Sie müssen sein. Wir von der CDU/CSU jedenfalls werden uns dieser Herausforderung stellen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort nimmt jetzt die Kollegin Ingrid Becker-Inglau.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu lange haben wir angenommen, daß Entwicklung ein Prozeß sei, der letztlich allen zugute kommt, dessen Nutzen bei allen Einkommensschichten durchsickert und dessen Auswirkungen geschlechtsneutral sind. Die Erfahrung lehrt jedoch: Gerade in den ärmsten Ländern blicken wir auf eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich und zwischen Männern und Frauen. Armut hat nicht nur ein weibliches Gesicht, Armut ist weiblich. ({0}) Von den 1,3 Milliarden der ärmsten Menschen auf unserer Welt sind 70 Prozent Frauen. Ich behaupte: Menschliche und wirtschaftliche Entwicklung ist ohne die Gleichstellung von Männern und Frauen nicht möglich. ({1}) Stimmt das Schlagwort des englischen Philosophen Francis Bacon „Wissen ist Macht" und will man die Folgerung daraus ziehen, daß Kenntnisse zu Einfluß verhelfen, dann ist Bildung die dringlichste Voraussetzung dafür, daß Frauen und die Ärmsten ihre Rechte selbst kennenlernen und wahrnehmen können. Nur so können sie den ihnen zustehenden Anteil an Entscheidungen im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich treffen und umsetzen. Um Chancengleichheit zu erreichen, sind vor allem eine umfassende Bildung von Frauen und die Grundbildung von Mädchen dringend erforderlich. Noch immer gibt es mehr als 900 Millionen Analphabeten auf der Welt, darunter zwei Drittel Frauen. Meine Damen und Herren, wenn wir Armut wirklich bekämpfen wollen, müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern jede Möglichkeit nutzen, den Bildungsstand der Frauen, der Armen zu verbessern. Das heißt: Jede Investition in Bildung ist vorderste und wichtigste Aufgabe der Armutsbekämpfung. Bildung als Rüstzeug vor allem für die Frauen bringen das Wissen um reproduktive Gesundheit und deren Zugangsmöglichkeiten sowie das Wissen, was Kleinkredite bewirken können und wie man sie bekommen kann. Damit eröffnen sich natürlich mehr Chancen für die Selbständigkeit der Frauen und der Armen überhaupt; Herr Pinger hat das in seiner Rede gerade schon sehr deutlich gesagt. Das bedeutet, daß Investitionen in reproduktive Gesundheit und in Kleinkreditprogramme weitere Grundsteine für die Armutsbekämpfung sind. Die Erfolge der Grameen Bank in Bangladesch - Herr Pinger hat das schon ausgeführt -, des SEWAProjektes in Indien und des Kleinkreditprogramms in Badaguichiri im Niger - auch das will ich nicht verschweigen - schreien geradezu danach, daß wir das, was wir dort gemacht haben, in anderen Regionen wieder auflegen, erweitern und verbessern. ({2}) Hier sind alle Geberländer gefordert. Herr Minister, auch unsere Bundesregierung wäre wirklich gefordert, ein wenig mehr zu tun, als sie bisher getan hat. Herr Pinger hat das bereits in seiner Rede gesagt. Und ich denke, daß gerade in unserem Ausschuß, im Ausschuß für Entwicklungszusammenarbeit, eine weitgehend einheitliche Meinung über alle Fraktionsgrenzen hinweg wiederzufinden ist. Beim Weltsozialgipfel in Kopenhagen einigte man sich großzügig, wenn auch schwer, auf die 20:20-Initiative. Das bedeutet: 20 Prozent der Zuwendungen der Geberländer und 20 Prozent der Haushalte der Entwicklungsländer sollen für die soziale Grundversorgung eingesetzt werden. Ich will jetzt nicht ausführen, was dazu gehört; Sie haben dies zum Teil schon gemacht. Entwicklungsminister Spranger behauptete im März des letzten Jahres sogar noch zu Recht, daß die Bundesrepublik Vorreiter und treibende Kraft bei diesem Vorhaben gewesen sei. In der Rahmenplanung des BMZ-Haushaltes für 1997 sehen wir allerdings, daß gerade in den Bereichen Grundbildung, Gesundheitswesen und Bevölkerungspolitik nur marginale Steigerungen wiederzufinden sind. Die 20 : 20-Initiative an sich findet in der Rahmenplanung überhaupt keine Erwähnung. Herr Minister, das kann nicht der richtige Weg sein, um die Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen. Was Armut für Folgen haben kann, erleben wir zur Zeit in einem der allerärmsten Länder der Welt, im Niger. Dort wurde der Militärputsch, das Ende der jungen Demokratie, Anfang letzten Jahres als eine Rettung aus der schwierigen wirtschaftlichen Situation, als ein Weg aus Armut und Hunger von der Bevölkerung sogar begrüßt. Diesen Widersinn muß man sich einmal vorstellen. Am letzten Freitag allerdings demonstrierten die Menschen gegen dieses Regime, weil eben keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation herbeigeführt werden konnte; dies konnte von unserer Seite auch nicht erwartet werden. Das Ergebnis dieser Demonstrationen war: Militär und Polizei trieben die Demonstranten gewaltsam auseinander. 120 Demonstranten wurden in Haft genommen. Drei der führenden Oppositionellen wurden verhaftet, und Sondergerichte wurden eingerichtet. Was das bedeutet, weiß man aus anderen Ländern mit Diktaturen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Armut darf in diesen Staaten Schwarzafrikas und in anderen Ländern dieser Welt nicht der Wegbereiter für Diktaturen sein oder werden. ({3}) Wenn wir also zukünftig eine nachhaltige Entwicklungspolitik gewährleisten wollen, dann darf Armutsbekämpfung nach dem Grundprinzip „Hilfe zur Selbsthilfe" nicht nur in Reden, Erklärungen und Analysen als einer der drei Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Niederschlag finden. Sie muß sich vielmehr im Haushalt des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und in der Umsetzung, in Maßnahmen und Projekten, geballt wiederfinden. ({4}) Selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung ist keine Politik der Nische, sondern der praktische Einstieg in gesellschaftliches Selbstbewußtsein, politische Selbstverantwortung und ökonomische Selbständigkeit. Selbsthilfe ist ein Beitrag zur Lösung wirtschaftlicher Probleme aus eigener Kraft, besitzt als demokratisches Prinzip aber auch eine generelle Leitfunktion für Gesellschaft und Staat. Armutsbekämpfung ist kein Sozialhilfeersatz, sondern ein Konzept, das die Stärkung der produktiven Fähigkeiten und der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte, nämlich das Empowerment der Armen zum Ziel hat. ({5}) Um so unverständlicher ist natürlich, daß die Rahmenplanung für 1997 nur noch 14,2 Prozent für die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung vorsieht, wobei schon die 18,6 Prozent des letzten Jahres meiner Meinung nach kein Zeichen für die Vorrangigkeit von armutsorientierter Entwicklungszusammenarbeit waren. ({6}) Es kommt darauf an, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Armutsbekämpfung über kurzfristige Eigeninteressen hinaus - die wir in den unterschiedlichen Ressorts unserer eigenen Regierung wiederfinden - mit Themen wie Demokratisierung, Dezentralisierung, Privatisierung, Krisenprävention und menschliche Sicherheit zu verbinden. Diese Ideen durch ein Bündel von Maßnahmen, die ich hier nicht aufzählen will - wir können überall lesen, was möglich ist -, umzusetzen, wäre wirklich ein guter Anfang. Armutsbekämpfung muß also eine Querschnittsaufgabe sein, als solche anerkannt werden und über das Ressort wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausgehen. Es wäre wünschenswert, wenn dabei alle Ressorts an einem Strang ziehen würden, um die Armut in der einen, in unserer Welt wirklich zu verringern. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Roland Kohn.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Machen wir uns nichts vor: Staatliche Entwicklungspolitik wird zunehmend kritisch hinterfragt. Der Vorsitzende des Verbandes der deutschen Nichtregierungsorganisationen, Professor Molt, hat im Herbst in einem Beitrag für die „FAZ" zutreffend festgestellt, daß private Hilfe als Wohltätigkeit aus Sicht der Bürger etwas anderes ist als aus Steuern finanzierte staatliche Auslandshilfe. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Probleme in unserem eigenen Land - mehr als 4 Millionen Arbeitslose - müssen wir jede Mark, die wir für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben, rechtfertigen können. Wenn bei vernünftigen entwicklungspolitischen Projekten auch noch positive Nebeneffekte für den deutschen Arbeitsmarkt entstehen, ist dies aus liberaler Sicht um so erfreulicher. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu. ({0}) Für uns hat Entwicklungspolitik eine Dimension, die über Nothilfe und praktizierte Mitmenschlichkeit hinausgeht. Sie ist aktive Friedenspolitik. Dies ist ihre zentrale politische Rechtfertigung, nämlich Krisenprävention. Selbstverständlich bleibt es dabei, daß wir in Notsituationen, bei Natur- oder Hungerkatastrophen den Menschen vor Ort durch Lieferung von Nahrungsmitteln und Medikamenten auch in Zukunft helfen. Diese Form der Armutsbekämpfung im Sinne von Soforthilfe ist und bleibt wichtig. Entwicklungspolitik muß aber mehr wollen als diesen rein karitativen Ansatz. Nach unserem Verständnis muß Entwicklungspolitik dazu beitragen, in den Entwicklungsländern die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen aufzubauen, die es den Menschen ermöglichen, sich auf Dauer selbst zu helfen. Durch Systemberatung, durch Systemhilfe wollen wir das vornehmste Ziel der Entwicklungspolitik erreichen, nämlich Entwicklungspolitik tendenziell überflüssig zu machen. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich längst von der Illusion verabschiedet, man könne Armut weltweit durch den Transfer von gewaltigen Geldsummen aus den Industrie- in die Entwicklungsländer beseitigen. Die Erfahrungen in einigen Ländern Asiens und Lateinamerikas, selbst in Afrika, zeigen eindrucksvoll, daß nur durch die richtigen inneren Rahmenbedingungen und die von den EntwickRoland Kohn lungsländern selbst veranlaßten konsequenten Stabilisierungsmaßnahmen und strukturellen Reformen wirtschaftliches Wachstum ermöglicht wird. Wo besser gewirtschaftet, härter gearbeitet, mehr gelernt und mehr gespart wird, ist Entwicklung möglich, die wirkungsvoll und dauerhaft Armut bekämpfen kann. ({1}) Erfolgreich kann Entwicklungspolitik nämlich nur dann sein, wenn sie eigene Ansätze, wenn sie eigene Motivationen bei unseren Partnerländern aufgreift. Daran muß sich Entwicklungszusammenarbeit orientieren. Wir Liberalen sehen es deshalb als wichtigste Aufgabe an, die Entwicklungsländer bei der Schaffung dieser notwendigen Rahmenbedingungen zu unterstützen. Wir wissen, daß nur Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft den Menschen in der Dritten Welt Freiheit und Wohlstand ermöglichen. Wir wollen deshalb verstärkt marktwirtschaftliche Elemente in die deutsche Entwicklungszusammenarbeit einbauen. Dazu gehört beispielsweise wesentlich die Unterstützung beim Aufbau eines leistungsfähigen Finanzsektors. Wir alle kennen das Beispiel - Kollege Pinger hat das eben vorgetragen - der erfolgreichen Grameen Bank in Bangladesch. Es gibt aber noch andere vielversprechende Ansätze in diesem Bereich der Finanzsektorentwicklung. Ich nenne hier als Beispiel die Dorfbanken in Kamerun. Diese Banken vergeben Kleinkredite zum Beispiel an Händler, Bauern, Kleinunternehmer. Ausschlaggebend für die Kreditvergabe sind dabei aber nicht materielle Sicherheiten, sondern ist der gute Leumund des Kreditnehmers. Der Grund für den Erfolg dieser Banken besteht darin, daß sie afrikanische Traditionen - wie das „Komitee der Weisen" - mit ökonomischer Rationalität verbinden. Da wirtschaftliche Entwicklung wesentlich davon abhängt, daß die Menschen vor Ort selbst aktiv werden, haben sich diese Banken neben dem Kreditgeschäft auch die Ausbildung zum selbständigen Unternehmer, zum Beispiel auf einer Modellfarm oder auch in einem Schreinereibetrieb, zur Aufgabe gemacht. Solche Programme und Projekte müssen wir verstärkt unterstützen. ({2}) Der Erfolg von Kleinkreditprogrammen beruht darauf, daß sie „von unten" unter den gegebenen örtlichen Bedingungen entstehen. Eine zentrale Organisation solcher Kleinkreditprogramme auf internationaler Ebene, wie sie auf dem Microcredit Summit im kommenden Monat in Washington angestrebt wird, würde diesem Konzept zuwiderlaufen. ({3}) Wir Liberalen stehen auch aus diesem Grunde dieser Veranstaltung zurückhaltend gegenüber. ({4}) Entscheidend für die Entwicklungschancen der Partnerländer aber ist ihre volle Teilnahme am freien Welthandel. Es ist deshalb unsere Aufgabe, die eigene Handelspolitik zu überprüfen. Dies bedeutet: Abbau von Handelshemmnissen und protektionistischen Maßnahmen der Industrieländer und Öffnung unserer Märkte für Produkte aus den Entwicklungsländern. Das WTO-Ministertreffen in Singapur hat gezeigt, wie sehr man sich davor hüten muß, das Thema der Sozial- und Arbeitsstandards als Einfallstor für Protektionismus der Industrieländer zu mißbrauchen. Immer wichtiger für die Zukunft der Entwicklungsländer wird die privatwirtschaftliche Zusammenarbeit. Private Investitionen in den Entwicklungsländern sind das entscheidende Potential für eine nachhaltige Entwicklung. Nun profitieren aber - so wird gesagt - in erster Linie diejenigen Länder von diesen Investitionen, in denen die entsprechenden Rahmenbedingungen existieren. In bezug auf dieses Argument muß ich an die Eigenverantwortung der Eliten in den Entwicklungsländern erinnern. Sie haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, daß ihre Staaten die Chancen der Teilnahme am freien Welthandel auch tatsächlich nutzen und im Wettbewerb um Kapital, Investitionen und Arbeitsplätze bestehen können. Alle Anstrengungen laufen jedoch ins Leere, wenn es nicht gelingt, das Bevölkerungswachstum zu verringern. Die neuesten Zahlen sprechen zwar von einer Verlangsamung, aber dies ist noch lange kein Grund zur Entwarnung. Wir müssen die Entwicklungsländer weiter dabei unterstützen, ihr Bevölkerungswachstum einzudämmen. Neben einer umfassenden Aufklärung kommt es vor allem auf eine Stärkung der rechtlichen und wirtschaftlichen Rolle der Frauen sowie auf bessere Bildungschancen an. ({5}) Abschließend noch ein Wort zum Entwicklungshilfegesetz der SPD-Fraktion. Wir Liberalen lehnen ein solches Entwicklungshilfegesetz aus ganz grundsätzlichen ordnungspolitischen Erwägungen heraus ab. Die internationalen Beziehungen und damit auch die Entwicklungszusammenarbeit liegen in erster Linie in der Verantwortung der Exekutive. Es ist nicht sinnvoll, den Handlungsspielraum der Exekutive ohne Not durch gesetzliche Regelungen einzuschränken. Es ist ein typisch deutscher Fehler - ich möchte fast sagen: eine Schnapsidee -, alles, aber auch wirklich alles durch Gesetze regeln zu wollen. ({6}) Dagegen sprechen natürlich auch inhaltliche Erwägungen wie die Notwendigkeit, schnell und flexibel auf sich verändernde Situationen bei unseren Partnern reagieren zu können. Dieser Gesetzentwurf berücksichtigt vor allem nicht, wie wichtig es ist, neben den rein quantitativen Festlegungen auch inhaltiche Ausrichtungen im Hinblick auf die Qualität der Entwicklungsmaßnahmen, ihre Wirksamkeit und ihre Effizienz festzulegen. ({7}) Meine Damen und Herren, wir brauchen keine neuen Paragraphen und Gesetze, sondern einen Ideenwettbewerb um noch wirksamere und kostengünstigere Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit. Wir brauchen auch den Mut, deutsche Interessen verantwortungsbewußt und pragmatisch im internationalen Kräftefeld zu vertreten. Die deutsche Entwicklungspolitik ist auf einem guten Wege. Weiter so! ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Kollege Willibald Jacob.

Dr. Willibald Jacob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002689, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das vor uns ausgebreitete Material zum Thema Entwicklungspolitik zeigt eine große Übereinstimmung aller Parteien. Wir sind alle beeindruckt von einem Schock. Das Ergebnis einer jahrzehntelang verfehlten Entwicklungspolitik liegt vor uns. Gleichzeitig sind wir von der Notwendigkeit des Sparens und des Kürzens beeindruckt. Die Menschen haben den Eindruck, daß wir kein Geld haben, obwohl es doch da ist. Wir können deshalb an vielen Stellen unser Wort den Armen und Armsten gegenüber nicht halten. Die Strategen der Globalisierung und Deregulierung haben uns in eine paradoxe Situation gebracht: Wir bewegen uns mit unserem Haushalt nach wie vor in den engen Grenzen des Nationalstaates, wollen aber globale Probleme lösen. Dabei verdrängen wir, daß wir längst ein Teil des Problems sind, das wir lösen wollen. Wir haben zum Beispiel anderen die Schuldenfalle gestellt und sie dort hineingelockt, sind ihr aber selbst nicht entgangen. Die PDS erinnert daran, daß es eine gemeinsame Erklärung der Ausschüsse für Entwicklungszusammenarbeit von Volkskammer und Bundestag gab - am 20. Juni 1990 formuliert -, in der noch stand, was wir den ärmsten Entwicklungsländern schuldig sind: Streichung der Schulden als Wiedergutmachung. Wenn heute, nachdem die Schulden im Jahre 1990 nicht erlassen wurden, gefragt wird, woher wir das Geld nehmen sollen, sage ich: Die Menschen brauchen keine gigantischen Projekte wie die U-Bahn in Schanghai, den Arun-Staudamm im Himalaja oder andere Projekte in Berlin. Der Palast der Republik ist von der Berliner Bevölkerung einst als „Palazzo Protzi" verspottet worden. Die heutigen öffentlichen Bauten - ganz zu schweigen von den privaten - sind um ein Vielfaches protziger und sinnloser angesichts der Not in der Welt. Das Geld, das den Schuldenerlaß kompensieren könnte, wird begraben. Wir brauchen keinen entkernten Reichstag. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem UNO-Beamten über die Reform der UNO und die Finanzierung von gemeinsamen Aufgaben. Im Unterausschuß der Vereinten Nationen sagte er im Dezember 1996 als Ergebnis seines Vortrages den Satz: Nach dem Sieg der Märkte müssen die Märkte herangezogen werden zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben. Er beschrieb die Besteuerung der Märkte und kam, wie er sagte, zum Casus belli, zur Besteuerung der Finanzmärkte: Alle Finanzmärkte müssen besteuert werden, alle ohne Ausnahme. Damit könnten nicht nur die UNO-Gelder in Höhe von 6,5 Milliarden DM für deren Organisation auf gebracht werden, sondern auch viele andere Gelder für gemeinsame Aufgaben zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit auch bei uns. Ich dachte, ich höre nicht recht, aber das ist es. Schritt für Schritt muß eine weltweite Rechtsordnung aufgebaut werden, wenn ständig von .Globalisierung die Rede ist. Wir sollten das nicht verdrängen oder ständig vergessen. Die Überwindung der Armut im einzelnen ist heute von der Besteuerung der Reichen im ganzen abhängig. ({0}) Ich wende mich Afrika zu und erinnere daran, daß ein Hauptsatz aus dem Einmaleins der Entwicklungspolitik seit Jahrzehnten lautete: Seit 1960 haben die afrikanischen Länder ihre politische Unabhängigkeit erlangt, nicht aber ihre ökonomische. Heute bestätigt sich in dramatischer und schmerzlicher Weise in Westafrika, in Zaire und in Ostafrika, was es heißt, nicht zur ökonomischen Selbstbestimmung zu kommen und in Fremdbestimmung festgehalten zu werden. Die positiven Beispiele wie Südafrika und Namibia sind Ergebnisse erfolgreicher Befreiungsbewegungen und -kämpfe. Dabei sollten wir Deutschen uns nicht einbilden, wir würden es besser machen als die Franzosen und Belgier. Ich frage mich: Wollen wir, daß in afrikanischen Regionen wirklich eigene Akkumulationskreisläufe entstehen, oder sind wir nur um unsere eigenen besorgt? Wie denken wir wirklich über Agrarreformen, Selbsternährung und partizipatorische Bewegungen? In vier Punkten möchte ich kurz deutlich machen, was ökonomische Fremdbestimmung heißt, was es heißt, nicht wirklich zur Selbstbestimmung vorzustoßen. Erstens. Wirtschaftliche Unternehmen handeln außerhalb einer Rechtsordnung. Wo wirken Antikartellgesetze? Multinationale Großbetriebe beherrschen ganze Länder, so in Nigeria. Studien machen deutlich, daß sie ihre Machtbasis mit eigenen Geheimdiensten schaffen. Wo gibt es eine Besteuerung von Unternehmen, um dann lokal angemesDr. Willibald Jacob sene Sozialordnungen aufbauen zu können? Wo gibt es eigenständige regionale Banken, die im Interesse ihrer Länder und Bevölkerungen handeln können? Die Abhängigkeit von europäischen Wirtschafts- und Finanzkreisläufen behindert die Selbstbestimmung. Zweitens. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Familien sind weithin katastrophal. Kindersoldatentum ist die afrikanische Form der Kinderarbeit. Das Analphabetentum ist nicht überwunden worden. Entwicklungszusammenarbeit in ihrer staatlichen Form hilft nicht zum Neubau von Schulen, regt nicht die Diskussion mit Lehrern und Pädagogen an. In Ruanda und Burundi werden ihre Schüler systematisch erschlagen. Sie hätten etwas für zukünftige Lösungen beizutragen; ihre Schulen sind die Orte der Emanzipation, der Befreiung und Befriedung von Menschen, nicht die Klinik unter Palmen für den Geld besitzenden Europäer. In dieser Klinik läßt sich eine neue Art europäischer Analphabeten bedienen. Drittens. Die Kürzung von Mitteln und jetzige Reformen der Entwicklungshilfe bedeuten Rückzug aus Arbeitsfeldern, auf denen die Interessen der Armen und Schwächeren vertreten werden müßten. Das gilt nach innen wie nach außen. Die Stellen im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung werden gekürzt. Die Mitarbeiter sind damit nicht einverstanden. Der entsprechende Brief von Herrn Staatssekretär Hedrich ist deutlich. Gleichzeitig steht der Rückzug aus der UNIDO und damit die Gefährdung der UNCTAD auf der Tagesordnung. Natürlich haben sich hier genau die organisiert, die es nicht vergessen werden: Politisch haben die Westeuropäer die Leine locker gelassen, nicht aber ökonomisch. Viertens. Strukturanpassungsprogramme sind Dokumente der ökonomischen Abhängigkeit und können zur kulturellen Fremdbestimmung führen. Das ist eine gefährliche Geschichte. Länder und Regionen werden gezwungen, ihre Sozialordnungen zu belasten, zu gefährden, gar nicht erst aufzubauen, um Schulden, Zins und Zinseszins zurückzuzahlen. Im Mittelalter nannte man das Wucher. In welch negativen Kreislauf sind hier Menschen und Bevölkerungen hineingeführt worden? Wer hat davon den Nutzen? Nicht die Armen, die aber nicht wehrlos sind. Die Gewaltbereitschaft und die Gewaltanwendung wachsen; wir alle wissen das. Der Zirkel Armut - Militärdiktatur beginnt zu wirken, immer wieder. Das Jahr 1960 war das große Jahr des Beginns der afrikanischen Unabhängigkeit. Wir sollten nicht vergessen: gegen den Willen der damaligen Kolonialmächte. Dieses Gegen-den-Willen hat sich in den zurückliegenden 37 Jahren ausgewirkt. Die Fremdbestimmung Afrikas ist weitergegangen. Soll das jetzt anders werden? Das sollte möglich sein. Afrikapolitik sollte das leisten. Durch alle Komplikationen hindurch sollte das unterstützt werden, was den Menschen dient: Rechtsordnungen, Schulen, Finanzreformen, Sozialordnungen, die die Fremdbestimmung überwinden helfen. Das wäre wirkliche Transformation zum Besseren. Die Bundesregierung sollte sich dieser Aufgabe widmen. Danke sehr. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Minister Carl-Dieter Spranger.

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, daß die Entwicklungspolitik in der ersten Debatte des neuen Jahres das zentrale Thema im Deutschen Bundestag ist. Ich möchte mich bei allen Kollegen, die das bewirkt haben, herzlich bedanken. ({0}) Ich hoffe sehr, daß das ein gutes Omen für den Stellenwert dieses Arbeitsbereiches auch für die kommende Zeit ist. Die heute zur Debatte stehenden Anfragen und Anträge befassen sich mit einer Reihe sehr wichtiger Themen der Entwicklungspolitik. Zunächst zum Bereich Armutsbekämpfung. Der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag liegt auf der Linie der BMZ-Konzepte und früherer Bundestagsbeschlüsse zum gleichen Thema. Er betrifft vor allem die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung. Dies ist ein wichtiger Bereich, an dem sich auch wesentliche Merkmale unserer Politik der Armutsbekämfung ablesen lassen. Dazu ein Beispiel aus einem unserer erfolgreichen Projekte. Im indischen Bundesstaat Maharashtra unterstützen wir seit 1992 ein Erosionsschutzprogramm. Der bisherige Mitteleinsatz im Rahmen der FZ und TZ beläuft sich auf 38 Millionen DM. In weiten Teilen des Landes hatte das starke Anwachsen der Bevölkerung zu einer völligen Entwaldung im oberen Bereich der Wassereinzugsgebiete geführt. Ziel unserer indischen Partner ist es, eine weitere Erosion zu verhindern und den Grundwasserspiegel wieder zu erhöhen. Dies geschieht durch Aufforstung, Anbau von Windschutzhecken und die Anlage von Brennholzpflanzungen. Der Erfolg dieser Maßnahme ist beachtlich. Es gibt jetzt selbst in Dürrejahren wieder Trinkwasser. Die Getreideproduktion und das Einkommen der Menschen haben sich mehr als verdoppelt. Voraussetzung für den Erfolg des Vorhabens war aber die Bereitschaft der Bevölkerung zur aktiven Mitarbeit. Dies haben wir durch die Übertragung der Verantwortung für wichtige Durchführungsbereiche auf private Träger und Nichtregierungsorganisationen erreicht. So gelang es innerhalb weniger Jahre, im Gebiet des Projektes den Teufelskreis zwischen Bevölkerungsdruck, verstärkter Umweltzerstörung und Massenarmut zu unterbrechen. Der Erfolg dieser Maßnahme hat die Regierung von Maharashtra veranBundesminister Carl-Dieter Spranger laßt, ein ähnliches Programm flächendeckend im ganzen Bundesstaat mit eigenen Mitteln zu fördern. ({1}) Was leiten wir aus diesem Beispiel ab? Erstens. Unsere Strategie der Armutsbekämpfung ist auf aktive Beteiligung der Bevölkerung angelegt. Zweitens. Durch erfolgreiche Einzelanstöße lassen sich realistische, auf Akzeptanz treffende Konzepte entwickeln, die sich zur Wiederholung und zur Nachahmung eignen und damit auf längere Sicht zu den gewünschten strukturellen Veränderungen auf breiter Basis führen. Drittens. Armutsbekämpfung ist eine politische Aufgabe vor allem auch unserer Partnerregierungen. Sie müssen eine stärkere Teilhabe der Bevölkerung am Entwicklungsprozeß wollen, für die Programme politische Verantwortung übernehmen und ihre Nachhaltigkeit durch eigene Finanzierungsleistungen sicherstellen. ({2}) Diese Folgerungen verdeutlichen schon, daß Armutsbekämpfung weit über den Bereich der Selbsthilfeförderung hinausgeht. Wir dürfen nicht erst am Ende der Spirale ansetzen, sondern müssen den Ursachen des Übels zu Leibe rücken. Die Überwindung der grundlegenden Armutsursachen erfordert durchgreifende Reformen der Industrie-, Agrar- und Sozialpolitik, ({3}) des öffentlichen Sektors sowie des Steuer- und Finanzsystems in den Entwicklungsländern. ({4}) Wesentlich sind eine Dezentralisierungspolitik, die die Mitwirkung der Armen auf lokaler Ebene ermöglicht, und eine Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik, die auf die Belange der Armen achtet. Hier setzt das BMZ mit seinen Maßnahmen der Politikberatung an. Unser Konzept der Armutsbekämpfung ist breit angelegt. Wir wollen die Selbsthilfe fördern. Aber wir wollen auch und in erster Linie politische Veränderungen in unseren Partnerländern bewirken. Auch für eine nachhaltige Armutsbekämpfung sind die internen politischen Rahmenbedingungen entscheidend. Nur wenn unsere Partner Fortschritte in den durch unsere fünf entwicklungspolitischen Kriterien beschriebenen Bereichen erzielen, ist gewährleistet, daß sie langfristig aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe die Grundlagen für bessere Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung sichern können. ({5}) Deshalb bleibt auch die Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt ein zentrales Ziel. ({6}) Insofern sind auch unsere Anstrengungen, die internationalen Rahmenbedingungen für den Handel zugunsten der Entwicklungsländer zu verändern, Bestandteil unseres umfassenden Konzeptes zur Armutsbekämpfung. ({7}) Das BMZ hat die Initiative des WTO-Präsidenten zugunsten der am wenigsten entwickelten Länder unterstützt und an der Formulierung der deutschen Position zu Sozialstandards mitgewirkt, die kürzlich in Singapur diskutiert wurden. Mit solchen Weichenstellungen läßt sich oft weitaus mehr erreichen als durch die Förderung einzelner Projekte. Natürlich können wir mit den Mitteln der Entwicklungspolitik nicht alle Übel dieser Welt beseitigen. Deshalb sollte man es ihr - dies vergessen viele Kritiker - auch nicht ankreiden, daß die Armut in der Welt noch nicht beseitigt ist. Die internationale Finanzpolitik, die Umwelt- und Sicherheitspolitik, vor allem die Handels- und Agrarpolitik setzen weitaus wichtigere Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unserer Partnerländer. Es ist zwar in der Sache richtig, wenn auf das Kohärenzgebot stärker hingewiesen wird, wie es die SPD mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklungspolitik beabsichtigt. Mögen hinter diesem Gesetzentwurf stehende Absichten auch anerkennenswert sein, den vorgeschlagenen Weg lehnen wir ab. Die nähere Begründung wird neben dem Kollegen Kohn anschließend sicherlich der Kollege Wonneberger vortragen. ({8}) Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen zu den Anträgen machen, die sich auf Afrika beziehen. Ich bin froh, daß Afrika und die deutsche Afrikapolitik in der heutigen entwicklungspolitischen Debatte eine wichtige Rolle einnehmen. Afrika ist an einem historischen Wendepunkt. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus haben sich reale Chancen für eine friedliche politische und wirtschaftliche Entwicklung in Afrika ergeben. Neuere Entwicklungen zum Beispiel in Äthiopien, Eritrea, Mali, Uganda, Mosambik und Südafrika sind Erfolgsbeispiele für einen Kontinent, den viele schon abgeschrieben hatten. Auf der anderen Seite leben 45 bis 50 Prozent der Afrikaner Subsahara-Afrikas noch unterhalb der Armutsgrenze. Schwerwiegende politische Krisen wie in Burundi, Ruanda, Liberia, Sierra Leone, Zaire, Nigeria und Somalia prägen nach außen das Bild des ganzen Kontinents. Davon wird leider auch das Ansehen der entwicklungspolitischen Leistungen in diesen Ländern negativ beeinflußt. Entscheidend sind auch hier nicht die Beiträge von außen. Entscheidend sind die Eigenanstrengungen und der Reformwille der Partnerregierungen sowie die Absicherung ihrer Politik in der Bevölkerung. ({9}) Wichtig ist auch der Zufluß von Privatinvestitionen und anderer privater Transfers. ({10}) Deren Wirkungen können durch Entwicklungszusammenarbeit ergänzt und verstärkt, aber nicht ersetzt werden. Die Armut in Afrika wird sich nicht reduzieren lassen, wenn sich die afrikanischen Regierungen nicht selbst zur Politik der Armutsminderung verpflichten, ({11}) wenn sie nicht selbst eigene Hilfsprogramme auflegen und das Heil nicht von der internationalen Gemeinschaft erwarten. Daran hat es in der Vergangenheit vielfach gefehlt. Frau Kollegin Becker-Inglau, Sie haben Defizite bei der 20/20-Initiative angemahnt. Ich darf feststellen, das BMZ ist hier die falsche Adresse. Voraussetzung dafür ist, daß sich die Partnerregierungen zunächst verpflichten, diese 20 Prozent in ihren Haushalten für soziale Leistungen einzustellen. Dann sollten die Geber die zusätzlichen 20 Prozent zahlen. Wir müssen feststellen, die Entwicklungsländer sind solche Verpflichtungen bisher noch nicht eingegangen. Wenn sie es getan hätten oder zukünftig tun, werden wir unseren Verpflichtungen hinsichtlich der 20 Prozent nachkommen. Das darf ich Ihnen versichern.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Nickels?

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Bitte sehr.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, Sie sagten gerade, daß sich in Afrika nur dann grundlegend etwas zugunsten der Armen ändern wird, wenn sich die Regierungen selber dazu verpflichten, einen relevanten Teil des Volksvermögens für die Armutsbekämpfung einzusetzen. Das hört man in den Debatten der letzten Zeit sehr oft. Ich möchte Sie wirklich noch einmal dringlich fragen, inwieweit man die Regierungen denn dazu bringen kann, wenn immer noch bestimmte diktatorisch regierende Staatschefs namentlich in Europa die Konten finden, wo sie das, was die Leute hart erarbeitet haben und was ihnen entzogen und geraubt wird, deponieren können, wenn sie Länder mitten im Herzen Europas finden, wo sie ihre luxuriösen Anwesen bauen können. Wie soll dieses Ziel erreicht werden, wenn dieser Raub an der Bevölkerung immer noch stillschweigend unterstützt wird und von unserer Seite, vom Westen, von Europa, nicht massiv etwas dagegen getan wird?

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Ich darf nur daran erinnern, daß wir keine kolonialen Zustände mehr haben. Wir oder die Europäer regeln die Verhältnisse in Afrika nicht. Das sind unabhängige Staaten. ({0}) Unsere Zusammenarbeit mißt sich an den fünf Kriterien, und zwar sehr erfolgreich. Deswegen habe ich eine Reihe von Ländern genannt, bei denen wir auf solche Situationen bis hin zur Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit reagieren. Wir sind da sehr flexibel. Von Fall zu Fall wird entsprechend entschieden. Meine Damen und Herren, zu diesem Thema abschließend noch die Bemerkung, daß wir gerade angesichts der Entwicklungen dabeibleiben sollten, daß ein pauschaler Afrika-Pessimismus unbegründet ist. Die deutsche Entwicklungspolitik hat sich davon niemals anstecken lassen. Ich habe vor kurzem die Botschafter der afrikanischen Staaten zu einem Meinungsaustausch über die Fortschreibung unseres Afrika-Konzepts eingeladen. Auch hier wollen wir unsere Arbeitsgrundlagen aktualisieren und den neuesten, positiven Entwicklungen anpassen. In fast 40 Staaten Subsahara-Afrikas wurden Fortschritte im Hinblick auf mehr Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen erzielt. Vielerorts ist eine Verbesserung der Menschenrechtslage eingetreten, beispielsweise in Ghana, Südafrika, Benin und Mali. Marktwirtschaftliche Liberalisierung und Förderung der Privatinitiative haben sich in nahezu allen Ländern der Region durchgesetzt. Ghana, Elfenbeinküste, Uganda sind Beispiele für die erfolgreiche Umsetzung von Strukturanpassungsmaßnahmen. Eine deutsche Tageszeitung zitierte gestern den britischen Außenminister mit der Prognose, daß Afrika die Boom-Region des 21. Jahrhunderts werde. Während die meisten noch von Asiens Tigern fasziniert seien, blickten Weitsichtige bereits nach Afrika, so Minister Rifkind. Damit sind auch die Chancen für die Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit besser denn je. Entwicklungszusammenarbeit dient der Sicherung unserer Zukunft und damit auch unseren eigenen Interessen. Die meisten Anträge, die der heutigen Debatte zugrunde liegen, zeigen, daß die Fraktionen dieses Hauses mit der Verpflichtung, die Deutschland aus dieser programmatischen Aussage erwächst, konstruktiv umgehen. Die Konzeption der deutschen Entwicklungspolitik weist den richtigen Weg. Sie wird international anerkannt und von Ihnen allen in ihren Grundzügen mitgetragen. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, weiter dafür einzutreten, daß Entwicklungszusammenarbeit als eine Politik der globalen Zukunftssicherung verstanden wird. Sie ist eines der zentralen Mittel, mit denen das wiedervereinigte Deutschland seine gewachsene Verantwortung in der Welt wahrnehmen kann. Wir müssen deshalb alle Anstrengungen unternehmen, diese Politik zu stärken und auszubauen. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort erhält jetzt Graf Waldburg-Zeil.

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen entwicklungspolitischen Debatte beschäftigen sich mehrere Anträge mit unserem Nachbarkontinent Afrika. Während wir uns am 7. November des vergangenen Jahres mit den Problemen Zentralafrikas, Zaires, Ruandas und Burundis befaßt haben, stellen wir heute in einem interfraktionellen Antrag Initiativen zur Herstellung des Friedens im Sudan in den Vordergrund. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg hat die Konfliktparteien zermürbt. Erstmals gestehen alle Kontrahenten - so der kürzlich hier zu Besuch weilende sudanesische Außenminister - ein, daß der Krieg von keiner Seite gewonnen werden könne, niemandem nütze und allen schade. Hilfe zur Konfliktschlichtung ist von afrikanischer Seite, von den internationalen Freunden in der IGADD, aber auch von der Bundesrepublik erwünscht. Der interfraktionelle Antrag spricht für sich selbst. Ich möchte einen Gesichtspunkt besonders hervorheben, weil er den möglichen deutschen Anteil deutlich macht. Es ist mehrfach von Vertretern der Befreiungsbewegungen des Südens ebenso wie von solchen der Regierung das Interesse an föderalistischen Lösungen bekundet worden, wie sie die Bundesrepublik kennt. Nun mag man sagen, mit Verfassungen löse man keine realen Konflikte. Das stimmt; aber es stimmt nicht ganz. Verfassungen sind stets das Ergebnis von Konfliktlösungsstrategien. Bei der Unabhängigkeit Namibias haben deutsche Verfassungsrechtler eine wichtige Rolle gespielt. Zu den Gesprächen, Herr Bundesaußenminister, deutsche Verfassungsrechtler hinzuziehen, halte ich für preiswerter, als einfach Konflikte Konflikte sein zu lassen. ({0}) Folgendes ist übrigens interessant: In Südafrika funktioniert mittlerweile sogar die Kontrolle der Verfassung durch das Verfassungsgericht. Der Weg rechtsstaatlicher Verfassungen kann durchaus Eigengewicht entfalten. Wenn ich nun vom Sudan zum Thema Afrika insgesamt komme, so zeigt sich am Sudan und seinen Beziehungen zu Ägypten, daß es eigentlich nicht angeht, das subsaharische Afrika abzutrennen - zum einen, weil die Afrikaner selbst in der Organisation für Afrikanische Einheit alle Länder Afrikas, auch die nördlichen, einbeziehen, zum anderen aber deshalb, weil Europa und Afrika über das Mittelmeer geschichtlich immer verbunden waren: von der Zeit des Römischen Reiches über die Völkerwanderung, über die islamischen Königreiche in Spanien bis zur Kolonialzeit und nunmehr in der engen Assoziierung der Mittelmeerländer mit der Europäischen Union. Die Bewegungen ums Mittelmeer haben geschichtlich sowohl in Europa wie auch in Afrika immer enorme Rückwirkungen ins jeweilige Hinterland gehabt. Das gilt auch heute. Wenn man über die großen Entwicklungskontinente redet, gerät Afrika leicht in den Verdacht, die geringsten entwicklungspolitischen Erfolge aufzuweisen. Die Meinung ist weit verbreitet, von dort kämen nur Katastrophenmeldungen. Herr Entwicklungsminister Spranger, ich war sehr dankbar, daß Sie nicht nur die negativen Punkte aufgelistet haben. Denn es gibt ebenso positive Punkte, die in Afrika festzuhalten sind: In 17 Ländern hat es im letzten Jahr Wahlen gegeben; in mehr als der Hälfte der afrikanischen Staaten gab es ein reales Wirtschaftswachstum; allein die Lebenserwartung ist seit 1960 um 25 Prozent gestiegen. Das bedeutet für den einzelnen Menschen wirklich sehr viel. ({1}) Bei der Flut der vorliegenden Anträge mit ausgezeichneten Analysen und Anregungen möchte ich exemplarisch ein paar für unsere Politik und Entwicklungspolitik gegenüber Afrika wichtige Punkte herausheben, erstens das Bemühen um Konfliktschlichtung. Ein Hauptgrund für Entwicklungsmißerfolge in Afrika ist das Niederreißen erreichter Bemühungen durch Unruhen, Kriege und Bürgerkriege. Wir müssen der frühzeitigen Warnung vor Konflikten, der Konfliktvorbeugung und der Konfliktbeobachtung noch mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Zum Beispiel wird die Entwicklung in Ruanda ganz wesentlich davon abhängen, wie intensiv beobachtet wird, was im Inneren des Landes geschieht. ({2}) - Dasselbe gilt für Burundi und Zaire. - Die Rolle von Menschenrechtsbeobachtern kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Deeskalation ist die Vertrauensbildung. Ich nenne hier ein Beispiel aus dem interfraktionellen Antrag - der heute auch behandelt wird - zur Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara. Er sieht vertrauensbildende Maßnahmen durch den raschen Austausch von Kriegsgefangenen und die Ermöglichung wechselseitiger Besuche von Familienangehörigen, die durch die Frontlinie seit Jahren an einem Zusammenkommen gehindert worden sind, vor. Bemühungen um Feuereinstellung müssen solche um dauerhafte Friedenssicherung folgen. Schließlich kommt die Phase der Folgenbeseitigung: vom Minenräumen über die besonders wichtige Demobilisierung der Streitkräfte bis zur Wiedereingliederung der Flüchtlinge. Da muß ich mein Ceterum censeo sagen: Flüchtlinge müssen darauf vorAlois Graf von Waldburg-Zeil bereitet werden, am Wiederaufbau ihres Landes teilzuhaben. ({3}) Wir sollten aber nicht nur auf aktuelle Konflikte sehen, sondern auch mit Freude registrieren, daß es in Südafrika gelungen ist, einen unvermeidlich scheinenden Großkonflikt zu vermeiden. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt: Südafrika kann und wird Lokomotive des Entwicklungsprozesses in Afrika sein. Mit Recht haben Deutschland und Südafrika ihre Zusammenarbeit ausgebaut. Die Ausstrahlung dieses Prozesses ist bedeutsam für das gesamte südliche Afrika. Damit bin ich beim dritten Punkt: regionale Kooperation. Wenn in der Afrikaliteratur die kolonialen Linealgrenzen vielfach beanstandet werden, so gibt es dagegen ein einfaches Heilmittel: die regionale Gruppierung. Das gilt nicht nur für die SADC, also die Entwicklungsgemeinschaft von zwölf Staaten des südlichen Afrikas, sondern gilt ebenso für den Maghreb und für die zentralafrikanische und ostafrikanische Staatenwelt. Viertens. Die Chancen der regionalen Gruppierungen gelten aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Föderale Strukturen und besonders die kommunale Demokratiedimension bieten erhebliche Chancen zum Abbau innerer Spannungen. ({4}) Man könnte die Dezentralisierungspolitik in Mali hier ebenso anführen wie die im Senegal. Demokratie in Afrika bedarf der lokalen Partizipation. ({5}) - Wie überall auf der Welt. - Ebenso wie sich die politischen Chancen afrikanischer Länder durch die Abkehr vom Zentralismus verbessern, geschieht dasselbe mit den wirtschaftlichen Chancen durch die Abkehr vom gelenkten Wirtschaftszentralismus. Damit bin ich beim fünften Punkt: die privatwirtschaftlichen Chancen Afrikas auf dem Weg zur sozialen Marktwirtschaft. Wenn man eine Bilanz der Wirtschaftspolitik der afrikanischen Länder zieht, ist unverkennbar, daß mehr als die Hälfte im letzten Jahr auf die Karte der Privatisierung gesetzt hat. Allerdings liegen Licht und Schatten dicht beieinander. Von Wirtschaft in Afrika zu sprechen heißt leider auch, von Korruption und ausbeutenden Eliten zu reden. - Frau Nickels, ich bin bei Ihrem Problem. Mein sechster Punkt ist daher der Kampf gegen Korruption oder, positiv ausgedrückt, für gute Staatsführung. ({6}) Dabei genügt nicht die Anmerkung, daß die Rückkehr in der Schweiz gehorteter Gelder die Entwicklungshilfe übertreffen würde. Korruption läßt sich nur auf zwei Wegen bekämpfen: durch Bildung und durch Förderung sozialer Sicherungssysteme. - Hier müßte nun der entwicklungspolitische Exkurs über Armutsbekämpfung, Hilfe zur Selbsthilfe, Grundbildung und berufliche Bildung, Aufbau eines Mittelstandes, Förderung ländlicher und Sicherung städtischer Entwicklungen sowie der verschiedenen entwicklungspolitischen Strategien einsetzen. Dies wird aber heute an verschiedenen anderen Stellen noch geschehen. Deshalb darf ich einen siebten Punkt nur ganz kurz anfügen: die kulturelle Dimension der Entwicklung. Wir haben gelernt, von der Projekthilfe zur Programmhilfe zu schreiten, auf Nachhaltigkeit von Projekten zu dringen und in der personellen Hilfe Partner einzubeziehen. Dann ist zunehmend deutlich geworden, daß ohne Rahmenbedingungen wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit nichts geht. Auf vielen Konferenzen übersetzen Dolmetscher eifrig diese Worte. Aber ist der kulturelle Gehalt, der hinter ihnen steht, bei den Gesprächspartnern immer derselbe? Ich denke, daß die kulturelle Begegnung noch besser erschlossen werden muß. ({7}) Abschließend möchte ich noch einen Gesichtspunkt hervorheben dürfen: Deutsche Politik und deutsche Interessen sind eingebettet in das europäische Umfeld. Es gibt eine wichtige europäische West- und eine wichtige europäische Ostpolitik. Der Mittelmeerraum aber gehört zum Zentrum Europas. Europäische Politik ohne Südpolitik ist deshalb nicht möglich. Das gilt für uns Deutsche auch. Die Afrikapolitik wird in Zukunft Prüfstein für die Klugheit solch ausgewogener Politik sein. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt Kollege Dr. Werner Schuster.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu meinem Thema „Afrika und die deutsche Verantwortung" habe ich Ihnen wieder einmal ein Buch mitgebracht, „Das Reich und die neuen Barbaren", geschrieben von einem französischen Arzt, der viele Jahrzehnte in Afrika in der Organisation „Ärzte ohne Grenzen" gearbeitet hat. Er benutzt die Parabel vom Limes. Vor 2 000 Jahren - Sie wissen das noch - haben sich die Römer, die Gebildeten, die Reichen, von den Barbaren durch den Limes abgegrenzt. Die Barbaren, das waren unsere Vorfahren. ({0}) Heute, meine Damen und Herren, verläuft dieser Limes vor allem entlang des Mittelmeeres, aber auch am Rio Grande oder an Oder/Neiße. Wir sind heute in Europa „das Reich"; ausgegrenzt werden vor allem die Menschen in Afrika, unsere gemeinsamen schwarzen Freunde. Damals wurde dieser Limes nach knapp 200 Jahren überrannt, geschleift; die Barbaren haben sich ausgebreitet. Was meinen Sie, meine Damen und Herren, wie lange unser neuer Limes hält? - Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen: Er hält nicht, er nützt nichts. Damit bin ich bei der ersten Aufgabe einer verantwortungsvollen deutschen Afrikapolitik: Wir müssen unseren deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutlich machen - wir müssen sie informieren und für diese Einsicht werben -, daß die Afrikaner unsere Nachbarn sind und daß wir aus wohlverstandenem Eigeninteresse an gutnachbarschaftlichen Beziehungen mit ihnen interessiert sind. Das hat mit Barmherzigkeit nichts zu tun. ({1}) Hier, meine Damen und Herren, spende ich unserem Bundespräsidenten Herzog ein Sonderlob. Seine Reise nach Äthiopien, Eritrea und Uganda, Herr Außenminister, hat zu einem großen Nachhall in der deutschen Medienlandschaft geführt und für diese unsere Position geworben. Meine herzliche Bitte an Sie, Herr Minister: Fahren Sie häufiger im Jahr nach Afrika ({2}) nicht nur nach Südafrika - und animieren Sie Ihre Kabinettskollegen, vor allem Herrn Borchert, Herrn Waigel und Herrn Rexrodt, das gleiche zu tun. Sie sollten aber nicht allein fahren, sondern die Fachleute aus dem Hause von Herrn Spranger oder die der Kirchen, der NROs und der durchführenden Organisationen mitnehmen, damit Sie vor Ort auch das andere Afrika, das Afrika der ,,grassroots", erleben: ({3}) die Herzlichkeit der Menschen, ihre Kultur und ihre Andersartigkeit. Wer von uns käme auf den Gedanken, Italiener und Deutsche in einen Topf zu werfen? - In Subsahara-Afrika gibt es 45 Staaten. Sie könnten dort die Schlüsselrolle der Frauen erleben, aber auch, welch großes Ansehen wir Deutschen gerade bei der einfachen Bevölkerung, an den Wurzeln genießen und welche Erwartungen diese Menschen an uns haben. Damit bin ich bei der zweiten Aufgabe deutscher Afrikapolitik: Wir müssen unsere Interessen deutlich formulieren und öffentlich darstellen. Das sind natürlich sicherheitspolitische Interessen. Da ist natürlich die Frage des Ressourcenreichtums des Regenwaldes und seine Bedeutung für unser Klima, das sind unsere Werteorientierungen, Herr Spranger. Aber ich sage Ihnen: Die meisten deutschen Bürger wären viel eher bereit, für Entwicklung in Afrika als für die Folgen von Bürgerkriegen zu bezahlen. ({4}) Damit bin ich bei der dritten Aufgabe: Wir brauchen eine gemeinsame Afrikapolitik quer durch das gesamte Kabinett. Es sind ja nicht nur Spötter, die danach fragen, ob es eine deutsche Afrikapolitik gibt. - Ich empfehle die lesenswerte Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Mich erinnert deutsche Afrikapolitik immer an Eintracht Frankfurt. Sie kennen das: ein paar Stars, ab und zu eine Diva, aber null Mannschaftsgeist. Eintracht Frankfurt ist trotz seiner großen Möglichkeiten zweitklassig. ({5}) Ich komme zur vierten Aufgabe. Wir müssen Prioritäten setzen, was uns Politikern besonders schwerfällt. Wir können uns nicht in allen afrikanischen Ländern und auf allen Sektoren engagieren. In bezug auf die Länder und auf die Sache muß eine Arbeitsteilung innerhalb der Europäischen Union stattfinden. BMZ und AA sind personell und auch finanziell überfordert, alle notwendigen Dinge zu tun. ({6}) Deshalb schlagen wir bewußt eine Beschränkung auf drei sachliche Prioritäten vor: die Konfliktprävention, die Unterstützung der Zivilgesellschaft und die Koordination bzw. die Kohärenz der Entwicklungszusammenarbeit. Lassen Sie mich mit dem Schwerpunkt Konfliktprävention anfangen. Dazu liegen eine Reihe substantieller Anträge vor. Auch die SPD - meine Kollegin Uta Zapf - wird in den nächsten Wochen einen entsprechenden Antrag einbringen. Ich möchte dazu im Detail jetzt nichts sagen, sondern nur daran erinnern: ({7}) Wir haben eine Reihe von guten Möglichkeiten verpaßt: Angola 1992, Ruanda 1993 und Ostzaire 1996. Herr Kinkel, wir haben wegen unserer unverdienten historischen Sonderrolle in Afrika die einmalige Chance, Ihre Forderung, Deutschlands neue Rolle in der Welt beispielhaft in Afrika zu demonstrieren, umzusetzen und zu beweisen, daß wir bereit sind, unsere Verantwortung zu übernehmen. Diesen Zusammenhang möchte ich am Beispiel des Sudan-Antrags darlegen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, daß Sie bereit waren, eine Initiative der Opposition zu übernehmen. Die Situation im Sudan ist beispielhaft für die Situation vieler afrikanischer Länder. Wir können die Probleme im Sudan nur lösen, wenn wir zugeben, daß es sich primär um eine Aufgabe der Sudanesen selber handelt. I Wir brauchen also einen runden Tisch im Sudan. Alle Konfliktparteien sind bereit, daran teilzunehmen. Wir brauchen aber zweitens einen runden Tisch, der von den Nachbarstaaten, der IGADD und den arabischen Anrainerstaaten gebildet wird. Wir brauchen drittens die Absprache in der internationalen Gemeinschaft. Man muß einmal fragen: Welche Rolle spielen die Vereinigten Staaten? Militärhilfe in Höhe von 25 Millionen Dollar an Eritrea, Äthiopien und Uganda mit dem Ziel, die Regierung in Khartum zu stürzen, ist kontraproduktiv, wenn man einen Friedensdialog will. Man kann nicht die Massaker beklagen und gleichzeitig militärische Unterstützung leisten. Das ist Heuchelei! ({8}) In gleicher Weise gilt es, die Rolle von Frankreich im Bereich der Großen Seen zu hinterfragen. Ich empfehle Ihnen den Artikel Ihres ehemaligen Kollegen Volkmar Köhler in der EPD. Wir brauchen darüber hinaus eine abgestimmte Doppelstrategie - Zuckerbrot und Peitsche; Sanktionen und Anreize - zwischen Auswärtigem Amt und dem Entwicklungsministerium, damit die Konfliktparteien vor Ort leichter zusammenfinden. Für uns stellt sich aber auch die Frage, ob wir in der Lage sind, entsprechende Instrumente für die Vernetzung dieser runden Tische zur Verfügung zu stellen, ob wir geeignete Mediatoren haben, ob wir selbst dialogfähig sind und ob wir bereit sind, die Tatsache zu akzeptieren, daß nicht alle Menschen, die den islamischen Glauben haben, Terroristen sind. Wir brauchen einen langen Atem. Wir haben schon eine positive Erfahrung gemacht: „Wandel durch Annäherung" war der Schlüssel für den Ausgleich im Ost-West-Konflikt. Dieses Vorgehen lohnt sich auch im Sudan und in vielen anderen afrikanischen Staaten. Der zweite Schwerpunkt ist die Förderung der Zivilgesellschaft. Dazu haben Herr Pinger und Frau Becker-Inglau ausführlich Stellung genommen. Ich will dazu nur noch soviel sagen: Herr Nyerere hat recht: „Man kann nicht Menschen entwickeln. Die Menschen können sich nur selbst entwickeln." Aber gerade in Afrika gibt es eine Vielzahl von Menschen an der Basis, an den „grassroots", die sich selbst helfen können und wollen. Wir müssen sie nur gezielt und verstärkt fördern und für eine Koordination der Maßnahmen sorgen. ({9}) Hierbei kommt den Medien in Afrika eine große Rolle zu. Wir können als Entwicklungspolitiker auch von den Kirchen - vorgestern hatten wir eine Diskussion mit Kirchenvertretern, Herr Minister - lernen. Das bedeutet aber, daß wir umdenken müssen. Wir brauchen sozusagen eine Strukturanpassung in den Köpfen der Entwicklungspolitiker. Wir brauchen den Dialog vor Ort und nicht primär den Dialog in Bonn. Wir müssen bereit sein, miteinander zu reden und voneinander zu lernen. Ich kann Ihnen nur aus sehr persönlicher Erfahrung sagen, Herr Minister Spranger: Die Förderung der Zivilgesellschaft in praktischem Arbeiten hat auch etwas mit persönlichem Lebensglück aller Betroffenen zu tun.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schuster, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schuster, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, daß man das Engagement der Menschen, die sich selber einsetzen - das sind sehr viele -, fördern muß. Aber wenn man die Gewichtung sieht, stellt man fest: Man versucht, mit der Entwicklungspolitik die richtigen Projekte, die eigenen Kräfte und das Eigenengagement der Betroffenen, die selber wissen, was sie brauchen, zu fördern. Das finde ich völlig richtig. Auch ist es begrüßenswert, daß dies zusammen mit den Kirchen passiert. Aber auf der anderen Seite sind Diktatoren immer noch allererste Gesprächspartner westlicher Länder - das hat nichts mit Kolonialismus zu tun, sondern das ist ein Fakt -, und das sind genau die Leute, die diejenigen, die in den afrikanischen Ländern für die Betroffenen authentisch sprechen, einsperren, sogar umbringen und damit diese Betroffenen der Stimme berauben, die sie brauchen, um die Selbstgestaltung auf der staatlichen Ebene wirklich relevant werden zu lassen. Meine Frage ist: Sehen Sie nicht die Notwendigkeit - wenn man das wirklich ernst nimmt, vom Gewicht her, auch unter dem Aspekt der Menschenrechte -, mit aller zur Verfügung stehenden Kraft dagegen vorzugehen, das heißt auch: Sperrung der Auslandskonten, Verhindern der Möglichkeit, daß sich solche Diktatoren in den westlichen Ländern niederlassen? Muß man nicht auch das als einen wichtigen politischen Schwerpunkt der Entwicklungspolitik ansehen? Sonst geht das doch überhaupt nicht.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Nikkels, ich stimme Ihnen vom Grundsatz her zu; das ist ja unsere zentrale Forderung. Förderung der Zivilgesellschaft heißt eben gerade nicht Förderung von korrupten staatlichen Eliten. Die Frauen, die sich mit wenig Geld selber eine wirtschaftliche Basis schaffen, wie Herr Pinger ausgeführt hat, sind die ersten, die willens und in der Lage sind, zu ihren Politikern zu sagen: Ich wähle dich nicht, weil du korrupt bist. Deswegen, Herr Minister Spranger, immer wieder unsere Forderung: Armutsbekämpfung, Förderung der Zivilgesellschaft, Demokratie von unten. Der dritte Schwerpunkt ist die Frage der Koordination und der Kohärenz. Dazu wird meine Kollegin Brigitte Adler nachher etwas sagen. Nur soviel schon jetzt: Wir glauben schon, Herr Minister Spranger, daß ein entwicklungspolitisches Gesetz Ihre Position im Kabinett stärken würde; denn Sie müssen dafür sorDr. R. Werner Schuster gen, daß bilaterale Entwicklungszusammenarbeit länderweise abgestimmt wird. Kabinett und Kanzler müssen dafür sorgen, daß das BMZ wirklich seine Querschnittsfunktion wahrnehmen kann. ({0}) Damit bin ich am Schluß, Frau Präsidentin. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. Ich möchte mit einem Vorschlag enden, den ich einer Afrikanerin verdanke. Frau Kuma Ndumbe aus Kamerun hat in einer Podiumsdiskussion sinngemäß gesagt: Der Streit darüber, wer an der Situation in Afrika schuld ist, die Afrikaner selbst oder externe Faktoren, ist nutzlos. Denn die Schuldfrage führt nur dazu, daß sich jeder das Gewissen und seine Hände wäscht. Viel wichtiger ist, daß jeder seine Verantwortung wahrnimmt - wir in der Form unseres Vorschlages, in der großen Hoffnung, Herr Minister Kinkel, daß die Zahl der afrikanischen Politiker inzwischen gewachsen ist, die sich sehr wohl bewußt sind, daß sie für die Entwicklung ihrer Völker verantwortlich sind. ({1}) Wir sollten diese Menschen und diese gutwilligen Politiker in Afrika nicht enttäuschen und dazu beitragen, den Limes zwischen Europa und Afrika abzubauen. Ich bedanke mich. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! In der Geschäftsordnungsdebatte heute morgen hat mich einiges erheblich gestört, unter anderem die Tatsache, daß im wesentlichen wieder die innenpolitischen Probleme, die zweifellos sehr drängend sind, unsere Kernzeitdebatte bestimmen sollten. Wenigstens bei den Grünen habe ich einige nachdenkliche Gesichter in dieser Debatte gesehen. ({0}) - Herr Kollege Verheugen, Sie wissen doch ganz genau, was die Presse berichtet - kein Ton mehr über Afrika, kein Ton mehr über die Entwicklungspolitik -, wenn Sie sich durch gesetzt hätten, wieder über die innenpolitischen Probleme debattiert worden wäre und Sie dies zu einer reinen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition verfremdet hätten. ({1}) Das können wir angesichts unserer weltweiten Verantwortung einfach nicht akzeptieren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Afrikapolitik unterstreicht die Anstrengungen, die die Bundesregierung - übrigens, Herr Kollege Schuster, als Team und nicht jeder einzelne Minister in seinem Geschäftsbereich - unternommen hat, um diesen vielfältigen und problembeladenen Kontinent auf seinem Weg zu Selbstbestimmung und Menschenwürde, zu Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg, zu einer Zivil- und Bürgergesellschaft zu unterstützen. Zum Konzept der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung ist heute morgen eine Menge gesagt worden. Gerade die Weiterentwicklung dieses Konzepts betrifft ganz besonders die Probleme und die Situation der Menschen in Afrika südlich der Sahara. Deswegen ist es wichtig, daß wir uns in der Umsetzung dieser Konzepte nicht beirren lassen. Die besonderen Hilfen zur eigenen Gestaltung von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft haben in einigen Ländern erste Erfolge sichtbar werden lassen. In 17 Ländern Afrikas fanden im letzten Jahr Wahlen statt. In mehr als der Hälfte der Länder in Subsahara-Afrika gab es ein reales Wirtschaftswachstum. Die Lebenserwartung ist seit 1960 um über 25 Prozent gestiegen. Der Zugang zur schulischen Ausbildung vor allem für Mädchen wurde verbessert. Das darf uns natürlich nicht von unseren Anstrengungen, auf diesem Weg weiterzumachen, ablenken. Alle Berichte über Katastrophen bzw. über dramatische Entwicklungen sollten nicht dazu führen, die Anstrengungen nicht zu würdigen, die die Menschen in Afrika auf dem Weg zu Selbstbestimmung bisher erfolgreich unternommen haben. ({2}) Die Politik der Bundesregierung, wie sie in den „Leitlinien von Accra" festgelegt worden ist, ist nach wie vor richtig. Diese Leitlinien sind flexibel genug, auf dramatische Entwicklungen zu reagieren. Sie sind konstant genug, um eine kontinuierliche Politik zu ermöglichen. Sie zeigen erste Erfolge: Die Eigenversorgung in Ländern mit zunehmend stabilen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als Folge demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse hat sich deutlich verbessert. Die Regionalisierung, die damals angestoßen worden ist und die zum Beispiel in der Westafrikanischen Währungsunion eine erste Umsetzung erfahren hat, wird weitergeführt. Diese Westafrikanische Währungsunion entwickelt sich zu einer Wirtschaftsunion auch auf Grund des positiven Prozesses, den in Europa die Europäische Union durchgemacht hat. ({3}) Der Austausch von Waren, die in Afrika produziert werden, nimmt - auch mit der Europäischen Union - langsam zu. Auch dadurch werden die zum Teil sehr nachteiligen Auswirkungen, die die WTO auf afrikanische Staaten hat, abgemildert. Bei den Nachfolgeverhandlungen zum derzeit noch geltenden LoméAbkommen wird besonderer Wert darauf gelegt werden müssen, daß sich die Europäische Union gegenDr. Irmgard Schwaetzer über den afrikanischen Ländern und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung noch weiter öffnet. ({4}) Die Probleme der 6 Millionen Flüchtlinge in Afrika sind auch unsere Probleme. Unterdrückung, Bürgerkriege und Massenflucht haben wirtschaftliche, soziale und ethnische Konflikte als Ursache, beruhen aber auch auf der Tatsache, daß Afrika immer wieder als Stellvertreter für Konflikte in anderen Regionen dieser Welt herangezogen worden ist. Besorgt muß uns machen, daß - nach dem Ende des Ost-West- Konfliktes mit seinen Stellvertreterkriegen in Afrika - machtpolitische Erwägungen Afrika erneut zum Instrument zu machen versuchen. Natürlich ist uns allen daran gelegen, den Fundamentalismus, der in einigen Staaten Nordafrikas um sich gegriffen hat, nicht nach Süden vordringen zu lassen. Ich habe aber meine Zweifel, ob Waffenlieferungen - legal oder illegal -, die dazu dienen, Bollwerke gegen eine solche Ausbreitung des Fundamentalismus zu schaffen, geeignet sein können, diesen Kontinent sich weiter in Frieden entwickeln zu lassen. ({5}) Deshalb bitte ich die Bundesregierung nachdrücklich, allen Bestrebungen - von wem immer sie auch ausgehen -, gerade den Konflikt in Ostzaire, Ruanda und Burundi zu instrumentalisieren, entschieden entgegenzutreten. Die Kraft der afrikanischen Staaten, politische Probleme wie die in der Region der Großen Seen und im Sudan aus eigener Kraft zu lösen, muß weiter gestärkt werden. Es gibt bewunderungswürdige Anstrengungen der OAU, den Friedensprozeß gerade in dieser Region zu fördern. Aber diese regionale Organisation kann die Probleme nicht aus eigener Kraft lösen; sie braucht unsere Begleitung. Dazu muß Entwicklungspolitik eingesetzt werden. ({6}) Ich bitte die Bundesregierung nachdrücklich, dies mit ihren konkreten materiellen Hilfen noch ernster zu nehmen. Die politische Unterstützung durch den Bundesaußenminister in der Begleitung dieses Prozesses gibt es. Die materielle Unterstützung kann weiter intensiviert werden. ({7}) Alle Möglichkeiten der Krisenprävention, wie sie auch im Antrag der Koalitionsfraktionen, der heute zur Debatte steht, formuliert worden sind, können nur erfolgreich sein, wenn auch der Wille der Staaten, vor allem in der UNO, ihren Beitrag zur Friedenssicherung in Afrika zu leisten, spürbar wird. Allerdings vermittelt sich einem der Eindruck, daß der Wille dazu weitgehend fehlt. Auch hier ist die Bundesrepublik Deutschland gefordert, wegen ihres guten Rufes in Afrika alles einzusetzen, um die Rahmenbedingungen für zukünftige friedliche Entwicklungen zu verbessern. Viele Staaten Afrikas, allen voran Südafrika, haben in den vergangenen Jahren bewundernswerte Entwicklungen durchgemacht: aus eigener Kraft, durch eigene Entscheidung und durch die Entschlußfähigkeit ihrer Menschen. So ist in vielen Staaten eine wirtschaftliche Entwicklung eingetreten, die durchaus auch positive Auswirkungen für die Bevölkerung hat. Aber ich warne davor, unsere eigenen Anstrengungen in der Entwicklungspolitik zu frühzeitig zurückzunehmen, bevor selbsttragender wirtschaftlicher Aufschwung einem Rückfall in Krisensituationen vorbeugen kann. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Schwaetzer, kommen Sie zum Schluß.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Frau Präsidentin. Wenn Afrika wirklich zur Boomregion des 21. Jahrhunderts werden soll, dann brauchen wir noch erhebliche Anstrengungen von seiten der Industrieländer. Ich bin sicher, daß dieses Haus die Bundesregierung dabei unterstützen wird. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Kollegin Dr. Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, hatte zu Beginn dieser Legislaturperiode beschlossen, Afrika zu einem Schwerpunkt in unserer Nord-Süd-Politik zu machen. Ich danke meiner Fraktion, daß sie heute morgen nicht in diese populistische Falle hineingerannt ist, die Armen des Südens gegen die Armen des Nordens auszuspielen. Wir wollten eine innenpolitische Debatte nach der Afrika-Debatte. ({0}) Wir haben Afrika aus drei Gründen zum Schwerpunkt gemacht: Erstens. Die Afrikapolitik der Bundesregierung hat große Defizite. Diesem Mißstand gilt es unsere Alternativen entgegenzusetzen. ({1}) Zweitens. Der afrikanische Kontinent wird bei uns - fälschlicherweise - immer nur eindimensional als Krisenkontinent dargestellt. Unser südlicher Nachbarkontinent sollte aber in seiner ganzen Differenziertheit und in seinen widersprüchlichen Entwicklungen wahrgenommen werden. Drittens. Über 30 Jahre nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten ist es hierzulande vorherrschende Meinung, daß aktuelle Krisen in Afrika nichts mehr mit der Kolonialgeschichte zu tun haben. Die völlig richtige Benennung der Verantwortung der afrikanischen Eliten, wie es zum Beispiel die Kamerunerin Axel Kabou getan hat, darf aber nicht dazu führen, daß wir den heute noch wirksamen kolonialen Einfluß bagatellisieren. Einseitige, auf den Export ins Mutterland gerichtete Wirtschaftsstrukturen und willkürliche Grenzziehungen sind nur zwei Stichworte, die ich nennen möchte. An dieser Stelle möchte ich in Erinnerung rufen, daß sich die blutige Niederschlagung des Widerstandes in Namibia und Tansania gegen die deutsche Kolonialherrschaft in diesem Jahr zum neunzigstenmal jährt. Von etwa 80 000 Hereros lebten nach dem Tod von Jakob Morenga am 20. September 1907 nur noch etwa 12 000 in deutschen Gefangenenlagern. Ich hätte hier gerne ein Wort an den Bundeskanzler gerichtet. Ich hätte ihn gerne gefragt, was er sich eigentlich gedacht hat, als er im September 1995 einen zugegebenermaßen vielbeachteten, aber längst überfälligen Staatsbesuch im ehemaligen DeutschSüdwestafrika machte und sich weigerte, die Stätten der deutsch-namibischen Wunden zu besuchen und ein Memorandum des Herero-Chiefs Rirurako entgegenzunehmen. ({2}) Die britische Königin hat sich bei den Maori für das Leid, das der britische Kolonialismus den Maori zugefügt hat, entschuldigt. Viele hatten - vergebens - auf eine vergleichbare Geste in Windhuk vom Kanzler gewartet. Daß er diese Größe nicht gezeigt hat, finde ich enttäuschend. ({3}) Aber Geschichtslosigkeit hinsichtlich Afrika scheint in der CDU System zu haben. Davon möchte ich zum Beispiel meine sehr geschätzten Kollegen Graf von Waldburg-Zeil und Karl-Heinz Hornhues ausnehmen. Wie sonst aber erklärt sich, daß in Berlin Eberhard Diepgen beim Empfang des südafrikanischen Staatspräsidenten Nelson Mandela als einziges Datum die EU-SADC-Konferenz 1994 genannt hat - diese war zwar gut, Herr Außenminister; aber er hat nur dieses eine Datum genannt -, als er auf die Beziehungen Berlins zu Afrika zu sprechen kam? Dies ist schlicht und ergreifend peinlich. ({4}) Diese beunruhigende Geschichtslosigkeit veranlaßt mich, einen Vorschlag zu machen. Es ist an der Zeit, die historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Afrika, insbesondere zu den ehemaligen deutschen Kolonien, öffentlich zu diskutieren. In diesem Sinne verstehen wir, Bündnis 90/Die Grünen, Afrikapolitik als eine innenpolitische Aufgabe. Der Deutsche Bundestag könnte den Rahmen zur Verfügung stellen, damit Expertinnen und Experten und Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus Afrika und aus Deutschland unsere gemeinsame Geschichte aufarbeiten. Als Ergebnis könnte möglicherweise eine Versöhnungsvereinbarung mit den ehemaligen Kolonien getroffen werden. Daß wir uns in dieser Hinsicht nicht auf den Bundeskanzler verlassen können, hat er bei seiner Reise nach Namibia bewiesen. Wo liegen nun die Defizite der Afrikapolitik der Bundesregierung? Erstens. Afrika spielt in der deutschen Außenpolitik eine marginale Rolle, die in keiner Weise der Bedeutung unserer Nachbarn im Süden entspricht. ({5}) Zweitens. Die Grundsätze und Ziele der Afrikapolitik, wie sie zum Beispiel in den Leitlinien von Accra oder in verschiedenen Anträgen des Deutschen Bundestages dargelegt sind, werden nur unzureichend, zögerlich und halbherzig in die politische Praxis umgesetzt. Drittens. Die Bundesregierung ist zuwenig initiativ bei der Entwicklung einer kohärenten europäischen Afrikapolitik; das haben verschiedene Vorredner schon gesagt. Nationale Eigeninteressen und die quasi Aufteilung Afrikas in anglophone und frankophone Einflußzonen behindern ein abgestimmtes europäisches Handeln. Was dabei herauskommt, sehen wir in Burundi, Ruanda und Zaire. Viertens. Die deutsche Afrikapolitik leistet keinen ausreichenden Beitrag, um den Teufelskreis von Preisverfall, Verschuldung und wirtschaftlichem Niedergang zu durchbrechen und damit die Armut wirksam zu bekämpfen. Fünftens. In Afrika fordern derzeit rund 15 Kriege und bewaffnete Konflikte täglich viele Opfer. Die Defizite in der Ausgestaltung einer Krisenprävention in der Außen- und Entwicklungspolitik nehmen wir, Bündnis 90/Die Grünen, deshalb nicht mehr länger hin. Die 310 Millionen DM für den Bundeswehreinsatz in Somalia zum Beispiel hätten konfliktpräventiv Besseres bewirkt. ({6}) Sechstens. Von dem jüngst verabschiedeten Entwicklungshilfehaushalt ist auch Afrika betroffen. Wir sind besorgt, daß sich die drastischen Einschnitte längerfristig negativ auf die Unterstützung sinnvoller Entwicklungsprozesse auswirken werden. Hier möchte ich mich an Bundesminister Spranger wenden. Ich halte es für ein nicht besonders gelungenes, um nicht zu sagen: ein fast plumpes Ablenkungsmanöver, wenn Sie, Herr Spranger, die Grünen für die Haushaltskürzungen verantwortlich machen. Wir haben hier nicht die Mehrheit. Sie sitzen am Kabinettstisch. Die CDU/CSU und die F.D.P. tragen die Verantwortung für diese Haushaltskürzungen. Sie haben in einer Debatte im Deutschen Bundestag die Grünen verantwortlich gemacht. Das weise ich hiermit zurück. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrika steht heute am Scheideweg. Demokratisierung, Friedenssicherung und wirtschaftlicher Aufbau gehören ebenso zur afrikanischen Realität wie Armut, Staatszerfall und humanitäre Katastrophen. Vor diesem Hintergrund muß sich die Bundesregierung bei der Entwicklung ihrer Afrikapolitik von folgenden zentralen Fragestellungen leiten lassen. Wie können innergesellschaftliche Konflikte geregelt werden, ohne daß es zu gewaltsamen Ausbrüchen kommt? Wie können bestehende afrikanische Konfliktlösungsmechanismen unterstützt werden, damit sie eine größere Wirkung erzielen als bisher? Wie lassen sich Demokratisierungsprozesse stabilisieren, um einen Rückfall in autoritäre Strukturen zu verhindern? Mit welchen Strategien können eine wirksame Bekämpfung der Armut und ein wirtschaftlicher Aufbau erreicht werden? Unsere Fraktion kann für die vielschichtigen Fragen keine Patentrezepte anbieten. Das wollen wir auch nicht; das wäre vermessen. Wir haben uns aber bemüht, in unserem heute vorliegenden Antrag „Deutsche Afrikapolitik - Solidarität mit den Menschen Afrikas ist notwendig" in neun Handlungsfeldern konkret aufzuzeigen, wo der Reformbedarf in der deutschen Afrikapolitik liegt. Diese sind erstens eine Ökologiepolitik zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen; zweitens eine Politik der Entschuldung und Armutsbekämpfung; drittens Förderung der ländlichen Entwicklung, die die Ernährung sichert; viertens Entwicklung einer alternativen Strukturanpassung; fünftens Umsetzung einer kohärenten Afrikapolitik auf bilateraler und multilateraler Ebene; sechstens Unterstützung von Krisenprävention und ziviler Konfliktbearbeitung; siebtens Förderung von Demokratie und Sicherung der Menschenrechte; achtens Reform der Entwicklungszusammenarbeit und neuntens das Begreifen von Afrikapolitik auch als innenpolitische Aufgabe. Da der Antrag in den Ausschüssen weiter beraten wird, will ich hier nur auf einige Punkte eingehen. Grundsätzlich wollen wir, Bündnis 90/Die Grünen, daß sich der Deutsche Bundestag uneingeschränkt und nachdrücklich zur Partnerschaft Deutschlands mit Afrika bekennt: auf der Grundlage der Eigenständigkeit und Gleichberechtigung, der Verurteilung des Rassismus und der Gewalt gegen afrikanische Mitmenschen bei uns in Deutschland sowie der Solidarität mit allen, die in Afrika für Menschenrechte kämpfen. ({8}) Nun zu einigen Punkten aus unserem Antrag. Verschuldung ist und bleibt eines der Haupthindernisse für die zukünftige Entwicklung der Länder im Süden. Dies gilt insbesondere für die Länder südlich der Sahara. Ihr Schuldendienst beträgt jährlich rund 12 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr, als man in Afrika für das Gesundheitswesen ausgeben kann. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, die von IWF und Weltbank beschlossene Initiative zur multilateralen Entschuldung voranzutreiben, das heißt die Zahl der berechtigten Länder - das sind vor allem afrikanische - deutlich auszuweiten und eine schnellere Umsetzung zu erreichen. Gegenüber den am höchsten verschuldeten afrikanischen Ländern soll die Bundesregierung Schuldenverzichte vornehmen, die über die Vereinbarungen des Pariser Clubs hinausgehen. Die Forderungen aus DDR-Altschulden müssen endlich vollständig aufgehoben werden. ({9}) In Zeiten zunehmender internationaler wirtschaftlicher Verflechtung gewinnen auch für die Länder Afrikas die handelspolitischen Rahmenbedingungen stark an Bedeutung. Zumindest Teilen Afrikas droht eine Art Zwangsabkoppelung vom Weltmarkt, mit allen negativen Folgen. Die Investitionen, die in Entwicklungsländer gehen, fließen nämlich zu rund 90 Prozent in einige wenige asiatische und südamerikanische Schwellenländer. Um zu verhindern, daß Afrika auch im Rahmen der Welthandelsorganisation zu den Verlierern gehört, fordert unsere Fraktion, daß der Marktzugang für die ärmsten Länder durch Zollabbau verbessert werden muß. Aber ihr Recht, ihre eigenen Märkte zu schützen, ist anzuerkennen. Es muß alles unterlassen werden, was das vordringlichste Ziel, nämlich die Ernährungssicherung, untergräbt. ({10}) Ein wichtiges Handlungsfeld deutscher Afrikapolitik sind Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung. Das haben einige Vorredner bereits gesagt; darin sind wir uns also im großen und ganzen einig. Der bekannte Hamburger Friedensforscher Volker Matthies stellte die Frage: Warum brechen Kriege nicht aus, und welchen Beitrag kann man dazu leisten? Nicht mehr die Ursachen von Krieg, sondern die Ursachen des Friedens stehen im Mittelpunkt. Die neue Leitfrage heißt also: Wie verbreite ich Frieden? 90 Prozent der derzeitigen Kriege und Bürgerkriege finden in Entwicklungsländern statt. Sie brechen aber nicht aus heiterem Himmel aus, sondern kündigen sich über verschiedene Stadien an. Politische, soziale, kulturelle Differenzen und gegensätzliche Interessen führen oft zu Spannungen und Konflikten. Im Frühstadium können sie oft durch Dialog, Kompromiß oder Vertrag befriedet werden. Ist dieser Zeitpunkt verpaßt, wird der Konflikt durch gewaltbereite Kräfte angeheizt, und es droht der offene Ausbruch von Gewalt. Dieser Prozeß ist beeinflußbar. Aber genau das hat man beispielsweise in Burundi nicht genügend getan. Man hat diesen Prozeß in den letzten zwei, drei Jahren dort sehr gut studieren könDr. Uschi Eid nen. Das mag zynisch klingen, aber es ist so. Im Juli letzten Jahres kam es dann, nach drei Jahren Gewalt, zum Putsch. Die demokratisch gewählten Institutionen wurden außer Kraft gesetzt; viele Abgeordnete - über 25 - sind ermordet worden, andere haben das Land verlassen, und einige, darunter der Parlamentspräsident, haben sich in die Residenz des deutschen Botschafters geflüchtet. Herr Bundesaußenminister, ich möchte mich für meine Fraktion - ich glaube, ich spreche im Namen des ganzen Deutschen Bundestages - bei Herrn Botschafter Dr. Morast und besonders auch bei Frau Morast ganz herzlich dafür bedanken, daß sie diese vielen Abgeordneten in der Residenz für viele Wochen beherbergt haben. Das war keine leichte Aufgabe. ({11}) Als Folge der Zunahme von Konflikten wird die Entwicklungspolitik zum Reparaturbetrieb. Die Mittel, die eigentlich für längerfristige Entwicklungsaufgaben vorgesehen sind, werden entzogen und zunehmend für die Behebung von Krisenfolgen verwendet. Da der Dialog, die einfachste Form der Friedenspolitik, und damit die klassische Diplomatie nicht immer erfolgreich sind, sind andere Politikfelder gefordert, vor allen Dingen die Entwicklungspolitik. Ich gehe davon aus, Herr Minister Spranger, wir sind uns darin einig, daß die Unterstützung von Demokratie und Partizipation, des Justizwesens und der Zivilisierung von Militär und Polizei zentrale Aufgaben für die politische und gesellschaftliche Stabilität und damit für den Entwicklungserfolg eines Landes sind. Aber diese Einigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Praxis noch erhebliche Defizite gibt. Die Region der Großen Seen in Afrika bietet das jüngste Beispiel für das totale Versagen der Politik. Ich werfe der Bundesregierung und der internationalen Staatengemeinschaft vor, die bedrohlichen Signale, die diese Region seit Jahren aussendet, nicht ernst genommen zu haben. ({12}) Trotz der Rückkehr Hunderttausender Flüchtlinge nach Ruanda ist die Lage in diesem Gebiet keineswegs entschärft. Seit der Bundestagsdebatte im Dezember hat sich die Situation in Zaire weiter zugespitzt. Es gibt Informationen, wonach eine Söldnertruppe, angeheuert von ehemaligen französischen Offizieren, dem bedrängten Diktator Mobutu zu Hilfe eilen soll. ({13}) Ich fordere die Bundesregierung auf, gegenüber unseren französischen Freunden deutliche Worte zu finden. Dem Mobutu-Regime muß jegliche direkte und indirekte Unterstützung entzogen werden. ({14}) Die Kongo-Krise der 60er Jahre ist ein warnendes Beispiel. Ausländische Söldner haben auf dem afrikanischen Kontinent nichts zu suchen. Das gleiche gilt für Waffen und Rüstungsexporte. ({15}) Innenpolitisch fordere ich die Bundesregierung auf, keine Flüchtlinge nach Zaire abzuschieben. ({16}) Nachdem die Politik versagt hat - das gilt nicht nur für das Gebiet der Großen Seen -, wird schnell der Ruf nach humanitärer Hilfe laut. Damit komme ich zum letzten Punkt, der mich zunehmend beunruhigt: Humanitäre Hilfe - so notwendig sie im Einzelfall auch ist - wird immer mehr zum Politikersatz und tritt immer häufiger an die Stelle von vorausschauender Außen- und Entwicklungspolitik. Es muß klar sein: Humanitäre Hilfe ist Nothilfe. Sie hat keine gestaltende Wirkung. Die Bundesregierung hat trotz gegenteiliger Beschwörungen bisher keine überzeugenden Aktivitäten im Krisen- und Konfliktmanagement entwickelt. Somalia und Ruanda sind beredte Beispiele hierfür. Das Weltgewissen wird beruhigt, erweckt doch der humanitäre Aktionismus den Anschein, als geschehe etwas. Aber ich habe noch immer Hoffnung auf eine Änderung dieser Politik. Unsere Vorschläge hierzu liegen auf dem Tisch. Ich möchte hier zum Schluß eine Stimme aus dem Süden zu Wort kommen lassen. Es ist die Stimme von Odette Kum'a Ndumbe aus Kamerun. Sie hat 1995 in Berlin auf dem Afrika-Kongreß meiner Fraktion und der Heinrich-Böll-Stiftung folgendes gesagt: Mein Afrika ist ein Ort, wo ein Kind viele Mütter und Väter hat, Wird von den einen in Schutz genommen, wenn die anderen schimpfen. Mein Afrika ist ein Ort, wo man das Gefühl hat, zusammenzugehören, Wo die Freundin eine Schwester ist und deren Mutter meine Mutter ist. Mein Afrika hat herrliche Wälder, Flüsse und Berge. In meinem Afrika haben die Menschen Zeit füreinander Und eine einmalige Beziehung zu der Erde ihrer Ahnen und zu den Ahnen selbst. In meinem Afrika gibt es fröhliche, königlich elegante Menschen, Deren Anblick allein mich fröhlich stimmt. In meinem Afrika lacht man laut und zusammen, wenn Grund zur Freude ist. Man weint aber auch laut und zusammen, wenn Grund zum Weinen ist. Was? Du möchtest gern meine Mutter Afrika kennenlernen? Streng Dich ein wenig an! Wirf einen Blick in Dein tiefstes Inneres! Wasche den Vorurteils-, Klischee-, Komplexstaub weg und komm zu ihr! Es ist eine Liebesgeschichte! Liebst Du sie, wird sie Dir ihre Arme öffnen und Dich aufnehmen wie eine Tochter, Wie einen Sohn, Dann wirst Du eingeführt in die Geheimnisse ihrer Schätze, In die Vertraulichkeit ihrer Gefühle, Glaub mir, Du wirst es nie bereuen. Dann wird unsere Welt anfangen, ihre wahre Gestalt anzunehmen, Nämlich die einer einzigen und gemeinsamen Welt von Töchtern und Söhnen Unserer Mutter Erde. ({17}) Vizepäsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Philosoph Jonas hat das Prinzip Verantwortung zum wichtigsten Prinzip unserer Zeit erklärt. Ich glaube, er hat recht. Er sagt: Wer das Glück hat, in Frieden, Freiheit und einigermaßen Wohlstand zu leben, hat die Verpflichtung, denen zu helfen, die dieses Glück nicht haben. Liebe Frau Eid, Sie wissen, daß ich Ihr Engagement gerade für Afrika - ich komme nachher noch einmal darauf zurück - besonders schätze. Wir haben und spüren als Bundesregierung - ich weiß, daß wir uns im Bundestag darin einig sind - diese Verantwortung. Wir wollen genau das, was Sie ansprachen und von uns gemeinsam eingefordert haben, nämlich dieses partnerschaftliche und freundschaftliche Verhältnis und Gefühl gegenüber diesem unserem Nachbarkontinent nach dem Motto: Wenn wir Europäer uns um diesen Kontinent und die Menschen dort in Not nicht kümmern, wer dann? ({0}) Ich weiß sehr genau, daß der Bedarf an Hilfe nirgendwo auf der Welt so offensichtlich ist wie in Afrika. Es wurde heute bereits mehrfach angesprochen: Dort stehen Enttäuschung und Hoffnung sehr dicht beieinander. Die 46 Staaten südlich der Sahara haben zusammen ein Bruttosozialprodukt in Höhe von rund 270 Milliarden Dollar, das entspricht etwa dem von Belgien. Der Anteil Afrikas am deutschen Außenhandel beträgt 2,2 Prozent. Aber gerade deshalb muß die zentrale Botschaft dieser Debatte sein: Wir dürfen und wir werden Afrika mit seinen Problemen nicht im Stich lassen. Das ist im übrigen eine Frage der politischen Moral wie auch der politischen Vernunft. ({1}) Das Ja der Bundesregierung zu einer aktiven und engagierten Afrikapolitik ist Gott sei Dank im Bundestag unumstritten. Das ist das zentrale Signal an unsere afrikanischen Freunde.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Niemand kann in Sicherheit und Frieden leben, wenn andere in Unsicherheit und Streit leben. - Ich glaube, das trifft den Kern. Die Probleme Afrikas sind auch unsere Probleme. Über 20 Prozent der Landfläche der Erde entfallen auf Afrika; Afrika ist dreimal so groß wie Europa. Sich diese Dimension ins Gedächtnis zurückzurufen ist nicht unwichtig. Rund 800 Millionen Menschen leben dort, davon zirka 570 Millionen südlich der Sahara. Afrika hat mit 3 Prozent pro Jahr das höchste Bevölkerungswachstum aller Kontinente. In Afrika leben 180 Millionen chronisch Unterernährte, im Jahre 2010 werden es vielleicht 300 Millionen sein, zumindest schätzen das die Fachleute. 16 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, und 5 Millionen Menschen sind HIV-infiziert. Der HIV-Virus ist die neue Geißel Afrikas, und zwar eine schreckliche. Die Menschen dort haben unsere Unterstützung bitter nötig. Niemand darf glauben, daß die Konflikte dort weit weg von uns sind und uns nichts angehen. Das wäre eine fatale Haltung. Die Erhaltung des afrikanischen Regenwaldes ist für das Weltklima lebenswichtig, und das Mittelmeer allein wird Menschen in Not nicht abhalten, in Europa eine neue Lebenschance zu suchen. Deshalb müssen wir in Afrika - ich wiederhole es - einen Partner sehen, den man braucht, dem man hilft, dem man vor allem hilft, sich selbst zu helfen. ({0}) Eines will ich mit Nachdruck sagen, weil es auch meine ganz persönliche Einstellung in dieser Frage ist: Eine Politik, die Afrika allein ließe, würde all unseren Wertmaßstäben widersprechen. Schon deshalb ist es notwendig, daß wir helfen. Gewiß: Not und Elend der Menschen in Afrika sind immer wieder erschütternd. Die Bilder davon lassen niemanden los, der das erlebt hat. Sehr viele sprechen über Afrika, die selten dort gewesen sind. Ich habe mit einigen Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag - ich habe darüber berichtet - Not und Elend dort angesehen. Schlimm waren die Bilder der Flüchtlingsströme in der zweiten Hälfte des letzten Jahres. Aber - das ist heute zu Recht betont worden - Afrika ist natürlich nicht nur der Hunger- und Krisenkontinent. Nelson Mandela verkörpert unseren Glauben an die Möglichkeiten und Fähigkeiten Afrikas zu innerem Frieden und Fortschritt. Auf die Wachstumsraten ist bereits hingewiesen worden, ebenso darauf, daß die Demokratisierung dort durchaus Fortschritte macht. Es gibt also Zeichen der Hoffnung. Zu unserer Strategie, die eingefordert worden ist, möchte ich sagen: Erstens. Wir setzen auf eine gleichberechtigte politische und wirtschaftliche Partnerschaft unter möglichst großer Eigenverantwortung der Afrikaner. Deshalb setzen wir auch bei der Lösung der Probleme in der Region der Großen Seen konsequent auf die OAE und die Länder der Region. Wir haben für den Konfliktlösungsmechanismus der OAE im Gebiet der Großen Seen 1 Million DM zur Verfügung gestellt. Noch vor wenigen Jahren wären OAE-Resolutionen, wie sie zu den Ereignissen im Sudan oder in Burundi ergangen sind, absolut undenkbar gewesen. Die OAE muß als regionale Organisation gefördert werden, aber sie muß auch gefordert werden. Man muß deutlich und klar sagen: Ihr müßt eure Probleme selber anpacken und könnt nicht immer sofort zu den Vereinten Nationen laufen. ({1}) Zweitens. Wir unterstützen das Konzept der regionalen Zusammenarbeit. Dieses Konzept ist auch für Afrika ein notwendiger und erfolgversprechender Weg zu Stabilität und Wachstum. SADC, ein weiterer multinationaler Zusammenschluß, und zwar, wie ich glaube, ein Zusammenschluß von zentraler Bedeutung für den afrikanischen Kontinent, leistet hier Schrittmacherdienste.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Eid?

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Ja, bitte. Lassen Sie mich aber meinen Gedanken noch zu Ende führen. Deshalb hat die EU 1994 auf meine Initiative hin die Zusammenarbeit mit dieser Organisation auf eine neue Stufe gestellt. Die Berliner Erklärung, die wir dazu abgegeben haben, war sehr hilfreich. Bitte.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Bundesminister, Sie fordern ein - das ist auch richtig -, daß man die OAE fordert und nicht nur fördert. Als der Generalsekretär Dr. Salim in Bonn war, hat er genau dies gesagt, daß nämlich Afrika die Verantwortung zur Lösung der eigenen Probleme übernehmen will.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frage!

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frage: Wie stehen Sie dazu, daß die Vereinten Nationen es gar nicht zugelassen haben, daß die OAE tätig wird, ({0}) nachdem der Nairobi-Gipfel zu der Krise in der Region der Großen Seen stattgefunden und beschlossen hatte, daß die Afrikaner dort etwas tun wollen, nämlich Friedenstruppen dorthin schicken wollen? Ich hätte gerne gewußt, wie Sie die Tatsache, daß die VN den Afrikanern diese Möglichkeit genommen haben, vor dem von Ihnen geschilderten Hintergrund einschätzen.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Der Nairobi-Gipfel war - das wissen Sie sehr genau - hilfreich und auch positiv. Aber er hat, wenn man es aus der Hubschrauberperspektive betrachtet, natürlich nicht das bringen können - ich füge hinzu: leider -, obwohl wir mitgewirkt und das Ganze angeregt haben, was objektiv zur Konfliktlösung notwendig war. Ich räume auch gern ein, daß die Koordinierung zwischen der UNO und der OAE in diesem Fall nicht sehr gut funktioniert hat. Aber gehen Sie bitte davon aus, daß die Vereinten Nationen natürlich enorm daran interessiert sind - das wissen doch auch Sie -, daß nicht immer sofort zu ihnen gelaufen wird, sondern daß regionale Organisationen wie die OSZE und die OAE stärker als bisher versuchen, die Konflikte zu lösen, die durch regionale Organisationen lösbar sind. Dazu kann ich nur sagen: Die OAE hat noch nicht den Push, die Stärke und die Möglichkeiten dazu. Ich füge hinzu: leider. Deshalb sollten wir alles tun - ich weiß, daß wir uns da einig sind -, um die OAE zu stärken, damit sie afrikanische Konflikte soweit irgend möglich in Zukunft allein zu lösen versucht. Das ist unsere Politik, eine von mir persönlich massiv betriebene und unterstützte Politik, wie Herr Salim und die afrikanischen Regierungschefs genau wissen. ({0}) - Darauf komme ich gleich zurück. Das alles hat natürlich spezielle Gründe, die jetzt in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht erörtert werden können. Da ich in dieser Frage selber sehr engagiert war und mitgewirkt habe, könnte ich Ihre Frage sehr wohl beantworten. Wir können vielleicht nachher privat darüber sprechen. Ich darf zu dem, was ich zur EU-SADC-Konferenz gesagt habe, zurückkommen. Die EU-SADC-Konferenz in Windhuk 1996 war ein großer Erfolg. Das Exekutivkomitee der Initiative „Südliches Afrika" der deutschen Wirtschaft nimmt morgen in Stuttgart seine Arbeit auf. Ich habe diese Initiative mit angestoßen. Ich bin Herrn Schrempp außerordentlich dankbar, daß er als ein wichtiger deutscher Wirtschaftsführer das aufgegriffen hat. Daß sich gerade der Chef von Daimler-Benz in diesem Kontext für Afrika besonders engagiert, ist sehr, sehr positiv und begrüßenswert. Vielen Dank. Im übrigen vertrete ich die Auffassung, daß wir Regionalkonzepte für Afrika brauchen. Deshalb befürworten und unterstützen wir SADC. Ich glaube, daß wir in Afrika nur über Regionalisierung dahin kommen, daß die Länder, die keine Chance haben, sich nach außen oder nach innen zu behaupten, vorwärtskommen können. ({1}) Drittens. Hilfe bei Konfliktvorbeugung und Friedenskonsolidierung ist ein zentrales Ziel unserer Politik. Wir unterstützen den Expräsidenten Nyerere und Herrn Touré in Ruanda und Burundi. Wir helfen den Organisationen, soweit es geht, natürlich auch bei den Wahlen. Das Hauptstichwort: Demokratisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen und Achtung der Menschenrechte. Ich teile voll die vorhin geäußerte Meinung. Das Angebot, bei der Gestaltung der Verfassungen mitzuwirken, ist zentral wichtig. Ich sage das auch als ehemaliger Justizminister. Das machen wir. Die Behauptung, Demokratie sei Afrika sozusagen wesensfremd, ist absolut falsch. Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka war vor ein paar Wochen bei mir und hat geradezu emphatisch und beschwörend gesagt: Nehmt Abschied von einer so blöden Idee und von so blöden Aussagen! Natürlich ist Afrika vom Prinzip her alles andere als demokratiefeindlich eingestellt. Für unsere Unterstützung der Demokratisierung Afrikas ist es ganz wichtig, kontinuierlich Gespräche zu führen und Vertrauen zu schaffen. Liebe Frau Eid, da möchte ich mich denn doch sehr dezidiert vor den Bundeskanzler stellen. Wissen Sie, man kann das Engagement für einen anderen Kontinent nicht allein durch Reisen beweisen. Was nun in der Koalition und im Kabinett geschieht, kann ich, glaube ich, ein bißchen besser beurteilen. Da will ich nur sagen, daß der Bundeskanzler sehr wohl, und zwar sehr dezidiert, nicht nur seine Ansichten zu Afrika vertritt, sondern auch außerordentlich viel tut. Er kann nicht wie ich jedes Jahr dort hinreisen. Wir haben im übrigen durch unsere Reisen Vertrauen geschaffen. Der Bundespräsident war dort. Der Bundeskanzler war selber dort. Da Sie vorhin gesagt haben, wir kümmerten uns zuwenig darum, will ich nur darauf hinweisen: Ich war im letzten Jahr zweimal dort. Ich bin allein im letzten Jahr in fünf Ländern Afrikas gewesen. Ich glaube, daß wir durch unsere Teamarbeit - übrigens auch mit dem Kollegen Spranger; dies sage ich nur, weil auch das vorhin angegangen wurde - wirklich beweisen, daß uns dieser Kontinent am Herzen liegt. Im letzten Jahr waren sieben afrikanische Präsidenten hier. Ich habe einmal nachzählen lassen, mit wieviel Außenministern ich mich getroffen habe. Es waren unzählige. Ich habe noch etwas gemacht; Sie wissen das. Das ist inzwischen Tradition geworden: Als einziger Außenminister lade ich während der UNO-Woche abends alle afrikanischen Länder ein. Es waren diesmal 54 Länder vertreten, davon über 30 durch ihre Außenminister. Das heißt, auch bei der UNO zeigen wir Deutschen, daß wir ein besonderes Interesse haben und uns engagieren; so soll es auch bleiben. ({2}) Dann haben Sie gesagt, bilaterale und multilaterale Hilfe müßten sich ergänzen. Da bin ich sehr dafür. Im übrigen - dies möchte ich einmal klar und deutlich sagen -: Die Afrikapolitik der Europäischen Union wird in letzter Zeit sehr stark durch die deutsche Außenpolitik, durch deutsche Einflüsse, durch unsere Anregungen mitbestimmt. Das hat sich bei allen möglichen Gelegenheiten gezeigt. Da brauchen wir unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch folgendes sagen: Kofi Annan, der neue Generalsekretär der Vereinten Nationen, den wir gut kennen und den ich persönlich sehr gut kenne - ich halte ihn für den richtigen Mann, der zwangsläufig ein besonderes Verhältnis zu diesem Kontinent hat, und wünsche ihm alles Gute -, ({3}) wird sich in ganz besonderer Weise - da bin ich sicher - für den afrikanischen Kontinent einsetzen. ({4}) Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir haben ein trauriges Kapitel miteinander zu besprechen; das weiß ich, und das wissen Sie. Der Haushalt, den wir beschlossen haben, hat zum Sparen in allen Bereichen gezwungen, leider auch bei der Hilfe für Afrika. Es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen jetzt Prioritäten neu setzen und versuchen, die Arbeitsteilung zwischen Politik, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen zu vertiefen. Ich möchte bei der Gelegenheit, gerade was Afrika anlangt, unseren Nichtregierungsorganisationen und allen privaten Helfern wie auch unseren Kirchen, die beispielsweise im Gebiet der Großen Seen und in vielen anderen Ländern Afrikas Enormes leisten - das wird immer so weggedrückt und nicht beachtet -, herzlich danken; denn das ist neben dem, was wir als Regierung leisten können, mit die wichtigste Arbeit. ({5}) Ich brauche ihre Unterstützung, so einfach ist das. Was die nächsten Haushaltsberatungen betrifft, so müssen wir gucken, daß wir in Afrika wieder besser zu Rande kommen. Ich bin dankbar dafür, daß im Deutschen Bundestag in dieser Frage wirklich Einigkeit besteht. Sie alle haben gezeigt, daß wir ein Herz für Afrika haben. Ich freue mich darüber, daß so kurz hintereinander zum zweitenmal eine Debatte über Afrika stattfindet. Auf der Basis dessen, was diesbezüglich bisher geleistet worden ist, können wir weiterarbeiten, in Mitverantwortung für einen großen, uns nahestehenden Nachbarkontinent und im Interesse der Menschen dort und - ich füge das hinzu - auch hier. Afrika kann sich weiter auf Deutschland verlassen. Vielen Dank. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Joachim Tappe, SPD-Fraktion.

Joachim Tappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir dürfen nicht der Gefahr einer europäischen Nabelschau erliegen. Afrika steht Europa am nächsten. Für seine Entwicklung tragen wir besondere Verantwortung nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch aus eigenem Interesse. Dies, Herr Kinkel, sind ausweislich des Protokolls der Botschafterkonferenz von Accra im Jahre 1993 Ihre eigenen Worte. Sie haben das heute noch einmal bekräftigt. Wir Sozialdemokraten können diese Sätze ohne jede Einschränkung unterschreiben, ebenso viele der Schlußfolgerungen, die die Afrikaexperten Ihres Hauses in den „Leitlinien von Accra" als Grundkonzept für deutsche Afrikapolitik gezogen haben. Zu den Defiziten bei der Umsetzung hat Frau Kollegin Eid eben schon Stellung genommen. Die zahlreich vorliegenden Anträge aller Fraktionen - Sie haben das selber gewürdigt - zeigen große Übereinstimmung in der Philosophie deutscher Afrikapolitik. Wir sind uns auch in der Analyse der gegenwärtigen Situation und der Ursachen dafür weitgehend einig. Selbst im operativen Teil gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch unterschiedliche Bewertungen der regierungsamtlichen Politik im Grundsatz und im Detail. Im Interesse unserer afrikanischer Partner, bei denen wir Deutsche großes Ansehen genießen, möchte ich analog zu Ihnen, Herr Kinkel, gern feststellen: Dieses Maß an Übereinstimmung ist wohltuend und in der Sache hilfreich. Vielleicht - das ist zumindest meine Hoffnung - kann unsere heutige Debatte einen Beitrag dazu leisten, dem durch die Medien beförderten Afro-Pessimismus in unserem Volk ein wenig zu begegnen. Denn eine erfolgreiche Afrikapolitik - das ist, und das wird vielen von Ihnen so gehen, meine leidvolle Erfahrung aus dem Wahlkreis - muß mit der Einsicht in die Notwendigkeit unserer Hilfe im Bewußtsein der eigenen Bevölkerung beginnen. ({0}) Wenn Sie, Herr Kinkel, unsere Verpflichtung gegenüber Afrika und unsere deutschen Interessen an Afrika damit begründen, daß die Konflikte dort direkte Auswirkungen auf uns haben, daß wir unsere langfristigen Interessen, auch ökonomische, nicht vernachlässigen dürfen, daß wir in Afrika als gewichtigem Teil dieser globalen Welt stabile Partner brauchen, und das alles als originäres deutsches Interesse definieren, was auch ich so sehe, dann frage ich Sie allerdings, warum das Versprechen des Bundeskanzlers in Rio, die deutschen Entwicklungshilfeleistungen schrittweise auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben, nicht nur nicht eingelöst wird, sondern im Gegenteil auch im Einzelplan 23 weiter gekürzt wird. Dann frage ich Sie, warum deutsche Botschaften in Afrika geschlossen werden sollen, anstatt in den großen diplomatischen Vertretungen in Europa personell abzuspecken, ({1}) zumal viele bilaterale Entscheidungen nicht mehr in Paris, in London oder in Rom getroffen und vorbereitet werden, sondern in Brüssel. Mir geht eine Frage nicht aus dem Kopf, die der Kollege Schuster von diesem Pult aus einmal gestellt hat und die sich mit meinen vielfältigen Afrika-Erfahrungen deckt. Er fragte: Warum erkennen wir das Richtige und tun oft das Falsche? ({2})] Das ist wie im richtigen Leben!) Ich will gerechterweise einräumen, daß vieles an dieser Afrika-Politik richtig ist. Dennoch stellt sich nach mehr als 35 Jahren deutscher und europäischer Entwicklungspolitik die Frage nach der Wirksamkeit unserer Hilfe für die Menschen in Afrika. Sie wissen wie ich, daß Europa ein gewichtiger Teil der afrikanischen Probleme ist. Wir haben Afrika und die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten dreimal zu Opfern gemacht: mit der Sklaverei, mit der Kolonialisierung und als Spielball im Ost-West-Konflikt. ({3}) Wir halten den Kontinent noch heute in der Opferrolle: durch die gerade Afrika benachteiligenden Mechanismen unseres Weltwirtschaftssystems und durch die hohe Verschuldung, in die wir die Länder Afrikas haben hineintreiben lassen. Insofern enthält die Aussage, daß ein Teil unseres eigenen Wohlstandes auf dem Blut und den Tränen von Millionen Afrikanern gründet, eine Menge Wahrheit. Selbst wenn die Ziele richtig sind und die Konditionierung deutscher Hilfe sich daran orientiert, bleibt die Frage, ob die Formen und Schwerpunkte unserer Unterstützung diesen Zielen nützen oder ob wir nicht anderen entwicklungspolitischen Maßnahmen Priorität einräumen müssen, die die Zivilgesellschaft stärken - Kollege Schuster hat darauf hingewiesen - und somit erst die Voraussetzungen für eine politische, demokratische und sozialökonomische Kultur schaffen. Herr Kinkel, ich sehe noch heute, wie Ihnen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben war, als wir 1995 gemeinsam das Zentralgefängnis in Kigali besuchten. Aber eines ist in diesem Fall deutlich: Nicht die Empörung, das Klagen über solche schlimmen Zustände verbessert die Situation, sondern die Hilfe beim Aufbau eines unabhängigen Justizsystems. ({4}) Ich möchte aus Zeitgründen lediglich an einem weiteren Beispiel, nämlich dem Kriterium Demokratieförderung, meine Zweifel an vielen Maßnahmen der deutschen Afrikahilfe deutlich machen. Ich verJoachim Tappe suche das mit den Worten und der Betrachtungsweise eines uns allen bekannten Afrikaners. Ich hatte im vorigen Jahr ein langes Gespräch mit Yoweri Museveni, dem ugandischen Staatspräsidenten. Von ihm erhielt ich - ich darf das ruhig einmal so qualifizieren - eine Lehrstunde in Sachen Entwicklung der deutschen Demokratie. Dabei war es fast peinlich, von einem Afrikaner mit profunder Kenntnis an wichtige Meilensteine der deutschen Demokratiegeschichte erinnert zu werden. Das reichte vom Wartburgfest über das Hambacher Fest; er erinnerte an die Verfassungskämpfe der 30er Jahre im vorigen Jahrhundert, an das Versagen der Paulskirche; es gipfelte schließlich in dem Hinweis auf das klägliche Scheitern der Demokratie von Weimar nach 14 Jahren. Er machte mir deutlich: Daß unsere Demokratie heute so gut funktioniere und die Gewähr für die politische Stabilität biete, basiere seiner Meinung nach auf fünf Säulen: einer allgemeinen Volksbildung, einem umfassenden Massenwohlstand, einem gesunden wirtschaftlichen Mittelstand, einem beispielgebenden Sozial-, Gesundheits- und Alterssicherungssystem und einem funktionierenden Verwaltungs- und Justizapparat. ({5}) Alles das sei in seinem Lande noch nicht vorhanden. So war es eigentlich nur folgerichtig, wenn er darum bat, am Bau dieser Säulen als Trägersystem für Demokratie und als Grundlage für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte mitzuwirken und mehr Unterstützung dafür zu gewähren. Vor allem - das halte ich für besonders wichtig - forderte er von uns Europäern mehr Geduld und Fingerspitzengefühl für Abfolge und Tempo der Entwicklungsschritte in den afrikanischen Ländern. Ich halte Musevenis Analyse und Anregungen für äußerst bedenkenswert. Ich wünschte mir, wir könnten im politischen Konsens dieses Hauses eine Fülle der konkreten Vorschläge und Maßnahmen, die Bestandteil der Anträge sind, umsetzen. Das hilft unseren afrikanischen Freunden, und - Herr Kinkel, auch da gebe ich Ihnen Recht - es hilft uns selbst. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Michael Wonneberger, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Wonneberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wie im vergangenen Jahr beginnt der Deutsche Bundestag auch 1997 die erste Plenarsitzungswoche mit einer entwicklungspolitischen Debatte; ein höchst erfreulicher Tatbestand, der den Stellenwert - Bundesminister Spranger wies bereits darauf hin - deutscher Entwicklungspolitik in dieser Bundesregierung verdeutlicht. ({0}) Ich denke daß wir, da in Deutschland schon ein zweimaliges Ereignis traditionsbehaftet ist, diesen Einstieg in das neue Jahr zur Tradition im Deutschen Bundestag erheben können. ({1}) Um mich in der Vielzahl der eingebrachten Anträge nicht zu verlieren, beschränke ich mich auf zwei wesentliche Themen. Da gibt es einmal den von der SPD eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 13/2223: Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Es handelt sich um einen Gesetzentwurf, der schon einmal, nämlich im Mai 1994, vom Parlament abgelehnt wurde, aber dennoch unverdrossen noch einmal, wenn auch in etwas modifizierter Form, eingebracht wird. Zugegeben, es gehört etwas zum Ritual des Parlamentarismus in unserem Land, möglichst das Gegenteil vom Part des politischen Gegners anzustreben. Die folgende Stellungnahme meiner Fraktion zu diesem Gesetzentwurf unterliegt jedoch nicht diesem rituellen Schematismus. Unsere Auffassung über die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes zur Entwicklungspolitik gehen in der Tat schon seit Jahren weit auseinander. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die erneute Einbringung Ihres Entwicklungshilfegesetzentwurfs damit begründen, daß die deutsche Entwicklungspoliktik als eigenständige Materie nicht geregelt ist und dies nach Ihrer Ansicht in der Vergangenheit oft zu schnell wechselnden Grundsätzen und Konzepten, Verfahren und Institutionen geführt hat, dann ist das einzig und allein Ihr Problem. In meiner Fraktion oder in der Politik dieser Bundesregierung konnte ich diese schnell wechselnden Grundsätze und Konzepte nicht ausmachen. Im Gegenteil, ich registriere seit Jahren eine unbestreitbar wachsende nationale und internationale Anerkennung für deutsche Entwicklungspolitik mit unverzichtbaren Beiträgen im bilateralen und multilateralen Bereich. Eine Ihrer Ansichten teile ich allerdings. Dazu zitiere ich aus Ihrem Gesetzentwurf: In der internationalen Diskussion ist man sich einig, daß ein wichtiger Grund für die mangelnde Leistungsfähigkeit der bisherigen Entwicklungspolitik darin besteht, daß sie ausschließlich „Regierungspolitik" war, die aufgrund von Regierungswechseln und kurzfristig wechselnden Interessenslagen oft zu einem bloßen Instrument anderer politischer Ziele gemacht worden ist. Mangelnde Leistungsfähigkeit von Entwicklungspolitik liegt nach Ihrer Meinung in zu häufigen Regierungswechseln begründet. Nun, liebe Freunde von der Opposition, dann lassen Sie uns doch um der Leistungsfähigkeit unserer Entwicklungspolitik wilMichael Wonneberger len dieser Gefahr des zu häufigen Regierungswechsels gemeinsam begegnen. ({2}) - Ich sehe diese Gefahr nicht, und Sie beschwören sie eigentlich nur herauf, aber Sie sehen sie in der Tat sicher auch nicht. Wenig originell in Ihrem Gesetzentwurf ist nun aber die wiederholte Forderung auch einem Beauftragten für Entwicklungspolitik und nach einem entwicklungspolitischen Beirat. In Anbetracht Hunderter auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik kompetenter Institutionen und Einzelpersönlichkeiten in Deutschland, deren Sachverstand wir uns auch bedienen, den wir im parlamentarischen Alltag in verschiedenen Kontakten und Anhörungen nutzen, ist dies wahrlich kein besonders schöpferischer Beitrag zum Thema schlanker Staat. ({3}) In die gleiche Rubrik ordne ich Ihre Forderung ein, alle Entscheidungen der nationalen Finanz- und Währungspolitik, der Wirtschafts-, Landwirtschaftsund Handelspolitik sowie der Umwelt- und Technologiepolitik auf ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen in den Entwicklungsländern zu prüfen. Verlangen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, tatsächlich eine seriöse Entwicklungsverträglichkeitsprüfung für fast alle Entscheidungen der Bundesregierung und dieses Hohen Hauses durch das BMZ, ohne dabei auch einmal an Ihre Verantwortung für die dann notwendigen drastischen Personalaufstockungen zu denken? ({4}) Die Arbeit den übrigen Fachministern zu übertragen würde die Probleme nur verlagern; das wissen Sie so gut wie ich. Meine Damen und Herren, obwohl ich mit Leib und Seele Entwicklungspolitiker bin, ({5}) vor einem in Ihrem Gesetzentwurf formulierten Anspruch muß ich beim besten Willen und bei allem Entgegenkommen kapitulieren. Ich zitiere: Die Entwicklungspolitik zielt darauf ab ... das internationale Wirtschafts- und Finanzsystem so zu reformieren und weiterzuentwickeln, daß für alle Länder faire Wettbewerbsbedingungen, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und des menschlichen Lebens gewährleistet ist. Sie streben, wenn man das wörtlich nimmt, eigentlich die Lösung der Weltformel durch die Entwicklungspolitik an. Haben Sie denn wirklich schon alle Hoffnung aufgegeben, diese Totalverantwortung für alle Probleme in dieser Welt einmal so komplex auch selbst verwirklichen und wahrnehmen zu müssen? Gesetz ist Gesetz, und zwar dann auch für Sie und nicht nur für diese Bundesregierung. Wenn es jedoch lediglich Anliegen der Unterzeichner des eingebrachten Entwicklungsgesetzes sein sollte, den Stellenwert der Entwicklungspolitik - ich nehme an, das ist auch Ihr Anliegen - stärker in den Blickpunkt öffentlichen Interesses und gesamtwirtschaftlicher Verantwortung zu rücken, so haben Sie dabei natürlich unsere Unterstützung, nicht aber für dieses Gesetz. Über diesen Punkt der öffentlichen Anerkennung und des Stellenwertes können wir uns im Ausschuß sicherlich ganz schnell verständigen. Doch ich frage Sie: Brauchen wir dazu ein Gesetz, dessen Wirkungsbereich und internationale Rahmenbedingungen wir noch nicht einmal für den Zeitraum einer Legislaturperiode zuverlässig abschätzen können? Ich meine, nein. Entwicklungspolitik unterliegt zwangsläufig wie beispielsweise auch die Politik der auswärtigen Beziehungen oder der Verteidigung einer notwendigen ständigen Anpassung. Eine gesetzliche Fixierung würde flexible Reaktionen auf weltpolitische Veränderungen unnötig und zum Schaden der Entwicklungsländer, unserer Partnerländer, behindern. Das politische Tauziehen um den Bundeswehreinsatz in Bosnien ist uns allen noch in schmerzlicher Erinnerung. Meine Damen und Herren, als zweitem möchte ich mich den Anträgen der Regierungskoalition sowie dem gemeinsamen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD zur Überwindung bzw. Bekämpfung der Kinderarbeit in der Welt zuwenden, einem ungleich leichteren Thema, weil sich hier viel schneller gemeinsame Standpunkte finden lassen. In großen Teilen unterscheiden sich die Anträge eigentlich nur durch Marginalien in der Formulierung, und daher bin ich zuversichtlich, daß wir uns im Ausschuß sehr schnell einigen können. Vielleicht gelingt uns sogar ein fraktionsübergreifender Antrag. ({6}) Wir stimmen sicherlich darin überein, daß sich das Schicksal von weltweit 100 bis 200 Millionen schwerstarbeitender Kinder im Alter zwischen 6 und 15 Jahren in keiner Weise für politische Rhetorikübungen eignet. Dazu ist es ein zu trauriges Kapitel. Deshalb - ich möchte es wiederholen - strebt meine Fraktion einen gemeinsamen Antrag aller im Bundestag vertretenen Fraktionen zur Überwindung der Kinderarbeit in dieser Welt an. Ich begrüße es persönlich, daß dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Federführung für diese Thematik übertragen wurde. In der Vergangenheit gab es in diesem Bereich Gerangel zwischen verschiedenen Fachministerien. Ich votiere für eine Überweisung an die Ausschüsse. Danke schön. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Adler, SPD-Fraktion.

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfaktion legt in dieser Legislaturperiode erneut einen Gesetzentwurf zur Entwicklungspolitik vor. Wir wollen damit gesetzliche Regelungen zur internationalen Entwicklungszusammenarbeit anregen. Herr Kollege Wonneberger, was richtig ist, werden wir unverdrossen weiterverfolgen. Die USA, Schweden, Österreich und die Schweiz haben bereits solche Regeln aufgestellt. Unser Gesetzentwurf will nun den Rahmen für das entwicklungspolitische Instrumentarium setzen, damit die notwendige Kontinuität und Kohärenz der bundesdeutschen Entwicklungspolitik sichergestellt werden.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Adler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feilcke?

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Adler, Sie sprachen von Gesetzen der USA, Österreichs und der Schweiz. Könnten Sie sagen, welchen Beitrag diese Gesetze zur Förderung der Entwicklungszusammenarbeit geleistet haben und ob Sie diese Länder, vor allen Dingen die USA, als Vorbilder für unsere Entwicklungspolitik ansehen? ({0})

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, diese Länder haben sich entwicklungspolitische Gesetze gegeben, um sich innenpolitisch in bezug auf ihre Zusammenarbeit mit den Ländern des Südens zu binden. Es ist eine nationale Angelegenheit dieser Länder, ihre Gesetze in den von ihnen gesetzten Rahmen auszufüllen. Insofern sind es positive Elemente, die die Gesetze dieser Länder bewirken. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Adler, Herr Kollege Feilcke hat das Bedürfnis nach einer weiteren Zwischenfrage.

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Feilcke, bitte.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich interpretiere Ihre Antwort so, daß Sie der Meinung sind, ein Gesetz müsse nicht unbedingt schädlich sein.

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage: Solche Gesetze haben positive Auswirkungen auf die Zusammenarbeit zwischen unserem Land und den Ländern des Südens. ({0}) Unser Gesetzentwurf setzt diesen Rahmen für die Zusammenarbeit. Wir sind der Auffassung, daß für notwendige Anpassungen an wechselnde Anforderungen ein Spielraum für Parlament und Regierung bleiben muß. Berechenbarkeit und Verläßlichkeit gehören zu den wichtigen Bestandteilen der Entwicklungspolitik. Wir verstehen Entwicklungspolitik als vorbeugende Friedenspolitik. Die Bekämpfung der Armut und der Umweltzerstörung, Hilfen für die Familienplanung, das Recht, sich selbst zu ernähren, sind wichtige Politikfelder, in denen dringender Handlungsbedarf besteht. Das Parlament ist hier in der Verantwortung. Den Regierenden allein kann diese Aufgabe nicht überlassen bleiben. Die Ressortegoismen müssen überwunden werden, damit Entwicklungspolitik nicht für andere Interessen instrumentalisiert werden kann. ({1}) Der Gesetzentwurf stärkt das Parlament, insbesondere den Fachausschuß; er stärkt aber auch das zuständige Ministerium. Diese Meinung wird auch von den entwicklungspolitischen Experten geteilt, die ihre Auffassung und Kritik in einer Ausschußanhörung dargelegt haben. Von fast allen Experten, die von seiten der Koalitionsfraktionen benannt worden waren, wurde dies bestätigt. Deshalb sind die Vorwürfe und Entgegnungen aus Ihren Reihen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, vordergründig. „Verbürokratisierung", „ kostenträchtige neue Organe", „Verwischung von Grenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Exekutive und Legislative" sind keine guten, sondern vorgeschobene Argumente. ({2}) Daß bei einem ständigen Wandel in der auswärtigen Politik ein Gesetz hinderlich sei, kann ich verstehen. Die Frage ist nur, ob ein ständiger Wandel, wie Sie behaupten, nicht wie eine im Wind sich beugende Weide ist. Wäre es nicht wichtig, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit im Wandel erkennen zu lassen? Uns geht es um diese Verläßlichkeit in der Entwicklungspolitik. Sie soll zu einer auf Dauer tragfähigen, sozial gerechten, wirtschaftlich produktiven, ökologisch verträglichen und menschenwürdigen Entwicklung beitragen. Entwicklungspolitik soll der breiten Bevölkerung zugute kommen und ihr helfen, aus eigener Kraft ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, müssen alle Ressorts ihren Beitrag leisten. Nicht umsonst sprechen wir in diesem Zusammenhang von einer Querschnittsaufgabe. Wirtschaft, Landwirtschaft, Umwelt und Außenpolitik haben genauso eine Verantwortung für das Ganze. ({3}) Die Exporte von Rindfleisch nach Westafrika oder von Schiffen nach China sind Negativbeispiele, aus denen man bis heute nichts gelernt hat. Die Fleischexporte in den Süden Afrikas dieser Tage beweisen: Die Ausrede, es sei die EU, kann nicht gelten, denn der deutsche Vertreter sitzt mit am Tisch dieser Verantwortung. Besondere Bedeutung haben Bildung, Ausbildung, Gesundheitsfürsorge und der Aufbau der Zivilgesellschaft. Regierungen und NGOs, aber auch internationale Institutionen müssen zusammenarbeiten, um das Ziel zu erreichen. In vielen Fällen ist es bis dahin noch ein weiter Weg. Partizipation, Frauenrechte, Armutsbekämpfung, Schuldenabbau, Recht auf eigene Entwicklung seien nur als Stichworte genannt, um die Breite der Aufgabenstellung anzudeuten. Aus unserer Sicht sollte sich deshalb der Staat auf die Rahmensetzung konzentrieren und die Projektarbeit delegieren, aber er sollte auch kontrollieren. Deshalb schlagen wir vor, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung dem Deutschen Bundestag alle zwei Jahre ein mittelfristiges entwicklungspolitisches Programm vorlegt. Ein Ombudsmann oder eine Ombudsfrau als entwicklungspolitischer Beauftragter des Deutschen Bundestages sollte als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Ein Beirat aus Vertretern von Wissenschaft, Gesellschaft, NGOs, Kirchen, Wirtschaft, Gewerkschaften sowie Persönlichkeiten aus Entwicklungsländern sollen den Bundestag in Grundsatzfragen der Entwicklungspolitik beraten. Der § 21 in unserem Gesetzentwurf zur Entwicklungspolitik fordert die Entwicklungsverträglichkeit. Damit sich die Politik der Bundesregierung an den Grundsätzen und Zielen des Gesetzes ausrichtet, wird die Überprüfung nötig. Dabei sollen alle Vorhaben im Bereich der Finanz-, Währungs-, Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Handelspolitik, der Umwelt- und Technologiepolitik auf ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen auf die Entwicklungsländer hin überprüft werden. Ein weiterer bedeutsamer Punkt ist der Entwicklungsfonds. Tilgungs- und Zinsleistungen der Entwicklungsländer für Kredite sollen einem Sondervermögen des Bundes zugeführt werden, aus dem Beiträge zum Entwicklungsfonds in Entwicklungsländern geleistet werden könnten. Das Ziel, den Entwicklungshaushalt schrittweise auf das 0,7-Prozent-Ziel hinzulenken, darf nicht aus den Augen verloren werden. ({4}) In den zurückliegenden Jahren mußten wir die Absenkung auf jetzt 0,3 Prozent hinnehmen. Sonntagsreden genügen nicht. Wir werden an unseren Taten gemessen. ({5}) Der vorgelegte Gesetzentwurf gibt die Chance zum Handeln. Mit der Zustimmung aller Fraktionen in diesem Hause zu diesem Gesetzentwurf haben wir es in der Hand, positiv in die richtige Richtung zu handeln. Diese Debatte zeigt, daß wir der Entwicklungspolitik mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Wenn Menschen im Süden oder Norden Hilfe brauchen, sollten sie unsere Solidarität gepaart mit zielgenauem Handeln erhalten. Unser Gesetzentwurf will dieser Solidarität einen Rahmen geben. Stimmen Sie zu, um den Norden und den Süden einander näherzubringen. Vielen Dank. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen, SPD.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie ein roter Faden hat sich in der gesamten Debatte heute früh - zum Beispiel in dem, was vorhin Kollege Schuster und inhaltlich ebenso Graf von WaldburgZeil gesagt haben - sehr deutlich gezeigt, daß man eine neue Chance entdeckt hat: Wenn wir die Konflikte, die es auf dieser Erde gibt, besser bewältigen wollen, dann sollten wir die Chance nutzen, diejenigen, die als neue Gruppierung der zivilen Gesellschaft versuchen, in ihren Ländern die Veränderung ihrer Gesellschaft in die eigene Hand zu nehmen und Demokratie von unten aufzubauen, dazu zu ermutigen. Der Außenminister hat vorhin am Beispiel Afrika deutlich dargestellt, daß dort auch Gruppen der zivilen Gesellschaft aus Deutschland eine wichtige und konstruktive Rolle spielen können. Ich finde, daß das ein ermutigendes, neues Beispiel neben dem ist, was Adam Smith gesagt hat: Wir brauchen die ,,visible hand", die erkennbare Hand des Staates, neben der unsichtbaren Hand des Marktes. Beides brauchen wir. Möglicherweise kommt dann hinzu, daß wir eine neue dritte Hand brauchen, um besser kooperieren zu können, nämlich in der Form, daß die neuen Akteure der zivilen Gesellschaft überall auf der Welt beginnen, sich zu vernetzen. Ich finde, daß das ein sehr interessanter und kluger Gedanke ist. Wir haben zusammen mit den Kollegen Rainer Eppelmann und Armin Laschet, der nachher eine Kurzintervention machen wird ({0}) - ja, abgesprochen, Herr Kollege Kohn -, und vielen anderen seit über anderthalb Jahren versucht, das deutlich zu machen. Wenn diese Dinge auf den richtigen Punkt gelenkt werden, dann tun wir meines Erachtens etwas ganz Vernünftiges. Das zeigt sich auch in dieser Debatte. Wir sind ja gemeinsam bereit, an vielen Punkten, was die Instrumente betrifft, zu lernen und zu untersuchen, ob wir dem, was der Staat tun kann - er tut an vielen Punkten gewiß Richtiges; an vielen Punkten leider auch, Herr Entwicklungsminister, Falsches -, Unterstützung gewähren können. Wir können den Staat entlasten, indem wir die Gruppen der zivilen Gesellschaft ermutigen, selbst zu handeln. Gert Weisskirchen ({1}) Darauf kommt es doch in der schwierigen Situation, in der wir uns befinden, an. ({2}) Nehmen wir das Beispiel Bosnien-Herzegowina: Es gibt viele Hunderte, ja Tausende deutscher junger Bürgerinnen und Bürger, die in Mostar, in Tuzla und in vielen anderen Regionen dort eine fruchtbare Arbeit leisten. Die Landessynode der Evangelischen Kirche in Berlin/Brandenburg, Pax Christi von der katholischen Kirche und andere zivile Gruppen haben sich im Forum ziviler Friedensdienste zusammengeschlossen und versuchen nun, ihre Arbeit auf einen gemeinsamen Punkt zu konzentrieren. Das, denke ich, sollte vom Deutschen Bundestag positiv aufgegriffen werden. Wir haben das in einem Antrag, der in dieser verbundenen Debatte - dies macht hier inhaltlich auch Sinn - mit zur Beratung ansteht, vorgeschlagen. Die Union hat dies in ihrem zusätzlichen Antrag in Punkt 4 und 5 - leider nicht so offen und deutlich genug wie wir - ebenso aufgegriffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, laßt uns in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages - im Entwicklungshilfeausschuß und auch im Auswärtigen Ausschuß - gemeinsam versuchen, diese neue Idee, die ermutigende Beispiele hervorgebracht hat, vom Deutschen Bundestag konstruktiv zu beantworten. Es geht gar nicht darum, ein neues staatliches Instrument zu schaffen. Es geht nur darum, daß der Staat, der Bundestag, die Bundesregierung versuchen, die Gruppierungen, die es gibt, zu ermutigen und ihnen zu helfen. Denn wenn diese Debatte heute früh eines deutlich gemacht hat, dann doch das, daß Julius Nyerere recht hat, wenn er sagt: Kein Friede ohne Gerechtigkeit; der Friede fängt da an, wo es Chancen gibt, daß in den Gesellschaften gerechte Verhältnisse durchgesetzt werden, verknüpft mit einer von unten aufwachsenden Demokratie überall da, wo in den Krisenregionen die Zivilgesellschaft stark ist. Dort besteht nicht die Gefahr der inneren Konflikte und der kriegerischen Auseinandersetzung. So zum Beispiel könnten wir als Bundestag versuchen, diese Aktionen, diese Aktivitäten, diese ermutigenden Zeichen des Friedens aus der Gesellschaft aufzunehmen, die Menschen zu unterstützen und ihnen zu helfen, damit sie sich in der Vernetzung mit den zivilen Gesellschaften in den Krisenregionen der wichtigsten Aufgabe stellen, auf die es heute ankommt, nämlich den Frieden zu sichern und einen Anfang zu setzen, damit Gerechtigkeit und Demokratie eine Chance haben. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Laschet.

Armin Laschet (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002718, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte spontan auf den Beitrag des Kollegen Weisskirchen reagieren. ({0}) Einer der Anträge, die heute in die Ausschüsse überwiesen werden, befaßt sich mit dem Thema der zivilen Konfliktprävention. Ich denke, daß das Feld der zivilen Konfliktprävention bei vielem, was wir heute hier eingefordert haben, zum Beispiel, daß die Entwicklungspolitik einen höheren Stellenwert gewinnen muß, in der Öffentlichkeit, die wir mit dem, was wir tun, erreichen müssen, eine große Bedeutung hat. Denn die Folgen von Konflikten spüren wir zum einen an weltweiten Wanderungsbewegungen, die uns erreichen, und zum anderen daran, daß der Einsatz der Bundeswehr für den Frieden im früheren Jugoslawien wahrscheinlich in wenigen Tagen die Eine-Milliarde-DM-Grenze an Kosten übersteigen wird. Das belastet unseren Haushalt. Hunderte von Millionen DM bis hin zu einer Milliarde DM zur Verfügung zu haben, das sind Dimensionen, von denen Entwicklungspolitiker nur träumen. Insofern ist die Thematisierung der zivilen Konfliktprävention als Beitrag der Entwicklungspolitik für uns von ganz entscheidender Bedeutung. Dissens gibt es zwischen den Fraktionen noch über die Frage - Herr Kollege Weisskirchen, Sie haben das angesprochen -: Brauchen wir dafür neue Strukturen, oder können wir mit dem, was an Strukturen bei den Kirchen, den Stiftungen und den Nichtregierungsorganisationen schon vorhanden ist, vielleicht eine Straffung und eine gemeinsame Konzeption erreichen? Das werden wir in den Ausschüssen beraten. Auch wir schlagen vor, daß hier besonders die Kirchen zum Beitrag ermuntert werden und daß wir als Deutscher Bundestag die Bundesregierung auffordern, auch zusätzliche konkrete Vorhaben zu finanzieren, die einen Schritt weitergehen. Man muß dazu allerdings die Bemerkung machen: Das darf - wenn das alles stimmt, was heute morgen gesagt wurde - nicht allein zu Lasten des Entwicklungsetats gehen. ({1}) Wenn das eine Querschnittsaufgabe ist und im Interesse deutscher Politik liegt, dann ist der Beitrag des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsministeriums und aller anderen, die daran beteiligt sind, ebenso gefordert. ({2}) Diesen Appell mögen die für die entsprechenden Einzelpläne zuständigen Haushälter hören, statt wieder alles bei der Entwicklungspolitik abzuladen. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Gibt es das Bedürfnis nach spontaner Gegenrede? ({0}) - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann hat das Wort der Kollege Feilcke, CDU/CSU.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Laschet hat zum Schluß die Haushälter angesprochen. Es wäre schön, wenn wenigstens die Berichterstatter bei einer solchen Debatte hier wären. ({0}) - Ich habe nicht gesagt: die eine Berichterstatterin, sondern ich meinte geschlechtsneutral alle Berichterstatter. ({1}) Ich wende mich, liebe Frau Kollegin, an die Berichterstatter, die in diesem Hause ganz offensichtlich einen größeren Einfluß auf die Entwicklungspolitik haben als die Mitglieder des Fachausschusses, was wir sehr beklagen. Wie kommt es, daß wir alle das Richtige erkennen und möglicherweise auch wollen und es doch nicht tun? So ungefähr haben Sie gefragt, Herr Kollege Tappe. Nun stellen wir fest: Bei der Herbsttagung von Weltbank und Währungsfonds ist nach langen Verhandlungen, nach langen Gesprächen etwas in Bewegung geraten. Es werden nämlich zur Zeit 20 der ärmsten Länder daraufhin betrachtet, ob sie ohne zusätzliche Hilfsmaßnahmen nicht in der Lage sind, ein tragfähiges Schuldenniveau zu erreichen. In einer intensiven Prozedur von zweimal drei Jahren wird die Politik dieser Länder überprüft. Dabei geht es um Strukturanpassungsmaßnahmen und um eigene Anstrengungen, die Schuldenlast zu erleichtern. In den Jahren der Prüfung sollen die herkömmlichen Instrumente weiter angewandt werden. Wenn das nicht ausreicht, wird es eine Schuldenerleichterung bis zu 80 Prozent geben können. Schon während der Weltbanktagung, aber auch danach - bis heute - sind alle, die sich damit beschäftigen - das muß ich einschränkend sagen -, der Meinung: Es wird höchste Zeit, daß Uganda das erste durch solche zusätzlichen Maßnahmen begünstigte Land wird. Die Ablösung der hohen multilateralen Schulden aus einem neuen Fonds sei, so meinten wir, nur eine Frage der Zeit. Tatsächlich scheint das Prüfungsverfahren so vielseitig, so vielschichtig, so bürokratisch zu sein, daß Uganda möglicherweise eben nicht der erste Fall sein wird und wir noch lange auf den ersten Fall warten müssen. Ich glaube, das ist eine der Begründungen dafür, warum wir zwar manchmal das Richtige erkennen, aber es nicht tun: Wir lassen uns immer wieder neue Mechanismen und Bürokratismen einfallen. Auch daraus resultiert eine gewisse Skepsis gegenüber einer gesetzlichen Regelung, die ansonsten unschädlich sein könnte. ({2}) - Ich zeige nie mit dem Finger allein auf andere. Ich weiß ganz genau, daß bei einem solchen Thema jeder und jedes Land beteiligt ist. Die aktuellen Zahlen zeigen, daß das zentralafrikanische Land Uganda bei zwei der aufgestellten Kriterien im „grünen" Bereich liegen könnte: zum einen im Hinblick auf die Relation zwischen Schuldenstand und Exporterlösen, zum anderen im Hinblick auf die Relation zwischen Schuldendienst und Exporterlösen. Zum ersteren Kriterium sagt man, verträglich sei eine Relation von 200 bis 250 Prozent. Beim Schuldendienst spricht man von einer Relation von 20 bis 25 Prozent. Man rechnet damit, daß Uganda im Bereich des Schuldenstandes bei etwa 250 Prozent und beim Schuldendienst bei etwa 20 Prozent liegen könnte, was bedeuten könnte, daß sich Uganda zu sehr angestrengt hat, daß Uganda ganz offensichtlich ein zu gutes Beispiel geworden ist. Es wäre geradezu paradox, wenn die Anstrengungen der Ugander nicht belohnt, sondern sogar noch bestraft würden. Museveni pflegt seine Gespräche mit der Bemerkung in den Garten zu verlegen, er sei ein Buschmann. ({3}) - Selbstverständlich. Auch ich habe die Gelegenheit gehabt, mir von ihm vieles sagen zu lassen. Zusätzlich zu dem, was auch Sie erfahren haben, werde ich eines nicht vergessen. Er sagt: Wir wollen Handelspartner werden, wir wollen nicht auf Dauer ein Nehmerland bleiben. - Das führt in Deutschland gelegentlich dazu, daß ihm unterstellt wird, er sei hochmütig; denn er brauche doch Entwicklungshilfe und sei noch kein Handelspartner. Meiner Meinung nach hat Museveni recht, wenn er sagt: Wir wollen Partner werden, und auf dem Weg dorthin brauchen wir eure Hilfe. ({4}) Wie zu hören ist, würden übrigens der IWF und die Weltbank Uganda gerne ganz schnell helfen, auch einige Industrieländer wie zum Beispiel Großbritannien. Aber die „strengen Geldverwalter" sind sehr skeptisch. Das ist kein Vorwurf an den Finanzminister, Herr Entwicklungsminister. Aber man muß sich in der Entwicklungspolitik gelegentlich fragen, ob es immer buchhalterisch zugehen muß. ({5}) Es steht zu befürchten, daß die erfolgreichen Eigenanstrengungen Ugandas kontraproduktiv waren. Ich möchte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halten: In einer Zeit von weitverbreitetem Afrika-Pessimismus brauchen wir positive Signale, positive Beispiele dafür, daß dies eben kein verlorener Kontinent ist. Übrigens haben wir uns vor etwa zehn Jahren hier im Bundestag entgegen den damaligen Kriterien dafür eingesetzt, daß die Bundesrepublik Deutschland Ghana - auch im Sinne eines guten Signals - die Schulden erläßt. Das Pro-Kopf-Einkommen Ghanas lag damals etwas über dem Schwellenwert. Im Vorfeld der Weltbanktagung in Berlin 1988 wurden nicht nur Ghana, sondern auch einigen anderen Ländern die Schulden erlassen, was wir damals als Erfolg, als ein gutes Beispiel registriert haben. Ich stelle mit Bedauern fest: Das war auf diesem Felde unsere letzte Großtat, weil wir seitdem in der Tat zusätzliche Probleme in unserem Lande haben. Es gibt gute Begründungen für diese Haltung; sie ist allerdings zum Nachteil der Amisten der Armen. Wir sollten dem Lande Uganda in Zentralafrika kräftig unter die Arme greifen, weil ich glaube, daß Wirtschaftsreformen und strukturpolitische Maßnahmen in den Entwicklungsländern davon profitieren würden. Liebe Frau Kollegin Dr. Eid, daß Sie, wie mir berichtet worden ist, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin „ignorantes Verhalten" vorwerfen, ({6}) daß Sie ihm vorwerfen, er habe die entwicklungspolitische Geschichte der Hauptstadt bei einem Besuch Mandelas nicht vollständig erwähnt, halte ich für völlig deplaziert. Er hätte dann auch aufzählen müssen oder können - ich finde: Er hätte es geradezu tun müssen -, in welchem Maße Berlin in den letzten 40 Jahren, also in der Zeit der Teilung, Zentrum der personellen Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands geworden ist. ({7}) - Ich weiß. Es gibt viele Punkte, die man erwähnen kann, positive wie negative. Die Berlin-Konferenz, Herr Kollege Schuster, war kein Berliner Thema, sondern ein deutsches; sie war, wenn man so will, ein Thema Europas. Die Eigenanstrengungen Berlins sind übrigens vorbildlich. Denken Sie nur daran, in welchem Umfange Berlin wie kein anderes deutsches Bundesland die NGOs oder die PVOs oder die NROs - wie immer wir sie nennen wollen - fördert, geschweige denn welche andere Stadt eine Veranstaltung wie die Messe „Partner des Fortschritts" durchführt. Ich nenne das als Gegenbeispiel. Sie mögen in Ihrem Zusammenhang recht haben. Nehmen Sie eine solche Bemerkung aber nicht zum Anlaß, Kritik zu üben und das Engagement in Frage zu stellen, das mit anderen Beispielen so evident nachgewiesen werden kann.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Feilcke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Eid?

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Indem ich darauf hinweise, daß diese Zwischenfrage nicht bestellt worden ist, sage ich ausdrücklich: Ja, gerne.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Feilcke, stimmen Sie mit mir überein, daß die Kongokonferenz in Berlin 1884/85 nicht eines unter mehreren Ereignissen war, mit denen Berlin zu tun hat, sondern daß dort der afrikanische Kontinent aufgeteilt worden ist, ({0}) worunter die Menschen Afrikas noch heute zu leiden haben? Im November haben wir darüber debattiert, daß das Tutsi-Reich in Ostafrika in drei Teile geteilt worden ist, was mit ein Grund dafür ist, daß es in der Region der Großen Seen heute diese Probleme gibt.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin der Auffassung - lassen Sie mich das zum Abschluß meiner insgesamt leider viel zu kurzen Rede sagen -, daß wir, Herr Bundesminister Spranger, bei der Arbeit dieses beschlossenen Schuldenerleichterungsfonds von Weltbank und Internationalem Währungsfonds als Bundesrepublik Deutschland darauf achten sollten, daß sie nicht nach dem Motto „Dienst nach Vorschrift" erfolgt. Wir wollen zwar korrekt sein, aber ein überkorrektes Verhalten mit langwierigen Prüfungsverfahren und einem damit verbundenen Bürokratismus führt aus meiner Sicht dazu, daß sich während der Zeit der Prüfung die Probleme in einigen der Länder verschlimmern können, von denen wir von vornherein wissen, daß sie aus eigenen Kräften nicht aus ihrer Schuldenlage herauskommen. Lassen Sie uns dafür sorgen, daß wir solche Instrumente nicht nur beschließen, sondern daß wir sie auch angemessen handhaben, weil wir alle gemeinsam wollen, daß diese Länder mit der Schuldenproblematik fertig werden, und das nach Möglichkeit aus eigener Kraft. Wir wollen in Deutschland keinen Afrika-Pessimismus fördern. Wir hören mit großer Freude - darauf ist schon hingewiesen worden -, daß inzwischen Experten davon reden, daß Afrika der Boomkontinent des nächsten Jahrhunderts sein könnte. Was immer wir tun können, um Afrika auf diesem Wege voranzubringen, sollten wir tun, und zwar schnell. Vielen Dank. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Reinhold Robbe, SPD-Fraktion. ({0})

Reinhold Robbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wo Hunger herrscht, kann Friede nicht Bestand haben. Wer den Krieg ächten will, muß auch die Massenarmut bannen. Dieser Satz von Willy Brandt hat nach wie vor Gültigkeit. Die Ursachen für die Kriege und Konfliktherde in den unterentwickelten Ländern sind ganz sicher vielschichtig und kompliziert. Ein Beleg hierfür ist der jüngste Bürgerkrieg in Burundi und Ruanda. Aber auch in anderen Teilen dieser Erde gibt es zahlreiche Beispiele für derartige kriegerische Auseinandersetzungen mit unzähligen Opfern, menschlichem Leid und nicht überschaubaren Flüchtlingsbewegungen. Obwohl jeder Konflikt und jede kriegerische Auseinandersetzung besondere und mit den anderen überhaupt nicht vergleichbare Hintergründe hat, gibt es eine Hauptursache für alle, nämlich die Massenarmut. Deshalb nimmt die Armutsbekämpfung eine zentrale Rolle innerhalb der deutschen Entwicklungshilfe ein. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikfeldern gibt es erfreulicherweise eine grundsätzliche breite Übereinstimmung im Deutschen Bundestag, wenn es darum geht, einen Beitrag zur Linderung der Massenarmut in dieser Welt zu leisten. Unsere Motive dafür, daß wir uns gegenüber den Ärmsten dieser Welt solidarisch verhalten, mögen durchaus unterschiedlich sein. Was uns jedoch im deutschen Parlament über alle Fraktionsgrenzen hinweg in dieser Frage verbindet, ist das in unserem Grundgesetz verankerte ethische Fundament, nach dem wir im Bewußtsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen dem Frieden zu dienen haben. Es entspricht also nicht nur dem Gebot der Vernunft, wenn wir die Bekämpfung der Massenarmut als einen wesentlichen Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik begreifen. ({0}) Die derzeitige Lage in der Welt läßt nicht gerade Optimismus aufkommen. Auf Grund von Erhebungen der UNO müssen wir ganz einfach zur Kenntnis nehmen, daß die Kluft zwischen den reichen Industrieländern und den Entwicklungsländern trotz aller Hilfen und Anstrengungen immer tiefer geworden ist. Die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen wird auf mehr als 1 Milliarde geschätzt; die Zahl der Hungernden summiert sich auf 800 Millionen und die der erwachsenen Analphabeten auf 900 Millionen. In diesem Zusammenhang darf das Problem der Kinderarbeit in den Entwicklungsländern nicht unerwähnt bleiben. Dieses Thema hat nicht zuletzt durch mediengerechte Auftritte eines Mitgliedes der amtierenden Bundesregierung, das im Augenblick nicht unter uns ist, eine besondere Note bekommen. Wenn es jedoch darum geht, die verbale Achtung der Kinderarbeit politisch mit Leben zu erfüllen, dann ist dies mit den Koalitionsparteien leider nicht hinzubekommen. ({1}) Es muß uns doch, meine Damen und Herren, ein wenig traurig stimmen, daß es nicht möglich war, hier einen gemeinsamen Antrag zur Bekämpfung der Kinderarbeit in der Welt zu verabschieden. Vielleicht schaffen wir es ja doch noch. Neben der unmittelbaren Armutsbekämpfung und der Soforthilfe bei Katastrophen muß sich stärker als bisher die Überzeugung durchsetzen, daß erst die Verbesserung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen in den Entwicklungsländern eine dauerhafte und breitenwirksame Armutsreduzierung bewirken kann. Ein wichtiger Bestandteil der nachhaltigen Armutsbekämpfung ist die Bereitstellung von grundlegenden Sozialleistungen wie beispielsweise Basisgesundheitsdienste, Grunderziehung, Ernährungsprogramme, Familienplanung und die Trinkwasserversorgung. Ein weiteres Problem hinsichtlich der Mittelverwendung für die Entwicklungszusammenarbeit ergibt sich durch die Auflösung des Ost-West-Konfliktes und die daraus erwachsende Gefahr, daß erhebliche Teile der öffentlichen Entwicklungshilfe für die Sanierung des zusammengebrochenen Ostblocks abfließen. Meine Damen und Herren, damit ich an dieser Stelle nicht mißverstanden werde, weise ich ausdrücklich darauf hin, daß wir Sozialdemokraten selbstverständlich in jeder Weise hinter dem stehen, was an Aufbauhilfe - wie beispielsweise jetzt in ExJugoslawien - geleistet wird. Dazu gibt es nach unserer festen Überzeugung auch überhaupt keine Alternative. Es muß jedoch in diesem Zusammenhang die Frage erlaubt sein, ob die insbesondere von den Armsten der Armen so dringend benötigte Entwicklungshilfe mehr und mehr zum Steinbruch für die Osthilfe wird. ({2}) Das Ende des Ost-West-Konfliktes bietet aber auch die Chance, die unbeschreiblich großen Herausforderungen in den Ländern des Südens gemeinsam anzugehen. Es wäre eine Tragödie großen Ausmaßes - so hat es einmal ein ehemaliger UNO-Generalsekretär formuliert -, „wenn die Ost-West-Konfrontation, die so lange Zeit so viel friedliche, kreative Energie unterdrückte, nun durch eine verstärkte Entfremdung zwischen dem Norden und dem Süden ersetzt würde". Die sich aus den Maastrichter Verträgen ergebende größere internationale Verantwortung bei der Friedenssicherung und Konfliktverhütung darf nicht ausschließlich im Militärischen gesucht werden. Im Vordergrund muß vielmehr eine neue Nord-SüdPolitik stehen, die dazu geeignet ist, die nach wie vor bestehende Entfremdung zwischen den reichen Ländern des Nordens und den unterentwickelten Staaten des Südens überwinden zu helfen. Meine Damen und Herren, die immer wieder eingeforderte nachhaltige Entwicklungspolitik kann nur dann mit Leben gefüllt werden, wenn es uns auf nationaler und auf europäischer Ebene gelingt, die Probleme der Welt im Rahmen einer gemeinsamen Partnerschaft von Industrieländern und Entwicklungsländern aufzugreifen, um gemeinsame Lösungen zu finden. Aus dieser Erkenntnis erwachsen eine ganze Reihe von konkreten Forderungen: Erstens. Die Entwicklungspolitik muß künftig noch besser als bisher als wirkliche Querschnittsaufgabe verstanden werden, ({3}) die alle Bereiche der Politik einbezieht. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Verankerung, die am besten durch ein Entwicklungshilfegesetz garantiert werden kann. Zweitens. Einer Renationalisierung der Entwicklungspolitik muß entgegengewirkt werden. Ein wichtiger Beitrag hierzu besteht in der Stärkung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit und in verbesserten Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments. ({4}) Drittens. Eine nachhaltige Entwicklungspolitik kann nur nach dem Prinzip des runden Tisches funktionieren. Deshalb sind sowohl auf dem nationalen wie auch auf dem internationalen Feld ganz neue Bündnisse zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen zu schmieden. Viertens. Die Bundesregierung steht in der Pflicht, eine umfassende Initiative zur grundlegenden Lösung der Verschuldungskrise in den Entwicklungsländern voranzutreiben. Fünftens und letztens. Der allgemeine Stellenwert der Entwicklungspolitik muß dadurch verbessert werden, daß Entwicklungshilfe als eine Politik der globalen Zukunftssicherung begriffen wird. Die Entwicklungszusammenarbeit muß in ihrem Umfang erweitert und in ihrer Qualität verbessert werden. Ich bedanke mich. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmungen der Vorlagen in der Reihenfolge, wie sie in der Tagesordnung aufgeführt sind, das heißt, zunächst zu den Tagesordnungspunkten 2 a bis 2 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/2223, 13/6381 und 13/ 3896 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2 d. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Überwindung von Kinderarbeit in Entwicklungsländern auf Drucksache 13/6716 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 2 f bis 2 h. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4119, 13/3903 und 13/ 5143 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2i, Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Verschuldung der Entwicklungsländer. Das ist die Drucksache 13/6626 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4670 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einer neuen Initiative zur Entschuldung der Entwicklungsländer. Das ist die Drucksache 13/6626 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2458 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2 k. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD zu Deutschlands Verantwortung für Subsahara-Afrika auf Drucksache 13/6725 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2m. Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und F.D.P. zu Initiativen zur Herstellung des Friedens im Sudan auf Drucksache 13/6730. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 2n und 2 o. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6581 und 13/6717 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das Vizepräsident Hans-Ulrich Klose ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungpunkt 2p. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda auf Drucksache 13/6165 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung war strittig. Die Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, daß die Federführung beim Rechtsausschuß liegen soll. Außerdem soll die Vorlage dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2 q, Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu alternativen Entwicklungsvorhaben zu Arun III in Nepal. Das ist die Drucksache 13/5010 Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2979 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und Stimmenthaltung von der PDS angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Verwendung der Mittel, die für die Finanzierung des Staudammprojektes Arun III vorgesehen waren. Das ist die Drucksache 13/5010 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2285 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 2 r, Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der PDS zum Transfer von Zuwendungen in Höhe der Einnahmen aus der Kaffeesteuer in den Süden. Das ist die Drucksache 13/5027. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2358 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS angenommen. Zusatzpunkte 2 bis 4. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/6204, 13/ 6389 und 13/6713 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Dann zum Zusatzpunkt 5. Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. zur Förderung des Friedensprozesses in der Westsahara. Das ist die Drucksache 13/6702. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5725 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkte 6 bis 9. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6719, 13/6720, 13/6726 und 13/6732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht, Susanne Kastner, Iris Follak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Entwicklung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern - Drucksachen 13/4048, 13/5087 Dazu liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Päselt, CDU/CSU.

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben über den Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung des Tourismus 1995 ausführlich diskutiert und der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß im Herbst 1997 bei der Diskussion über den neuesten Bericht eine getrennte Betrachtung Ost und West nicht mehr nötig ist. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Entwicklung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern gibt Gelegenheit, über das Erreichte nachzudenken und Konsequenzen für die weitere Entwicklung zu ziehen. Der deutsche Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Sein Anteil am Bruttosozialprodukt beträgt etwa 5 Prozent. Er ist die Existenzgrundlage für Hotellerie und Gastronomie und ist auch für die Verkehrswirtschaft von Bedeutung.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Päselt, einen Moment. Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an der vorangegangenen Debatte über Entwicklungspolitik teilgenommen haben, sehr engagiert wie der Kollege Schuster, möchte ich bitten, ein bißchen ruhiger zu sein, damit auch diejenigen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Debattenredner, die jetzt dran sind, die Chance haben, sich Gehör zu verschaffen. Bitte sehr, Herr Kollege Päselt.

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um dies zu untermauern, möchte ich hier nur darauf hinweisen, daß die Deutschen jährlich zwischen 150 und 200 Milliarden DM für Reisen im In- und Ausland ausgegeben haben. Daß sich Tourismus lohnt, geht aus der Tatsache hervor, daß auf 100 Arbeitsplätze im Gastgewerbe durchschnittlich weitere 50 fremdenverkehrsabhängige Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich und noch einmal 50 in den übrigen Wirtschaftssektoren kommen. Die angegebene Bedeutung des Tourismus für die Bürger und die Wirtschaft ließ erwarten, daß die Tourismusbranche zu einem Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Ländern werden würde. Bei einer sachgerechteren Analyse des IstZustandes hätte diese Erwartung jedoch gedämpfter ausfallen müssen. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Ausgangssituation im Jahre 1990, damit wir das Erreichte besser würdigen können. Zu den Problemen betreffend den Umfang und die Qualität der Beherbergungsbetriebe kamen weitere Schwierigkeiten und Hindernisse - vom Telefonnetz bis zum Freizeitangebot - hinzu. Die Überwindung der angeführten Mängel hatte sich mancher kurzfristiger vorgestellt. Doch bei einer realistischen Betrachtungsweise durfte klar sein, daß dies einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen würde. Für die touristische Infrastruktur und die Erstellung der touristischen Entwicklungspläne sind die Bundesländer zuständig. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat zwischenzeitlich mit der Berliner Außenstelle Aufgaben und Funktionen übernommen, die eigentlich den neuen Ländern zustehen. Die Politiker sind aufgefordert, verläßliche und für den Tourismus günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Dies hat dazu geführt, daß im betrachteten Zeitraum über entsprechende Förderprogramme Fördermittel in Höhe von 8 bis 10 Milliarden DM für die neuen Länder zur Verfügung gestellt und dort im touristischen Bereich verwendet wurden. Günstig für die neuen Länder hat sich auch die Einsetzung eines Vollausschusses für Tourismus des Deutschen Bundestages in der 12. Wahlperiode erwiesen. Ein Großteil der Beratungen dieses Ausschusses war den neuen Ländern gewidmet. Was ergibt sich aus der Antwort der Bundesregierung? Am schnellsten wurden die Nachteile bei den Übernachtungskapazitäten wettgemacht. Das Angebot ist punktuell verschieden gut entwickelt. Allein in Thüringen wurden von 1991 bis Anfang 1995 31 293 Betten renoviert beziehungsweise völlig neu geschaffen. Bei einem Bestand von 56 000 Betten liegt der Anteil der Neuerstellung bei über 56 Prozent. Die Tourismuswirtschaft hatte von 1992 bis 1995 bei der Zahl der Gästeübernachtungen in den neuen Ländern einen Anstieg um 52 Prozent zu verzeichnen. Dies ist beachtlich, wenn man bedenkt, daß die Zahl der Schnuppertouristen und der Geschäftsreisen in diesen Jahren rückläufig war. Damit verbunden war die Sicherung von etwa 340 000 Arbeitsplätzen. Thüringen gibt an, daß die Bruttowertschöpfung aus dem Fremdenverkehr im Jahre 1993 bei 3,5 Milliarden DM lag, wovon 1 Milliarde DM dem unmittelbaren Einkommen zuzurechnen ist. Nach Angaben Thüringens sind insgesamt etwa 100 000 direkt und indirekt Beschäftigte im Tourismus tätig. Der Vergleich mit den alten Ländern zeigt aber, daß sich dies noch steigern läßt. 1995 kamen in den alten Ländern auf 1 000 Einwohner 3 923 Übernachtungen. In den neuen Ländern waren es dagegen nur 2 761. Rechnet man diese Zahl auf Westverhältnisse um, dann könnten etwa 100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Man muß allerdings berücksichtigen, daß es sich hierbei nur um Durchschnittswerte handelt. So liegt die Zahl in Mecklenburg-Vorpommern bereits jetzt bei 5 400 und in Thüringen bei 3 000. Das Schlußlicht ist in diesem Falle Sachsen-Anhalt mit 1 821 Übernachtungen im Jahre 1995. ({0}) Für die Sommersaison 1996 beziffert das Statistische Bundesamt die Zahl der Gäste in den neuen Ländern und im Ostteil Berlins auf 29 Millionen. Das sind 11,6 Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum, was die Presse zu der Bemerkung verleitete: Die Urlaubsregionen in den neuen Ländern ziehen immer mehr Reisende an.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Päselt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie sprachen davon, daß 100 000 Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, Dr. Gerhard Päselt ({0}): Neu geschaffen werden könnten.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- neu geschaffen werden könnten. Dann sagen Sie mir vor dem Hintergrund einer völlig verfehlten Wirtschaftspolitik doch einmal, bis wann Sie dieses Ziel eigentlich erreichen wollen.

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muß sagen, daß sich die Fraktionen hier einig sind, daß sie von den gleichen Zahlen sprechen. Ich sage dies zu Ihrem eigenen Antrag. ({0}) Ich darf darauf in den weiteren Ausführungen noch eingehen. Wir hoffen, daß wir zu den gleichen Verhältnissen kommen. Ich kann nur ein Beispiel nennen. Ich glaube, 56 Prozent der Altbundesbürger waren noch nie in der DDR. Wenn wir einen Großteil davon gewinnen würden, dann hätten wir die 100 000 schon. Ich kann Sie von dieser Stelle alle nur auffordern, mit dazu beizutragen, daß wir das Geld im Inland behalten und nicht ins Ausland schaffen. ({1}) Alle Vergleiche zwischen Ost und West in der Antwort der Bundesregierung belegen, daß der Osten noch viel aufzuholen hat. Dennoch kann man bei diesem Vergleich auch feststellen, daß sich die von der Bundesregierung geschaffenen Rahmenbedingungen als richtig erwiesen haben. Sie ermöglichten die Umstrukturierung der als Sozialleistung deklarierten und damit hochsubventionierten sozialistischen Tourismuswirtschaft in marktwirtschaftliche Strukturen als Voraussetzung zum Aufbau eines flächendeckenden und erfolgreichen Gastgewerbes. Zur Bewertung der Antwort der Bundesregierung liegen uns zwei Entschließungsanträge vor, und zwar von den Koalitionsfraktionen und von der SPD-Fraktion. Sie sind im fachlichen Bereich nicht so weit voneinander entfernt. Viele Forderungen sind in ihrem Inhalt identisch. Der Unterschied liegt in der Bewertung der Handlungen der Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsministers. Dies wird niemanden in diesem Hause verwundern. Der Aufbau des Fremdenverkehrs ist ein Erfolg für die Regierung und den Minister und paßt damit nicht in das Gesichtsfeld der Opposition. In allen Aussagen zum Fremdenverkehr in den neuen Ländern wird die mangelnde Auslastung der Bettenkapazitäten beklagt. Alle Bemühungen unsererseits müssen darauf gerichtet sein, daß die Branche erfolgreich eine höhere Auslastung erzielen kann und daß in Liquiditätsschwierigkeiten gekommene Betriebe unterstützt werden. ({2}) Für die Wahl des Urlaubsortes und der Aufenthaltsdauer spielen die Verkehrsanbindung und das Kultur- und Freizeitangebot eine entscheidende Rolle. Übereinstimmend wird in beiden Entschließungsanträgen gefordert, nur noch in unterversorgten Gebieten einen weiteren Bettenausbau zu fördern und die zur Verfügung stehenden Mittel zur Stärkung der touristischen Infrastruktur und zur Verbesserung des Angebots im Erlebnisbereich einzusetzen. Im kulturellen Bereich ist, bedingt durch die historische Entwicklung, ein reichhaltiges Angebot vorhanden. Der Erlebnisbereich wird gerade aufgebaut. Die Kommunen, die Kreise und die Länder haben erhebliche Anstrengungen unternommen und beträchtliche Mittel bereitgestellt. Der zweite Bereich ist die Werbung für die neuen Länder. Deshalb fordert unser Entschließungsantrag eine vordringliche und angemessene Berücksichtigung der neuen Länder bei Werbekampagnen der DZT und der DTM. Wir müssen die Anstrengungen einfordern und unterstützen. Reisen bzw. Übernachtungen in der modernen Arbeits- und Freizeitgesellschaft, Jahres- und Kurzurlaub sind Produkte, die in etwa den gleichen Marktbedingungen gehorchen wie andere Produkte auch. Wenn der Kunde weiß, wo er das Produkt kaufen kann, wenn er weiß, wieviel es kostet, wenn das Produkt gut aufbereitet ist, wenn es verkauft wird, wenn der Kunde auch einmal spontan buchen kann, so wird er das Produkt auch häufiger kaufen. Der Kunde ist in den Mittelpunkt gerückt, und er fordert Qualität. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden in den Ausschußberatungen über die Entschließungsanträge den Fremdenverkehr im Osten weiter unterstützen. Ich hoffe, daß alle, die noch nicht in den fünf neuen Ländern gewesen sind, uns dort besuchen und auch einige Pfennige Geld dort lassen. Dazu lade ich Sie recht herzlich ein, damit man sehen kann, was in diesen Ländern in der letzten Zeit alles geschehen ist. Es kann sich jeder selbst vom Aufbau und vom Aufbauwillen überzeugen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Anke Fuchs, SPD-Fraktion.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein erfreuliches Thema, finde ich. Tourismus hat etwas mit Freizeit zu tun, hat etwas mit Lebensqualität zu tun. Ich lobe den Herrn Rexrodt heute einmal, ({0}) denn meine Kollegin Susanne Kastner hat gesagt, er habe sich als lernfähig erwiesen, er wisse inzwischen immerhin, wie man Tourismus buchstabiert. Ich setze auf weitere Lernfähigkeit und gute Zusammenarbeit. ({1}) Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat den Antrag gestellt und die Große Anfrage eingebracht, weil wir in der Tat sagen: Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftszweig, eine Branche, die unser Augenmerk verdient. Denn immerhin sind dort über zwei Millionen Menschen beschäftigt; über 60 000 Ausbildungsplätze werden im Hotel- und Gaststättengewerbe bereitgestellt; hinzu kommen über 8 000 Ausbildungsplätze in den Reisebüros, so daß diese Branche insgesamt 5,6 Prozent an der gesamten Nettowertschöpfung beteiligt ist. Das macht sie zum bedeutendsten Dienstleistungssektor in der Bundesrepublik. Das ist für uns ein wichtiges wirtschaftliches Thema. ({2}) Wir sprechen heute insbesondere über den Tourismus in Ostdeutschland. Es ist richtig: Der Tourismus insgesamt hat sich als krisenfest erwiesen. Wenn Sie in die an sich zuversichtlichen Äußerungen der ganzen Branche hineinhorchen, merkt man gleichwohl, daß die Branche spürt, daß die Binnenkaufkraft zuAnke Fuchs ({3}) rückgegangen ist und daß die kleinen Leute nicht mehr so viel Geld in der Tasche haben. Von daher ist die Frage, wie sich eine Branche an eine solche wirtschaftliche Entwicklung anpaßt, ein wirtschaftspolitisches Thema und spielt in die Problematik hinein, was hilft in Ostdeutschland. Ich will Ihnen, Herr Kollege Päselt, ausdrücklich zustimmen. Es ist doch phantastisch, daß wir darüber diskutieren können, welche Möglichkeit wir haben, ökonomisch sinnvoll und zur Freude der Menschen dazu beizutragen, daß die beiden ehemaligen deutschen Staaten zusammenwachsen. Natürlich ist die reiche Kultur in den ostdeutschen Ländern ein Anreiz. Deswegen freue ich mich, daß der Minister von Sachsen-Anhalt heute zu uns sprechen wird, denn sein Land hat - wie die anderen auch - eine kulturelle Vielfalt. Ich finde, Sie haben Recht, wenn Sie die Leute ermuntern, sich die Länder anzuschauen und ihr Geld dort zu lassen. Das ist ein Teil dessen, was wir im Hinblick auf Tourismus mit Ihnen gemeinsam verfolgen. Wir sollten überlegen, was man noch zusätzlich tun kann. ({4}) Das „Luther-Jahr" war ein Erfolg, „Reiseland Deutschland" ist ein Erfolg - das sollten wir als positiv vermerken. Wir sollten aber auch unser Augenmerk darauf lenken, was das für die Ausbildungs- und Arbeitsplätze bedeutet. Ich glaube, wir brauchen dort gerechte Arbeitsbedingungen und Perspektiven für die Arbeitnehmer. Deshalb bin ich für sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in diesem Bereich. ({5}) Ich bin für qualifizierte Ausbildung, auch die Frage, welche Management-Qualitäten man haben muß - sei es in einem großen Konzern, sei es in einem Reisebüro, sei es in Hotels und Gaststätten -, muß über die Ausbildung von uns definiert werden. Da gebe es einen Mangel, ist mir von vielen gesagt worden. Wir müssen wissen, daß wir die richtigen Rahmenbedingungen brauchen, um Menschen in diesen Bereichen qualifizierte Arbeit zu geben. Denn diese Menschen können nicht ins Ausland, in Billiglohnländer gehen. Von daher ist die Arbeitsmarktfrage für diese Branche von herausragender Bedeutung. Wir sollten uns ihr intensiv widmen. ({6}) Ich möchte noch kurz darauf eingehen, was man noch anbringen kann, wenn man von „Reiseland Deutschland" spricht. Herr Bundeswirtschaftsminister, natürlich wollen wir darauf achten, daß ein bißchen mehr Geld für die Vermarktung ausgegeben wird; aber da sind wir ja im Gespräch. Es kommt darauf an, ein paar Engstirnigkeiten zu überwinden. Das Stichwort „Globalisierung in den Köpfen": Wie „kleinmaschig" werden heute touristische Angebote noch organisiert? Jede Kommune hat ihr eigenes Reisebüro und ihre eigene Touristen-Zentrale. Information und Vernetzung, ohne daß es zu bürokratisch wird, muß eins unserer Themen sein; dabei muß Hilfestellung gegeben werden, weil die kleinmaschige Art sonst bleibt. Das können wir nicht wollen. Kein Urlauber, kein Spaziergänger wird an den kommunalen Grenzen halt machen; er folgt seinem Wanderweg und will sein Urlaubsziel erreichen. Wenn er die Grenze der Kommune erreicht hat, will er trotzdem weiter. Das ist auch in Ordnung so. Das Interesse des zahlenden Gastes ist die Richtschnur für die Orientierung des touristischen Angebots. Wir sollten dazu beitragen, daß die Vermarktung von Regionen, also auch der ostdeutschen Regionen, innerhalb der Bundesrepublik besser wird. Wir sollten alles dafür tun, daß das „Reiseland Deutschland" auch im Ausland an Attraktivität gewinnt. Da besteht ein großer Nachholbedarf. ({7}) Wenn wir uns darüber im klaren sind, daß es zukunftsträchtige Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor sein können, wenn wir sie nicht durch „LohnDumping" kaputtmachen, dann hat Tourismus bei uns eine Chance. Ich freue mich, daß es gelungen ist, den Freizeitbereich so auszugestalten. Wir können ihn so ausgestalten, weil die Gewerkschaften diese vielen Urlaubstage erkämpft haben. Daran wollte ich einmal erinnert haben, meine Damen und Herren. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Fuchs, vielen Dank für Ihre Rede. Tourismus ist nicht alles - das wissen wir auch -, aber ohne Fremdenverkehrswirtschaft gäbe es in Ostdeutschland 340 000 Arbeits- und 20 000 Ausbildungsplätze weniger; Herr Päselt hat es schon gesagt. Die Tourismuswirtschaft in den neuen Bundesländern hat sich erfolgreich entwickelt, was auch aus den Zuwachsraten zu ersehen ist. Das bestätigen insbesondere Besucher, die vor oder kurz nach der Wende den Osten Deutschlands besucht haben und jetzt ohne Schwierigkeiten zwischen guten Hotels und Gaststätten auswählen und diese auf ebenen Straßen erreichen können. Nichts weist mehr auf graue, eintönige Gastronomie und Plattenbauhotels hin. So ist es auch in Brandenburg; etwas Lokalpatriotismus muß ja erlaubt sein. Zur Zeit haben dort 45 000 Menschen im Fremdenverkehr Arbeit gefunden. Ziel sind 100 000 Arbeitsplätze. Das wären 10 Prozent der Erwerbstätigen; man darf das also mit Sicherheit nicht vernachlässigen. Wie konnte dieses Wachstum, das wir in anderen Branchen noch vermissen, erreicht werden? Erstens. Die Fördermöglichkeiten, die die Bundesregierung und die Landesregierungen geschaffen haben, waJürgen Türk ren übersichtlich und wurden angenommen. Zweitens. Die Zusammenarbeit zwischen Ländern, Bund, Kammern, Verbänden und natürlich den Abgeordneten war gut. Drittens. Meines Erachtens war eine wesentliche Grundlage für den Erfolg auch die gezielte Beratung und Schulung des Deutschen Seminars für Fremdenverkehr. Letztlich kann man sagen, daß die Menschen, die sich dem Tourismus verschrieben haben, besonders engagiert und risikofreudig sind, vor allem sehr flexibel; das habe ich jedenfalls festgestellt. Dieser Erfolg darf nicht dazu verleiten, daß man sich jetzt zurücklehnt, denn es sind noch nicht alle Reserven ausgeschöpft. So ist noch eine wesentlich höhere Auslastung der geschaffenen Kapazitäten zu erreichen. ({0}) Dazu müssen jetzt Erlebnisbereiche und Attraktionen geschaffen werden, die die Gäste zu einer längeren Aufenthaltsdauer veranlassen, denn 2,7 Übernachtungen auf 1 000 Einwohner im Jahr sind noch zu wenig; das ist noch steigerungsfähig. Deshalb muß auch eine gezielte und damit effiziente Förderung über das Jahr 1998 hinaus fortgesetzt werden. Vor allem sollte sie sich nicht auf die Schaffung neuer Kapazitäten, sondern auf Unterstützung vorhandener erhaltungswürdiger Betriebe konzentrieren. Hier ist besonders das Marketing, das heißt die Touristenwerbung, zu fördern. Das schließt den Einsatz privater Vermittlung ein. Hier sollten wir alle ideologischen Barrieren überwinden: Entscheidend ist das Ergebnis, nämlich die Anzahl der Urlauber, die wiederkommen, weil sie zufrieden waren. Hierzu gehört auch die Kundennachberatung, also die Auswertung des Urlaubs, die bisher kaum erfolgte. Nachholbedarf gibt es mit Sicherheit auch noch bei der Überwindung der Kirchturmpolitik in der Fremdenverkehrswerbung. Nicht jedes Dorf darf für sich angeboten werden, sondern es muß zumindest die ganze Region sein - einschließlich der Attraktionen wie zum Beispiel in Brandenburg das Paket Niederlausitz mit dem Spreewald, mit Cottbus und dem Bundesgartenschaugelände sowie mit José Carreras, der im Sommer dieses Jahres nach Cottbus kommt. ({1}) Dazu gehört auch die Wiederherstellung der Lausitzer Landschaft nach dem Braunkohlentagebau - es gibt viele Interessenten, die sich das dort anschauen wollen - und hoffentlich bald wieder die Spreewaldbahn, für die ich mich mit einem Förderteam engagiere. Wenn wir bei sinnvoller Förderung und beim Spreewald sind: Es ist natürlich sinnlos, daß die Europäische Union dort die Sonnenblumen fördert. Sinn macht jedoch, das Spreewaldgemüse und den Landschaftsschutz zu fördern, denn das macht die unvergleichliche Eigenart des Spreewaldes aus. Hier ist also sicherlich auch Kontakt mit der EU aufzunehmen. Es genügt jedoch nicht, sich im Lichte vergangener Leistungen, auch wenn sie noch nicht allzu lange zurückliegen, zu sonnen. Jetzt geht es um die Erhaltung der Arbeitsplätze für Ostdeutschland und um die Ausschöpfung brachliegender Potentiale. Die F.D.P. begrüßt daher die Ankündigung des Bundeswirtschaftsministers, die Wirtschaftsförderung Ost einschließlich des Fremdenverkehrs auch nach 1998 fortzusetzen. Ich bin überzeugt, daß sich durch effiziente und unbürokratische Förderung der Fremdenverkehr in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren zu einem selbsttragenden Wirtschaftszweig entwickeln wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Halo Saibold.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei meinen Reisen durch die neuen Bundesländer bin ich immer wieder von den Naturschönheiten und von der kulturellen Vielfalt begeistert: ob das die restaurierte Pracht der Badeorte an der Ostsee ist, die Vogelschwärme im herbstlichen Oderbruch, das DessauWörlitzer-Gartenreich oder die herrlichen Ausblicke von der Bastei ins Elbtal. Ich kann den Menschen in den alten Bundesländern nur empfehlen, doch öfter auf Entdeckungsreise in die neuen Bundesländer zu gehen, anstatt einen einfallslosen und austauschbaren Last-minute-Flug zu buchen. ({0}) Das reiche natürliche und kulturelle Erbe und das beachtliche Engagement der Menschen können aber nicht über die schwierige Situation des Tourismus in den neuen Bundesländern hinwegtäuschen. Die Bundesregierung versucht in ihrer Antwort auf die Große Anfrage, die Tourismusentwicklung in den neuen Bundesländern als reine Erfolgsstory zu verkaufen, was so einfach nicht zutrifft. Gewiß war es richtig, daß viele Regionen einen Schwerpunkt ihrer Entwicklung im Tourismus gesetzt haben, denn die Voraussetzungen hierfür sind gut, und der Tourismus ist eine verhältnismäßig arbeitsintensive Branche, allerdings mit vielen ungesicherten Arbeitsplätzen speziell für Frauen. Damit allein können aber die katastrophalen Fehler einer Kohlsehen Vereinigungspolitik und der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen nicht wettgemacht werden. ({1}) Selbst eine so etablierte Tourismusregion wie Usedom hatte 1996 eine offizielle Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Das war sogar mehr als der Landesdurchschnitt von Mecklenburg-Vorpommern. Die Hauptaufgabe besteht jetzt darin, die bisher geschaffenen Arbeitsplätze zu sichern und zu versuchen, die regionalen Wirtschaftsstrukturen insgesamt zu stärken, auch um Abhängigkeiten vom wankelmütigen Tourismus zu verhindern. Die hohen Zuwachsraten bei den Übernachtungszahlen beruhen auf dem völligen Zusammenbruch der vorherigen Tourismusstruktur der ehemaligen DDR. Inzwischen werden die geringeren Zuwächse bei den Übernachtungszahlen von den rasanten, zum Teil mit Steuermitteln geförderten Kapazitätszuwächsen mehr als aufgefressen. Die katastrophale Folge ist eine ständig sinkende Auslastung der Hotelbetten, die zum Teil bei nur mehr 30 Prozent liegt. In einer Kettenreaktion führen die sinkenden Bettenauslastungen und die jetzt einsetzenden Tilgungszahlungen für Kredite dazu, daß die Zahl der Konkursfälle noch wesentlich dramatischer anwachsen wird als im letzten Jahr. Dies als „Marktbereinigung" abzutun ist zynisch und zeigt, daß die eigentlichen Probleme von der Bundesregierung nicht erkannt werden. ({2}) Mit der jüngsten Sparpolitik der Bundesregierung bei der Arbeitsförderung wird sich die Situation weiter verschärfen. Gerade die für den Tourismus so wichtige Landschaftspflege, aber auch viele kulturelle Einrichtungen, insbesondere die Tourismusämter, werden von ABM-Stellen getragen. Diese Arbeitsplätze drohen vollkommen wegzubrechen, da die Kommunen nicht in der Lage sind, die Finanzierung zu übernehmen. Die Folge wäre ein Zusammenbruch der mühsam aufgebauten Tourismusstrukturen. Um dies zu verhindern, müssen die AB- Maßnahmen in diesem Bereich unbedingt weiter beibehalten werden. Herr Minister, Sie haben die einmalige Chance verpaßt, neue Rahmenbedingungen für einen zeitgemäßen Ausbau von Tourismusstrukturen in den neuen Bundesländern zu setzen. Fast alle Fehler der alten Bundesländer, von Überkapazitäten und Umweltsünden bis hin zur politischen Verflechtung in den Strukturen, findet man im Osten inzwischen wieder. Das wichtigste Werkzeug, mit dem Sie arbeiten, hat nach über 20 Jahren allerdings viel Rost angesetzt. Es muß dringend reformiert werden. Ich meine die Gemeinschaftsaufgabe für die regionale Wirtschaftsförderung. Bei einem Volumen von immerhin 2,5 Milliarden DM für die Infrastrukturförderung ist es ein echter Anachronismus, wenn der Schwerpunkt dabei noch immer im Bau von „Häusern des Gastes" und von Kneipp-Tretanlagen liegt. ({3}) Paradox wird diese Situation durch die unsachgerechten Sparbeschlüsse bei den Kuren, weil damit die wirtschaftliche Grundlage für die vorher geförderten Projekte verlorengeht. ({4}) Statt daß weiterhin einzelne Projekte und Investitionen isoliert voneinander gefördert werden, sollte den Regionen eine Chance gegeben werden, ein eigenes, unverwechselbares touristisches Profil zu entwikkeln, das sich auch in einer besonderen Angebotsstruktur widerspiegelt. Nehmen wir als Beispiel die Region Dessau. Das kulturelle Glanzstück ist zweifellos das Wörlitzer Gartenreich, das Bauhaus Dessau und die südlich gelegene Industrieregion sind Zeugen der neueren Kulturgeschichte, die Lutherstadt Wittenberg ist ein weiterer Besuchsmagnet, und das Biosphärenreservat Mittlere Elbe bietet Naturgenuß pur - kurz gesagt, ein attraktives Reisegebiet. Doch es fehlt an allen Ekken und Enden, um diese Chancen zu nutzen. Wir brauchen für diese und andere Regionen ein ganzes Bündel politischer Maßnahmen, das koordiniert eingesetzt wird. Erstens ist ein, wie ich betonen möchte, gezielter Mitteleinsatz für die Stadtkernsanierung und für Restaurierungen von Baudenkmälern notwendig. Zweitens. Die Fördermittel für Renaturierungen von Bergbaugebieten dürfen auf keinen Fall gekürzt werden. Drittens. Der Ausbau des ÖPNV muß in der ganzen Region vorangetrieben werden. Viertens. Die Bemühungen zur Errichtung eines Industrie- und Kulturparks müssen unterstützt werden. Ideen sind genügend vorhanden; sie zu koordinieren und zu fördern ist die Hauptaufgabe der Zukunft. Daher ist es erforderlich, daß die bisherige Förderung nach dem Gießkannenprinzip in eine regionale Schwerpunktförderung umgewandelt wird und daß insbesondere ein spezielles Förderprogramm für Regionalagenturen erstellt wird. Ohne ein Regionalmanagement, das alle Akteure zum Beispiel in dieser Region von der Gaststätte bis hin zur Bevölkerung und über die Landkreisgrenzen hinaus an einen Tisch bringt und die Aktivitäten koordiniert, wird die Entwicklung dieser Region nicht möglich sein. Für diese Koordinationsaufgaben müssen finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Hier hat der Bund die Hauptaufgabe, unterstützend einzugreifen und initiativ zu werden. Generell muß auch der Altstadtsanierung mehr Augenmerk geschenkt werden. Sie ist nicht nur das A und O für die Lebensqualität der dort lebenden Menschen, sondern ist insbesondere für die weitere Entwicklung des Tourismus unverzichtbar. Hier liegt leider noch vieles im argen, doch wenn man sieht, daß Berlin für Sanierung mehr finanzielle Mittel ausgibt, als allen neuen Bundesländern zusammen zur Verfügung stehen, ist es nicht verwunderlich, daß hier Fortschritte ins Stocken geraten. Statt in Supermärkte auf der grünen Wiese sind die knapper werdenden Finanzmittel endlich auf die Attraktivitätssteigerung der Innenstädte zu lenken. ({5}) Kontraproduktiv für den Tourismus ist auch die bisher betriebene Verkehrspolitik. Daß die Bundesregierung im Autowahn verharrt, ist aus vielen Gründen ein Skandal. Wenn Sie aber meinen, damit den Autofahrern eine schnellere Anfahrt zum Urlaubsort zu garantieren, dann irren Sie sich gewaltig. Auf der Insel Rügen zum Beispiel bricht an jedem Sommerwochenende mit schöner Regelmäßigkeit der Straßenverkehr zusammen. Und was ist die Antwort der Bundesregierung auf die kilometerlangen Staus vor der Insel? - Eine neue Autobrücke. Damit werden alle Bemühungen der auf Rügen politisch Verantwortlichen zur Reduzierung des Individualverkehrs zunichte gemacht, und das Kapital der Insel, die Umwelt und die Ruhe, wird zerstört. Der dringend notwendige zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke in Richtung Rügen und deren Elektrifizierung werden dagegen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. ({6}) Milliarden werden für den Transrapid verschleudert, und für die Erhaltung und Verbesserung der vorhandenen Schienenstrecken ist kein Geld vorhanden. Im Land Brandenburg läuft derzeit bei den Bahnstrekken ein Kahlschlag ohnegleichen. Eine solche Politik wird sich auch hinsichtlich des Tourismus einmal bitter rächen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Sie müssen zum Abschluß kommen.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz: Die mit viel Engagement und Mut in der Tourismusbranche arbeitenden Menschen in den neuen Bundesländern haben eine bessere Politik verdient. Danke. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe der Abgeordneten Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD liest sich, jedenfalls aus meiner Sicht, wie ein schlechter Roman. Sie ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Vieles davon ist ja auch nicht wahr. Zum Beispiel ist die angebliche Entwicklung der Übernachtungen eine reine Zahlenspielerei. Eine Steigerung von 20,7 Prozent klingt natürlich gewaltig, aber wenn man die geringen Ausgangszahlen beachtet, so kommt im Endeffekt nur ein geringer Zuwachs heraus. Viel wichtiger ist die Auslastung, die erschreckend gering ist. In den meisten touristischen Regionen Ostdeutschlands beträgt sie - Frau Saibold hat dies auch schon gesagt - nicht einmal 30 Prozent pro Jahr, eine Folge der mangelnden Infrastruktur. Im Westen liegt die Bettenauslastung wesentlich höher. Genauso unsinnig ist die Behauptung, im Land Brandenburg gäbe es im Zeitraum von 1992 bis 1995 eine Zuwachsrate bei Übernachtungen in Höhe von 78,7 Prozent. Laut Landesfremdenverkehrsverband steckte in dieser Zeit das Statistikwesen noch in den Kinderschuhen. Das heißt, für diese Zeit können überhaupt keine exakten Zahlen existieren. Auch die Kreditversorgung ist keineswegs ausreichend, wie die Bundesregierung behauptet. Der Hotel- und Gaststättenverband Mecklenburg-Vorpommern erklärt dazu - ich zitiere -: Die Förderpolitik für die Gastronomie- und Hotelleriebranche ist unzureichend. Die Bank finanziert nicht, da in den meisten Fällen der Eigenkapitalanteil von 20 bis 30 Prozent fehlt und die Förderfähigkeit nicht als Eigenkapital anerkannt wird. Diese Kreditpolitik führt in erster Linie zu einer Unterstützung von Vier- und Fünf-Sterne-Hotels, nicht jedoch zu einer Unterstützung der dringend benötigten einfacheren und Mittelklassehotels. Die mangelnde Förderung und das nicht vorhandene Eigenkapital haben zur Folge, daß viele Ostdeutsche auf westdeutsche Partner mit Geld angewiesen sind. Die aktuelle Politik der Bundesregierung hat natürlich auch in anderer Hinsicht direkten Einfluß auf den Tourismus. Viele der gerade entstandenen Heilbäder müssen dank der Politik von Bundesminister Seehofer wieder schließen. Der Abbau von ABM betrifft viele Serviceleistungen, auch im Tourismus. Besonders Touristeninformationen sind sehr häufig mit ABM-Kräften besetzt, was schon heute in der Regel nicht reicht. Statt diese Maßnahmen auszubauen und qualitativ weiterzuführen, wird in diesem Bereich gekürzt. Das bedeutet noch weniger Informationen und Service und dadurch noch weniger Touristinnen und Touristen. Das ist jedenfalls keine Tourismusförderung, die diesen Namen verdient. Es gibt in den neuen Bundesländern viele Umschülerinnen und Umschüler im Bereich des Tourismus, aber diese können wegen der fehlenden Arbeitsplätze nicht beschäftigt werden. Zum Beispiel ist auf Rügen gerade eine Umschulung zur Fachkraft im Fremdenverkehr beendet worden. Von den 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hat bislang niemand eine Stelle in Aussicht. Da in der Tourismusbranche vorwiegend Frauen arbeiten, sind sie vom Mangel an Arbeitsplätzen und von den schlechten Arbeitsbedingungen besonders betroffen. So sieht die Realität aus und nicht so, wie es die Bundesregierung in ihrer Antwort darzustellen versucht. Für die Förderung des Tourismus ist eine aktive Strukturpolitik auch in den Bereichen notwendig, die mit dem Tourismus in einem direkten Zusammenhang stehen, wie zum Beispiel die Verkehrspolitik; dies ist hier schon erwähnt worden. Da werden Milliarden von DM für den Transrapid verschleudert, die sehr viel sinnvoller für verbesserte Bahnanbindungen in touristischen Zentren eingesetzt werden könnten. Für die Bäderinsel Usedom, um nur ein Beispiel zu nennen, wäre die Wiederherstellung der direkten Anbindung an Berlin per Bahn sehr sinnvoll. Der Bäderverband Mecklenburg-Vorpommern sagt deutlich, worauf es ankommt. Ich zitiere: Die gegenwärtigen Bahnverbindungen sind unattraktiv und damit tourismusschädlich. Durch einen konsequenten Ausbau des Schienennetzes sowie durch wesentliche Verkürzung der Taktfrequenzen könnte ein Großteil des Verkehrs auf die Schienen verlagert werden. Doch auf diesem Ohr ist die Bundesregierung taub. Statt dessen wird die Ostseeautobahn A 20 hochgelobt, obwohl durch ihren Bau die Staus vor den Orten nur noch länger werden können. Sie werden es ja sehen. Zum Abschluß noch ein ganz konkretes Beispiel: Wenn Sie von Bonn aus nach Sellin auf Rügen fahren wollen, dann sind Sie ca. 15 Stunden mit der Bahn unterwegs. Sie müssen fünfmal umsteigen. Bei einer der beiden täglichen Verbindungen, die es überhaupt von Bonn aus gibt, müssen Sie insgesamt drei Stunden auf Anschlußzüge warten. ({0}) Ich frage Sie: Wer soll da noch eine solche Reise mit der Bahn unternehmen? ({1}) - Auch Ihr Geschrei macht die Sache nicht besser. Nach Mallorca oder auf die kanarischen Inseln kommt man sehr viel schneller, bequemer und oft auch billiger. Das ist der eigentliche Skandal. ({2}) - Sie können es auch gar nicht verstehen, wenn Sie dauernd dazwischenreden. ({3}) Es ist notwendig, eine integrierte Reisezielgebietsentwicklung zu fördern, die eine Reihe von Maßnahmen beinhaltet: von Dienstleistungen der Kommunen bis zur vernünftigen Verkehrsanbindung durch den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Vielen Dank. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei - auch weiterhin - allem Gewicht des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland ist das Wachstumspotential im Dienstleistungsbereich größer als in anderen Bereichen, gerade in bezug auf die Arbeitsplätze. Zum Dienstleistungsbereich gehören der Handel, immer mehr die Informationsdienstleistungen, große Teile des Handwerks, die freien Berufe, Sport, Kultur und eben auch der Tourismus, in dem - das ist heute bereits gesagt worden - schon mehr als 5 Prozent des Sozialproduktes erwirtschaftet werden. Wir haben in Deutschland - ich muß sagen: leider - auf der einen Seite einen blühenden sogenannten Outgoing-Tourismus. Die Deutschen geben im Ausland und für Auslandsreisen 68,4 Milliarden DM aus. Wir haben auf der anderen Seite einen nur mäßig entwickelten sogenannten Incoming-Tourismus. Lediglich 19,3 Milliarden DM werden in Deutschland ausgegeben. Das ist nicht nur unter Aspekten der Zahlungsbilanz bedauerlich, sondern auch deshalb, weil wir in Deutschland touristisch eine Menge vorzuweisen haben: Sehenswürdigkeiten, Landschaften und vieles andere mehr. Aber wir haben es - auch das muß ich einmal sagen -, unabhängig von den neuen Ländern, an einer geschickten und überzeugenden Vermarktung des Tourismusstandorts Deutschland mangeln lassen. Wir haben zuviel Provinzialismus. Wir haben Fremdenverkehrsverbände, die zuwenig zusammenarbeiten, Länder, die nicht koordiniert arbeiten, und den Bund mit seiner Deutschen Zentrale für Tourismus. Ich glaube sagen zu können: Es hat sich in letzter Zeit durch die Zusammenführung von kommunaler und länderbasierter Tourismuswirtschaft und von Fremdenverkehrsverbänden und durch die Bundesaktivitäten viel geändert. Vieles ist auf den Weg gebracht. ({0}) Was nun den Tourismus in den neuen Bundesländern angeht: Trotz der vielen Mängel im einzelnen, die ich hier nennen und auf die ich auch noch eingehen will, ist das Ganze eine Erfolgsstory, Frau Saibold. Wir haben in den neuen Ländern 340 000 Arbeitsplätze und 20 000 Ausbildungsplätze im Tourismus. Wir haben seit 1990 jedes Jahr Wachstumsraten zweistelliger Art. Wir haben ein mittlerweile flächendeckendes gastgewerbliches Angebot. Zu DDR-Zeiten gab es 330 kommerzielle Hotels. Heute sind in den neuen Ländern rund 5 500 Betriebe der Hotellerie zuzurechnen. ({1}) Die Bundesregierung hat dafür den Weg geebnet: erstens mit einer zügigen und mittelstandsfreundlichen Privatisierung der marktfähigen Teile des früher staatlich gelenkten Erholungswesens der DDR; zweitens mit dem massiven Aufbau und Ausbau der Infrastruktur und drittens mit der Förderung von Existenzgründungen. Ich will die Zahlen nennen, denn wir müssen und können sie vorweisen. Seit 1990 wurden mehr als 20 000 Existenzgründungen im Tourismus mit ERP-Mitteln in der Höhe von 3,7 Milliarden DM - 3,7 Milliarden DM! - gefördert. ({2}) Aus dem Eigenkapitalhilfe-Programm wurden seit 1990 rund 13 000 Projekte mit einem Kreditvolumen von 2,1 Milliarden DM bewilligt. Über die Gemeinschaftsaufgabe haben Tourismusbetriebe insgesamt 4 500 Investitionszuschüsse erhalten. Mehr als 2 300 touristische Infrastrukturvorhaben wurden mit 2,5 Milliarden DM gefördert. Es kommt jetzt darauf an, die geschaffene Infrastruktur zu konsolidieren. Deswegen müssen auch weiterhin Förderhilfen in angemessenem Umfang zur Verfügung gestellt werden. Ich habe an anderer Stelle gesagt, und ich sage es auch hier noch einmal: Wir werden in Kürze ein Förderprogramm für die neuen Länder, eine Förderkonzeption für die Zeit nach 1998 vorlegen. Dabei wird der Tourismus eine wichtige Rolle spielen. Es gibt aber auch - das will ich offen sagen - noch erhebliche Mängel und einen erheblichen Aufholbedarf, beispielsweise bei Ferienwohnungen und Ferienhäusern, im ländlichen Tourismus und im Kur- und Bäderwesen. Die Auslastung der Beherbergungsbetriebe läßt zu wünschen übrig, und dies, obwohl die Zahl der Gästebetten in Ostdeutschland, gemessen an der Einwohnerzahl, noch immer merklich unter dem westdeutschen Niveau liegt. Falsch wäre es aber, hier schwarzzumalen. Die Zukunft liegt nicht im Abbau von Betrieben und von Betten. Die Zukunft liegt eindeutig im Zuwachs von Gästen und Leistung. ({3}) Wir müssen uns - auch als Bundesregierung - fragen: Was ist dazu notwendig? Darauf müssen wir die Antworten geben. Erstens geht es darum, die allgemeine Infrastruktur weiter auszubauen. Trotz aller Fortschritte gibt es vor allem bei den Straßen, aber auch in der Entsorgung noch gravierende Engpässe. Wir werden da, wo sie hingehören, noch weiter Straßen bauen, nicht überall; denn es braucht sich keiner zu wundern, daß niemand in die touristischen Gebiete fährt, wenn die Infrastruktur im Straßenbau nicht gegeben ist. Wir müssen natürlich auch Eisenbahnlinien modernisieren und bauen; in aller Regel ist es aber gerade in Deutschland so, daß die Menschen an dem Ort, den sie bereisen, mobil sein und sich etwas ansehen wollen. Deshalb fahren sie mit dem Auto. Deshalb bedarf es hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur einer angemessenen Ausstattung mit Straßen. Wir brauchen Ganzjahresbäder, Freizeitparks und Erlebnisparks. Wer die neuen Entwicklungen im Tourismus sieht, weiß, daß der klassische Tourismus nicht mehr funktioniert und daß man mit dem Urlaub vielmehr Erlebnis und damit im übrigen auch Mobilität verbindet. Auf diesem Gebiet ist in den neuen Ländern noch viel zu tun. Wir brauchen zweitens vor allem ein Marketing im Städtetourismus. Die Fortschritte im Städtebau und bei der Denkmalpflege sind beachtlich. Sie sind aber bei weitem noch nicht so, wie wir uns das wünschen. Sie sind vor allem noch nicht ausreichend in das Bewußtsein der Öffentlichkeit, der potentiellen Touristen gedrungen. Was gezieltes Marketing im Einzelfall bewirken kann, zeigen - die Namen sind heute schon genannt worden - Cottbus, Eisleben und Wittenberg. Diese Städte haben das touristische Aufkommen durch gelungenes Marketing zum Teil verdoppeln und verdreifachen können. ({4}) Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat daran im übrigen erheblichen Anteil gehabt. Ich darf drittens sagen, daß die DZT auch künftig einen wichtigen Beitrag zur Vermarktung des Angebots gerade in den neuen Ländern leisten muß und wird. Ich erwarte mir zusätzliche Impulse von der Deutschland Tourismus Marketing GmbH, die vor kurzem gegründet worden ist und durch die es gelungen ist, die Interessen der Länder, Kommunen und Fremdenverkehrsverbände und die des Bundes unter einem Dach zusammenzuführen. ({5}) Wir wollen den Aufbau eines flächendeckenden Informations- und Reservierungssystems. Hier muß es zügig weitergehen. Bund und Länder haben sich zur Anschubfinanzierung für die Deutschland Informations- und Reservierungsgesellschaft, DIRG, bereit erklärt. Meine Damen und Herren, mehr noch als in anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik gilt im Tourismus: Der Bund kann nur den Rahmen setzen. Ausfüllen müssen ihn vor allem, Frau Saibold, die Akteure vor Ort - die Unternehmen, die Kammern, die Banken, die Gemeinden und nicht zuletzt die Länder. Das gilt auch für die Gemeinschaftsaufgabe. Dort spricht im Bereich des Tourismus derzeit manches dafür, sich schwerpunktmäßig auf die Infrastruktur zu konzentrieren. Hierbei geht es um Förderprioritäten, die primär die Länder setzen müssen - weniger der Bund. Wir haben das im 24. und 25. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe deutlich gemacht. Auch bei der Koordinierung der Tourismuspolitik mit anderen Politikbereichen haben Länder und Gemeinden das Heft weitgehend in der Hand. Sie können vor Ort am besten dafür sorgen, daß im Zusammenspiel von Umwelt-, Raumordnungs-, Verkehrs- und Städtebaupolitik stärker auf die Belange des Tourismus Rücksicht genommen wird. Hier ist noch vieles aufzuholen. Das ist bei dieser Adresse insoweit am besten aufgehoben. Wir brauchen aber - hierauf setze ich besonders - private Aktivitäten und Initiativen, einen attraktiven innerstädtischen Einzelhandel und Dienstleistungen im Kultur- und Gesundheitswesen. Das sind Pluspunkte, die primär von den Gemeinden geschaffen werden können. Lassen Sie mich abschließend sagen, daß ich den Tourismus nicht als ein Allheilmittel des wirtschaftlichen Strukturwandels ansehe. Der Tourismus aber kann gerade in strukturschwachen Regionen mehr als andere Bereiche wirtschaftliche Anreize und Arbeitsplätze schaffen. ({6}) Das hat er in den letzten Jahren auch eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die gegenwärtige, insgesamt erfreuliche Entwicklung gibt Anlaß zu Optimismus und zu der Erwartung, daß es in Zukunft auch so sein wird. Die Mängel, die noch bestehen, müssen im Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden sowie von Fremdenverkehrsverbänden überwunden werden. Wir haben dafür die Infrastruktur auf verbandlicher Ebene geschaffen. Wir haben die Mittel bereitgestellt, und wir werden das auch weiterhin tun. Ich bin sicher, die Entwicklung des Tourismus in den neuen Ländern wird eine Erfolgsstory bleiben. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Eberhard Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Wirtschaftsminister, ich bin erfreut, daß in Ihrer Rede einiges Nachdenkliche gewesen ist. Wir sollten gemeinsam, Koalition und Opposition, über bestimmte Aktionen reden, die wir in den neuen Bundesländern anpacken müssen. Deswegen ist es auch sehr erfreulich, daß die beiden Entschließungsanträge gewisse Ähnlichkeiten haben. Ich möchte aber trotzdem Ihre Erfolgsstory, die Sie immer wieder genannt haben, eine Art „Holiday on ice " im Osten, etwas relativieren. ({0}) Dieses Eis ist im Osten relativ dünn. Sie wissen selbst, daß die Zuwachsraten sehr fragil Rind. Sie wissen, daß wir in diesem Winter mit einer Konkurswelle konfrontiert werden; wir haben noch keine genauen Daten. Sie wissen auch, daß wir eine geringe Bettenauslastung haben und daß wir an dieser Stelle umsteuern müssen. Wenn zum Beispiel in Thüringen, in Erfurt, ein Fünfsternehotel bei einer Bettenauslastung von 30 Prozent mit 16 Millionen DM gefördert wird, dann sage ich: Hier müssen wir umschalten, und hier müßte auch die Bundesregierung aktiv werden. Ein zweiter Punkt ist das Zinsniveau. Wir hören überall in den neuen Bundesländern, daß die Konditionen für die Hoteliers durch das Zinsniveau sehr viel schlechter sind als diejenigen im Westen. Von der Bundesregierung habe ich bisher dazu nur gehört, daß dies nicht zutreffe. Ein nächster Punkt: Sie haben von einer Erfolgsstory auch bei der Privatisierung der Ferienheime gesprochen. Ich stimme Ihnen zu, daß nicht alle diese Ferienheime wieder als Beherbergungsstätten des Tourismus genutzt werden können. Aber diese Privatisierung ist notwendig, um Schandflecken aus bestimmten touristisch genutzten Orten wegzubekommen. Die Privatisierung ist notwendig, um in den touristisch attraktiven Orten eine gute Infrastruktur zu bekommen. Wenn Sie sagen, das alles gehe sehr zügig, dann muß ich meine Zweifel anmelden. Mir liegt eine ganze Latte von solchen unveräußerten, nicht privatisierten Heimen vor. Ich habe Ihnen wegen eines Ferienheimes in Siptenfelde im Oktober einen Brief geschrieben und darauf noch keine Antwort in der Sache bekommen. Hier sind völlig unrealistische Preisvorstellungen, die von der TLG, von der BvS oder von den Oberfinanzdirektionen nach außen getragen werden. Auf diese Weise werden wir mit dem Privatisierungsproblem nicht fertig werden. Vielen Dank. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister, es gibt den Wunsch zu einer zweiten Kurzintervention. Wenn Sie einverstanden sind, nehmen wir sie hinzu. Dann können Sie auf beide antworten. - Dann gebe ich das Wort zur Kurzintervention der Kollegin Halo Saibold. ({0})

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, nachdem es mir nicht möglich war, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen, werde ich das ganz kurz auf diesem Wege machen. ({0}) Ich habe bei Ihrer Rede leider vermißt, daß Sie wirklich einmal konkrete Aussagen machen, wie Sie mit dem Problem der Kürzung der AB-Maßnahmen umgehen wollen. Ich hoffe, Sie kennen die Situation, daß die neuen Länder gerade in den Gemeinden, Städten und Kreisen darauf angewiesen sind, daß solche Maßnahmen weiter durchgeführt werden. Weder die Länder noch die Kommunen können diese Aufgaben finanzieren. Wie stellen Sie sich das vor? Wie stehen Sie denn nun wirklich zu einem neuen Förderprogramm in Sachen Tourismus in bezug auf Regionalagenturen? Ich höre immer nur viele Worte, aber ich bekomme keine klaren Aussagen. Wir sind uns doch alle einig darüber, daß in den Regionen, das heißt, über die politischen Stadt- und Landkreisgrenzen hinweg zusammengearbeitet werden muß und daß dafür wiederum kein Geld vorhanden ist, weder für die Entwicklung von Konzepten noch für Marketingkonzepte, noch für entsprechende Werbemaßnahmen, die eine ganze Region umfassen. Ich höre dazu keine Aussagen, aber ich hätte gerne noch etwas Konkretes von Ihnen erfahren. Vielen Dank.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Kollege Brecht, in der Zielsetzung - das habe ich Ihrem Beitrag entnommen - sind wir uns einig. Lassen Sie mich konkrete Punkte ansprechen: Zinsniveau. Das Zinsniveau macht nicht die Bundesregierung. Die Bundesregierung kann höchstens einen Beitrag dazu leisten, daß diejenigen, die gefördert werden - das sind nicht wenige; ich habe Ihnen die Zahlen genannt -, möglichst gering mit Zinsen belastet werden. Da habe ich vom EKH-Programm gesprochen. Außerdem habe ich von den ERP-Existenzgründungen gesprochen. Hier gibt es - das ist der Sinn dieser Programme - ganz erhebliche Zinssubventionierungen. Ich habe bei Befassung mit der Materie eigentlich nicht gehört, daß da, wo öffentliche Förderung stattfindet, in dieser Frage Klagen über ein zu hohes Zinsniveau laut werden. ({0}) Was die Privatisierung angeht: Privatisierungen beziehen sich auf Private. Private müssen sich dafür interessieren, ein Erholungsheim oder eine andere Einrichtung zu übernehmen. Ich habe das selbst betreut. Bei dem, was wir gemacht haben, waren die Konditionen - der Kollege Schucht sitzt hier - über alle Maßen günstig. Wir haben solche Einrichtungen zum Teil für einen Kaufpreis in Höhe von 0 DM abgegeben, wenn sich der Investor verpflichtet hat, eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen zu schaffen und einen bestimmten Betrag selbst zu investieren. Alles, Herr Kollege Brecht, werden wir nicht an den Mann oder an die Frau bringen; das ist nun einmal so. Aber das, was geschehen ist - ich habe Ihnen die Zahlen genannt -, ist beachtlich und beachtenswert. Einige Sachen werden auch in Zukunft nicht absetzbar sein. Wir können aber keine Strukturkonservierung betreiben. Es muß eine neue Struktur wachsen. Ich bin sehr dafür, daß der Mittelstand hier erste Priorität hat. Aber wir brauchen in der Landeshauptstadt - das sage ich aus Kenntnis der Verhältnisse dort - auch ein Hotel, das höheren Ansprüchen genügt. Das muß nicht nur eine Berechtigung, sondern eine Chance haben, sich am Markt durchzusetzen. Frau Kollegin Saibold, AB-Maßnahmen sind ein Grundsatzproblem. Das gilt natürlich auch für den Tourismus. Ich habe immer gesagt: Wir wollen und müssen AB als eine Brücke zum normalen Arbeitsmarkt verstehen. AB-Maßnahmen waren und sind im Osten unverzichtbar. Wir dürfen aber nicht in die Situation geraten, daß wir normale Arbeitsplätze in mittelständischen Betrieben und anderswo durch AB-Maßnahmen gefährden. Deshalb wird es auch im Osten auf die Region bezogen, selektiv und unter Würdigung der spezifischen Situation am Arbeitsmarkt eine Rückführung geben müssen. Ich bin da, wenn es berechtigt ist, AB-Maßnahmen aufrechtzuerhalten. Ich bin nie ein Scharfmacher in Sachen Rückführung gewesen. Der zweite Punkt, den Sie angesprochen haben, trennt uns in den Grundpositionen. Sie sprechen von Konzeptionen auf regionaler Ebene und von Zusammenarbeit der Regionen. Was soll der Bund da tun? Die Regionen müssen diese Zusammenarbeit praktizieren. Sie müssen auch die Mittel zur Verfügung stellen. ({1}) Wenn eine Region nicht in der Lage ist, mit der Nachbarregion ein Fremdenverkehrskonzept auf die Beine zu stellen, obwohl die beiden Regionen ein ähnliches oder gleiches touristisches Angebot beispielsweise in der Landschaft haben, dann ist das ein Armutszeugnis. Da können wir Druck machen. Sie wissen, Frau Kollegin, was wir gemeinsam mit den Fremdenverkehrsverbänden veranstalten und welche Widerstände, welche Kirchturmpolitiken zwar nicht überall, aber an vielen Stellen zu überwinden sind. Mit Geld aus der Bundeskasse allein ist das nicht zu machen. Das setzt Zusammenarbeit und ein bißchen Weitblick bei den Leuten vor Ort, auf Länderebene und bei den Fremdenverkehrsverbänden voraus. Hier mache ich auch weiterhin Druck. Ich bin guter Hoffnung, daß das an einigen Stellen klappt. Das gilt im übrigen nicht nur für die neuen Länder, sondern genauso für die alten Länder. Regionalismus und Kirchturmpolitik spielen eine noch viel zu starke Rolle. Wir müssen das gemeinsam überwinden. Die Tourismus Marketing GmbH und die Branchengespräche, die wir geführt haben, haben, glaube ich, ein Stück bewegt. Ich werde nicht nachlassen, das auch in Zukunft zu tun. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich dem Abgeordneten Klaus Brähmig das Wort.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die Anfrage der SPD-Fraktion zur Entwicklung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern hat die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 26. Juni 1996 die Situation klar, deutlich und ungeschönt dargestellt. Ein Wort zu Ihnen, Frau Schenk. Ich bin enttäuscht und ich kann eigentlich nicht nachvollziehen, wie Sie die Situation in der Zeit vor 1989 verdrängen. ({0}) Beim Aufbau der neuen Bundesländer gibt es wenig Wirtschaftszweige, die so unproblematisch - dies sage ich ganz bewußt, Frau Saibold - als Erfolgsstory für den Tourismusbereich verbucht werden können, dies auch dank der großen Bereitschaft und Anstrengung der in diesem Bereich vor Ort Tätigen. Mein Dank geht auch an das Bundeswirtschaftsministerium, vor allem an die Außenstelle in Berlin, namentlich an Frau Melzow und Herrn Krüger, die heute unter uns sind. ({1}) Da es sich im Tourismus- und Dienstleistungssektor um arbeitsplatzintensive Unternehmen handelt, die allesamt mittelständisch und im wesentlichen eigentümergeführte Kleinbetriebe sind, ist jede einKlaus Brähmig zelne Mark, die von Bund, Ländern und Kommunen investiert wird, gut angelegtes Geld in den Wirtschaftsstandort Deutschland. Diese Kernaussage haben wir als Koalition in unserem heute eingebrachten Entschließungsantrag nochmals unterstrichen. In vielen Regionen, von der Insel Rügen bis hin zum Erzgebirge, stellt der Tourismus heute die tragende Wirtschaftskraft dar. In Ferienregionen mit hoher touristischer Intensität profitieren davon selbstverständlich auch der Einzelhandel, das Handwerk, die Landwirtschaft, die Kultur und die Revitalisierung der Klein- und Mittelstädte. Der augenblickliche Trend zum Urlaub in der Heimat, das heißt in Deutschland, wird nach meiner Auffassung auch 1997 anhalten und somit eine weitere Stabilisierung für die vielen neuen Existenzen in der Fremdenverkehrswirtschaft bringen. Zirka 56 Prozent - Kollege Päselt hat darauf hingewiesen - der westdeutschen Bevölkerung waren noch nicht in den neuen Bundesländern zu Gast. Hier schlummern nach meiner Überzeugung erhebliche Reserven, die es zu erschließen gilt. ({2}) Wir dürfen uns allerdings nicht von den gestiegenen Besucherzahlen der letzten Jahre blenden lassen, da in Ostdeutschland hinsichtlich der Gästezahl auf einem sehr niedrigen Niveau begonnen wurde. Dazu möchte ich einige aktuelle Zahlen nennen, die die Wachstumsraten von 1995 zu 1996 verdeutlichen: in Brandenburg 10,7 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 9,5 Prozent, im Freistaat Sachsen 18,9 Prozent, in Sachsen-Anhalt 6,3 Prozent und im Freistaat Thüringen 2,5 Prozent. Diese Zahlen entsprechen insgesamt zirka 34 Millionen Übernachtungen in den neuen Bundesländern in diesem Zeitraum und machen einen Anteil von etwa 14,4 Prozent am Gesamtübernachtungsaufkommen in Deutschland aus. Meine Damen und Herren, die Wachstumsraten der Zahl an Übernachtungsgästen der letzten Jahre dürfen nicht zu Überheblichkeit führen. Unstrittig ist auch, daß die Schere von neuen Beherbergungskapazitäten mit den notwendigen Steigerungsraten der Gästeanzahl auseinanderklafft. Unsere Städte und Ferienregionen sollten sich im klaren darüber sein, was es bedeutet, Frau Saibold, diesen Prozeß ungeregelt dem Selbstlauf zu überlassen. West und Ost direkt miteinander verglichen, zeigt, daß es in den neuen Bundesländern eine weitaus niedrigere Bettenzahl pro Einwohner gibt, nämlich 15 Gästebetten auf 1 000 Einwohner. In den alten Bundesländern sind es dagegen 28 Gästebetten auf 1 000 Einwohner. Es besteht also durchaus die Möglichkeit eines differenzierten weiteren Aus- und Aufbaus. Wir haben in den neuen Bundesländern nach meiner Auffassung nicht zu viele Betten, sondern nach wie vor zuwenige Gäste. Die Situation der in der Antwort der Bundesregierung genannten zirka 3 700 Altobjekte stellt sich bei näherer Betrachtung für die touristische Entwicklung als nicht relevant dar. In meinem fremdenverkehrsintensiven Wahlkreis, der Sächsischen Schweiz, gibt es beispielsweise 40 Objekte, die nach heutigem Stand der Technik, Ausstattung und baulichen Veränderungsmöglichkeiten nur zum Teil touristisch zu nutzen sind. Zudem sind die meist erheblichen Finanzierungsprobleme auf Grund des Renovierungsstaus bei solchen Objekten nicht von der Hand zu weisen. Es kann bei diesen Altobjekten daher jeweils nur um eine Einzelentscheidung im Zusammenhang mit der jeweiligen regionalen Entwicklung gehen. Meine Damen und Herren, ein Wort zur Kreditsituation der Hotellerie und Gastronomie in den neuen Bundesländern, die unstrittig angespannt ist. Die Branche ist noch nicht über den Berg. Hier kann keine Pauschallösung weiterhelfen; sondern jeder Einzelfall sollte und muß geprüft werden. Nach vielen Gesprächen mit Leistungsträgern vor Ort habe ich die Erkenntnis gewonnen, daß das Zinsverbilligungsprogramm der Banken und des Bundes unbedingt beibehalten und die tilgungsfreien Zeiten verlängert werden sollten. Um die Herausforderungen in den kommenden Jahren bewältigen zu können, ist es nach meiner Überzeugung auch notwendig, die touristischen Strukturen zu überdenken. Ein Zwei-Ebenen-Modell wäre sinnvoll. Dabei stelle ich mir eine starke Bundesebene für die Fragen der Lobbyarbeit in Bonn und vor allen Dingen im Auslandsmarketing vor sowie eine starke touristische Produktebene, sprich: Ebene der Ferienregionen und Ferienzielgebiete. Landesgrenzen sollten dabei kein Hindernis sein. Zum Abschluß noch einige Worte zu dem hier eingebrachten Antrag der SPD-Fraktion. Einige Punkte des Antrages sind doch eher an die Länder und die Regierungspräsidien gerichtet. Für den Freistaat Sachsen möchte ich feststellen, daß die Ausreichung von Fördermitteln unbürokratisch und innovativ vorgenommen wird und als beispielhaft bezeichnet werden kann. Schwieriger sind Kreditzusagen und Komplementärfinanzierungen von Banken und Sparkassen zu erhalten. Allerdings werden in Not geratene Existenzgründer genau wie andere mittelständische Unternehmen bei Zahlungsschwierigkeiten in den Genuß von Mitteln des Konsolidierungsfonds des Bundes kommen. Zum personalwirtschaftlichen Bereich des SPD- Antrags möchte ich soviel festhalten: Weiterbildung wird auch künftig gefördert, nicht zuletzt auch durch das Deutsche Seminar für Fremdenverkehr. AB-Maßnahmen auf Dauer im Bereich der Touristik halte ich für grundfalsch. Die touristischen Verbände, die qualifiziertes Personal für ihre Arbeit brauchen, müssen sich, Frau Saibold, mit ihren Trägern auch zu festen Personaleinstellungen bekennen. ({3}) Zum Innenmarketing sei angemerkt, daß touristischen Leitbildern als Bausteinen einer ganzheitliKlaus Brähmig chen Regionalentwicklung ein erhöhtes Augenmerk geschenkt werden muß. Noch ein Wort zur finanziellen Ausstattung der DZT, also zum Bereich Außenmarketing. Auch hier sollte sich der Ausschuß weiterhin dazu bekennen, diese zu unterstützen. Ich empfinde es als Fehler, wenn hier Kürzungen vorgenommen werden sollten. Eine Stabilisierung der DZT hat erhöhte Bedeutung gerade auch für die Werbung für die neuen Bundesländer, so daß ich nach wie vor ausdrücklich dafür plädiere, die Finanzmittel im Haushalt 1998 um etwa 50 Millionen DM zu erhöhen. Dies wäre ein sinnvolles und wichtiges Zeichen für die Fremdenverkehrsbranche. Die eingesetzten DZT-Mittel sind die ideale Exportförderung, um das touristische Außenhandelsbilanzdefizit von derzeit zirka 50 Milliarden DM abzubauen und damit direkt in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen. Zum Abschluß noch eine Anmerkung. Unser Ausschuß und die Arbeitsgruppen der Fraktionen haben in den letzten Jahren sehr intensiv die neuen Länder besucht und sich vor Ort sachkundig gemacht. Auch in diesem Jahr stehen weitere Vor-Ort-Besuche auf dem Programm, bei denen wir uns alle davon überzeugen können, daß die Bundesregierung und die Regierungskoalition auf dem richtigen Weg sind. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Iris Follak.

Iris Follak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002654, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor." Genauso hätte Goethe wohl gesagt, wenn er Ihre Antwort zu unserer Großen Anfrage gelesen hätte. Die Praxis sieht doch anders aus, und dies ist für die Fremdenverkehrsentwicklung in den neuen Bundesländern entscheidend. Nichts anderes wird in unserem Entschließungsantrag thematisiert. Wie falsch die Bedeutung des Tourismus in den neuen Bundesländern eingeschätzt wird, hat heute morgen Frau Enkelmann von der PDS bewiesen. Es gebe Wichtigeres als Fremdenverkehr in der Kernzeit zu debattieren, wenn es um Arbeitslosigkeit als größtes Problem geht. ({0}) Dabei stellt der Tourismus ein echtes Wachstumspotential dar. ({1}) Wissen Sie überhaupt, daß es in den neuen Bundesländern über 340 000 Beschäftigte gibt und weitere hunderttausend potentielle Arbeitsplätze im Bereich des Tourismus entstehen könnten? ({2}) Wir sehen Handlungsbedarf in vier Bereichen. Zunächst der finanzpolitische Bereich: Bei Gesprächen mit Hoteliers, Betreibern von Freizeiteinrichtungen und möglichen Investoren höre ich immer wieder, daß auf Grund noch erforderlicher Modernisierungs- und Sanierungsarbeiten nach wie vor ein hoher Investitionsbedarf vorhanden ist. Die schlechte Sommersaison 1996, die bei einem Drittel der Hotel- und Gaststättenbetriebe weniger Übernachtungszahlen als im Vorjahr zur Folge hatte, wird zwangsläufig weniger Investitionen im Jahr 1997 mit sich bringen. Außerdem muß man berücksichtigen, daß die Bettenkapazität nach wie vor wesentlich höher ist als die tatsächlichen Übernachtungen. Nimmt man die durchschnittliche Auslastung von nur 33,7 Prozent hinzu, kann man verstehen, daß viele Unternehmen gerade in der letzten Zeit Konkurs anmelden mußten. Ein weiteres Riesenproblem sind die Vergabe von Fördermitteln, die Auswahlkriterien und die Dauer von der Antragstellung bis zur tatsächlichen Auszahlung. Gerade im Hinblick auf die Bedeutung und die Chancen, die der Fremdenverkehr in den neuen Bundesländern bietet, ist es dringend erforderlich, daß den Fördermaßnahmen äußerste Priorität beigemessen wird. ({3}) Lichten Sie endlich den Förderdschungel! Denn vieles ist für einen kleinen oder mittelständischen Unternehmer einfach nicht mehr nachvollziehbar. Da kommt nämlich nur noch ans Geld, wer sich teure Berater leisten kann. ({4}) Außerdem ist eine marktorientierte Wirtschaftlichkeitsprüfung zwingend erforderlich, damit die Fördermittel zielgenau zur Wirkung kommen. Werte Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein, daß im Erzgebirge ein Hotel restauriert und im italienischen Stil eingerichtet wird, obwohl doch sonnenklar sein müßte, daß der Urlauber hier das Regionaltypische erleben will. ({5}) Die Bearbeitung der Anträge mag ja noch schnell gehen, bis es dann aber zur Auszahlung der Gelder kommt, sind viele häufig viel zu viele Monate vergangen. Wenn dann Mitte Oktober Gelder zur Verfügung gestellt werden, die bis Ende des Jahres in einer bestimmten Höhe verbraucht sein müssen, dann ist dies in vielen Gebieten einfach auf Grund der Witterungsverhältnisse nicht mehr möglich. Zweites zentrales Thema: Verkehr. Der Ausbau der Infrastruktur, die gerade für den Tourismus entscheidend ist, geht mehr als schleppend voran. Sie können jeden Hotelier und Gastwirt fragen; alle werden Ihnen zu Beginn das gleiche sagen: „Die Infrastruktur ist es, woran es am meisten fehlt." Ganz bewußt habe ich Leute aus Politik und Wirtschaft ins Erzgebirge eingeladen, die diese katastroIris Follak phalen Verkehrsverhältnisse live erlebt haben. Wenn man für eine Strecke von 100 Kilometern über drei Stunden braucht, weil man gezwungen ist, Umleitungen zu fahren, die fast eine Weltreise einschließen, dann kann ich jeden Urlauber verstehen, der sich dieser Strapaze nicht unbedingt aussetzen will. ({6}) Unser Entschließungsantrag fordert deshalb eine bessere Koordinierung der verschiedenen Bauvorhaben durch eine Kooperation zwischen den einzelnen Stellen in Bund, Land und Kommunen. Denn wir alle wollen doch nicht, daß der Besucher der Fremdenverkehrsgebiete in den neuen Bundesländern die Worte Schillers ausruft: „Verwünscht! Dreimal verwünscht sei diese Reise! " Noch einige Worte zu Personal- und Marketingfragen: Die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Fremdenverkehrsverbänden ist lange noch nicht so, wie sie sein sollte. Der Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft endet mit dem Satz: Vom professionellen Marketing der Unternehmen und auch der Fremdenverkehrsämter und -verbände wird die weitere Entwicklung im hohen Maße abhängen. Das stimmt. Ehrenamtlichkeit ist gut und schön, aber wettbewerbsfähiges Marketing einer Ferienregion gehört in die Hände von Fachpersonal. ({7}) Die entsprechenden Einrichtungen sehen immer noch nicht die Bedeutung des Tourismus sowohl unter arbeitsmarktpolitischen als auch unter ökonomischen Aspekten. Wie fatal sich eine solche Haltung auswirken kann, zeigt die Stadt Schwerin. Diese äußerst reizvolle Stadt hat ihr Fremdenverkehrsamt geschlossen und dadurch im letzten Jahr verheerende Besuchereinbrüche erlitten. Die Stadt Cottbus hat im Gegensatz dazu im Rahmen der Bundesgartenschau Marketingfachleute engagiert und profitiert auch noch ein Jahr nach dieser Attraktion von dem damals gewonnenen Image. Das zeigt, daß die neuen Bundesländer in ganz besonderer Weise die Unterstützung durch Marketingkonzeptionen der Deutschen Zentrale für Tourismus brauchen. Dazu ist es äußerst notwendig - wie bereits im Entschließungsantrag gefordert -, die finanziellen Mittel stabil zu halten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.

Iris Follak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002654, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, wer dem Tourismus in den neuen Bundesländern wirklich sichtbare Impulse geben will, kann eigentlich nichts anderes tun, als unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Werner Kuhn das Wort.

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Reisefreiheit war die Forderung und Sehnsucht zugleich der Menschen in der DDR in der Bürgerbewegung 1989 und in den Jahren davor. Mit dem Mauerfall und der Wirtschafts- und Währungsunion hat sich natürlich für die Reiseunternehmen in der alten Bundesrepublik, in Österreich und in ganz Europa eine Hochkonjunktur ergeben. Der Markt in Ostdeutschland mit 17 Millionen Menschen, die reisehungrig waren, gab natürlich auch etwas her. Für viele ist der Traum ihres Lebens in Erfüllung gegangen, die deutsche Heimat und Europa kennenzulernen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist Geschichte. So etwas nennt man „wall fall profit" . Dies gilt auch für den Aufbau der ostdeutschen Fremdenverkehrswirtschaft. Sie hat endlich einmal wieder die Chance gehabt, sich privatwirtschaftlich zu betätigen. ({0}) Frau Schenk, ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie in der PDS immer so tun, als wenn Sie alle erst 1989 zur Welt gekommen wären. ({1}) Übernehmen Sie doch endlich einmal Regierungsverantwortung für SED/PDS-Politik in der DDR! Sie haben doch unsere Innenstädte systematisch nach dem Motto „Ruinen schaffen ohne Waffen" verfallen lassen. Das sind doch Tatsachen. Erinnern Sie sich daran. Sie tun immer so, als wenn Sie die Hüter und Schützer des Mittelstandes im Fremdenverkehrsbereich in Ostdeutschland wären. Erinnern Sie sich an die Aktion Rose, bei der Sie den Mittelstand in Ostdeutschland im Fremdenverkehrsbereich liquidiert haben. ({2}) Sie haben enteignet. Wegen eines Sacks Zucker oder Salz, den sie angeblich zuviel in der Speisekammer hatten, wurden sie für Jahre eingesperrt, und jetzt stellen Sie sich hin und sagen: Die Infrastruktur ist nicht in Ordnung, und dieses und jenes müssen Sie noch tun. Sie sollten still sein. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Die Infrastruktur gemeindlicher Art hat in der DDR nur von der Substanz der 30er Jahre gelebt. Daher rühren noch die alten Kanäle, das Abwasserentsorgungssystem und die Trinkwasserleitungen. Es war eine ganz heikle Sache, diese im Osten infrastrukturmäßig aufzubauen. Ich kann nicht einfach nur sagen, wie Sie das in Ihrem Antrag von der SPD getan haben: Was haben Sie an Treuhandliegenschaften veräußert? Wie viele Arbeitslose gibt es? Was haben Sie getan, damit Bäder und Tennishallen entstehen? Nein, ich muß den Aufbau Ost insgesamt beurteilen. Dazu gehören auch die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Das sind Tatsachen. Erreichbarkeit von Tourismusregionen ist das A und O. Von wegen VDE Nr. 1, Frau Saibold, ist noch nicht elektrizifiziert. Fahren, sage ich nur, ausprobieren. Wir sind dabei, an der Küste im Jahre 1997 zweispurig auszubauen. Auch die A20 muß kommen. Sie muß einfach kommen, damit wir die Großräume im westlichen Bereich, die Ballungsgebiete Hamburg und NordrheinWestfalen anschließen können, ({3}) damit wir diese Fremdenverkehrsquellgebiete erobern. Jetzt schlagen wir zurück. Wir werden nicht nur selber Quelland sein, sondern wir in den neuen Ländern sind Marktherausforderer. Das sind Tatsachen, und diese können Sie sich in den statistischen Bilanzen ansehen. ({4}) Eines möchte ich zu den Finanzierungssystemen der Bundesregierung lobend erwähnen: die Investitionspauschalen für Gemeinden, die von 1990 bis 1992 ausgereicht wurden, damit Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung, Gas und Elektroenergie gesichert, Straßen und Fußwege ausgebaut und Laternen und Parkbänke hingestellt werden konnten - es fehlte doch grundsätzlich an allem -, damit auch das Städtebausanierungsprogramm Fuß fassen konnte. Ich bin darüber froh, daß weiterhin 500 Millionen DM im Haushalt für den Aufbau und die Revitalisierung der Innenstädte in Ostdeutschland zur Verfügung stehen. Frau Saibold, Ihnen möchte ich trotzdem für Ihre belletristische Beschreibung unserer Naturressourcen in Ostdeutschland ein Kompliment machen. Vielen herzlichen Dank dafür. Als Küstenbewohner bin ich für meinen Bereich Fischland, Darß und Zingst mit Nationalpark und Usedom, Rügen und dem ältesten Ostseebad Heiligendamm sehr stolz darauf, daß wir 200 Jahre Erfahrung in der Tourismuswirtschaft haben. Das konnte auch in 40 Jahren FDGB-Tourismus nicht ganz kaputtgemacht werden. Hier gibt es tolle Ansätze beim Aufbau der Fremdenverkehrswirtschaft. ({5}) Ein Wort noch zum 26. Rahmenplan. Ich habe gerade erläutert, daß der Aufbau der gemeindlichen Infrastruktur eine der Hauptaufgaben der Städte und Gemeinden in den neuen Ländern ist. Damit ist das Kredit- und Finanzierungsvolumen komplett ausgereizt. Wir haben in fünf Jahren alles von null auf hundert bauen müssen, und die Laufzeit von einem ERP- Kredit beträgt 25 Jahre. Den habt ihr im Westen schon zweimal abgearbeitet und seid jetzt quasi nicht mehr mit Kapitaldienst belastet. Ich kann deshalb nur begrüßen, daß die private Wirtschaft der öffentlichen Hand im 26. Rahmenplan gleichgestellt ist, wenn es um die Investition und Betreibung von touristischer Infrastruktur geht. Wir haben erste Ergebnisse. So kann ich die Gemeinden entlasten, und es werden Kurmittelhäuser und Bäder gebaut, die privatwirtschaftlich geplant, finanziert und auch betrieben werden. Das halte ich für sehr wichtig. Abschließend möchte ich unserem Minister ausdrücklich diesbezügliche Fachkompetenz bescheinigen. Frau Fuchs, bei aller Wertschätzung Ihres Beitrags muß ich sagen: Lassen Sie sich von Frau Kastner nicht solche simplen Sätze einflüstern - Sie wissen, was ich meine -, das ist unter Ihrem Niveau. Ansonsten sollten wir, die Koalition, die SPD und auch die Grünen, gemeinschaftlich den Aufbau des Tourismus in den neuen Ländern fördern. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun spricht als Mitglied des Bundesrates der Minister für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Klaus Schucht. Minister Dr. Klaus Schucht ({0}): Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich nutze anläßlich Ihrer Debatte zur Großen Anfrage der SPD-Fraktion zum Tourismus in den neuen Bundesländern gern die Gelegenheit, vor Ihnen zu sprechen. Bei der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern kommt dem Tourismus - daran besteht gar kein Zweifel - eine erhebliche Bedeutung zu. Zielstellung ist es, den Tourismus zu einem Faktor mit hohem gesamtwirtschaftlichen Stellenwert zu entwickeln. Daran arbeiten wir in Sachsen-Anhalt ebenso wie in allen anderen neuen Bundesländern. Mit „wir" meine ich die Landesregierungen, die Verbände und die Verantwortlichen vor Ort. Vor allem aber meine ich damit die Bürgerinnen und Bürger vor Ort, die den Fremdenverkehr als Chance für ihre Heimat begreifen. Der Slogan „Traditionell gastfreundlich", mit dem wir um Gäste für Sachsen-Anhalt werben, ist weit mehr als ein Marketingspruch. ({1}) „Traditionell gastfreundlich" ist vielmehr ein gewachsenes Gefühl, das die Menschen in Ostdeutschland zu ihrer Heimat, zu den gewachsenen Strukturen, in denen sie leben, und zu den Fremden haben, zu dem sie stehen, und zwar aus voller Überzeugung. Die Menschen im Osten sind deshalb die besten Botschafter für unsere Tourismusstandorte. Bessere können wir uns nicht denken. ({2}) Die Ostseeküste, von der wir soeben gehört haben, der Thüringer Wald, das Erzgebirge, der Spreewald und der Harz - das sind die, glaube ich, bekanntesten touristischen Ziele in Ostdeutschland; natürlich längst nicht alle, wenn das auch aus westdeutscher Perspektive manchmal so scheinen mag. Das ist sicher ein Grund für das im vorliegenden Entschließungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion anklingende Marketingdefizit. Minister Dr. Klaus Schucht ({3}) Sachsen-Anhalt als Tourismusland. Was ist das? Der Ostharz als Hauptattraktion des Kultur- und Naturtourismus, aber auch die Altmark, das Wörlitzer Gartenreich, das Saale-Unstrut-Gebiet, das seinen steigenden Bekanntheitsgrad vor allem dem dort reifenden Wein verdankt, das nördlichste Weinanbaugebiet in Deutschland, und viele andere Orte sind eine Reise wert. Tourismus ist Dienstleistung - wir haben das hier schon gehört -, also das Bestreben, potentielle Bedürfnisse bestimmter Zielgruppen durch konkrete, maßgeschneiderte Leistungen zu befriedigen. Das setzt eine ganz bestimmte Mentalität voraus. Dienstleister sind nicht die Diener, die ausgebeuteten Knechte eines oder gar mehrerer Herren, sondern das sind freie Menschen, die auf dem freien Markt ehrenwerte Leistungen vollbringen und anbieten, die andere freie Menschen gegen Bezahlung in Anspruch nehmen. ({4}) Die Idee des Dienens am Nächsten, die in anderen Ländern Europas treffender als Service bezeichnet wird - treffender, weil das Dienen diesen merkwürdigen Nachklang hat -, ist zutiefst christlichen Ursprungs. Darauf sollten wir uns alle besinnen. Vielleicht verliert dann die vielbeschworene Dienstleistungsgesellschaft den etwas unsympathischen Beigeschmack, der ihr zu Unrecht anhaftet. Schulungen und Seminare sollen helfen, hier vorhandene Defizite abzubauen, und zwar - das sage ich ausdrücklich - in West und in Ost oder in Ost und in West, um es richtig herum zu betonen. ({5}) Meine Damen und Herren, die vorhandenen Vorzüge - jetzt werde ich etwas Lokalpatriotismus von mir geben - und Möglichkeiten Sachsen-Anhalts sowie der anderen neuen Länder sind vielfach noch ungenutzt. Lassen Sie mich als Beispiel die Kulturdenkmäler entlang der Straße der Romanik nennen. Diese Straße hat sich inzwischen bundesweit einen Namen gemacht. Drei Jahre nach ihrer Öffnung ist sie unter den Top fünf der touristischen Straßen plaziert. Ihr Fundus ist der in Deutschland einmalige Bestand an wertvollen Zeugnissen romanischer Baukunst aus dem 10. bis 13. Jahrhundert. Ich will hier allen sagen, die nicht älter als Jahrgang 1930 sind: Sie haben wahrscheinlich alle, wie ich es von meinen Kindern weiß, einen Mangel in Geschichtskenntnissen. Sie werden sich wahrscheinlich nicht darüber im klaren sein, daß hier die Wurzeln des deutschen Kaisertums und wesentliche Zeugnisse des deutschen Königtums zu finden sind. ({6}) Ein anderes Vorhaben, bei dem wir die reiche Geschichte unseres Landes - ich sage es ganz vorsichtig, weil es eigentlich mehr als das ist - touristisch nutzen wollen, ist die Profilierung unseres Bundeslandes als die Ausgangsregion der Reformation, als Wirkungsstätte Martin Luthers, aber auch als Ausgangspunkt moderner Reformation beziehungsweise Reformen, die im November 1989 begonnen haben. Nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte gesellschaftliche Leben wird bei uns nach der Dauer von 60 Jahren, nach zwei Diktaturen, reformiert. Ich komme noch einmal auf den Beschäftigungsaspekt zurück. Der Beschäftigungsaspekt, der mit dem Tourismus verbunden ist, spielt in der Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion eine wichtige Rolle. Hierbei steht auch und gerade der Bund in einer drückenden und besonderen Verantwortung. Denn der Abbau der hohen Arbeitslosigkeit bei uns ist eine nationale Aufgabe, die über lange Zeit oberste Priorität haben muß. ({7}) Deshalb appelliere ich nachdrücklich an die Bundesregierung, die neuen Bundesländer und auch unsere Kommunen beim Aufbau der Tourismuswirtschaft weiterhin unvermindert zu unterstützen. Dabei denke ich insbesondere an die GA-Förderung. Aber ich will, weil es schon angesprochen worden ist, auch gleich sagen: Ich denke auch an die Mittel, die in den ABM-Programmen stecken. Glauben Sie bitte nicht, daß unsere Kommunen in der Lage gewesen wären, ohne diese Mittel auszukommen. ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Entschuldigung. Ich habe es nicht gesehen. Bitte, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, ich will nicht mit einem Ordnungsruf anfangen. Ich war von den eindrucksvollen Schilderungen der Schönheiten des Landes, aus dem auch ich komme, beeindruckt, daß ich Ihre Hand nicht gesehen habe. Bitte, Sie können Ihre Zwischenfrage jetzt stellen.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich bitte, mir meine flotte Zunge nachzusehen, und bitte um Entschuldigung. Herr Minister, ich habe folgende Frage. Sie heben ab auf ABM. Wenn jetzt die ABM-Kürzungen kommen, bedeutet das eine Schwächung für den Aufbau des Tourismus in den neuen Bundesländern? Minister Dr. Klaus Schucht ({0}): Ja. Ich will das gerne noch etwas vertiefen. Die Straße Minister Dr. Klaus Schucht ({1}) der Romanik, die ich eben beschrieben habe, ist fast ausschließlich einerseits mit GA-Mitteln, andererseits im kommunalen Bereich mit ABM-Kräften ausgebaut worden. Auch Fremdenführer sind dort zum Teil ABM-Kräfte. Wegen der Armut der Gemeinden werden wir zur Zeit auf diese Hilfe überhaupt nicht verzichten können.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Jetzt können Sie sich hinsetzen. Herr Minster, bitte fahren Sie fort. Minister Dr. Klaus Schucht ({0}): Ich möchte noch hinzufügen, daß in Magdeburg Heinrich I. begraben liegt. Das weiß jemand, der in Magdeburg geboren ist. Meine Damen und Herren, abträglich für die Entwicklung des Tourismus ist der immer noch unzureichende Ausbau der Infrastruktur. Das ist schon gesagt worden, ich möchte darauf aber noch einmal hinweisen. Die besten touristischen Angebote, die wir machen, nützen nichts, wenn die Ziele für die Gäste nur mit großem Aufwand erreichbar sind. ({1}) Der Bund ist also gefordert - ich sage das deutlich für alle Länder -, seine Verkehrsprojekte Deutsche Einheit in den neuen Ländern plangemäß und zügig zu verwirklichen. Ich will hier nicht betteln, aber ich will doch deutlich sagen, worin der Mangel besteht. Hilfe braucht die Tourismuswirtschaft in den neuen Ländern auch im Marketingbereich. Einheitliche Konzepte zur Vermarktung ganzer Regionen, das heißt auch über die Attraktionen in einem einzelnen Ort hinaus, stekken vielerorts noch in den Kinderschuhen. Notwendig wäre unserer Ansicht nach, die vorhandenen Länderprogramme durch ein Bundesprogramm zu ergänzen, das zusätzliche Mittel für die professionelle Arbeit im Rahmen solcher Marketingkonzepte vorsieht. Bedenken Sie bitte, daß die Tourismusstandorte in den neuen Bundesländern eben nicht aus der ersten Reihe, sondern aus der fünften Reihe gestartet sind. Meine Damen und Herren, ich möchte in diesem Kontext erwähnen und dafür werben, daß die ostdeutschen Länder in der Lage sein müssen, von den internationalen Marketingaktivitäten der Deutschen Zentrale für Tourismus mehr als bisher zu profitieren. Ich nenne als Beispiel die Werbung für Städtereisen nach Deutschland.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt? - Herr Kollege Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, nur um den Tourismus nicht in falsche Gegenden zu lenken: Ist es nicht so, daß Heinrich I. in Quedlinburg liegt und Otto I. in Magdeburg? ({0}) Minister Dr. Klaus Schucht ({1}): Sie haben völlig recht. Heinrich war der erste König, und Otto war der Kaiser. Vielen Dank für diesen kleinen Hinweis. Lassen Sie mich bitte noch sagen, daß ich eine Verabschiedung des vorliegenden Entschließungsantrags der SPD-Bundestagsfraktion durch den Deutschen Bundestag im Interesse der touristischen Entwicklung in Ostdeutschland ausdrücklich begrüßen würde. Ein letztes Wort, wenn Sie mir gestatten. Auch für die Tourismusentwicklung gilt, was für unsere Gesellschaft ganz allgemein gültig ist: Das Zusammenwachsen des Zusammengehörigen stellt uns alle in Deutschland vor ungewohnt neue Aufgaben. Den Westdeutschen ist die geschichtliche Bedeutung ostdeutscher Kulturlandschaften weitgehend unbekannt, wie Sie an mir durch die Richtigstellung gerade gesehen haben. Wir im Osten entdecken die alten Schätze selber neu. Wenn Ost und West dies nun gemeinsam tun, sich gemeinsam an gesamtdeutsche Geschichte erinnern, dann ist auch dies ein Beitrag zur inneren Wiedervereinigung. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe damit die Aussprache. Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD auf Drucksachen 13/6718 und 13/6739 an den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus - federführend - und zur Mitberatung an den Finanzausschuß, den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: Wahl einer Stellvertreterin der Präsidentin Die Geschäftsordnung schreibt geheime Wahl vor. Es müssen daher Wahlkabinen aufgestellt werden. Ich unterbreche die Sitzung für wenige Minuten. Sie wird durch ein Klingelzeichen wieder einberufen. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich gebe zunächst einige technische Hinweise zum Wahlvorgang. Ich bitte um Aufmerksamkeit. Die Geschäftsordnung schreibt geheime Wahl vor. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also die „Kanzlermehrheit" von mindestens 337 Stimmen, erforderlich. Sie benötigen eine weiße Stimmkarte mit Wahlumschlag sowie Ihren Wahlausweis in der Farbe Orange. Stimmkarten mit Umschlag wurden im Eingangsbereich ausgegeben. Falls Sie noch keine erhalten haben, können Sie diese jetzt noch hier im Saal bekommen. Ihren Wahlausweis entnehmen Sie bitte - soweit Sie das noch nicht getan haben - Ihrem Schließfach. Ich weise noch einmal darauf hin, daß die Wahl geheim ist. Sie dürfen Ihre Stimmkarte nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und nur dort in den Wahlumschlag legen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden zurückzuweisen, der seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine angekreuzt oder in den Umschlag gelegt hat. Die Wahl kann in diesem Fall jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der aufgestellten Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne. Ich weise darauf hin, daß der Nachweis der Teilnahme an der Wahl nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wird. Sie dürfen auf der Stimmkarte nur einen Namen ankreuzen. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Ich mache außerdem darauf aufmerksam, daß, sobald die Wahl erfolgt und das Wahlergebnis bekanntgegeben sein werden, als nächster Punkt auf der Tagesordnung die Vorlagen stehen, die ohne Aussprache erledigt werden, so daß also im Anschluß an die Bekanntgabe des Wahlergebnisses hier im Plenum eine Reihe weiterer Abstimmungen erfolgen wird. Ich bitte, das bei Ihren zeitlichen Dispositionen zu berücksichtigen. Die Fraktion der CDU/CSU hat Frau Michaela Geiger, die Gruppe der PDS Frau Dr. Dagmar Enkelmann vorgeschlagen. Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen, und frage, ob die Urnen besetzt sind. - Das ist der Fall. Ich eröffne hiermit die Wahl. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, hier ist eine Zweifelsfrage aufgetreten, die sich aber leicht beantworten läßt. Es geht darum, wie sich jemand zu verhalten hat, der bei dieser Wahl mit Nein stimmen möchte. Die Antwort ist klar: Man muß dann das Wort „nein" auf die Stimmkarte schreiben; insoweit bleibt die Stimmkarte trotzdem gültig. Darf ich fragen, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir unterbrechen die Sitzung bis zur Vorlage des Ergebnisses. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl einer Stellvertreterin der Präsidentin des Deutschen Bundestages bekannt. Mitgliederzahl: 672. Das Quorum ist also, wie ich vorhin bemerkt habe, 337. Abgegebene Stimmen: 616, davon gültig: 607. Enthaltungen: 116. Neinstimmen: 36. Ungültig: 9. Es entfielen auf die Abgeordnete Michaela Geiger 407 Stimmen, auf die Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann 48 Stimmen.*) ({0}) Die Abgeordnete Geiger hat damit die erforderliche absolute Mehrheit erreicht. Sie ist zur Stellvertreterin der Präsidentin gewählt. Ich frage Sie, Frau Kollegin, ob Sie die Wahl annehmen?

Michaela Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000649, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich nehme die Wahl an und danke für das Vertrauen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann möchte ich Ihnen im Namen des Hauses herzlich gratulieren. ({0}) Da Sie diesem Haus seit 1980 angehören, wird Ihnen das geballte Wohlwollen entgegenschlagen. Ich wünsche Ihnen viel Glück, freue mich auf die gute Zusammenarbeit und wünsche Ihnen eine glückliche Hand und Gottes Segen für dieses Amt.

Michaela Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000649, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich bitte die Kollegen, die noch gratulieren wollen, um Nachsicht, wenn wir die Sitzung fortsetzen. *) Das Verzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl der Stellvertreterin der Präsidentin teilgenommen haben, ist als Anlage 2 abgedruckt. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 6 - Technikfolgenabschätzung -, der zusammen mit den Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte verhandelt werden sollte, von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie mit der Absetzung einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d und den Zusatzpunkt 11 auf: 13. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt - Drucksache 13/6438 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({0}) Innenausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann ({1}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Saarausbau stoppen - Drucksache 13/5546 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({2}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({3}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Auswirkungen moderner Biotechnologien auf Entwicklungsländer und Folgen für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern - Drucksache 13/4933 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Frankfurt/Main, ehemaliges US-ShoppingCenter ({5}) - Drucksache 13/6456 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ZP 11 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({6}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckart von Klaeden, Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig sowie weiterer Abgeordneter der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Eckpunkte für die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen - Drucksache 13/6591 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({7}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Eine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die genannten Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 14. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 14 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Dezember 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Simbabwe über den Luftverkehr - Drucksache 13/5904 - ({8}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({9}) - Drucksache 13/6468 Berichterstattung: Abgeordneter Albert Schmidt ({10}) Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/6468, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 14 b: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. November 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Namibia über den Luftverkehr - Drucksache 13/5717 - ({11}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({12}) - Drucksache 13/6469 Berichterstattung: Abgeordneter Albert Schmidt ({13}) Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/6469, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist. Ich rufe nun Zusatzpunkt 12 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen CDU/CSU und F.D.P. Ruf nach Demokratie und Reform auf dem Balkan Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Schwarz-Schilling.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die nachhaltigen Demonstrationen in Belgrad und in anderen Städten in Serbien geben nun Anlaß zur Hoffnung, daß sich auch dort die Demokratieentwicklung einen Weg bahnt. Das gleiche ist - wie bei einem DominoEffekt - in Sofia in Bulgarien festzustellen. Wir sehen, wie schnell sich solche Dinge im Medienzeitalter verbreiten. Täglich gehen zehntausend, manchmal hunderttausend Menschen auf die Straßen, um die Anerkennung des Wahlsieges des Bündnisses Zajedno zu demonstrieren. Die Forderungen der Opposition sind klar und legitim: Anerkennung aller Wahlergebnisse vom 17. November 1996, gerechter Zugang zu den staatlichen Medien und keine Behinderung der unabhängigen Medien - ich erinnere an „Radio B 92" -, Schaffung eines runden Tisches nach Anerkennung der Wahlen, um einen Dialog zwischen Regierung und Opposition in Gang zu bringen. Meine Damen und Herren, die Oppositionsparteien verdienen bei ihrem Kampf unsere volle Unterstützung. Das gilt für unsere Regierung genauso wie für dieses Parlament; ({0}) denn wir Parlamentarier sind diejenigen, die solche politischen Entwicklungen begleiten müssen und die auch die geistige Hilfe, das Zusammensein und die Solidarität entscheidend - nicht nur symbolisch, sondern durch Präsenz - darstellen müssen. Meine Damen und Herren, wir können uns bei einer solchen Umbruchphase die Leute nicht im einzelnen aussuchen und sagen: Der hat eine ganz weiße Weste, und der hat eine weniger weiße Weste. - Davor kann ich nur warnen. Entscheidend ist, daß diese Opposition eine demokratische Bewegung in Gang gesetzt hat, die an Fahrt gewinnt und dabei ist, eine unumkehrbare Eigendynamik zu entwickeln. Darum geht es in der Politik. Erste Absatzbewegungen sind auch schon in Montenegro zu sehen; Teile der serbischen Armee haben erkennen lassen, daß sie nicht auf ihre Landsleute schießen wollen. Trotzdem beurteile ich die Situation immer noch sehr kritisch; denn man weiß nie, welche Entscheidungen Präsident Milošević plötzlich fällt, wenn er an bestimmte Parallelen denkt, die historisch naheliegen, sei es Leipzig oder das Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Was mich in Belgrad besonders fasziniert hat, ist, wie friedlich und mit welcher Disziplin und Ausdauer, ja auch mit welchem Einfallsreichtum und Witz die Studenten und Zajedno-Anhänger täglich auf die Straße gehen. Wir Parlamentarier sollten daher die Opposition durch unsere Präsenz in Belgrad unterstützen. Ich freue mich, daß ich mit meinem Kollegen Lippelt von den Grünen die Möglichkeit hatte, am 11. und 12. Dezember diese Unterstützung zu dokumentieren. Ich habe mich auch nicht gescheut, Präsident Milošević zu treffen, nicht etwa, um ihn zu stützen - ich habe jegliche Fernsehbegleitung abgelehnt -, sondern um ihm klipp und klar zu sagen, daß er die Wahlen anerkennen muß und ihm kein Mensch im Westen abnimmt, daß er in einem Land mit Gewaltenteilung lebt, in dem er sich nach Gerichtsurteilen zu richten hat. Wenn er das meint, soll er eine internationale Kommission herholen. ({1}) Das hat er am nächsten Tag mit dem Vorschlag der OSZE gemacht. Insofern war es ein mit der Opposition gut abgesprochener konstruktiver Vorschlag. Meine Damen und Herren, Milošević wird versuchen, Zeit durch kleine Zugeständnisse zu gewinnen, um dadurch den Druck zu mindern. Das dürfen wir jetzt nicht zulassen. Der Westen muß weiterhin entschlossen auf Milošević einwirken, um die Forderungen der Opposition nach Anerkennung der Wahlen und nach freien Medien durchzusetzen und die Demokratieentwicklung in Serbien zu unterstützen. Je stärker der Demokratisierungsprozeß, die Freiheit und die Menschenrechte in der gesamten Region zum Durchbruch kommen, um so eher können wir Hoffnung auf eine Befriedung der Gesamtregion des Balkans haben. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Günter Verheugen das Wort.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut, daß wir heute die Gelegenheit haben, uns über die Gesamtsituation der Balkanregion zu unterhalten, weil die verengte Sicht allein auf Serbien dazu führen könnte, daß wir nicht erkennen, daß die Probleme dieses Raums eng miteinander verzahnt sind und die Krise in einem Land sehr schnell auch zu Krisen in anderen Ländern führen kann. Wir müssen erkennen, daß es im Zuge des Transformationsprozesses nach der epochalen Wende von 1989 und 1990 sehr unterschiedliche Entwicklungen im ehemaligen kommunistischen Machtbereich gibt. Es gibt außerordentlich positive Beispiele: Polen, Ungarn, Tschechien und mit einer gewissen Einschränkung die baltischen Länder. Es gibt die sehr positiven Beispiele Slowenien und Mazedonien im ehemaligen Jugoslawien. Es gibt eine hoffnungsvolle Entwicklung in Rumänien, aber es gibt große Probleme in Serbien, Kroatien, in Bulgarien, in Albanien und der Slowakei. Was ich vermisse - dies ist eine Bitte an den Bundesaußenminister, das vielleicht einmal darzustellen -, ist eine Erklärung dafür, warum es bisher nicht gelungen ist, mit der Umsetzung der richtigen Forderungen aus dem Abkommen von Dayton nach einer Sicherheitskooperation und einer politischen Kooperation für die gesamte Balkanregion voranzukommen. Ich weiß, daß sich die einzelnen Beteiligten Mühe geben und Gedanken machen. Aber woran liegt es, daß wir diese Kooperation bisher nicht zustande gebracht haben? Was können wir tun, um sie stärker zu entwickeln? ({0}) In bezug auf Serbien, das sicher der eigentliche Anlaß für diese Debatte gewesen ist, möchte ich folgendes sagen: Ich glaube, daß der serbische Präsident Milošević zu lange als einer betrachtet worden ist, ohne den Stabilität und Frieden in der Region nicht zu haben ist, und daß man ihm deshalb zuviel hat durchgehen lassen. ({1}) Es hat für mein Empfinden zu lange gedauert, bis der Westen auf die unglaubliche Manipulation der Kommunalwahlen reagiert und sich klar und eindeutig auf die Seite der serbischen Opposition gestellt hat. An die Adresse des serbischen Präsidenten und seiner Partei muß gesagt werden: Die jahrelange Isolierung Serbiens ist heute keine Entschuldigung mehr dafür, daß dieses Land keine Fortschritte gemacht hat bei der demokratischen, sozialen und ökonomischen Transformation, sondern im Vergleich zu allen anderen weit, weit zurückgeblieben ist. In Serbien existiert keine Medienfreiheit. In Serbien ist der Parlamentarismus nicht zur Entfaltung gekommen. Die Sozialistische Partei Serbiens beherrscht Staat und Gesellschaft genauso, wie es früher die Kommunistische Partei getan hat; sie hat dieselbe Machtattitüde wie ihre Vorgängerpartei. Es wird dort nur dann Stabilität geben, wenn sie diese Attitüde ablegt und bereit ist, sich in demokratischen Wahlen abwählen zu lassen, so wie es andere auch tun mußten. Aber auch an die Opposition in Serbien muß an dieser Stelle etwas gesagt werden. Machen wir uns doch nichts vor: Führende Vertreter der serbischen Opposition, die wir jetzt Abend für Abend im Fernsehen erleben und deren Kampf für die Anerkennung eines demokratischen Rechts, des Wahlrechts, wir vorbehaltlos unterstützen, haben vor nicht allzu kurzer Zeit politische Positionen in bezug auf den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die serbische Rolle in diesem Krieg eingenommen, die nicht besser gewesen sind als die Position, die Milošević eingenommen hat. Man kann die Hoffnung haben - ich habe sie auch -, daß dieser Prozeß, den wir im Augenblick erleben, auch die serbische Opposition demokratisch weiterentwickelt. Aber ich warne davor, ihn kritiklos hinzunehmen. ({2}) Ich bitte diejenigen, die die Kontakte haben, auch in den Gesprächen mit der serbischen Opposition zu sagen, daß das, was wir von Milošević verlangen, selbstverständlich auch von ihr verlangt wird. Ich wünsche mir, daß die serbische Opposition ein klares und eindeutiges Wort zur serbischen Verantwortung für den Krieg und die Gewalt sagt, die dort geherrscht haben, daß sie ein klares und eindeutiges Wort zur Lösung der Probleme sagt, die dort immer noch schwelen. Sie hören von Djindjić und Drašković nichts zur Kosovo-Frage, genausowenig wie Sie von Milošević dazu etwas hören. Sie hören von ihnen nichts zu den Minderheitenproblemen in der Vojvodina und dem Sandschak. Wir alle wissen doch: In diesem Land schwelen die Konflikte. Keineswegs war Bosnien die einzige Region, in der es zum gewaltsamen Austragen dieser Konflikte kommen konnte. Die Unterstützung für die serbische Opposition, die die sozialdemokratische Bundestagsfraktion uneingeschränkt betreibt, ist verbunden mit dem Versuch einer Einflußnahme in dem Sinne, den ich gerade beschrieben habe.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen. Politische Kontakte, Gespräche von Regierung zu Regierung, von Parlamentariern zu Parlamentariern und von Parteien zu Parteien sind vielleicht nirgendwo in Europa so wichtig wie in diesem Raum. Wir alle sollten uns gemeinsam darum bemühen, diese Kontakte zu festigen und zu vertiefen und alle Möglichkeiten zu nutzen, die wir haben, unsere Erfahrungen weiterzugeben, wie eine stabile demokratische Gesellschaft aufgebaut und erhalten werden kann. Vielen Dank. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte, hoffentlich bei meinen letzten Worten nicht zu gestrenge Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will hier nur von Serbien reden. Ich will von Serbien reden, weil ich denke, daß die anderen Gegenden nicht wirklich damit vergleichbar sind. Man kommt beim Sprechen zu schnell in einen Rausch und glaubt, daß jetzt überall die Demokratie durchbreche. Die neuesten Nachrichten zeigen eher ein ganz unbehagliches Bild. Denn ein Diktator, der sich an der Macht halten will, braucht Provokation; von selbst kann er es nicht. Ich weiß nicht, in welches Deutungsmuster die Nachrichten des heutigen Tages hineinfallen. Das, was man zu sagen hat, ändert sich von Tag zu Tag. Als ich mein Redemanuskript erstellte, sagte ich mir: Mit der Anerkenntnis der Belgrader Wahlergebnisse ist der endgültige Durchbruch gelungen; damit ist die Opposition über den Berg. Als 1991/92 die Expertenkommission der EU das in Krieg und Mord versinkende Jugoslawien bereiste, sagte ein Belgrader Dissident voller Resignation: „Sie reden immer nur mit den Mördern, sie reden nicht mit uns." In der Tat, mehr als fünf Jahre lang war das Bild Serbiens in Westeuropa und besonders auch in einigen meinungsbildenden deutschen Blättern von der Gleichsetzung Serbiens mit Milošević bestimmt. Der Abbruch der Beziehungen zu Milošević, zu Serbien, bedeutete auch die Schließung des Goethe-Instituts, obwohl Milošević niemals in dieses Institut ging, wohl aber die Belgrader Gesellschaft, die diesen Treffpunkt als Ort der Berührung mit dem Westen dringend brauchte. Heute erleben wir mit großer Überraschung, daß diese serbische Gesellschaft gegen die Diktatur aufsteht. Wir erleben ein demokratisches Potential, an das viele von uns nicht mehr geglaubt haben. Da müssen wir uns dann selbstkritisch fragen: Haben wir, hat die Bundesregierung und hat das Parlament diese Gleichsetzung nicht zu lange mitgemacht? - Zwei Beispiele. Erstens. Wenn jetzt 70 000 bis 80 000 Studenten demonstrieren, sind viele überrascht, weil es zuvor an den serbischen Universitäten so ruhig war. Aber 1991/92 gab es landesweite Unistreiks mit der Forderung: Milošević muß weg! Danach gab es an die 300 000 Deserteure, die in den Westen flohen, weil sie nicht zu Mördern werden wollten. Als unsere Fraktion hier vor zwei Jahren einen Abschiebestopp für jugoslawische Deserteure forderte, predigten wir tauben Ohren. Zweitens. Nach dem Vertrag von Dayton ging es um die Wiederherstellung der vollen diplomatischen Beziehungen zu Belgrad. Was forderte unser Außenminister sofort von Milošević ein? Jetzt müßten doch die 130 000 Flüchtlinge, größtenteils Kosovo-Albaner, aus Deutschland zurückgeschoben werden. Aber politisch war zur Befriedung des Kosovo überhaupt noch nichts geleistet. Heute darf man ja verstärkt darauf hinweisen: Auch in Serbien leben 700 000 Flüchtlinge, zum Teil unter erbärmlichen Bedingungen und auch versteckt, weil viele Männer nicht in den Dienst der Armee von Pale gezwungen werden wollten, und darunter leben 200 000 KrajinaFlüchtlinge, die nichts so sehr wollen als zurück in die Krajina. Deshalb gratulieren wir nicht nur den Oppositionsführern, die zwei Monate lang dem Protest Richtung und Stimme gaben. Wir gratulieren mehr noch denen, die fünf Jahre lang, vom Chauvinismus bedroht, das Licht der Demokratie und der Menschlichkeit in Serbien hochhielten. Wir gratulieren den Frauen in Schwarz, die all die Jahre an jedem Mittwoch auf dem Platz der Republik schweigend demonstrierten. ({0}) Wir gratulieren den verschiedenen Gruppen der Friedens- und Menschenrechtsbewegung, die den Flüchtlingen zu helfen versuchten, zugleich aber auch die Menschenrechtsverbrechen, die dort von ihren eigenen Leuten begangen wurden, dokumentierten und heute im Haag zur Verfügung stehen. Wir gratulieren Zeitungsredaktionen wie der „Nasa Borba", die auszog, als das Regime die „Borba" gleichschaltete, der „Republika", die den Dialog der dissidentischen Intelligenz durchhielt, und letztlich und vor allem den Studenten, die gegen das elementare Unrecht des Diebstahls demokratischer Wahlen nun schon zwei Monate lang täglich durch die Stadt ziehen. Was ist jetzt zu fordern? Erstens natürlich - es ist schon gesagt worden - die Anerkennung der Wahlergebnisse vom 17. November ohne Wenn und Aber, denn dahinter führt nichts zurück, zweitens ist der gleichberechtigte Medienzugang besonders auch bei den Ende des Jahres bevorstehenden serbischen Nationalwahlen zu fordern. Der Erfolg ist noch nicht erreicht, aber der Aufstand für Demokratie läßt sich auch nicht mehr rückgängig machen. Deshalb drittens die Forderung an uns selbst: Bei jeder zukünftigen Wahl umfangreichste Wahlbeobachtungen. Viertens - jetzt komme ich auf das, was Herr Verheugen sagte -: In der Stunde des Sieges müssen den Wortführenden Klärungen abverlangt werden. Adam Demaci, der 18 Jahre in serbischen Gefängnissen im Kosovo saß, schrieb den Oppositionsführern, endlich sehe er Licht am Horizont. Haben sie ihm geantwortet? Was sind ihre Vorstellungen? Verstehen sie, daß der Durchbruch zur Demokratie die Neufundierung eines demokratisch-föderativen Staates bedeuten muß? Fünftens. Der Wahlslogan von Zajedno lautete: Europa in Serbien, Serbien in Europa. Sie wollen die Öffnung nach Europa. Diesem Verlangen muß von der EU begegnet werden. Der Prozeß eines langfristigen Beitritts, in dessen Verlauf die innenpolitischen Spannungsherde ausgeräumt werden müssen, muß begonnen werden. Sechstens. Jetzt kommen die Forderungen nach außen.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, würden Sie bitte zum Schluß kommen! Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin sofort fertig. Glauben Sie es mir. - Wenn die Bevölkerung für den demokratisch gewählten Bürgermeister in Belgrad kämpft, so muß Tudjman in Kroatien die Einsetzung des demokratisch gewählten Oberbürgermeisters in Zagreb abverlangt werden. Das muß auch unsererseits verlangt werden. ({0}) Allerletzter Satz - Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung -: Das Haager Tribunal wird lange arbeiten müssen, und es bedarf lange unserer Unterstützung. Nichts gefährdet die Demokratie so sehr wie die Decke des Schweigens über Verbrechen. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich betrachte es als ein Privileg, in der ersten Sitzung sprechen zu dürfen, die Sie leiten. ({0}) Das darf man einmal sagen, auch wenn es von der Redezeit abgeht, die Sie offensichtlich streng kontrollieren. Meine Damen und Herren, ich lese eine Tickermeldung von heute mittag, die ich Ihnen nicht vorenthalten will: Der serbische Präsident Slobodan Milošević hat am Donnerstag die Opposition aufgefordert, die Demonstrationen in Belgrad und anderen Städten einzustellen. In einer Erklärung ... hieß es, die seit fast zwei Monaten andauernden Proteste hätten wirtschaftliche Schwierigkeiten verursacht und zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien zu anderen Staaten geführt. Das ist die klassische Methode „Haltet den Dieb! ". Gerade solche Äußerungen lassen mich daran zweifeln, daß die einstweiligen Wohlverhaltensbekundungen seitens des serbischen Präsidenten ernst gemeint sind. Ich höre gerade von der Präsidentin des Europarates, Leni Fischer, daß es auch Meldungen gibt, wonach angeblich Telefon- und Faxleitungen der Studentenbewegungen unterbrochen worden sind und der Rat der europäischen Bewegung in Belgrad in ähnlicher Weise unter Druck gesetzt wird. Meine Damen und Herren, von dieser Stelle aus muß der Deutsche Bundestag ganz klar machen: Herr Präsident Milošević, auf diese Weise werden Sie das Ansehen Serbiens weiter zugrunde richten! ({1}) Sie müssen mit diesen Behinderungen der Demokratie jetzt aufhören! Sie müssen insbesondere die Wahlergebnisse anerkennen und Pressefreiheit gewährleisten! Es ist richtig, wenn hier gesagt wird, daß Serbien als solches, daß die Bundesrepublik Jugoslawien den Weg nach Europa sucht. Aber dieser Weg nach Europa wird nur möglich sein, wenn die elementarsten demokratischen Spielregeln von diesem Lande eingehalten werden. ({2}) Ich freue mich sehr darüber, daß wir heute Gelegenheit haben, erneut ganz klar zu machen: Wenn wir die serbische Führung kritisieren, wenn wir in der Vergangenheit die serbische Führung wegen ihres Verhaltens im Krieg, wegen ihrer Ursächlichkeit für den Krieg angegriffen haben, dann haben wir damit die Führung und die politisch Verantwortlichen gemeint, nicht aber das serbische Volk. ({3}) Um so wichtiger ist es, daß wir in dieser Situation sagen: Wir haben Hochachtung vor dem serbischen Volk, das jetzt Tag für Tag, Abend für Abend auf die Straße geht und mit einem hohen Maß nicht nur an Zivilcourage, sondern auch an Risiko für Leib und Leben dort für das eintritt, was diese Menschen nach so vielen Jahrzehnten der Unterdrückung endlich haben wollen, nämlich Freiheit, Frieden, Menschenrechte. ({4}) Diejenigen, die hier gesagt haben, daß man auch an die Opposition appellieren muß, haben recht. Die Herren, die leitenden Figuren der Oppositionsbewegung, insbesondere die Herren Djindjić und Drašković, sind keine Unbekannten. Wir kennen sie von zahlreichen Besuchen in Belgrad, wir kennen sie auch von Besuchen, die sie bei uns in Bonn gemacht haben. Es ist richtig, daß es eine Entwicklung gibt. Sie waren vor etlichen Jahren noch Supernationalisten. Aber ich habe festgestellt, daß bei jedem weiteren Gespräch, das man mit ihnen führen konnte, eine Entwicklung zum Positiven zu erkennen war. Sie haben es eingesehen, wenn wir gesagt haben: Ihr verbaut euch den Weg nach Europa, ihr verbaut euch die Zukunft eures Landes und eures Volkes, wenn ihr nicht die grundlegenden Prinzipien von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit anerkennt. Sie haben zugehört. Es ist ganz klar: Demokraten fallen nicht vom Himmel. Wo sollen denn diese Vertreter der Opposition das in den letzten 40, 50 Jahren, die sie auf der Welt sind, gelernt haben, was hat es denn im früheren Jugoslawien für politische Verhältnisse gegeben? Wir müssen an sie appellieren. Ich hoffe, daß sie hören werden. Ohne eine Regelung der Menschenrechte und Minderheitsfragen - im Kosovo in diesem Fall eine Mehrheitsfrage - wird Serbien der Weg nach Europa nicht gelingen. Wenn die Opposition, wie ich hoffe, den Sieg davonträgt und wenn sie sich vernünftig und europäisch verhält, werden sie in Europa willkommen sein. Ich danke Ihnen. ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Tippach.

Steffen Tippach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002820, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Gestatten Sie mir, Ihnen vorab recht herzlich zu Ihrer Wahl zu gratulieren. ({0}) - Ich habe einen Freund gefunden; das ist ja nicht zu glauben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weigerung der serbischen Regierung, die Wahlergebnisse und vor allem die Siege der Opposition in zahlreichen serbischen Städten anzuerkennen, ist aus unserer und meiner Sicht nicht hinnehmbar. Sie ist zu kritisieren. Es ist immer wieder anzusprechen, daß dieses Vorgehen einer Korrektur bedarf und die Wahlergebnisse uneingeschränkt - entsprechend der Empfehlung der OSZE - anzuerkennen sind. ({2}) Ich bin der Meinung, daß es ein bezeichnendes Licht auf das Demokratieverständnis der serbischen Führung wirft, wenn erst die Proteste von Hunderttausenden auf der Straße über Monate hinweg zu einem schrittweisen Anerkennen dieser legitimen Forderung führen. Ich bin der Meinung, daß es darüber hinaus notwendig ist, die Forderung nach einem Zugang zu unabhängigen Medien zu unterstützen. Ich richte von dieser Stelle aus die Forderung an die serbische Regierung, die OSZE-Empfehlung vollständig umzusetzen, um zu zeigen, daß es einen Fortschritt im demokratischen Bewußtsein der serbischen Führung gibt. Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch darauf hinweisen, daß sowohl in der Mediendebatte wie auch in der Debatte hier im Haus unter die Räder kommt, daß sowohl die Regierung in Sofia als auch die in Belgrad immerhin in freien und geheimen Wahlen - national und international anerkannt - gewählt worden sind. Das sollte man, so denke ich, berücksichtigen, wenn von „Diktatoren" usw. die Rede ist. Was ich in Teilen der Debatte für ziemlich verlogen halte - wir reden über Demokratie und Reform auf dem Balkan - ist, daß nur die Töne in Serbien kritisiert werden. Sie werden natürlich zu Recht kritisiert. Aber wir könnten auch einmal über Albanien reden, ({3}) über ein Land, in dem der Präsident die Wahlen dadurch gewinnt, daß er die Oppositionsgegner einfach einsperrt oder ihnen das Wahlrecht aberkennt und massive Wahlfälschung begeht. Das geht so weit, daß die OSZE ihre Wahlbeobachtung abbricht und das Land verläßt und daß Amnesty International Folter in albanischen Gefängnissen feststellt. Der Unterschied zwischen Albanien und Serbien ist, daß in Albanien niemand protestiert. Es protestiert auch niemand von den Koalitionsfraktionen, die diese Debatte beantragt haben. Es kam auch kein Protest seitens der Regierung. Im Gegenteil: Es finden gemeinsame Manöver von albanischem und deutschem Militär statt. Das geht so weit, daß albanische Kontingente in das deutsche IFOR-Kontingent eingestellt werden, was eine Verletzung von UN- Prinzipien ist, nämlich des Prinzips, daß Beteiligte oder Nachbarstaaten nicht einbezogen werden dürfen. Das geht sogar so weit, daß diese Kontingente aus dem deutschen Bundeshaushalt finanziert werden. Darin sehe ich schon eine Ungleichbehandlung. Sie müssen dann schon einsehen, daß Ihnen von außerhalb unterstellt wird, daß es Ihnen nicht nur um Demokratie geht, sondern daß gezielt Machtpolitik, Interessenpolitik und geostrategische Politik verfolgt werden. ({4}) Wir reden über Demokratie auf dem Balkan. Reden wir doch über Kroatien, wo sich ein größenwahnsinnig gewordener Exkommunist als Nationalist gebärdet, sich bei seiner Amtseinführung als eine Art Jesus-Nachfolger stilisiert und darüber hinaus die längst vergangene Kommunalwahl in Zagreb - das ist schon gesagt worden - bis heute nicht anerkennt. Wo sind da die Proteste? ({5}) Wo sind die Unterstützungsforderungen in diesem Hause von seiten der Koalition geblieben, als dort die Opposition auf der Straße war, als Präsident Tudjman die letzten unabhängigen Medien einfach einstampfen und mundtot machen wollte? Wo waren die Debatten? Wo waren die Proteste? Sie haben dafür gesorgt, daß Kroatien letztendlich in den Europarat kam, mit der Argumentation, man könne dort besser einwirken. Wo ist denn die Einwirkung? Die Wahlergebnisse in Zagreb sind nach über einem Jahr immer noch nicht anerkannt. Die Situation hat sich immer noch nicht geändert. Auch diese Ungleichbehandlung führt mich letztendlich wieder zurück nach Serbien. Das alles muß den Eindruck erwecken, daß Sie es nicht so ehrlich meinen, wie Sie es betonen. Sie sind gefordert, auch da eine Korrektur vorzunehmen. Ich war 1993 längere Zeit bei der Friedensbewegung in Serbien, die damals noch sehr klein war und wenig Unterstützung hatte. Erst recht hatte sie keine Unterstützung von europäischen Regierungen. Sie bestand aus Leuten, die nicht einmal ihre Heizung bezahlen konnten. Sie haben damals ihre Forderungen aufgestellt, und, wie gesagt, Frauen in Schwarz haben Woche für Woche demonstriert. Sie standen weitestgehend allein und fanden im europäischen Ausland keine Unterstützung. Zu der Zeit war Zoran Djindjić noch der Wurmfortsatz der SPS; das nur am Rande. Überlegen Sie sich bitte - ich warne Sie -, mit wem Sie sich so völlig frei ins Bett legen. Sie könnten ein ganz böses Erwachen haben. So kritisiert zum Beispiel die serbische orthodoxe Kirche Milošević und unterstützt die Oppositionsbewegung deswegen, weil Milošević die sogenannten serbischen Westgebiete verraten habe, also die Gebiete in Kroatien und in Bosnien.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter Tippach, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Steffen Tippach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002820, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, danke. - Sie müssen sich also davor hüten, Leute zu unterstützen, die wieder einen Flächenbrand entfachen könnten, den wir eigentlich miteinander löschen wollen. Davor kann ich nur immer wieder warnen. Vielen Dank. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt Bundesminister Dr. Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Verheugen, Sie haben gefragt, warum es so schwierig sei, einen umfassenden Ansatz für die gesamte Region zu finden; so habe ich die Frage jedenfalls verstanden. Es ist deshalb so schwierig, weil unwahrscheinlich viel Schreckliches passiert ist. Es wurde gemordet, getötet, vergewaltigt, es gab ethnische Säuberungen. In einigen Bereichen der Balkanregion sind erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Ich denke da an Mazedonien, aber auch andere Regionen wie etwa Kroatien. Gleichwohl ist da noch manches zu kritisieren; da haben Sie vollkommen recht. Dies ist kritisiert worden und wird weiterhin kritisiert und absolut nicht einseitig gesehen. ({0}) Selbstverständlich fordern wir Herrn Tudjman genauso auf, die Krajina-Situation in Ordnung zu bringen, in Zagreb die Dinge zu regeln und auch mitzuhelfen, daß Den Haag seine Pflicht tun kann. Einseitig wird es nicht gesehen. Ich möchte noch einmal auf die Frage eingehen, warum es so schwierig ist. Es ist, wie gesagt, so vieles geschehen. Wir müssen sehen - es gibt keinen anderen Ansatz -, daß zwischen den Ländern, zwischen den Regierungen, zwischen den Völkern und den Menschen in den einzelnen Ländern leider noch nicht wieder - darüber haben wir hier schon ein paarmal diskutiert - nach all dem Schrecklichen die Bereitschaft vorhanden ist, furchtlos und zum Zusammenleben bereit miteinander auszukommen. Es ist unsere zentrale Aufgabe, insbesondere dies zu fördern. Im Augenblick ist es mit Gesamtplänen hochkompliziert und schwierig. Trotzdem wird, wie Sie wissen, in absehbarer Zeit der Augenblick kommen, zu dem wir uns dem stellen müssen. Dann wird es nicht nur damit getan sein, daß wir Dayton militärisch umsetzen und zivil implementieren, sondern dann wird für die Region tatsächlich ein Gesamtplan notwendig sein. Hoffentlich kommt diese Zeit bald. Seit Wochen demonstrieren Hunderttausende von Menschen in Belgrad und anderen Städten Jugoslawiens an jedem Abend sehr mutig gegen Wahlfälschung und für Demokratie. Das muß uns Deutsche in besonderer Weise berühren. Dieser friedliche, gewaltfreie Protest hat eine Kraft, eine Eigendynamik gewonnen, die an 1989/90 erinnert. Er zeigt, wie stark der Wunsch und Wille vor allem der Jugend des Landes nach Freiheit, nach Demokratie und nach wirtschaftlicher Besserung sind. Diese Demonstration der Freiheit verdient ein Echo, und zwar ein etwas stärkeres Echo, als es bisher der Fall war. Dieses Echo muß sein: Wir Deutsche, wir Europäer sympathisieren mit eurem Protest. Ihr, die Menschen in Serbien, habt mit eurem Ruf nach Demokratie unsere volle Unterstützung. ({1}) Nun ist Gott sei Dank der Protest auf den Straßen Belgrads nicht ohne Wirkung geblieben. Vorgestern gab es noch einmal die Anerkennung eines Teiles von Wahlsiegen der Opposition. Aber das nützt alles nichts; das habe ich gestern bereits öffentlich erklärt. Das muß umgesetzt werden; Erklärungen helfen da alleine nichts. Auch muß die Anerkennung der restlichen Wahlsiege in den anderen Städten folgen, und vor allem darf der Aufbau der neuen Stadtverwaltungen jetzt nicht behindert werden. Das ist das absolut zentrale Thema. Darauf müssen wir achten und uns besonders darauf konzentrieren. Deshalb bleibt unsere Forderung an

Not found (Mitglied des Präsidiums)

sofortige unzweideutige Anerkennung des von der OSZE bestätigten Wahlsieges der Opposition in 13 Provinzstädten, im Stadtrat von Belgrad und acht Belgrader Stadtbezirken. Es bleibt kein Raum und keine Zeit mehr für Hinhalte- und Vernebelungstaktiken. Es bleibt auch keine Zeit für häppchenweise gegebene kleine Zugeständnisse. Es ist vorhin angesprochen worden: Die Zeit ist vorbei. Herr Milošević muß jetzt wirklich sofort und vollständig die Wahlsiege anerkennen. ({0}) Dann müssen wir den Dialog mit der Opposition aufnehmen, wenn es überhaupt weitergehen soll, damit die Demokratisierung des Landes kommen kann. Anders werden wir die dortige innenpolitische Krise nicht in den Griff bekommen. Die Behinderung der Medien muß aufhören, und natürlich müssen faire Bedingungen für die Republikwahlen im Herbst geschaffen werden. Ganz wichtig und von zentraler Bedeutung für uns - es wurde vorhin angesprochen, dies werde angeblich von der Bundesregierung vernachlässigt - ist natürlich die Situation im Kosovo. Ich habe gestern ein langes Gespräch mit dem stellvertretenden amerikanischen Außenminister zu diesem Thema geführt. Es vergeht keine Begegnung mit den Partnern, mit den Europäern und insbesondere auch mit den Amerikanern, die im Kosovo Gott sei Dank sehr stark engagiert sind, bei der wir dieses Thema nicht in den absoluten Vordergrund rücken. Nur ist es in der jetzigen Situation unwahrscheinlich schwierig, speziell dort weiterzukommen. Für uns ist das natürlich wegen der 130 000 Flüchtlinge, die wir aufgenommen haben, von zentraler Bedeutung. Da frage ich Sie, Herr Kollege Lippelt, was Sie denn gemacht hätten, wenn Sie in dieser Situation Außenminister gewesen wären. Es gab keine Alternative. Wir haben im Auswärtigen Ausschuß ja darum gerungen; Sie waren dabei, und ich habe zum Schluß die Frage gestellt: Gibt es jemanden im Ausschuß, der mir empfehlen würde, es nicht zu machen? Ich habe damals keine einzige Gegenstimme gehört. Ich habe wohl gehört, daß viele Bedenken hatten, die ich selber auch hatte und nach wie vor habe. Natürlich muß Herr Milošević, genau wie die Kroaten und Bosniaken, dafür sorgen, daß die Kriegsverbrecher nach Den Haag kommen. Das gilt für alle Beteiligten, nicht nur für die Serben. ({1}) Das ist also ein Bündel von Problemen. Aber ich möchte deutlich und klar sagen und werde nicht müde, es zu betonen: Wir wollen, daß die Serben in Europa wieder ihren Platz finden. Das ist für uns ein absolut zentrales Thema. ({2}) Aber wer die eigenen Wähler betrügt, Menschen- und Minderheitenrechte verletzt, der verbaut eben diese Chance. Es tut mir leid, aber das müssen wir auch deutlich sagen. Das hat die Europäische Union und die Kontaktgruppe Belgrad unmißverständlich gesagt. Wir werden dafür sorgen, daß auch die Vereinten Nationen und die OSZE es noch einmal nachdrücklich tun. Ich habe mit dafür gesorgt, daß, als die Wahlmanipulationen ruchbar wurden, die Europäer klipp und klar gesagt haben: Finanziell läuft da nichts, lieber Herr Milošević. Da gab es furchtbaren Arger, aber da wird nichts laufen, und das wird so bleiben. Belgrad kann nicht damit rechnen, bilaterale Hilfen oder Hilfen von der Europäischen Union oder gar Kontakt zu den internationalen Finanzinstitutionen zu bekommen, wenn sich nicht die Demokratie durchsetzt. ({3}) Die Stiftungen müssen mehr tun und können dort mehr tun. Wir haben die EU-Kommission aufgefordert, möglichst schnell ein Konzept für Demokratieförderung in der Region vorzulegen. Leider muß ich sagen - auch Herr Verheugen hat es vorhin zumindest indirekt angesprochen -, bei den politischen Vorstellungen der Opposition fehlen leider klare Aussagen zur künftigen Position der Minderheiten und vor allem auch zur Position der Albaner im Kosovo. Deshalb müssen wir auch den Dialog mit der Opposition verstärken. Ich habe im Augenblick bewußt eine Delegation des Auswärtigen Amtes - ich will es jetzt im einzelnen aus Ihnen verständlichen Gründen nicht näher erläutern - hingeschickt, die dort die Dinge eruieren soll. Die Einladungen der Stiftungen an Oppositionspolitiker werden von mir nachdrücklich unterstützt und für richtig angesehen. Alle Überlegungen der Regierung in bezug auf das, was wir tun oder nicht tun, haben ihre Gründe, nicht etwa, weil wir bestimmte Dinge nicht tun wollen, sondern weil es vielleicht manchmal besser ist, daß Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen etwas unternehmen. Der Draht zu den Oppositionspolitikern Drašković und Djindjić ist gut. Sanktionen sind im Augenblick kein Thema und sollten auch keines sein. Auch die Opposition ist ja dagegen, weil es die Menschen trifft. Ganz kurz noch zu Bulgarien; wir dürfen es ja auch nicht vergessen. Dort geht es nicht wie in Belgrad um den Kampf für Demokratie, sondern um gravierende Fehlentwicklungen in der Wirtschaftspolitik. Auch dort wird die Geduld der Menschen auf die Probe gestellt. Aber Sofia ist nicht Belgrad; auch das muß man sagen. Es gibt in Bulgarien ein in freien und fairen Wahlen gewähltes Parlament, und Bulgarien hat ein Europaabkommen. Wir möchten natürlich, daß dieses Bulgarien und seine Menschen möglichst schnell in die Europäische Union kommen. Ich möchte gerade den Bulgaren von dieser Debatte im Deutschen Bundestag aus zurufen: Wir lassen euch in einer schwierigen Situation nicht im Stich! ({4}) Ich habe mich in der Europäischen Union nach einem Gespräch mit dem neugewählten Präsidenten massiv dafür eingesetzt, daß wirtschaftliche Hilfe geleistet werden wird. Albanien ist angesprochen worden. Gehen Sie einmal davon aus, daß die Entwicklung dort nicht nur beobachtet wird, sondern daß wir darauf auch aktiv Einfluß nehmen. Bei der OSZE-Tagung in Lissabon habe ich lange Gespräche mit meinen bei solchen Veranstaltungen immer links von mir sitzenden Nachbarn zu diesem Thema geführt, und der Präsident hat sich sehr bemüht, nachzuweisen, daß die Dinge dort jetzt besser laufen. Eine kurze Bemerkung zu Slowenien und Mazedonien. Dort geht es positiv voran; das kann uns nur recht sein, das sollten wir unterstützen, denn es hanBundesminister Dr. Klaus Kinkel delt sich um einen positiven Ansatz, wie es ihn in der gesamten Region geben sollte. Meine Damen und Herren, zum Schluß: Wir sind uns einig, der einzige Weg der Staaten im Südosten Europas zu Frieden und Stabilität ist der Weg der Demokratie und der Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Der Blick dieser Länder auf die Europäische Union kann und darf nicht nur den Wunsch bedeuten, von den wirtschaftlichen Segnungen Europas zu profitieren. Dies verlangt auch und vor allem, die Standards zu akzeptieren - und das ist das Wichtigste -, die Europa Frieden, Stabilität und Prosperität beschert haben, nämlich Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Man muß denen, die dies nicht einhalten, insbesondere Herrn Milošević, sagen: Wer das nicht will, der schließt sich aus. Ich rufe noch einmal als zentralen Punkt dieser Debatte den Serben zu: Wir wollen, daß ihr nach Europa zurückkommt. Aber es handelt sich um eine Zweibahnstraße. Sorgt weiter dafür, daß diejenigen, die euch führen, euch nicht letzten Endes an diesem Weg nach Europa zurück hindern! ({5})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Francke.

Klaus Francke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 1989 hat sich, wie wir beobachten konnten, die politische Landschaft in Europa grundlegend verändert. Demokratie und wirtschaftliche Reformen haben in der Mehrzahl der ost-, mittel- und südosteuropäischen Länder Fuß gefaßt. Zwei Ausnahmen bereiten uns im Hinblick auf den von uns gewollten und mannigfach geförderten europäischen Einigungsprozeß Sorge. Dabei handelt es sich erstens um Serbien, in dem die demokratische Willensbildung des Volkes mit Füßen getreten wird, und zweitens um Bulgarien. Bei allen Unterschieden hat die Situation in beiden Ländern eines gemeinsam. Die alten kommunistischen Strukturen, Anschauungen und Verhaltensmuster sind gleich, und gleich sind auch die Folgen. In Bulgarien betrug im Jahr 1996 die Inflationsrate 310 Prozent, seit 1996 stiegen die Preise um 230 Prozent, die Industrieproduktion ging im Verhältnis zu der des Jahres 1989 um 64 Prozent zurück und sinkt weiter. In der Landwirtschaft sind fast die Hälfte der Felder unbearbeitet, der Durchschnittslohn beträgt 25 bis 30 DM pro Monat, und das monatliche Pro-Kopf-Einkommen ist das niedrigste aller europäischen Länder. ({0}) Demgegenüber haben sich die Lebenshaltungskosten im Jahr 1996 verdreifacht. Meine Damen und Herren, in Bulgarien, in einem reichen Land, herrscht bitterste Armut. Es gibt kein Brot. Medikamente fehlen. Die Menschen können es sich nicht mehr leisten, ihre Wohnungen zu heizen. Die Verantwortung für diese beispiellose Mißwirtschaft, verbunden mit einer ungehemmten Machtausübung durch die Mafia und weit verbreiteter Korruption, trägt ohne jeden Zweifel eine politische Führungsschicht, die es bis heute nicht vermocht hat, sich unzweideutig zu einer entschlossenen europaorientierten Reformpolitik zu bekennen und sie auch konsequent umzusetzen. Bulgarien bildet heute das Schlußlicht unter allen mittel-, ost- und südeuropäischen Ländern, die sich dem europäischen Einigungs- und Entwicklungsprozeß angeschlossen haben. Der Protest der bulgarischen Bürger gegen die jetzige politische Führungsschicht ist vollkommen verständlich und gerechtfertigt. Die Situation muß uns Europäer beunruhigen. Sie erfordert eine klare Stellungnahme von uns. Dies sage ich insbesondere auch im Hinblick auf die sozialdemokratische Fraktion, die sich bei anderer Gelegenheit immer ihrer besonderen politischen Kontakte und Verbindungen rühmt. ({1}) - In Bulgarien, jawohl. ({2}) Wir sind auch in Zukunft bereit, Bulgarien auf seinem schwierigen Weg nach Europa zu helfen. Wir unterstützen uneingeschränkt die Absichten von Weltbank und IWF mit ihren Hilfsangeboten für Bulgarien. Aber ebenso haben wir Verständnis für die klaren Voraussetzungen, die der IWF für seine Hilfe gefordert hat. Nach unserer Auffassung kann eine im Sinne Bulgariens, seiner Bürger und Europas notwendige schnelle Lösung erfolgreich nur erreicht werden, wenn dem Begehren der demonstrierenden Bürger, der Opposition und einiger Stimmen aus den Regierungsparteien gefolgt wird, die auf schnelle, vorgezogene Wahlen drängen. Die Auffassung des amtierenden Staatspräsidenten und seines gewählten Nachfolgers hierzu entspricht nach unserer Ansicht den vitalen Interessen Bulgariens. Die Lage der Menschen erfordert schnelles Handeln. ({3})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mir ist es in diesen Tagen ein bißchen leichter gefallen, zu verstehen, warum es so vielen Westdeutschen damals schwergefallen ist, zu verstehen, was sich 1989 im Osten Deutschlands abgespielt hat. Ich, der ich schon vorher mit sehr vielen Serben - auch mit Mitgliedern der Demokratiebewegung - gesprochen habe, hätte es vor einem Jahr nicht für möglich geDr. Eberhard Brecht halten, was wir heute auf den Straßen sehen, nämlich: Hunderttausende, Zehntausende von Menschen demonstrieren für Demokratie in Serbien. Sie machen von einem Grundrecht der Demokratie Gebrauch, der Demonstrationsfreiheit, um gerade für diese Demokratie und - in Sofia - für eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu streiten. Umgekehrt ist es zumindestens ein Zeichen der Klugheit der Machthabenden, diese machtvolle Bewegung bislang nicht durch ein Blutbad erstickt zu haben. Während in Sofia die Regierung auf den verzweifelten Aufstand gegen die soziale Verelendung mit Weitsicht reagierte, muß der SPS in Belgrad jeder kleine Erfolg mühsam abgerungen werden. Ich teile auch nicht den von Außenminister Kinkel hier geäußerten Optimismus. Gerade der gestrige Tag war wieder ein Rückschlag für die Demokratie. In NeuBelgrad, für das die OSZE den Sieg der Opposition bei den Kommunalwahlen bestätigt hatte, traten davon ungerührt die Sozialisten zu einer konstituierenden Versammlung des Stadtrates auf der Grundlage eines gefälschten Wahlergebnisses zusammen. Wer auf diese Weise Macht erhalten will, wird sie um so schneller verlieren. ({0}) Die gefälschten Kommunalwahlen 1989 in der DDR haben den Niedergang des Honecker-Regimes eher beschleunigt, nicht etwa verzögert. Auch Parteiausschlüsse oder Amtsenthebungen, jetzt praktiziert beim Belgrader Bürgermeister, werden unbegründete Machtansprüche über kurz oder lang scheitern lassen. Auf diese Weise bröckelt die Machtbasis von Milošević immer mehr ab. Die Armee und die orthodoxe Kirche bestätigten ihre Loyalität gegenüber dem serbischen Volk, aber nicht gegenüber der Regierung. Auch der Koalitionspartner der SPS, die Partei Neue Demokratie, drohte mit der Aufkündigung des Bündnisses. Auch aus Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, kommen Anzeichen über eine eigene Währung und eine Loslösung von Belgrad. Die westlichen Staaten sind aufgerufen, einerseits die Demokratiebewegung durch wichtige Zeichen zu unterstützen. Aber andererseits sollte einer weiteren Atomisierung des Balkans widersprochen werden. Nicht nur, daß die wirtschaftliche Existenz und damit auch die Stabilität der Region weiter gefährdet würde, nein, auch die Lösung des Kosovo-Konfliktes würde durch eine Sezession Montenegros erheblich erschwert. Lassen Sie mich noch ein weiteres Zeichen der Hoffnung für den Balkan benennen: Die Symbolgestalten von Zajedno, Vuk Drašković und Zoran Djindjić, beide aus der Vergangenheit als Nationalisten bekannt, sind nicht dieser ihrer Haltung wegen, sondern trotz dieser Haltung die Führer der Demokratiebewegung geworden. Viele der Menschen, die demonstrieren, sind mutige Journalisten, Intellektuelle, Vertreter des Helsinki-Komitees, Mitglieder der Helsinki-Citizens' Assembly und des Zentrums für Menschenrechte, unabhängige Gewerkschafter, vor allen Dingen Studenten und viele andere Menschen, die frei vom Bazillus des Nationalismus sind, eines Nationalismus, der den Balkan zugrunde gerichtet hat. Der Wunsch nach Demokratie in Sofia und in Belgrad läßt sich nicht mehr ersticken. Die Fahnen der europäischen Länder, die bei den Demonstrationen gezeigt werden, sind ein Zeichen dafür, daß sich die junge Demokratie in Belgrad mit Europa verbunden fühlt. Die Demokraten dort sollen wissen: Ihr seid in Europa herzlich willkommen. Vielen Dank. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat der Abgeordnete Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr gut, daß Sie, verehrter Herr Kollege Brecht, daran erinnert haben, daß viele Menschen in unserem Lande vor allem deshalb für die Menschen in Serbien große Sympathie haben, weil viele Menschen vor sieben oder acht Jahren in der damaligen DDR auf die Straße gegangen sind und in einer für den einen oder anderen außenstehenden Betrachter ausweglosen Situation mutig für Demokratie und Menschenrechte gestritten haben. Daß Sie als jemand, der die Bürgerrechtsbewegung in Quedlinburg mitgegründet hat, heute daran erinnern, zeigt, daß es hier Bezüge gibt und daß die Sympathien der Menschen in unserem Land mit den Demokraten in Serbien nicht von ungefähr kommen. Herr Bundesaußenminister, Sie haben zu Recht davon gesprochen, daß diese Sympathie nicht nur die politische Klasse in unserem Land pflegen sollte, sondern daß sich auch die Bürger in unserem Land damit identifizieren sollten. Das geschieht auch. Mir ist gerade heute ein Aachener Appell „Solidarität mit der serbischen Demokratiebewegung" auf den Tisch gekommen. Diesen Appell hat der Kollege Laschet initiiert, und die Kollegin Schmidt hat ihn mitgetragen. Alle Mandatsträger aus dem Raum Aachen, aber auch die Wirtschaft, die Gewerkschaften und alle politisch-gesellschaftlichen Kräfte der Europastadt haben ihre Sympathie mit den Streitern für Demokratie und Menschenrechte in Serbien manifestiert. ({0}) Ich teile selbstverständlich die Auffassung, die hier verschiedentlich geäußert worden ist, daß es darauf ankommt, daß wir der Demokratie- und Menschenrechtsbewegung in Serbien deutlich sagen, was wir von ihr erwarten. Herr Verheugen, Sie haben zu Recht davon gesprochen, daß der Schlüssel für wirkliche Demokratisierung, für wirkliche Rechtsstaatlichkeit und für die Durchsetzung der Menschenrechte nicht nur in Serbien, nicht nur in der Bundesrepublik Jugoslawien, sondern auf dem ganzen Balkan und im ganzen südosteuropäischen Bereich die Sicherung der Menschenrechte vor allem im Bereich der Minderheitenrechte ist. Dabei möchte ich von den Sprachführern der demokratischen Opposition in Serbien etwas an Konzeption hören, wie man sich die Lösung der KosovoProblematik vorstellt. Die demokratische Opposition in Serbien sollte nicht länger dazu schweigen, ob und gegebenenfalls welche Konzeptionen sie für die Lösung dieses Problems hat. Ich möchte daran erinnern, daß unsere Fraktion unter Federführung des Kollegen Francke einen Antrag ins Parlament eingebracht hat, der zur Zeit im Auswärtigen Ausschuß beraten wird. Unsere Forderungen sind ganz klar: Wiederzulassung der Langzeitmission der OSZE und Zustimmung zur Eröffnung einer Vertretung der Europäischen Union im Kosovo, Programme der Bundesrepublik Jugoslawien zur Integration der aus dem Kosovo Stammenden und aus Deutschland in ihre Heimat Zurückkehrenden sowie die Garantie der Umsetzung des am 18. Juni 1996 beschlossenen Amnestiegesetzes für Wehrdienstverweigerer und Deserteure. Entscheidend sind außerdem weitere Verhandlungen zwischen Vertretern der Bundesrepublik Jugoslawien, der Republik Serbien und selbstgewählten Vertretern der Kosovo-Albaner unter Vermittlung einer dritten Seite mit dem Ziel der Wahrung der politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte der albanischen Bevölkerung auf der Grundlage - auch das sage ich sehr offen, weil albanische und Kosovo-albanische Forderungen weitergehen - eines speziellen Status innerhalb der bestehenden Grenzen der Bundesrepublik Jugoslawien. Zu dieser zentralen Frage der Zukunft einer Bundesrepublik Jugoslawien und auch der Zukunft eines demokratischen, friedlichen, den Menschenrechten verpflichteten serbischen Staates - das stellt nach meiner festen Überzeugung das Kosovo-Problem dar - muß auch die demokratische Opposition in Serbien ihre Konzeption in den nächsten Tagen im Dialog mit uns, aber auch im Dialog mit der eigenen Bevölkerung - dazu gehören die Kosovo-Albaner - liefern. Herzlichen Dank. ({1})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einige Worte zu der Situation in Bulgarien sagen. Das der Europäischen Union assoziierte Land macht derzeit die schwerste ökonomische, soziale und politische Krise seit Beginn der Transformation durch. Dafür gibt es durchaus objektive Gründe, für die nicht das Land selbst verantwortlich ist: zum Beispiel Verluste bereits im zweiten Golfkrieg, Verluste durch das Jugoslawien-Embargo, die auf bis zu 6 Milliarden Dollar geschätzt werden, und ungünstige Ausgangsvoraussetzungen in bezug auf die geographische und ökonomische Situation, die schlechter als bei den mitteleuropäischen Visegrad-Staaten sind. Die Krise, die jetzt das Land erschüttert und die Bevölkerung in noch tiefere Armut treibt, ist aber hauptsächlich hausgemacht. Sie ist die Folge einer verfehlten Politik der letzten sieben Jahre von fünf verschiedenen Regierungen, von - nebenbei gesagt - Regierungen, die von ganz unterschiedlichen Parteien geführt wurden. Die schlechteste Entwicklung hat in den letzten zwei Jahren unter der Regierung von Schan Widenow und damit in der Verantwortung der Bulgarischen Sozialistischen Partei stattgefunden. Der Kollege Francke hat hier schon einige ökonomische Daten angeführt, wobei bestimmt am erschütterndsten ist, daß dieses Land, das traditionell ein Exporteur von landwirtschaftlichen Gütern war - man denke an die Thrakische Ebene, die schon seit dem Altertum große Teile Vorderasiens ernährt hat - heute auf Getreidelieferungen aus dem Ausland angewiesen ist, daß ein großer Rückstand in der Privatisierung sowie eine hohe Staatsverschuldung bestehen und die Devisenreserven praktisch gegen null gehen mit der Folge, daß die Bevölkerung jetzt erneut mit dem Begriff Demokratie die Erfahrung eines Winters verbindet, in dessen Verlauf man hungern und frieren muß. In so einer Situation ist humanitäre Hilfe angesagt. Die Bundesrepublik Deutschland und wir alle tragen Verantwortung dafür, daß die EU schnelle Hilfsmaßnahmen durchführt. Herr Außenminister, ich kann nur bestätigen, daß die Bundesregierung aktiv mitgewirkt hat, daß mittels eines etwas ungewöhnlichen Verfahrens unter Nutzung der PHARE-Hilfe durch das Vorziehen von Mitteln, die erst später fällig werden, jetzt humanitäre Hilfe geleistet werden soll und daß in diesen Monaten auch die Kohlebeihilfe wirksam wird. Es gibt zum Glück auch zahlreiche private Initiativen in der Bundesrepublik, die jetzt humanitäre Hilfe leisten. Das Deutsch-Bulgarische Forum hat zusammen mit dem ZDF im Rahmen einer Krisenhilfe „Bulgarien" aufgerufen, zum Beispiel Gelder für ein Kinderheim in Sofia und ein Kinderkrankenhaus in Pasardschik zu spenden. Ich kann sagen, daß schon nach 48 Stunden ein fünfstelliger Betrag eingegangen ist, der wirklich helfen wird. ({0}) All das verpflichtet uns zu Dank gegenüber denjenigen Menschen, die etwas tun. Das Wichtigste aber bleibt, daß die politische Krise überwunden wird. Es ist naheliegend, daß das alte Spiel, demokratische Parteienaktivität als Kriegswissenschaft zu betreiben, fortgesetzt wird, daß man jetzt das Spiel wieder einmal herumdreht und die Sieger von gestern die Verlierer von heute sind. Das geht nicht so weiter, weil der Verlierer dabei immer die Bevölkerung ist. Wenn der Kollege Francke noch anwesend wäre, würde ich ihm gegenüber die Hoffnung zum Ausdruck bringen, uns darauf verständigen zu können, daß es das Wichtigste ist, auf unsere Gesprächspartner einzuwirken und sagen: Dieses Spiel geht nicht. In dieser Situation muß als erstes eine gemeinsame handlungsfähige Regierung wiederhergestellt werden, weil ein Ansprechpartner vorhanden sein muß, damit die internationale Hilfe wirksam wird. Wir brauchen einen Ansprechpartner für den IWF, der bereit ist, Kredite in einer Höhe bis zu 900 Millionen Dollar zur Verfügung zu stellen, was auch dringend notwendig ist, weil noch in diesem Monat, am 28. Januar, wieder eine Schuldentilgung von 170 Millionen Dollar ansteht, für die gar kein Geld vorhanden ist. Die wichtigste Forderung des Moments ist, eine Übergangs-Koalitionsregierung mit zeitlich begrenzter Vollmacht zu bilden. Es gibt eine Bewegung aufeinander zu. Die bisherige Regierungspartei hat sich zu vorzeitigen Parlamentswahlen bereit erklärt. Über den Zeitpunkt besteht noch Uneinigkeit. Die Opposition ist im Prinzip bereit, eine solche Übergangsregierung mitzutragen. Das ist die Forderung der Stunde. Es muß doch möglich sein, die Frage der Terminierung von vorgezogenen Parlamentswahlen irgendwie zu klären. Wir sollten von uns aus versuchen, politisch dazu beizutragen, daß eine solche Lösung der Vernunft herbeigeführt wird. ({1}) Ich freue mich, daß die Präsidentin des Deutschen Bundestages mir als Vorsitzendem der deutsch-bulgarischen Parlamentariergruppe die Reisegenehmigung erteilt hat: Ich werde am Wochenende nach Sofia aufbrechen, unsere guten Dienste anbieten und für eine solche Lösung der Vernunft werben. Ich bitte auch die anderen europäischen Staaten, dies zu tun, damit dieses Land, ein europäisches Land, das besonderes Vertrauen in Deutschland setzt und besondere Freundschaft zu Deutschland empfindet, aus dieser schweren Krise herausfindet. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Schmalz.

Ulrich Schmalz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001990, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was auf dem Balkan geschieht, ist für uns, für Deutschland - das zeigt unsere Geschichte -, von hohem Belang. Insoweit ist es legitim und gerechtfertigt, daß wir uns heute über die aktuellen Bezüge unterhalten. Ich will das vor allen Dingen mit Blick auf Bulgarien tun, ein Land, das in der Nach-Schiwkow-Ära eigentlich beachtliche reformerische Anstrengungen unternommen hat. Herr Kollege Erler, wir haben das zum Teil persönlich mit begleitet. Ich erinnere an Filip Dimitrow. In seiner Zeit als Ministerpräsident gab es beachtliche Fortschritte. Der jetzige Vorsitzende der Oppositionsfraktion war damals Finanzminister, und das Land hatte eine Milliarde Devisenreserven. Wenn Sie den heute amtierenden Finanzminister fragen, werden Sie ganz andere Zahlen zu hören bekommen. Bulgarien hat bei der Jugoslawien-Krise in den letzten Jahren eine beachtliche Rolle des Ausgleichs und der Stabilisierung gespielt. Der jetzige parallele Volksaufstand in Bulgarien hat in der Tat andere Ursachen als der in Serbien. Es geht nicht um Wahlbetrug. Die absolute Mehrheit der regierenden Sozialisten, der postkommunistischen Partei, ist durch eine Wahl legitimiert. Der Ruf der Menschen nach Veränderung ist das Ergebnis des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs. 1996 hat dem Land eine Inflation von sage und schreibe 400 Prozent beschert. Im April 1996 mußte man für 1 US-Dollar 85 Lewa bezahlen. Im Januar 1997 müssen die Menschen für 1 US-Dollar 700 Lewa bezahlen; das ist eine Entwertung von fast 1 000 Prozent. Man erkennt: Es fehlen offenbar der klare Wille und eine Strategie zur Durchführung wirtschaftlicher Reformen. Es findet eine dramatische Verarmung der Bevölkerung statt. Zweieinhalb Millionen Rentner haben ein monatliches Einkommen von sage und schreibe 30 DM. Es gibt eine organisierte Wirtschaftskriminalität. Es gibt die Unterdrückung privater wirtschaftlicher Initiativen. Es gibt einen Mangel an öffentlicher Verwaltung und Moral sowie eine Machtausübung als Selbstzweck. Der Protest von Hunderttausenden in den Städten Bulgariens fordert unsere Stellungnahme heraus. Das ist keine Einmischung des Deutschen Bundestages in die inneren Angelegenheiten, sondern das ist notwendig. Objektiv betrachtet, Herr Kollege Erler, wären baldige Neuwahlen wie ein Befreiungsschlag. Denn in der Tat: Der IWF hat deutlich gemacht - ohne den Internationalen Währungsfonds wird es keine wirtschaftliche Stabilisierung in Bulgarien geben -, daß er eine handlungsfähige Regierung braucht, eine Regierung mit Autorität, aber eben auch mit Vertrauen. Ich befürchte, daß eine Fortsetzung von Regierungstätigkeit in jetziger Form eben nicht dieses Maß an Vertrauen und diese Autorität beinhaltet. Ich bitte Sie ganz herzlich, bei Ihrem Besuch am Wochenende dahin gehend auf die BSP Einfluß zu nehmen, daß sie vorzeitigen Neuwahlen zustimmt. Ich glaube nämlich, daß Neuwahlen und damit möglicherweise andere, bessere Mehrheitsverhältnisse dem Land guttäten. Bulgarien war immer ein Freund unseres Landes. Wir wollen, daß der Weg Bulgariens nach Europa führt. Wir wollen, daß sich eine künftige Regierung klar zur Mitgliedschaft in der NATO äußert. Lassen Sie mich das zum Schluß sagen: Wir hoffen - dazu fordern wir die deutschen Bürger auf -, durch solidarische Aktionen den Menschen in Bulgarien zu helfen. Sie brauchen in diesen harten Winterwochen unsere ganz persönliche materielle Unterstützung. Ich glaube, damit könnten wir eine Botschaft der Hoffnung in dieses Land senden. Vielen Dank. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Vosen.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist hier schon sehr viel gesagt worden, so daß man eigentlich nicht mehr am Redekonzept festhalten kann. Ich versuche, das Gesagte zu ergänzen, und möchte auf das eingehen, was noch nicht gesagt worden ist. Ich weiß nicht, ob es gelingt, aber ich versuche es einmal. Das, was jetzt in Serbien abläuft, wirkt nach rechts und nach links. Was den Kosovo angeht, ist die Sache ganz klar; das wurde hier mehrfach erwähnt. Die Dinge, die sich da jetzt entwickeln, haben unmittelbaren Einfluß auf den Kosovo, so oder so. Auch im Kosovo ist die Gefahr, daß neue Gewalt auf dem Balkan entsteht, sehr groß. Das heißt: Die Dinge, die sich jetzt in Serbien entwickeln, bergen die Gefahr zusätzlicher Gewalt. Dies wirkt auch in die Republika Srpska hinein; denn wir wissen ja, daß die Führung der bosnischen Serben und Milošević nicht sonderlich befreundet sind. Daß sie hier und da zusammenarbeiten, ist klar. Es besteht aber ein politischer Kampf. Wir haben ja die Äußerungen der bosnischen Serben gehört. Sie unterstützen die Opposition und nicht Milošević. Man erkennt also das Wechselspiel, welches dort stattfindet. Deswegen muß man in diesem Land, in Belgrad als Ausländer mit seinen Äußerungen vorsichtig sein. Das, was hier übereinstimmend festgestellt worden ist, daß die Wahlergebnisse anerkannt werden müssen, ist klar. Wir wissen aber auch, daß die Bundeswahl am 3. November klare Ergebnisse hatte: Milošević ist relativ eindeutig gewählt worden. Das jetzige Oppositionsbündnis hat damals nur 970 000 Stimmen bekommen, und der Kollege Šešelj, der sehr nationalistisch ist, konnte 780 000 Wählerstimmen auf sich vereinigen. Das zeigt ungefähr, wie dort die Machtverhältnisse sind. Ich glaube, daß Milošević unter diesen Umständen lange nicht am Ende ist. Auch das Kommunalwahlergebnis 20 Tage später, am 23. November, zeigte: 45 von 189 Kommunen - meine Zahlen sind ein bißchen anders als Ihre - sind von der Opposition erobert worden. Allerdings wohnen in diesen 45 Kommunen 60 Prozent der Bevölkerung. Das heißt: Der größte Teil der Bevölkerung hat sich bei diesen Kommunalwahlen mehrheitlich für die Opposition ausgesprochen. Es gibt aber auch noch eine starke Unterstützung für die Partei von Milošević. Nun wissen wir, daß die Machtverhältnisse, was die Armee und die Polizei angeht - insbesondere die Polizei -, nach wie vor eindeutig sind. Es besteht die große Gefahr, daß diese Machtverhältnisse jetzt genutzt werden; denn seit heute erlaubt die geltende Verfassung, daß Milošević Bürgermeister einsetzen kann. Nach der seit heute geltenden Verfassung kann er das tun. Die Opposition und ebenso die Vertreter der Medien fürchten, daß er auch von der Möglichkeit Gebrauch machen könnte, den Ausnahmezustand zu verhängen. In Belgrad und in Serbien ist die Lage sehr kritisch. Es herrscht Angst, blanke Angst bei denjenigen, die die Opposition vertreten. Das kann ich zum Beispiel durch Telefonate bestätigen, die ich auch in den letzten Stunden geführt habe. Ich denke, wir müssen so oft wir können dorthin, um zu versuchen, einen Beitrag zu leisten, daß die Regierung nicht solche Schritte unternimmt, die sie international weiter isolieren müssen und die zu Sanktionen führen werden, die keinesfalls dazu beitragen, die Demokratisierung in diesem Land zu fördern. Ich darf mich bedanken. Die Redezeit ist leider abgelaufen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat das Wort der Kollege Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Als letzter Redner in der ersten Debatte, die von Ihnen als Präsidentin geleitet wird, auch von meiner Seite nochmals herzliche Glückwünsche. Wir sind in einer, glaube ich, sehr guten Debatte den Problemen auf den Grund gegangen. Es hat sich gezeigt - bei einigen kam es nicht so deutlich zum Ausdruck -, daß wir in der Beurteilung der Situation in Serbien nicht blauäugig sind und auch nicht blauäugig waren. Herr Kollege Lippelt, da will ich Ihnen widersprechen. Wir hatten - nicht nur Sie, sondern breite Teile dieses Hauses, gerade auch meine Fraktion - in all den Jahren viele Kontakte mit serbischen Oppositionspolitikern. Es war nicht immer einfach, die Böcke von den Schafen zu scheiden, und ist es wohl heute noch nicht. Manche Äußerungen, die Herr Drascovic in den Jahren 1992/93 auch hier in Bonn gemacht hat, konnten so nicht stehenbleiben und fanden unsere Zustimmung nicht. ({0}) - Da hat er auch noch anders geredet. Wir haben aber immer - auch in Debatten in diesem Hause - deutlich gemacht, daß wir zwischen dem serbischen Volk und denen, die die Aggressionen geschürt haben, sehr konsequent unterscheiden. Ich meine, das sollten wir fortführen. Christian Schmidt ({1}) Ich hoffe, daß diese Debatte ein deutliches Signal ist, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in Serbien: für die, die demonstrieren, sowie für die, die überlegen, wie sie auf die Demonstrationen reagieren sollen, weil sie Angst vor dem Machtverlust haben. Was auch immer war und sein wird: Wahlfälschung bleibt Wahlfälschung und ist nicht zu akzeptieren. Wir werden in dieser konkreten Situation an der Seite derer sein, die von diesen Wahlfälschungen betroffen sind und keine demokratischen Rechte in Anspruch nehmen können. Wenn wir das signalisieren können, dann ist ein wichtiger Schritt getan. ({2}) Die von der OSZE-Delegation unter Felipe Gonzalez deutlich gemachten Forderungen sind umzusetzen. Der Außenminister, der wegen eines Anschlußtermins gehen mußte, hat darauf hingewiesen, daß Sanktionen gegenwärtig kein Thema sind. Ich glaube, daß er recht hat. Ich meine aber auch, daß wir hinzufügen sollten: Wenn die Instrumentarien der Unterdrückung in Gewalt umschlagen sollten, wenn Herr Milošević oder Frau Milošević oder wer auch immer mit dem Gedanken spielen sollten, Gewalt anzuwenden, wenn Tiananmen am Horizont auftauchen sollte, dann ist der Zeitpunkt gekommen, auch das Instrument der Sanktionen zu nutzen. Dann muß ganz deutlich gemacht werden, daß mit solchen Instrumenten und mit solchen Möglichkeiten von unserer Seite mit aller Konsequenz verhindert wird, daß eine neue Diktatur entsteht. Das wäre nämlich eine brutale Diktatur, keine Halbdemokratie, wie sie sich zeitweise zu entwickeln schien. Wir werden die europäischen Standards in ganz Europa - dazu gehört auch Serbien - umsetzen und einsetzen müssen. Eine andere Konsequenz und Erkenntnis ist, daß der Balkan und Südosteuropa insgesamt ein Brennpunkt bleiben werden. Mit Dayton ist es nicht getan. Auch mit der gegenwärtigen Diskussion über die Kommunalwahlen ist es nicht getan. Wir müssen den Dialog mit den Führern der Opposition in Serbien - wie auch mit vielen anderen, aber besonders mit den zweien, die sich da hervorgetan haben - dahin gehend führen, daß wir sie zu einer konstruktiven Diskussion, zu einem Umbau ihres Staates in Richtung Demokratie und weg vom Nationalismus und zu der Erkenntnis einladen, daß die Spielregeln in Europa für jeden verbindlich beinhalten, daß nationale Hybris ausgeschlossen sein muß. ({3}) Wir kommen deswegen mit einem „ceterum censeo" letztendlich wieder zu einem europäischen Kernthema, nämlich zu der Frage gemeinsamer Friedensstrukturen in Europa, einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik für die Europäische Union und einer Verknüpfung der Instrumentarien, von der OSZE über den Europarat bis hin zur Europäischen Union und natürlich auch - überwölbend - zu den Vereinten Nationen, die - wenn schon keine Garantie - eine hohe Sicherheit dafür bieten können und müssen, daß in Europa Frieden herrscht. Frieden wird dann herrschen, wenn in Europa nur Demokratien bestehen. Letztlich sind wir auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen. Ich stelle das einmal fest, weil wir uns immer angewöhnt haben, zu sagen: Europa hat versagt; die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist noch nicht da; es ist nichts passiert. Darauf erwidere ich: Nein, Vertreter der OSZE sind nach Serbien gegangen, Gonzales hat den Bericht gemacht. Es ist etwas auf den Tisch gelegt worden. Der Europarat hat einen Ausschuß gebildet, der überprüft, ob beispielsweise Kroatien die Bedingungen, die für den Beitritt zum Europarat gestellt worden sind, auch wirklich erfüllt. Dazu gehören Regelungen in bezug auf die Kommunalwahlen in Zagreb. Europa ist nicht so schlecht, wie es gemacht wird. Europa muß sich nur weiterentwickeln. Die Situation in Serbien und auch in Bulgarien wird ein Prüfstein dafür sein, was wir in den nächsten Jahren schaffen müssen. Ich bedanke mich, Frau Präsidentin, dafür, daß Sie mir so großzügig, trotz der rot leuchtenden Lampe, noch eine halbe Sekunde zu meiner Redezeit dazugegeben haben. ({4})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: 4. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rudolf Scharping, Rudolf Dreßler, Ottmar Schreiner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen - Drucksache 13/4888 - ({0}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen - Drucksache 13/5419 - ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2}) - Drucksache 13/6539 - Berichterstattung: Abgeordnete Annelie Buntenbach Vizepräsidentin Michaela Geiger b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen - Drucksachen 13/4678 Nr. 3.1, 13/6539 Berichterstattung: Abgeordnete Annelie Buntenbach Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Leyla Onur.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, auch ich gratuliere Ihnen noch einmal sehr herzlich zu Ihrem neuen Amt und wünsche Ihnen eine glückliche Hand. Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch Sie werden vielleicht zu Beginn dieses Jahres diese große, bunte, teure Anzeige in überregionalen Zeitungen gesehen haben. Es handelt sich hierbei nicht um eine Wahlkampfwerbung der F.D.P.; die dort verwendete Farbe Gelb könnte ja vielleicht mißverstanden werden. Vielmehr ist es eine Werbeanzeige des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, in der sich Herr Bundesminister Blüm für fairen Wettbewerb am Bau feiern läßt. Es heißt dort: Jetzt gelten Mindestlöhne. Er läßt sich feiern, anstatt sich still und bescheiden in Klausur zu begeben, um einmal darüber nachzudenken, was in den vergangenen zehn Monaten alles schiefgelaufen ist, und zu bedenken, daß nämlich erst jetzt, am 1. Januar 1997, das Entsendegesetz, über das wir heute sprechen, wirksam werden konnte. ({0}) Es wäre nötig gewesen, darüber nachzudenken, anstatt eine große, bunte, teure Werbeanzeige in vielen Zeitungen zu schalten, zumal der Inhalt auch noch unredlich ist. Denn verschwiegen wird die Tatsache, daß dieses Gesetz, das am 8. Februar 1996 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, eine lange Leidensgeschichte hat. Es wird verschwiegen, daß in diesen zehn Monaten noch einmal zusätzlich Zehntausende einheimische Bauarbeitnehmer in dieser Republik arbeitslos geworden sind. Ich nenne nur die Zahlen zwischen September und Dezember 1996. Im September hatten wir 180 000 arbeitslose einheimische Bauarbeitnehmer zu verzeichnen. Gleichzeitig waren aber 200 000 entsandte Arbeitnehmer aus Portugal, Griechenland und Großbritannien auf deutschen Baustellen zu Niedrigstlöhnen tätig. Sie haben auf deutschen Baustellen für 7,50 DM pro Stunde gearbeitet und haben damit die Arbeitsplätze der einheimischen Bauarbeitnehmer vernichtet. Gleichzeitig sind Zigtausende von kleinen und mittleren Unternehmen in den Ruin getrieben worden. Das alles verschweigt diese Anzeige. ({1}) Gleichzeitig verschweigt sie, daß - es wird als Erfolg gefeiert - dieser Mindestlohn am Bau nur bis zum 31. August 1997 gilt. Was danach kommt, weiß kein Mensch. Aber wir können ahnen, was danach kommt, nämlich gar nichts. Es wird wieder keinen Mindestlohn am Bau geben, weil in dieser Zwischenzeit, spätestens seit dem Tarifausschuß klargeworden ist, daß die Arbeitgeberbank - sie sagt so schön: aus ordnungspolitischen und tarifpolitischen Gründen - diesen Mindestlohntarifvertrag abgelehnt hat, aber in Wirklichkeit weder das Entsendegesetz noch einen Mindestlohntarifvertrag will und dies bisher mit allen Mitteln verhindert hat und auch in Zukunft verhindern wird. Sie wollen das Entsendegesetz nicht, und sie wollen - wenn überhaupt - einen Mindestlohn in der Größenordnung um die 15 DM pro Stunde. Alles, was darüber ist, wird von Ihnen mit allen Mitteln bekämpft. Dies haben wir in den letzten zehn Monaten erfahren müssen, bis es dann zu diesem halbherzigen, mageren Kompromiß gekommen ist. ({2})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Frau Abgeordnete, gestatten Sie Frau Dr. Babel eine Zwischenfrage?

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich gerne, Frau Kollegin Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Onur, Sie sind im EG-Recht wirklich bewandert. Daher wundert es mich, daß Sie nicht darauf hinweisen, welche Möglichkeiten der Rechtswirkung die EG-Richtlinie, von der Sie wissen, daß sie mittlerweile beschlossen worden ist, hat, wenn das deutsche Abkommen abläuft bzw. wie sie sich auf das innerdeutsche Recht auswirken wird.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Kollegin Babel, selbstverständlich weiß auch ich, daß diese Richtlinie der Europäischen Union Gott sei Dank im September 1996 beschlossen worden ist und bis zum 24. September 1999 in nationales Recht umgesetzt werden muß. Aber der Haken dabei ist, daß es in dieser Richtlinie, anders als von der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament und von der sozialdemokratischen Fraktion hier im Deutschen Bundestag aus guten Gründen gefordert, keinen - das sage ich im übertragenen Sinne - Auflösungsmechanismus gibt. Denn die Bundesregierung hat dafür gesorgt, daß eine dritte Möglichkeit, um einen Mindestlohn allgemeinverbindlich festzulegen oder auf einem anderen Weg geltend zu machen, ausscheidet. Das hat die Bundesregierung verhindert. Kommission und Europäisches Parlament hatten sich darauf verständigt, als dritten Punkt die Ortsüblichkeit mit in den Katalog der Möglichkeiten aufzuLeyla Onur nehmen. Die Bundesregierung hat das verhindert und hat uns sozusagen in diese Falle hineingetrieben, in der wir jetzt stecken. ({0}) Jetzt müssen wir sowohl für das nationale Entsendegesetz als auch - auf die Zukunft bezogen - für die europäische Richtlinie, wenn sie umgesetzt werden muß - und sie muß bis spätestens September 1999 umgesetzt werden -, einen Auflösungsmechanismus haben, sonst kommen wir aus der Situation nicht heraus, daß wir uns auch in Zukunft im Tarifausschuß dem erpresserischen Druck der Arbeitgeberbank beugen müssen bzw. sich die Tarifpartner im Bau dem erpresserischen Druck beugen müssen, wie es im September 1996 auch tatsächlich geschehen ist. Sie mußten die Mindestlöhne absenken, weil sich der Tarifausschuß geweigert hat - die Arbeitgeber waren im Tarifausschuß vertreten, man muß das sehr genau differenzieren -, den Mindestlohn, der zwischen Tarifpartnern, die genau wissen, um was es geht, und die allein in der Lage sind, festzulegen, welcher Mindestlohn der geeignete ist - die Damen und Herren von Textil oder Gesamtmetall haben weder das Recht noch die Kenntnis, das zu beurteilen -, ausgehandelt worden ist, anzuerkennen. ({1}) - Nein, Frau Babel, sie haben nur das Recht, im Tarifausschuß festzustellen, ob ein solcher Mindestlohntarifvertrag im Sinn eines allgemeinen Interesses als allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Dieses Recht haben sie. Was aber die Arbeitgebervertreter im Tarifausschuß gemacht haben, war nicht im allgemeinen Interesse, sondern nur in ihrem eigenen arbeitnehmerfeindlichen Interesse und nichts anderes. ({2}) Spätestens am 28. Mai war klar, wie die Fronten sind. Weil der Bundesarbeitsminister, das Bundesarbeitsministerium und noch weniger die Damen und Herren von CDU/CSU und F.D.P. nach Lösungen gesucht haben, sind wir als SPD-Bundestagsfraktion unserer Verantwortung gerecht geworden und haben einen Änderungsvorschlag für das Entsendegesetz eingebracht, sozusagen einen Konfliktlösungsmechanismus vorgeschlagen. Wir wollen alle gemeinsam, daß gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort wirksam wird, wirklich wirksam wird und nicht nur auf dem Papier steht. ({3}) Wir haben diesen Vorschlag gemacht. Gleich anschließend wird Ihnen der Kollege Schemken vortragen ({4}) - das steht alles im Sprechzettel vom Ministerium, das wissen wir ja schon -, daß unser Vorschlag ein Eingriff in die Tarifautonomie sei. Das trägt der Kollege Schemken wider besseres Wissen vor; denn er und alle anderen auch haben inzwischen begriffen, daß das nur ein vorgeschobenes Argument ist. Da der Vorschlag von der SPD kommt, muß man ihn ablehnen. Sein Argument stimmt nicht; denn unser Vorschlag sieht eindeutig vor, daß die Tarifpartner im Baugewerbe einen Mindestlohn vereinbaren müssen. Hier hat sich die Politik selbstverständlich nicht einzumischen. Wenn aber im Tarifausschuß keine Einigung erzielt werden kann und ein öffentlicher Notstand - ich sage das ausdrücklich so - entsteht, dann sind wir alle gefordert. Nur in diesem Ausnahmefall und nur auf dieses und auf kein anderes Gesetz bezogen soll der Bundesarbeitsminister ermächtigt werden, am Ende langer Verhandlungen den von den Tarifpartnern vereinbarten Mindestlohn allgemeinverbindlich zu erklären. Wenn das ein Eingriff in die Tarifautonomie ist, dann weiß ich nicht, was Sie darunter verstehen. Wie kann man die Tarifautonomie besser sichern als durch einen solchen Lösungsmechanismus? ({5}) Da Ihnen aber ebensowenig wie dem Bundesarbeitsminister bisher nichts eingefallen ist - vielleicht sind Sie auch gar nicht willens und bereit, sich einen Konfliktlösungsmechanismus zu überlegen -, werden wir auch nach dem 31. August wieder vor dem Problem stehen, daß es keinen Mindestlohn auf deutschen Baustellen geben wird und daß weiterhin Arbeitnehmer aus anderen Ländern auf deutschen Baustellen ausgebeutet werden, während gleichzeitig einheimische Arbeitnehmer arbeitslos sind. Das wollen wir verhindern, und Sie können das gemeinsam mit uns tun, indem Sie unserem Vorschlag zustimmen. ({6})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz Schemken.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Erst einmal herzlichen Glückwunsch zur Wahl mit diesem eindrucksvollen Ergebnis! Ich wünsche Ihnen alles Gute. Nun kommen wir zum Entsendegesetz. Es ist schon erstaunlich, Frau Onur, daß Sie den Minister, der eine nationale Regelung auf den Weg gebracht hat, ({0}) hier in ein Licht stellen, das er in diesem Falle weiß Gott nicht verdient hat. ({1}) Europa hat nun mal versagt. Wir haben dies miteinander bedauert und sind einer Meinung: Es gilt der Satz: Gleicher Lohn bei gleicher Arbeit am gleichen Ort; wer die Infrastruktur Deutschlands für seine Produktion in Anspruch nimmt, der hat sich an diese Spielregeln zu halten. ({2}) Zu diesen Spielregeln gehört auch die Tarifautonomie. Das steht außer Frage. Das Gesetz soll dem fairen Wettbewerb und der Erhaltung der Tarifautonomie dienen. Es hilft insbesondere den Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Bauwirtschaft, die in große Bedrängnis geraten sind. Das sage ich ausdrücklich; Frau Onur, in dieser Feststellung sind wir uns einig. Wir wollen ein Europa, das einen humanen und sozialen Anspruch verwirklicht. Deshalb gab es die nationale Initiative, die vor der europäischen beschlossen wurde; denn sonst wären wir nicht im nachhinein gehalten, nach einer Richtlinie zu handeln. Die Gesetzentwürfe der Fraktion der SPD und des Bundesrates sollen den Minister zum Schiedsrichter machen. Genau der Minister, der soeben beschimpft wurde, soll jetzt den Lohn festlegen. Was würden Sie dann sagen, wenn Sie jetzt schon ein Problem damit haben, daß der Minister eine Regelung, die Gesetz geworden ist, nach außen so vertritt, daß sie auch von den Arbeitgebern - jetzt sprechen wir sie einmal an; auch wir bedauern diese Verzögerung - eingehalten wird?

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Bitte schön, Herr Kollege Büttner.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schemken, darf ich Sie fragen, ob Sie wissen, daß die Einführung der Allgemeinverbindlichkeit gerade von dem Vertreter Ihrer Partei, dem Abgeordneten Krapf, im Sozial- und Wirtschaftsrat noch vor Bestehen der Bundesrepublik mit der Begründung unterstützt worden ist, daß damit Schmutzkonkurrenz unterbunden werden solle, und darf ich Sie, da wir alle zusammen dafür eingetreten sind, Mindestlöhne in Deutschland festzulegen, die eine solche Schmutzkonkurrenz ausschließen sollen, fragen, ob Sie mir zustimmen, daß bei Beachtung der Tarifautonomie die deutsche Regelung für Allgemeinverbindlichkeit nur dann diesen Anspruch erfüllt, wenn die Tarifvertragsparteien, die hier tätig sind, nämlich Baugewerkschaft und Bauindustrie, die einen solchen Vertrag ausgehandelt haben, die Gewähr haben, daß sie mit einem solchen Vertrag vor Schmutzkonkurrenz geschützt werden und nicht ein nicht tariffähiger Verband wie der Arbeitgeberverband durch eine gesetzliche Regelung in die Lage versetzt wird, Schmutzkonkurrenz zu fördern, und daß das im Widerspruch sowohl zur gesetzlichen Intention als auch zum Gedankenmuster der Vertreter Ihrer eigenen Partei steht, die 1948 diese Regelung mit uns zusammen auf den Weg gebracht haben?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Büttner, das Entsendegesetz soll Dumping verhindern. Das Entsendegesetz soll den Mittelstand in die Lage versetzen, daß er unter gleichen Bedingungen, nämlich unter den hier ausgehandelten Kriterien, auch was die tarifliche Festlegung angeht, anbieten kann. Insofern kann ich Ihnen zu Teilen folgen. Zum anderen Teil muß ich allerdings das hohe Gut der Tarifpartnerschaft auch bei zähen Verhandlungen schützen und in Kauf nehmen. Hätten wir diesen Zwang nicht aufrechterhalten, wäre es nicht zu diesem Ergebnis gekommen. Nach unserem Verständnis von Tarifpartnerschaft kann man dies nicht durch eine Rechtsverordnung ersetzen. Sonst könnte die Regierung in Zukunft möglicherweise ein Mindestentgelt festsetzen. Das will doch wohl niemand. Das Ergebnis eines solchen staatlichen Mindestlohnes wäre ein großes Problem. Und wenn Sie 1948 anführen und damit den Weg der sozialen Marktwirtschaft ansprechen, dann, sage ich, war es eben auch die Tarifpartnerschaft, die uns den Tariffrieden und den Arbeitsfrieden gebracht hat, und diese wollen wir, gerade wenn es um eine solche entscheidende Frage für die Bauwirtschaft und für die Frauen und Männer am Bau geht, auch durchhalten.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Herr Abgeordneter Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Onur?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gerne bereit. Die Zeit wird mir ja nicht angerechnet. - Bitte sehr, Frau Kollegin Onur.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Kollege Schemken. Ihre Ausführungen veranlassen mich, Sie noch einmal zu fragen, ob Sie es denn immer noch nicht verstanden haben. Ich habe mir im Ausschuß die Mühe gemacht, es Ihnen sehr genau zu erläutern, und eben dachte ich auch, noch einmal klar und deutlich gesagt zu haben, worum es geht. ({0}) Einen Bundesarbeitsminister, ob von der CDU oder von der SPD, würden wir doch nicht in die Lage versetzen und ermächtigen, über die Höhe von Mindestlöhnen oder von Entgelten überhaupt zu entscheiden. Begreifen Sie nicht endlich, daß es hier nur darum geht, den zwischen den Tarifpartnern Bau geschlossenen und auch nur darauf bezogenen Mindestlohntarifvertrag im Notfall, wenn gar nichts anderes geht, allgemeinverbindlich erklären zu können?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Onur, was ist der Notfall? In dieser Frage unterstelle ich sogar, daß wir Probleme am Bau haben. ({0}) - Entschuldigen Sie: Was ist der Notfall? An welchem Maßstab soll denn ein Minister, gleich wie er heißt und - ich sage das ausdrücklich - gleich, von welcher Farbe er kommt, erkennen: Hier ist schnelles Handeln geboten, hier gehe ich nach Verordnung vor? Jetzt sage ich Ihnen ganz offen und frage auch einmal zurück: Was wollen Sie denn als Kriterium inhaltlich? Soll er nur dem Verfahren zustimmen, gleich, was auf dem Papier steht? ({1}) Oder soll er auch Ihrem Anliegen folgen? Das ist ja das Problem. Es muß doch in der inhaltlichen Frage eine Kompetenz für ihn geben. Diese Kompetenz, die er dann wahrnimmt, widerspricht der Tarifpartnerschaft, weil sie nämlich ans Eingemachte geht. ({2}) Ich sage noch einmal: Der unlauteren Behandlung, wie Sie sie soeben auch dargestellt haben - Dumping und unwürdige Arbeitsbedingungen als ungleiche Bedingungen -, wurde jetzt mit dem Entsendegesetz abgeholfen. ({3}) - Ich weiß nicht. Ich habe auf dem Bau gearbeitet. Ich kann gerne mit Ihnen privat einmal darüber reden, wie es da aussieht. Wir haben das Entsendegesetz mit diesen Möglichkeiten auf den Weg gebracht. Es hat sich leider durch die zähen Verhandlungen eine Verspätung ergeben. Ich bedauere auch - das hat der Herr Minister hier mehrere Male nachdrücklich zum Ausdruck gebracht -, daß es sich zunächst einmal bis in den Herbst hinein verzögerte. Wir hätten sonst sicherlich schon eher positive Wirkungen am Bau gehabt. Das steht außer Frage, und das bestreitet ja auch niemand. Aber nach wie vor sind wir der Meinung, daß wir die Grundsätze unserer Wirtschafts- und Sozialordnung beibehalten, daß wir die Verantwortung der Sozialpartner für die Lohnfindung und auch für die Festsetzung anderer Arbeitsbedingungen - ich habe eben bewußt die inhaltliche Frage des jeweiligen Tarifvertrages angesprochen - nicht dem Staat überantworten wollen. ({4}) Beide Gesetzentwürfe, sowohl der des Bundesrates als auch der SPD-Entwurf, gehen davon aus, daß hier der Minister durch eine Verordnung entscheiden soll. Dies kann - ich sage das noch einmal ausdrücklich - bis zur Festlegung des Lohnes gehen. ({5}) Wenn er dann nicht zustimmt, wird er jeweils einem Tarifpartner die Leviten lesen müssen ({6}) oder ihn maßregeln müssen, sonst hat das Ganze keinen Sinn. Wir halten deshalb die Tarifautonomie gerade auch in dieser schwierigen Frage für eine wichtige Grundlage. Wir sind auch der Meinung, daß der Staat nicht in den Verdacht kommen darf, auf die Tarifpartner einzureden bzw. möglicherweise noch mit einer Drohung aufzuwarten. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Wenn wir über diese Hürde wegkommen wollen, müssen wir auch messen. ({7}) Wir haben das Entsendegesetz - ich muß das ausdrücklich sagen - hier miteinander gewollt, ob es Ihnen in diesem Teil gefällt oder nicht. Was das Datum Ihrer Antragstellung angeht, so ist es im Grunde genommen parallel verlaufen. Es gilt bis zum 31. August; wir wissen das alle sehr wohl. Aber wir setzen insbesondere nach diesem strengen Winter und nach der sehr dramatischen Situation am Bau auf die Verantwortung der Tarifpartner. ({8}) Ich muß noch eines loswerden. Ich bedaure zutiefst, daß die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Bauwirtschaft ausgehandelte sinnvolle Lösung, die für die Beitragszahler eine Entlastung hätte bedeuten sollen, in diesem Winter nicht so angewendet worden ist, wie wir das erwartet haben. ({9}) Es hatte eine hervorragende Einigung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gegeben. Von den Arbeitgebern wird sie nicht so eingehalten, wie man es von einem Tarifpartner erwartet. Dies schlägt sich auch in den Arbeitslosenzahlen nieder. Dies bräuchte nicht so zu sein, wenn nach dem Gesetz und nach der gemeinsamen Vereinbarung gehandelt würde. Schönen Dank. ({10})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annelle Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute wird, fürchte ich, der Bundestag in seiner Mehrheit eine weitere Chance verstreichen lassen, den Dauerkonflikt um Lohn und Arbeitsbedingungen auf den Baustellen zu lösen. Ich bedaure das sehr, denn durch die bisherige Halbherzigkeit ist Annellie Buntenbach schon viel Schaden angerichtet worden. Diese Halbherzigkeit hat zu einer Reihe absurder Auswüchse geführt, zum Beispiel dazu, daß ein hier verabschiedetes Gesetz erst Monate später als geplant überhaupt real in Kraft tritt. Schließlich hat die Mehrheit im Bundestag trotz Alternativen - auf sie hat Kollegin Onur hingewiesen - entschieden, daß die Geltung des Gesetzes die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Tarifvertrags zur Voraussetzung hat. Genau die hat die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände so lange verhindert, bis ihr die Löhne niedrig genug waren. Allgemeinverbindlich gilt dieser Tarifvertrag jetzt bis zum 31. August 1997, und auch das war den Arbeitgebern bekanntlich schon zu lang. Danach sind dieselben Konflikte wie im vorigen Jahr und wieder eine Hängepartie mit ungewissem Ausgang vorprogrammiert. Beide Gesetzentwürfe, die heute zur Abstimmung anstehen, geben Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, die Chance, wenigstens einen zentralen Fehler an Ihrem Entsendegesetz nachzubessern: Das Gesetz hat nämlich keinerlei Konfliktregelungsmechanismus. Was hier vorgeschlagen wird, nämlich daß der Arbeitsminister in Abstimmung mit dem Bundesrat im Konfliktfall die Allgemeinverbindlichkeit entscheidet, ist keineswegs - das möchte ich nach der eben geführten Debatte noch einmal betonen - ein Angriff auf die Tarifautonomie, denn hier soll nicht das Tarifvertragsgesetz geändert werden, sondern das Entsendegesetz selbst. Meines Wissens ist das Entsendegesetz das einzige Gesetz, das auf dem seltsamen Mechanismus beruht: Die Wirksamkeit des Gesetzes setzt die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Tarifvertrags voraus. Diese Merkwürdigkeit macht noch einmal deutlich, wie halbherzig dieses Gesetz angelegt ist. Entweder ist nämlich ein ordnungspolitischer Rahmen notwendig, um die katastrophale Situation auf den Baustellen zu regeln - dann ist es auch unsere Verantwortung als Gesetzgeber, für die Wirksamkeit dieses Rahmens zu sorgen. Oder wir brauchen diesen regulierenden Eingriff nicht - dann ist das ganze Gesetz eine Farce. Sie wissen, daß wir der Auffassung sind, daß ein wirksames Entsendegesetz unabdingbar ist. Ohne eine solche Grundlage werden die Baustellen zu einem Experimentierfeld für Lohn- und Sozialdumping, welche Sub- und Sub-Sub-Unternehmern noch billigere Arbeit anbieten - legal, illegal, ohne soziale Sicherung, ohne Unfallschutz, mit zahllosen Konflikten entlang von Paß und Hautfarbe. Nicht die Unternehmer, die illegal beschäftigen, werden zur Verantwortung gezogen. Die Leidtragenden sind vielmehr die Kollegen, die oft nicht einmal einen schriftlichen Arbeitsvertrag haben, die nach einem Unfall über die Landesgrenzen geschafft werden, denen oft genug ein legaler Aufenthaltsstatus zugesagt worden ist, ohne daß der Unternehmer die Zusage dann auch eingelöst hätte. In solchen Fällen muß der Arbeitgeber empfindlich belangt werden, wohingegen der Rechtsstatus dieser Kolleginnen und Kollegen dringend gestärkt werden muß. Auch in dieser Hinsicht besteht dringender Nachbesserungsbedarf, genau wie beim Verbandsklagerecht und bei der Durchgriffshaftung. Ich weiß wohl, daß das heute nicht alles unmittelbar zur Abstimmung steht. Wenn aber im Entsendegesetz nicht der Konfliktfall geregelt wird, der in diesem Sommer so sicher wie das Amen in der Kirche kommt, dann stehen wir ab 31. August erst einmal ohne jede Regelung da. Deshalb möchte ich Sie noch einmal dringend auffordern, der Verbesserung des Entsendegesetzes zuzustimmen. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema der Löhne und Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitnehmer an deutschen Baustellen hat den Bundestag schon mehrfach beschäftigt. Mittlerweile hat sich das Problem ja gelöst, und zwar durch Tarifvereinbarungen auf der Grundlage des beschlossenen Entsendegesetzes. ({0}) Jetzt beraten wir einen SPD-Gesetzentwurf vom Sommer 1996, den die Entwicklung überholt hat. Es ist ein theoretischer Gesetzentwurf. Es geht um abstrakte Konfliktlösungsmechanismen, die keine praktische Bedeutung haben. Aber wir reden ja hier über alles, und über alles lang. ({1}) Warum sollen wir nicht über einen virtuellen Gesetzentwurf der SPD reden? Ich darf einmal zur Ausgangssituation kommen. Ausländische Firmen führen in Deutschland am Bau Aufträge mit eigenen Arbeitskräften durch. Da sie nicht an unsere Löhne gebunden waren - Lohnzusatzkosten sind im europäischen Vergleich ungleich niedriger -, arbeiten sie natürlich preiswert. Deutsche Firmen haben das Nachsehen; deutsche Bauarbeiter verlieren ihren Arbeitsplatz. Die Bundesregierung hat daraufhin gehandelt. Zu Beginn des vergangenen Jahres ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz in Kraft getreten. Aber schon damals war klar, daß es zu einer Einigung mit der Tarifkommission kommen muß. Immerhin hat man sich zu diesem Gesetz durchgerungen. Danach gelten tarifvertragliche Mindestlöhne auch für ausländische Arbeitnehmer bei ausländischen Firmen, und zwar dann, wenn diese Mindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt sind. Ich will nicht den alten Streit aufleben lassen, ob diese Lösung nun dem europäischen Geist entspricht und ob sie ordnungspolitisch ganz einwandfrei ist. Das wäre müßig. Inzwischen haben wir ja auch eine europäische Richtlinie. Nun wollten aber die Tarifpartner der Baubranche nicht so, wie sich die Politik das vorgestellt hat. Zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften am Bau wurden Mindestlöhne ausgehandelt, die den Ecklöhnen für Facharbeiterlöhne in anderen Branchen entsprachen. Als die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände daraufhin ihre Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung verweigerte, brachten SPD und Bundesrat die vorliegenden Gesetzentwürfe ein. Damit sollte der Bundesarbeitsminister kurzerhand, auch ohne den Tarifausschuß, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ersetzen können. In Ihrem Gesetzentwurf heißt es: Der Gesetzentwurf sieht einen Konfliktlösungsmechanismus für den Fall vor, daß im Rahmen der Tarifautonomie eine Regelung zur Verhinderung von Lohndumping nicht zustande kommt.

Michaela Geiger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000649

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Onur?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Babel. Ist Ihnen bekannt - ich vermute, es ist Ihnen bekannt; Sie verschweigen es hier nur -, daß sich die Tarifpartner im Baugewerbe im April nach schwierigen Verhandlungen auf Mindestlöhne geeinigt haben und daß, nachdem deutlich geworden ist, daß die Arbeitgeberbank im Tarifausschuß - das Baugewerbe war nicht beteiligt - aus ganz anderen Interessen die Mindestlöhne in der Höhe nicht wollte, das Baugewerbe sogar mit Austritt aus dem Verband gedroht hat, weil es eben den vereinbarten Mindestlohn damals für richtig gehalten hat? Sie können hier doch nicht behaupten, dies sei nicht im Interesse der Arbeitgeber im Baubereich gewesen. Das war im Interesse der Bauwirtschaft. Sie hat diesen Mindestlohn so ausgehandelt, und sie mußte dem erpresserischen Druck von Gesamtmetall und BDA nachgeben. Ist Ihnen das entgangen? ({0}) Ist Ihnen auch entgangen, daß der jetzt vereinbarte Mindestlohn bis zum 31. August befristet ist und daß wir ab dem 1. September 1997 diesen Konfliktlösungsmechanismus wiederum brauchen, daß also dieses Thema nach wie vor hochaktuell und äußerst brisant ist?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Onur, das war eine Fülle von Fragen. Die erste Frage, die Sie gestellt haben, ist, ob mir bewußt ist, daß die Bautarifpartner sich im April auf einen Tarif geeinigt hätten, der dann nicht die Zustimmung des Arbeitgeberverbandes insgesamt gefunden habe. Genau das habe ich gesagt; es ist mir also bekannt. Jetzt möchte ich Ihnen dazu noch eine gewisse Erklärung geben, die Ihnen vielleicht entgangen ist. Man fällt doch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung nicht nur unter Berücksichtigung der Interessen einer einzigen Branche. Vielmehr muß eine solche Allgemeinverbindlichkeitserklärung von einem Arbeitgeberverband auch unter dem Aspekt gewertet werden, wie sie den Mitgliedern anderer Branchen gefällt und wie es sich insgesamt darstellt. Dabei muß man dann auch den Gesichtspunkt berücksichtigen, wie die Löhne in anderen Branchen sind; nehmen Sie zum Beispiel die Textilindustrie. ({0}) Das war die eine Frage. Die zweite Frage war, ob mir klar ist, daß es dann den Druck des Arbeitgeberverbandes gegeben habe und die Verhandlungen in eine zweite Runde gegangen seien. Dazu komme ich noch, weil ich ja im Gegensatz zu Ihnen den Konfliktlösungsmechanismus, der sich zwischen Arbeitgeberverband und Baubranche abgespielt hat, für durchaus positiv halte. Das hat ja dann auch zu einem Ergebnis geführt. ({1}) Der letzte Punkt, auf den Sie mich angesprochen haben, war die Frage, ob mir die zeitliche Befristung bekannt sei. Das kann ich auch bejahen; dazu komme ich gleich noch. Meine Damen und Herren, wie sieht denn nun der im Gesetzentwurf der SPD enthaltene Konfliktlösungsmechanismus aus? Sie wollen, daß sich die Tarifpartner sozusagen automatisch einem Spruch des Bundesarbeitsministers unterwerfen, und zwar hinsichtlich der Branche, die einen solchen Tarif aushandelt. Damit hebeln Sie die Tarifautonomie und die Verantwortung aus. ({2}) Es sollte einmal die F.D.P. wagen, vorzuschlagen, daß man den politischen Willen eines Tarifbereiches für allgemeinverbindlich erklärt. ({3}) - Auch im Tarifausschuß sitzen Tarifpartner; das werden Sie ja wohl nicht leugnen. Ganz offensichtlich trauen Sie diesen Tarifpartnern nicht. Sie trauen ihnen nicht zu, daß Sie zu einer vernünftigen Einigung kommen. ({4}) Das Entsendegesetz kann seine Wirkung entfalten, ohne daß der Staat regulierend einwirkt. Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist mithin so überflüssig wie ein Kropf. Auch das Hohelied von der Tarifautonomie sollten Sie nicht so laut singen. ({5}) Meine Damen und Herren, ob das Entsendegesetz in Deutschland Arbeitsplätze sichert, das steht vielleicht dahin. Eines möchte ich Ihnen aber sagen - das blenden Sie wirklich immer aus -: Die jungen und noch schwachen Bauunternehmen in den neuen Bundesländern können selbst diese ausgehandelten Mindestlöhne nicht zahlen. Sie werden einfach untergehen. Daß dies die westdeutsche Baubranche mit einigem Vergnügen ansieht, kann für uns im Parlament doch kein Anlaß sein, dies als so außerordentlich positiv zu bewerten. Die Aufträge im Osten werden dann ausschließlich von den finanzstarken Firmen in Westdeutschland ausgeführt. Die Alternative dazu ist, daß ostdeutsche Firmen sich nicht an Gesetz und Tarifvertrag halten und diese Mindestlöhne nicht zahlen, womit sie sich im Grunde in der Illegalität befinden. Beide Phänomene können Sie heute schon massenhaft im Osten beobachten. Beides führt jetzt zu einer Folge, mit der Sie sich auseinandersetzen müssen, nämlich zur Erosion des gesamten Tarifvertrags-systems. Das ist wirklich eine Gefahr für die Tarifautonomie. Das andere betrifft ja wohl eher das Geplänkel miteinander, aber dies ist wirklich eine Gefahr der Tarifautonomie, wenn die Einigungen nicht mehr akzeptiert werden können. Mit diesen Fragen sollten wir uns beschäftigen und unsere Zeit nicht mit überflüssigen, verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetzentwürfen verplempern. Die F.D.P. lehnt die Gesetzentwürfe ab. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Müller und nicht das Plenum.

Manfred Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002740, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint es am Beginn meiner Ausführungen doch sinnvoll zu sein, noch einmal den Unterschied zwischen den Aufgaben des Tarifausschusses und denen der Tarifvertragsparteien deutlich zu machen. Der Tarifausschuß hat allein die Aufgabe, für den Bundesarbeitsminister oder für die Landesarbeitsministerien zu prüfen, ob ein Tarifvertrag im öffentlichen Interesse für allgemeinverbindlich erklärt werden soll - ja oder nein. Dort finden keine Tarifverhandlungen oder ähnliches statt, sondern Tarifverhandlungen sind Voraussetzung für einen entsprechenden Antrag an den jeweils zuständigen Tarifausschuß. Ich meine, daß die Spitzenvertreter der Unternehmerverbände BDA und BDI mit der Ablehnung ihre Kompetenzen weit überschritten haben und daß der Bundesarbeitsminister gar nicht auf sie hätte hören müssen, als sie nämlich aus sachfremden Erwägungen, die Sie ja, Frau Babel, hier noch einmal deutlich gemacht haben, ablehnten, weil ihnen die Löhne zu hoch waren. Das haben sie ja überhaupt nicht zu entscheiden, sondern das haben zuvor die Tarifvertragsparteien entschieden. ({0}) Wenn die Tarifvertragsparteien gesagt haben: „Das sind unsere Mindestlöhne", dann ist nur zu prüfen, ob es im öffentlichen Interesse liegt, diese Tarifverträge auch gegen Schmutzkonkurrenz wirksam werden zu lassen, die wir in unserem Land haben. ({1}) - Da gibt es einen Unterschied, Herr Kollege Schemken, zwischen Ihrer Zeit auf dem Bau und dem Hintergrund, vor dem wir heute diskutieren. Es gibt heute Schmutzkonkurrenz in der Bauindustrie auf Grund der Entwicklungen und der Integration in Europa. Die haben Sie nicht erlebt. Wenn Sie sie erlebt hätten, dann hätten Sie sich heute ganz anders für den Gesetzentwurf eingesetzt. ({2}) - Die Bauunternehmen, die konkurrenzfähig sein wollen - das sind auch die ostdeutschen Bauunternehmen -, liefern Sie der Schmutzkonkurrenz aus. ({3}) Die ostdeutschen Bauunternehmen werden diesen Konkurrenzkampf nicht überleben, weil sie qualifizierte Ostdeutsche, Kolleginnen und Kollegen vom Bau, einsetzen wollen, die diesen Laden tragen. Die machen sie noch mehr kaputt, als es in der Vergangenheit schon geschehen ist. Mir schien wichtig, noch einmal klarzumachen, daß es hier nicht darum geht, die Tarifautonomie auszuhöhlen; denn die Tarifautonomie bleibt gewahrt, weil sich die Tarifvertragsparteien zuvor auf einen Mindestlohn verständigt haben. Es geht nur darum, diesen auch in der Gesellschaft durchzusetzen. Allein darauf zielt dieser Gesetzentwurf ab. Er wäre überflüssig, wenn die Herren der Spitzenverbände der deutschen Unternehmerverbände nicht ihr Süppchen gegen die Interessen der Kolleginnen und Kollegen vom Bau, aber auch der Bauindustrie selbst gekocht hätten. Deshalb sind wir uneingeschränkt dafür, diesen Gesetzentwürfen eine Mehrheit zu verschaffen. Wir werden den Kolleginnen und Kollegen in der deutschen Bauindustrie auch klarmachen, wer daran schuld ist - obwohl derjenige immer wieder vorgibt, bis zum Jahr 2000 die Arbeitslosigkeit um mindestens die Hälfte zu reduzieren -, daß die Arbeitslosigkeit in diesem Land weiter anwachsen wird. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Günther.

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich dachte, man könnte zu diesem Gesetz hier auch einmal etwas Positiv sagen, daß wir nämlich endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit auf deutschen Baustellen haben. ({0}) - Natürlich befristet. Aber, Frau Onur, Ihre Aussage ist ja falsch, wenn Sie uns deswegen Unredlichkeit in unseren Publikationen unterstellt haben, was ich hiermit zurückweise. Man hätte da noch viel mehr hereinschreiben können. In Ihren Flugblättern steht auch vieles nicht. Da sage ich ja auch nicht, das sei unredlich. Man kann nicht alles, was es zu einem Thema gibt, aufschreiben. ({1}) Sie müssen, Herr Kollege Gilges, immer das schreiben, was Sie selbst für richtig halten; das tun wir auch. Wenn Sie sagen, nach acht Monaten, im August, seien die Mindestlöhne ungültig, ist das schlichtweg falsch. ({2}) Der Tarifvertrag gilt nach wie vor. Er gilt auch dann, wenn er seitens der Arbeitgeber gekündigt wird, mit der Nachwirkung; lediglich die Allgemeinverbindlichkeit ist aufgehoben. ({3}) Wir wollen die Zeit bis dahin nutzen. Ich lade Sie herzlich ein, mitzuhelfen - statt hier lauthals zu schimpfen - und die Tarifvertragsparteien bzw. den Tarifausschuß, der darüber zu befinden hat, zu bedrängen, diese Allgemeinverbindlichkeit zu verlängern oder auf Dauer auszustellen. Wir sollten uns gemeinsam bemühen, in dieser Zeit bis August darauf zu achten und zu drängen, daß das geschieht. Wir tun das, und Sie sind herzlich eingeladen, sich diesen Bemühungen anzuschließen. ({4}) Ansonsten, meine Damen und Herren, sind wirklich alle Argumente hierzu ausgetauscht. Wenn Sie sagen, Frau Onur, die Bundesregierung habe dieses und jenes verhindert, dann muß ich Ihnen als Kennerin der europäischen Szene - ich schätze Sie noch immer so ein, auch wenn Sie manches sagen, was bei mir Zweifel daran aufkommen läßt - sagen: Ohne die Bundesrepublik Deutschland hätte es ein Entsendegesetz überhaupt nicht gegeben. Wir haben das betrieben. Das Vorhaben wäre schon tot gewesen, es hätte kein Entsendegesetz gegeben, wenn nicht die italienische Präsidentschaft unter Verzicht auf eigene Forderungen, die deutschen Interessen widersprachen, sich bereitgefunden hätte, wichtige Merkmale, die uns bedrängt haben, zu entfernen. Hierbei war die gute Zusammenarbeit zwischen den Italienern und den Deutschen sehr gefragt. Ich habe die Verhandlungen selbst geführt, bin also mein eigener Zeuge, wenn Sie so wollen, aber nicht befangen, sondern alles das, was ich sage, ist wahr. Aus diesem Grunde hat das alles so lange gedauert. Deshalb sind wir froh, daß wir am 24. September vorigen Jahres im Ministerrat in Brüssel endlich diese Richtlinie verabschieden konnten, die sich überall - das sagt die Richtlinie - im nationalen Recht wiederfinden muß. Wir müssen diese noch umsetzen, aber wir haben ja bereits im Vorgriff das Entsendegesetz verabschiedet. Ich sehe keinen Konflikt oder die Gefahr, daß wir damit nicht klarkommen, auf uns zukommen, wenn wir diese Entsenderichtlinie umsetzen. Lassen Sie mich noch ein Wort zur Tarifautonomie sagen, die immer angesprochen wird. Wir haben eben unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Bewertung der Allgemeinverbindlichkeit innerhalb der Tarifautonomie zuzuordnen ist. Unsere Meinung ist: Die Allgemeinverbindlichkeit ist fester Bestandteil der Tarifautonomie. Wenn das so ist und Herr Kollege Müller das öffentliche Interesse hier eingefordert hat, was die Voraussetzung ist, um einen solchen Tarifausschuß überhaupt zu bilden, dann kann es auch nur im öffentlichen Interesse liegen, daß nicht die Tarifpartner selbst über ihren eigenen Vertrag entscheiden, sondern andere Vertreter aus den jeweiligen Richtungen der Tarifvertragspartner, auch wenn der BDA nicht selber Tarifvertragspartner ist. Er war im Gegensatz zu den anderen mit nur einem Vertreter anwesend; die übrigen waren Vertreter anderer Organisationen. Es ist in Wahrheit öffentliches Interesse, daß nicht das Baugewerbe selbst am Ende seinen eigenen Tarifvertrag, gegen das öffentliche Interesse, das andere vortragen können, für allgemeinverbindlich erklären kann. Unter diesem Aspekt sage ich Ihnen: Lassen Sie uns doch dies jetzt einmal annehmen und abwarten, wie sich das entwickelt. Wir tun zur Zeit in Absprache mit den Hauptzollämtern und der Bundesanstalt für Arbeit alles, ({5}) um in Deutschland - Kollege Büttner, hören Sie bitte zu - flächendeckend zu kontrollieren, ob die Mindestlöhne auch wirklich eingehalten werden. Das ist nämlich der entscheidende Faktor; sonst nutzt das ganze Gesetz überhaupt nichts. Dafür haben wir allein 1 000 Zollbeamte aufgeboten, und etwa 2 500 bei der Bundesanstalt für Arbeit Beschäftigte haben schon jetzt begonnen in Deutschland flächendeckend, insbesondere in den großen Baubereichen, zu kontrollieren, damit das Gesetz nicht leerläuft. Das ist ganz wichtig; das wollte ich an dieser Stelle noch einmal sagen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Horst Günther, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Bitte schön, ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, halten Sie es für eine Vorbereitung auf dieses Gesetz, wenn die Bundesregierung noch nicht einmal in der Lage ist, den zuständigen Kontrollbehörden zu sagen, wie viele Firmen insgesamt auf den Baustellen des Bundes in Berlin eingesetzt sind, wie viele aus dem Ausland oder aus dem EU-Bereich kommen, wie viele Arbeitnehmer aus den verschiedenen Bereichen kommen? Können Sie mir sagen, wie - wenn die Bundesregierung unfähig ist, den Kontrollstellen überhaupt diese Angaben zu machen - ein Gesetz greifen soll, welches voraussetzt, daß auch die Sozialkassen und die Bundesanstalt für Arbeit konkret kontrollieren können, wie dieses Gesetz ernsthaft umgesetzt werden kann, oder würden Sie mir nicht zustimmen, daß dies ein Zeichen dafür ist, daß man an einer wirklichen Umsetzung gar nicht interessiert ist?

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Das letzte muß ich zurückweisen, Kollege Büttner. Das ist nun wirklich hanebüchen, was Sie hier erzählen. Das ist wirklich hanebüchen. ({0}) Wir kontrollieren mit immer mehr Personaleinsatz erfolgreich die Baustellen in Deutschland, und Sie sagen, wir hätten an einer Umsetzung kein Interesse. Das ist nun wirklich hanebüchen. Reden Sie doch nicht solchen Unfug. Im übrigen will ich Ihnen sagen: Wenn wir wüßten, was auf den Baustellen passiert, brauchten wir nicht zu kontrollieren. Das ist die Antwort auf Ihre Frage. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen auf Drucksache 13/4888. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/6539 Nr. 1, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 13/4888 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen auf Drucksache 13/5419. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/6539 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung auch hierüber die weitere Beratung. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Richtlinienvorschlag der Europäischen Union über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. Das ist die Drucksache 13/6539 Nr. 2. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Christel Hanewinckel, Ulla Schmidt ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung der Beschäftigung in privaten Haushalten durch Dienstleistungsgutscheine und Dienstleistungsagenturen - Drucksache 13/5135 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Ottmar Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Binsenweisheit, die man nicht häufig genug wiederholen kann, daß es keinen Königsweg zu einer nachhaltigen Verringerung der dramatisch hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland gibt. Selbst der Bundeswirtschaftsminister hat gestern in der Aktuellen Stunde darauf hingewiesen, daß wirtschaftliches Wachstum allein nicht ausreichen würde, die Arbeitslosigkeit in dem notwendigen Maße zurückzuführen. Die Frage wäre an die Bundesregierung, an den Wirtschaftsminister und den Arbeitsminister, zu stellen, mit welchen Konzepten die Bundesregierung die Arbeitslosigkeit zurückführen will, nachdem alle bisherigen Konzepte kläglich gescheitert sind. Sie haben die Kürzungsgesetze des vergangenen Jahres im wesentlichen damit begründet, daß mit den sich daraus ergebenden Effekten die Arbeitslosigkeit nachhaltig zurückgeführt werden sollte. Die Prognosen, die wir für das nächste Jahr gehört haben, lauten allesamt, daß die Arbeitslosigkeit im Jahr 1997 weiter steigen wird. Insoweit wäre es höchste Zeit, daß Ihr Kurs grundlegend korrigiert wird. Wir wissen, daß ein breites Bündel von verschiedenen Maßnahmen notwendig ist, um Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Wir brauchen eine andere Verteilung von Arbeit. Wir brauchen bei dramatisch hoher Arbeitslosigkeit einen offensiven Beitrag der Arbeitsmarktpolitik. Sie betreiben das Gegenteil. Wir brauchen die Erschließung neuer Beschäftigungsfelder. Der Vorschlag, den die SPD-Fraktion Ihnen in dem eben genannten Antrag macht, läuft darauf hinaus, ein neues Beschäftigungsfeld im Bereich der häuslichen Dienstleistungen zu erschließen. Wir hatten bereits in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, daß beruflich organisierte, konsumorientierte Dienstleistungen und damit verbundene Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland, aber auch weltweit in den Industrieländern deutlich zugenommen haben. Bei steigenden Einkommen wurde ein immer größerer Teil des Einkommens für solche Dienstleistungen und die damit verbundenen positiven Beschäftigungseffekte aufgewendet. In diesem Zusammenhang treten auch private Haushalte seit geraumer Zeit in immer breiterem Umfang als Nachfrager von haushaltsbezogenen Dienstleistungen auf. Diese Entwicklung wird gefördert von Aspekten des sozialen Wandels, wie zum Beispiel der häufigeren Erwerbstätigkeit von Müttern, dem steigenden Anteil Alleinerziehender oder etwa dem ebenfalls steigenden Anteil alleinlebender älterer Männer und Frauen in Deutschland. Andererseits liegt es auf der Hand, daß die Einkommen dieser Haushalte in der Regel kaum ausreichen, um damit reguläre Arbeit im Bereich der häuslichen Dienstleistungen zu finanzieren. Auch die für Privatpersonen nur schwer zugänglichen Arbeitgeberpflichten, die mit der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbunden sind, stellen ein ernstes Hindernis für mehr reguläre Beschäftigung dar. Der entscheidende Gesichtspunkt, auf den es mir ankommt, ist also der, ob im Bereich der häuslichen Dienstleistungen reguläre Arbeitsplätze in beachtlichem Umfang entstehen oder ob der graue Arbeitsmarkt bzw. der schwarze Arbeitsmarkt jenseits sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse weiter expandiert. Das ist nicht eine Frage, die nur nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten entschieden wird, sondern es ist eine Frage, die im wesentlichen auch durch politisch zu setzende Rahmenbedingungen beeinflußt und im Ergebnis entschieden wird. Ich glaube, auf dieser Ebene besteht zwischen allen Fraktionen des Hauses Konsens, daß zur Erschließung des Privathaushalts als Beschäftigungsfeld ein politischer, ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Dies erfolgt eben nicht nach rein ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Allerdings liegen dem Haus inzwischen zwei völlig unterschiedliche Konzepte für mehr Beschäftigung vor. Auf der einen Seite hat die Bundesregierung bereits im Jahr 1990 einen Steuerfreibetrag von damals 12 000 DM pro Jahr eingeführt, der von Personen mit aufsichtsbedürftigen Kindern im Haushalt in Anspruch genommen werden konnte, wenn eine Haushaltshilfe sozialversicherungspflichtig beschäftigt worden ist. Die Möglichkeit, die Steuerbemessungsgrundlage um den entsprechenden Betrag abzusenken, wurde im Jahressteuergesetz 1997 erweitert: Der Freibetrag sollte auf 24 000 DM verdoppelt werden. Die Voraussetzung aufsichtsbedürftiger Kinder entfiel. Im Vermittlungsausschuß wurde dann im Kompromißwege ein Steuerfreibetrag von 18 000 DM vereinbart; das ist die geltende Regelung. Wir haben diesem Kompromiß im Vermittlungsausschuß zugestimmt, weil es gar keine andere Möglichkeit gab. Man konnte sich nicht der gesamten Jahressteuergesetzgebung 1997 entziehen. Das wäre ein Drama geworden. Gleichwohl sage ich mit allem Nachdruck, daß bereits die Erfahrungen der letzten Jahre mit dem 1990 eingeführten Steuerfreibetrag zwei zentrale Nachteile aufzeigen, die uns die Zustimmung zu diesen Regelungen nicht möglich machen. Der erste zentrale Nachteil ist, daß die Regelung seit 1990 nicht nur nicht dazu geführt hat, daß es zu mehr Beschäftigung in Deutschland gekommen ist. Vielmehr weisen die Statistiken, die mir geläufig sind, aus, daß die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in den Privathaushalten zwischen 1992 und 1995 um etwa 1 500 zurückgegangen ist. Das heißt, das Kernziel, so wie es 1990 in der Regelung vom Bundesfinanzministerium und damit von der Bundesregierung begründet worden ist, für mehr Beschäftigung zu sorgen, ist verfehlt worden. ({0}) Der zweite Punkt: Wir haben es mit einer ganz erheblichen Gerechtigkeitsproblematik zu tun. Ich will auf diesen Aspekt nur mit einem Zitat von Professor Peffekoven hinweisen. Professor Peffekoven ist Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft der JohannesGutenberg-Universität in Mainz und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Er schrieb am 19. Dezember 1996, also vor wenigen Wochen, in der „Süddeutschen Zeitung", bezogen auf die Regelungen, wie sie im Vermittlungsverfahren getroffen worden sind: Von dieser Regelung - also von dem Freibetrag von 18 000 DM im Jahr profitieren in erster Linie Bezieher hoher Einkommen - und dies gleich aus zwei Gründen: Der absolute Steuervorteil steigt mit wachsendem Einkommen des Steuerpflichtigen, und den Höchstbetrag von 18 000 DM werden wohl nur Bezieher hoher Einkommen nutzen können. Dann schlußfolgert er: Das Argument, alle Steuervergünstigungen gehörten auf den Prüfstand, - dieses Argument hören wir seit Monaten pausenlos auch aus der Koalition wird man wohl nicht ernst nehmen dürfen, wenn gleichzeitig schon wieder neue geschaffen werden. Diese Kritik ist, glaube ich, einleuchtend und fundamental. ({1}) Mir sind Untersuchungen des rheinland-pfälzischen Finanzministeriums bekannt. Diese weisen aus, daß die seit 1990 gültige Regelung in aller Regel von Haushalten mit einem zu versteuernden Einkommen ab einer Jahresgröße von über 160 000 DM in Anspruch genommen worden ist. Das entspricht wiederum in aller Regel einem Bruttojahreseinkommen von deutlich über 200 000 DM. Diese Zahlen signalisieren bereits, wie ungerecht diese steuerliche Regelung ist, die seit 1990 gewirkt, keinerlei Beschäftigungseffekte erzeugt und zu nichts anderem geführt hat, als daß hochverdienende Haushalte gewissermaßen vom Bundesfinanzministerium eine Teilfinanzierung von Haushaltshilfen erhalten haben. Das kann im Ernst kein seriös zu nehmender Beitrag zur Lösung der Beschäftigungskrise in Deutschland sein. Das wird auch nicht dadurch besser, daß Sie jetzt die Beiträge verdoppeln wollen. Dagegen steht der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion. Wir haben uns im wesentlichen von folgenden Überlegungen leiten lassen: Die Kostenschere zwischen Nachfrage und Angebot muß geschlossen werden, damit die nachfragenden Haushalte ihre Dienstleistungen einerseits nicht über Schwarzarbeit decken und andererseits keine Fehlanreize zum Beispiel für ohnehin nachgefragte Luxusdienstleistungen, Mitnahmeeffekte usw. geschaffen werden. Die Nachfrage nach haushaltsbezogenen Dienstleistungen muß so gebündelt werden, daß daraus sozialversicherte und vollwertige Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Dabei müssen Berufsbilder geschaffen werden, die es den dort beschäftigten Männern und Frauen erlauben, auf ihre Leistung stolz zu sein und von der Gesellschaft respektiert zu werden. Es geht also nicht um Beschäftigungsfelder minderer Art und Güte. Es geht schon gar nicht um die Etablierung eines eventuellen Niedriglohnsektors. ({2}) - Frau Kollegin Dr. Babel, ich weiß nicht, ob Sie damit eine Zwischenfrage riskieren wollen. Wenn Sie das tun wollen, stelle ich Ihnen das gerne frei.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dann verfahren wir so. - Bitte.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das gibt Ihnen, Herr Schreiner, die Möglichkeit, sich ein bißchen zu erholen. Sie sagen, dies seien Beschäftigungsverhältnisse bzw. Arbeiten, die wir anerkennen sollten und angesichts derer wir uns hüten sollten, sie in irgendeiner Weise zu diskriminieren. Gleichwohl benutzen Sie in Ihrem Antrag das Wort „Dienstmädchenprivileg". Glauben Sie nicht, daß Sie mit einer solchen Bezeichnung - ich weiß, damit ist im Grunde ein anderer Kreis, nämlich der der Arbeitgeber, gemeint - genau diese Tätigkeit diffamieren, von der Sie gerade sagen, daß man sie nicht diffamieren sollte? ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Dr. Babel, das ist einmal wieder eines der grundlegenden Mißverständnisse, von denen Sie ohne Ende heimgesucht werden. ({0}) Mit dem Begriff „Dienstmädchenprivileg" geht es ausschließlich darum, darauf hinzuweisen, daß die steuerliche Regelung so ausgestaltet ist, daß sie eine eindeutige Privilegierung hochverdienender Haushalte ist, die sich über diese steuerliche Regelung gewissermaßen im Mitnahmeffekt häusliche Dienstleistungen verschaffen können. Genau das ist gemeint. Ihre Interpretation liegt völlig „neben der Kiste". ({1}) Das ist nicht nur so gemeint, sondern das ist auch die Wahrheit. Ich habe soeben versucht, die Zahlen der letzten Jahre deutlich zu machen, die uns aus den Statistiken vertraut sind. Sie ergeben eine eindeutige, durch nichts zu rechtfertigende Privilegierung hochvermögender Haushalte, die gewissermaßen im Mitnahmeeffekt vom Bundesfinanzministerium eine Haushaltshilfe geschenkt bekommen. Das kann im Ernst beschäftigungspolitisch keinen Sinn machen. ({2}) - Frau Präsidentin, jetzt gibt es offenkundig einen weiteren Fragebedarf. Frau Albowitz, Sie müssen den Knopf drücken, um Ihr Mikrophon einzuschalten. Wenn es rot leuchtet, können Sie sprechen. Rot mag eine Farbe sein, die Ihnen Schwierigkeiten macht, obwohl ich das angesichts Ihrer Kleidung nicht verstehen kann. ({3})

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schreiner, ich glaube überhaupt nicht, daß die Farbe Rot mir heute Schwierigkeiten macht. ({0}) - Na, na. Ich kann Ihnen den Gefallen später tun. Herr Kollege Schreiner, da Sie heute munter dabei sind, zu belehren, möchte ich Sie fragen: Wie würden Sie denn die gleiche Art von Beschäftigung - das Beschäftigungsverhältnis selber bezeichnen Sie ja nicht als diskriminierend oder stigmatisierend - in der Wirtschaft oder in der Industrie benennen? ({1})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wo ist in irgendeiner Form ein diskriminierendes Moment in der Beschäftigung? - Bei dem Begriff Dienstmädchenprivileg geht es - ich sage es noch einmal, Frau Kollegin - ausschließlich darum, den Begünstigungsvorgang des Staates an die Adresse einer hochvermögenden Haushaltsschicht sprachlich zu diskreditieren. Ich habe eben versucht, Frau Dr. Babel das in einer etwas längeren Antwort zu erklären. Wir können das vielleicht nachher jenseits der jetzigen Debatte noch einmal versuchen. Es geht nicht darum, die Tätigkeit als solche zu diskreditieren. ({0}) - Aber Entschuldigung, mir müßte einmal jemand erklären, wieso das Betreuen eines Kindes, das Teil einer häuslichen Dienstleistung ist, minderwertiger sein soll als das Zusammenschrauben eines Motors. Insoweit habe ich nicht die geringsten Schwierigkeiten, Ihnen deutlich zu machen, daß es nicht um die Diskreditierung einer Tätigkeit geht, sondern daß es mit dem eben genannten Begriff um die Diskreditierung eines steuerlichen Vorganges geht, wonach der Staat in völlig einseitiger Weise hochvermögende Haushalte begünstigt. Das ist die Absicht. ({1}) Lassen Sie mich zum Schluß darauf hinweisen, daß unser Konzept von fünf Eckpunkten ausgeht, die ich noch in aller Kürze darstellen will: Erstens. Ein hoher Beschäftigungseffekt muß erzeugt werden. Wir wollen möglichst viele Leute aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausholen - ein unerträglich hoher Sockel. Zweitens. Es müssen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit existenzsichernden Löhnen entstehen. Drittens. Die Nachfrageseite muß auf eine Weise gefördert werden, daß die Dienstleistungen auch für normalverdienende Haushalte bezahlbar gemacht werden. Viertens. Die öffentlichen Haushalte dürfen nicht zusätzlich belastet werden. Das, was an Subventionen gezahlt werden soll - das zeigt der Antrag -, soll über entsprechende Einsparungen im Bereich verminderter Arbeitslosigkeit und damit vermindert zu zahlender Lohnersatzleistungen wieder herausgeholt werden. Fünftens. Die Lösung muß insgesamt so sein, daß sie möglichst wenig bürokratisch zu möglichst wenig Aufwand führt, das heißt, sie muß einfach handhabbar sein. - Das sind die fünf zentralen Rahmenüberlegungen, die wir angestellt haben. Wir haben Ihnen dann die konkrete Ausgestaltung im Rahmen des Antrages vorgeschlagen. Ich kann Ihnen hier zusagen, daß ich zu denen gehören werde, die, sofern die eben genannten fünf Voraussetzungen erfüllt werden, sich für jedwede Lösung, auch was die Ausgestaltungsseite anbelangt, einsetzen werden. Denn es ist allerhöchste Zeit. Wenn Sie mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Ernst machen wollen, dann sind Sie herzlich eingeladen, auf der Basis dieses Antrages mit uns zusammenzuwirken. Ich bin sehr gespannt, was Sie gleich vortragen wollen. Es gibt ja auch aus einzelnen Abteilungen der Koalition, insbesondere auf Länderseite, Vorstellungen, die relativ dicht an unsere Überlegungen heranreichen. Sie sollten sich also hüten, unsere Überlegungen zu diffamieren; ({2}) sonst werde ich Ihnen im zweiten Durchgang eine ganze Reihe von Kronzeugen aus der CDU aufbieten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Maria Böhmer.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müßten wir uns freuen, daß sich die SPD endlich dazu durchgerungen hat, die Beschäftigung im privaten Haushalt zu fördern. Dafür haben Sie lange gebraucht. ({0}) Es gilt wohl der alte Grundsatz: Besser spät als nie. Es gilt jedoch auch der Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Lieber Herr Schreiner, in der Tat, Sie kommen zu spät. Seit dem 1. Januar sind die Neuregelungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen, und zwar sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, in Privathaushalten in Kraft getreten. Damit haben wir die Tür weit aufgestoßen, um in diesen Bereich endlich Bewegung zu bringen. ({1}) - Hören Sie doch einmal zu, Herr Schreiner. Ich habe immer gedacht, Sie wären besser informiert, als Sie sich heute darstellen. Wir haben gegen Ihren Widerstand - das muß ich hier klar festhalten - die steuerlichen Anreize für die Beschäftigung sozialversicherungspflichtiger Arbeitskräfte deutlich verbessert, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens. Wir haben nicht nur den Absetzungsbetrag auf 18 000 DM erhöht, sondern wir haben vor allen Dingen auch die Voraussetzungen - zwei Kinder unter 10 Jahre und pflegebedürftige oder betreuungsbedürftige Angehörige - weggenommen. Das ist der entscheidende Verbesserungspunkt in dieser Regelung. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie durch die Tatsache, daß Sie die bisherigen sozialen AnOttmar Schreiner knüpfungspunkte, die vorliegen mußten, nämlich das Vorhandensein von Kindern, aus den Regelungen herausgenommen haben, die von mir angegriffene Privilegierung hochvermögender Haushalte noch unerträglicher gemacht haben, als sie vorher bereits war? ({0})

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schreiner, ich kann Ihnen nur das eine sagen: Diese Argumentation beinhaltet eine eindeutige Schieflage. Sie versagen mit den Voraussetzungen, die Sie genannt haben, und auch denen, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, einem Großteil der Haushalte das Angebot einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit und tun allen Beschäftigten in Privathaushalten einen Tort an. ({0}) Wir haben zweitens für die privaten Arbeitgeber mit dem Haushaltsscheckverfahren eine unbürokratische Regelung zur Beschäftigung von sozialversicherungspflichtigen Haushaltskräften geschaffen. Drittens haben wir seit dem vergangenen Jahr Modellprojekte zur Erprobung von Dienstleistungszentren in Deutschland aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit gefördert, um neue Wege aus der Arbeitslosigkeit aufzuzeigen. Ich finde es ausgesprochen spannend, daß wir im innovativen Bereich gerade für den Privathaushalt vorankommen. ({1}) Viertens möchte ich sagen: Wir haben für die Haushaltskräfte in privaten Haushalten eine arbeitsrechtliche Gleichstellung geschaffen. Die schwangeren Hausangestellten verfügen jetzt endlich über den vollen Kündigungsschutz. ({2}) Dies war nur im Kontext mit den drei zuvor genannten Punkten denkbar. Frau Dobberthien, Sie brauchen sich hier nicht so sehr zu Wort zu melden. Ich kenne die Diskussionen im vergangenen und im heutigen Ausschuß für Frauen und Familie ausreichend. Ich weiß genau, wie die Dinge liegen. Wir haben heftig dafür gekämpft. Sie wissen aber auch, daß die Arbeitgeberseite immer gesagt hat: ({3}) Wir brauchen endlich die volle steuerliche Anerkennung für die Arbeit in Privathaushalten. Dann ist dies möglich. - Das haben wir erreicht. ({4}) Wir haben mit unseren Regelungen den Arbeitsplatz Privathaushalt endlich aus dem Schatten geholt. Sie haben sich immer dagegen gesträubt. Noch beim Jahressteuergesetz 1996 haben Sie gute Zeit vertan, die wir zur Schaffung von Arbeitsplätzen hätten nutzen können. Die Bundesregierung hat zügig gehandelt. Ich bin sehr dankbar, daß die Neuregelungen, nachdem sie am 1. Januar in Kraft getreten sind, so zügig umgesetzt werden konnten. Der Haushaltsscheck ist noch druckfrisch, aber schon, wie ich erfahren habe, an 56 000 Stellen verteilt worden. Er ist jedem zugänglich. Von daher haben wir eine gute Chance, daß viele Haushalte dieses neue Verfahren nutzen werden. Ich darf an dieser Stelle der Bundesregierung und insbesondere dem Bundesarbeitsministerium einen herzlichen Dank aussprechen. ({5}) Angesichts dieser neuen Ausgangssituation habe ich mich allerdings gefragt, ob es überhaupt notwendig ist, sich mit dem Vorschlag der SPD-Fraktion auseinanderzusetzen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Notwendig ist es nicht. Es ist auch nicht interessant. Aber es ist aufschlußreich. Das Konzept, das von seiten der SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt worden ist, wird von eigenen Genossinnen und Genossen heftig kritisiert. Die SPD- geführten Bundesländer und auch die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen haben davon erheblich abweichende Vorstellungen. Das hat seine Gründe. Wenn ich sehe, daß sich die AsF mittlerweile bemüht - ich kann das nur begrüßen -, das bisher auch von ihr propagierte Negativimage des Dienstmädchens zu korrigieren, muß ich feststellen: Sie sind endlich auf dem richtigen Wege. Wenn es Frau Ridder-Melchers, SPD-Ministerin in Nordrhein-Westfalen, mittlerweile geradezu peinlich ist, auf das Dienstmädchenprivileg angesprochen zu werden - Sie hat jetzt gesagt, es sei ein Dienstleistungsprivileg -, dann tut sich in den SPD-regierten Bundesländern offensichtlich allmählich mehr als in der SPD- Bundestagsfraktion. Sie treten immer auf der Stelle. Auch der Disput, den wir eben gehört haben, ist kennzeichnend. Herr Schreiner, Sie kennen überhaupt nicht den entscheidenden Punkt, auf den es ankommt. Sie blicken - wie das Kaninchen auf die Schlange - immer nur auf die Arbeitgeberseite und diffamieren mit Ihren Neidgefühlen die Betroffenen. Sie vergessen völlig die Arbeitnehmerinnen in diesem Geschäft. ({6}) Hören Sie doch endlich auf die Stimmen aus Ihren eigenen Reihen, wenn Sie schon nicht auf uns hören wollen! Lesen Sie doch einmal, was die AsF auf ihrer Konferenz in Rostock im vergangenen Jahr gefordert hat: erstens Dienstleistungsagenturen, die von allen in Anspruch genommen werden können, nicht nur, wie Sie es in Ihrem Antrag vorsehen, von Haushalten mit einem Kind unter 14 Jahren. ({7}) - Frau Dobberthien, ich schätze, Sie werden doch Ihre eigenen Beschlüsse kennen. Zweitens. Es soll ein am französischen Vorbild orientierter Haushaltsscheck vorgelegt werden. Drittens. Ich habe in den Beschlüssen der AsFKonferenz gelesen: „Die steuerliche Absetzbarkeit ist bis zu einer Obergrenze zu gewährleisten." ({8}) Machen Sie Ihren Genossinnen bei der AsF mal klar, warum Sie jetzt für ein Leistungsgesetz plädieren und nicht für die steuerliche Regelung. ({9}) - So ist es. Sie ist nicht auf der Höhe der Diskussion. Die AsF hat sich eindeutig an unseren drei Forderungen orientiert, die wir 1995 vorgestellt haben, die in das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung eingegangen und mittlerweile umgesetzt worden sind. Im Wettbewerb der Ideen haben wir mit unserem Konzept überzeugt. Die SPD-regierten Bundesländer scheren aus der Ablehnungsfront aus und springen auf den fahrenden Zug auf. Ich darf Ihnen vom Landesparteitag der SPD in Rheinland-Pfalz sagen: Dieser Landesparteitag hat im vergangenen Jahr eine massive steuerliche Förderung gefordert. Er hat festgestellt: Denn nur bei relativ großzügiger Absetzungsmöglichkeit entstehen massive Arbeitsmarkteffekte. Herr Schreiner, lassen Sie sich, wenn Sie den rheinland-pfälzischen Finanzminister schon zitieren, von Ihrem Kollegen informieren. Ich weiß, die SPD ist in der Frage gespalten. Deshalb geht es bei Ihnen auch nicht voran. Wir handeln, und wir wollen hier für Arbeitsplätze sorgen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, es ist völlig richtig von Ihnen darauf hingewiesen worden, daß es in der SPD zum Teil unterschiedliche Vorstellungen zu einzelnen Aspekten gibt. Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sowohl die CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen als auch die CDU- Landtagsfraktion in Niedersachsen Anträge in die entsprechenden Landtage eingebracht hat, die relativ dicht an dem SPD-Konzept des Deutschen Bundestages liegen?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können Sie sie ein bißchen näher beschreiben? Ich weiß, glaube ich, was Sie meinen. Aber sagen Sie es doch mal.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann es Ihnen vorlesen, wenn Sie wollen.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das muß einigermaßen im Zeitrahmen bleiben.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine längere Angelegenheit, Frau Präsidentin.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann sage ich Ihnen, um was es geht. Ich mache es gerne kurz in meiner Antwort, Herr Schreiner, und erleichtere Ihnen so das Ganze. Beide wollen Dienstleistungszentren haben. Beide wollen den Arbeitsmarkt strukturieren. ({0}) - Herr Schreiner, wir wollen hier endlich mal aufräumen mit dieser Mär von den hochverdienenden Haushalten. Der Durchschnittshaushalt, der die Leistungen von Haushaltskräften in Anspruch nimmt, hat ein Nettoeinkommen von 5 000 DM. Auch bei zwei Verdienern - gehen wir einmal von der Normalsituation in der Bundesrepublik aus - kann man nicht von dem - wie Sie sagen - „hochverdienenden Haushalt" sprechen. Es sind sehr wohl Durchschnittsverdiener, die die Masse derjenigen darstellen, die diese Leistungen in Anspruch nehmen. Denn diejenigen, die in die Kategorie „Hochverdienende " gehören, haben schon heute die Möglichkeit, als Unternehmer, als Ärzte auf andere Art und Weise Haushaltskräfte zu beschäftigen und voll von der Steuer absetzen. Wir richten uns an die Masse derjenigen, die Interesse an der Tätigkeit im Privathaushalt haben. Ich will Ihnen noch gern einiges zu Ihrem Antrag sagen; denn man soll das, was von der Opposition kommt, nicht ganz unkommentiert lassen. Mehr Beschäftigung - da stimme ich Ihnen zu - für Haushaltskräfte möchten Sie schon. Aber Sie wollen sie nur in staatlich zugelassenen Unternehmen. Was machen Sie denn mit all den selbständig tätigen Hauswirtschafterinnen oder mit den unmittelbar im Privathaushalt angestellten Kräften? Die fallen bei Ihrem Antrag alle hinten herunter. Das ist die Masse derjenigen, die im Privathaushalt tätig sind. Um die kümmern Sie sich überhaupt nicht. Dann sagen Sie: Staatliche Förderung soll schon sein, aber bitte nicht für alle. Denn aus sogenannten sozialen Erwägungen heraus beschränken Sie die finanzielle Förderung auf Haushalte mit mindestens einem Kind unter 14 Jahren oder mindestens einem älteren Menschen über 80 Jahren. Ich frage Sie: Wie wollen Sie der 75jährigen Witwe erklären, daß sie nicht in den Genuß Ihrer Fördermöglichkeiten kommt? Das sind doch willkürliche Grenzen, die Sie ziehen. Das ist weder sozial noch arbeitsmarktpolitisch vertretbar. In bezug auf die finanzielle Unterstützung erklären Sie: Ja, aber bitte nur ein bißchen. Der maximale jährliche Förderbetrag für einen Haushalt mit einem Kind, den Sie vorsehen, beträgt 1 200 DM. Wenn Sie das einmal an Hand des Betrages, den Sie für eine Arbeitsstunde ansetzen, nämlich 25 DM, umrechnen, dann kommen Sie auf 2,5 Arbeitsstunden pro Woche, für die man einen Zuschuß erhalten kann. Jetzt frage ich Sie: Was machen Sie eigentlich, wenn diese 2,5 Stunden in einem Haushalt aufgebraucht sind? Durchschnittlich beansprucht ein Haushalt 4 Arbeitsstunden. Hat die über 80 Jahre alte Dame eine 2,5-Stunden-Gutscheinhaushaltskraft, und kommt dann für die Erledigung der restlichen Arbeiten vielleicht doch noch die schwarzarbeitende Haushaltskraft alter Manier dazu? Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Das, was Sie sagen, ist doch völlig realitätsfremd. ({1}) Bei unserem Modell kommen wir beim Sonderausgabenabzug, wenn wir den gleichen Stundensatz von 25 DM Arbeitgeberkosten zugrunde legen - den Betrag halte ich für sehr hoch -, auf 15 Stunden pro Woche, die steuerlich geltend gemacht werden können. Damit sind wir viel näher an den Bedürfnissen jedes Haushalts. Genau dieses Ziel wollen wir anstreben. Wir wollen nicht, daß die Schaffung neuer Arbeitsplätze, wie wir sie jetzt zum 1. Januar eingeleitet haben, konterkariert wird. Durch Ihren Vorschlag nämlich würde die Zahl der Arbeitsplätze, die so gefördert werden könnten, auf ein Sechstel reduziert werden. Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich, eine Reduzierung auf ein Sechstel, angesichts einer Zahl von 1,9 Millionen arbeitslosen Frauen in Deutschland? ({2}) Wir wollen mehr und nicht weniger Arbeitsplätze. Wir greifen diese Innovationsaufgabe auf. ({3}) - Herr Schreiner, jetzt werden Sie ja noch erfindungsreicher. Gehen Sie einmal in eine Versammlung mit Hauswirtschafterinnen und berichten Sie mir anschließend einmal. Dann wird es ausgesprochen spannend. Was Sie von diesem Berufsstand halten, möchte ich dann einmal von diesem Kreis hören. ({4}) Wir müssen drei Hürden überwinden. Erstens. Die Nachfrage nach sozialversicherungspflichtig tätigen Haushaltskräften ist wegen der hohen Arbeitskosten bisher begrenzt. ({5}) Zweitens. Der Arbeitsmarkt Privathaushalt ist nur ungenügend strukturiert. Drittens. Es existieren in Deutschland immer noch Hemmnisse bezüglich der Inanspruchnahme und der Erbringung von personennahen Dienstleistungen. Jeder weiß: Wenn man einmal essen gehen will, dann ist das kein Problem; da gibt es keine Hemmschwelle. Die Dienstleistung, die im Restaurant erbracht wird, ist voll akzeptiert. Aber eine Haushaltskraft zu beschäftigen, damit das Essen zu Hause gekocht wird, ist den Menschen völlig fremd, und man muß erst eine Hemmschwelle überwinden. Daran können wir sehen, mit welchen Problemen wir es in Deutschland noch zu tun haben. Wir brauchen in der Tat ein neues Denken, eine veränderte Einstellung gegenüber personennahen Dienstleistungen, und wir müssen mit innovativen Ideen Strukturen aufbauen. Ich will Ihren Blick noch einmal auf die Pluspunkte lenken, die unser Gesamtkonzept zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Privathaushalten hat. Der besondere Vorteil der Neuregelung ist erstens, daß jeder, der eine Haushaltskraft bei der Steuer und bei der Sozialversicherung anmeldet, seine Aufwendungen steuerlich geltend machen kann und daß es keine Beschränkung auf einen bestimmten Kreis von Haushalten gibt. Zweitens. Ein besonderer Pluspunkt ist die Bündelung von Miniarbeitsverhältnissen, die über den Haushaltsscheck erfolgen kann. Damit wird es erstmals gelingen, mehrere Arbeitsverhältnisse unterhalb der 610-DM-Grenze, unter der Geringfügigkeitsgrenze, die eine Arbeitnehmerin hat, zusammenzuführen, so daß der einzelne Haushalt sie steuerlich geltend machen kann und für die Arbeitnehmerin der Vorteil gegeben ist: Sie kommt über die Sozialversicherungsgrenze; sie kommt in den vollen Genuß der sich daran anschließenden Möglichkeiten, gegen Alter, gegen Krankheit, gegen Pflegebedürftigkeit und gegen Arbeitslosigkeit sozial abgesichert zu sein. Wir haben auch dafür gesorgt, daß die gesamten Sozialversicherungsbeiträge von der Arbeitgeberseite übernommen werden. Das sind dicke Pluspunkte, die sich mit diesem Haushaltsscheckverfahren für die Arbeitnehmerinnen verbinden. Ich hoffe, daß möglichst viele davon Gebrauch machen. ({6}) Wenn jemand skeptisch fragt, ob die Maßnahmen überhaupt greifen, ob es hier ein hinreichendes Beschäftigungspotential gibt, so möchte ich darauf antworten: Wir haben in Deutschland 36 Millionen Haushalte, aber wir haben nur 34 000 sozialversicherungspflichtige Haushaltskräfte laut Statistik. Das entspricht umgerechnet etwa einem Promille aller Haushalte. Wenn wir das um den Faktor 10 erhöhen könnten, dann kämen wir immerhin auf 1 Prozent aller Haushalte, die eine sozialversicherungspflichtige Haushaltskraft beschäftigen würden. Das wären bereits 360 000 Arbeitsplätze. Das wäre eine enorme LeiDr. Maria Böhmer stung, wenn wir dies in unserem Land erreichen könnten. Deshalb appelliere ich an alle privaten Arbeitgeber und an die Haushaltskräfte: Nutzen Sie die neugeschaffenen Instrumente; denn es kommt auf jeden Arbeitsplatz an. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Böhmer, Sie haben eben gesagt, es gehe darum, daß wir einmal über den entscheidenden Punkt reden. Sie haben anschließend alle Elemente, die zu dieser Diskussion gehören, auf das Wunderbarste miteinander vermischt. Die entscheidenden Punkte herauszukristallisieren heißt natürlich, daß man unterscheidet. Erstens: Was ist eigentlich das grundsätzliche Gesellschaftsbild, welche Hierarchien von Arbeitsteilung kommen hier zum Tragen? Zweitens: Wie sieht es mit den Beschäftigten aus, deren Tätigkeit hier niemand diskriminiert. In dieser Richtung habe ich kein Wort gehört. Ich bin mir aber sicher, daß das so ist. Drittens: Wie ist das Ganze sinnvoll zu organisieren? Dann kommen wir zu der Frage, um die Sie sich immer herumdrücken, nämlich: Wie geht man mit den Umverteilungstatbeständen um, die in dem, was Sie im Jahressteuergesetz vorgeschlagen haben, enthalten sind? Welche Subventionen aus Steuermitteln sind eigentlich für so eine Art von Tätigkeit zu geben, und zu wessen Gunsten gibt es diese Subventionen? Daß hier eine Umverteilung bei dem, was Sie im Jahressteuergesetz gemacht haben, zugunsten derjenigen stattfindet, die relativ viel Geld haben, darum können Sie sich bei dieser ganzen Diskussion doch nicht herumdrücken. ({0}) Zum Gesellschaftsbild: Wenn sie das berühmte bißchen Haushalt nicht mehr schafft, dann hilft ihr nicht mehr der werte Gatte, sondern - vorausgesetzt, man kann es sich leisten - eine Reinigungskraft. ({1}) Meiner Zielvorstellung von Arbeitsteilung innerhalb einer Gesellschaft - ich spreche hier wohlgemerkt nicht von den besonderen persönlichen Lebenssituationen, sondern vom Gesellschaftsbild - entspricht es nicht gerade, wenn ein Teil der Menschheit - und es ist nur ein Teil - sich von dem Zwang, den eigenen Schmutz zu beseitigen, freikaufen kann und wenn der Teil der Menschheit, der mit der Beseitigung dieses Schmutzes befaßt ist, fast durchweg weiblich ist - auch weiblich bleiben wird, selbst wenn zukünftig Jobs in privaten Haushalten besser abgesichert sein sollten. ({2}) Ich bin dafür, daß auch die unbezahlte Arbeit zwischen den Geschlechtern gerechter verteilt wird, das heißt, daß auch die Männer mehr tun, als nur einmal den Teller abzuwaschen. ({3}) Die Jobs in Privathaushalten müssen besser abgesichert werden. Das ist keine Frage. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, denn Christian Morgensterns „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf" taugt einfach nicht als Rezept für Politik. Den Fehler haben nicht nur wir mehr als einmal in der Vergangenheit gemacht, weil uns etwas grundsätzlich suspekt war, meist sehr zu Recht. Ich nenne nur ein Beispiel: Leiharbeit. Wir haben uns nicht mehr damit auseinandergesetzt, wie diese denn geregelt wird. In unserem Antrag zur Abschaffung ungeschützter Beschäftigung haben wir darum Vorschläge vorgelegt, die in vielerlei Hinsicht in eine sehr ähnliche Richtung gehen wie der Antrag der SPD, der heute zur Debatte steht. Wer im Privathaushalt arbeitet, sollte das unter vernünftigen Bedingungen tun können. Das heißt, erstens legal, zweitens mit tariflicher Absicherung sowie rechtlichen Ansprüchen auf Mindeststandards und drittens sozialversichert. Denn gerade im Interesse von Frauen liegt es, eine eigenständige soziale Absicherung aufbauen zu können. In dieser Richtung hat die Mehrheit dieses Parlamentes schon viel versprochen, was sie dann nicht eingelöst hat. Wenn wir vernünftige Arbeitsbedingungen wollen, müssen wir zwei Fragen beantworten: Erstens. Wie ist das zu organisieren? Zweitens. Brauchen wir dazu finanzielle Anreize und Subventionen, und wie können diese aussehen, ohne neue Umverteilungstatbestände zu schaffen? Wenn die Dienstleistungen in Form von Pools oder Agenturen angeboten werden können, bietet das - hier sind wir mit dem SPD-Vorschlag einig - sowohl für die Beschäftigten als auch für die Kunden eine ganze Reihe von Vorteilen und damit auch Anreize, schon laufende Arbeitsverhältnisse zu legalisieren. Die zerstückelten Einzeljobs von jeweils wenigen Stunden können zu einem sozial abgesicherten Beschäftigungsverhältnis zusammengefaßt werden. Für die Kunden gibt es ein öffentlich identifizierbares Zentrum, in dem Dienstleistungen zuverlässig, zum Beispiel ohne die Probleme mit der Urlaubsvertretung, angefordert werden können. Die rot-grüne Landesregierung in NRW - sie ist nicht die einzige, das weiß ich - hat sich inzwischen für Modellprojekte entschieden, auf deren Ergebnisse wir gespannt sein können. Nicht in jeder Situation oder Region läßt sich die Bündelung von Dienstleistungsangeboten über Agenturen sinnvoll organisieren. Dienstleistungsschecks sind hier eine gute Alternative, um Beschäftigung unbürokratisch sozial abzusichern. Das kann aus meiner Sicht aber nur funktionieren, wenn gleichzeitig die 610-Mark-Jobs abgeschafft werden. In Frankreich, wo die Idee entstanden ist, gilt die Sozialversicherungspflicht ab der ersten Stunde und der ersten Mark. Ansonsten entsteht zwangsläufig ein Durcheinander, gerade dann, wenn die Dienstleistungsschecks dabei helfen sollen, mehrere Jobs von wenigen Stunden zu bündeln. Aber statt das dringende Problem der Abschaffung geringfügiger Beschäftigung endlich anzugehen, haben Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, im Jahressteuergesetz ein seltsames Konstrukt verankert, das den Namen Dienstleistungsscheck wirklich nicht mehr verdient. Statt einfache unbürokratische Lösungen schaffen Sie im wesentlichen eins, nämlich einen neuen Umverteilungstatbestand von unten nach oben. Frau Böhmer, auch Sie werden nicht bestreiten können: Ausgaben von der Steuer absetzen zu können, bevorteilt bekanntlich immer diejenigen, die viel verdienen. Die persönliche Lebenssituation - Kinder, Pflegebedürftige in der Familie - ist für Ihre Subvention nicht mehr entscheidend, sondern jeder bekommt zu der sauberen Wohnung noch ein Steuergeschenk. ({4}) Eine solche Umverteilung lehnen wir definitiv ab. Anreize zur Legalisierung bestehender Arbeitsverhältnisse und deren soziale Absicherung sind im Interesse der Beschäftigten überfällig. Aber Sie müssen sich auch den Kriterien von Verteilungsgerechtigkeit stellen. In diesem Sinne möchte ich die Vorschläge der SPD-Fraktion ausdrücklich als produktiven Beitrag zur Debatte begrüßen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Antrag vorgelegt, mit dem sie vorgibt, die Beschäftigung in privaten Haushalten fördern zu wollen. Kurz gesagt sollen private Haushalte - selbstverständlich nur bei staatlich zugelassenen Dienstleistungsagenturen - Haushaltshilfen für ausgewählte Tätigkeiten anfordern können. Die Beschäftigung wird durch eine direkte staatliche Förderung des privaten Haushalts in Höhe von 40 Prozent der Aufwendungen finanziell unterstützt. Das entspricht den Sozialabgaben von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ein Höchstbetrag von 1 200 DM im Jahr ist vorgesehen, der sich durch das Hinzukommen weiterer Kinder oder Hilfsbedürftiger um 600 DM erhöht. Dafür soll das von der SPD so bezeichnete steuerliche Dienstmädchenprivileg abgeschafft werden. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Schreiner, erlauben Sie mir, daß ich dazu noch einmal Stellung nehme. Es geht um die Frage, wie geschieht Diffamierung. Sie sagen, Sie wollen nur die Reichen diffamieren. Daran sind wir bei Ihnen gewöhnt, deshalb muß man das nicht besonders schlimm finden. Ich finde es sowieso nicht richtig, daß man Leute je nachdem, welches Einkommen sie beziehen, diffamiert. Wenn Sie aber glauben, Sie könnten in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, Sie würden die Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer in privaten Haushalten sehr wohl achten und ihre Tätigkeit dort anerkennen, während Sie nur diejenigen treffen wollen, die so reich sind, daß sie diese Arbeitskraft auch einstellen können, dann muß ich Ihnen schlichtweg widersprechen. Es ist nicht so. Mit dem schrecklichen Wort „Dienstmädchenprivileg" haben Sie diese Dienstleistungen diffamiert. Es muß uns in dieser Debatte wenigstens endlich gelingen zu sagen: Das ist eine wichtige Aufgabe, eine wichtige Arbeit. Es ist nicht nur Schmutz wegmachen. Ich bin von Beruf Hausfrau; das steht im Handbuch des Deutschen Bundestages. Ich bin in dieser Frage also eine Fachfrau. Einen Haushalt zu führen bedeutet mehr als Wegmachen von Schmutz. ({0}) Es bedeutet Planung, Überlegung und Organisation. Wer jemand in einem Haushalt beschäftigt, der diese Aufgaben übernimmt, der ist wirklich tief getroffen, wenn Sie das so darstellen, Frau Buntenbach und Herr Schreiner. Das ist nicht in Ordnung. Deswegen bin ich der Meinung, Sie sollten sich von diesem Wort trennen. Sie können immer noch sagen, daß Sie die Reichen nicht so gut finden wie die Armen. Aber dieses Wort diffamiert in der Tat die dort Angestellten. ({1}) Meine Damen und Herren, jetzt kommt einmal etwas Positives über Sie: Die Idee der Dienstleistungsagentur ist an sich nicht schlecht. Im Grunde handelt es sich um eine versteckte Form der Zeitarbeit, von der wir Liberale seit eh und je Beschäftigungsimpulse erwarten. ({2}) Warum allerdings dürfen nur staatlich zugelassene Dienstleistungsagenturen förderfähige Arbeitnehmer vermitteln? Warum muß die Zulassung alle zwei Jahre mit bürokratischem Aufwand wiederholt werden? Es entspricht Ihrer Grundauffassung von Bürokratieabbau, daß Sie sich die Organisation so vorstellen. Wir sind der Ansicht: Wir brauchen jeden Arbeitsplatz in privaten Haushalten. ({3}) Ich sehe im Interesse der Arbeitslosen überhaupt keine Notwendigkeit, die Förderfähigkeit einzuschränken. Ich vermute, im Grunde sitzt bei Ihnen doch noch eine tiefere Abneigung gegen das, was Sie als Dienstmädchenprivileg bezeichnen. ({4}) Die Koalition hat mit dem Jahressteuergesetz hier einen richtigen Weg eingeschlagen. Sie hat einen sehr einfachen Weg gewählt, indem man alle einschränkenden Bedingungen weggeräumt hat und indem man mit dem Scheck, den das BMA dankenswerterweise entwickelt hat, ein wirklich sehr gutes Verfahren gefunden hat. Damit verknüpft die Koalition in der Tat die Hoffnung, daß sich die Arbeitsmöglichkeiten in Haushalten kräftig ausweiten. Der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion geht nun den umgekehrten Weg. Nicht nur, daß sich der Privathaushalt zunächst einmal auf die Suche nach einer staatlich geprüften, alle zwei Jahre neu zugelassenen Agentur machen muß, um die Fördermittel zu bekommen, nein, im Haushalt muß es mindestens ein Kind unter 14 Jahren oder einen Greis oder eine Greisin über 80 Jahren geben. Selbst wenn Sie das Glück haben, einen Senior in dem entsprechenden Alter im Haushalt zu haben, so müssen Sie darauf achten, daß es eine rüstige Greisin oder ein rüstiger Greis ist; denn wenn der Senior pflegebedürftig ist und Leistungen von der Pflegeversicherung bekommt, dann darf er wiederum nicht über die Dienstleistungsagentur gefördert werden. Warum also der rüstige und kaum betreuungsbedürftige Senior den Fluß von Fördermitteln auslöst, das bleibt Ihr Geheimnis. Vor lauter Regularien verliert man den Blick dafür, worum es eigentlich geht. Arbeitslosen wollen wir in Privathaushalten eine Stelle verschaffen. Aus Ihrem Antrag spricht nur das Mißtrauen gegenüber der Beschäftigung in einem Privathaushalt. ({5}) ({6}) Und wie finanziert sich der Antrag der SPD? Wie immer durch sich selbst. ({7}) Rund 720 000 neue Arbeitsplätze - an diese Zahl werden wir Sie erinnern - sollen entstehen. Damit werden die notwendigen Mittel in die Kassen von Fiskus und sozialen Sicherungssystemen gespült. Bei künftigen Diskussionen werden wir darauf zurückkommen. Natürlich wird die geringfügige Beschäftigung abgeschafft. Es ist auch nicht so überraschend neu, daß Sie sich davon große Impulse erhoffen. Wir können nur sagen, daß die F.D.P. auch hier Widerstand leisten wird. Denn solange wir die Arbeit in Deutschland so teuer machen, wie wir sie machen, so hohe Abgaben, so hohe Sozialbeiträge erheben, läßt es sich nicht verantworten, daß wir die 610-DM-Verträge abschaffen. Wir sind für ihre Beibehaltung. Dieser Nebenzweck Ihres Antrags ist vielleicht sogar einer der Hauptzwecke. Ich bedanke mich. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk, PDS.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir bei diesem Tagesordnungspunkt zu besichtigen haben, ist im Grundsätzlichen eine große Koalition zwischen der SPD und der CDU. Nicht nur die Herren Rexrodt und Blüm, sondern nun auch die Arbeitsmarktexperten der SPD, leider auch von den Frauenpolitikerinnen flankiert, sehen in den Privathaushalten massenhaft zukunftsträchtige Arbeitsplätze. Die SPD schreibt in ihrem Antrag, daß sie 720 000 Vollzeitarbeitsplätze kommen sieht. Nun muß man dazu aber sagen, daß diese wahrhaft beeindrukkende Zahl auf einer abenteuerlichen Rechnung beruht. Es wird nämlich einfach die Zahl der Haushalte mit Kindern unter 14 bzw. mit alten Menschen über 80 Jahren addiert und dann ganz verwegen kalkuliert, daß 13 dieser Haushalte jeweils eine Vollzeitstelle finanzieren können. Aber entscheidend ist doch nicht allein die Zahl der Haushalte. Entscheidend ist vielmehr das Interesse dieser Haushalte an privaten Dienstleistungen. Das kann man nicht per se voraussetzen. Und entscheidend ist vor allem auch die Frage, ob sie es finanzieren können. Die SPD schlägt nun vor, den genannten Haushalten 40 Prozent der Aufwendungen bis zu einer Höhe von 1200 DM jährlich über Dienstleistungsgutscheine zu erstatten, wenn sie sich wegen einer Putzoder Kinderfrau an eine Dienstleistungsagentur wenden. Die Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieser Subvention ist jedoch, daß der nachfragende Haushalt die verbleibenden Kosten überhaupt aufwenden kann. Das sind immerhin 1 800 DM pro Jahr, 150 DM im Monat oder eben 15 DM die Stunde. Da frage ich Sie, meine Damen und Herren: Woher soll zum Beispiel die alleinerziehende Verkäuferin, die abends wegen der verlängerten Öffnungszeiten eine Kinderbetreuung braucht, dieses Geld hernehmen? Was da so sozial daherkommt, zielt also auf die Klientel, die einer Berliner Studie zufolge schon heute zu den hauptsächlichen Nachfragem nach haushaltsbezogenen Dienstleistungen gehört: auf den sogenannten Doppelverdienerhaushalt, für den Geld gegenüber gewonnener Freizeit eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der Großteil der Menschen, die solche Dienstleistungen tatsächlich benötigen, kann an dem SPD-Modell nicht partizipieren. Der Arbeitsplatzeffekt des SPD-Konzepts der Dienstleistungsagenturen wird somit marginal sein. Das wird auch nicht dazu führen - Sie sollten hier wirklich keine Illusionen in die Welt setzen -, daß geChristina Schenk ringfügige Beschäftigungen und Schwarzarbeit massenhaft in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisses umgewandelt werden. Der graue Markt an ungeschützter und illegaler Beschäftigung - das muß man auch noch einmal deutlich sagen - existiert ja gerade deswegen, weil die Bundesregierung an einem Familienmodell festhält, das Männer in der Ernährerrolle und Frauen in der der Hausfrau und Mitverdienerin sieht. Daran hat das Ehegattensplitting einen bedeutenden Anteil und vor allen Dingen die Steuerklasse V, mit der erhebliche Teile des Einkommens des geringer verdienenden Ehepartners, eben meistens der Ehefrau, weggesteuert werden. Das werden Sie nicht bestreiten können, Frau Böhmer. Die kostenfreie Mitversicherung der Ehefrau in der Krankenkasse und die vom Einkommen des Ehemannes abgeleiteten Rentenansprüche animieren doch Frauen geradezu, auf die Erarbeitung eigener Absicherungen zu verzichten und allenfalls einen Dazuverdienst anzunehmen. Da sind eben die üblichen 15 DM bis 20 DM bar auf die Hand wesentlich attraktiver als die 11,20 DM netto, die zum Beispiel die Beschäftigten einer Bochumer Dienstleistungsagentur künftig erhalten sollen. Das oftmals gegenseitige Einverständnis der Arbeit gebenden Privathaushalte einerseits und der Haushaltshilfen andererseits besteht doch gerade darin, daß sich Schwarzarbeit bzw. sozialversicherungsfreie Tätigkeit für beide lohnen, weil Beiträge und Steuern gespart werden. Viele ausländische Frauen - das möchte ich auch ganz klar sagen -, die auf Grund der diskriminierenden rechtlichen Bestimmungen oftmals illegal, also ohne Aufenthalts- und/ oder Arbeitserlaubnis in diesem Bereich tätig und auch darauf angewiesen sind, haben sowieso keine andere Wahl. Solange diese Rahmenbedingungen nicht verändert werden, greift das Konzept der Dienstleistungsagenturen nur bei wohlsituierten Haushalten, die bereit sind, für die gehobenen Dienstleistungen ihrer qualifizierten deutschen „Perle" etwas mehr auf den Tisch zu legen. Es geht hier nicht grundsätzlich um die Ablehnung von haushaltsnahen Dienstleistungen oder von Dienstleistungsagenturen. Es geht nur darum, daß keine Steuergelder als Subvention für gut verdienende Leute ausgegeben werden; denn das bringt keine Arbeitsplatzeffekte, es ist sozial ungerecht und verfestigt eine patriarchale Arbeitsteilung. Zu dem letzten möchte ich noch etwas sagen - ich halte das für einen außerordentlich wichtigen Aspekt -: Meine Damen und Herren von der SPD, mit einer Strategie, die Beschäftigung in Privathaushalten ausbauen will, schreiben Sie die herrschenden Normen der Arbeitswelt und die patriarchale Arbeitsteilung fest. Sie legitimieren die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in eine sogenannte Leistungselite einerseits und eine moderne Dienstbotinnenklasse andererseits. Sie ignorieren die Vorschläge zur Lösung des Vereinbarkeitsdilemmas, die im Westen seit mindestens einem Jahrzehnt auf dem Tisch liegen. Die SPD verhindert damit - leider in trauter Gemeinsamkeit mit der Koalition - tragfähige Perspektiven für den dringend notwendigen Umbau der Arbeitsgesellschaft. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther.

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein Fortschritt, wenn die SPD auf einen fahrenden Zug aufspringt. Aber sie wendet wieder die falschen Mittel an. ({0}) Wer soll eigentlich Menschen im Haushalt beschäftigen, wenn nicht diejenigen, die sich das auch leisten können? Ich vermute, daß sich ein Sozialhilfeempfänger oder ein Bezieher einer kleinen Rente das nicht leisten kann. Es sind - Kollege Schreiner, darüber sollten wir gemeinsam nachdenken - in der Tat diejenigen, die über genügend Einkommen verfügen, um Arbeitskräfte zu beschäftigen. Das ist wie in einer normalen Firma auch. ({1}) - Frau Buntenbach, auch eine Firma, die schlechtsteht, beschäftigt wenige Leute, und eine Firma, die gutsteht und gut verdient, beschäftigt viele. Da kann man doch nicht von Privileg sprechen. ({2}) Das ist doch der klare Sachverhalt, der auch hier vorliegt. Insoweit ist der Haushalt mit einem Betrieb gleichzusetzen, der jemand beschäftigt. Da ist es mir doch wirklich - ich hätte fast ein Wort gesagt - egal, wieviel Geld derjenige verdient, Hauptsache genügend, um Beschäftigung zu schaffen. Darauf kommt es an und nicht darauf, Privilegien zu sichern. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Aber selbstverständlich.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich völlig anderer Meinung bin, nämlich der Meinung, daß ich diejenigen Haushalte, die heute Haushaltshilfen zu Schwarzmarktpreisen bezahlen, in eine Lage versetzen will, sozialversicherungspflichtige Dienstleistungen zu einem Preis nachfragen zu können, der nicht teurer ist als der gegenwärtige schwarze Preis? Die Kernidee ist die Legalisierung des grauen Arbeitsmarktes. Das geht nur, wenn ich eine Konzeption entwickle, die nicht Hochverdienende privilegiert - das machen Sie in verstärktem Maße -, sondern jeden Normalverdiener in die Lage versetzt, zumindest begrenzt solche Dienstleistungen nachfragen zu können, beispielsweise auch eine normalverdienende alleinerziehende Mutter, die sich für ein paar Abendstunden freimachen und eine entsprechende Kinderbetreuung einkaufen will.

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Die Beispiele, die Sie nennen, sind nach unserem Modell alle möglich. Daß Sie eine andere Auffassung haben, haben Sie eben dargelegt. Deshalb habe ich Sie noch einmal angesprochen und gesagt: Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, einen Weg zu gehen, den wir wollen - die Förderinstrumente werden ja verbessert -, so daß auch diejenigen, die sich das vielleicht noch nicht leisten können, in Zukunft eine solche Leistung in Anspruch nehmen können. Wir brauchen ein Förderinstrumentarium. Wenn wir unsere Situation mit der in den USA vergleichen, stellen wir fest, daß in Deutschland 6 Millionen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor fehlen. Die Erschließung von Arbeitsplatzpotentialen im Dienstleistungsbereich ist daher in der Tat ein strategischer Ansatz für mehr Beschäftigung. Die Koalitionsfraktionen haben bereits im November 1994 vorgesehen, daß private Haushalte verstärkt für den regulären Arbeitsmarkt und für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gewonnen werden sollen. Sie haben dabei festgelegt, daß den Haushalten die Wahrnehmung der Arbeitgeberfunktion durch den Abbau bürokratischer Hürden erleichtert werden soll. Schon damals haben wir bekundet, daß die steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten zu erweitern und zu verbessern sind, was wir jetzt auch getan haben. Die SPD ist erst später, auf ihrem rheinland-pfälzischen Landesparteitag im Januar 1996 - da hatten wir unsere Vorstellungen längst auf den Weg gebracht -, auch auf die Idee gekommen, Dienstleistungsagenturen für Privathaushalte zu fördern. Der letztlich eingebrachte Antrag vom Juni 1996 ist jetzt zu behandeln. Für uns standen zur Verwirklichung unserer Zielsetzung, zusätzliche Arbeitsplätze im Privathaushalt zu schaffen, zwei Wege offen: zum einen die Förderung der unmittelbaren Anstellung von Arbeitskräften in Privathaushalten und zum anderen die Förderung haushaltsbezogener Dienste, die bei einem Dienstleistungszentrum oder einer Dienstleistungsagentur abgerufen werden können. Wir haben nun für beides die notwendigen Schritte eingeleitet. Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1997 ein Haushaltsscheckverfahren eingeführt und die steuerliche Abzugsfähigkeit verbessert. Die SPD hat - ich muß es noch einmal sagen - den Sprung nicht gewagt, sich von dem von ihr verteufelten sogenannten Dienstmädchenprivileg zu lösen. Ich glaube, es liegt auch im Interesse der Beschäftigten, Kollege Schreiner, wenn wir das altmodische Wort Dienstmädchen streichen. Es paßt eigentlich auch gar nicht zu Ihnen. Ich verstehe gar nicht, wieso Sie immer vom Dienstmädchen sprechen. ({0}) Ich sehe darin langsam eine gewisse Diskriminierung. Es können auch Männer sein, die beschäftigt werden. Wollen Sie dann Dienstjungen sagen, oder was wollen Sie dann sagen? ({1}) Wir haben einschlägige Begriffe für Haushaltshilfen jeder Art. Insoweit ist dies längst überholt. In Ihren eigenen Reihen gibt es auch einige vernünftige Kollegen, die in unsere Richtung gehen wollen. Mit Ihrem Antrag beschreiten Sie einen Weg, der aus drei Gründen nicht zum Ziel führen kann. Erstens. Mit Ihrer Voraussetzung, nur Haushalte mit Kindern bis 14 Jahren oder sehr alten Personen zu fördern, schränken Sie die Zahl der privaten Haushalte, die sich über Dienstleistungsgutscheine und Dienstleistungsagenturen Leistungen erbringen lassen sollen, in völlig unnötiger Weise ein. Die Bundesregierung ist mit ihrem Jahressteuergesetz gerade den umgekehrten Weg gegangen. Zweitens. Der von Ihnen genannte Höchstbetrag von 1 200 DM Förderung im Jahr reicht bei weitem nicht aus, um die Nachfrage nach Dienstleistungen durch die privaten Haushalte zu befriedigen. Denn Ihr Antrag läuft darauf hinaus, daß eine Förderung lediglich für etwa zwei bis knapp drei Stunden pro Woche möglich sein wird. Das bringt kaum zusätzliche Beschäftigung. Ich glaube, auch die Kollegin Böhmer hat schon auf diesen Sachverhalt hingewiesen. ({2}) Drittens. Sie schlagen außerdem ein neues Leistungsgesetz zu einer Zeit vor, in der der Bundeshaushalt - wie Sie selber wissen und immer beklagen - stark belastet ist und das nicht tragen kann. Auch die von Ihnen behauptete Kostenneutralität ist in vielen Punkten zu bestreiten. So wird es jedenfalls nicht möglich sein und nicht in allen Fällen gelingen, arbeitslose Leistungsbezieher in entsprechende Beschäftigung zu bringen. Auch wird die von Ihnen erwähnte Lohnersatzleistung meines Erachtens betragsmäßig zu hoch angesetzt. Seit dem 1. Januar - dem Inkrafttreten des Jahressteuergesetzes 1997 - können pro Haushalt bis zu 18 000 DM Personalkosten für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Jahr als Sonderausgaben bei der Einkommensteuererklärung geltend gemacht werden. Dieser Steuervorteil kann seit diesem Jahr von allen Privathaushalten genutzt werden. Die bisherigen Einschränkungen sind, wie gesagt, entfallen. Darauf muß man immer wieder hinweisen, da viele nur die alte Gesetzgebung kennen. Darüber hinaus bringt das neue Haushaltsscheckverfahren für private Arbeitgeber entscheidende Vereinfachungen. Die Krankenkassen berechnen die Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung und ziehen sie auf Grund der erteilten Einzugsermächtigung vom Konto des Arbeitgebers ein. Auch erfolgt von dort die Meldung bei der Unfallversicherung. Die entsprechenden Schecks liegen inzwischen bundesweit bei Krankenkassen, Arbeitsämtern, Banken und Sparkassen aus. Wer jemanden im Privathaushalt regelmäßig beschäftigt, wird noch weiter entlastet. Er braucht nur zu Anfang der Beschäftigung und dann erst wieder bei Lohnerhöhungen oder Änderung der Stundenzahl eine Meldung abzugeben. Auf diese Weise wird auch das sozialversicherungsrechtliche Meldeverfahren entscheidend vereinfacht. Die Angaben, die auf dem sogenannten Scheck zu machen sind, umfassen nur das Notwendigste, um die Krankenkassen in die Lage zu versetzen, tätig zu werden. Das neue Verfahren und die steuerliche Entlastung fördern die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei hauswirtschaftlichen Dienstleistungen. Das hilft den Familien mit Kindern, den berufstätigen Alleinerziehenden, den immer zahlreicher werdenden Älteren, die notwendige Hilfe aus der eigenen Familie nicht erhalten können, sowie erwerbstätigen Ehepaaren. Es sind vor allem Frauen, deren sozialer Schutz vor allem im Alter ausgebaut wird. Denn sowohl durch das Haushaltsscheckverfahren als auch durch die Beschäftigung in Dienstleistungszentren wird die sogenannte Poolbildung, also das Zusammenführen mehrerer für sich jeweils geringfügiger Tätigkeiten, erleichtert. Auch darauf hat die Kollegin Böhmer, schon hingewiesen; ich sage es trotzdem noch einmal. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, daß sie eine unwahrscheinliche Kämpferin gerade für diese Dienstleistungszentren und die angesprochenen Verbesserungen war. Das muß man wirklich einmal sagen; ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit. ({3}) Zusätzlich zu der Einführung des Haushaltsscheckverfahrens fördern wir ab 1996 für drei Jahre drei Dienstleistungsagenturen aus dem BMA-Titel „Erprobung neuer Wege in der Arbeitsmarktpolitik". Es handelt sich dabei um Projekte in den Arbeitsämtern Ludwigshafen - mit dem Sitz des Projektes in Frankenthal -, Fulda und Traunstein. Mit diesen Zentren wollen wir erproben, wie die Nachfrage nach entsprechenden Dienstleistungen für den privaten Haushalt am Markt einzuschätzen ist. Die bereits geförderten Projekte haben inzwischen eine Art Pilotfunktion übernommen. Weitere Dienstleistungszentren können auch ohne die Förderung des BMA entstehen und sind bereits entstanden. Wir wissen aus entsprechenden Anfragen bei unserem Ministerium, den Arbeitsämtern bzw. der Bundesanstalt für Arbeit, daß ein großes Interesse an der Gründung solcher Dienstleistungszentren besteht. Bemerkenswert ist auch, meine Kolleginnen und Kollegen, daß die SPD-geführte Landesregierung von Nordrhein-Westfalen diesen Weg beschritten hat und ein Modell in Bochum mit insgesamt 1,5 Millionen DM über drei Jahre fördert. Die in den Dienstleistungszentren beschäftigten Personen sollen auch - soweit erforderlich - entsprechend qualifiziert werden. Berufsbegleitende Weiterbildungsangebote sollen bereits vorhandene Qualifikationen aktualisieren. Hierbei wird auf bereits bestehende Berufsbilder zurückgegriffen. Die Forderung im SPD-Antrag nach einem neuen anerkannten Ausbildungsberuf ist insofern überflüssig, als wir hier den Beruf der Hauswirtschafterin bzw. des Hauswirtschafters und ab dem 1. Januar 1997 zusätzlich noch den neuen Fortbildungsberuf der geprüften Fachhauswirtschafterin haben. Ihr Einsatz wird vornehmlich in Haushalten von älteren Menschen sein. Die Bundesregierung hat also entsprechende Vorsorge getroffen. Die in den Dienstleistungszentren beschäftigten Frauen können nach dem Arbeitsförderungsgesetz gefördert werden, wenn die Fördervoraussetzungen vorliegen. Hierzu brauchen wir kein neues Fördergesetz im Sinne des SPD-Antrages. Entgegen diesem Antrag halten wir auch nichts von einer besonderen Kontrolle solcher Dienstleistungszentren. Soweit sie sich als Verleiher betätigen, bedürfen sie der Erlaubniserteilung nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Im Rahmen der Erlaubniserteilung werden jedoch nur bestimmte Voraussetzungen wie zum Beispiel die Einhaltung der Arbeitsbedingungen oder die Gestaltung der Betriebsorganisation überprüft. Eine Qualitätskontrolle der Leistungserbringung, wie sie der SPD-Antrag vorsieht, würde wieder eine neue Bürokratie schaffen. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir versagen gesellschaftspolitisch, wenn es uns nicht gelingt, bei den gemeinschafts- und personenbezogenen sowie den sozialen Dienstleistungen weiterzukommen. Es bliebe dann nicht nur offenkundiger Bedarf unbefriedigt. Darüber hinaus blieben Fähigkeiten und Talente vieler Menschen, die für die Gesellschaft überaus wertvoll sind, ungenutzt. Vor diesem Hintergrund ist unsere Politik für die Erschließung des Beschäftigungsfeldes „Privater Haushalt" zu sehen. Gleichzeitig wird damit deutlich, wie abwegig es ist, im Zusammenhang mit der steuerlichen Förderung mit dem Ausdruck Dienstmädchenprivileg zu polemisieren. Ich sage noch einmal: Für uns hat Vorrang, daß die Menschen eingestellt werden. Vielen Dank. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Marliese Dobberthien, SPD-Fraktion.

Dr. Marliese Dobberthien (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den steuerpolitischen Auseinandersetzungen gestatten Sie mir noch einige frauenpolitische Anmerkungen. Wenn der Feierabend naht, freuen sich Frauen und Männer gleichermaßen auf das Ende des Arbeitsalltages. Aber was dann beginnt, ist höchst ungleich. Nehmen wir Elke und Michael: Beide sind Angestellte, beide sind ganztägig berufstätig, beide haben zwei Kinder, beide sind mit einem berufstätigen Partner verheiratet. Wenn der Feierabend naht, erwartet Michael Entspannung, ein freundliches Lächeln seiner Angetrauten, vielleicht ein kühles Bier, spannende Sportnachrichten, mehr oder minder fröhliche Kinder, nette Kumpel im Verein. Wenn Elke nach Hause kommt, erwartet sie die zweite Schicht. Sorgenvoll fragt sie sich, ob die Kinder daheim sind, ob ihre Schularbeiten ordentlich gemacht sind und wie die Wohnung aussieht. Sie muß einkaufen, aufräumen, abwaschen, saubermachen, die wichtigsten Tagesereignisse besprechen, die Mahlzeiten für den nächsten Tag vorbereiten, vielleicht den Göttergatten auch noch wegen der bösen Kollegen trösten. Tägliche Routine, bis „frau" todmüde ins Bett sinkt. Ein normaler Frauenalltag - auch noch 1997! ({0}) - Aber leider gibt es zu wenige Männer, die das gerne machen. Ständige zeitliche Überforderung, Bequemlichkeit auf Kosten der Frau und männliche Drückebergerei im Haushalt - das, lieber Kollege, was Sie mir eben zuriefen, ist Ausdruck davon - haben schon so manche Ehe gefährdet oder gar zerstört. Ich wenigstens möchte nicht, daß das „bißchen Haushalt", von dem Johanna von Koczian vor Jahren sang, zu einer Zeitbombe wird. Das bißchen Haushalt sind in der trokkenen Sprache der Statistiker 77 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit in 36 Millionen privaten deutschen Haushalten. Abhilfe böte die praktische Entlastung bei der täglichen Hausarbeit. Es gibt viele Berufstätige, die sich längst Dienstleistungen zur Erledigung der täglich anfallenden Arbeit im Haus hinzukaufen. Wo beide Elternteile berufstätig sind, wo minderjährige oder betreuungsbedürftige ältere Familienmitglieder zu Hause warten, besteht ein enormer Unterstützungsbedarf zur Bewältigung des häuslichen Alltags, bei allen kleineren und größeren Arbeiten. Wer gut verdient, leistet sich schon heute eine Haushaltshilfe. Das ist legitim, aber nicht immer legal. Schwarzarbeit ist verbreitet. In der Regel sind es Frauen, die ungemeldet, unversichert, unversteuert, mit minimalem Entgelt und ohne Sicherung bei Krankheit, Schwangerschaft und Arbeitslosigkeit im Haushalt arbeiten. Die abgelehnte Asylbewerberin, die illegale Polin, die arme geschiedene Türkin - sind sie nicht alle glücklich über die 8, 10 oder 15 Mark, bar auf die Hand, viel mehr, als sie je in ihrer Heimat verdienen könnten? Ein schlechtes Gewissen kommt nicht auf; denn schließlich ist man Weihnachten großzügig und erkundigt sich auch hin und wieder nach den Kindern. Schätzungen sprechen von 125 000 bis zu 1 Million solcher illegalen Beschäftigungsverhältnisse. Mit Versicherungskarte sind gerade 36 000 registriert. Die Legalisierung dieser prekären Arbeitsverhältnisse ist uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein wichtiges Anliegen. ({1}) Es ist nicht hinnehmbar, daß sich ausgerechnet hochvermögende Haushalte um die Sozialabgaben drükken! ({2}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen mit unserem Model der Dienstleistungsagenturen und Dienstleistungsgutscheine die Schwarzarbeit eindämmen und neue, vor allem existenzsichernde Arbeitsplätze im Haushalt mit einer ausreichenden Alterssicherung statt der Sozialhilfe im Alter schaffen. ({3}) Das auf einer französischen Idee beruhende System ist denkbar einfach und keineswegs bürokratisch. Bei den Arbeitsämtern erwerben private Arbeitgeber Dienstleistungsgutscheine, die sie bei zugelassenen Dienstleistungsagenturen einlösen können. Frau Kollegin Böhmer, es sind nicht staatliche Dienstleistungsagenturen, die uns vorschweben, sondern seriöse, geprüfte Dienstleistungsagenturen. Ich möchte bei den Dienstleistungsagenturen nicht wiederholt sehen, was ich bei den privaten sozialen Diensten erlebt habe, von denen es unseriöse zuhauf gibt. Man muß auch hier den Schutz zugunsten der Arbeitnehmer gewährleisten. Für die Gutscheine kommt eine verläßliche Haushaltshilfe ins Haus, die anteilig sozialversichert ist. Ein Verwaltungsaufwand für die Anmeldung der Haushaltshilfe entfällt für den Privathaushalt. Die Agenturen sorgen dafür, daß eine tarifliche Bezahlung gewährt wird, Weiterbildung, Urlaub, Mutterschutz möglich sind. Liebe Frau Kollegin Böhmer, nach unseren Vorstellungen können alle Haushalte diese Agenturen in Anspruch nehmen. ({4}) Sie haben unseren Antrag nicht richtig gelesen. Aber gefördert werden nur diejenigen, die einen Grund für die Förderung haben. Dafür können doch wohl nur soziale Gesichtspunkte den Ausschlag geben und nicht die Öffnung des Füllhorns für jeden. ({5}) Liegen soziale Kriterien vor, wollen wir, daß der Staat die Finanzierung unterstützt. Soziale Kriterien stellen Kindererziehung und Hilfsbedürftigkeit dar. Ausschließlich persönlicher Bedarf ist doch wohl kein soziales Kriterium. Die Details hat im übrigen mein Kollege Schreiner schon dargestellt. Wir haben errechnet, daß die öffentliche Förderung bereits dann kostenneutral wird, wenn die neu geschaffenen Arbeitsplätze zu 25 Prozent mit vormals arbeitslosen Frauen oder Männern besetzt werden. Unserem sozial orientierten Modell steht das Privilegienmodell der Koalition gegenüber. Die steuerliche Privilegierung der privaten Haushalte mit 18 000 DM, wie von der Partei der Besserverdienenden ja so erfolgreich durchgeboxt, ist für uns zutiefst unsozial und wird daher nach wie vor von uns abgelehnt. Wenn Sie, Frau Böhmer, sich Sorgen um die 80jährigen machen, weil wir jetzt nur sie erfassen, dann darf ich Sie einmal fragen, wie denn 80jährige von einem steuerlichen Vorteil von 18 000 DM profitieren können? Wessen Rente ist denn so hoch, um davon profitieren zu können? ({6}) - Aber die kommen bestimmt nicht in den Genuß von 18 000 DM steuerlicher Absetzbarkeit. Ganz gewiß nicht! In welcher Welt leben Sie eigentlich, frage ich mich. ({7}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können jedenfalls nicht nachvollziehen, daß kein Kind und kein Hilfsbedürftiger in einem Haushalt leben muß, um das Füllhorn staatlicher Leistungen für Reiche zu öffnen. Nach dem Willen dieser Koalition können sich Hochvermögende doch tatsächlich die Kosten ihrer privaten Lebensführung staatlich subventionieren lassen, und das bei leeren öffentlichen Kassen. Das ist skandalös. Nein, wir haben ein anderes Modell. Wir wollen zwar die Einstellung von Haushaltshilfen, aber es muß legal sein, ({8}) es muß vernünftig sein, es muß sich an sozialen Gesichtspunkten orientieren. Wir halten es jedenfalls für besonders geschmacklos, daß die Inanspruchnahme des Steuergeschenkes den Steuersatz des Besserverdienenden auch noch senkt, während Normalverdiener leer ausgehen. Das ist doch wohl ein Schlag ins Gesicht der sozialen Gerechtigkeit. Wo kommen wir eigentlich hin, wenn private Bequemlichkeit zu einem steuerlichen Fördertatbestand wird? ({9}) Unser Modell zielt nicht auf die Privilegierung der Besserverdienenden, sondern einzig und allein auf die arbeitsrechtliche Absicherung von Kleinarbeitsverhältnissen. Das Potential an Arbeitsplätzen liegt rein rechnerisch bei zirka 700 000 Vollzeitarbeitsplätzen. Bei einer nur zehnprozentigen Erfolgsquote könnten immerhin 70 000 neue, vollwertige Arbeitsplätze oder entsprechend mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden - gewiß ein kleiner, aber immerhin ein Beitrag zur Linderung des unerträglichen Problems der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, besonders unter den Frauen. Nein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Traumarbeitsplätze sind es nicht, die in den privaten Haushalten entstehen. Das Gehalt ist niedrig, die Aufstiegschancen sind minimal, die Isolation ist groß und unabhängiges Arbeiten schwer möglich, und die Arbeit im Haushalt ist nach wie vor unterbewertet. Vor Jahren sind wir Frauen für gutbezahlte, zukunftsorientierte Arbeitsplätze auf allen Ebenen auf die Straße gegangen. Quotenregelungen, Gleichstellungsgesetze, Frauenbeauftragte - sie sollten helfen, die nach wie vor verweigerte berufliche Gleichberechtigung von Frauen durchzusetzen. Nein, ein Traumziel von uns Frauen ist die Vermehrung von Arbeitsplätzen im Privathaushalt nicht. Doch angesichts drückender Frauenarbeitslosigkeit und illegaler Beschäftigung sind unsere Anstrengungen zur Legalisierung und Verbesserung der prekären Beschäftigungsverhältnisse insbesondere im Haushalt unverzichtbar. Wir wollen hier eine Legalisierung. Keiner Haushaltshilfe darf der sozialversicherungsrechtliche Schutz vorenthalten werden, und wo sich neue Arbeitsplätze schaffen lassen, sind sie einzurichten. Pragmatismus ist hier angesagt. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger geht es hier. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5135 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Manuel Kiper, Michaela Hustedt, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zehn-Punkte-Programm gegen Elektrosmog - Drucksache 13/3365 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Vizepräsident Hans-Ulrich Klose b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Horst Kubatschka, Michael Müller ({1}), Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Elektrosmog - Drucksachen 13/3184, 13/5256 Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Horst Kubatschka, SPD-Fraktion. ({2})

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Sokrates - das war bekanntlich kein Altbayer, Herr Kollege Feldmann - stammt die Erkenntnis: „Ich weiß, daß ich nichts weiß. " Auch auf dem Forschungsgebiet zu möglichen Gesundheitsgefährdungen durch elektromagnetische Felder ist dieser Satz weitgehend zutreffend. Die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Wirkungen elektromagnetischer Felder beleuchten nur Einzeleffekte und zeigen keine Wirkungsketten auf. Die Studien sind auf Grund unterschiedlicher Versuchsbedingungen schwer vergleichbar und teilweise auch widersprüchlich. Die Beurteilung der Gefährlichkeit elektromagnetischer Felder schwankt zwischen zwei Extremen: Einerseits werden sie als höchst gefährlich eingestuft, vergleichbar mit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters, als behauptet wurde, bei hohen Geschwindigkeiten der Eisenbahn würde den Passagieren die Lunge zerrissen werden. Andererseits gelten sie als völlig harmlos: Man hält sich sorglos in der Nähe von Hoch- und Niederfrequenzanlagen auf. Ist es eine Sorglosigkeit wie vor vielen Jahren beim Contergan? Ein Beispiel, das näherliegt: ionisierende Strahlung. Je größer die Erkenntnisse der Forschung wurden, um so mehr sanken die Grenzwerte. Werden wir bei der nichtionisierenden Strahlung etwas ähnliches erleben? Darauf gibt es Hinweise. Zum Verdacht möglicher Langzeitwirkungen niederfrequenter Felder liegen eine Reihe von epidemiologischen Untersuchungen aus den USA und aus skandinavischen Ländern vor. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen einer lang andauernden Exposition durch Magnetfelder der Stromversorgung mit niedrigen Feldstärken knapp oberhalb der üblichen Hintergrundbelastung - sie ist größer als 0,2 Mikrotesla - und dem Auftreten von Krebs, besonders Leukämie bei Kindern, her. Statistisch gesichert sind die Befunde wegen kleiner Fallzahlen nur vereinzelt, und das rechnerisch ermittelte Risiko gilt als klein einzustufen. In der internationalen wissenschaftlichen Diskussion werden die Ergebnisse dieser Studien als Verdachtsmomente, nicht jedoch als erwiesene Gesundheitsgefährdung bewertet. Dies führt zu Forderungen nach Regelungen, die diese Verdachtsmomente aufgreifen und in Vorsorgekonzepte und Vorsorgegrenzwerte für die im Alltag exponierte Bevölkerung umsetzen. Dies ist um so bedeutender, als die Menschen in ihrem Alltagsleben in zunehmendem Maße hoch- und niederfrequenten Feldern in ihrer technischen Umwelt ausgesetzt sind. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand kann unterhalb der Grenzwerte der Verordnung über elektromagnetische Felder in Höhe von 100 Mikrotesla für akute Gesundheitsschäden eine eindeutige Abgrenzung zwischen Feldstärken mit Bedeutung für ein gesundheitliches Langzeitrisiko und solchen ohne nicht vorgenommen werden. Wir wissen es eben nicht; das macht die Sache prekär. Die zentrale Frage des Vorsorgegedankens lautet daher: Wie kann man mit vernünftigem Aufwand für möglichst viele Menschen dauernde Expositionen durch niederfrequente Magnetfelder oberhalb der allgegenwärtigen zivilisatorischen Belastungen vermeiden? Die Bundesregierung muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie den Vorsorgegedanken nicht ausreichend berücksichtigt hat. ({0}) Die SPD-Bundestagsfraktion hält ein zusätzliches Vorsorgekonzept für erforderlich, um dem Verdacht der Langzeitschäden Rechnung tragen zu können. Die SPD-Umweltministerkonferenz beschloß am 20. Mai 1996, daß sie den Ansatz des Länderausschusses Immissionsschutz und der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden Medizinalbeamten befürwortet, Vorsorgeanforderungen zu ermöglichen, wenn bei Wohnungen, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, Spielplätzen oder ähnlichen Einrichtungen ein Zehntel des Grenzwertes für das Magnetfeld - er beträgt 100 Mikrotesla nach der Empfehlung der Internationalen Strahlenschutz-Assoziation - überschritten wird. Bei Neuplanungen sind für empfindliche Gruppen wie Kinder, Kranke und alte Menschen zusätzliche Mindestabstände vorzusehen. Beim Betrachten der Grenzwerte beschleicht mich der Verdacht, daß die Bundesregierung die Werte der Verordnung an der technisch bestehenden Realität ausgerichtet hat. Die Werte des Grenzwertekonzeptes der IRPA liegen wegen ihres Bezuges zu den akuten Schäden so hoch, daß für die in der öffentlichen Diskussion wesentlichen Problembereiche der Hochvoltfreileitungen - zum Beispiel mit einer Spannung von 380 kV - und der Mobilfunksendestationen praktisch keine Maßnahmen erforderlich werden. Grenzüberschreitungen sind zum Beispiel bei Transformatorstationen der Nahverkehrssysteme zu erwarten. Wir gehen mit unseren Vorsorgewerten nicht so weit wie die Fraktion der Grünen, die sich mit ihren Grenzwertforderungen auf eine noch unveröffentlichte reine Literaturstudie aus den USA beruft. Würden die Werte, die die Fraktion der Grünen vorschlägt, Gültigkeit bekommen, dürfte keine Straßenbahn mehr fahren. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert in ihrem Entschließungsantrag vielmehr ein generelles Minimierungsgebot nach dem Stand der Wissenschaft und Technik analog der Strahlenschutzverordnung. Voraussetzung dafür ist eine Intensivierung der biologischen Grundlagenforschung zur Aufklärung möglicher Wirkungsmechanismen. Dies hat übrigens auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage für erforderlich gehalten. Wir werden die diesbezüglichen Aktivitäten der Bundesregierung genau beobachten. Nach unserer Auffassung wäre es sinnvoll, einen neutralen wissenschaftlichen Beirat einzusetzen, der Forschungsschwerpunkte festlegen und entsprechende Projekte vergeben könnte. Bisher gibt es kein ausgewiesenes Forschungsprogramm eines Bundesministeriums. Auch die internationale Zusammenarbeit in der Forschung muß verstärkt werden. Solange wir noch nicht eindeutig wissen, ob wir die elektromagnetischen Felder im Hinblick auf eine mögliche Gesundheitsgefährdung schuldig oder freisprechen können, müssen wir mit Vorsorgewerten arbeiten. Dauerexpositionen der Bevölkerung sollten daher überall dort vermieden und vermindert werden, wo dies mit vertretbarem Aufwand machbar ist. Dies könnte durch planerische und technische Maßnahmen bei Neuanlagen oder wesentlichen Änderungen erfolgen. Dies gilt um so mehr, als der großflächige Einsatz von Anlagen und Geräten - und hier insbesondere der Handys - immer weiter vorangetrieben wird. Die Verordnung über elektromagnetische Felder wird nur ein erster Schritt sein. Auf der einen Seite werden die Bereiche, in denen es zu nichtionisierenden Strahlungen kommt, immer großflächiger. Das Netz der Sender wird engmaschiger. Immer mehr Freileitungen durchziehen unser Land. Kommunalpolitiker fragen: „Wie nahe dürfen wir an Freileitungen heranbauen, ohne Konsequenzen für die Bevölkerung? " Auf der anderen Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es elektrosensible Menschen, die glauben, empfindlich auf elektromagnetische Strahlungen zu reagieren. Die Forschungsergebnisse, die ich kenne, sagen mir: Es gibt diese Menschen. Wir müssen für sie vorsorgen. In der Bevölkerung gibt es teilweise Ängste. Bürgerinitiativen formieren sich; ein Sendemast für Mobilfunk kann den Frieden eines Dorfes stören. Wir müssen diese Ängste ernst nehmen. Deswegen muß die Grundlagenforschung vorangetrieben werden, und zwar flächenübergreifend. Vor allem müssen wir die Wirkungsketten verstehen lernen. Die Forschung läßt noch viele Fragen offen, die Werte klaffen stark auseinander. In der ehemaligen UdSSR galten viel niedrigere Grenzwerte für die hochfrequente Strahlung. Die Werte lagen um das Hundertfache unter denen der westlichen Länder. In der damaligen UdSSR wurde aber auch mehr Forschung betrieben als in den westlichen Ländern. In der Verordnung über elektromagnetische Felder gilt für niederfrequente Felder ein Grenzwert von 100 Mikrotesla. Ein Vorsorgewert von 10 Mikrotesla wird in unserem Antrag gefordert. In Schweden wird von einem Wert von 0,5 Mikrotesla ausgegangen. In den USA ist vor einiger Zeit in einer Studie der NCRP, der dortigen Strahlenschutzkommission, ein Wert von 0,2 Mikrotesla genannt worden; der Wert wurde von den Grünen übernommen. Ich weiß, diese Studie ist nicht autorisiert. Aber die große Bandbreite von 100 Mikrotesla bis 0,2 Mikrotesla, also ein Faktor von 500, sollte uns durchaus zu denken geben. Ich sage es noch einmal, wie schon am Anfang: Wir wissen nicht viel. Deswegen müssen wir intensiv forschen und auch Vorsorge treffen. Heute sind Zahlen genannt worden, die vielleicht eher für eine Physikvorlesung geeignet wären als für einen Bundestagsvortrag. Aber auch um diese Dinge müssen wir uns kümmern; denn es geht um die Ängste der Menschen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Klinkert.

Ulrich Klinkert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001134

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit elektromagnetischen Feldern, einem Thema, das einigermaßen physikalischen Sachverstand, aber noch sehr viel mehr Sachlichkeit erfordert, weil die Gefahr der Panikmache und der unbegründeten Technikfeindlichkeit besteht, die in Deutschland ja schon mehr als genug herrscht. ({0}) Bewußt oder unbewußt kommt der Mensch ständig mit magnetischen und elektrischen Feldern in Kontakt. Der Mensch selber funktioniert, wenn man das so sagen darf, auf der Basis dieser physikalischen Gesetze. Ein Magnetfeld, mit dem wir ständig in Berührung sind, ist das Magnetfeld der Erde. Dies ist ein statisches Magnetfeld. Ich weiß, man kann es nicht unbedingt mit den Feldern, die durch elektrischen Strom erzeugt werden, vergleichen. Immerhin aber hat das Magnetfeld der Erde eine Flußdichte von 50 Mikrotesla. Nach den Gesetzen der Physik induzieren wir in diesem Magnetfeld mit unserem Körper elektrische Feldstärken und elektrische Stromdichten in nicht unerheblicher Größenordnung. In letzter Zeit werden verstärkt Befürchtungen geäußert und Ängste geschürt, elektromagnetische Felder könnten sich nachteilig auf die menschliche Gesundheit auswirken. Diese Frage ist aber so alt wie die Entdeckung der Elektrizität selber. Allerdings - Herr Kubatschka, da haben Sie recht - ist in den letzten Jahren die Nutzung der Elektrizität drastisch angestiegen. Besonders durch die Entwicklung der elektronischen Medien, der Kommunikations- und Mobilfunktechnik kam es zu einer deutlichen Erhöhung der Erzeugung elektromagnetischer Felder. Daß darüber und über deren Auswirkungen diskutiert wird, ist verständlich und berechtigt. Angesichts von 30 000 Kilometern 380/220 kV-Verbundleitungen in unserem Land, 50 000 Kilometern 110 kV-Leitungen, 350 000 Kilometern 20/10 kV-Leitungen und 700 000 Kilometern 380 V-Ortsnetzen stellt sich natürlich die Frage der biologischen Wirkung der Elektrizität bzw. der elektromagnetischen Wellen. Die öffentliche Diskussion wird dabei oft unter dem Stichwort Elektrosmog geführt. Zusammengefaßt ist Elektrosmog nichts anderes als die Wirkung der elektromagnetischen Felder auf den Menschen. Dabei ist zwischen den hochfrequenten Feldern in einer Größenordnung von 100 Kilohertz bis 300 Gigahertz und ({1}) - richtig, Herr Lennartz - den niederfrequenten Feldern, die Frequenzen zwischen 10 Hertz und 100 Kilohertz haben und bei Hochspannungsleitungen oder beispielsweise auch bei Haushaltsgeräten auftreten, zu unterscheiden. Daneben gibt es eine ganze Reihe natürlicher Felder, etwa durch Blitzschlag oder das Erdmagnetfeld erzeugt. Wir wissen, daß sich hoch- und niederfrequente Felder selbstverständlich grundlegend in ihren Ursachen, aber auch in ihren Wirkungen auf biologische Systeme unterscheiden. Während niederfrequente Felder zumeist unerwünschte, aber nicht vermeidbare Nebeneffekte der Nutzung der Elektroenergie sind, werden hochfrequente Felder bewußt durch die Nutzung der Elektroenergie erzeugt. Magnetische Strahlen durchdringen einen Körper weitgehend ungehindert. Auch dies ist wissenschaftlich unumstritten. Sie können quasi nicht abgeschirmt werden. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob es denn sinnvoll ist, auf der Forderung zu beharren, statt Freileitungen besser Erdkabel zu verlegen. Denn die magnetische Strahlung eines zwei Meter tief verlegten Erdkabels ist allemal größer als die einer in zwölf Meter Entfernung hängenden Freileitung. Als biologische Effekte niederfrequenter Felder sind die Reizwirkungen zu nennen, die durch induzierte oder influenzierte Körperströme erzeugt werden. Bei Einhaltung der in der 26. BImSchV, der Verordnung über elektromagnetische Felder, vorgegebenen Grenzwerte ist wissenschaftlich abgesichert, daß induzierte oder influenzierte Körperströme unterhalb der Reizschwellen und auch unterhalb der natürlichen elektrischen Körperströme liegen. Die Verordnung unterscheidet bei der Festlegung, wie wir das hier genannt haben, bewußt zwischen nieder- und hochfrequenten Feldern. Die Grenzwerte für hochfrequente Felder stellen sicher, daß die von der Strahlenschutzkommission und auch der Internationalen Strahlenschutzvereinigung vorgegebenen spezifischen Absorptionswerte von 0,8 Watt pro Kilogramm Körpergewicht eingehalten werden. Am 1. Januar dieses Jahres ist diese Verordnung in Kraft getreten. Sie wurde im Bundesrat in einem breiten - übrigens parteiübergreifenden - Konsens verabschiedet. Ich hoffe, daß sich dieser Konsens auf die weiteren Diskussionen der Verordnung auswirken wird. Denn wir wissen, daß sich wissenschaftliche Erkenntnisse der Zukunft auch auf die weitere Fortschreibung der Verordnung auswirken können. Die Verordnung wird deshalb laufend überprüft und bewertet werden, zum Beispiel von der Strahlenschutzkommission. Mit dieser Verordnung ist erstmals eine spezielle rechtliche Regelung zum Schutz vor nichtionisierenden Strahlen beschlossen worden. Wir haben damit auf dem Verordnungswege Neuland beschritten. Die Verordnung soll durch Vorgabe verbindlicher Maßstäbe als erstes - und Wichtigstes - Schutz- und Vorsorgemaßnahmen sicherstellen. Sie soll aber zugleich zu Verfahrensvereinfachung und zu Investitionssicherheit bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen wie der Telekommunikation, dem ÖPNV oder auch der Eisenbahn führen. - Herr Kubatschka, Sie haben völlig recht: Wenn der Grenzwert von 0,2 Mikrotesla, der von den Grünen vorgegeben wurde, umgesetzt würde, dann könnte in Deutschland keine Straßenbahn und keine E-Lok mehr fahren. ({2}) Die Immissionsgrenzwerte basieren auf Empfehlungen nationaler und internationaler Organisationen. Bereits 1991 hat sich die Strahlenschutzkommission zum Beispiel zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Mobilfunks geäußert und Empfehlungen ausgesprochen. Diese Empfehlungen haben zu einer Begrenzung der Leistungsdaten von Handys und damit auch zu einem inzwischen weltweit anerkannten Standard geführt. Trotzdem ist weiter mit neuen Erkenntnissen über die Auswirkungen der elektromagnetischen Felder auf den menschlichen Körper zu rechnen, zum Beispiel über Auswirkungen von Langzeitexpositionen auch unterhalb der Grenzwerte und eventuell durch die unterschiedliche Sensibilität betroffener Personen. Dies sind Fragen, die sich berechtigt stellen und über die mit Sachverstand und Rationalität diskutiert werden muß, die aber nicht mißbraucht werden dürfen, um Ängste zu schüren, Panik zu machen und daraus vielleicht politisches Kapital zu schlagen. Ich glaube, daß die Fragen in der Großen Anfrage der SPD durchaus rationale Ansätze in sich bergen. ({3}) Wir haben sie sehr ausführlich beantwortet, um darüber mit Ihnen weiter diskutieren zu können. Herr Lennartz, es gibt in Ihrer Fraktion Gott sei Dank viele Kollegen, die wesentlich sachlicher diskutieren können, als Sie das immer wieder demonstrieren. Der Entschließungsantrag der SPD wiederum entfernt sich teilweise von dieser Sachlichkeit. Oder würden Sie, die Sie diesen Entschließungsantrag formuliert haben, den SPD-geführten Ländern unterstellen wollen, einer Verordnung zugestimmt zu haben, die auf wissenschaftlich widersprüchlichen Untersuchungen basiert? Der Antrag der Grünen läßt die notwendige Sachlichkeit vollends vermissen; denn ohne daß man sich wissenschaftlich seriös mit den Fragen beschäftigt hat, hat man Antworten parat, die sich als unrealistische Forderungen herausstellen. Die Grünen beziehen sich auf einen Bericht des Nationalen Strahlenschutzrates der USA, der bislang nicht vorliegt und dessen angebliche Äußerungen deutlich von offiziellen Aussagen des US-amerikanischen Nationalen Forschungsrates abweichen, der kürzlich feststellte, daß wissenschaftliche Erkenntnisse keinen Hinweis auf Gesundheitsauswirkungen von in Haushalten oder ähnlichen Räumen auftretenden elektromagnetischen Feldern geben. Damit wir uns plastisch vorstellen können, welche Auswirkungen der Grenzwert der Grünen - sollte er jemals durchgesetzt werden - hätte, habe ich ein Teslameter mit in den Plenarsaal gebracht und die Flußdichte gemessen. Wenn der Grenzwert der Grünen Realität würde, dann müßte der Präsident diesen Saal unverzüglich räumen lassen; denn der Wert liegt um ein Fünffaches über dem Grenzwert der Grünen, aber um das Hundertfache unter dem Grenzwert, der in unserer Verordnung beschlossen wurde. Herzlichen Dank. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Manuel Kiper, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Manuel Kiper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002697, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist richtig, daß zum 1. Januar dieses Jahres die EMF-Verordnung in Kraft getreten ist. Ich möchte allerdings bestreiten, daß diese Verordnung dem gerecht wird, was hier von seiten des Staatssekretärs in den Raum gestellt wird, daß damit Vorsorge betrieben würde. Ich gebe gerne zu, daß durch diese Verordnung akute Schäden durch elektromagnetische Strahlung, durch elektromagnetische Felder abgewehrt werden. Es ist aber keine „Vorsorgeverordnung". Verehrte Kolleginnen und Kollegen, entgegen dem, was Kollege Kubatschka hier dargestellt hat, und auch entgegen dem, was Sie, Herr Staatssekretär, dargestellt haben, ist das Anliegen unseres Antrages nicht, den Grenzwert von 0,2 Mikrotesla überall durchzusetzen. Wir wissen sehr wohl, daß es Bereiche gibt, in denen dies wirtschaftlich überhaupt nicht vertretbar ist. ({0}) Wir formulieren ganz klar, daß dies ein Zielwert ist. Wenn Sie unseren Antrag wirklich gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, daß wir in ihm das ALARA-Prinzip - „as low as reasonably achievable" - vom amerikanischen Strahlenschutzrat übernehmen. ({1}) - Es muß wirtschaftlich vernünftig sein. Das ist das, was wir in unserem Antrag fordern. Herr Staatssekretär, Herr Kollege Kubatschka, wir fordern die Einhaltung unseres Grenzwertes insbesondere dort, wo eine besondere Gefährdung besteht, wo Kinder in Kindergärten und Schulen diesen elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind. Wir sagen: Wenn neue Masten errichtet werden, wenn Neubauten vorgenommen werden, muß dieser Grenzwert eingehalten werden. Ich möchte Ihnen sagen - das müßten Sie als Staatssekretär eigentlich wissen -: Untersuchungen haben ergeben - die Messungen stammen aus dem letzten Jahr -, daß bei 99 Prozent aller Haushalte der Wert unter 0,1 Mikrotesla liegt, so daß dieser Wert im Prinzip überall in diesem Land einhaltbar ist. Wir verlangen mit unserem Antrag, daß dieser Wert auch dort durchgesetzt wird, wo Masten errichtet werden, wo Umbauten stattfinden. Meine Damen und Herren, „Keine Hinweise auf Gesundheitsrisiko", so titelt die Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft. „Elektrosmog fördert Krebs" war hingegen die Schlagzeile der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" im Juli vergangenen Jahres. Viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande sind dadurch tatsächlich verunsichert. Ich möchte nicht zur weiteren Verunsicherung beitragen. Es ist in der Tat so, daß wir nicht mit akuten Schäden rechnen; wir ziehen durch die Lande und sagen unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern genau dies. Dennoch: Es gibt auch elektrosensible Mitbürger. Wir müssen uns darüber im klaren sein - Sie, Herr Staatssekretär, lesen sicher die Mitteilungen des Forschungszentrums Jülich und haben dann wohl auch den Bericht vom letzten Jahr gelesen -: 2 Prozent unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sind elektrosensibel. Daher müssen wir uns um diese Mitbürgerinnen und Mitbürger kümmern und für diese Personengruppe Verantwortung übernehmen. Vor allen Dingen, meine Damen und Herren: Vorsorge ist mehr als Abwehr von akuten Schäden. Vorsorge ist nötig. Wir wissen heute: Beruflich EMF-belastete Personen haben ein erhöhtes Krebsrisiko, das ungefähr doppelt so hoch ist wie bei anderen Personen. Auch bei EMF-Werten weit unter den jetzigen Grenzwerten wird das Wachstum von Krebs im Tierversuch gefördert. In Ihrem Hause, Herr Staatssekretär, werden die Forschungen von Professor Löscher an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover ernst genommen. Sie fördern sie inzwischen selber mit 400 000 DM. Die Versuche sind im November letzten Jahres bestätigt worden. Sie müssen uns wirklich Anlaß geben, anders über EMF nachzudenken und anders darüber zu reden, als Sie, Herr Staatssekretär, es gemacht haben. ({2}) Starke Sender sind nachweislich Verursacher von Befindlichkeitsstörungen, vor allem Schlafstörungen, bei Anwohnern. Die amerikanische Strahlenschutzkommission hat genau diesen Wert von 0,2 Mikrotesla als Zielwert empfohlen. Innerhalb von zehn Jahren soll er durchgesetzt werden. ({3}) Meine Damen und Herren, es verbleiben in der Tat Forschungslücken. Es wäre erfreulich, wenn die Forschungsanstrengungen in diesem Lande auf dem Sektor „Wirkungen von elektromagnetischen Feldern und Elektrosmog " ausgedehnt werden würden und dafür nicht nur 1 Million DM pro Jahr zur Verfügung gestellt werden würde. Es wäre besser, wenn nicht all die Forschungen über die Forschungsgemeinschaft Funk abgewickelt werden würden, die eine Interessengemeinschaft ist. Die Ministerin hätte vorsorgend handeln müssen. Eine Zunahme des Elektrosmogs ist mit der Verordnung, wie sie jetzt in Kraft getreten ist, programmiert. Die alten Sender der Öffentlich-Rechtlichen - wie bei Bundeswehr und anderen nichtkommerziellen Sendern - werden bei dieser Verordnung ausgenommen. Mobile Funkgeräte bleiben unberücksichtigt. Amateurfunk bleibt unberücksichtigt und wird hinsichtlich Elektrosmog nicht reguliert. Kindergärten, Schulen, Spielplätze können weiter unter Hochspannungsleitungen gebaut werden. Vorsorge im Sinne eines Minimierungsgebots unterbleibt. Die Menschen in diesem Lande werden wehrlos gemacht gegen die Sendemasten auf ihren Dächern, auf Kindergärten und Schulen. Das einzige Ergebnis dieser Verordnung ist, daß in diesem Lande mehr Rechtssicherheit gegeben wird. Es gibt aber kein Mehr an Vorsorge. Wir haben hier bereits 1995 ein Zehn-Punkte-Programm gegen Elektrosmog eingebracht. Eine Fülle von Schutzmaßnahmen wäre nötig und ohne bedeutende Mehrkosten auch durchsetzbar. Bauliche Maßnahmen an Hochspannungsleitern sind technisch machbar. Eine Minimierung der Abstrahlung bei Handys durch einen intelligenten Antennenbau ist möglich. Die Technik ist vorhanden. Einführung von vorsorgenden Zielwerten und Ausweitung der unabhängigen EMF-Forschung sind weitere Schutzmaßnahmen. Es kommt nicht von ungefähr, daß der Bundesgesundheitsminister im Jahre 1995 den Schutz besonders Betroffener mit Herzschrittmachern angemahnt hat. Selbst der Gesundheitsminister sah sich zu dieser Warnung vor Elektrosmog genötigt. Eine Vorsorgeverordnung wäre nötig gewesen. Der Elektrosmog hätte zurückgedrängt werden müssen. Ich komme zum Schluß. Das englische Desaster hinsichtlich des Rinderwahnsinns muß uns doch zu denken geben. Auch da wird immer noch geredet: Ach, die Forschungsergebnisse sind noch nicht soweit; die Ergebnisse sind widersprüchlich. Allerdings haben wir ganz bedenkliche Ergebnisse, daß diese Krankheit auf den Menschen übertragbar ist. Wir müssen aus diesen Erfahrungen lernen. Daher möchte ich Sie bitten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hier mit uns einen Vorsorgeansatz zu beschließen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Rainer Ortleb. ({0})

Prof. Dr. Rainer Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001657, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Heiterkeit mag begründet sein; denn wer im Kürschner blättern würde, könnte feststellen, daß ich im Zivilberuf als Universitätsprofessor im Fachbereich Elektrotechnik der Universität Rostock tätig bin. ({0}) Ich bin deswegen sehr dankbar, daß zahlreiche Kollegen mir ein Gefühl der Heimat vermittelt haben; denn ich kam mir vor, als wäre ich einer Reihe von Vorlesungen verschiedener Kollegen zu ein und demselben Thema - im positivsten Sinne des Wortes - ausgesetzt. ({1}) Im Ernst. Ich möchte die kurze Redezeit, die mir zur Verfügung steht, nicht nutzen, um nun unbedingt den Elektrotechnikprofessor hervorzukehren, sondern dazu, um den Blickwinkel des Laien, des Fachmanns und des Politikers zu relativieren und auch zu bewerten, wer welchen Schuh anzuziehen hat. Zunächst pflichte ich der Aussage vollkommen bei, daß der nachdenkliche Laie natürlich Gefahren dort sehen muß, wo Prozesse ablaufen, die seine Sinnesorgane nicht registrieren können. Ein ganz einfaches Beispiel: Neben mir steht ein Funkwecker, der sich jede Nacht mit seiner Zentrale verständigt, wovon ich nichts merke. Ob ich davon in Wirklichkeit später einmal irgend etwas merke, kann ich auf Grund des gegenwärtigen Wissensstandes eigentlich nicht genau sagen. ({2}) - Herr Kubatschka, das ist das Problem. ({3}) - Ich freue mich, daß wir versuchen, locker miteinander umzugehen. Das andere ist, daß ich sehr ernst nehme, daß sich Menschen, die sich tatsächlich elektrisch oder elektromagnetisch sensibler fühlen, natürlich in dieser Gesellschaft auch noch zu Hause fühlen sollen. Natürlich gibt es Psychopathen, bei denen das ein medizinisches Problem ist. Aber ich habe durchaus auch schon Post von ernstzunehmenden Leuten bekommen, die meinen, für die eine oder andere Erscheinung sensibler geworden zu sein. Ich möchte auch ein ganz anderes Beispiel anführen, nämlich: Noch streiten sich Wasserwirtschaftler, ob es Wünschelrutengänger gibt oder nicht. ({4}) Aber es gibt Leute, die in diesem Bereich nachweisbar sehr erfolgreich sind. ({5}) Irgendwie machen die das. Sie nehmen etwas auf, was der Durchschnittsmensch nicht spürt. Der Laie hat auch Grund anzunehmen, daß etwas gefährlich sein könnte, wenn bei einem ganz normalen Linienflug, ehe die Maschine startet, angesagt wird, was man alles nicht einschalten soll. Das muß ja auch seinen Grund haben. Es hat natürlich seine Berechtigung, wenn sich der nachdenkliche Laie seine Gedanken macht. ({6}) - Richtig. Deswegen kann ich jetzt zu dem Fachmann übergehen. Er muß Meßergebnisse vorliegen haben, ehe er etwas nachweisen kann. Ich glaube, daß der Fortschritt der Meßtechnik uns demnächst auch noch einige Überraschungen bringen wird. Aber wir als Politiker brauchen nicht anzuordnen, daß die Meßtechnik weiterentwickelt werden soll. Bisher haben alle Naturwissenschaftler den Drang gehabt, weiterzukommen. Das werden sie ohnehin tun. Das Interpretieren der aus erster Hand gewonnenen Daten ist auch Sache des Fachmanns. Zum Beispiel denke ich manchmal darüber nach, warum wir uns gelegentlich Beine stellen. Schwierigkeiten bei der weiteren Erforschung des Krebs beispielsweise rühren auch von unserer Zurückhaltung her, gewisse Datenschutzbedenken bei Krebsregistern einmal zu hinterfragen. Ich habe dieses Beispiel genannt, um zu zeigen: Wenn schon Bedenken, dann auch überall. Hier könnte man durchaus welche nennen. Ich glaube, daß die Verantwortung des Politikers - jetzt komme ich zu dem dritten der von mir genannten Personenkreise - natürlich darin liegt, zwischen den Endpunkten Sorglosigkeit auf der einen und Hysterie auf der anderen Seite irgendwo die Marke der Vernunft zu setzen. Das eigentliche Problem, das wir haben, ist, daß wir unsere Marken der Vernunft nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion wie folgt setzen: Wenn ich meine Marke auf der Skala in Richtung Sorglosigkeit setze, dann sehe ich im Moment niemanden, der offensichtlich „sorgloser" ist als ich. Schaue ich zur anderen Seite, sehe ich nacheinander die SPD und dann die Grünen. Die Grünen sind für meine Begriffe etwas näher an Hysterie, während die SPD die Realitäten, glaube ich, durchaus zu spüren scheint. Ich möchte keine physikalischen Meßgrößen wiederholen. Ich bitte: Fassen Sie das nicht als Ulk auf. Dieses Problem habe ich schon mehrfach gehabt. Ich habe hier - wie viele Kollegen auch, die heute abend zusammensitzen - zu Endlagern, zu Transporten aller Art, zu Plutonium usw. geredet. Das Grundproblem des Politikers ist immer das gleiche: Wo setzt seine Verantwortung ein, dafür zu sorgen, daß sich Prozesse, die sich nicht von selbst entwickeln können, entwickeln? Ich glaube, diesen Beitrag hat die Bundesregierung in bezug auf das, was überhaupt regulierungswürdig ist, geleistet. ({7}) - Herr Kollege Lennartz, es gibt aber auch Dinge, die zweifelsohne völlig konform gehen und bei denen Sie, wenn Sie die Elektrosmogverordnung wirklich kritisch prüfen, doch feststellen müssen, daß sie einen Schritt in die richtige Richtung darstellt. ({8}) - Sehen Sie. Das kann aber auch der Anfang davon sein, daß wir vielleicht doch noch eine gemeinsame Definition für die Marke der Vernunft finden. Darauf hoffe ich. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Rolf Köhne das Wort.

Rolf Köhne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002702, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat haben wir heute ein schwieriges Thema zu debattieren. Ich möchte also die Reihe der Physikvorlesungen fortsetzen. Elektromagnetische Felder haben prinzipiell Auswirkungen auf biologische Systeme, die im wesentlichen auf elektrochemischen Prozessen beruhen. Es ist aber eine Frage, in welcher Größenordnung und mit welchen Folgen für biologische Funktionen. Die SPD stellt richtigerweise in ihrem Entschließungsantrag fest, daß wir eigentlich sehr wenig wissen und daß es sehr widersprüchliche Aussagen und häufig keine gesicherten und demzufolge umstrittene Forschungsergebnisse gibt. Damit haben wir ein Problem. Es existiert ein Risiko. Dieses ist aber schwer von uns zu kalkulieren. Vorsicht und Vorsorge sind deshalb geboten. Diese Vorsicht sollte uns vor allen Dingen nicht dazu verleiten, das Ganze als Panikmache, AngstSchüren usw. zu bezeichnen, Herr Klinkert. Es ist einfach unsere Aufgabe, Vorsicht walten zu lassen und auf solche Probleme hinzuweisen. ({0}) Das Problem, das wir dabei haben, ist natürlich: Welche Grenzwerte wollen wir festlegen? Kollege Kubatschka hat am Anfang schon darauf hingewiesen, daß es bei der Differenz um den Faktor 500 geht: Die Werte liegen zwischen 100 und 0,2 Mikrotesla. Ich befürchte, daß wir dieses Problem nie genau werden klären können; denn wir kommen hier in Bereiche, wo es ungeheuer kompliziert wird, überhaupt die entsprechende Meßtechnik zur Verfügung zu stellen. Wir sind in einem Bereich, wo wir mit Ungewißheiten leben müssen. Herr Staatssekretär Klinkert hat festgestellt, daß wir in diesem Raum eine Belastung von 1 Mikrotesla haben. Wenn ich mir oben die langen 380-Volt-Leitungen anschaue, gehe ich davon aus, daß es zumindest prinzipiell möglich ist, diesen Wert in Gebäuden zu erreichen. Genau darum geht es im Moment. Es wird vorgeschlagen - so steht es im Antrag der Grünen -, daß in neuen Wohnhäusern, Schulen und Kindergärten der Wert von 0,2 Mikrotesla eingehalten werden soll. Vielleicht ist dies nicht erreichbar. Das kann ich jetzt nicht so ohne weiteres nachprüfen. Aber zumindest hat Staatssekretär Klinkert vorgeführt, daß 1 Mikrotesla - also das Fünffache - erreichbar ist. Das ist ein Zehntel von dem Wert, den die SPD vorgeschlagen hat. Es ist also durchaus prinzipiell möglich, hier weiter Vorsorge zu betreiben. Wir sollten das tun. Darin liegt unsere Verantwortung. Die ganze Debatte weist aber auch auf ein anderes prinzipielles Problem hin. In der Studie der Amerikaner wird vorgeschlagen, man sollte Belastungen so weit minimieren, wie es vernünftigerweise vertretbar ist. Das ist aber ein Begriff, der rechtsstaatlich schwer zu handhaben ist. Was heißt vernünftigerweise? Ein Industrieunternehmen wird vernünftigerweise aus seiner Sicht sagen: Das kostet mich Geld. Die Anwohner sagen hingegen vernünftigerweise: Wir wollen am liebsten gar keine Belastung. Das Ganze führt uns dazu, daß wir darüber nachdenken müssen, andere Formen der Entscheidungen zu finden. Es muß letztendlich darum gehen, daß die Betroffenen demokratisch darüber entscheiden, was sie an Belastungen akzeptieren wollen und können. Es ist nicht möglich, solche Grenzwerte hundertprozentig exakt wissenschaftlich zu begründen. Es wäre auch viel zu bürokratisch, wenn wir in allen Feldern solche Grenzwerte festlegen würden. Deshalb: Eine demokratische Entscheidung der Betroffenen wäre hier am angebrachtesten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die gute Nachricht vorweg: Statistisch gesehen leben wir länger als jemals zuvor. Aber leben wir deshalb auch besser und gesünder? Die Krankheiten im 20. Jahrhundert sind zivilisiert worden. Nicht mehr Lepra und Pocken machen das Leiden nach außen hin sichtbar, sondern es sind die chronisch degenerativen Krankheiten als Folgen von Umweltbelastungen. Es gibt keinen Zweifel: Die Leiden durch Umweltbelastungen nehmen dramatisch zu, während die Bereitschaft, etwas dagegen zu unternehmen, bei dieser Regierung proportional dazu abnimmt. Die Zahl der asthmakranken Kinder hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Man sollte sich die Zahl vergegenwärtigen: Sie ist von 1 Million auf 2 Millionen gestiegen. Jedes fünfte Kind kommt bereits allergisch zur Welt. Insgesamt leiden nach neuen Untersuchungen zirka 30 Millionen Deutsche an Allergien, Asthma oder Neurodermitis. Jeder Dritte stirbt an Krebs. Die Deutsche Gesellschaft für Humantoxikologie wies schon 1994 darauf hin: Jeder Vierte von uns hat ein geschädigtes Immun-, Hormon- oder Nervensystem. Die Defekte und Schäden an der Körperabwehr sind das alarmierendste Warnsignal für die Gefahren, die von Umweltbelastungen für den Menschen ausgehen. Die Umwelt ist der Krankmacher unseres Jahrhunderts. Wir haben den Punkt längst erreicht, der keine zusätzlichen Belastungen mehr verträgt, und wir dürfen nicht 30 Millionen an Asthma und Allergien Erkrankte als Hypochonder abstempeln. Das ist zynisch und unverantwortlich. Diese gesicherten Fakten werden von dieser Regierung aber noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Nun ruft die SPD mit Elektrosmog nach ihrer Auffassung zu einem weiteren Schadstoff des Monats oder zur Belastung des Monats auf. 6 Millionen Handy-Teilnehmer zuzüglich 2 Millionen Besitzer schnurloser Telefone gibt es derzeit in Deutschland. Die Tendenz ist steigend. Im Jahre 2000 rechnet man mit zirka 10 Millionen Teilnehmern. Lassen Sie mich folgendes zitieren: „Die aufgeregte Diskussion über die Kernenergie dürfte in Relation zu dem, was uns das Mobilfunknetz noch bescheren wird, nur ein laues Lüftchen gewesen sein." Herr Staatssekretär, das kommt nicht von einem SPD-Umweltpolitiker, auch nicht von einem SPD- Umweltminister, sondern diese Aussage kommt von Ihrem Postminister, Herrn Bötsch, Ihrem Fachmann. Das sollten Sie sich vergegenwärtigen, bevor Sie eine solche Rede halten, wie Sie es eben getan haben. ({0}) Wollen wir es wirklich zulassen, daß sich Millionen Menschen Tag für Tag, Anruf auf Anruf Einflüssen aussetzen, deren Wirkung auf den Körper absolut unstrittig ist? Ich rede hier nicht von Kinkerlitzchen; ich rede von ernstzunehmenden Schädigungen des menschlichen Organismus. Wie beurteilen Sie es, wenn elektromagnetische Strahlungen die Hirnströme verändern, die Immunreaktion von Zellen schwächen, Blutbildveränderungen herbeiführen und Gelenkschwellungen verursachen? Auf dem großen Wachstumsmarkt der mobilen Quasselstrippen sind daher Vorgaben für Technik und Gestaltung ebenso erforderlich wie eine intensive wissenschaftliche Forschung. Sonst heißt es weiterhin: Bei Anruf Smog. Nur eine innovative Technologie senkt die Gefahren von Handys und sichert uns zudem eine Spitzenposition auf dem Weltmarkt. Damit sollte sich diese Regierung einmal befassen, statt die Diskussion über Elektrosmog, wie eben gehört, auf diffuse Ängste und Skepsis der Bevölkerung gegenüber technologischen Neuerungen zurückzuführen. Wer wie Sie, meine Damen und Herren, Probleme verniedlicht und verdrängt, schafft keine Akzeptanz für neue Techniken, die wir förmlich brauchen, um als Industriestaat in das 21. Jahrhundert gehen zu können. ({1}) Kommen wir zu einem anderen Bereich. Allein in Deutschland überziehen 30 000 Kilometer Hochspannungsleitungen das Land. 12 000 Kilometer Oberleitungen erstrecken sich entlang der Bahngleise. 18 000 Rundfunk- und Fernsehtürme erheben sich. Ich verweise auf Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär, in denen Sie noch ein paar Kilometer mehr genannt haben. Aus energiepolitischer Sicht ist dies sinnvoll und notwendig. Deutschland ist elektrifiziert, aber damit leider auch elektromagnetisch bestrahlt oder auch verstrahlt. Als mögliche Folgen der Strahlungen sind Kopfschmerzen, schnelles Tumorwachstum, zunehmendes Leukämierisiko usw. in der Diskussion - ich betone: in der Diskussion; denn eindeutige Beweise durch die Wissenschaft liegen derzeit noch nicht vor. Das darf aber nicht heißen, daß, solange nichts hundertprozentig bewiesen ist, unsere Ministerin, Frau Merkel, nach dem Motto verfahren kann: Lieber der Industrie schöne Augen machen als Risiken für die Gesundheit der Bevölkerung abbauen. Dies ist die Wirklichkeit. ({2}) Meine Damen und Herren, ich wollte es erst nicht glauben. Ich las es, und ich verstand es: In ihrem Vorwort zur Kabinettsvorlage der immissionsschutzrechtlichen Verordnung erklärt die Bundesumweltministerin, daß man in dieser Verordnung den Wünschen der Industrie weitestgehend entgegengekommen sei. Auch in der Antwort auf die heute zu behandelnde Große Anfrage der SPD wird zugegeben, daß die offizielle Forschung weitestgehend dem Betreiberverein - man kann aber auch sagen: dem Interessenverein - „Forschungsgemeinschaft Funk" überlassen bleibt. Wohlwissend wird verschwiegen, daß die Forschungsgemeinschaft Funk zwar - das ist lobenswert - unter Beteiligung verschiedener Ministerien gegründet wurde, aber von der Energiewirtschaft mit insgesamt 1,4 Millionen DM finanziert wird. Berichterstattungen, Forschungsergebnisse dieser Gemeinschaft werden unter Fachleuten allgemein als tendenziös beschrieben. ({3}) Wir stimmen überein, Herr Kollege; auch Körpersprache verrät etwas. Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf, den nach meinem Dafürhalten verantwortungslosen Grenzwert von 100 Mikrotesla auf 10 Mikrotesla abzusenken und das Minimierungsgebot in die Verordnung aufzunehmen. Ich bin mir darüber im klaren, daß im Bundesrat eine Mehrheit zustande gekommen ist. Aber wir sind das Parlament, der Deutsche Bundestag. Ich vertrete die Auffassung meiner Fraktion, aber auch des Landes NordrheinWestfalen, die eindeutig für 10 Mikrotesla eintreten. Das ist der Vorsorgewert, den wir letztendlich einhalten müssen. ({4}) Ich kenne die Diskussion. Man fragt: Wie war das denn im Bundesrat? Diese 10 Mikrotesla sind von der Strahlenschutzkommission empfohlen worden, der Sie, Herr Kollege Klinkert, sonst so hörig an den Lippen hängen. Meine Damen und Herren, wenn Frau Merkel das gesundheitliche Risiko tragen kann oder können will, dann soll sie das laut sagen und es übernehmen, in ihrer persönlichen Verantwortung und in der Verantwortung dieser Regierungskoalition. Ich kann es gegenüber den kranken Kindern in einer Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis, in Bergheim, das für viele Orte in dieser Republik steht, nicht übernehmen. Warum werden für Hochspannungsleitungen in sensiblen Bereichen wie Kindergärten, Schulen und Wohnanlagen keine ausreichenden Mindestabstände vorgeschrieben? Mit Vorsorge und Gesundheitsschutz hat diese Regierung bei Gott nichts am Hut. Genausowenig, wie es eindeutige Beweise für Gesundheitsschäden durch elektrische Strahlung gibt, liegen gesicherte gegenteilige Erkenntnisse vor. Das sollte man sich immer vor Augen führen. Deswegen ist unter Vorsorgegesichtspunkten ein Wert von 10 Mikrotesla in der Nähe von Wohnungen, Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern ebenso notwendig wie ein Minimierungskonzept, das insbesondere bei Neubauten berücksichtigt werden muß. Darüber hinaus könnten noch die Werte angestrebt werden, die Sie genannt haben. Andere Staaten gehen mit gutem Beispiel voran: Florida mit 25 Mikrotesla, New York mit 15 Mikrotesla; selbst in Rußland wird die Gefahrenschwelle bei 12 bis 18 Mikrotesla angesetzt, ganz zu schweigen von den skandinavischen Ländern. Doch offenbar vertritt diese Bundesregierung die Auffassung, daß sich die Lebensweise der Menschen gefälligst den Risiken anzupassen hat. Die Beweislast für die Unbedenklichkeit der Produkte müßte jedoch beim Verursacher und nicht beim Erkrankten liegen. ({5}) Auf uns rast mit atemberaubendem Tempo eine technologische Entwicklung zu, die wir weder aufhalten können noch aufhalten wollen. Doch statt von ihr überfahren zu werden, müssen wir auf den Zug aufspringen, und zwar nicht als Trittbrettfahrer, sondern als Lenker, als Richtungweisender in eine gesicherte Zukunft.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich meine, wir dürfen technologische Entwicklungen nicht bloß zur Kenntnis nehmen, sondern wir müssen selber aktiv werden und die entscheidenden Impulse für eine Beginningof-Pipe-Umwelttechnik setzen. Deutschland darf nicht zum Reparaturbetrieb werden, sondern es muß Ideenschmiede bleiben und dafür sorgen, daß Umweltschäden erst gar nicht entstehen. Das ist unsere Aufgabe. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit Ihrer Zustimmung, Herr Präsident, erlaube ich mir, noch einen Satz zu sagen. Der verantwortungslose Umgang mit dem Thema Elektrosmog und Gesundheit ist neben der hohen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung nur ein weiterer Beleg für die Unfähigkeit dieser Regierung. Von dieser Regierung springt kein Funke mehr über, ({0}) und Spannungen entladen sich allenfalls noch im Streit mit dem Koalitionspartner. Es wird höchste Zeit, daß dieser verantwortungslosen Politik der Saft abgedreht wird. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Peter Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Elektrosmog berührt natürlich nicht nur das Wohlbefinden des interessierten Bürgers in seinem Haushalt, sondern dabei handelt es sich auch um eine Frage, die von großer umweltpolitischer Bedeutung ist. Aus diesem Grunde ist es durchaus zu begrüßen, daß sich der Bundestag heute - leider zu dieser vorgerückten Stunde - mit diesem Thema befaßt. ({0}) Andererseits war ich schon erstaunt, heute durchgängig bei allen Reden der Opposition die Fragestellung zu hören: Welche Grenzwerte sollen wir denn jetzt festlegen? ({1}) Wo liegen die Schädigungen im Organismus? - An fast keiner Stelle ist von den Vertretern der Opposition der Redlichkeit halber gesagt worden - Herr Lennartz hat dies zum Teil getan; das gestehe ich ihm zu -, daß der überwiegende Teil der Länderpolitiker im Rahmen des politischen Entscheidungsprozesses vor der Weihnachtspause in der Frage, die Sie hier heute abend problematisieren, über die Auffassung der Opposition hinweggegangen ist und im Bundesrat seine Zustimmung erteilt hat. Wenn Sie noch eine Bestätigung haben wollen, Herr Lennartz, dann betone ich das für das Protokoll gerne noch einmal. Sie hingegen stellen sich hier hin und tun so, als sei die Verordnung, die zum 1. Januar 1997 in Kraft getreten ist, gegen den geschlossenen Widerstand der Opposition in Deutschland verabschiedet worden. Ich frage Sie, ob Sie nicht wieder mit gespaltener Zunge reden, wenn Sie im Bundesrat zustimmen und hier massiv gegensteuern. ({2}) - Daß es dort Interessenvertretungen gibt, ist ja interessant. Das müßten Sie dann auch einmal in Ihrer Landesregierung in Nordrhein-Westfalen klären. Es ist interessant, welche Vorwürfe Sie diesbezüglich gegen Ihre Regierung in Düsseldorf richten. ({3}) Ich habe mir diese Daten einmal bewußt herausgesucht, weil ich mich als Umweltpolitiker - ich glaube, da finde ich auch die Unterstützung der Umweltpolitiker der Koalition - ein bißchen darüber geärgert habe, daß wir drei, vier Wochen nach Inkrafttreten der Verordnung diese wichtige Frage diskutieren, obwohl dazu im letzten Jahr auch im Bundesrat ein ganz wichtiger Entscheidungsprozeß stattgefunden hat. Da wäre es mir persönlich viel angenehmer gewesen, wir hätten die Diskussion hier jetzt nicht Mitte Januar, sondern im November geführt. Nach Ihren Einlassungen stelle ich jetzt fest, daß es doch einmal ganz interessant ist, wie Sie im Bundestag Positionen aufbauen, obwohl Sie ganz genau wissen, Sie hätten schon vorher mehrere und entscheidende Möglichkeiten gehabt, diesen Prozeß zu stoppen. Sie haben aber an entscheidender Stelle, im Bundesrat, für eine klare Zustimmung zu dieser neuen Verordnung gesorgt. Das ist die Wahrheit. Ich muß Ihnen eines sagen. Eine Verordnung kann in Deutschland nach Art. 80 des Grundgesetzes durch die Bundesregierung nur erlassen werden, wenn vorher eine Zustimmung des Bundesrates ausDr. Peter Paziorek gesprochen worden ist. Diese Zustimmung des Bundesrates ist trotz der eindeutigen Mehrheit des Oppositionslagers im Bundesrat zustande gekommen. Man kann auch nicht sagen, daß das im Bundesrat in einem Hauruck-Verfahren gelaufen ist. Denn der Verordnungsentwurf ist von der Bundesregierung am 22. Mai 1996 im Kabinett beschlossen worden. Wir haben dann die Anfragen und auch die Anträge der SPD-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen im Bundestag erlebt, wir haben die Beratungen in den Fachausschüssen des Bundesrates erlebt. Dann hat am 8. November des vergangenen Jahres der Bundesrat nach - ich will das jetzt einmal so positiv gegenüber dem Bundesrat sagen; das tue ich nicht immer, aber an dieser Stelle will ich es tun - einer eingehenden fachlichen Beratung in den Umweltausschüssen dieser Verordnung mit einigen wenigen Teiländerungen zugestimmt. Die Bundesregierung hat dann die Anregungen des Bundesrates am 4. Dezember in ihre Kabinettsentscheidung übernommen. Das heißt, das, was an Bedenken und Anregungen vom Bundesrat gekommen ist, ist von der Bundesregierung auch tatsächlich übernommen worden. Damit sind Ihre Anregungen in diesen Verordnungsentwurf und damit in diese Verordnung eingeflossen. Drei Wochen später stellen Sie sich hier hin und sagen: Die Bundesregierung hat - so ein Vorwurf - bei dieser Verordnung Vorsorgegrundsätze nicht eingehalten. - Dann muß doch der Ball zurückgespielt werden. Wo sind denn Ihre Leute gewesen, die diesem Grundsatz Geltung verschafft hätten? ({4}) Man muß es doch klar und deutlich sagen. Sie können doch heute abend - das wollen Sie auch gar nicht - diesen Vorwurf nicht ernsthaft aufrechterhalten. Sie wollen hier doch nur Politik machen und wollen - das muß ich Ihnen vorwerfen - damit wieder zur Verängstigung der Menschen beitragen. Wenn Sie wüßten, daß dieser Widerhall in der Öffentlichkeit dann so dargestellt würde, daß damit zumindest die übergroße Anzahl der Finger an Ihrer Hand in Richtung Ihrer eigenen Länderregierungen, in Richtung der Mehrheit des Bundesrates zeigen würden, dann würden Sie diese Vorwürfe so auch nicht erhoben haben. Sie hatten ganz einfach die Absicht, heute abend vielleicht zu vorgerückter Stunde unter nicht so großer Beteiligung der Öffentlichkeit Angriffe gegen die Bundesregierung zu starten, weil Sie der Hoffnung waren, es würde gar nicht die Frage aufgeworfen werden, wie sich der Bundesrat in dieser Frage - vielleicht mehrheitlich - eingelassen hat. Ich muß Ihnen klar und deutlich sagen: Der Bundesrat hat dieser Verordnung, die seit dem 1. Januar 1997 gilt, mit überaus großer Mehrheit zugestimmt. Das sollten Sie heute abend noch einmal deutlich zur Kenntnis nehmen. - Das ist die eine Seite. Jetzt kommt ein vielleicht ganz interessanter Aspekt, weshalb Sie als Opposition im Bundesrat dennoch versuchen, von der Mehrheitsmeinung im Bundesrat abzuweichen. Es wird damit deutlich, welche Oppositionsstrategie Sie auch hier im Bundestag führen. Es wird auch durch Ihre Einlassung heute abend deutlich, welche gefährliche Entwicklung Sie in der Umweltpolitik bewußt in Kauf nehmen, nur um Ihre Oppositionspolitik um jeden Preis hier tatsächlich zum Ausdruck zu bringen. Ich will das einmal wie folgt darlegen. Es stimmt, wir haben zwischen 1950 und 1990 einen Anstieg zum Beispiel des Verbrauchs elektrischer Energie nur in den alten Bundesländern um das Zehnfache. Wir haben damit - Ihre Zahlen stimmen, Herr Lennartz - eine gewaltige Zunahme des Verteilungsnetzes in den letzten 40 Jahren entsprechend dieser Zuwachsrate gehabt. Wir haben ein solch stabiles und dichtes Verbundnetz, weil wir auch den Energieverbund innerhalb von Europa durch eine ganz bestimmte Netzstruktur herstellen wollten. Das wird alles zugestanden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kiper?

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte, Herr Kiper.

Dr. Manuel Kiper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002697, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, würden Sie mir denn zustimmen, da Sie jetzt so auf den Bundesrat eingegangen sind und meinen, wir würden hier etwas ganz anderes sagen als das, was unsere Vertreter im Bundesrat vertreten haben, daß die Meinung, die dort von der Ministerin Bärbel Höhn bzw. in deren Auftrag vertreten wurde, die war, daß die EMF-Verordnung ein Schritt in die richtige Richtung ist, aber wesentliche Vorsorgemaßnahmen nicht ergriffen worden sind? Würden Sie auch dem zustimmen, daß in einer Erklärung dieser Ministerin eine ganze Reihe von Punkten angesprochen worden ist, die auch im Bundesrat als Schwächen der verabschiedeten Verordnung diskutiert worden sind? Würden Sie dem zustimmen, daß das Punkte sind, die auch ich heute in meinem Beitrag als Schwächen angeführt habe? Würden Sie, verehrter Kollege, auch dem zustimmen, daß bislang in der Tat ein gesetzloser Zustand herrschte und nur eine DIN-VDE-Norm 0848 in Deutschland Gültigkeit, aber eben keine Rechtsverbindlichkeit hatte, so daß es von seiten der Opposition richtig gewesen ist, zu sagen, mit einer EMF-Verordnung werde nun wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung gemacht, zumal dort Grenzwerte um den Faktor vier abgesenkt worden sind?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Kiper, wenn Sie Ihre Fragen so lang formulieren, riskieren Sie, daß kein Redner mehr eine Zwischenfrage von Ihnen zuläßt. ({0}) - Ist in Ordnung. Bitte, Herr Paziorek, Sie haben die Möglichkeit zu entgegnen.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Kiper, ich muß Ihnen darin zustimmen, daß Frau Höhn eine abweichende Meinung geäußert hat. Für mich stellt sich aber die Frage, weshalb Frau Höhn im Mehrheitslager im Bundesrat, nämlich bei den SPD- und rot-grün-geführten Bundesländern, mit ihrer Argumentation nicht durchgedrungen ist. Es kann doch nicht angehen, daß jetzt eine solche, abweichende Meinung, die in dem sogenannten Zukunftslager Rot-grün nicht für politisch mehrheitsfähig angesehen worden ist, dafür herhalten muß, ihre extreme, abweichende Position zu dieser Verordnung zu begründen. Ich kann den Ball zurückwerfen. Ich kann die Frage aufwerfen: Wie ist es eigentlich gekommen, daß sich Frau Höhn mit ihrer Argumentation im Mehrheitslager der SPD nicht durchgesetzt hat? Ich kann Ihnen die Antwort geben. Weil man auch im Lager der SPD-geführten Bundesländer der Ansicht gewesen ist, daß das eine überzogene Position sei. Deshalb kann ich den Ball so zurückwerfen. ({0}) Es geht also nicht nur um die Frage des persönlichen Lebensstils. Es geht wirklich auch um die Frage, welche Infrastruktureinrichtung wir uns in der Zukunft in unserem Land, hier in Deutschland, leisten wollen. Ich weiß als ehemaliger Kommunalpolitiker und als ehemaliger Stadtdirektor: Wenn früher die Bundespost einen Antrag gestellt hat, neue Sendetürme im Stadtgebiet aufzubauen, gab es sofort aus ganz gewissen Bürgerinitiativen aus Ihrem politischen Lager die großen Bedenken, daß ein Sendeturm an dieser Stelle nicht gebaut werden dürfe und daß man darüber hinaus grundsätzlich auf diese Infrastruktur verzichten sollte. Deshalb muß man auf den Kern aller Punkte zurückkommen. Er lautet: Die Strahlenschutzkommission hat sich mehrfach mit all den Studien, die in all den Beiträgen heute abend genannt worden sind, befaßt. Sie hat alle Studien ausgewertet. Sie ist aber immer wieder zu dem Ergebnis gekommen, daß es keinen erwiesenen - das will ich einschränkend betonen - Zusammenhang zwischen Exposition durch elektromagnetische Felder und dem vermehrten Auftreten von Krebs gibt. Auf einer Tagung an der Universität Trier im Dezember letzten Jahres ist von den Sachverständigen, die gerade zu diesem Thema zusammengekommen sind, noch einmal deutlich gesagt worden, daß nach ihrem Kenntnisstand im Augenblick sogar kein weiterer Forschungsbedarf in Deutschland gegeben sei. Das haben Sie nicht angesprochen; das muß der vollständigkeitshalber aber ganz deutlich herausstellen. Es stellt sich deshalb die Frage: Wie war es möglich, im Bundesrat - trotz einer teilweise emotionalisierten Polarisierung in einigen Medien - eine einvernehmliche Lösung zu diesen Positionen zu erreichen? Es war nur möglich, weil alle Beteiligten im Bundesrat bereit gewesen sind, eine sachlich vorbereitete, eine sachlich fundierte Diskussion zu führen, von dem Ziel getragen, auch einen parteiübergreifenden Konsens zu schaffen. Man hat dabei darauf verzichtet, parteipolitische Polarisierungen vorzunehmen, wie Sie es heute abend getan haben. Sie haben in Ihrem Redebeitrag, Herr Kollege Dr. Kiper, noch nicht einmal darauf hingewiesen, daß im Rahmen der Beratung jener Verordnung, die seit dem 1. Januar Rechtskraft hat und damit wie ein Gesetz wirkt - eine Verordnung ist nur eine untergesetzliche Regelung, hat aber eine gesetzliche Regelungswirkung -, sogar Punkte aufgegriffen worden sind, die teilweise auch in Anträgen und Forderungen der Fraktion der Grünen angesprochen worden waren. So ist jetzt in § 4 der endgültigen Verordnung klar geregelt worden, daß eine Überziehung der Expositionswirkungen zum Beispiel in der Nähe von Kindergärten und Kinderspielplätzen auch zeitweise unzulässig ist. Bei der Erarbeitung dieser Verordnung hat man den Vorsorgegrundsatz im vergangenen Herbst verschärft. Warum wird das nicht einmal lobend aus Ihrer Sicht dargestellt? Warum wird nicht einmal öffentlichkeitswirksam dargestellt, daß klare Regelungen getroffen worden sind, die den Genehmigungsbehörden die Möglichkeit geben, diese strengen Vorsorgewerte auch bei solchen exponierten Gebäuden, die ganz wichtig für uns sind, weil es bei ihnen beispielsweise um die gesundheitliche Zukunft unserer Kinder geht, konsequent zu überprüfen und für deren Einhaltung zu sorgen? Warum wird das von Ihnen nicht gesagt? ({1}) Deshalb drängt sich heute abend der Eindruck auf, Sie wollten eine Diskussion, die wieder darauf hinausläuft, daß moderne Technologie schon grundsätzlich und vom Ansatz her gefährlich sei. ({2}) - Ich war erstaunt, Herr Lennartz. Im Ausschuß lassen Sie sich manchmal in Fragen der Technologieförderung ganz anders ein, als Sie es heute hier getan haben. Deshalb halte ich es für so wichtig, das noch einmal deutlich herauszustellen. Sie haben heute argumentiert, als würde in unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung eine Technologie eingeführt, die von vornherein und per se gefährlich sei. Über genau diese Brücke wollen und können wir nicht gehen. Auch wir sagen, daß wir prüfen müssen, welches Risiko bei einer modernen Technologie auftritt. Auch wir sagen, daß wir darlegen müssen, welche ethischen Normen wir haben, damit wir überprüfen können, welches Risiko wir ethisch-moralisch tatsächlich tragen können. Aber wir müssen dann einen Abwägungsprozeß durchführen, der klar und deutlich auf den Punkt kommt und klärt, welche Risiken tatsächlich gegeben sind. Dafür gibt es Kommissionen und Sachverständigeneinrichtungen. Wenn ein Diskussionsprozeß zum Beispiel in der Sachverständigenkommission mit einem klaren Ergebnis abgeschlossen ist, wie es im Herbst des vergangenen Jahres der Fall war, dann müssen wir als Politiker auch einmal den Mut haben, dieses wissenschaftliche Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Wir haben bewußt den Auftrag herausgegeben, daß uns Wissenschaftler ein ErDr. Peter Paziorek gebnis vorlegen. Jetzt gehen wir dazu über, dieses Ergebnis zu überprüfen. Wenn das Ergebnis aus unserer Sicht niet- und nagelfest ist, dann akzeptieren wir das auch. Deshalb hätte ich heute abend von Ihnen gern gehört, an welcher Stelle die Vorarbeiten der Strahlenschutzkommission unwissenschaftlich gewesen sind, wo tatsächlich Fehler aufgetreten sind. Sie hätten nicht sagen sollen, Sie hätten große Sorgen, daß das noch so und so läuft, sondern Sie hätten heute abend sagen müssen: Das, was dem Bundesrat und der Bundesregierung vorgelegen hat, nämlich klare und deutliche Ergebnisse der zuständigen Kommission, ist an diesen und jenen Stellen falsch. Das aber können Sie nicht leisten. Dennoch versuchen Sie hier, ganz nebulös und allgemein eine Position in Frage zu stellen. Wer so herangeht, führt letztlich eine Verunsicherung der Menschen herbei und muß sich auch den Vorwurf gefallen lassen, daß er diese Verunsicherung wirklich will. Diese Situation wird jedoch dem tatsächlichen Risiko nicht gerecht - ich spreche ganz bewußt von Risiko - und wird langfristig sicherlich nicht dazu führen, daß wir hier in Deutschland auch technologisch wieder ein Stück weiterkommen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lennartz?

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gestatte ich.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ist Ihnen entgangen, daß die Strahlenschutzkommission einen Grenzwert von 10 Mikrotesla vorgeschlagen hat, vom Bundesrat dieser Grenzwert aber nicht übernommen worden ist, sondern ein Grenzwert von 100 Mikrotesla festgesetzt worden ist?

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage noch einmal ganz deutlich, daß inhaltlich all diese Regelungen auf den übereinstimmenden Ergebnissen der Strahlenschutzkommission, der Internationalen Strahlenschutzvereinigung und der Internationalen Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung basieren. Das ist zusammenfassend sicherlich eine richtige Wertung. Aus diesem Grunde berufen wir uns auf das Ergebnis dieser Kommission. Ich glaube auch, daß diese Werte damit dem aktuellen und auch anerkannten Standard entsprechen. ({0}) Herr Lennartz, das muß ich Ihnen klar und deutlich sagen. Deshalb lassen Sie mich ganz zum Schluß folgendes noch einmal zusammenfassend sagen: Wir teilen die Einschätzung der Fachkommission, daß die Grenzwertempfehlungen so niedrig angesetzt sind, daß nach unserem jetzigen Erkenntnisstand gesundheitsschädigende Wirkung bei der Bevölkerung auch bei einer längeren Einwirkung nicht eintreten kann. In aller Deutlichkeit sage ich, auch wenn ich weiß, daß dies eine teilweise Zustimmung zu dem SPD-Antrag darstellt, dem zuzustimmen uns aber andere Punkte leider nicht erlauben - insbesondere die permanente Aufforderung, dem Minimierungsgebot laufend im Verwaltungsvollzug nachzukommen, was nicht zu leisten ist -: Wir begrüßen es durchaus und können den Gesichtspunkt unterstreichen, daß trotz des vorliegenden Ergebnisses bei den verantwortlichen Kommissionen in dieser Frage von der Forschung kein Abstand genommen wird. Das ist auch die Position unserer Fraktion; denn niemand will sich den Vorwurf einhandeln, daß eventuell dadurch, weil wir in dieser Beziehung die weitere Arbeit einstellen, neue Erkenntnisse - wir haben gehört, wie Herr Ortleb auf die Frage der Meßtechnik eingegangen ist - verhindert werden. Diese Haltung ist aber eine ganz andere Haltung als die panikmachende Haltung, die Sie heute abend eingenommen haben, indem Sie schon zum jetzigen Zeitpunkt sagen: Nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die jetzige Verordnung gesundheitlich bedenklich, weil sie gesundheitsschädlich ist. Dieser Vorwurf muß mit aller Schärfe und mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden. ({1}) Deshalb kann ich zum Schluß nur sagen: Wir sind für die Umsetzung neuer wissenschaftlicher Ergebnisse immer offen. Das wollen wir auch. Aber vor dem Hintergrund des jetzigen Kenntnisstandes der Wissenschaft wird diese Verordnung ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über die Wirkung elektromagnetischer Felder leisten. Wir sollten ganz stolz sagen: Diese Verordnung ist international ein Fortschritt; denn es ist die erste Verordnung, auch hier in Europa, die eine solche Normierung festlegt. In der Beziehung haben wir dankenswerterweise Neuland betreten. Wir können sagen: An dieser Stelle sind wir wieder umweltpolitisch die Nummer eins gewesen. Das sollten wir ganz selbstbewußt hier im Deutschen Bundestag auch zugunsten dieser Bundesregierung herausstellen. Indem wir den umweltpolitischen Fortschritt deutlich machen, können wir zur Versachlichung beitragen, zu der, wie ich meine, alle politischen Kräfte im Bundestag ihren Beitrag leisten sollten. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Kubatschka.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, am Ende haben Sie von Sachlichkeit gesprochen; bloß war der Großteil Ihrer Ausführungen davon nicht beleckt. Sie haben Ihre Rede als Erwiderung auf uns angelegt. Bloß hatte diese Rede den Fehler, daß sie bereits vorher geschrieben wurde. Beispielsweise haben Sie nämlich behauptet, daß Panik gemacht würde. Das habe ich hier nirgends festgestellt. Ich habe auch nicht festgestellt, daß einer von Gesundheitsgefährdung gesprochen hat. Bis auf Sie waren wir alle während der Diskussion eigentlich von der Angst getragen, daß etwas an den Erkenntnissen der Wissenschaft dran sein könnte. Deswegen haben wir Sozialdemokraten abweichend von der Mehrheit der Länder gesagt: Wir sind nicht nur mit Grenzwerten zufrieden, sondern wir brauchen Vorsorgewerte und außerdem ein Minimierungsgebot. Wir können mit den jetzigen technischen Möglichkeiten sehr wohl ohne große Aufwände minimieren. Deswegen ist so ein Minimierungsgebot sinnvoll. Wichtig ist auch, wie der Kollege Lennartz ausgeführt hat, daß wir auf diese Weise eigentlich einen technologischen Schritt nach vorne gehen müßten. Alle Redner waren hier in Sorge und haben auch von Vorsorge gesprochen. In bezug auf Ihre Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse muß ich Ihnen erwidern: Das war unseriös. Sie werden in der Wissenschaft nie einen hundertprozentigen Nachweis für etwas bekommen. Darum haben auch die Wissenschaftler nicht gesagt, es gebe keinen Beweis dafür, daß nichts stattfinde, sondern sie sagen ganz exakt, es gebe Auswirkungen auf Zellen, auf Organismen, und das müssen wir bedenken. Wir wissen noch nicht, welche Folgen das hat, und ich hoffe, daß wir darüber niemals zur Kernzeit um 9 Uhr bei vollem Haus heiß darüber diskutieren müssen; denn dann hätten wir alle uns jetzt hier geirrt, dann wäre etwas daran gewesen. Es kommt darauf an, die Ängste der Bürger ernstzunehmen und Vorsorge zu betreiben, und wir glauben nicht, daß die Bundesregierung und die Mehrheit im Bundesrat diesbezüglich richtig gehandelt hat. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 13/3365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 13/6728 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. - Ich sehe und höre auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Monika Ganseforth, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frauen und Mobilität - Drucksachen 13/2502, 13/4683 - b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Gila Altmann ({0}), Elisabeth Altmann ({1}), Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Emanzipation vom Auto ({3}) Feministische Ansätze zur Verkehrsvermeidung - Drucksachen 13/3359, 13/5338 Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Interfraktionell vereinbart ist eine Aussprache von einer Stunde. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Professor Monika Ganseforth das Wort.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das Thema „Frauen und Mobilität" hat viele Aspekte, wie die Antwort auf die Großen Anfragen zeigt. Beispielsweise wird das Unfallgeschehen im Straßenverkehr, jedenfalls was seine Verursacher betrifft, weitgehend von Menschen beherrscht. Auch an Verkehrsverstößen sind Frauen kaum beteiligt. Ich will Ihnen dies an einigen Beispielen verdeutlichen. 83 Prozent aller Unfälle mit Todesfolge und 73 Prozent der Unfälle mit Schwerverletzten werden von Männern verursacht. ({0}) Unter denjenigen Personen, denen die Fahrerlaubnis entzogen wird, sind nicht einmal zehn Prozent Frauen. Über 90 Prozent derjenigen mit Fahrerlaubnisentzug sind also Männer. In der gleichen Größenordnung liegt der Anteil der Frauen unter den Alkoholsündern, also zehn Prozent. Auch wenn man berücksichtigt, daß Männer häufiger als Frauen einen Pkw zur Verfügung haben und auch nutzen, erklärt dies bei weitem nicht diese Differenz, liebe Kollegen und Kolleginnen. Es bleibt dabei: Mann am Steuer, das wird teuer. ({1}) Trotzdem ist das Vorurteil, Männer seien die besseren Autofahrer, weit verbreitet, ({2}) und dies nicht nur in entsprechenden Witzen und Machosprüchen, die ich jetzt hier eben auch gehört habe. Oder wie kommt es, daß beim Sicherheitstraining zum Beispiel eher Rennfahrerqualitäten und Rambomentalität trainiert wird, als sich dabei das Fahrverhalten von Frauen beim Sicherheitstraining zum Vorbild zu nehmen? Auch die Kraftfahrzeugversicherer, die ihre Beiträge nach allen möglichen Gesichtspunkten differenzieren, sind noch nicht auf die Idee gekommen, Frauen entsprechend ihrem Unfallverhalten günstigere Tarife anzubieten. In der Krankenversicherung, in der die Männer die günstigeren Risiken darstellen, ist ganz selbstverständlich ein günstigerer Tarif für Männer vorgesehen; das ist ganz klar. ({3}) Sieht man sich die Zahlen des Unfallberichts der Bundesregierung an, so stellt man fest, daß auch dort beispielsweise zwischen Ost und West und zwischen Altersgruppen differenziert wird, aber die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht berücksichtigt werden. Daher ist unsere erste Forderung an die Bundesregierung: Erstellen Sie eine entsprechende Datenbasis! Untersuchen Sie die Mobilitätsunterschiede von Männern und Frauen in Forschungsprojekten! ({4}) Große Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen auch bei der Verkehrsmittelwahl. Beispielsweise sind zwei Drittel der Passagiere von Linienflügen Männer; nur ein Drittel der Frauen fliegen. Ebenso sind zwei Drittel der Pkw-Besitzer Männer. Männer zwischen 40 und 60 Jahren sind voll motorisiert. Der Motorisierungsgrad liegt über 100 Prozent. Das heißt, es gibt sogar einige Männer, die zwei Autos besitzen. Diese Männer haben in der Regel die Wahl des gewünschten Verkehrsmittels. Das gewünschte und benutzte Verkehrsmittel ist bei Männern in dieser Altersgruppe für 70 Prozent der Wege der Pkw. Das ist ein großer Unterschied zu den Frauen in der entsprechenden Altersgruppe. Frauen erledigen wesentlich mehr Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln - oder allenfalls als Beifahrerinnen - als Männer. Obwohl die Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Mobilitätsverhalten so eklatant sind - gucken Sie sich einmal die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage an -, bestehen nach Ansicht der Bundesregierung frauenpolitische Aspekte nur auf kommunaler Ebene. Das ist angesichts der vorliegenden Daten und Fakten schwer zu verstehen. Es gibt allerdings eine Erklärung für diese Haltung: 96 Prozent der Führungspositionen im Verkehrsministerium sind mit Männern besetzt und nur 4 Prozent mit Frauen. Dasselbe gilt übrigens für die Deutsche Bahn AG, aber auch für andere Verkehrsunternehmen. Diese Unternehmen liegen damit aber immer noch wesentlich besser als der ADAC. Raten Sie einmal, wieviel Männer dort im Präsidium und im Verwaltungsrat sitzen! Dort sind die Männer unter sich. ({5}) - Ja, genau. Dieses Mißverhältnis in der Berücksichtigung von Männern und Frauen läßt sich damit erklären, daß Verkehrsplanung und verkehrspolitische Entscheidungen fast ausschließlich von Männern getroffen werden. Sie sind von der Familien- und Hausarbeit befreit, weil sie diese an ihre Partnerin oder ihre Frau delegiert haben. Männliche Wissenschaftler untersuchen die Verkehrsmaßnahmen aus ihrer Sicht, und männliche Journalisten bewerten sie. Die katholischen Frauen stellen in ihrer Zeitung „KDF direkt" vom Januar fest: „Frauen haben auszubaden, was die Männer planen." ({6}) Wir fordern eine Verkehrspolitik, die den Interessen und Bedürfnissen von Frauen einen angemessenen Stellenwert einräumt. Die schnelle Überwindung großer Distanzen, die für die berufstätigen Männer von Bedeutung ist, geht an den Alltagsbedürfnissen von Frauen vorbei. Es gibt noch ein weiteres wichtiges Thema: die sogenannten Angsträume. Die Angst vor Bedrohung, Gewalt oder sexueller Belästigung im öffentlichen Raum zwingt Frauen zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen oder zu Mobilitätsverzicht. Parkhäuser, Bahnhöfe, öffentliche Verkehrsmittelhaltestellen werden von Frauen vor allem im Dunkeln gemieden. ({7}) Für diese Bereiche gibt es geeignete Maßnahmen. Trotzdem steht die Bundesregierung den Nachttaxen für Frauen, die sich bewähren, skeptisch gegenüber. Aus der Antwort der Bundesregierung ist zu entnehmen, daß sie die Schaffung von gruppenspezifischen Vorteilen nicht für angebracht hält. Hier irren Sie, meine Herren von der Bundesregierung. Wir meinen, daß hier auch die Bundesregierung in der Verantwortung steht. ({8}) Wenigstens haben Sie inzwischen die Aufforderung des niedersächsischen Landtags vom August 1995 aufgegriffen und Frauenparkplätze an Autobahnen vorgesehen. Vielleicht haben Sie es auch nur angekündigt. Ich weiß nicht, ob die Umsetzung bis jetzt schon erfolgt ist. Ich bin letzte Woche bei mir im Wahlkreis auf einen Raststättenparkplatz gefahren, habe dort aber keinen Frauenparkplatz gefunden. Entweder haben Sie die Maßnahme nur angekündigt und nicht umgesetzt, oder der Parkplatz liegt so versteckt, daß man ihn nicht findet. Ich schlage vor, daß bei der Planung Frauen beteiligt werden, damit diese Frauenparkplätze sinnvoll angelegt werden. ({9}) Die Schaffung von Frauenparkplätzen ist aber nur eine nachträgliche Kosmetik. Ich möchte gerne noch ein Beispiel aus meiner kommunalpolitischen Praxis geben. Als ich mit der Politik in den 70er Jahren als junge Mutter angefangen habe, war ich die einzige Frau im Rat. Wir haben uns damals Wohnbereichsstraßen in Holland angeschaut. Bei uns war zu der Zeit noch undenkbar, daß sich Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer mit RückMonika Ganseforth Sicht aufeinander im gleichen Verkehrsraum bewegen. In unserem Dorf stand der Straßenausbau in einer Siedlung an. Wir haben durch Information der Bürgerinnen und Bürger erreicht, daß auch sie Wohnbereichsstraßen haben wollten. Es gab eine Unterschriftensammlung. Nach langem Hin und Her hat die Stadtverwaltung dann geplant, nicht Bürgersteige mit Hochbord rechts und links und einer Autostraße in der Mitte beizubehalten, sondern mit Rufpflasterungen und Verschwenkungen eine Verkehrsberuhigung herbeizuführen. Das wurde der Bevölkerung in der Dorfkneipe vorgestellt. Dort waren überwiegend Männer, und die fingen an zu argumentieren: Mit meinem Wohnwagen komme ich nicht schnell genug durch die Straße; dasselbe gilt für den Müllwagen oder den Krankenwagen. Grün haben wir in den Gärten; was soll das auf der Straße? Die Stadtverwaltung war etwas überrascht, weil es vorher eine Unterschriftensammlung gegeben hatte und gerade eine Verkehrsberuhigung gewünscht worden war. Ich werde es nie vergessen, wie sich dann einer der Bürger meldete und sagte: Diese Unterschriften, das waren ja unsere Frauen. Wir wollen einen normalen Ausbau, wie es sich gehört. Ich habe den Eindruck, daß die Bundesregierung und die Verkehrsplaner viel zuviel nur auf diese Männer hören und nicht genügend von dem einfließen lassen, was an Bedürfnissen und an Wissen von den Frauen eingebracht werden kann. ({10}) Eine Verkehrspolitik, die den Mobilitätsbedürfnissen der Frauen Rechnung trägt - und zwar von Anfang an, nicht nur als nachträgliche Korrektur -, hat viele Vorteile, wie weniger Umweltbelastung, weniger Verkehrsunfälle, weniger Lärm. Eine frauenfreundliche Verkehrspolitik liegt also im Interesse der gesamten Bevölkerung, im Interesse der Männer und der Frauen. Schönen Dank. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Renate Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Kollegin Ganseforth so reden höre, dann wird mir um die Männer in der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen eigentlich angst. Ich bemitleide sie, ich bedaure sie. ({0}) Liebe Kollegin Ganseforth, es ist Ihnen doch sicherlich bewußt, daß Frauen Männer erziehen. Ich glaube, es liegt auch ein bißchen an uns, wie die Männer erzogen werden. ({1}) Wir hätten heute wahrscheinlich Wichtigeres zu tun, als uns mit den beiden vorliegenden Entschließungsanträgen zu beschäftigen. Ich halte diese künstlichen Diskussionen für überflüssig und nicht im Sinne der Mehrheit der Frauen in der Bevölkerung. ({2}) Wenn ich den Verwaltungsaufwand sehe, der für die Antworten der Bundesregierung nötig war, denke ich, daß diese Arbeitskraft sinnvoller hätte eingesetzt werden können. Ich danke daher ausdrücklich den fleißigen Beamten, die diese Anfragen bearbeiten mußten. Es handelte sich um eine Art Beschäftigungsprogramm für die Verwaltung. Ich glaube, dieses Beschäftigungsprogramm wäre nicht nötig gewesen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich gibt es keine spezielle Frauenmobilität und auch keine feministischen Ansätze zur Verkehrsvermeidung. ({4}) Mobilität ist Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - das steht in Ihrem Antrag; das ist der einzige Satz, den ich in Ordnung finde. Deshalb ist es auch Kernaufgabe der Verkehrspolitik, die Mobilität unserer Bevölkerung sicher und störungsfrei zu gewährleisten. Dabei gibt es keine Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Verkehrspolitik, sondern nur zwischen guter und schlechter. ({5}) Sicher gibt es unterschiedliche Bedürfnisse der Mobilität für Fahrradfahrer, Fußgänger, Autofahrer und Teilnehmer am öffentlichen Personennahverkehr. Auch gibt es unterschiedliche Bedürfnisse der Mobilität von der Kindheit bis zum Alter. Aber daraus eine Mobilität für Frauen abzuleiten halte ich für verkehrt. Bei der Erstellung des Bundesverkehrswegeplans gab es für mich als Berichterstatterin der CDU/CSU-Fraktion keine weiblichen und keine männlichen Projekte, sondern nur Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen, die die Mobilität sichern, der Wirtschaft unseres Landes nützen und Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Selbst männliche Verkehrsplaner setzen nur solche Entscheidungen um, die von Politikerinnen und Politikern vorgegeben wurden. ({6}) Die Großen Anfragen halte ich für überflüssig. Sie sind höchstens ein Arbeitsprogramm für Abgeordnete im Verkehrsausschuß. Zudem versuchen diese Anfragen, die Frauen permanent in die Rolle von Benachteiligten in unserer Gesellschaft zu drängen. ({7}) Mehr Selbstbewußtsein von rotgrünen Politikerinnen wäre angebracht, zumal auch laut Statistik belegt ist, daß sich Frauen als Verkehrsteilnehmer verantwortungsbewußter verhalten. Das Thema Sicherheit entspringt im übrigen einem Grundbedürfnis aller Bürger - nicht nur der Frauen und nicht nur in bezug auf die Mobilität. Die Idee zu solchen Anfragen kommt natürlich speziell von Feministinnen aus rot-grün geführten Ländern. Schon vor zehn Jahren habe ich mich damit im Nürnberger Stadtrat beschäftigt. Da gab es die Themen „Nachttaxi" und „Übergriffe im öffentlichen Personennahverkehr" . Natürlich ist die Angst nicht nur von Frauen, sondern auch von Kindern, Jugendlichen und der gesamten Bevölkerung vor Fahrten in Abendstunden sehr ernst zu nehmen. Ich kann Ihnen angesichts meiner Arbeit in der Stadt Nürnberg berichten, daß diese Angst meist sehr subjektiv ist. ({8}) Denn wir haben Statistiken, die besagen, daß die Zahl der Übergriffe auf Frauen im öffentlichen Raum geringer ist als die der Übergriffe auf Männer. Wenn Sie immer wieder von den Benachteiligungen der Frauen sprechen, dann muß ich Ihnen sagen, daß die Zahlen der Pkw-Zulassungen und der Pkws allgemein überhaupt nichts über die tatsächliche Benutzung durch Frauen aussagen. Auch die Zahl junger Führerscheinneulinge ist jetzt bei Frauen und Männern gleich. Lassen Sie mich noch folgende Bemerkung machen: In Ihrer Anfrage steht, daß die Frauen mehr zu Fuß gehen. Das mag laut Statistik richtig sein. Vielleicht ist es auch gesünder. Möglicherweise leitet sich daraus die höhere Lebenserwartung von Frauen ab. Liebe männliche Kollegen im Bundestag, vielleicht sollten Sie ein bißchen mehr zu Fuß gehen, damit auch Sie das Alter der Frauen erreichen. ({9}) Zur sinnvollen Nutzung des Autos ist im übrigen zu sagen: Es gibt ja Park-and-Ride-Plätze. In meiner Kommune haben wir diese Bezeichnung in „ Parkand-Kiss-Plätze " umgewandelt. Es ist nämlich so, daß die Frauen ihre Männer meist zu den Haltestellen im Öffentlichen Personennahverkehr fahren und natürlich, wie das so üblich ist, mit einem Kuß verabschieden. Aber auch Männer bringen ihre Frauen zu diesen Haltestellen oder - wie zum Beispiel in meinem Fall; bei mir leistet mein Mann Zubringerdienste - zum Flughafen. Ein Auto ist natürlich dann sinnvoll ausgenutzt, wenn der jeweilige Partner anschließend die Kinder zum Kindergarten bzw. in die Schule chauffiert oder Einkäufe erledigt. Das ist nicht allein Frauensache, sondern kann durchaus auch Männersache sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Aufgabe der Politik ist für mich nicht, Politik nur für Frauen, für Männer, für Kinder, für Jugendliche oder für Senioren zu machen. Wir müssen vielmehr Politik für alle machen. Wir müssen Konzepte für alle - ohne Unterschied der Geschlechter - entwickeln. Deshalb sind für mich die Anfragen „Feministische Ansätze zur Verkehrsvermeidung" und „Frauen und Mobilität" im Grunde genommen total überflüssig. ({10}) - Lieber Kollege, geistige Mobilität brauchen gerade Sie. Es ist besonders wichtig, daß Sie geistige Mobilität nicht nur hier, sondern auch einmal im Verkehrsausschuß entwickeln. Vielleicht würden wir dann viele Dinge im Verkehrsausschuß schneller abhandeln und nicht immer stundenlang über einzelne Themen diskutieren. Für mich gibt es nur eine Verkehrspolitik, also weder eine männliche noch eine weibliche. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun spricht die Abgeordnete Gila Altmann.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Blank, das war ein starkes Stück. ({0}) Erzählen Sie das, was Sie hier gerade losgelassen haben, einmal einer alleinerziehenden Mutter hinter den bayerischen Bergen, die nun einmal nicht so privilegiert ist wie Sie; einer Mutter, die keinen Mann hat, der sie chauffiert und sie bekocht. Ich habe bisher immer gedacht, dieses Wissensdefizit sei typisch männlich. Deshalb noch einmal extra für Sie einige Zahlen zur Auffrischung: 1990 besaßen 45 Prozent aller Frauen, aber nur 16 Prozent aller Männer keinen Führerschein. ({1}) 70 Prozent aller Männer und nur 30 Prozent aller Frauen über 18 Jahre verfügen derzeit über einen Pkw. In der Tat müssen sich zwei Drittel der Frauen irgendwie anders durchschlagen. Trotz des Gleichstellungsgebots im Grundgesetz sieht die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage „keinen unmittelbaren Handlungsbedarf ". Bisher habe ich immer gedacht, diese Wertung könne nur einer typisch männlichen Sichtweise entsprechen. Seit heute weiß ich es besser. ({2}) Verkehrspolitik ist noch immer eine Männerdomäne. Frau Blank, hören Sie doch einmal zu: 1,2 Prozent der Frauen sind in den entscheidenden Gila Altmann ({3}) Funktionen und gerade einmal schlappe 4 Prozent im Bundesverkehrsministerium. ({4}) Die Männer planen nach ihren Bedürfnissen. Gerade der Transrapid ist ein schönes Beispiel, das übrigens auch zeigt, wohin das führt. Ich will einmal darüber sprechen, wie für viele Frauen die Realität aussieht. Sie sieht ganz anders aus als die Ihre, Frau Blank, und die Ihrer Kollegen. Bei Ihnen geht es nämlich meistens darum, morgens von der Wohnung zur Arbeit zu kommen und abends wieder zurück. Aber andere Frauen bewältigen eine Vielzahl unterschiedlicher Wege, um zum Beispiel Haus- und Familienarbeit und den Beruf unter einen Hut zu bekommen. Sie bringen die Kinder zum Kindergarten oder in die Schule, gehen einkaufen, gehen arbeiten und begleiten die Kinder oder Familienangehörige auf den oftmals gefährlichen Wegen, wenn es zum Beispiel nicht einmal einen Fahrradweg oder einen Fußweg gibt. Auf diese Bedürfnisse nimmt die Verkehrspolitik überhaupt keine Rücksicht. Sie orientiert sich allein an den Erfordernissen, die durch die Erwerbstätigkeit gesetzt werden. Das gilt übrigens auch für den ÖPNV; da braucht man sich nur die Fahrpläne der Bahn anzuschauen. Alles andere wird zur vernachlässigbaren Restgröße abqualifiziert. Ich weiß, wovon ich rede. Ich rede gerade von den Frauen im ländlichen Raum, die immer mehr abgehängt werden, wenn sie kein Auto zur Verfügung haben. Der individuelle Aktionsradius wird immer weiter eingeschränkt. Aber Mobilität heißt Bewegungsfreiheit, und die ist um so höher, je mehr Aktivitäten in räumlicher Nähe erledigt werden können. Verkehrspolitik ist eben mehr, als nur Betonbänder durch die Landschaft zu planieren, aufwendige Verkehrsleitsysteme zu installieren und immer mehr Menschen in kürzester Zeit von einem Ort zum anderen zu transportieren. Verkehrspolitik ist auch Gesellschaftspolitik, und das heißt, Mobilität muß für alle möglich sein und darf nicht auf Automobilität reduziert werden. ({5}) Unter diesem Aspekt sind zum Beispiel Frauen in Ostdeutschland doppelt und dreifach abgehängt worden: Kindergärten sind geschlossen worden, Arbeitsplätze sind flötengegangen, und das ganze öffentliche Verkehrsnetz ist systematisch gekappt worden. Und warum? - Weil sich Verkehrs- und Raumplanung ausschließlich nach technischen und ökonomischen Gesichtspunkten richten und sich nicht in irgendeiner Form an den sozialen Erfordernissen orientieren. Deshalb ist in diesem Zusammenhang gerade der Aspekt einer gerechten Teilung der gesellschaftlichen Arbeit eminent wichtig, und zwar etwas mehr, als Sie, Frau Blank, gesagt haben. Wollen wir nämlich die Fixierung in der Verkehrspolitik auf männliche Erwerbspersonen verändern, brauchen wir eine gerechte Verteilung der Haus- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen. Erst wenn Männer über dieselben Erfahrungen verfügen wie Frauen, werden sich auch die Verkehrsstrukturen ändern. Nicht umsonst heißt es: Wenn Kindererziehung Männersache wäre, dann wären die Kindergärten schon längst in der Wirtschaftsförderung. ({6}) Statt dessen plant die Bundesregierung in trauter Eintracht mit der Automobilindustrie und Frau Blank den uneingeschränkten Autobesitz auch für Frauen und preist ihn als Lösung aller Mobilitätsprobleme. Diese Haltung ignoriert allerdings in unverantwortlicher Weise zum Beispiel die negativen ökologischen Konsequenzen eines neuen Autobooms. Die CO2-Reduktionsziele, die bei Ihnen sowieso niemanden interessieren, wären dann endgültig im Reich der Phantasie. Ich frage Sie, Frau Blank: Wie soll denn eine Frau, die weniger als monatlich 1 400 DM netto verdient - dazu gehören über 50 Prozent der Frauen -, monatlich dann auch noch 500 DM für ein Auto aufbringen? Eine Verkehrspolitik, die einseitig auf diesen Verkehrsträger setzt, kann beim besten Willen nicht sozial genannt werden. ({7}) Es stimmt auch nicht, wenn immer gesagt wird, der von der Autowerbung suggerierte Gewinn an frei verfügbarer Zeit werde durch den Besitz eines eigenen Autos erhöht. Wenn nämlich Frauen Autos haben, dann heißt das gleichzeitig, daß, wenn es in der Gegend keinen ÖPNV gibt, die Frauen für die Kinder und die Familienangehörigen, die autolos sind, mit den Autos die Begleitverkehre erledigen müssen. Einen Ausweg aus dem Mobilitätsdilemma gibt es nur dann, wenn wir endlich dezentrale Strukturen fördern, die Wohnen und Arbeiten wieder zusammenbringen. Der öffentliche Nahverkehr muß so ausgebaut werden, daß er den Alltagsanforderungen besser gerecht wird. Es kann aber nicht darum gehen, den Frauen den ÖPNV und den Männern das Auto zuzusprechen. Gleiche Mobilitätschancen für Frauen und Männer müssen das Ziel sein. Und das ist nicht durch eine „Auto-für-alle-Ideologie" zu verwirklichen, wie es bei der SPD ein bißchen durchschimmert. Und als Investitionsprogramm für die marode Automobilindustrie - das auch noch mit dem Segen der Bundesregierung - sollten sich Frauen wirklich zu schade sein. Es muß um den Abbau von Mobilitätszwängen gehen. Dazu gehören eine veränderte Raumplanung - Stichwort: Stadt der kurzen Wege - und damit zum Beispiel die Reduzierung der von Frauen zu leistenden Begleitverkehre. Gila Altmann ({8}) Die Verkehrsforschung hat sich darum bisher überhaupt nicht gekümmert. Deshalb fordern auch wir, daß sich die zukünftige Forschung auf die Mobilitätsbedürfnisse von Frauen in ihrer gesamten Komplexität orientieren muß. Vor allem aber müssen die Frauen von Anfang an in den Gremien sein, in denen geforscht, geplant und entschieden wird, nicht erst dann, wenn es zu spät ist. Frauen müssen sich auf allen politischen Ebenen einmischen, vom Bundestag bis zu den Kommunalparlamenten. Sie müssen auch entsprechend beteiligt werden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz: Von der Bundesregierung wissen wir auf Grund der Antwort, daß wir nichts mehr von ihr zu erwarten haben. Also, liebe Frauen, da bleibt nur eines: Nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand, und machen wir den Männern Beine! Danke. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun spricht die Abgeordnete Lisa Peters.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Vorweg möchte ich meine Kolleginnen von der F.D.P.-Fraktion entschuldigen. Sie sind heute auf einem ganz wichtigen Frauentermin; andernfalls wären sie alle hier. Mein Thema heißt heute „emanzipierte mobile Frauen"; so will ich das einmal nennen. Ich frage mich: Wann bin ich als Frau emanzipiert? Dann, wenn ich ein Auto fahre und das auch bezahlen kann? Oder dann, wenn ich für mich beschließe, daß ich kein Auto fahren will und auf andere Verkehrsmittel setze und damit bewußt meine Mobilität einschränke? Kann ich dann erwarten, daß Bund, Länder und Kommunen alle Beförderungsmöglichkeiten vorhalten, zu bezahlbaren Preisen wohlgemerkt? In den beiden Großen Anfragen, die heute behandelt werden, werden viele Fragen aufgeworfen. Einige sind nicht beantwortet worden; es gibt da noch ein bißchen Stoff. Sie treffen auf ein Feld, wo noch viel zu beackern ist. Nur die wichtigsten Dinge, meine Damen und meine Fragestellerinnen, sind hier in Bonn zu lösen. Drei Viertel aller Fragen müssen wir vor Ort, in den Gemeinden, in den Städten und in den Landkreisen diskutieren und umsetzen. ({0}) Für mich stelle ich fest, daß das Mobilitätsverhalten von Frauen und Männern heute zwangsläufig noch große Unterschiede aufweist, was sich aber in 20 Jahren völlig verändert haben wird. ({1}) Ich will zuerst die Verkehrssituation mit dem Pkw ansprechen. Heute, meine Herren und meine Damen, machen genauso viele Frauen ihren Führerschein wie die männlichen Kollegen. Das ist eine Selbstverständlichkeit; darüber wird nicht mehr geredet. Ich weiß, daß das früher nicht so war. Als ich mit 20 Jahren meinen Führerschein machen wollte und wir zu Hause kein eigenes Auto hatten, wurde lange über die Frage geredet: Wozu macht sie den Führerschein? Ich habe mich damals durchgesetzt. Ich wollte mobil sein. ({2}) Heute, meine Herren und meine Damen, kann ich nur jeder Frau den Rat geben, den Führerschein zu erwerben, um ein Stück unabhängig zu sein. Es ist nicht zwingend erforderlich, daß ich das Auto täglich bewege. Das Auto steht auch einmal ganz still da. Das liegt an mir selbst, wenn ich denn ein Auto habe. Den Antworten entnehme ich - das war auch schon in anderen Publikationen zu lesen; Frau Ganseforth, Sie haben das gestreift -, daß die Frauen die besseren Autofahrer sind. Ich will dieses Thema ein bißchen überschlagen. Ich denke aber, daß man aus der Tatsache, daß sie in weniger Unfällen verwickelt sind, einige Lehren ziehen sollte. Wenn gesagt wird, daß wir noch einige Untersuchungen bräuchten, sollten wir dem Rechnung tragen und das Ergebnis den Fahrschulen zur Verfügung stellen. Das meine ich ganz ernst. Irgendworan muß es ja liegen; das habe ich daraus entnommen. ({3}) Um das Kapitel Auto abzuschließen, stelle ich fest, daß wir auch in Zukunft in den weiten ländlichen Räumen auf das Auto angewiesen sein werden. Nur mit dem Auto, meine Herren und meine Damen, haben Frauen überhaupt die Möglichkeit, qualifizierte berufliche Angebote wahrzunehmen. Aber auch sonst wird das Auto im ländlichen Raum benötigt. Es bringt uns Chancengleichheit im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich. Wie in allen Fällen kommt es auf die richtige Um- und Einsetzung an.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Peters.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Was ist denn?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Altmann möchte eine Zwischenfrage stellen.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Altmann, bitte. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin auch ganz bestimmt nicht unfair.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist schön.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte Sie gern fragen, Frau Peters, wie Sie das sehen. Wir kommen beide aus ländlichen Räumen. Wir wissen, daß gerade in den ländlichen Räumen viele alleinstehende ältere Frauen leben. Deshalb sind die Landfrauenverbände sehr stark daran interessiert, für eine Mobilität dieser Menschen zu sorgen. Wie stellen Sie sich das vor, einer Rentnerin mit Mindestrente ein Auto zur Verfügung zu stellen? Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, wird es auf dem Land auch weiterhin nicht ohne Auto gehen. Wie wollen Sie die Befriedigung dieser Mobilitätsbedürfnisse, zum Beispiel die Familie zu besuchen und am Sonntag auf den Friedhof zu kommen, für diese Gruppe sicherstellen?

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Altmann, ich habe mir wieder zuviel aufgeschrieben und kann nicht all das sagen, was ich sagen möchte. Das, was Sie eben gefragt haben, kommt noch dran. Ich habe mich eben nur mit dem Auto beschäftigt, vielleicht viel zu lange. Jetzt kommen die anderen Punkte an die Reihe. Ich will die Mobilität dieses Personenkreises gewährleistet sehen; Sie haben das richtig erkannt. Auch in der Landfrauenarbeit habe ich intensiv daran mitgearbeitet. Dafür gibt es intelligente Systeme, auf die ich noch zu sprechen komme. Die Probleme müssen wir vor Ort lösen, nicht hier im Bundestag. Ich will versuchen, einige der Lösungen aufzuzeigen. Es wird mir aber nicht gelingen, alle darzustellen, weil ich nur noch vier oder fünf Minuten Redezeit habe. Auch in Zukunft, so denke ich, wird es nicht möglich und bezahlbar sein, den ÖPNV so zu gestalten, daß er das letzte Dorf mehrmals täglich im Takt erreicht. Das ist meine Feststellung. Wir haben aber die große Chance, das zu ändern. Diese nutzen nach meiner Ansicht leider viel zuwenig. Seit dem 1. Januar 1996 wird der Nahverkehr nämlich von den Ländern gestaltet und auch finanziert. ({0}) Der Bund hat nach meiner Ansicht große Anstrengungen unternommen - einige von Ihnen haben schon damals im Verkehrsausschuß gesessen - und die Gelder bereitgestellt. Es stellt sich nun die Frage, ob die Mittel vor Ort und in den Flächenstaaten richtig eingesetzt werden. ({1}) Ich habe in den letzten Wochen festgestellt, daß leider nur sehr, sehr wenige Landkreise das Problem überhaupt ernst nehmen, daß es überhaupt noch keine Nahverkehrsgesellschaften gibt, daß in den Kreisverkehrsämtern noch nicht mal die nötigen Leute zur Verfügung stehen und daß jetzt wieder vieles mit der heißen Nadel genäht wird, weil ein Termin gesetzt ist. Da kann ich von unserer Seite aus berichten - Frau Faße wird es so ähnlich gehen -, daß wir fleißig dabei sind und mit dem. Kreis Cuxhaven und anderen Kreisen zusammen rechtzeitig etwas geordert haben. Wir hatten in Niedersachsen am 15. September Kommunalwahlen. Es sind ganz viele Frauen, wesentlich mehr als bisher - wie wir es immer gewünscht haben -, in Räte und Kreistage gewählt worden. Diese Frauen haben es jetzt in der Hand, all das zu gestalten. Noch ist es nicht soweit. Dort sind schon intelligente Systeme geschaffen worden. Es wird mit Schnellbussen gearbeitet, auch bis ins letzte Dorf - nicht zum Friedhof, aber zur Arbeit. Diese Schnellbusse befördern mittlerweile 100 Prozent mehr Fahrgäste, und zwar nach ganz kurzer Zeit. Ich kann das hier nicht alles aufzählen; es gibt eine ganze Menge. Wir müssen, denke ich, nur intensiv nachdenken, dann bestellen und wissen, ob wir es finanzieren können. Da kann ich von uns nur sagen: In Nordniedersachsen wird das so gemacht. Wenn Sie bemängeln - das ist sicher richtig -, daß Frauen so wenig in Ministerien und Behörden vertreten sind, dann kann ich sagen: Auf der kommunalpolitischen Ebene gestalten bei uns Frauen das Verkehrsthema. Bei uns sind die Posten in Aufsichtsräten, die es zu vergeben gab, von Frauen besetzt. Ihre Kollegin Dr. Wetzel hat einen inne, und ich habe den anderen. So ist das im Kreis gelöst worden. Ich denke, das war richtig. ({2}) Nur wenn wir dabei sind, können wir nach meiner Ansicht diese Probleme hinsichtlich der Frauen, der Kinder und der Behinderten lösen und nicht vergessen. Wir vergessen sie bestimmt nicht. Das muß alles vor Ort gelöst werden. Vor einigen Jahren hatten wir noch genügend Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Ich habe mich immer gewundert, wie wenig sinnvoll diese Mittel manchmal in Anspruch genommen wurden. ({3}) Jetzt ist es anders. Wir haben in Buxtehude - von den Verkehrsexperten des Bundes ausgedacht - an einem flächendeckenden Versuch der Verkehrsberuhigung aktiv teilgenommen, und zwar super teilgenommen. Es ist so etwas Vernünftiges daraus geworden. Unsere Stadt ist zu 80 Prozent verkehrsberuhigt. Das alles ist mit dem Willen der Bürger geschehen. Den Vorteil haben Frauen, Kinder, alte Menschen. ({4}) Ich sehe bei uns - das will ich hier einmal feststellen - sehr viele zufriedene Mütter, die ihre Kinder erziehen und die Zeit auch genießen. Das muß man einfach sagen. Ich komme zur Kriminalität. Dieses Thema ist mir sehr ernst. Ich denke, wir müssen viel mehr miteinander reden und wir müssen damit umgehen können. Im ländlichen Raum - das sage ich den Städtern - funktioniert in der Regel ja sehr vieles, weil man dort noch miteinander spricht und weil man sich doch noch ein bißchen um den anderen kümmert. Das ist so. Ich denke, wir müssen ein wenig von der Ichbezogenheit wegkommen, hin zum Wir. Mit dem Thema Angst müssen wir vernünftig umgehen. Es ist einfach so: Frauen haben mehr Angst als Männer; auch für mich gilt das. Leider haben wir die finanziellen Mittel nicht in dem Umfang zur Verfügung gehabt, wie es wünschenswert gewesen wäre. Ich muß auch aus meiner Stadt berichten, daß wir aus Kostengründen einige Straßenlaternen nicht mehr so lange einschalten. Aber was hindert uns beispielsweise daran, einen Parkplatz mit Bewegungsmeldern auszustatten? Diese Bewegungsmelder schalten sich nur dann ein, wenn jemand den Parkplatz betritt und zu seinem Auto geht. ({5}) Eines ist mir nicht gelungen - auch diese kommunalpolitische Tatsache will ich hier berichten -: Ich habe immer gefordert, daß für Frauen, die abends aus dem Bahnhof kommen, beleuchtete Straßen vorhanden sein müssen. Warum bringen wir an Straßenlaternen nicht einen Schalter an, der die Laternen einer Straße bis zur nächsten Kreuzung einschaltet? Dieser Schalter würde ähnlich wie der in einem Mietshaus funktionieren. Das alles ist technisch möglich. Diese Dinge könnten wir alle vor Ort tun. ({6}) Ich konnte nur einige Dinge streifen. Ich will noch den Satz anfügen: Wir werden in unseren Regionen dafür sorgen, daß die Dinge, die du, Gila Altmann, angesprochen hast, in die Tat umgesetzt werden. Wir werden das durch intelligente Systeme auch schaffen. Man kann ja in zwei Jahren noch einmal nachfragen. Ich möchte mit einigen kurzen Sätzen schließen. Am meisten benutzen wir das Auto natürlich in unserer Freizeit, und das mit steigender Tendenz. Ich habe über Weihnachten das Buch von Horst Opaschowski verschlungen, das sich mit den Tendenzen bis zum Jahre 2010 befaßt. Ich bin ja auch als Mitglied der Enquete-Kommission damit befaßt. Wir beklagen immer: Alle Straßen sind voll; nichts läuft mehr. Wir verursachen das selbst. Das ist so, weil es der Mensch will. Alle Umfragen weisen darauf hin. Zum Schluß - jetzt leuchtet endgültig die rote Lampe -: Ich persönlich als ältere Frau fühle mich im Pkw, in der Bahn, auf dem Fahrrad und zu Fuß sehr wohl. Ich setze alle Verkehrsmittel nach Bedarf ein. Das ist auch dadurch möglich, daß ich seit vielen Jahren gerade im ÖPNV sehr stark mitgearbeitet und auch die Fahrpläne in Richtung Hamburg mitbestimmt habe. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich das Wort der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der typische Verkehrsplaner ist zwischen 40 und 50 Jahre alt, dynamisch, flexibel, natürlich Autofahrer, vor allen Dingen aber eines: Er ist Mann. Nur nebenbei bemerkt, liebe Renate Blank: Als Männerfeindin tauge ich, glaube ich, überhaupt nicht. Darum geht es auch gar nicht. Es geht hier nicht um neue Feindbilder, sondern es geht letzten Endes darum, daß sich Frauen mit ihren ganz spezifischen Mobilitätsbedürfnissen stärker in Verkehrsplanung und Verkehrspolitik einbringen. Denn daß Städte heute vielfach unbewohnbar sind, ist eine Folge männlich dominierter Verkehrspolitik. Und sie beginnt hier im Bund; das kann man nicht auf die Kommunen abschieben. Man bedenke, daß nur zirka 1 Prozent der Entscheidungspositionen in der Verkehrsplanung von Frauen besetzt sind. Nun müssen wir konstatieren, daß Frauen zunehmend erwerbstätig sind. Dabei muß ich die neuen Bundesländer ausnehmen. Dort gibt es einen genau entgegengesetzten Trend. Insgesamt nimmt aber der Anteil von Frauen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen zu. Aber Frauen sind in der Mehrheit nach wie vor - das ist nun einmal eine Tatsache, um die wir nicht herumkommen - doppelt und dreifach belastet. Sie bewältigen neben ihrem Beruf die Kinderbetreuung sowie den Haushalt. Nicht selten sind sie in Ehrenämtern tätig. All das führt bei Frauen zu anderen Mobilitätsbedürfnissen als bei Männern. Während der tägliche Weg bei Männern der Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung ist, sind die Bewegungsbedürfnisse bei Frauen wesentlich komplexer: Sie müssen möglichst effektiv miteinander verknüpft werden, da sie zumeist in einem engen zeitlichen Rahmen stattfinden. Sie sind an die Arbeitszeiten, an Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen und Behörden, Geschäftszeiten usw. gebunden. Diesen Bedürfnissen wird durch die gegenwärtige Gestaltung der Verkehrssysteme in keiner Weise Rechnung getragen. Eine männerdominierte Verkehrspolitik und Verkehrsplanung ignoriert eben schlichtweg diese Besonderheiten der Mobilitätsbedürfnisse von Frauen. Männer können halt nicht für Frauen denken. Das müssen wir schon selbst machen. Sie ignoriert aber auch, daß eine Mehrheit von Frauen die Mehrzahl ihrer Wege - auch das ist schon gesagt worden - zu Fuß, per Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegt. Mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren nur zirka 28 Prozent der Männer, aber 70 Prozent der Frauen. Mit dem eigenen Pkw fahren zirka 12 Prozent der Frauen, jedoch über 50 Prozent der Männer. ({0}) - Ja, aber es ist heute immer noch so. Das ist eine Tatsache, um die wir nicht herumkommen. Interessen von Frauen finden in der Verkehrsplanung nach wie vor nur sehr stark unterbelichtet Berücksichtigung. Die Folgen sind eine Privilegierung einer motorisierten Minderheit und die Beschneidung persönlicher Freiheitsrechte von Frauen. Denn nicht nur, daß Frauen, die nicht motorisiert sind, mehr Zeit und Mühe verwenden müssen, um am öffentlichen Leben teilzuhaben; oftmals verzichten sie ganz bewußt auf Mobilität aus Angst vor Belästigungen und vor Gewalt. Tunnel und schlecht beleuchtete Straßen oder Haltestellen führen zu einem Gefühl der Unsicherheit, dem frau sich nicht gern aussetzt. Damit verzichten Frauen oftmals aber auch auf gesellschaftliche Kommunikation, auf Qualifikation, auf Weiterbildung zum Beispiel an Abendschulen und auf Hobbies. Die Forderungen können nur sein, daß ein Maßstab für menschliche Verkehrsorganisation die Mobilitätsbedürfnisse einer Mehrheit der Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer sein sollen - und das sind nun einmal Frauen, Kinder, Jugendliche und Ältere. ({1}) Daraus folgt, daß wir zu einer Privilegierung des öffentlichen Verkehrs und des Umweltverbundes kommen müssen und daß vor allen Dingen der Anteil von Frauen in der Verkehrsplanung - und, ich denke auch in der Verkehrspolitik - deutlich erhöht werden muß. Es ist notwendig, ihnen weite Kompetenzen einzuräumen. Da, wo es zum Beispiel noch nicht möglich ist, über Quotierung in Verkehrsbeiräten tatsächlich eine Mehrheit von Frauen zu sichern, sollte man zum Beispiel über Frauen-Vetorechte nachdenken. Letztlich sind es aber vor allem verkehrsvermeidende Strategien, die eng mit den besonderen Mobilitätsbedürfnissen von Frauen korrespondieren. Verkehrsvermeidung ist also damit frauenfreundlich. Profitieren werden wir aber alle davon. Ich danke. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens das Wort.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ja im Bundestag wichtige, ganz wichtige und auch nicht so wichtige Themen. ({0}) Ich will das gar nicht beurteilen. Das soll jeder mit sich selbst ausmachen. Aber ich bin sicher, daß dieses Thema nicht dazu da ist, um in irgendeiner Form Frauen gegen Männer oder Männer gegen Frauen aufzubringen. Es ist ein Thema, dem wir uns partnerschaftlich zuwenden sollten. Insofern scheint mir das der richtige Ansatz zu sein. ({1}) Eine vernünftige Verkehrspolitik muß natürlich dafür sorgen, daß die Leute von dem Ort, an dem sie sind, zu dem Ort kommen können, zu dem sie wollen und zu dem sie müssen. Das gilt für Frauen wie für Männer. Nun wissen wir aus Erhebungen, aus Befragungen aus dem Jahre 1995, daß vor allen Dingen in der Abendzeit, in der Dunkelheit gewissen Sicherheitsbedürfnissen wohl nicht hinreichend nachgekommen werden kann und daß insbesondere Frauen dann die Fahrtstrecken scheuen. Das muß man ernst nehmen, das ist gar keine Frage. Insofern bin ich in das Thema eingestiegen, um zu sagen: Ich kann nicht entscheiden, ob es ein besonders wichtiges Thema ist oder nicht. Man muß diese Dinge einfach zur Kenntnis nehmen und versuchen, darauf eine angemessene Antwort zu geben. Das haben wir zum Beispiel in den Bereichen, wo wir zuständig sind, versucht zu tun. Den Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen konnte man unschwer entnehmen, daß der Bund in den meisten Fällen keine direkte Zuständigkeit hat. ({2}) Da, wo wir entsprechend reagieren können, wollen wir es gerne tun. Wir wollen es planen und es mit aufnehmen in die Möglichkeiten. Wenn ich einmal an das denke, was Kollegin Lisa Peters vorgetragen hat, hat sie den meisten Beifall für Anliegen bekommen, die sie in ihrer Kreistagspolitik vor Ort klären konnte. Das sind sehr konstruktive Vorschläge. Ich kann das nur wohlwollend aufgreifen und möglicherweise einmal für eine Veröffentlichung des Bundesverkehrsministeriums übernehmen, um auch andere Stellen in Deutschland auf diese Möglichkeiten hinzuweisen. Das ist eine tolle Sache, ich habe nichts dagegen, ich bin dafür. Wir haben auf der Bundesebene dafür gesorgt, daß wir zum Beispiel seit dem letzten Sommer an den Autobahnrast- und -tankstellen und auch an sonstigen Rastanlagen, auf denen sich Tankstellen befinden, begonnen haben, spezielle Frauenparkplätze einzurichten. Das scheint mir auch nötig zu sein. Es kann nicht sein, daß man, wenn man nachts auf der Autobahn unterwegs ist, nur deswegen übermüdet und ohne Pause weiterfährt, weil man sich nicht sicher fühlt. Wir gehen auf diese Situation ein, indem wir das bei insgesamt 420 solcher Raststätten mit Tankanlagen in Deutschland einrichten. Das ging nicht in einem Schritt, aber wir haben angefangen. Einige stehen noch aus, der Start ist jedoch bereits erfolgt. Wenn Länder und Kommunen diesem Beispiel da, wo sie handeln können, folgten, wäre das genau der richtige Weg. Ich will an das erinnern, was bereits von der Koalitionsseite angesprochen wurde, nämParl. Staatssekretär Manfred Carstens lich die Handlungsmöglichkeiten im öffentlichen Personennahverkehr und im Schienenpersonennahverkehr. Der Bund hat das Gesamtvolumen an Geldern - das waren Milliardenbeträge - auf die Länder übertragen. Diese können nun in ihrer eigenen Kompetenz das Geld anlegen und mit Blick auf die besondere Sicherheit der Frauen tätig werden. Ich bin gespannt, ob entsprechende Ideen umgesetzt werden. Was Buxtehude an Möglichkeiten gesehen hat - weswegen sollte nicht einmal Buxtehude im Deutschen Bundestag auf diese positive Weise erwähnt werden? -, sollte durchaus auch im übrigen Deutschland umgesetzt werden. Ich bin sehr dafür. ({3}) Es gibt noch andere Betätigungsfelder, gerade für die Länder und Kommunen, für die Raumordnung, für Bebauungs- und Flächennutzungspläne. Wir sind in Deutschland aus welchen Gründen auch immer jahrelang der Ideologie nachgerannt, daß man das Wohnen vom Arbeiten trennen sollte. Es ist natürlich nicht uninteressant, dies mit aufzugreifen. Wenn man zumindest ein wenig relativierte, daß man auch da arbeiten kann, wo man wohnt, daß man zum Arbeitsplatz nicht lange Wegstrecken zurücklegen muß, daß sich ein solcher Trend herausbildet, wäre das ein ganz interessanter Punkt, der im Zusammenhang mit der Sicherheit im Straßenverkehr, wo auch immer, wichtig ist und noch mehr als bisher wichtig sein kann. Ich möchte eines zum Abschluß sagen: Eigentlich ist es schade, daß wir uns in Deutschland über solche Fragen überhaupt unterhalten müssen. Es ist bedauerlich, daß man im Deutschen Bundestag darüber reden muß, daß es diese Probleme gibt, daß Frauen meinen - so ist es tatsächlich -, daß sie in den Abendstunden und in nächtlicher Dunkelheit in unserem Land nicht mehr sicher sind. Das an sich ist das Thema. ({4}) Nun kann ich natürlich an allen Ecken und Enden versuchen dagegenzuhalten, aber damit ist das Grundübel nicht beseitigt. ({5}) Es wäre doch schön, wenn wir wieder ein Land würden - offensichtlich sind wir es im Moment nicht -, von dem man sagen kann: Da bist du sicher, ob bei der hellen Sonne oder nachts, wenn der Mond scheint, oder wenn es ganz dunkel ist. Das hängt natürlich mit solchen Werten zusammen, die bei uns verlorengegangen zu sein scheinen, wie Rücksichtnahme, Anstand, Höflichkeit und Respekt. ({6}) - Das hat nicht direkt mit der Regierung zu tun, sondern das hängt mit Grundwerten zusammen, die ich als christliche Grundwerte bezeichnen möchte. ({7}) Diese Grundwerte sind in unserem Lande leider verschüttgegangen. ({8}) Das fängt mit der Erziehung der Kinder zu Hause an, das setzt sich in den Kindergärten und in den Schulen fort. Wenn ich mir ansehe, was Zeitschriften, dicke Bücher und vor allem das Fernsehen daraus machen, ({9}) dann sage ich Ihnen, daß vieles von dem, was über diese Medien in Kinderherzen, in den Herzen Jugendlicher und Erwachsener kaputtgemacht wird, durch keine noch so gute Politik wettgemacht werden kann. Deswegen sollten wir uns mehr darüber unterhalten, wie wir diese Dinge wieder in Ordnung bringen können, ({10}) bei der CDU/CSU genauso wie bei der SPD; denn dieses Problem hat mit Parteien direkt kaum etwas zu tun. ({11}) Wenn uns das heute abend etwas näher gekommen sein sollte, dann wird es eine bessere Zukunft auf diesem Gebiet geben, als wir bislang erwarten können. ({12})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Annette Faße.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Carstens, ich habe erst gedacht: Im Ansatz ist ganz interessant, was Sie uns hier liefern. Es bestand auch ein großer Unterschied zu dem Ansatz, den Frau Blank heute abend leider präsentiert hat. Aber ich muß Ihnen sagen: Ihre letzten Bemerkungen haben uns wieder auf den Boden der Tatsachen geholt; denn vieles, was Sie eben angeprangert haben, ist Folge Ihrer politischen Fehlentscheidungen. ({0}) Das finde ich wirklich nicht mehr korrekt. ({1}) Ich denke, es ist eindeutig und im Haus bekannt, daß die Mobilitätsbedürfnisse von Frauen wesentlich komplexer sind als die von Männern. Ich denke, das steht eindeutig fest. Auch daß es in Ballungsräumen sehr viel einfacher ist, diese Bedürfnisse zu erfüllen, als im ländlichen Raum, ist, denke ich, unstrittig. Aber man muß einen Kritikpunkt erweitern: daß hauptsächlich Männer die Verkehrsplanung machen. Ich komme aus dem ländlichen Raum. Die Region wurde bisher in der Verkehrsplanung massiv vernachlässigt, zu Lasten der Menschen und vor allem der Frauen dort. ({2}) Wir haben überall das Schlagwort „Stadt der kurzen Wege". Jeder, der meint, ein Experte zu sein, hat den Begriff aufgenommen. Jetzt versuche man einmal, das in den ländlichen Raum umzusetzen. Wie hört sich das dann an? „Region der kurzen Wege"? „Landkreis der kurzen Wege"? Ich denke, schon da wird deutlich, mit welchen unterschiedlichen Problematiken wir es zu tun haben. Es ist richtig, daß auch Frauen Autos besitzen. Das ist nicht zu leugnen. Es sind immer noch sehr wenige; das hat die Anfrage gezeigt. ({3}) Hauptsächlich sind immer noch die Männer im Besitz dieses Fahrzeugs. Aber daß Frauen ein Auto besitzen, bedeutet noch lange nicht, daß sie es nach ihren Wünschen nutzen können. Schließlich gilt es in vielen Fällen, den Familienerfordernissen gerecht zu werden. Die volljährigen Kinder wollen mobil sein, im Normalfall nicht zu Lasten des väterlichen Autos. Der Vater braucht sein Auto, um zur Arbeit zu fahren; da steht es dann den ganzen Tag. Dann wird es geschont, damit der Sohn bitte schön keine Beulen ins Auto fährt. Das kleine Kompaktauto von Muttern ist ideal geeignet zu Fahrversuchen und kann ein paar Beulen ab. ({4}) - Realität! - Wenn das einmal eine Woche ausfällt, weil es repariert werden muß, ist das gar nicht so tragisch: Vater hat das große Familienauto, aus vielerlei Gründen. ({5}) So geht es bei der Nutzung des Zweitwagens in der Regel zu Lasten der Frauen. ({6}) Mutter ist es gewohnt. Über Jahre hat sie die Mobilitätswünsche ihrer Sprößlinge gern aufgenommen, hat sie überall hingefahren. Mit einem charmanten Lächeln schafft es der große Sohn immer wieder, seiner Mutter das Auto abzuluchsen. Dann ist ihr Wunsch nach Mobilität wieder einmal ein Stückchen eingeschränkt. ({7}) Über Jahre haben Frauen die Hol-, Bring- und Begleitdienste geleistet. Wir müssen einfach feststellen, daß die Freizeitwünsche unserer Kinder sich geändert haben. Sie sind kaum noch in dem eigenen Dorf wahrzunehmen. Durch die Veränderung der Lage der Schulen sind auch Schulfreunde nicht mehr nebenan zu erreichen, sondern nur mit Fahreinsätzen. ({8}) Ältere Familienmitglieder müssen zum Arzt oder wollen zu kulturellen Veranstaltungen gefahren werden. Daneben ist es selbstverständlich, daß Einkäufe, Behördengänge und ähnliches erledigt werden, und das ganz häufig neben der und zusätzlich zur eigenen Berufstätigkeit. ({9}) Aber längst nicht alle Frauen verfügen über einen Pkw. Wer weiß zudem, wie lange Zweitwagen unter den jetzigen wirtschaftlichen Bedingungen noch zu finanzieren sind? Die meisten Frauen im ländlichen Raum sind ohnehin auf den öffentlichen Personennahverkehr angewiesen. Hier stellt sich auch nicht die Frage, ob man aus ökologischen Gründen auf das Auto verzichten sollte, sondern es bleibt nur die Nutzung des ÖPNV. Wenn ich mich recht erinnere, ist der ÖPNV im ländlichen Raum hauptsächlich für den Schüler- und Berufsverkehr eingerichtet worden. Dafür ist er auch heute noch vorrangig da. Was haben wir gekämpft, damit die Schülerbusse für den normalen Bürger geöffnet werden! Ob es schön ist, mit diesen Bussen zu fahren, ist eine andere Sache. Aber das war ein sehr mühsamer Weg. Was passiert jedoch in den Ferien, wenn ich auf den Schülerbus angewiesen bin, um zur Arbeit zu kommen? Die Busse fahren nicht. ({10}) Selbst Besuche beim Arzt werden dann zu einem Unterfangen, das genau geplant werden muß. Verpaßt man einen Bus oder einen Zug, dann ist das ein Tagesunterfangen. Ich denke, daß insbesondere Frauen die Benachteiligten sind. Nun gibt es natürlich auch auf dem Lande die Doppelorientierung der Frauen. Das heißt, auch Frauen auf dem Lande wollen Berufstätigkeit und Familienleben miteinander verbinden. Für diese Frauen besteht die Schwierigkeit, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden, den Sie mit dem ÖPNV erreichen können. Da wird von den Frauen verlangt, in bezug auf Arbeitszeiten und Berufstätigkeit flexibel zu sein. Aber daß Flexibilität Mobilität voraussetzt, wird häufig vergessen. Darum sind die Frauen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz eingeschränkt. Wenn dann noch ein Kursus als Vorbereitung oder Weiterbildung läuft, wird es noch problematischer. Im ländlichen Raum fallen Kurse aus, weil es den Frauen nicht möglich ist, den betreffenden Ort, auch wenn er zentral gelegen ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und zu gegebener Zeit wieder zurückzufahren. Das heißt, es wird den Frauen weiß Gott nicht leichtgemacht, berufstätig zu sein. In diesem Zusammenhang möchte ich einmal die Frage stellen, ob sich jemand schon einmal überlegt hat, was die Verlängerung der Öffnungszeiten für die berufstätige Frau bedeutet. Für die Frau stellt sich die Frage: Gibt es um die Zeit noch einen Bus, der vom Arbeitsplatz zum Bahnhof fährt, und muß ich auf den Zug nicht eine Stunde warten, um ins Dorf zu kommen? Gibt es dann noch einen Bus, der mich vom Bahnhof zu meinem Wohnhaus fährt? - Das Problem ist da, und ich möchte es ganz bewußt thematisieren. Manchmal frage ich mich, wer sich das eigentlich ausgedacht hat, ohne dieses Problem zu besprechen. ({11}) Es ist konkret vorhanden. Vermutlich ist es der Minister gewesen, der auch die Meinung vertritt, daß es in Deutschland immer noch zu schwierig sei, Leute zu entlassen. ({12}) Dann möchte ich auf die Dienstleistungsangebote im ländlichen Raum eingehen. Serviceleistungen lohnen sich nicht mehr; es rechnet sich nicht. Die Sparkasse hat schon lange die Segel gestrichen. Die Zweigstelle der Volksbank wird aufgelöst. Mit Glück wird eine Postfiliale, eine Postagentur eingerichtet. Das geht aber nicht immer auf, weil der TanteEmma-Laden nicht da ist. Es wird auch geplant, die Tankstelle zu schließen, weil die Ölkonzerne die EU- Normen, die erfüllt werden müssen, nicht umsetzen wollen. Das lohnt sich auf dem flachen Land nicht. Wenn nun der Postbeamte alles mitnehmen soll, dann frage ich mich, was passiert, wenn mehr als Briefmarken nachgefragt werden, wenn ein Paket ins Ausland gebracht werden soll. Der Postbeamte wird es nicht annehmen. Das ist nicht möglich, weil er dafür nicht kompetent ist. Daraus folgt für mich ganz deutlich: Die Strukturveränderungen in unseren Dörfern, für die wir auch Verantwortung haben - ich erwähne noch einmal die Post; wir haben auch einen Postminister -, ({13}) sind zum Nachteil der Frauen. Wenn bei den Entscheidungen in der Raumplanung nicht auch Frauen mitwirken, dann wird das alles nichts. Viele Frauen verzichten auf eine Teilnahme an abendlichen kulturellen Veranstaltungen. Für behinderte Frauen im ländlichen Raum ist es besonders schwierig; denn Sonderbusse fahren nachts und abends überhaupt nicht. Für Frauen mit Behinderungen ist eine Teilnahme an abendlichen Veranstaltungen, an Selbsthilfegruppen nicht möglich. Was die Gefahr in den Dörfern betrifft, so habe ich, als ich dies das erste Mal erwähnt habe, hier so ein Lächeln gesehen. Es ist aber so. Ich selbst bin als Kind von der Bushaltestelle nach Hause gerannt; denn die Straßenbeleuchtung war schon ausgeschaltet worden, bevor der letzte Bus im Dorf angekommen ist. Jetzt sagen Sie nicht: Das gibt es heute alles nicht mehr. Fragen Sie einmal in Ihren Dörfern, wie die Straßenbeleuchtung nachts geregelt ist und wann der letzte Bus kommt! Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt Alternativen. Es gilt, diese Alternativen zu nutzen. Ich bin mit Ihnen einig: In vielen Punkten ist der Bund zuständig, aber auch die Länder, die neugegründeten Verkehrsverbünde. In diesem Zusammenhang halte ich es für sehr wichtig und sehr berechtigt, daß wir dieses Thema heute abend miteinander diskutieren. Ich meine, daß auch der Bund in der Pflicht ist. Er soll die gleichen Lebensverhältnisse in allen Regionen schaffen. Wenn wir es nur in der Stadt machen, dann, muß ich Ihnen sagen, sind die Frauen auf dem Lande sehr enttäuscht. Wenn wir dafür noch Daten und Fakten brauchen, dann ist hier auch das Forschungsministerium gefragt und gefordert. Das süffisante Lächeln auf der rechten Seite hat ein bißchen aufgehört. Ich freue mich darüber. Vielleicht, Herr Staatssekretär, wäre es ein Zeichen, einmal eine Frau von der CDU als Staatssekretärin, wenn sie nicht gerade Frau Blank heißt, zu haben. Ich denke, das wäre ein Zeichen, Herr Carstens, das Sie einmal setzen könnten. Danke schön. ({14})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich dem Abgeordneten Wilhelm Josef Sebastian das Wort.

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn sechs Frauen in einer Debattenrunde zu einem Thema sprechen, dann kommen einem als Mann vielleicht schon Bedenken, ob man überhaupt den Sachverstand hat, dazu reden zu dürfen. Freunde haben mich aber bestärkt, denn sie haben gemeint, ich hätte Ahnung von Frauen und Mobilität, weil - nicht das, was Sie vielleicht denken - ich verheiratet bin, drei Töchter habe und somit in einem Viermädelhaus wohne und deshalb die Probleme kenne. ({0}) Meine Damen und Herren, die hier von den Fraktionen der SPD und der Grünen zur Beratung eingebrachten Anfragen zu frauenspezifischen Fragen der Verkehrspolitik sind nach meiner Meinung beide von einem grundsätzlich falschen Verständnis geprägt. Es wird hier in einem bestimmten PolitikbeWilhelm Josef Sebastian reich eine in weiten Teilen künstlich herbeigeführte „Separation" der Frauen von den Männern und übrigen Gruppen der Gesellschaft beschworen. Lassen Sie mich zu Beginn auch noch sagen: Der Staatssekretär hat zwar offengelassen, ob es ein sehr wichtiges oder wichtiges Thema ist. Das kann ich, wie meine Kollegin Frau Blank schon gesagt hat, so bewerten, daß wir Wichtigeres tun könnten. Es zeigt sich leider auch in dieser speziellen Frage, daß die Verkehrspolitik der Opposition von ideologischen Vorgaben weitgehend eingeschnürt ist. Das Weltbild bestimmt hier die angebotene politische Lösung. Für pragmatische, einzelfallgerechte und dezentrale Ansätze bleibt innerhalb dieses Schemas kein Platz. Was Sie anzubieten haben, bestimmt sich nicht nach der konkreten Notwendigkeit des Handelns, sondern nach Ihren eigenen Utopien, von denen wir glauben, daß sie so nicht zu verwirklichen sind. Allein die von der SPD selbst getroffene Feststellung: „Dabei lassen sich Frauen nicht als homogene Gruppe definieren, sondern müssen ... differenziert werden", macht klar, daß Ihr Ansatz den falschen Weg verfolgt. Die Interessen der Frauen sind so unterschiedlich gelagert, daß einzelne Lösungen selbst innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe auf geteilte Meinungen stoßen dürften. Verkehrspolitik nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu machen führt automatisch zu falschen Prioritäten, die der Gesamtverantwortung nicht gerecht werden, die eine Ressortpolitik in ihrem Bereich zu verfolgen hat. ({1}) Dies heißt nicht, daß die Interessen einzelner Gruppen im Rahmen der Gesamtverantwortung nicht in die Verkehrspolitik einfließen können. Am Ende muß aber stets ein harmonisches Ganzes stehen, das vor allem eines gewährleisten muß: die breite Akzeptanz bei allen Verkehrsteilnehmern. Worin wir sicher am ehesten übereinstimmen können, ist die Analyse bestimmter eng umgrenzter Bereiche des Verkehrs und die für Frauen dabei gegebenen speziellen Aspekte. Am gravierendsten sind dabei sicherlich die Sicherheitsprobleme, die Frauen als Verkehrsteilnehmer haben, wenn sie etwa schlecht beleuchtete Parkplätze oder Parkhäuser aufsuchen. Weiter ist es unbestreitbar, daß in öffentlichen Verkehrsmitteln, ob Bus, U- oder S-Bahn, Frauen als körperlich Schwächere gewissen Gefährdungen unterliegen. Aber bereits bei dieser kurzen Bestandsaufnahme sind die Gemeinsamkeiten zwischen uns auch schon weitgehend erschöpft. Wenn man gedanklich nur einen kleinen weiteren Schritt macht, verwischen sich die Konturen Ihrer Anfrage. Sind Kinder, Behinderte und Senioren - gleich welchen Geschlechts - nicht ebenso von der Kriminalität bedroht, wenn sie in der U-Bahn fahren? Welchen Unterschied macht es, ob Gewalt und Bedrohung gegen Frauen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder beim Besuch eines Fußballstadions geschehen? Ist das eine eine Frage der Verkehrspolitik und das andere eine Frage der Sportpolitik? Will man allen Ernstes einen Überfall auf eine Frau auf einem dunklen Fahrradweg in einen direkten verkehrspolitischen Zusammenhang stellen, nur weil die Frau sich zu Fuß fortbewegt hat? Ist das nicht vielmehr eine Frage der Stadtplanung und der öffentlichen Sicherheit? Ist die Gewährleistung von Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln Ihrer Ansicht nach teilbar? Müssen die präventiven Maßnahmen in diesem Bereich nicht vielmehr alle potentiell gefährdeten Nutzer erreichen? Wollen Sie allen Ernstes, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen - so wie dies in einer Ihrer Fragen geschehen ist -, die Benutzung von Autos einerseits und Kinderwagen andererseits - jeweils durch Kinder - in einen Sachzusammenhang stellen? Sicherlich können wir dann demnächst hier einen Gesetzentwurf von Ihnen zum Thema „Verkehrserzeugungsabgabe für Kinderwagenhersteller" erwarten. ({2}) Frauen müssen sich als Fußgänger motorisierten Männern „unterordnen", so heißt es. Sind nicht gegenüber dem Pkw vielmehr Fußgänger allgemein die schwächeren Verkehrsteilnehmer, egal ob es sich um Männer oder Frauen handelt? Spielt es allen Ernstes bei Ihnen eine Rolle, ob dabei hinter dem Steuer des Pkws ein Mann oder eine Frau sitzt? Diese wenigen Fragen machen schon klar, woran es bei Ihrem Vorstoß hapert: an der systematischen Erfassung der vorhandenen Probleme und der Entwicklung sachgerechter Lösungen. Ich sagte dies bewußt so, denn Ihr erster Blick richtet sich falscherweise darauf, wer von dem jeweiligen Problem ausschließlich betroffen ist. Die von Ihnen vorgeschlagenen Lösungen können deswegen zwangsläufig nicht problemorientiert sein. Man muß darüber hinaus stark anzweifeln, ob Ihre Ansätze wenigstens den Frauen helfen, wenn sie schon nicht problemorientiert sind. Im übrigen: Ihre Lösung bei dem eben hier genannten Beispiel der dunklen Parkwege wäre sicherlich, potentiellen Gewalttätern die Benutzung der Wege zu verbieten. Unser Vorschlag wäre, auf den Wegen mehr Licht zu schaffen und die Präsenz der Polizei zu verstärken. Ich hoffe nur, daß unsere heutige Debatte Sie vielleicht in diesen Fragen etwas erleuchtet. Aber mir ist klar, daß Sie in diesem Zusammenhang die Stärkung der Rolle der Polizei nicht wollen können, weil es nicht in Ihr Weltbild paßt. Unbestreitbar haben wir es hier aber mit einem Problem der inneren Sicherheit zu tun. Was mich an Ihrer Haltung stört, ist der erneute Versuch, in diesem Bereich mit einer Bevormundungspolitik Probleme lösen zu wollen. Von oben herab ist eben durch den Bund nicht zu beplanen, was vor Ort von den Kommunen situationsspezifisch viel besser beurteilt werden kann. Nach meiner Einschätzung ist die Zuständigkeit und Gestaltungsfreiheit für den ÖPNV bei den Städten und Landkreisen bestens aufgehoben. Einer bundesstaatlichen EinWilhelm Josef Sebastian schnürung in ein Regelwerk bedarf es hierzu nicht, gerade auch was den Aspekt Sicherheit für gefährdete Gruppen oder Angebote für Nichtberufstätige betrifft. Mobilität von Frauen zu fördern, ist besonders im ländlichen Raum eine besondere Herausforderung für die Politik. Aber auch diese Aufgabe wird ernst genommen und nicht zuletzt mit großem finanziellen Engagement der Landkreise und Städte bewerkstelligt. Im Entschließungsantrag der SPD zur Problematik „Frauen und Mobilität" ist einiges dort Gesagte schlicht nicht nachvollziehbar. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen springt einem geradezu ins Auge: Bei den Debatten zur Änderung des Ladenschlußgesetzes haben Sie sich im Plenum mit Zähnen und Klauen gegen jede Liberalisierung gewehrt. Nunmehr beklagen Sie sich in Ihrem heutigen Antrag über die zu „engen" Öffnungszeiten von Geschäften. Mal so, mal so; was wollen sie denn eigentlich? Weiterhin beklagen Sie den „autogerechten Ausbau von Straßen" und stellen damit mehr oder weniger den Zweck von Straßen in Frage. ({3}) Straßen sind nun einmal dazu da, unter anderem den Pkw-Verkehr aufzunehmen. Wie so oft beleuchten Sie auch hier die Sache nur einseitig, und zwar nur unter Sicherheitsaspekten. Sicherlich bedarf es keines Disputs zwischen uns, daß Frauen bei der Verkehrsplanung in stärkerem Maße als bislang beteiligt werden müssen. Aber, meine Damen und Herren, das ist nicht nur in Verkehrsbehörden so; es gibt allgemein einen großen Nachholbedarf. ({4}) Daran arbeiten wir. ({5}) Wir leben in einer mobilen Gesellschaft, die sicherlich nicht vorrangig, aber eben auch „auto-mobil" ist und sein soll. Das Wort von der mobilen Gesellschaft im Munde zu führen heißt auch, in weiteren Horizonten zu denken. Das gerade in der alternativen Szene oft und gern zitierte ganzheitliche Denken täte Ihnen auch in dieser Debatte gut. Vielen Dank. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksachen 13/6727 und 13/6729 federführend an den Ausschuß für Verkehr und mitberatend an den Finanzausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sowie den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Dr. Herta DäublerGmelin, Rolf Schwanitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Der Bundesminister der Justiz und die Enteignungen von 1945 bis 1949 in der damaligen SBZ - Drucksache 13/6410 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Günther Maleuda, Klaus-Jürgen Warnick, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Nichtrückgängigmachung der Enteignung auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage ({0}) - Drucksache 13/6528 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe Minister Bohl das Wort.

Friedrich Bohl (Minister:in)

Politiker ID: 11000230

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung war und ist der Auffassung, daß die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone - die sogenannte Bodenreform, aber auch die Enteignungen der Industrie- und Gewerbeunternehmen - Unrecht waren und in vielen Fällen zu großem Leid geführt haben. ({0}) Auf Grund der Haltung der Sowjetunion und der DDR war es nur möglich, den Abschluß des Zweiplus-Vier-Abkommens und die Wiedervereinigung zu erreichen, wenn es beim Ausschluß der Rückgabe der enteigneten Vermögenswerte und bei der Unumkehrbarkeit der Enteignungen blieb. Das Ergebnis der Verhandlungen wurde in Ziffer 1 der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Staaten vom 15. Juni 1990 wie folgt formuliert: Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage ({1}) sind nicht mehr rückgängig zu machen. Die Regierungen der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik sehen keine Möglichkeit, die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nimmt dies im Hinblick auf die historische Entwicklung zur Kenntnis. Sie ist der Auffassung, daß einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben muß. Meine Damen und Herren, die Gemeinsame Erklärung wurde Bestandteil des Einigungsvertrages. Gesetzlich wurde der Restitutionsausschluß in § 1 Abs. 8 a des Vermögensgesetzes geregelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 23. April 1991 den Restitutionsausschluß mit eingehender Begründung für verfassungsgemäß erklärt. ({2}) In den letzten Jahren wurde insbesondere von interessierter Seite immer wieder angezweifelt, daß die Sowjetunion diese eindeutige Haltung in den Verhandlungen eingenommen hat. Eine erneute sorgfältige Prüfung der Verhandlungsakten sowie präzise Erklärungen von Generalsekretär Gorbatschow und dem Verhandlungsführer für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, Kwizinski, haben jedoch klar bestätigt, daß die Sowjetunion bis zum Abschluß der Verhandlungen auf ihrer Vorbedingung bestanden hat. ({3}) Entsprechendes gilt für die Regierung der DDR. Ministerpräsident de Maizière ({4}) hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 22. Januar 1991 nachdrücklich erklärt, daß sich eine Revision der Eigentumsordnung in der DDR zum sozialen Sprengstoff ersten Ranges entwickelt hätte. Es sei deshalb Ziel der von ihm geführten Regierungskoalition gewesen, nicht nur das sogenannte Bodenreformeigentum im Bereich der Landwirtschaft, sondern die Unumkehrbarkeit der Bodenreform insgesamt sicherzustellen. ({5}) Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb nach eingehender Auseinandersetzung mit den in der Öffentlichkeit aufgekommenen Zweifeln mit Beschluß vom 18. April 1996 ausdrücklich festgestellt, daß keine neuen Erkenntnisse vorlägen, die die Einschätzung der Bundesregierung über die Verhandlungslage mit der Sowjetunion und der DDR in Frage stellten. In den Verhandlungen mit der Sowjetunion und der DDR hat sich die Bundesregierung von Anfang an dafür eingesetzt, daß die von den Enteignungsmaßnahmen Betroffenen Ausgleichsleistungen erhalten. Die im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz vorgesehenen Leistungen entsprechen den Entschädigungen für die nach 1949 Enteigneten, die - zum Beispiel wegen redlichen Erwerbs eines anderen - keinen Rückübertragungsanspruch haben. Darüber hinaus hat die Regierungskoalition in äußerst schwierigen und langwierigen Verhandlungen gegen starken Widerstand der Opposition und eines Teils der neuen Bundesländer ein - wenn auch nur begrenztes - Rückkaufrecht im Rahmen der gesetzlichen Ausgleichsleistung für frühere Eigentümer von land- und forstwirtschaftlichen Flächen zu einem erheblich vergünstigten Kaufpreis durchgesetzt. Zwar waren im Regierungsentwurf und in dem vom Deutschen Bundestag am 20. Mai 1994 beschlossenen Gesetz deutlich günstigere Erwerbsregelungen für die Alteigentümer vorgesehen, die jedoch in diesem Umfang vom Bundesrat abgelehnt wurden. Schließlich haben Bundestag und Bundesrat dem Kompromißvorschlag des Vermittlungsausschusses zugestimmt, um das Gesetz nicht scheitern zu lassen. Obwohl der Bundesregierung die Zustimmung damals nicht leichtgefallen ist, hält sie das Ergebnis jedoch auch noch heute für einen akzeptablen Kompromiß. ({6}) Meine Damen und Herren, dieses gilt insbesondere für die Höhe des vergünstigten Kaufpreises. Er wird auf der Grundlage des dreifachen Einheitswertes von 1935 berechnet, der auch Bemessungsgrundlage für die Entschädigungen und Ausgleichsleistungen bei land- und forstwirtschaftlichen Flächen ist. Im Durchschnitt dürfte er unter der Hälfte des heutigen Verkehrswertes für solche Flächen liegen. Es war Auffassung der Bundesregierung und insbesondere der Verfassungsressorts, daß ein deutlich niedrigerer, eventuell sogar nur „symbolischer" Kaufpreis die „Wertschere" zwischen dem Wert der zurückgekauften Fläche und der Entschädigung oder Ausgleichsleistung zu weit öffnen würde. Damit würde gegen den vom Bundesverfassungsgericht in dieser Frage besonders herausgestellten Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Es trifft auch nicht zu, daß der Staat über etwa 80 Prozent der Bodenreformflächen frei disponieren kann, diese Flächen also dem früheren Eigentümer sozusagen zurückschenken könnte. Durch das in § 3 des Ausgleichsleistungsgesetzes geregelte Flächenerwerbsprogramm wird über die gesamte land- und forstwirtschaftliche Fläche in Staatshand verfügt. Wenn alle nach EALG bevorrechtigten Erwerber - Pächter und Alteigentümer - von ihrem Kaufrecht in der ihnen zustehenden Größenordnung Gebrauch machen, wird die gesamte verfügbare bundeseigene Fläche - zirka 900 000 Hektar landwirtschaftliche Fläche und 600 000 Hektar forstwirtschaftliche Fläche - für den vergünstigten Erwerb in Anspruch genommen. Sollten wirklich bis Ende 2003 nicht alle Flächen gekauft worden sein, können nach dem Gesetz, das dieses Hohe Haus beschlossen hat, die Berechtigten nochmals Land vergünstigt hinzuerwerben: Alteigentümer bis zu 1 000 Bodenpunkten, Pächter bis 2 000 Bodenpunkten. Es bleibt also faktisch keine landwirtschaftliche Fläche in Staatshand übrig, die über das Flächenerwerbsprogramm hinaus den AltBundesminister Friedrich Bohl eigentümern zurückgegeben werden könnte. Die gesamte Fläche ist durch das EALG sozusagen belegt. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung geht davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht die Übereinstimmung des EALG mit der Verfassung bestätigen und die Europäische Kommission keine Einwendungen gegen das Flächenerwerbsprogramm erheben wird. Ein besonderes Problem sind in diesem Zusammenhang die russischen Rehabilitierungsentscheidungen, die aber nicht im Zentrum der heutigen Debatte stehen. Welche Konsequenzen diese russischen Entscheidungen im Hinblick auf unser Recht, § 1 Abs. 7 des Vermögensgesetzes, und unsere internationalen Verpflichtungen haben, bedarf noch weiterer sorgfältiger Prüfung. Mitteilen möchte ich dem Hohen Haus allerdings, daß mit Schreiben vom 10. Dezember 1996 der russische Außenminister Primakow Herrn Kollegen Kinkel als Auffassung der russischen Seite mitgeteilt hat, die russischen Rehabilitationsbeschlüsse berührten keine Vermögensfragen und schafften keine juristische Grundlage für die Rückgabe der auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage enteigneten unbeweglichen Vermögenswerte. Diese Position sei völkerrechtlich festgelegt und unterliege keiner Revision. - Soweit Außenminister Primakow. Zusammenfassend darf ich für die Bundesregierung nochmals betonen, daß sie zur Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 eindeutig steht und für eine Gesetzesinitiative zur Änderung des EALG oder zur Streichung des Restitutionsausschlusses für Enteignungen zwischen 1945 und 1949 keine Veranlassung sieht. Alles andere würde Hoffnungen wecken, die nicht erfüllt werden können. Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, eine persönliche Bemerkung zum Schluß. Wer das EALG ändern will, der wird um der Gerechtigkeit willen nicht umhinkommen, auch die anderen relevanten Gesetze einer Prüfung zu unterziehen. ({7}) Wir könnten uns in einem solchen Fall mit großer Wahrscheinlichkeit nicht allein auf die materiellen Schäden beschränken, sondern müßten auch die immateriellen Schäden in den Blick nehmen. ({8}) Ich persönlich kann von einem solchen Vorgehen politisch nur abraten. Die schlimmen Folgen der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert werden juristisch und wirtschaftlich nie so aufgearbeitet werden können, daß jedermann die gewünschte Gerechtigkeit widerfährt. Wer die innere Einheit unseres Landes verwirklichen will, wird sich selbst eingestehen müssen, daß - bei allem Bemühen um Gerechtigkeit - die gewaltigen Probleme von Krieg, Vertreibung und Teilung von uns allen nur sehr unvollkommen gelöst werden können. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie werden mir sicherlich beipflichten, daß das Thema der heutigen Debatte stark emotional belegt ist. Im Interesse des Rechtsfriedens in unserem Lande sollten wir uns deswegen bemühen, Polarisierungen zu vermeiden. Das darf aber nicht ausschließen, sich mit denjenigen deutlich auseinanderzusetzen, die diesen Rechtsfrieden in unserem Lande ohne Not aufs Spiel setzen. ({0}) Am Ende des schrecklichsten Abschnittes der deutschen Geschichte, der Naziherrschaft, kehrte der Krieg an seinen Ausgangsort zurück. Deutschland wurde besetzt und geteilt, Besatzungsrecht wurde eingeführt. Die auf dieser Grundlage durchgeführten Enteignungen in der sowjetisch besetzten Zone entsprachen dem Siegerwillen. Zur Wahrheit gehört auch, daß vor dem Hintergrund der Kriegstragödie, des millionenfachen Leides und der materiellen Not unseres Volkes die Enteignungsmaßnahmen bei einem großen Teil der deutschen Bevölkerung Akzeptanz fanden. Zur geschichtlichen Wahrheit gehört ebenso, daß die massenhaften Enteignungen in der SBZ der politischen und ökonomischen Entmachtung einer Gesellschaftsklasse galten, wobei selbst alliiertes Recht oftmals mißachtet und individueller Terror schlimmsten Ausmaßes betrieben wurde. Im Bewußtsein dieser geschichtlichen Zusammenhänge sind in Vorbereitung der Wiedervereinigung 1990 und in der Gesetzgebung der Folgejahre diese Enteignungsmaßnahmen dennoch als endgültig anerkannt worden. Eine Bewertung der damaligen Enteignungsvorgänge nach den Eigentumsschutzkriterien des deutschen Grundgesetzes kann nicht in Frage kommen, schon deswegen nicht, da das Grundgesetz damals nicht galt und der Gesetzgeber die Umkehrung der Enteignungen endgültig und vollständig ausgeschlossen hat. Den Schlußpunkt in der Gesetzgebung hat dieses Haus mit den bereits zitierten Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsregelungen im EALG in einem äußerst schwierigen Verfahren gesetzt. An dieser Stelle möchte ich, an bereits früher geführte Diskussionen anknüpfend, auf die ohnehin bestehende Schieflage in der Behandlung von Verlusten an Leben und Freiheit von Betroffenen einerseits und der Behandlung materieller Verluste von Betroffenen andererseits erinnern, die in den DebatHans-Joachim Hacker ten um die Gestaltung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze deutlich gemacht worden ist. Während die Vermögensverluste auf der Grundlage des Vermögensgesetzes und des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes in erheblichem Umfang ausgeglichen werden, werden die durch die kommunistischen Unrechtsmaßnahmen an Leben, Gesundheit und Freiheit Geschädigten in den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen doch recht bescheiden bedacht. Ich frage: Soll diese Schieflage durch die angestrebte Totalrevision der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 noch vergrößert werden? Bundesweit ist nun von interessierter Seite erneut eine Kampagne gegen die Endgültigkeit dieser Enteignungen entfacht worden. Nicht nur bei der Opposition im Bundestag, sondern auch in den Parlamenten und Regierungen der neuen Länder, aber insbesondere bei den Bürgerinnen und Bürgern in Ostdeutschland hat die Position des Bundesjustizministers in dieser Frage Unverständnis, nachhaltige Empörung und Protest hervorgerufen. Ich meine, zu Recht. ({1}) Nach dem Rückpfiff des Bundesjustizministers durch den stellvertretenden Regierungssprecher unmittelbar nach dem von mir als unerträglich empfundenen Artikel des Ministers in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 2. Dezember 1996 mit der Überschrift „Alles ist äußerst irrational" ({2}) - Herr Geis, Sie reden doch gleich; hören Sie erst einmal zu; ich komme noch zu der Begründung - hat der Bundesjustizminister seine Attacken gegen die Aufrechterhaltung der Enteignungen von 1945 bis 1949 in der SBZ fortgesetzt. Ich verweise diesbezüglich auf sein Interview in der letzten Ausgabe des „Spiegel" vom 13. Januar 1997. Das beweist, daß der Antrag meiner Fraktion, über den wir heute diskutieren, völlig zu Recht gestellt wurde, daß die Aufforderung der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung, zu den Ausführungen des Bundesjustizministers Stellung zu nehmen, nach wie vor aktuell ist. Ich begrüße an dieser Stelle die Ausführungen des Ministers Bohl, die er heute hier vor dem Parlament vorgetragen hat. Allerdings ist die Konsequenz aus seinen Worten bisher noch nicht erkennbar geworden. Darauf werde ich auch noch zu sprechen kommen. An diesem Sachverhalt ändert auch die Tatsache nichts, daß es laut Agenturmeldungen vom 14. Januar 1997 nach den Worten des Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion Herrn Hörster in der Frage des rechtlichen Fortbestehens der Enteignungen in Ostdeutschland während der sowjetischen Besatzung keinen Kurswechsel der Regierungskoalition geben wird, weil „aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen" nichts geändert werden könne. Herr Bohl hat diesen Sachverhalt heute noch einmal bestätigt, aber Herr Schmidt-Jortzig hat diesen Sachverhalt zwischenzeitlich erneut in Frage gestellt. Wir Sozialdemokraten stellen fest, daß eine andere Position der Bundesregierung und der Regierungskoalition auch gar nicht vertretbar und vermittelbar wäre, weil im Einigungsvertrag - und nicht nur dort; ich erinnere an dieser Stelle an die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni 1990 und an die Regelung im Vermögensgesetz - von beiden vertragschließenden Seiten ausdrücklich die Unumkehrbarkeit der Enteignungen in der SBZ in den Jahren zwischen 1945 und 1949 festgeschrieben worden ist, und zwar in einem Gesetz mit Verfassungsrang. Was heute in diesem Haus kritisiert und zurückgewiesen werden muß, ist der unerhörte Vorgang, daß ein Bundesminister, ja der zuständige Ressortminister für Rechtsfragen, Akte der gesetzgebenden Körperschaften Deutschlands - ich meine konkret den Einigungsvertrag, das Vermögensgesetz und das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz ({3}) - ja, und den Zwei-plus-Vier-Vertrag - zumindest in Passagen in Frage stellt, ({4}) - reden ja, aber in den Gremien, die dafür in Frage kommen, - an deren Zustandekommen seine eigene Partei, die F.D.P., als Mitglied der Regierungskoalition maßgeblich mitgewirkt hat, und daß er in diesem Zeitungsartikel sogar an das Bundesverfassungsgericht appelliert, ein von diesen gesetzgebenden Körperschaften verabschiedetes Gesetz, nämlich das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, für verfassungswidrig zu erklären. Statt sich um die Umsetzung der Bundesgesetze nach Sinn und Buchstaben zu kümmern - damit hat der Bundesjustizminister wohl genug zu tun -, schließt er sich der von interessierter Seite seit einiger Zeit verstärkt geführten breiten und kostspieligen Medienkampagne zur Rückgängigmachung der Ergebnisse der Bodenreform und darüber hinaus aller Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage an. Die Auswirkungen der von Ihnen, Herr Bundesminister, vorgeschlagenen Änderung des Vermögensgesetzes und der damit beabsichtigten Rückgängigmachung der Enteignungen auf den Bereich der ehemaligen Treuhandunternehmen, den Bereich der Industrie und den Bereich des Handels - Herr Bohl hat auch diese Problematik eben angesprochen -, sind überhaupt nicht abzuschätzen. Auch das zeigt die Unüberlegtheit und Verantwortungslosigkeit dieser ForderunHans-Joachim Hacker gen, denen Sie sich, Herr Bundesminister, angeschlossen haben. ({5}) Herr Bundesminister, was die Frage Ihres Tätigwerdens in Gesetzgebungsverfahren in der jüngsten Zeit angeht, erinnere ich nur an das Nutzerschutzgesetz, über das seit Monaten diskutiert wird. Dieses Gesetz ist dringend notwendig, um unklare Rechtsfragen einer Lösung zuzuführen, damit Menschen Ängste und Sorgen um Haus und Wohnung genommen werden. ({6}) Ihre Globalkritik in dem FAZ-Artikel vom 2. Dezember 1996 an der angeblich - ich zitiere jetzt Ihre Worte - „unambitionierten Verwaltung", die Sie für die Behinderungen und Verzögerungen bei der Wiedergutmachung rechtswidriger Vermögensverluste in der ehemaligen DDR verantwortlich machen, „gegen die man die Gerichte bemühen kann", zeugt nur wenig von Verständnis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit den ständigen Gesetzesänderungen in der Praxis zurechtkommen müssen. ({7}) Haben Sie sich, Herr Bundesminister, schon einmal die Frage gestellt, ob die von Ihnen beklagten Behinderungen nicht auch auf das im Laufe der verschiedenen Gesetzgebungsverfahren immer komplizierter gewordene Regelungswerk zurückzuführen sind, an dem Sie als Bundesjustizminister maßgeblich mitgewirkt haben und für das Sie persönlich Verantwortung tragen? Allein die Tatsache, daß Sie die Formulierungsvorschläge Ihres eigenen Hauses vom 11. Oktober 1996 zum Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz mit Ihrer öffentlichen Darstellung in Frage stellen, zeugt nach meiner Auffassung von Ziellosigkeit. Weiter liegen seit Monaten Vorschläge zur Nachbesserung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze vor, auf deren Abschluß die Betroffenen warten. Viele sind bereits darüber hinweggestorben. Auch dieses Problems sollten Sie sich mit Nachdruck annehmen, damit Gerechtigkeit für die Opfer der SEDDiktatur geschaffen werden kann. Sie haben also wahrlich genug zu tun, um Sacharbeit zu leisten, und müssen Ihre Arbeitsschwerpunkte nicht in einer fragwürdigen Öffentlichkeitsarbeit zur Revision des Einigungsvertrages suchen. ({8}) Wer sich so verhält wie der Bundesjustizminister, wer die Kabinettsbeschlüsse und den in Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Willen des Deutschen Bundestages in so krasser Weise öffentlich in Frage stellt und die Überprüfung der nach den Grundsätzen unserer Verfassung erfolgten Gesetzgebung des Bundestages öffentlich inspiriert, kann nicht länger als Bundesjustizminister fungieren, da er in seiner Person den Rechtsfrieden im Lande gefährdet. ({9}) - Ich bin in meiner Argumentation fast mit Herrn Bohl einig. ({10}) Die Art, wie die Agitatoren der Rückgängigmachung der Enteignungen in der SBZ in den Jahren 1945 bis 1949 draußen im Land die Stimmung aufheizen und sogar - das sind nicht meine Worte - den Bundeskanzler und den Bundesfinanzminister der Hehlerei bezichtigen, ruft massenweise Verunsicherung und Verängstigung bei den Bürgern und Bürgerinnen in Ostdeutschland hervor und vertieft die bestehenden Gräben, die leider noch immer existieren. ({11}) Wollen Sie, Herr Bundesjustizminister, nicht zur Kenntnis nehmen, daß die jetzt im Eigentum des Bundes stehenden Bodenreformflächen, an deren Verkauf auch die Alteigentümer beteiligt werden, von den Wiedereinrichtern, Neueinrichtern und Nachfolgebetrieben der LPGen bewirtschaftet werden, denen bei Rückgabe an die Alteigentümer die wirtschaftliche Grundlage - jedenfalls auf längere Sicht - entzogen würde? Das hat auch der sächsische Justizminister, Herr Heitmann, erkannt. Dieser CDU-Politiker lehnt in seinem Beitrag in der „Sächsischen Zeitung" im Gegensatz zu Herrn Professor Dr. Schmidt-Jortzig auch eine Erhöhung der Entschädigungsleistungen für die Alteigentümer ab - ich zitiere hierzu Herrn Heitmann -, „da dies letztlich wieder zu Lasten der Allgemeinheit ginge, bei der sich der Eindruck verstärken müsse, im Zuge der Wiedervereinigung immer höheren Belastungen ausgesetzt zu werden, ohne etwas davon zu haben". Wenn der Bundesjustizminister dies alles nicht erkennt, könnte man seine öffentlichen Äußerungen in dieser Frage nur als oberflächlich qualifizieren. ({12}) Kennt er aber diese Zusammenhänge - davon gehe ich aus -, dann kann ich seine Haltung nur als eine gravierende Brüskierung von Parlament und Kabinett ({13}) sowie, Herr Solms, der neuen Länder und deren Bevölkerung bezeichnen. ({14}) Auch die Arbeit der Bodenverwertungs- und Verwaltungsgesellschaft, der BVVG, wird durch die mutwillig vom Zaune gebrochene Bodenreformdebatte beeinträchtigt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte, Herr Schindler.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens, Herr Kollege, hätte ich mir eine Aussage zur Sache gewünscht. Nun aber zweitens zu meiner Frage selber. Sie erheben pauschale Vorwürfe gegen die Bundesregierung. Kennen Sie nicht das Vermittlungsverfahren, das gerade in bezug auf dieses empfindliche Gesetz stattgefunden hat? Kennen Sie nicht die zwingende Forderung, die gerade aus den jungen Bundesländern, getragen von der SPD, gestellt wurde, daß nämlich der Kauf von Land auch durch juristische Personen möglich ist? Kennen Sie den Ärger vor Ort? Haben Sie sich damit auseinandergesetzt? Wenn Sie pauschale Vorwürfe in diesem Punkt gegenüber der Bundesregierung machen, sind Sie sehr oberflächlich.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schindler, ich habe den Eindruck, daß Sie meine Rede nicht verstehen. Ich erhebe keine pauschalen Vorwürfe gegenüber der Bundesregierung. Im Gegenteil: Ich habe hier ausdrücklich erklärt, daß das Entschädigungsund Ausgleichleistungsgesetz ein Kompromiß in einem ganz komplizierten Verhandlungsverfahren war. ({0}) Zu diesem Kompromiß stehen wir ohne Wenn und Aber. Ich beziehe mich auf die gleiche Position, die hier Herr Bohl vor einer Viertelstunde eingenommen hat, daß nämlich dieses Entschädigungs- und Ausgleichleistungsgesetz nicht zur Disposition gestellt werden kann. Genau in diesem Punkt bin ich mir mit Herrn Bohl völlig einig. ({1}) Was ich hier kritisiere, Herr Schindler - ich bitte, das doch zu verstehen -, sind die Ausführungen von Herrn Schmidt-Jortzig, dem Bundesjustizminister, der nach den Erklärungen des Kabinetts in der letzten „Spiegel"-Ausgabe erneut geäußert hat: Am einfachsten wäre es, wir würden das Vermögensgesetz ändern und die Vorschrift streichen, welche die Rückgabe des zwischen 1945 und 1949 enteigneten Besitzes ausschließt. Genau das ist der Punkt: Mit dieser Äußerung verläßt Herr Schmidt-Jortzig den Konsens im Kabinett. Das müßten Sie eigentlich zuallererst zur Kenntnis nehmen. Er verläßt den Konsens der Bundesgesetzgebung der letzten Legislaturperiode, den wir nach langwierigen, sehr komplizierten Verhandlungen erreicht haben. Das ist meine Kritik. Ich kritisiere in diesem Punkt überhaupt nicht die Bundesregierung. Ich kritisiere die Position des Bundesjustizministers, Herrn Schmidt-Jortzigs. Ich bitte Sie, das so zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) Ich hatte zuletzt ausgeführt, daß die Arbeit der Bodenverwertungs- und Verwaltungsgesellschaft durch diese Debatte unnötig beeinträchtigt wird. Auch die Berliner Presse meldet das. Ich verweise auf Herrn Priesnitz - dieser ist kein Mitglied meiner Fraktion, sondern der Sprecher der BVVG-Geschäftsführung in Berlin -, der auf den politischen Zickzackkurs in diesen Fragen hingewiesen hat. Auf diesen, so Herr Priesnitz, müsse sich die BVVG einstellen, was zu Irritationen unter den Mitarbeitern geführt habe. Er hoffe, so Herr Priesnitz, daß die Stop-and-go-Politik bald ein Ende haben werde, und er setzt dabei auf unsere heutige Debatte. Ich hoffe, wir finden heute den Schlußpunkt in dieser Debatte. Hoffentlich beenden wir hier und heute endlich die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger und weisen die dafür Verantwortlichen in die Schranken. Daß wir uns richtig verstehen: Zu keiner Zeit - das habe ich eingangs meiner Rede schon gesagt - hat meine Partei die im Zuge der Enteignungen in der SBZ in den Jahren 1945 bis 1949 von der stalinistisch geführten Besatzungsmacht und ihren Helfern begangenen Unrechtshandlungen, in großem Umfang auch an unschuldigen Familienangehörigen der Enteigneten, gebilligt, im Gegenteil. Aber das kann doch nicht bedeuten, heute, fast 50 Jahre nach diesen Enteignungsmaßnahmen, deren Ergebnisse rückgängig machen zu wollen, ({3}) ohne die sich in diesem halben Jahrhundert vollzogene Entwicklung in Ostdeutschland, die neue Verhältnisse und Strukturen hervorgebracht hat, zu beachten. Daran hängen Existenz und Perspektiven von Menschen, die in den nach der Wende in Ostdeutschland neugegründeten oder umgewandelten landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten. Diese Menschen brauchen Sicherheit und nicht Verunsicherung. ({4}) Es sei an dieser Stelle vor allem auch daran erinnert, daß die Abgeordneten der Volkskammer und die letzte DDR-Regierung auf der Festschreibung der Endgültigkeit der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 im Einigungsvertrag bestanden haben. Es geht hierbei also nicht primär um die öffentliche Diskussion der Interessenlage der Sowjetunion. Ich sehe die Kampagne zur Rückgängigmachung der Ergebnisse der Bodenreform in einem inneren Zusammenhang mit den Intentionen interessierter Kreise, die mit der ursprünglichen Fassung der 4. Novelle zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz deutlich geworden sind: Destabilisierung der Agrargenossenschaften in den neuen Ländern. ({5}) So wie dieser Versuch an der geschlossenen Abwehr der Opposition im Deutschen Bundestag, der Länder im Bundesrat und der öffentlichen Meinung in Ostdeutschland gescheitert ist, so wird auch der mit Schützenhilfe des Bundesjustizministers erfolgte erneute Vorstoß scheitern. Wer gegen den Gesetz gewordenen Willen des Deutschen Bundestages opponiert, wer öffentlich einen Kabinettskonsens aufgibt, wer Opposition und Bundesrat durch Aufkündigung schwer erkämpfter Verhandlungsergebnisse brüskiert, wer Leistungen in Milliardenhöhe verspricht - das ist mit dieser Forderung verbunden -, ohne die Finanzierungsquelle zu benennen - das scheint in der F.D.P. typisch zu sein -, sollte sich selbst die Frage nach der Weiterführung des Amtes stellen. Ich appelliere an die Vernunft und das Verantwortungsbewußtsein insbesondere der Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Ländern in diesem Haus. Machen Sie mit uns gemeinsam diesem Treiben ein Ende. Das Maß in der Diskussion um diese Frage ist voll. Deswegen fordere ich Sie auf: Stimmen Sie uns zu, daß dies den Rücktritt des Bundesjustizministers bzw. seine Entlassung zum Ziel haben muß, ({6}) weil an den zentralen Festlegungen des Einigungsvertrages und der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nicht gerüttelt werden darf. ({7}) - In der DDR hätte man das auch nicht sagen können, Herr Geis, da haben Sie völlig recht. Herr Schmidt-Jortzig, ich bitte auch Sie ganz persönlich: Ziehen Sie selbst die Schlußfolgerungen aus Ihren Äußerungen, mit denen Sie sich deutlich von der Position der Bundesregierung und von der Position der Koalition in diesem Hause abgesetzt haben! Es liegt an Ihnen, die Konsequenzen zu ziehen. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von Stetten.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hacker, Sie haben schon viel besser geredet. Die lächerliche Forderung nach Rücktritt von Herrn Schmidt-Jortzig ist geradezu ein Tollstück in diesem Hause. Ich weise sie deutlich zurück. ({0}) Der Minister wird dazu nachher noch selber Stellung nehmen. Meinungsfreiheit gilt auch für einen Minister. Ich selbst - das habe ich Ihnen schon einmal gesagt - hätte vielleicht nicht „Bundesjustizminister" über den Artikel geschrieben, sondern „Professor Dr. Schmidt-Jortzig". Aber das steht hier wirklich nicht zur Debatte. - Auf Grund eines Artikels seinen Rücktritt zu fordern ist so kühn und so verwegen, daß ich eigentlich der Meinung bin, Herr Hacker, daß das gar nicht bei Ihnen gewachsen sein kann. Meine Damen und Herren, es gibt in diesem Hause wohl kaum Zweifel darüber, daß die Enteignungen auf Grund sowjetischer oder kommunistischer Anordnungen von 1945 bis 1949 rechtswidrig und menschenverachtend waren und sind und auch heute noch Unrecht bleiben. ({1}) Diejenigen, die auch heute noch Gegenteiliges behaupten, weisen immer gerne auf die „Großgrundbesitzer" hin. Unter den 11 000 Enteignungen von Grund und Boden sind sage und schreibe nur 66 Betriebe über 1 000 Hektar gewesen. Wir haben heute wesentlich mehr LPG-Nachfolgegesellschaften, die mehr Hektar bewirtschaften. Diese Formulierung dient doch nur zur Propaganda. Vergessen wird immer, daß 4 000 Betriebe unter 100 Hektar enteignet wurden. Der Durchschnitt betrug 34 Hektar. Das heißt: Klein- und Kleinstbetriebe wurden im großen Umfang enteignet. Mit diesem „Junkersyndrom" kann man aber so schön emotionalisieren und von einer Bodenreform sprechen. Es war schlicht ein Bodenraub. Dabei wird weggelassen, daß es nicht nur diese Unrechtsopfer gibt, sondern daß Tausende von Industriebetrieben enteignet wurden, ebenso aber Tausende von Handwerkern, Gastwirten, Einzelhändlern, Hauseigentümern bis hin zu Eigentümern von Einfamilienhäusern enteignet wurden. Herr Eylmann hat dazu im Ausschuß besondere Beispiele angeführt. Die Zahlen schwanken. Insgesamt aber waren es etwa 30 000 Enteignungen. Wenn Sie die Familienmitglieder hinzuzählen, handelte und handelt es sich um weit über hunderttausend Tragödien. Herr Minister Bohl hat - dem ist nichts hinzuzufügen - eine klare Analyse der Wiedervereinigungsverträge gegeben. Das sind die rechtlichen Tatsachen, bittere Tatsachen für die Betroffenen. Ich verstehe die Verbitterung und Verärgerung dieser Alteigentümer insbesondere dann, wenn sie mit ansehen müssen, daß sich diejenigen, die direkt oder indirekt für die Enteignungen verantwortlich waren, zu Vorzugsbedingungen mit Immobilien versorgt haben oder auch in Zukunft versorgen. Ich verstehe auch die Stimmen derjenigen, die glauben, mit der Streichung des § 1 Abs. 8 des Vermögensgesetzes das Unrecht lösen zu können. Aber, lieber Herr Schmidt-Jortzig, diejenigen, auch wenn sie dies sagen, liegen falsch, weil die dafür notwendigen Mehrheiten - zwei Drittel im Bundestag, zwei Drittel im Bundesrat und die Einzelzustimmung der neuen Länder - schlichtweg politische Illusionen sind. Wenig hilfreich sind auch die Beschimpfungen der Väter der Wiedervereinigungsverhandlungen und -verträge, weil es falsch und ungerecht ist; denn diese haben unter den damaligen Umständen Optimales erreicht. Wenn das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz in vielen Dingen mehr als dürftig ausgefallen ist, dann nicht wegen dieser Verhandlungsführer, sondern wegen der politischen Mehrheiten, wie sie im Bundestag und im Bundesrat waren und sind. Dieses EALG ist, nachdem es durch die Mühlen der Ausschüsse des Bundestages, des Bundesrates, der Länder und dann noch zweimal durch den Vermittlungsausschuß gequetscht wurde, kein Glanzstück deutscher parlamentarischer Wertarbeit - um es gelinde auszudrücken. ({2}) Meine Damen und Herren, wir sind uns einig: Auch Ausgleich in Natur wäre möglich gewesen. Das aber war eben politisch nicht durchsetzbar. Es könnte sein, daß das Bundesverfassungsgericht das EALG teilweise für verfassungswidrig erklärt. Neben anderen Dingen habe ich insbesondere deswegen Bedenken, weil von land- und forstwirtschaftlichen Flächen Enteignete als Ausgleich wenn auch nur einen kleinen Teil dieser Flächen begünstigt zurückerwerben können, andere Berechtigte von Gewerbeflächen und Gebäuden oder Häusereigentümer aber nur auf die ab dem Jahre 2004 auszuzahlende Minimalentschädigung verwiesen werden. Hier bin ich der Meinung, daß es zumindest gerecht wäre - ob es durchführbar ist, weiß ich nicht -, wenn die noch in öffentlicher Hand befindlichen Grundstücke ähnlich wie die Mauergrundstücke zurückgekauft werden könnten. Meine Damen und Herren, wir haben 1992 bewußt in § 1 Abs. 8 Bestimmungen aufgenommen, daß die Regelungen in den Absätzen 6 und 7 auch dann gelten, wenn sowjetische Behörden Verurteilte und Enteignete rehabilitieren. Es besteht kein Grund zur Aufregung. Wir haben das so gewollt. Wir wollten die Opfer des Nationalsozialismus mit den Opfern des Stalinismus gleichstellen. Welche Rehabilitierung zu welcher Rückgabe führt, müssen gegebenenfalls die obersten Gerichte oder das Bundesverfassungsgericht entscheiden, nicht aber Herr Primakow. Er kann, lieber Herr Bohl, in einem Brief seine Meinung äußern. Entscheiden aber müssen wir dies hier in Deutschland. Die Europäische Kommission prüft zur Zeit, ob die Möglichkeit für Nicht-Enteignete und damit NichtGeschädigte, insbesondere juristische Personen, verbilligt Land zu kaufen, nicht eine verbotene Beihilfe ist. Ich neige im Gegensatz zur Bundesregierung zu dieser Auffassung. Darüber wird die Europäische Kommission entscheiden, nicht wir. Aber solange dieses EALG so, wie es verabschiedet ist, Gesetz ist, sollten wir uns darauf konzentrieren, daß zumindest diese mageren Bestimmungen durch die Vermögensämter, Behörden, aber auch Ministerien eingehalten werden. Wir sollten uns nicht scheuen, Einzelverbesserungen durchzuführen, wenn diese sinnvoll und gerecht sind und andere Privatpersonen dadurch nicht belastet werden. So sind unter anderem im Flächenerwerbsprogramm die Preise für Wald meines Erachtens nicht entsprechend dem EALG berechnet. Sie sollten - Herr Bohl hat das eben gesagt - das Dreifache des Einheitswertes betragen. Sie werden angeblich zum fünf- bis siebenfachen Einheitswert angeboten. Der Verkauf geht schleppend, so daß der Staat jedes Jahr für rund 1 Million Hektar rund 250 Millionen DM Bewirtschaftungskosten zuzahlt. Der Staat sollte eigentlich froh sein, wenn er diese Kostenbringer los wird, gegebenenfalls zum Nulltarif, zumindest aber nicht teurer verkauft, als es im Gesetz vorgesehen ist. ({3}) Auch die sogenannte Spurtprämie - das sind 200 DM pro Hektar, wenn die Berechtigten den Wald in den Jahren 1995/96 gekauft hätten; sie konnten aber nicht kaufen, weil es die Verordnungen nicht gab - sollte um ein Jahr verlängert werden. Ein besonderes Ärgernis stellt sich für die Eigentümer von beweglichen Sachen dar, wenn sie diese zurückhaben wollen, sie aber nicht herausgegeben werden, weil man das Eigentum bezweifelt oder plötzlich von öffentlichem Interesse spricht, obwohl diese Sachen zum Teil in Kellern, auf Dachböden oder in Zimmern und Vorzimmern von Landräten und Bürgermeistern stehen. Das kann aber kein öffentliches Interesse sein. Das ist unrechtmäßiger Besitz und den Eigentümern ohne Wenn und Aber herauszugeben. ({4}) Meine Damen und Herren, der Krieg und die Kriegsfolgen und damit die sowjetische Besatzung und das kommunistische Regime haben viel Unrecht über die Menschen gebracht. Eine absolut gerechte Lösung wird es nicht geben. Man denke auch an die vielen Millionen Vertriebenen aus den Ostgebieten, die, wenn sie in der DDR gelebt haben, lächerliche 4 000 DM bekommen haben. Ein halbes Jahr Bautzen bringt nicht einmal diesen Betrag. ({5}) Auch das sollte man dabei bedenken. Da, wo man etwas gutmachen kann, sollte man das tun. Das soll auch keine Entschuldigung sein. Ich fordere zunächst alle die, die mit dem Gesetz zu tun haben, auf, dieses Gesetz nicht zu verzögern, auch nicht zu blockieren, sondern die Berechtigten zu unterstützen und zu ermuntern, von ihren geringen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Ich glaube, das sollte diese Debatte auch bewirken; denn das ist bisher nicht in genügendem Maße geschehen. Außerdem bitte ich alle Beteiligten, dafür zu sorgen - Herr Hacker, dazu zählen nicht solche scharfen Reden -, daß wenigstens das bißchen, das als Ausgleich vorgesehen ist, gegeben wird. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das Recht - sagen alle einschlägigen Lexika und Philosophen - solle eine befriedende Funktion haben. Hier erleben wir ein klassisches Gegenbeispiel. Der Bundesregierung ist das faszinierende Glanzstück gelungen, in einer wirklich wichtigen Frage nicht nur keinen Frieden zu stiften, sondern vielmehr den Unfrieden durch eigene Ungeschicklichkeiten noch zu schüren, Ungeschicklichkeiten, die schon bei den Gesetzen, über die wir hier heute zu reden haben, beginnen und bei dem enden, was gegenwärtig ständig über die Presse aufgeführt wird. ({0}) - Das waren die Bundesregierung und natürlich dieses Parlament. ({1}) - Auch der Bundesrat, selbstverständlich. Sie haben vollkommen recht. Ich freue mich, wenn Sie mir helfen, die historische Wirklichkeit durch Ihre Ergänzung vollständig darzustellen. Also: Indem Sie die auf Initiative der Bundesregierung von diesem Hause sowie vom Bundesrat beschlossenen Gesetze durch die jüngste Debatte erneut in Frage stellen, ist es Ihnen gelungen, den Unfrieden im Lande massiv zu steigern. Das tun Sie ja auch auf anderen Feldern. Das scheint überhaupt ein Ziel in Ihrer Regierungszeit zu sein. Aber auf diesem Feld ist Ihnen das wirklich geradezu meisterhaft gelungen. Sie haben das Kunststück fertiggebracht, trotz unzähliger, die hier in Rede stehenden Vermögensfragen betreffender Entscheidungen, also trotz internationaler Abkommen, trotz des völkerrechtlich verbindlichen Einigungsvertrages, trotz der in diesem Zusammenhang vorgenommenen und lange erörterten Grundgesetzänderung, trotz des Vermögensgesetzes, trotz des Entschädigungs- und Ausgleichsgesetzes und trotz zweier Verfassungsgerichtsentscheidungen, nicht nur durch frappierende rechtspolitische Ungeschicklichkeiten, sondern auch durch Äußerungen und Handlungen von Mitgliedern Ihrer Regierung eine derart verfahrene rechtliche und politische Lage zu schaffen, daß auch ein nur annähernder Rechtsfrieden im Hinblick auf die Eigentumsfrage in den neuen Bundesländern immer weniger in Sicht ist. Erst errichten Sie auf ausgesprochen schwankendem Fundament ein Kartenhaus - zu dem „schwankenden Fundament" werde ich nachher noch etwas sagen -, und anschließend begeben sich die Minister der Regierung um dieses fragile Kartenhaus herum und beginnen, kräftig zu blasen. Der Bundesjustizminister, der das am kräftigsten tut, stellt sich überall hin, in der „FAZ", im „Spiegel" und anderswo, und wirft der Regierung, der er doch selbst angehört, vor, sich an fremdem Gut unrechtmäßig zu bereichern. Selbst den Vorwurf der Hehlerei haben Sie, Herr Minister Schmidt-Jortzig, zwar als im streng juristischen Sinne unzutreffend bezeichnet, der Sache nach aber übernommen und gelten lassen. Ferner fordern Sie das Bundesverfassungsgericht sowie nicht näher benannte europäische Institutionen auf, ein gültiges vom Bundestag auf Vorschlag der Bundesregierung beschlossenes Gesetz für verfassungswidrig zu erklären. Der CDU-Vorsitzende in Niedersachsen erklärt gleichzeitig unwidersprochen - und damit bin ich bei der Geschichte von dem schwankenden Fundament -: ({2}) Bundesverfassungsgericht hat allerdings den Ausschluß der Rückgabe des in der Bodenreform geraubten Gutes gebilligt, weil das Bedingung der Wiedervereinigung gewesen sei. Das entsprach dem damaligen Erkenntnisstand der Bundesregierung und damit auch des Gerichtes. Auf Grund späterer Äußerungen praktisch aller führenden damaligen Verhandlungspartner der Bundesrepublik müssen wir heute vermuten, daß insbesondere Gorbatschow kein Interesse daran hatte, der Bundesrepublik den Staatsbesitz der DDR auf Kosten der rechtmäßigen Eigentümer zu sichern. Wenn wahr ist, was das CDU-Mitglied und CDU- Vorsitzender in Niedersachsen, Herr Wulff, geschrieben hat - und es ist wahr -, dann liegt der Verdacht nahe - ich muß es vorsichtig formulieren -, daß die Bundesregierung zur Begründung des Ganzen damals und seither immer wieder gelogen hat. Daß das kein sehr gutes Fundament für eine gesetzliche Regelung abgibt, ist klar. Herr Schmidt-Jortzig greift diesen Punkt ja auch in seinen Artikeln wiederholt auf.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Häfner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege, stimmen Sie mit mir darin überein, daß es bei einem Vertrag darauf ankommt, was im Vertragstext steht, und daß es Sache von Historikern ist, darüber zu debattieren, welche Motive die Verhandlungspartner für die jeweilige Position hatten? Meine Position ist, daß es ein undenkbarer Vorgang ist, daß plötzlich bei völkerrechtlichen Verträgen nachträglich die Motivation, aus der heraus der einzelne eine Position vertreten hat, durchleuchtet wird, um dann zu sagen, ob ein Vertrag, so wie er geschlossen worden ist, gültig ist oder nicht.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Meckel, da stimme ich Ihnen völlig zu. Im Moment ging es allerdings noch gar nicht um die Konsequenzen, sondern um das, was die Bundesregierung seinerzeit und bis heute nicht nur öffentlich, sondern auch vor dem höchsten deutschen Gericht zur Begründung ausgeführt hat. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen Vertrag schließe und erkläre, daß ich das, was da drinsteht, so wollte, oder ob ich behaupte, ich hätte das alles in Wahrheit nie gewollt, aber die andere Seite habe es verlangt, vor allem, wenn sich dann hinterher herausstellt, daß diese Behauptung so, wie sie gemacht wurde, unwahr ist. Nein, wer Verträge schließt, muß zu dem stehen, was ausgehandelt worden ist, muß es als eigene verbindliche Entscheidung und Position darstellen und vertreten. Genau das aber tut die Bundesregierung nicht - oder es tun nur Teile der Regierung. Der Kanzler spricht ja immer von den Zügen und den Gleisen. Wir haben es gegenwärtig damit zu tun, daß der Zug restlos entgleist ist und gegenwärtig mehrere Loks in völlig unterschiedliche Richtungen herumfahren. Namentlich Herr Waigel und Herr Schmidt-Jortzig steuern erkennbar in entgegengesetzte Richtungen. Ich bin weit entfernt davon, schon allein die Diskussion über einen solchen Punkt für unzulässig zu erachten, wie Herr Hacker das eben tat. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß es notwendig und berechtigt ist, über diese unbefriedigend gelöste Frage zu diskutieren. Nur, um hier ein anderes Kanzlerwort zu zitieren: Mich würde allmählich einmal interessieren, was hinten dabei herauskommt. Ein starker Verdacht von mir ist, daß überhaupt nichts dabei herauskommt. Mich erinnert diese ganze Geschichte, besonders der Appell an das Verfassungsgericht aus Ihrer Feder, Herr Schmidt-Jortzig - verzeihen Sie -, ein bißchen an Ihr Verhalten in der jüngsten Debatte zum § 218 bzw. zur Schwangerschaftskonfliktberatung, in der von Ihnen auch immer wieder dieser Ort, der Deutsche Bundestag, das deutsche Parlament, das dazu gewählt ist, diese Sachen zu diskutieren, umgangen wird und lediglich der folgenlose Weg über die Medien, über die Presse gesucht wird. Da läßt sich natürlich sehr leicht folgenlos zu Frommen und Nutzen der eigenen Klientel schreiben. Natürlich sind viele, die sich Geld oder eine Rückgabe erhoffen, froh, wenn der Bundesjustizminister als Vertreter der offenkundigen Klientelpartei F.D.P. sagt: Wir setzen uns dafür ein, daß ihr das alles zurückbekommt. Aber hier im Hause sehe ich überhaupt keine Initiative von Ihnen. Und ich bin fast sicher: Sie wird nicht kommen; es bleibt bei diesem Gerede und bei dieser heißen Luft. Es bleibt dabei, daß Teile dieser Bundesregierung mit völlig konträren Positionen in der Öffentlichkeit versuchen, die verschiedensten Leute auf ihren Leim zu führen. Das ärgert mich. Das will ich ganz deutlich sagen. Deswegen finde ich es richtig, wenn wir mit dieser Debatte hier und heute die Bundesregierung zu zwingen versuchen, einmal Farbe zu bekennen und zu sagen, was in dieser Frage nun eigentlich Regierungspolitik ist. Allerdings ist mir das noch lange nicht deutlich geworden, trotz der überwiegend historischen Erläuterungen von Herrn Bohl. ({0}) Eine andere Erklärung für das Verhalten des Bundesjustizministers, die ich allerdings für weniger wahrscheinlich halte, kam mir in den Tagen nach Neujahr in den Sinn, während es draußen kalt und ziemlich düster war. Ich schlug eines Tages die Zeitung auf und konnte mich, als ich las, was dort von ihm geschrieben stand, sehr gut in den Bundesjustizminister hineinversetzen, der wahrscheinlich, durchkatert nach einer Silvesterfeier Rückschau auf das vergangene Jahr gehalten hat und damit auch auf die vielen Gesetze, die sein Haus in dieser Zeit verlassen haben und die alle dem Vorsatz, weniger und vor allem bessere Gesetze zu machen, widersprochen haben. Ich erinnere Sie zum Beispiel nur an den Schutz der Soldatenehre und vergleichbare Gesetze. In der Rückschau hat den Herrn Minister dann die Reue gefaßt - Sie sehen, ich halte ihn für einen guten Menschen -, und er hat sich überlegt: Was kann ich gegen all diese schlechten Gesetze tun? Das Ganze rückgängig zu machen hieße: Ich müßte meinen Rücktritt einreichen. ({1}) - Lassen Sie mich doch einmal phantasieren! ({2}) Dann fiel ihm keine Lösung mehr ein. Es ist wie mit allen guten Vorsätzen zum neuen Jahr, Herr Geis: Am Ende bleibt alles doch wieder, wie es ist. Dann hat er sich eine Milch aus dem Kühlschrank geholt, hat darauf gelesen „haltbar bis zum ...", und es kam ihm doch noch eine Idee. Bevor ihn noch jemand davon abbringen konnte, hat er sie sofort den Journalisten erzählt: Wir machen künftig Gesetze mit Verfallsdatum. Daß Sie allerdings gerade bei den Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzen und beim Vermögensgesetz damit anfangen wollen, das Verfallsdatum von Gesetzen durchzusetzen, Herr Bundesminister finde ich doch etwas problematisch. Das muß ich angesichts der Fragilität und der Bedeutung dieses Themas ganz offen sagen. Deswegen bin ich allmählich der Meinung: Es zeigt sich in diesem Fall erneut das bevorstehende Verfallsdatum dieser Regierung und nicht primär das Verfallsdatum von Gesetzen. Ich will nun endlich von Ihnen, von dieser Bundesregierung, von dieser Seite des Hauses wissen, wie Ihre Position ist und wie Sie in der Frage zu entscheiden gedenken. Ich will, daß diese Verfahrensweise immer wieder der Öffentlichkeit zwei völlig verschieGerald Häfner dene Positionen, die sich konträr gegenüberstehen, darzustellen, aufhört. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Eylmann.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man rede mir nicht mehr von russischen Bedingungen! Ich kann es nicht mehr hören. Mir ist völlig gleichgültig, wer damals diese Bestimmung durchgedrückt hat. Inzwischen spricht alles dafür, daß es nicht die Russen waren. Der Beweis liegt auf dem Tisch. ({0}) - Richtig, so war es. Die Russen haben inzwischen einige tausend Leute rehabilitiert. Das wird nicht im geringsten zum Anlaß genommen, diese Leute jetzt in irgendeiner Weise auch nur teilweise zu entschädigen. Das ist der schlagende Beweis dafür, daß überhaupt keine russischen Bedingungen ausschlaggebend waren. Ich kann meinen juristischen Verstand nicht so sehr verbiegen, daß ich zwischen der Strafe der damaligen Verurteilung, nämlich der Konfiskation, und der Aufhebung trennen kann. Der russische Außenminister sagt nicht mehr und nicht weniger: Das Urteil wird aufgehoben, aber die Strafe bleibt bestehen. Wir sagen das auch. Das ist juristisch nicht im entferntesten haltbar, meine Damen und Herren. Darüber sollten wir uns eigentlich einmal einig werden. ({1}) Ich will nicht im geringsten den Vertrag aufheben: Pacta sunt servanda. Das ist auch überhaupt nicht notwendig. Ich will aber eine angemessene Lösung über das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz. Dieses Gesetz ist schlecht und in einigen Paragraphen grob ungerecht. Wir haben bei den Berliner Mauergrundstücken Rechtsfrieden geschaffen durch einen vernünftigen Kompromiß. Wir haben auch den Vertrag nicht geändert. ({2}) Dasselbe haben wir aber nicht beim Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz erreicht. Als letztes will ich Ihnen ein Beispiel nennen. Die schlimmsten Beispiele sind mir in den neuen Ländern erzählt worden. Was sagen Sie einem Mann, der die DDR nie verlassen hat und heute in einem kleinen Häuschen wohnt, das der Gemeinde gehört? Dieses Häuschen hat man in der Zeit von 1945 bis 1949 seinem Vater weggenommen, und zwar unter fadenscheinigen Gründen; er war kein Nazi. Dieser Mann zahlt heute Miete. Er möchte das Haus mit Hilfe seines Bruders im Westen zu einem günstigen Preis erwerben; er hat nicht viel Geld. Er bekommt es nicht, die Gemeinde denkt gar nicht daran. Was sagen Sie diesem Mann? Sagen Sie mir jetzt nicht - das brauchen Sie mir nicht zu sagen, das weiß ich -, daß es eine Fülle von Ungerechtigkeiten gibt, die wir nicht beseitigen können. Das ist aber kein Grund, nicht dort zu helfen und Unrecht zu beseitigen, wo wir es können. Das haben wir doch auch bei den Mauergrundstücken getan.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Eylmann, Sie haben nur drei Minuten für die Kurzintervention und dürfen hier keinen ganzen Redebeitrag leisten.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie werden keinen Rechtsfrieden schaffen. Ich sehe jetzt, da ich mich mit dem Justizminister weitgehend identifiziert habe, Herr Hacker, Ihrer Aufforderung, daß ich als Vorsitzender des Rechtsausschusses zurücktreten sollte, mit Fassung entgegen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wird man eigentlich auf diesem Gebiet jemals mehr als Rechtssicherheit schaffen können? Kann man wirklich jemals Rechtsfrieden und die Befriedung aller erreichen? In diesem Jahr wäre Thomas Dehler 100 Jahre alt geworden. Er war einer der bedeutendsten Justizminister dieser Republik. Ihn hätte ich erleben mögen, wenn jemand wie Sie, Herr Hacker, versucht hätte, ihm einen Maulkorb vorzuhalten. Herr Schmidt-Jortzig ist viel zu höflich, um Ihnen nachher die passende Antwort zu geben. ({0}) Der real existierende Sozialismus wußte nur zu genau, wie man eine freiheitliche Gesellschaftsordnung untergraben kann: durch Abschaffung des Rechts auf Privateigentum. Mit den Folgen setzen wir uns heute auseinander. Ich empfehle dringend, daß sich die demokratischen Fraktionen dieses Hauses in anderer Tonart, nämlich problemorientiert, damit auseinandersetzen. Die Täter dieser Sache sind SED und PDS, sie sind auch unter uns. ({1}) - Sie sind die Nachfolgepartei dieser Organisation, Sie tragen dafür die Verantwortung. ({2}) Ich habe am 8. Juni 1990 in meiner damaligen Eigenschaft als Bundesvorsitzender der F.D.P. an einer Verhandlung zum Einigungsvertrag im Ministerrat der DDR teilgenommen. Lothar de Maizière bestand auf Aufrechterhaltung der sogenannten Bodenreform 1945 bis 1949. Herr Meckel, das ist richtig. Ich habe ihm widersprochen. Wolfgang Schäuble hat übrigens in seinem Erinnerungsbuch darüber berichtet. De Maizières Eigentumsauffassung erschien der F.D.P. inakzeptabel, und so ist es auch noch heute. In der „Märkischen Allgemeinen Zeitung" hat er sich vor ganz kurzer Zeit in befremdlicher Weise geäußert. ({3}) Die unbarmherzige Sprache gegenüber in ihren Rechten schwer verletzten Menschen war das Schlimmste an dem ganzen Artikel, nicht der sachliche Inhalt, die Sprache. ({4}) Die F.D.P. hat dem Einigungsvertrag trotz der Festschreibung der Enteignungen 1945 bis 1949 zugestimmt. Sonst hätte es keinen Einigungsvertrag gegeben. Aber wir haben durchgesetzt, daß Ausgleichsleistungen für Alteigentümer offengehalten wurden, und genauso hat es das Bundesverfassungsgericht getan. Wir haben unter Ausgleichsleistungen immer besonders Vorkaufsrechte zu bevorzugten Konditionen verstanden. Die F.D.P. hat mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung von Vertretern der Alteigentümer dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz zugestimmt, obwohl uns die Eigentumsgrundsätze dieses Gesetzes nicht befriedigen. Das, Herr Hacker, wird man doch wohl sagen dürfen. Es darf doch auch ein Bundesjustizminister sagen, daß ein Gesetz zustande gekommen ist, das unsere Rechtsauffassung nicht bestätigt, mit dem wir nicht zufrieden sind. ({5}) Das EALG ist kein gutes Gesetz; ich kann Herrn Eylmann nur zustimmen. Es ist im Vermittlungsverfahren erheblich verschlechtert worden, insbesondere durch die Einbeziehung der sogenannten juristischen Personen, zu deutsch: der früheren Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und all derer, die daran beteiligt waren. ({6}) Gegen das EALG läuft erwartungsgemäß eine Verfassungsbeschwerde. Deren Ergebnis bleibt abzuwarten. Die Kommission in Brüssel prüft, ob die Bevorzugung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft eine genehmigungsbedürftige Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags ist. Das kann interessant werden. Für die von der F.D.P. geforderten Ausgleichsleistungen für die Alteigentümer stehen umfangreiche Grundflächen, vor allem im forstlichen Bereich, kaum im landwirtschaftlichen Bereich, zur Verfügung. Herr Bohl hat da recht. Solche Ausgleichsleistungen können und werden durch das EALG begründete Ansprüche, zum Beispiel die von Pächtern, nicht beeinträchtigen. Die F.D.P. verlangt, daß die zuständigen Verwaltungsbehörden bei der Behandlung der Anträge von Alteigentümern nicht so überbürokratisch, teilweise widerwillig verfahren, wie das jetzt in vielen Fällen geschieht. Bundesminister Bohl hat zu Recht darauf hingewiesen, daß nach Abwicklung gemäß EALG keine landwirtschaftlichen Flächen in Staatsbesitz verbleiben. Diese Feststellung gilt aber nicht für den forstlichen Bereich. Die Bundesrepublik muß sich voll und ganz von diesem ihr zugefallenen Forstvermögen trennen. Es gäbe ja ein Hohngelächter aus der sozialistischen Hölle von Karl Marx bis Walter Ulbricht, wenn ausgerechnet der Staat der größte Nutznießer der Enteignungen von 1945 bis 1949 bliebe. Das kann man sich gar nicht vorstellen. ({7}) Die Alteigentümer erhalten einen Anspruch auf verbilligten Landerwerb nur, wenn sie - so heißt es im Gesetz - persönlich würdig sind. Ich kenne ein Verwaltungsverfahren, in dem die Würdigkeit bezweifelt worden ist, weil jemand im Jahre 1943 von einem sowjetischen Kriegsgericht zu 25 Jahren verurteilt worden ist. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Lambsdorff?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Graf Lambsdorff, können Sie uns das eben von Ihnen angesprochene Verwaltungsverfahren einmal näher erläutern?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, das kann ich tun. ({0}) - Meine Damen und Herren, die Frage ist gestellt, und ich werde sie beantworten. Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen im Lande Brandenburg - es sitzt in der Stadt Brandenburg an der Havel; der eine oder andere von Ihnen weiß, daß ich die ganz gut kenne - hat von einem 1943 von einem sowjetischen Kriegsgericht wegen Beschlagnahme von - so wörtlich im Urteil Dr. Otto Graf Lambsdorff „drei Kühen und zwei Kisten Butter" zu 25 Jahren verurteilten Offizier der Wehrmacht die Vorlage einer Rehabilitierungsbescheinigung verlangt, obwohl der Antragsteller nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Dienst in der Bundeswehr getan hat und als Oberstleutnant pensioniert worden ist. ({1}) Wenn das Verwaltungspraxis in Deutschland ist, dann hält die F.D.P. das für gesetzeswidrig. ({2}) Die angesprochenen Rehabilitierungen durch die heutige russische Regierung sind zu begrüßen. Es gibt trotz anderslautender Gerüchte keine Behinderung durch die Bundesregierung; das Gegenteil ist der Fall. Ob die Rehabilitierung für sich eine vermögensrechtliche Anspruchsgrundlage darstellt, ist sehr umstritten. Herr Bohl hat den Brief des russischen Außenministers Primakow zitiert. Dessen Rechtsmeinung scheint mir für die deutsche Rechtsfindung nicht erheblich. Aber diese Frage wird am Ende eine höchstrichterliche Entscheidung finden müssen. Ich habe in der Bundestagsdebatte vom 5. September 1990 für die F.D.P. die Frage gestellt, wie die Erben der Opfer des 20. Juli 1944, deren Vermögen durch Urteil eingezogen wurde, behandelt werden. Hier sind die Enteignungen rückgängig gemacht worden, aber nur dann, wenn der Vermögenseinzug mit Brief, Siegel und Freisler-Unterschrift nachgewiesen werden konnte. Erben nachweislich im KZ ermordeter Grundbesitzer gehen leer aus: Die Erben haben keinen mit Amtssiegel versehenen Beweis, keine Urkunde. Das ist deutsche Behördenpraxis, deutsche Bürokratie. ({3}) Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion dankt Bundesminister Schmidt-Jortzig für seine in unseren Augen rechtspolitisch einwandfreie Haltung und vor allem auch für seine Sprache, die Verständnis und Sympathie für ungerecht behandelte Menschen zum Ausdruck bringt. ({4}) Die Diskussion ist mit unserer heutigen Debatte mit Sicherheit noch nicht zu Ende. Mit Recht meinte Erich Loest vor wenigen Tagen - ich zitiere ihn der Erinnerung nach; ich habe es im Radio gehört -, daß diese verdammte DDR uns noch lange Zeit beschäftigen werde. Das merken wir auch hier. Wir sollten miteinander auf der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze bestehen; wir sollten versuchen, Rechtsfrieden zu erreichen. Aber ich habe meine Zweifel - ich sage es noch einmal -, ob wir wirklich mehr als Rechtssicherheit erlangen können. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen Warnick. ({0})

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß der Kampf um Rückgängigmachung der Enteignungen von 1945 bis 1949 in Ostdeutschland trotz eindeutiger Rechtslage nicht aufgegeben wird, verwundert mich nicht. Damals wurde die kapitalistische Eigentumsordnung in ihrem Kernbereich angetastet. Das ist in den Augen der Eigentümer und ihrer Erben und Nachfolger der Gipfel der Ungerechtigkeit und ein schlimmes Verbrechen. ({0}) In meinen Augen waren diese Enteignungen nach den von Deutschland zu verantwortenden Verbrechen gegen den Frieden und gegen das eigene Volk und gegen andere Völker historisch notwendig und gerecht. ({1}) Darüber kann man streiten. Aber es muß klar sein, daß es sich um eine durch Geschichte und das Völkerrecht erledigte Frage handelt. ({2}) Wer diese Frage neu aufwirft, schafft Unfrieden, weitere Diskriminierungen Ostdeutscher und neue Rechtsunsicherheit. Genau das haben Sie, Herr Bundesjustizminister, getan. Das halte ich für hochgradig verantwortungslos. Sie wollen nicht Gerechtigkeit wiederherstellen, sondern Geschichte rückgängig machen, genauso wie es die Bundesregierung im Privatbereich bei Häusern und Grundstücken durch den verhängnisvollen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung " zum jahrzehntelangen Leidwesen Millionen Ostdeutscher geschafft hat, genauso wie sie es beim Landwirtschaftsanpassungsgesetz versucht hat und wie es der Treuhand durch beinahe vollständige Übergabe der ostdeutschen Wirtschaft an relativ wenige kapitalkräftige Westdeutsche gelungen ist. Damit deutlich wird, wovon wir hier reden, ein paar Zahlen und Fakten: 1945 wurden die Junker und Großgrundbesitzer ab einer Hundert-HektarGrenze sowie Nazi- und Kriegsverbrecher unabhängig von der Größe des Grundbesitzes enteignet. Das waren etwa 14 000 Betriebe mit 3,3 Millionen Hektar, ungefähr ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Den Boden bekamen eine halbe Million Alt- und Neubauern in Eigentum. Es wurden über 210 000 Neubauernwirtschaften gegründet. Die Enteignungen in der Wirtschaft bis 1949 betrafen etwa 600 Rüstungsbetriebe, die demontiert wurden, 200 Betriebe, die in sowjetisches Eigentum umKlaus-Jürgen Warnick gewandelt wurden, und 3 000 Betriebe, die in Volkseigentum, damals meist Landeseigentum, übergingen. Darunter befanden sich die Betriebe der großen Konzerne wie I. G. Farben, Siemens, AEG, Flick, Krupp und so weiter. Es geht also um immense Ländereien und um viel Geld. Die Zahl der Betroffenen wird wohl siebenstellig sein. Wenn Sie den sozialen Unfrieden im Osten weiter anheizen wollen, dann müssen Sie so weitermachen. ({3}) Aber bilden Sie sich bitte nicht ein, daß die Ostdeutschen heute das lammfromm schlucken werden, was schon vor sieben Jahren nicht durchsetzbar war. Ich erinnere noch einmal an die schier wasserdichten Rechtsgrundlagen: Erstens gibt es die Gemeinsame Erklärung der Regierungen der BRD und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragen, in der es klipp und klar heißt: Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage ... sind nicht mehr rückgängig zu machen. Zweitens wurde diese Erklärung durch Art. 41 des Einigungsvertrages zum Bestandteil dieses Vertrages gemacht. Drittens wurde durch Art. 143 GG die Nichtrückgängigmachung der Eingriffe in das Eigentum in den Rang einer Verfassungsnorm gehoben. Viertens haben die beiden deutschen Außenminister Genscher und de Maizière bei der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages vor den Augen Gorbatschows einen Gemeinsamen Brief an ihre vier Amtskollegen unterschrieben, in dem die Erklärung wortwörtlich aufgenommen ist. Sie erhielt damit völkerrechtliche Verbindlichkeit. Fünftens hat das Bundesverfassungsgericht durch zwei Entscheidungen bestätigt, daß die Nichtrückgängigmachung der Enteignungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Nun werden dubiose russische Rehabilitierungsbescheinigungen aus dem Ärmel gezaubert und als Rückübertragungsausweis eingereicht. Um mich dem Vorwurf zu entziehen, ich ginge allzu lieblos mit des Kanzlerfreundes Boris neudemokratischer Nomenklatura um, zitiere ich dazu Herrn de Maizière: Wenn es nicht so ernst wäre, müßte man darüber lachen, daß sich mancher Alteigentümer oder dessen Erbe nicht entblödet, sich ausgerechnet von Militärrichtern in Moskau, die gerade dabei sind, das Wort Rechtsstaat buchstabieren zu lernen, Rehabilitierungsurteile zu holen. Nicht, daß ich nicht der Auffassung wäre, daß die Opfer der sowjetischen Besatzungsmacht zu rehabilitieren seien, doch darum geht es offensichtlich gar nicht. Es geht darum, ein Papier, von wem auch immer, zu erlangen, das man in einen Eigentumstitel in Deutschland oder genauer in Ostdeutschland wandeln kann. Soweit de Maizière, letzter Ministerpräsident der DDR und Mitglied Ihrer Partei, der CDU. Den Streit, Herr Justizminister, ob in übertragener Bedeutung staatliche Hehlerei betrieben wird, müssen Sie mit dem Finanzminister austragen. Ich will mich hier nicht einmischen. Herr Waigel hat da seine eigenen Interessen. Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, Herr Schmidt-Jortzig, Sie seien der alleinige Bösewicht. Politiker der CDU/CSU tuten in dasselbe Horn, wenn auch nicht ganz so laut.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Warnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Aber natürlich. ({0})

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege, haben Sie sich irgendwann einmal mit der Rehabilitierungspraxis Rußlands beschäftigt? Ich frage Sie deshalb, weil ich es für eine große Leistung Rußlands halte, daß es politische Repression rehabilitiert und daß es dort seit 1992 auch die Praxis der Rehabilitation von Ausländern, unter anderem von Deutschen, aber auch von Japanern, gibt, also von Tausenden Deutschen, die damals in der Sowjetunion zu Unrecht verschleppt und verurteilt worden sind. Kennen Sie diese Praxis, und wie bewerten Sie sie? Ich halte es jedenfalls für richtig, daß diese Rehabilitation erfolgt. Ich halte es für gut - das muß ich offen gestehen -, daß diejenigen, die damals durch ein Urteil der Sowjetunion als politische Repression ihr Eigentum verloren haben, dieses, sofern es im Urteil steht, auch wieder zurückerhalten. Ich möchte Sie fragen, wie Sie diese Bewertung Rußlands wiederum bewerten. Hier geht es auch um eine Frage der politischen und historischen Moral. ({0})

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich habe mich damit nur insoweit beschäftigen können, als ich natürlich nur in das, was uns aus den Medien oder den Publikationen vorlag, Einsicht nehmen konnte. Ich konnte mich davon natürlich nicht persönlich in Moskau überzeugen; das werden Sie wahrscheinlich gemacht haben. Ich nehme es zur Kenntnis. Ich bin natürlich auch 100prozentig davon überzeugt und weiß, daß es in großem Maße Unrecht in diesem Zeitraum gegeben hat. Ich würde dieses Unrecht nie negieren und würde nicht sagen, es gab damals kein Unrecht. Ich bin bloß dagegen, daß man altes Unrecht jetzt mit neuem Unrecht wiedergutmachen will. ({0}) Ich befürchte das, was der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Eylmann, in seiner Presseerklärung ganz vorsichtig angedeutet hat, nämlich ob dabei besondere Beziehungen - in Klammern: teure? -, individuelle Bemühungen oder der Zufall eine Rolle spielen. Dies ist zur Zeit völlig ungewiß und nicht durchschaubar. Man muß sich nur die Verhältnisse in Rußland ansehen und - wie gesagt, ich kenne es nur aus den Medien - wissen, wieviel dort die D-Mark wert ist. Ich will dazu gar nichts weiter sagen. Aber diese Befürchtungen hat selbst der Vorsitzende des Rechtsausschusses schriftlich geäußert. ({1}) Es ist auch meine Befürchtung, daß es eben genau nicht die kleinen Leute sind, die Sie schützen wollen und die man rehabilitieren möchte, sondern daß es ganz andere sind, bei denen es um Vermögen in Milliardenhöhe geht und die natürlich ein ganz anderes Interesse haben, das zurückzubekommen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, natürlich.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, darf ich Sie darüber informieren, daß die russische Seite nach dem vorliegenden Gesetz nur solche Fälle rehabilitiert, in denen es eine Verurteilung gegeben hat, und nicht sogenannte administrativ Verfolgte, und daß da, wo es eine Rehabilitation administrativ Verfolgter gegeben hat, diese Praxis heute nicht mehr besteht? Würden Sie diese Information akzeptieren?

Klaus Jürgen Warnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002824, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich würde sie akzeptieren, ich kann sie aber nicht nachprüfen. Wie gesagt, ich will nicht den Eindruck erwecken, Herr Schmidt-Jortzig sei der alleinige Bösewicht. Politiker der CDU/CSU tuten ins selbe Horn, wenn auch nicht ganz so laut. Aber am weitesten sind Sie gegangen, Herr Justizminister. Am Ende Ihres zur traurigen Berühmtheit gelangten Artikels in der „FAZ" vom 2. Dezember 1996 setzen Sie auf „Einwirkungen von außen" und schreiben wörtlich: Geschieht dieser Eingriff aber endlich, gibt es keine Zurückhaltung mehr. Das Simpelste, was man dann verlangen muß, ist eine schlichte Streichung des Ausschlusses der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 aus den allgemeinen Restitutionsregelungen des Vermögensgesetzes. Zum Schluß: Die Bürger im Osten sind beunruhigt. Sie wollen wissen, was Sache ist. Es besteht dringender Klarstellungsbedarf. Nach unserer Meinung ist der Gesetzgeber selbst gehalten, ein klares Wort zu sagen. Der Bundestag hat den Einigungsvertrag und den Zwei-plus-Vier-Vertrag ratifiziert und den Art. 143 neu in das Grundgesetz eingefügt. Er muß klarstellen, daß es keinerlei Anlaß gibt, die Rechtslage zu ändern. Das ist der Sinn des Antrags der Gruppe der PDS und, ich glaube, auch der des Antrags der SPD. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Luther.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hätten wir die Debatte nach der Erklärung des Bundesministers Bohl heute beenden können; ({0}) denn als Grundlage für die heutige Debatte liegt uns eine Anfrage an die Bundesregierung in Gestalt eines Antrages von der SPD-Fraktion vor. Die Bundesregierung, denke ich, hat die Fragen klar und deutlich beantwortet. Für diese Antwort, Herr Bundesminister, möchte ich Ihnen ganz herzlich danken. ({1}) Ich bin Mitglied der letzten Volkskammer gewesen und seit 1990 im Deutschen Bundestag. Ich habe die Diskussion zum Vermögensgesetz, zur Restitution und zum Restitutionsausschluß, zur Rehabilitierung und Vermögensrückübertragung und zum Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz miterlebt und zum Teil mitgestaltet. Ich kann - das muß ich noch einmal sagen - dem Gesagten von Herrn Bohl nichts hinzufügen. Trotzdem bin ich froh, daß wir die heutige Debatte führen. Denn sie gibt mir die Gelegenheit, noch einige Worte mehr zu diesem Thema zu sagen. Zur Zeit findet in der Öffentlichkeit eine Diskussion über den Sinn und den Widersinn der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage sowie über die Regelungen des Einigungsvertrages und die Entscheidungen des Gesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichtes statt. In den letzten Wochen und Monaten haben wir in der „FAZ", in der „Welt" und in vielen anderen Zeitungen eine Debatte erlebt, die dem Parlament, der Bundesregierung und den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund dieses Restitutionsausschlusses Betrugsabsichten, Volksverdummung und vieles andere vorwerfen. Wer sich mit dem Sachverhalt wirklich beschäftigt, gewinnt Verständnis, daß Alteigentümer den Restitutionsausschluß so nicht hinnehmen wollen, weil den Enteigneten - auch das wurde heute schon festgestellt - in der Zeit von 1945 bis 1949 grobes Unrecht widerfahren ist. Es ist aber auch festzustellen, daß dieses Unrecht nicht durch die Bundesregierung, den Bundestag, den Bundesgesetzgeber oder durch bundesstaatliche Verwaltungen zu verantworten ist. Für dieses Unrecht ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich. ({2}) In dieser Zeit ist nicht nur Eigentumsunrecht geschehen. Es gab auch Unrecht in Form von politischer Haft, beruflicher Diskriminierung, politischer Verfolgung , Internierung und Vertreibung. Seit dieser Zeit sind 50 Jahre vergangen. In der ehemaligen DDR und in den heutigen neuen Bundesländern lebten und leben Menschen. In dieser Zeit sind viele neue Verhältnisse entstanden. Es sind auch neue Eigentumsverhältnisse entstanden. Es haben sich neue Beziehungen, neue Relationen zum vorhandenen Eigentum entwickelt. Privates Eigentum aus der DDR ist, denke ich, nichts Verwerfliches, zeugt es doch davon, daß der Drang des Menschen nach Verantwortung und eigenem Besitz in der DDR nicht verschüttet wurde. Finanziell war der Besitz zum Beispiel eines Einoder Zweifamilienhauses vor dem Hintergrund der niedrigen Mieten und der schlechten Möglichkeiten für die Erhaltung von Hausbesitz unlogisch. Trotzdem wollten die Menschen dieses Eigentum. Sie haben es sich auch nicht mit der Erwartung zugelegt, daß in Kürze möglicherweise die deutsche Einheit kommt. Das neubegründete Eigentum ist auch keine besondere Leistung der DDR, denn in den alten Bundesländern ist die Eigentumsquote viel höher. Es ist sicher davon auszugehen, daß sie, wenn die Menschen in den neuen Bundesländern ihre Chance gehabt hätten, auch dort höher wäre. Ich denke, es ist um so mehr notwendig, daß diesen Menschen heute Sicherheit gegeben wird, Sicherheit für ihre persönlichen Verhältnisse. ({3}) Die Diskussion, die in der FAZ, in der „Welt" und von vielen Einzelpersonen geführt wird, verunsichert. Das ist nicht gut für den Aufbau in den neuen Bundesländern; das ist auch nicht gut für die Einheit Deutschlands. ({4}) Diesen Anspruch auf Sicherheit hat auch die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern. Es ist richtig: Der Zwang zur LPG war Unrecht. Die ursprünglichen Verhältnisse wieder herzustellen ist allerdings unmöglich. In den neuen Bundesländern gibt es heute einen ganz anderen Bauernstand als in den alten Bundesländern. Die zwangsweise entstandenen größeren Strukturen haben andere landwirtschaftliche Berufe entwickelt. Ähnliche Überlegungen gelten auch für Industrie- und Handwerksunternehmen in den neuen Bundesländern. Resümee: Es ist unmöglich, noch einmal beim Stand von 1945 zu beginnen. ({5}) Wir müssen die heutigen Verhältnisse akzeptieren, begleiten, richtig ausgestalten und zwischen den verschiedenen berechtigten Interessen einen vernünftigen Ausgleich finden. Wir müssen zum einen an die zu Unrecht Enteigneten denken. Zum anderen müssen wir aber auch an all diejenigen denken, die mit diesem Eigentum heute in redlicher Beziehung stehen. Sie brauchen die von mir schon erwähnte Sicherheit. Meine Damen und Herren, die Gründe des Restitutionsausschlusses von 1945/49 enteignetem Vermögen sind vielfältig und im Einigungsvertrag und in der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Staaten begründet worden. Das Bundesverfassungsgericht hat das Ergebnis dieses Prozesses in seinen Urteilen von 1991 und von 1996 - dort sind die Erkenntnisse, die 1991 möglicherweise nicht gegeben waren, aufgenommen und neu bewertet worden - bestätigt. Ein Teil des Ausgleichs zwischen den Ungerechtigkeiten aus der Zeit vor der deutschen Einheit und den neuen Lebensmöglichkeiten ist Aufgabe des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes. Die Diskussion zu diesem Gesetz war spannend. Wer sie in der letzten Legislaturperiode über nahezu vier Jahre verfolgt hat, kann das bestätigen. Im Ergebnis handelt es sich um einen Kompromiß zwischen den verschiedenen Interessen im Deutschen Bundestag und den neuen Bundesländern. Es handelt sich wahrhaftig um einen Kompromiß, und es konnten nicht alle Interessen berücksichtigt werden. Ich bin hoffnungsvoll, daß das auch das Bundesverfassungsgericht in Kontinuität seiner bisherigen Rechtsprechung anerkennt. Ich hoffe allerdings auch, daß das schnell und zügig geschieht und daß es nicht so lange wie die Vorbereitung für die Umsetzung des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes dauert. Vor allem das Nichthandeln hat neben vielen anderen Ungereimtheiten zu zusätzlichen Frustrationen unter den Alteigentümern geführt. Deshalb kommt es darauf an, daß das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz jetzt zügig umgesetzt wird. Es wird aber auch darauf ankommen - lassen Sie mich diese Bemerkung ebenfalls machen -, daß die Verwaltungen in den neuen Bundesländern ihr zum Teil restriktives Verhalten bei der Umsetzung des Vermögensgesetzes aufgeben. Es ist für mich einfach nicht hinnehmbar, daß Kommunen zum Beispiel den in der Regel positiven Entscheiden der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen widersprechen. Meine Damen und Herren, den ehemaligen Eigentümern, die in Mitteldeutschland enteignet worden sind, ist vor 50 Jahren Unrecht widerfahren, das leider nicht heilbar ist. Sie tragen damit ein Sonderopfer für die deutsche Einheit. Dieses Sonderopfer tragen sie allerdings nicht allein. Glück hatte, wer Eigentümer im Westen war und ist. Vielleicht ist ein Lastenausgleich zwischen den Eigentümern in Deutschland angebracht. ({6}) Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal für die klaren Worte des Bundesministers Fritz Bohl danken. Ich denke, es ist klargeworden, daß 50 Jahre GeDr. Michael Luther schichte nach Ende des Zweiten Weltkrieges und deren Folgen nicht einfach rückabwickelbar sind. Wir müssen heute solche Regelungen treffen, die zwischen den verschiedenen Interessen ausgleichen. Ich glaube, daß das Vermögensgesetz dem Grunde nach und das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz dazu ihren Beitrag leisten. Gleichwohl sind wir mit der Gestaltung der deutschen Einheit und mit der Diskussion zu vielen Sachfragen noch nicht am Ende. Ich warne aber grundsätzlich davor, die Büchse der Pandora zu öffnen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Edzard Schmidt-Jortzig. ({0}) - Er hat das Wort als Abgeordneter.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Anträge, über die wir hier beraten, sind einerseits sicherlich verständlich, weil mit ihrer Hilfe vermuteten Unklarheiten und Dissensen nachgespürt werden soll. Zum anderen aber sind die Anträge teilweise auch - ich muß das leider so sagen - von großer bis größter Unkenntnis der Fakten bestimmt. Wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit will ich über den Zeitungsartikel hinaus, mit dem ich am 2. Dezember 1996 diese Debatte ausgelöst habe und den ich gern noch einmal zur ruhigen, aber bitte auch sachlichen Lektüre empfehle, nur in wenigen Punkten nachfassen. Von ihnen sind zwei vorweg eher persönliche Anmerkungen. Erstens. Ich habe schon in jenem Pressebeitrag unmißverständlich darauf hingewiesen, daß es derzeit, ganz nüchtern und ganz realistisch betrachtet, keine politische Handlungsmöglichkeit in bezug auf die Änderung des Ausgleichsleistungsgesetzes oder des Vermögensgesetzes gibt. Viele werden das natürlich begrüßen; ich bedauere es. An dem schlichten Befund jedenfalls läßt sich kaum ernsthaft deuteln, und darin gibt es deshalb auch keinerlei Dissens in der Bundesregierung. Ich möchte diesen Befund nur durch Diskussionen verändern. Aber dazu braucht es eben Gespräche und Überzeugungsarbeit und keinen Aktionismus, erst recht keine Polemik. Zweitens. Es hat in der Presseöffentlichkeit zum Teil geheißen - ich habe das ja nun hier auch andeutungsweise wieder gehört -, ich sei damit jetzt einigermaßen unerwartet auf dem Tapet erschienen und hätte mich dazu durch bestimmte Pressekampagnen bewegen lassen. Wer mich nur ein wenig kennt, dürfte wissen, daß solche Kampagnen in Anlage und Form überhaupt nicht mein Stil sind und ich mich deshalb auch eher von solchen Kampagnen abstoßen als animieren lasse. Die konkret gelaufene Kampagne - Sie wissen, worüber ich spreche - verurteile ich zudem ausdrücklich, weil sie Kollegen völlig unakzeptabel, ja unflätig persönlich angeht und damit den Versuch einer Überzeugungsarbeit gewiß eher stört. ({0}) Ich selber bin - das sei denen nur gesagt, die sich mit diesem Problem noch nicht so lange befaßt haben - seit vielen Jahren mit der Materie in immer gleicher Richtung befaßt. Man kann das schon in einem ganzseitigen Beitrag von mir im September 1990, also vor der Einigung, in derselben Zeitung wie jetzt nachschlagen und bitte auch gerne lesen, dann in meinen schriftlichen und mündlichen Ausführungen bei den Sachverständigenanhörungen zum EALG 1994 und zuletzt 1995 in einem umfänglicheren Aufsatz in einem wissenschaftlichen Kompendium. Soviel dazu und nun zur Sache selbst. Drittens. Die von der Bundesrepublik im deutschen Vereinigungsprozeß ausgehandelte einschlägige Rechtsgrundlage, also die Gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Regierungen vom 15. Juni 1990, ist völlig in Ordnung. Sie wurde in den Zwei-plus-Vier-Vertrag aufgenommen und fand über Art. 41 des Einigungsvertrages Eingang in das deutsche Einigungsverfassungsrecht. Viele haben darauf hier schon hingewiesen. Diese Gemeinsame Erklärung wurde vom Bundesverfassungsgericht im April 1991, später 1993, diesmal 1996, also immer wieder als verfassungskonform bestätigt. Freilich - das ist ein erster ernsthafter Einwand gegen manche, die sich hier produziert haben - hat das Gericht nur diesen Rechtsakt und den ihn einbindenden Art. 41 des Einigungsvertrages sowie Art. 143 des Grundgesetzes salviert und keine andere einfachgesetzliche Regelung des Vermögens- oder Ausgleichsrechts, wie das immer wieder behauptet wird. Die Bundesregierung jedenfalls hält nach wie vor an jenem Verhandlungsergebnis fest. Sie hat das ja auch allenthalben vertraglich so versprochen, und sie tut das in dem Bewußtsein, daß jene Regelung auch inhaltlich völlig sachangemessen war und ist. ({1}) Viertens. Jene Gemeinsame Erklärung ließ aber dem einfachen Gesetzgeber noch alle Möglichkeiten offen, das Unrecht der Bodenreform angemessen zu bereinigen. Ich empfehle dazu übrigens das einschlägige Kapitel von Hans-Dietrich Genschers Buch zur Lektüre; was dort zu lesen ist, ist ziemlich aufschlußreich. Auch das Bundesverfassungsgericht hat ja unmißverständlich herausgestellt, daß - ich zitiere im Rahmen der beabsichtigten Ausgleichsregelung dem Betroffenen auch die Möglichkeit eines Rückerwerbs ihres ehemaligen Eigentums eingeräumt wird - sic! sobald dies im Einzelfall möglich und von der Interessenlage angezeigt ist. Das ist also eine rein politische Frage. Fünftens - die Zeit ist leider fortgeschritten -: Völlig eindeutig ist und bleibt - wer irgendetwas anderes kolportiert, tut dies bewußt zur Fehlinformation und/oder Verunsicherung -, daß Menschen, die auf ehemaligem Bodenreformland irgendwelche schutzwürdigen Rechte erworben haben - sei es als Neueigentümer, als Pächter, als Nutzer oder als Mieter -, auf keinen Fall darin verkürzt oder nun ihrerseits verletzt werden. Das gesamte Wiedervereinigungsrecht steht ganz klar unter dem Gebot solchen Vertrauens- und Bestandsschutzes; das ist gut so und wird von niemandem - übrigens auch nicht von den Alteigentümern - in Frage gestellt. ({2}) Quintessenz: Das Problem des richtigen staatlichen Umgangs mit den Geschädigten und Entrechteten aus der sogenannten Bodenreform ist gesellschaftlich und politisch noch nicht zur Ruhe gekommen, und das ist ein Problem für die Menschen im Osten wie im Westen. Aber allein darüber hier heute in weitestgehend sachlicher Weise diskutiert zu haben ist schon ein erfreuliches Zeichen. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wenn Sie dann zum Schluß kommen.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme dann zum Schluß. - Ich habe ganz zum Schluß noch ein Wort an Sie zu richten, Herr Hacker, weil Sie sich hier, auch namens Ihrer Fraktion, so kapriziert - um nicht zu sagen: aufgeplustert - haben. Ich würde Ihnen gern etwas vorlesen. Es heißt nämlich in einer - ich zitiere - noch nicht sehr alten Einschätzung, es sei nicht nachvollziehbar, wenn der Staat die ... enteigneten Grundstücke nunmehr als sein rechtmäßiges Eigentum ansieht und den früheren Eigentümern vorenthält. Wenn der Staat diese Grundstücke nicht zurückgibt, setzt er sich dem Vorwurf aus, daß er sich an Unrechtsgut bereichert. Denn im Ergebnis kann nicht geleugnet werden, daß der Fiskus der Bundesrepublik Deutschland nach der gegenwärtigen Rechtslage von der ehemaligen Mauer .. . profitiert, da ihm diese Grundstücke zufallen. Vielleicht erinnern Sie sich - das sind Passagen aus der SPD-Gesetzesinitiative im Bundesrat vom Dezember 1994 zur Einbeziehung der Mauer- und Grenzgrundstücke in das Vermögensgesetz. ({0}) Danke. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Kurzintervention hat Herr Kollege Hacker das Wort.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Justizminister SchmidtJortzig, ich danke Ihnen für Ihre sachlichen Argumente, die Sie vorgetragen haben. ({0}) Was das Problem der Mauergrundstücke angeht, so liegt dies doch auf einer ganz anderen Ebene. Das sind eben Eingriffe, die in der Zeit der DDR erfolgten. Wir waren uns alle darüber einig, daß da Korrekturmöglichkeiten bestanden. Davon haben wir Gebrauch gemacht, nach meiner Meinung allerdings nicht in dem möglichen Rahmen. Darüber hat es lange Diskussionen gegeben. Wenn Sie gestatten, daß ich noch einmal auf die Diskussion von heute eingehe, dann möchte ich sagen: Meine erste Forderung war nicht die Forderung nach Rücktritt des Bundesjustizministers; meine erste Forderung war eine nach Klarstellung eines Sachproblems. Wenn Sie, Herr Bundesjustizminister, in die Argumentation des Ministers Bohl einstimmen, daß die Regelungen aus dem Jahre 1990 und die Regelungen aus den Folgejahren Bestand haben sollen, ({1}) dann hätte es mich gefreut, wenn Sie Ihren Beitrag in der letzten Ausgabe des „Spiegel" zurückgezogen und Ihre Aussagen korrigiert hätten. Dieser Beitrag enthält folgenden Passus: Am einfachsten wäre es, wir würden das Vermögensgesetz ändern und die Vorschrift streichen, welche die Rückgabe des zwischen 1945 und 1949 enteigneten Besitzes ausschließt. Diese Argumentation liegt nicht auf der Linie der Position der Bundesregierung. Mit dieser Argumentation geben Sie Ihre eigene Positionsbestimmung auf. Gestatten sie mir einen letzten Satz: Politiker der Regierungskoalition - konkret: Herr Eppelmann und Herr Geißler - haben in dieser Woche den Rücktritt von Herrn Rexrodt wegen seiner kritikwürdigen Vorschläge zu den Kündigungsschutzregelungen gefordert. ({2}) Ihre Vorschläge, Herr Professor Schmidt-Jortzig, sind mindestens ebenso kritikwürdig. Ich bitte Sie, Ihre eigenen Maßstäbe heranzuziehen und diese zu bewerten. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6410 und 13/6528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinrich Graf von Einsiedel, Andrea Lederer, Manfred Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS Keine deutsche Beteiligung an militärischen Aufklärungssatelliten - Drucksachen 13/2868, 13/5009 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({2}) Gerd Höfer Es ist darum gebeten worden, die Redebeiträge zu Protokoll geben zu dürfen, und zwar von den Kollegen Lamers ({3}), Höfer, Nolting, Beer und Zwerenz *). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. *) Anlage 3 Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS „Keine deutsche Beteiligung an militärischen Aufklärungssatelliten". Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 2868 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen worden. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Januar 1997, 9 Uhr ein. Ich wünsche allen Kollegen und allen Besuchern eine gute Nacht. Die Sitzung ist geschlossen.