Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie bitten, für einige Minuten stehenzubleiben und innezuhalten, um der Opfer zu gedenken, die in Auschwitz ermordet wurden, an jenem Ort, der zum Inbegriff des unfaßlichen Massenmordes am jüdischen Volk wurde.
Am 27. Januar 1945, morgen vor 50 Jahren, wurden die Häftlinge des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau von sowjetischen Truppen befreit. Auschwitz steht stellvertretend für alle anderen Vernichtungslager, die vor 50 Jahren befreit wurden. Mehr als anderthalb Millionen Menschen, vor allem mehr als eine Million Juden, auch Sinti und Roma, Polen, Russen und andere, Kinder, Frauen und Männer, wurden in Auschwitz ermordet.
Am Tag der Befreiung war das Lager längst leergeräumt. Noch im Januar 1945 wurden fast 60 000 Menschen aus Auschwitz herausgeführt und in grauenvollen Todesmärschen oder später in Bergen-Belsen ermordet. Zurückgeblieben waren nur wenige tausend Häftlinge, die nicht mehr transportfähig waren. Und selbst für sie muß das Wort „Befreiung" wie Hohn klingen. Sie waren Skeletten ähnlicher als Menschen, unvorstellbar abgemagert, hatten den sicheren Tod über Monate oder Jahre durchlebt.
Wer nicht selbst Häftling war, wird kaum ermessen können, welche Qualen diese Menschen haben erdulden müssen. Der italienische Schriftsteller Primo Levi hat Auschwitz überlebt. Wir verdanken ihm die bewegendsten Zeugnisse der Trauer über die Zerstörung des Humanen, aber auch die bewegendsten Aufrufe zur Achtung der Menschenwürde. Er wollte sich befreien, indem er schrieb. Und doch hat er sich Jahrzehnte nach dieser Befreiung das Leben genommen, gestorben an der „Brandwunde der Erinnerung", frei und doch nicht zum Leben befreit.
Der Selbstmord Levis macht uns Ambivalenz, Konflikthaftigkeit und Tragik dessen bewußt, was wir „Befreiung" nennen. Und was wissen wir von den traumatischen Belastungen und Krisen jener, die den Holocaust überlebt haben? Das Verbrechen von Auschwitz ist mit nichts vergleichbar. Es läßt sich nicht begreifen, nicht bewältigen. So qualvoll sich diese Befreiung vollzog - für Millionen Opfer kam sie zu spät, aber mit ihr nahte das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, das Ende von Zerstörung und Vernichtung.
Auschwitz war somit der Anfang der Befreiung für uns alle, der Befreiung aller Deutschen, ja der Menschheit, von der nationalsozialistischen Barbarei. Inmitten der Barbarei keimte neue Hoffnung auf Menschlichkeit.
Die Erinnerung an diese Befreiung macht nur Sinn, wenn aus der Erinnerung ein Wissen wächst, das zum Gewissen wird, wenn verpflichtender Auftrag und Chance wahrgenommmen werden, die Chance zu einem anderen Deutschland, einem demokratischen, friedfertigen Deutschland, in dem Freiheit, Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenwürde gelebt werden.
Wir haben diese Chance nach 1945 erhalten, und wir haben sie genutzt. Vergessen wir nicht: Die Befreiung von Auschwitz gab die Chance zu dem, was wir seither in Deutschland und in Europa aufbauen konnten. Setzen wir es nicht aufs Spiel!
Sind wir uns bewußt, was es bedeutet, daß wir dieses Gedenken nach 50 Jahren gemeinsam im vereinten Deutschland begehen können! Nach mutig erkämpfter Freiheit und überwundener Teilung haben wir Deutsche bei der Wiedervereinigung uns und der Welt im Einigungsvertrag versichert, daß wir auf Grund unserer Vergangenheit in besonderer Weise verpflichtet sind, auf eine demokratische Entwicklung in Deutschland auf der Grundlage der Menschenwürde und gerichtet auf die Wahrung des Friedens zu achten.
Denken wir auch daran: Es waren die Befreiten, viele von ihnen, die schwerste Verfolgung erlitten hatten, die sich mit voller Kraft für ein demokratisches, ein den Werten und Idealen der Aufklärung verpflichtetes europäisches Deutschland einsetzten. Der schwierige Neuanfang, der Brückenschlag zwischen Juden und Deutschen, wurde nur möglich, weil Juden, die unvorstellbares Leid erfahren hatten, die ungeheure menschliche Leistung erbrachten, uns die Hand zum Neuanfang zu reichen.
Wer die Spuren von Auschwitz auslöschen will, wer Auschwitz und die Opfer leugnet, macht sich an ihnen schuldig, löscht die Existenz von Millionen Ermordeten aus, tilgt ihre Biographien, ihre Leiden und nimmt ihnen über den Tod hinaus ihre Würde.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Wir, die wir durch die Befreiung eine große Chance gewonnen haben, sind zur besonderen Wachsamkeit, Umsicht und Entschiedenheit aufgefordert. Freiheit und Menschlichkeit sind niemals ungefährdet. Auch unsere Gegenwart ist voller alter und neuer Gefahren. Daran mitzuarbeiten, daß Auschwitz nie wieder möglich wird, bleibt immerwährender Auftrag an uns alle, auch an die nachfolgenden Generationen.
Sie haben sich zu Ehren der Opfer und der Überlebenden des Holocaust erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nun zunächst dem Kollegen Hermann Pohler, der am 22. Januar seinen 60. Geburtstag feierte, nachträglich die besten Wünsche des Hauses aussprechen.
({0})
Ich teile mit, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die verbundene Tagesordnung erweitert werden soll. Die Zusatzpunkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 1 bis 6 auf Drucksache 13/284 ({1})
2. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Einsetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes - Drucksache 13/298 -3. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung - Drucksache 13/297 -
zu TOP3:
a) Wahl der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes - Drucksachen 13/301, 13/319 -
b) Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung - Drucksachen 13/303, 13/317 -
c) Wahl der Wahlmänner für die vom Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ({2}) - Drucksachen 13/306, 13/315 -
d) Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Ausschusses für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes ({3}) - Drucksachen 13/307, 13/314 -
e) Wahl der Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses gemäß § 3 Abs. 2 Wahlprüfungsgesetz - Drucksachen 13/300, 13/312 -
f) Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ({4}) - Drucksachen 13/304, 13/316 -
g) Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes zur Kontrolle der Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses - Drucksachen 13/302, 13/318 -
h) Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ({5}) gemäß Artikel 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats - Drucksachen 13/308, 13/313 4. Beratung des Antrags des Abgeordneten Manfred Müller ({6}) und der weiteren Abgeordneten der PDS: Zusammensetzung der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ({7}) nach dem Berechnungsverfahren St. Lague/Schepers - Drucksache 13/322
5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Reise des Bundeswirtschaftsministers nach St. Petersburg
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS: Stopp der Rückforderungen von Sozialzuschlägen - Drucksache 13/274 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr, Heidi KnakeWerner und der weiteren Abgeordneten der PDS: Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern - Drucksache 13/275 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer ({8}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rentenkürzungen in den neuen Bundesländern - Drucksache 13/286 -
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Schönberger, Helmut Lippelt, Halo Saibold und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nichtbewilligung des EBRD-Kredites für den Weiterbau des Atomkraftwerks Mochovce/ Slowakei - Drucksache 13/309 -
10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Durchführung von Sicherheits- und Umweltverträglichkeitsprüfungen für die im Bau befindlichen Atomkraftwerke Temelin in der Republik Tschechien und Mochovce in der Slowakischen Republik - Drucksache 13/310 -
11. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung stillgelegter und landwirtschaftlich genutzter Flächen - Drucksache 13/121 -
Der Tagesordnungspunkt 9, Bioethik-Konvention, wird entgegen dem Ausdruck in der Tagesordnung heute als letzter Tagesordnungspunkt aufgerufen. Tagesordnungspunkt 10, Entwicklung des Tourismus, soll am Freitag erst nach Tagesordnungspunkt 11, Atomkraftwerk in Tschechien, aufgerufen werden. Die Anträge unter Tagesordnungspunkt 12 zum Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden sollen im vereinfachten Verfahren ohne Aussprache überwiesen werden. Die Beratungen ohne Aussprache werden heute vor der Fragestunde, die voraussichtlich gegen 15 Uhr stattfinden wird, aufgerufen. Tagesordnungspunkt 14 a, Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetz, soll abgesetzt werden.
Sind Sie mit diesen interfraktionellen Vereinbarungen einverstanden? - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 und Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
3. Wahlen zu Gremien
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Einsetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes - Drucksache 13/298 -
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 13/297 -
zu TOP 3 auch:
a) Wahl der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
- Drucksachen 13/301, 13/319 -
b) Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksachen 13/303, 13/317 -
c) Wahl der Wahlmänner für die vom Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ({9})
- Drucksachen 13/306, 13/315 -
d) Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Ausschusses für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes ({10})
- Drucksachen 13/307, 13/314 -
e) Wahl der Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses gemäß § 3 Abs. 2 Wahlprüfungsgesetz
- Drucksachen 13/300, 13/312 -
f) Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ({11})
- Drucksachen 13/304, 13/316 -g) Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes zur Kontrolle der Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses
- Drucksachen 13/302, 13/318 -
g) Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ({12}) gemäß Artikel 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats
- Drucksachen 13/308, 13/313 ZP4 Beratung des Antrags des Abgeordneten Manfred Müller ({13}) und der weiteren Abgeordneten der PDS
Zusammensetzung der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ({14}) nach dem Berechnungsverfahren St. Lague/ Schepers
- Drucksache 13/322 -
Bevor wir zur Wahl der Gremien kommen, müssen wir die Einsetzung und die Festlegung der Mitgliederzahl der Parlamentarischen Kontrollkommission und des Vertrauensgremiums beschließen.
Wir beginnen mit dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Einsetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission auf Drucksache 13/298. Wer stimmt für den Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Gegenstimmen aus der PDS und einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung auf Drucksache 13/297 auf. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist bei Gegenstimmen der PDS angenommen.
Wir führen jetzt vier Wahlen zu vier Gremien mit Stimmkarten und Wahlausweisen in getrennten Wahlgängen durch. Es handelt sich um folgende Gremien: Parlamentarische Kontrollkommission, Vertrauensgremium, Wahlausschuß, Richterwahlausschuß.
Ich erläutere jetzt kurz das Wahlverfahren: Die vier Stimmkarten für die Wahlen haben Sie in der Lobby erhalten. Für den Fall, daß Sie sie noch nicht bekommen haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, sich diese dort zu holen. Außerdem benötigen Sie vier Wahlausweise in den Farben weiß, blau, grün und orange, die Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Schließfach entnehmen. Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimmkarten also an Ihrem Platz ankreuzen.
Bei der Wahl der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission, die wir als erste durchführen, ist folgendes zu beachten: Nach § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, d. h., wer mindestens 337 Stimmen erhält.
Auf der hierfür vorgesehenen weißen Stimmkarte können Sie höchstens neun Namensvorschläge ankreuzen, da die Parlamentarische Kontrollkommission nach dem vorhin gefaßten Beschluß neun Mitglieder haben soll. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als neun Ankreuzungen, andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die weiße Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, bitte ich Sie, den Schriftführerinnen und Schriftführern an der Wahlurne Ihren weißen Wahlausweis zu übergeben.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Haben alle Schriftführer und Schriftführerinnen ihre Plätze eingenommen? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Wahlen. -
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten abgegeben? - Das ist offenbar der Fall. Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird später bekanntgegeben. *)
*) Seite 870A
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums. Auch hier ist nur gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, d. h., wer mindestens 337 Stimmen erhält.
Auf der hierfür vorgesehenen blauen Stimmkarte können Sie auch in diesem Fall höchstens neun Namensvorschläge ankreuzen, da das Vertrauensgremium nach dem vorhin gefaßten Beschluß neun Mitglieder haben soll. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als neun Ankreuzungen, andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die blaue Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie den Schriftführerinnen und Schriftführern den blauen Wahlausweis.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer erneut, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Wahl. -Darf ich kurz um Gehör bitten? - Die Schriftführerinnen und Schriftführer, die nicht an den Urnen gebraucht werden, möchten bitte in den Auszählraum kommen; wir haben dort zuwenig Auszähler.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten abgegeben? - Das ist offenbar der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Wie das Ergebnis der Wahl zum ersten Gremium wird auch dieses Ergebnis später bekanntgegeben.*)
Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses für die Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts. Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 13/306 und 13/315 Listen mit Wahlvorschlägen vor.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie auf der grünen Stimmkarte nur einen Vorschlag ankreuzen dürfen. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als eine Ankreuzung oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die grüne Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, geben Sie bitte Ihren grünen Wahlausweis an der Urne ab.
Ich bitte die Schriftführer, jetzt die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses die Stimmkarte abgegeben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Wahl und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.**)
Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses. Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 13/307 und 13/314 Listen mit Wahlvorschlägen vor.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie auf der orangefarbenen Stimmkarte nur einen Vorschlag
*) Seite 876A
**') Seite 891 A
ankreuzen dürfen. Auch hier sind Stimmkarten ungültig, die mehr als eine Ankreuzung oder Zusätze enthalten. Wer Stimmenthaltung vornehmen will, macht keine Eintragung.
Bevor Sie die orangefarbene Stimmkarte in die Wahlurne einwerfen, fügen Sie bitte den Ausweis bei.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Wahl.
Haben alle ihre Stimmkarte abgegeben? - Nein. -
Sind jetzt alle Stimmkarten abgegeben? - Dann schließe ich die Wahl und bitte, die Auszählung vorzunehmen. Das Ergebnis wird später bekanntgegeben. *)
Da die weiteren Wahlen nicht per Stimmkarte durchgeführt werden, bitte ich Sie, Platz zu nehmen, damit wir die weiteren Wahlen ohne Stimmkarte vornehmen können.
({15})
Ich fordere Sie auf, Platz zu nehmen. Dann können wir jetzt weitermachen.
Bevor wir im Wahlverfahren weitergehen, möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten der Nationalversammlung der Aserbaidschanischen Republik, Herrn Dr. Gulijew, mit seiner Delegation ganz herzlich begrüßen.
({16})
Wir freuen uns, daß Sie in Deutschland sind, daß Sie hier beim Bundestag und im Bundestag sind, daß Ihnen sehr an den parlamentarischen Beziehungen gelegen ist, und ich wünsche Ihnen, daß auch der heutige Tag unsere Beziehungen weiterhin vertieft und es zu fruchtbarer Zusammenarbeit kommt. Alles Gute, Herr Präsident!
({17})
Wir wählen jetzt die Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses. Hierzu liegen ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie ein Wahlvorschlag der PDS vor.
Wir stimmen zunächst über den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/312 ab.
Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Zustimmung der PDS und bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 13/300 ab.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN angenommen. Damit sind die
*) Seite 891B
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses und ihre Stellvertreter gewählt.
Wir kommen zur Wahl der Mitglieder des G-
10-Gremiums. Dazu liegen auf Drucksache 13/304 ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie auf Drucksache 13/316 ein Wahlvorschlag der PDS vor.
Wir stimmen wiederum zuerst über den Wahlvorschlag der PDS ab.
Wer stimmt für den Wahlvorschlag der PDS? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Zustimmung der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -- Der Wahlvorschlag ist bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN angenommen. Damit sind die Mitglieder des G-10-Gremiums gewählt.
Wir wählen jetzt die Mitglieder des Gremiums gemäß § 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes zur Kontrolle der Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Es liegen ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. auf Drucksache 13/302 und ein Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/318 vor.
Wir stimmen wiederum zuerst über den Wahlvorschlag der PDS ab.
Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Zustimmung der PDS und Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. auf Drucksache 13/302? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN angenommen.
Damit sind die Mitglieder des Gremiums gemäß § 41 Abs. 5 Außenwirtschaftsgesetz gewählt.
Abschließend kommen wir zur Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die zugleich Vertreter der Versammlung in der Westeuropäischen Union sind.
Dazu liegen Ihnen auf Drucksache 13/308 ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. und auf Drucksache 13/313 ein Wahlvorschlag der PDS vor.
Der interfraktionelle Wahlvorschlag geht von dem Berechnungsverfahren nach d'Hondt aus. Die PDS beantragt auf Drucksache 13/322, das Verfahren St. Lague/Schepers anzuwenden. Über diesen Antrag stimmen wir zuerst ab.
Wird dazu das Wort gewünscht? - Das Wort hat der Abgeordnete Müller.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Demokratischen Sozialisten im Deutschen Bundestag
({0})
sind gegen die von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. beantragte Änderung des bisherigen Zählverfahrens zur Ermittlung des Anteils der Fraktionen und Gruppen an der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Wir stellen deshalb den Antrag auf Beibehaltung des bisherigen Rangmaßzahlverfahrens nach Schepers. Seit Beginn der 9. Wahlperiode wählt der Bundestag aus seinen Reihen Mitglieder wichtiger Ausschüsse, wie des Vermittlungsausschusses, des Gemeinsamen Ausschusses, aber auch der Parlamentarischen Versammlung des Europarates bzw. Vertreter in der Versammlung der Westeuropäischen Union, nach dem sogenannten Rangmaßzahlverfahren nach Schepers. Eingeführt wurde dieses System, weil es alle im Parlament vertretenen Fraktionen, d. h. sowohl die kleinen als auch die großen, am gerechtesten an der Verteilung der Ausschußsitze beteiligt.
Heute soll dieses Verfahren ad hoc ohne große Aussprache, d. h. letztlich ohne parlamentarische Öffentlichkeit, abgeschafft und durch das d'Hondtsche Verfahren ersetzt werden. Dies geschieht vor allem aus einem einzigen Grund: Die Bundestagsabgeordneten der Demokratischen Sozialisten sollen nicht in die Parlamentarische Versammlung des Europarates und in die anderen wichtigen Ausschüsse gewählt werden können.
({1})
Nach dem Rangmaßzahlverfahren könnte die PDS nämlich sowohl im Vermittlungsausschuß als auch in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ein Mitglied stellen. Diese Vorgehensweise bedeutet eine Verletzung parlamentarischer Rechte der Abgeordneten der PDS. Sie verletzt in verfassungswidriger Weise das Willkürverbot sowie das Gebot der fairen und loyalen Behandlung auch parlamentarischer Minderheiten. Und darüber klatschen Sie noch, meine Herren hier auf der Rechten!
Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 16. Juli 1991 noch einmal bekräftigt, daß jede unterschiedliche Behandlung der Parlamentarier und Parlamentarierinnen unzulässig ist. Der willkürliche politische Zweck der Veränderung des Zählverfahrens zeigt sich ganz deutlich bei der Wahl der Mandatsträger der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Diese Versammlung - meine Damen und Herren, das wissen wir - hat keine entscheidende oder empfehlende Funktion, so daß hier eine Änderung des Zählsystems in keinem Fall angezeigt ist. Trotzdem soll die PDS von einer Teilnahme ausgeschlossen werden.
Wir rechnen uns deshalb gute Chancen beim Bundesverfassungsgericht aus, dieses Zählverfahren anzugreifen. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sollten dies vorher wissen, bevor Sie Ihre Zustimmung zu der Anwendung des Verfahrens nach d'Hondt geben. Sie stimmen damit ein weiteres Mal für eine undemokratische und eigentlich unpolitische Ausgrenzung von immerhin 30 Ihrer demokratisch gewählten Parlamentskolleginnen und -kollegen.
Unseren politischen Konkurrenten und von mir aus auch unseren politischen Gegnern kann ich ganz
Manfred Müller ({2})
vertraulich versichern: So gefährlich ist die von uns benannte Kollegin Andrea Lederer in diesem Ausschuß gar nicht, daß sich die erneute Ausgrenzung überhaupt lohnen könnte.
Danke schön.
({3})
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der PDS.
Wer stimmt für den Antrag der PDS? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung der PDS und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bei Enthaltung der SPD und einer Stimme der F.D.P. abgelehnt. Kann ich davon ausgehen, daß damit die Anwendung des Berechnungsverfahrens nach d'Hondt beschlossen ist? - Das ist der Fall.
Wir stimmen jetzt über den Wahlvorschlag der PDS auf Drucksache 13/313 ab.
Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den interfraktionellen Wahlvorschlag ab.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Gegenstimmen der PDS angenommen. Damit sind die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und der Versammlung der Westeuropäischen Union sowie die Stellvertreter gewählt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sofortprogramm zum Abbau von Obdachlosigkeit
- Drucksache 13/96 ({0}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Iwersen, Achim Großmann, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wohnungslosigkeit - Obdachlosigkeit und Wohnungsnotfälle in der Bundesrepublik Deutschland und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung
- Drucksache 13/247 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({2})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Werner Dörflinger, Herbert Frankenhauser, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({3}), Dr. Klaus Röhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Obdachlosigkeit - eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
- Drucksache 13/288 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({4})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({5}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie und Senioren, Frauen und Jugend
I laushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. - Wir verfahren so.
Kollege Kansy beginnt.
({6})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ist es vielleicht zweckmäßig, Frau Präsidentin, noch eine Minute zu warten?
Ich halte das für zweckmäßig und bitte die Kollegen, die hier sind, Platz zu nehmen. Die anderen mögen das Hohe Haus verlassen. - Herr Kollege Kansy, jetzt können Sie beginnen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat sich bereits in der 11. und 12. Legislaturperiode mit dem Problem der Obdachlosigkeit auseinandergesetzt. Bei den Anhörungen zu dieser Thematik, aber insbesondere nach den persönlichen Gesprächen mit den Betroffenen hier in Bonn mit unserem Ausschuß hat sich gezeigt, daß wirksame Hilfe nur durch eine Gemeinschaftsanstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden erbracht werden kann, wobei der Schwerpunkt der unmittelbar wirksamen Hilfe selbstverständlich auf kommunaler Ebene liegt.
Wenn - wie gerade wieder - die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe erneut beklagt, daß selbst vorhandene rechtliche Instrumente in vielen Gemeinden immer noch nicht angewandt werden, dann muß ich doch sagen: Der Deutsche Bundestag muß bei der Diskussion über neue gesetzliche Regelungen die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe unterstützen, das vorhandene Instrumentarium besser einzusetzen.
({0})
Herr Kollege Kansy, darf ich Sie nochmals unterbrechen? - Ich möchte die Kollegen nachdrücklich auffordern, Gespräche auPräsidentin Dr. Rita Süssmuth
ßerhalb des Saales zu führen, damit hier die Debatte stattinden kann. - Bitte.
Meine Damen und Herren, auf Bundesebene werden natürlich wichtige Rahmenbedingungen gesetzt, z. B. im wohnungspolitischen Bereich durch Maßnahmen zur Ausweitung des Wohnungsangebots oder im Sozialbereich durch das Bundessozialhilfegesetz oder das Kinder- und Jugendhilfegesetz.
Ein Weiteres hat sich in den Gesprächen mit den Betroffenen gezeigt: Sie fühlen sich nicht nur von der öffentlichen Hand viel zu sehr „verwaltet", sondern manchmal sogar auch von karitativen Organisationen, die zu wenig auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Obdachlosen eingehen.
Obdachlosigkeit zeigt sich in verschiedenen Formen: offen sichtbar bei denjenigen, die keinerlei Obdach haben und auf der Straße leben - zur Zeit etwa 45 000, davon 15 % Frauen -, aber auch in Form von Unterbringung in Obdachlosenunterkünf ten, Behelfsbauten, Hotels, Pensionen usw.
Meine Kolleginnen und Kollegen, gerade bei der Unterbringung in Pensionen und Hotels mit teilweise exorbitanten Kosten gibt es nachvollziehbar berechtigte Kritik von den Obdachlosen. Sie argumentieren, mit den 3 000 DM und mehr pro Person im Monat könne man wesentlich besser präventive und selbstorganisierte Hilfe auf die Beine stellen.
Daneben gibt es Menschen in Heimen, Anstalten oder anderen Institutionen wie Frauenhäusern, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Aussiedler in Aussiedlerunterkünften, die längere Zeit in solchen Einrichtungen leben müssen, aber dauerhaften Wohnraum brauchen.
Die Ursachen für Obdachlosigkeit, für den Verlust der Wohnung oder Schwierigkeiten, wieder eine Wohnung zu finden, sind vielfältig. Unsere größte Herausforderung ist eigentlich, hier offen darüber zu sprechen. Ursachen sind natürlich Einkommensprobleme, oft durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder durch die Trennung vom Partner entstanden, aber auch Krankheit, Alkoholismus, Drogenprobleme, persönliche Konfliktsituationen. Vielfach handelt es sich um ein Zusammentreffen vieler dieser Faktoren, die ich eben ansprach. Ich habe sie nicht vollständig aufgezählt.
Meines Erachtens gilt es hier umzudenken und den Mut zu einer ehrlichen Diskussion zu haben. Ich glaube, nach den Gesprächen mit Männern und Frauen, die selber auf der Straße leben oder gelebt haben, hat sich gezeigt: Auch sie sind dazu bereit. Wer dieses Thema bei allem Bemühen, wenigstens in dieser Frage am Ende der Ausschußberatungen zu einem Konsens zu kommen, allein auf das wohnungspolitische Problem verkürzen will, springt zu kurz.
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Wir müssen unseren Ansatz weiter fassen. Das beginnt damit, daß wir auch unseren Beitrag dazu leisten, das zwar unabgesprochene, aber doch unübersehbare Wegschauen des großen Teils unserer Gesellschaft zu überwinden und die Probleme ehrlich anzusprechen. Natürlich ist unter den Obdachlosen
auch einmal jemand, der eine Wermutflasche in der Hand hat oder eine angebotene Hilfe ausschlägt und so Resignation bei denen erzeugt, die helfen wollen.
Weil wir ein so großes Spektrum von Problemen und Wechselwirkungen haben, wissen wir, daß es einfache Lösungswege nicht gibt, sondern daß es verschiedener und differenzierter Strategien bedarf. Erforderlich sind zum einen - das ist in diesem Winter, in dem bereits 19 Männer und Frauen auf den Straßen an Unterkühlung verstorben sind, deutlich geworden - unmittelbar wirksame Hilfen: Übernachtungsplätze, Tagesaufenthaltsstätten, Suppenküchen, Wärme- und Teestuben, ärztliche Versorgung und ähnliches. Vor allem müssen natürlich mittel- und langfristig wirkende Maßnahmen und Konzepte zur dauerhaften Lösung geboten werden, zur Integration von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen in den Wohnungsmarkt, zur Eingliederung in Ausbildung und Beruf, zur gesundheitlichen Betreuung, zur familiären Stabilisierung usw.
Ich wiederhole mich: Besondere Bedeutung haben dabei präventive Hilfen auf allen Ebenen. Wir dürfen das Kind nicht erst in den Brunnen fallen lassen. Die bereits vorhandenen Instrumente - wohnungs- und sozialpolitische Maßnahmen, Maßnahmen zur Gesundheitssicherung - müssen, abgestimmt auf den jeweiligen Hilfebedarf, auf allen staatlichen Ebenen besser koordiniert und gebündelt werden. Grundlage dafür muß noch stärker eine engere Zusammenarbeit aller Fachverwaltungen sein, der Träger der Sozialhilfe, der Wohlfahrtspflege, der Kirchen, der Fachverbände, der Wohnungsunternehmen, aber auch der organisierten Selbsthilfe der Betroffenen. Für die kommunale Ebene hat der Deutsche Städtetag das Modell der integrierten Fachstelle vorgeschlagen. Nur, dieses Modell liegt bereits Jahre auf dem Tisch, aber nur ein Drittel der Kommunen nutzt es. Das ist die Realität.
Bund, Länder und Gemeinden haben, was die Wohnungsversorgung betrifft - ich sage noch einmal: das ist nur ein Teilaspekt des Problems -, in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen. Die Tatsache, daß wir im letzten Jahr 550 000 neue Wohnungen in Deutschland gebaut haben, ist ein Grund, dankbar zu sein, wenn auch nicht selbstzufrieden.
Im Bereich der Obdachlosigkeit ist - ich habe es bereits gesagt - dieser Wohnungssegen aus Gründen, über die wir im Ausschuß detaillierter diskutieren müssen, an den Betroffenen leider fast völlig vorübergegangen. Dies gilt auch für die beschlossenen Gesetze des Mieterschutzes, das Vierte Mietrechtsänderungsgesetz oder das Gesetz über eine Sozialklausel in Gebieten mit gefährdeter Wohnungsversorgung. Dies ist wichtig für Menschen, die eine Wohnung haben, reicht aber natürlich nicht für diejenigen aus, die „Platte machen", wie sie es selber nennen.
Das rechtliche Instrumentarium, insbesondere auch das BSHG, muß für Maßnahmen zur Hilfe bei sozialen Notlagen unter Berücksichtigung der Vorschläge einer von der Bundesregierung jetzt einzusetzenden Kommission zur Überprüfung der sozialen Notlagen auch zentral unter dem Gesichtspunkt der
Obdachlosigkeit überprüft werden - dazu gehört auch der § 72 BSHG mit der dazugehörigen Verordnung; wir hatten es bereits diskutiert - mit dem Ziel, die Hilfen für Wohnungslose im Rahmen klarer Zuständigkeitszuweisung treffgenauer zu gestalten.
Es ist weiter zu prüfen, wie die Möglichkeiten einer Übernahme rückständiger Mieten mit dem Ziel der Vermeidung eines Wohnungsverlustes verbessert werden können und ob durch verpflichtende Bestimmung zur Meldung von Räumungsklagen durch Amtsgerichte an die Kommunen präventiv geholfen werden kann.
Die Förderung durch Wohngeld ist im Rahmen der anstehenden Novelle zu verbessern. Gemeinsam mit den Ländern ist die Wohnungsbauförderung, insbesondere die Förderung des sozialen Wohnungsbaues, auf einem möglichst hohen Niveau zu verstetigen und - was gleich wichtig ist - sozial treffsicherer und effektiver zu gestalten. Die verbilligte Abgabe bundeseigener Liegenschaften für den Wohnungsbau sollte auch auf Projekte zugunsten von Obdachlosen ausgedehnt werden.
Meine Damen und Herren, wir wissen immer noch zu wenig. Deswegen sollten durch Unterstützung von Modellprojekten zur dauerhaften Wohnungsversorgung und sozialen Integration von Obdachlosen, die insbesondere - ich unterstreiche das noch einmal - die Selbsthilfepotentiale der Betroffenen stärker berücksichtigen, die Möglichkeiten zur Bündelung der erforderlichen Maßnahmen sowie von Finanzierungsmitteln aufgearbeitet und an praktischen Beispielen aufgezeigt werden. Dies sollte auf allen staatlichen Ebenen in die Politik, gegebenenfalls in die Gesetzgebung, einbezogen werden.
Durch diese Forschung und auch durch Öffentlichkeitsarbeit sind weiter die Kenntnisse über Umfang und Struktur der Obdachlosigkeit zu verbessern, um zu einem breiteren Problemverständnis und zum gesellschaftlichen Konsens über die Existenz von Obdachlosigkeit und über Maßnahmen zur Vermeidung und zum Abbau beizutragen.
Es sollte weiter überlegt werden, ob eine einheitliche Wohnungsnotfallstatistik möglich und sinnvoll ist. Hier gibt es bisher widersprüchliche Äußerungen. Ich hoffe, wir können das in relativ kurzer Zeit gemeinsam mit der Bundesregierung und den Ländern zu Ende bringen. Aber auch die Länder und Gemeinden sind gefordert. Ich möchte das hier nicht im Detail ansprechen, weil zunächst einmal die Forderung an uns selbst geht. Aber wir werden es natürlich nicht schaffen, wenn nicht auch die beiden anderen staatlichen Ebenen im gleichen Umfang dieses Thema zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem und zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe machen.
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Meine Damen und Herren, für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich abschließend der Hoffnung Ausdruck geben, daß es uns in den Ausschuß- und Parlamentsberatungen gelingt, trotz unterschiedlicher Meinungen z. B. in Bereichen der Wohnungspolitik und der Sozialpolitik zu einer gemeinsamen Beschlußempfehlung aller Fraktionen
zu kommen, um diesem gemeinsamen Anliegen gerecht zu werden.
Vielen Dank.
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Als nächste spricht die Kollegin Gabriele Iwersen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obdachlosigkeit ist nicht nur ein Thema armer Länder - das wissen wir alle -, denn auch in Wohlstandsländern wie Deutschland oder den USA ist sie bittere Realität für Hunderttausende. Deshalb debattiert der Deutsche Bundestag einmal pro Kalenderjahr - im relativ kleinen Kreis, versteht sich, obwohl er schon größer geworden ist - einen Antrag der SPD-Fraktion, der langsam alle Schärfe verloren hat, um für möglichst alle Parteien konsensfähig zu sein.
Es geht jetzt nicht um Schuldzuweisungen, sondern einzig und allein um die Lösung aktueller Probleme von Obdach- und Wohnungslosen und um die Vermeidung neuer sozialer Brennpunkte besonders in den großen Städten. Erreicht haben wir bis jetzt nur, daß inzwischen zwei weitere Anträge zur Diskussion stehen. Ich will hoffen, daß als Endergebnis, wie Herr Kansy es eben auch schon sagte, endlich ein gemeinsamer Schritt zustande kommt, der den Betroffenen hilft. Betroffen sind sowohl die Wohnungslosen wie auch die Kommunen, die zuständig, aber mittellos sind.
Der Bundeskanzler und der Außenminister reden immer wieder von der größer gewordenen Verantwortung Deutschlands in der Welt und bemühen sich, das Ansehen der Bundesrepublik durch spontane Hilfsangebote zu erhöhen. Ist nicht auch die Verantwortung für die wachsende Not im eigenen Land größer geworden und deshalb spontane und außerplanmäßige Hilfe erforderlich?
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Hier ist heute der geeignete Ort, um Flexibilität im Angesicht von Not zu beweisen. Neben dem taufrischen Antrag der CDU steht die herausgehobene Forderung der GRÜNEN nach einem Sofortprogramm zur Diskussion. Auch die SPD hält dieses Mittel für unverzichtbar, um Gefahr für Leib und Leben einiger tausend Obdachloser abzuwenden.
Ein Sofortprogramm kann natürlich nur Wirkung entfalten, wenn es sofort und nicht erst nach mehrwöchiger Beratungszeit verkündet wird. Die Bundesregierung ist daher gefordert - sie ist zwar nicht mehr so zahlreich vorhanden, aber vielleicht spricht es sich rum -, genauso spontan zu reagieren wie bei Notsituationen im Ausland oder beispielsweise bei Hochwasserkatastrophen.
Jetzt geht es wirklich um Übergangslösungen, die Menschen vor der Eiseskälte unter Brücken, in Bahnhofshallen und in U-Bahn-Labyrinthen schützen sollen, nachdem der Bundestag anderthalb Jahre ohne Schlußberatung vertan hat. Geben wir den Kommunen Geld, damit sie zusätzlich beheizten Wohn- und Aufenthaltsraum all denen anbieten können, die in
Gefahr sind, Gesundheit oder sogar Leben zu verlieren.
Dies soll und muß aber eine einmalige Aktion sein; denn ohne eine dauerhafte Lösung werden die Wohnungsnotfälle gerade in den großen Städten zu unzähligen sozialen Brennpunkten führen, in denen Menschen leben müssen, die aus dieser Gesellschaft ausgegliedert sind und es vielleicht auf Dauer bleiben, wenn wir nicht aktiv werden. Dabei wird es keine Patentlösungen geben, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten entsprechend den unterschiedlichen Bedürfnissen der Betroffenen und den unterschiedlichen Voraussetzungen in den Städten.
Verstärkter Bau von Sozialwohnungen ist bestimmt ein wichtiger Beitrag, um Wohnungsnotfälle zu verhindern. Wo aber über 2 Millionen Wohnungen fehlen, kann der Bedarf nicht in wenigen Monaten gedeckt werden, und wir alle wissen, daß die Langzeitwohnungslosen die letzten wären, die eine neue Sozialwohnung bekommen.
Wir wissen aber auch, daß Menschen, die schon seit Jahren auf der Straße leben, nicht allein in einer eigenen Wohnung zurechtkommen. Im Gegenteil, sie brauchen Menschen, die in ihrem Leben ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie sie selbst, die wissen, welche Gründe zum Verlust von Arbeitsplatz, Wohnung und sozialer Bindung führen können, ohne dies zu kritisieren. Kein Wunder, daß sich Obdachlose und Langzeitwohnungslose Berater wünschen, die aus dem Kreis der Betroffenen kommen. Wir Sozialdemokraten unterstützen diese Forderung; denn Verständnis schafft Vertrauen, und das erleichtert die Mitwirkung bei der Suche nach einer individuell angemessenen Lösung.
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Kann Soforthilfe in diesem Winter überhaupt noch Erfolg haben, fragen sich wahrscheinlich viele. Ich denke, ja. Die Städte brauchen eine Sonderzuweisung an Geld, um zusätzlich betreuten Wohnraum zu schaffen, egal, ob in einer Kaserne oder in leerstehenden Wohnungen, damit Obdachlose zwar in einer Gemeinschaft, aber nicht in dieser unangemessenen Enge leben können. In dieser Forderung wissen wir uns mit vielen Wohnungslosen einig, auch wenn immer wieder weitergehende Forderungen von sozial engagierten Menschen in diesem Land gestellt werden.
In vielen Obdachlosenunterkünften sind große Schlafräume mit Betten in geringem Abstand üblich. Es fehlt sozusagen die Fluchtdistanz, die absolut notwendig ist, um Aggression unter den Bewohnern zu vermeiden. Statt für den einzelnen ausreichend Platz zu schaffen, werden die Menschen oft schon morgens um 7 Uhr auf die Straße geschickt und erst abends wieder hereingelassen, damit sie keinen Streit in der engen Notunterkunft anfangen. Das ist unzumutbar, unmenschlich und angesichts leerstehender öffentlicher Gebäude auch nicht hinnehmbar.
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Mir geht es jedenfalls nicht nur um ein Dach über dem Kopf während der Nacht, sondern darum, daß jeder Mensch einen Anspruch darauf hat, irgendwo wohnen zu dürfen, auch wenn er ohne festen Wohnsitz ist. Schließlich bemühen sich die Gemeinden auch darum, Asylsuchenden Wohnraum zu verschaffen und nicht nur Schlafstellen, so wie es der Gesetzgeber eben von den Kommunen verlangt.
Daraus ergibt sich zwingend die Verpflichtung für den Deutschen Bundestag, endlich aktiv zu werden, damit in diesem Land niemand gegen seinen Willen ohne festen Wohnsitz bleibt und niemand mit einem Bett für zehn oder zwölf Stunden pro Tag abgefertigt werden kann, auch bei 10 Grad Kälte. Solange die Ortsansässigkeit die Voraussetzung für den Zugang zum sozialen Wohnungsbau darstellt, bringt die einseitige Forderung nach mehr sozialem Wohnungsbau für viele Menschen überhaupt keine Lösung.
Wenn ich „viele" sage, dann deshalb, weil hier noch immer der Mangel einer bundeseinheitlichen Statistik verhindert, die Gruppe der im Winter besonders benachteiligten Personen ohne festen Wohnsitz überhaupt zahlenmäßig zu erfassen. Deshalb steht diese Forderung in unserem Antrag an erster Stelle. Nicht weil uns die Statistik wichtiger ist als der Wohnraum, sondern weil Probleme, die nicht klar umrissen sind, in diesem Land gar keine Chance haben, gelöst zu werden. Ich verweise deshalb mit allem Nachdruck auf die auch schon von Herrn Kansy angeführten Anhörungen vom 13. April, 18. Mai und 15. Juni 1994, die sich auf den SPD-Antrag vom Juni 1993 beziehen und dessen Forderungen weitgehend bestätigen.
Jetzt schreiben wir das Jahr 1995, und noch immer gibt es keine bundesweite Notfallstatistik, noch immer werden die Zahlen der obdachlosen und wohnungslosen Personen wie auch Familien nur geschätzt, noch immer ist die Zuständigkeit für Hilfeleistungen aufgeteilt zwischen Polizei, Ordnungsamt, örtlichem und überörtlichem Sozialhilfeträger, noch immer gibt es fast nirgends „zentrale Fachstellen" in den Rathäusern, so daß die angestrebte Normalisierung der Lebensverhältnisse gar nicht erst in Angriff genommen wird.
Viele Kommunen suchen leider in erster Linie noch immer nach einer Chance, das Elend loszuwerden. „Vertreibende Hilfe" nennt man das! Eine konzertierte Aktion zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und der Bundesanstalt für Arbeit sollte endlich das Übel an der Wurzel packen. Wir müssen es endlich auf den Weg bringen!
Nicht nur Wohnraum wird benötigt, sondern soziale Betreuung und Beratung. Es fehlt zur Zeit an fast allem: an ambulanter Betreuung, ärztlicher Versorgung, alkoholfreien Zonen in Heimen, therapeutischen Wohngemeinschaften für Obdachlose, die eine Sucht überwunden haben, aber auch für solche, die sich als Suchtkranke auf eine stationäre Therapie vorbereiten. Auch Strafentlassene und Menschen, die
in psychiatrischen Anstalten gelebt haben, brauchen zuverlässige Hilfe und Wohnraum.
Es fehlt aber auch an Akzeptanz für Menschen, die gar keine Sozialwohnung suchen, sondern mit einem Bau- oder Campingwagen oder einer Laube zufrieden wären, wo ihnen niemand Lebensgewohnheiten abverlangt, die sie nun einmal nicht haben. Aber gerade diese Menschen stoßen in den meisten Städten und Gemeinden auf Ablehnung, denn die Bauordnungen der Länder bieten genügend Möglichkeiten, jeden Außenseiter zu vertreiben. Fliegende Bauten brauchen schließlich auch eine Baugenehmigung.
Da fallen mir wieder die Obdachlosen mit einem Hund ein. Der Hund gibt ihnen Schutz und Zuneigung, und deshalb ziehen sie es zum Teil vor, draußen zu schlafen, weil das Tier nicht mit in die Unterkunft hinein darf. Warum eigentlich nicht? Ein „gutbürgerlicher" Hund wohnt auch in der Wohnung oder sogar im Haus.
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Doch zurück zum Sofortprogramm: Geld darf nur den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden, die bereit sind, sofort zusätzlich verfügbaren Wohnraum nutzbar zu machen, eine soziale Betreuung zu organisieren und die Bewohner an der Einrichtung der Räume zu beteiligen.
Eine enge Zusammenarbeit mit der Bundeswehr und den Bundesvermögensämtern ist wichtig. Über das BMVg und das BMF müssen Möglichkeiten geschaffen werden, leerstehende Kapazitäten oder Teile von ungenutzten Liegenschaften sofort für die Dauer von mindestens drei Monaten zur Verfügung zu stellen.
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Aus dem Sofortprogramm können Miete, Betriebskosten und Personalkosten für Hausmeister und vor allem für die soziale Betreuung bezahlt werden. Die Stuben sollten dabei nicht mehr als zwei Personen beherbergen, und auch Tiere sollten in diesen Einrichtungen Aufnahme finden.
Eine weitere Möglichkeit könnte die Anmietung leerstehender Wohnungen sein, denn Leerstand ist Zweckentfremdung von Wohnraum und kann sogar strafrechtlich verfolgt werden.
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In diesem Fall sollten aus dem Sofortprogramm Miete und Betriebskosten sowie die Renovierung nach dem Auszug der vorübergehenden Nutzer bezahlt werden. Es ist nämlich meistens ein besonderes Hindernis, daß dafür kein Geld vorhanden ist. Bei überhöhten Mietforderungen sollten die Kommunen ruhig von dem Mittel einer Klage wegen Mietwuchers Gebrauch machen.
Ich höre jetzt schon den Aufschrei der Haus- und Grundbesitzerlobby - ich vermute sie irgendwo rechts -; aber irgendwann muß sich die öffentliche
Hand endlich einmal gegen die skandalösen Zustände in diesem Land zur Wehr setzen.
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Auf der einen Seite stehen bezugsfertige Wohnungen leer, auf der anderen Seite zahlen die Gemeinden Millionen für die Unterbringung Wohnungsloser in Hotels oder Pensionen. Ein Teil bleibt trotzdem auf der Straße oder in feuchten Rattenlöchern, weil sich niemand an den zweckentfremdeten ungenutzten Wohnraum heranwagt. Dessen Besitzer können Monat für Monat den Verlust aus Vermietung und Verpachtung zu einer vom Finanzamt gespeisten Einnahmequelle machen.
Und dann haben wir noch die leerstehenden Altbauwohnungen, für deren Sanierung das Geld fehlt. Dies sind ideale Objekte, die gemeinsam mit Wohnungs- und Arbeitslosen unter fachlicher und sozialpädagogischer Anleitung und Betreuung wieder bewohnbar gemacht werden können. Für derartige Projekte müssen allerdings zunächst bei der Bundesanstalt für Arbeit die Voraussetzungen zur Beteiligung an einer ABM geändert werden, um auch Personen ohne festen Wohnsitz Zugang zu einem Vorhaben dieser Art zu ermöglichen.
Auch für die Anleiter und Sozialpädagogen muß in diesem Fall eine Ausnahme gemacht werden können. Sie sind so wichtig für das Zustandekommen solcher Projekte, daß die Maßnahme nicht von der Zahl der Monate ohne Beschäftigung abhängen darf. Vermittelbar muß hier jeder sein, der arbeitslos und qualifiziert ist. Wohnprojekte müßten eine hundertprozentige Förderung auf sich ziehen.
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Die Sachkosten sollten teilweise aus dem Sofortprogramm finanziert werden.
Nun werden Sie fragen, woher die Träger solcher kombinierten Arbeits- und Wohnungsbeschaffungsprojekte die leerstehenden alten Häuser eigentlich nehmen sollen. Gucken Sie einmal in Ihrer eigenen Gemeinde nach, in welchen Häusern die unzumutbarsten Wohnungen in Kellern und mit nassen Wänden immer wieder vermietet und sogar von den Sozialämtern bezahlt werden, weil kein besserer Wohnraum verfügbar ist und die Leute sonst ganz auf der Straße sitzen würden. Diese Häuser sind meist erst in den letzten Jahren von Spekulanten für sehr wenig Geld erworben worden, in Schwarzarbeit notdürftig hergerichtet und anschließend zu unverschämten Preisen an diejenigen vermietet worden, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Chance haben.
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Dieser Altbaubestand muß in Zukunft in den Besitz von Kommunen, Wohlfahrtsverbänden oder Kirchen gelangen. Diese können dann mit Hilfe von ABM und Sachkostenzuschüssen aus Sonderprogrammen von Bund und Ländern auf legale Art und Weise preiswerten Wohnraum schaffen. Das ist ein gesellschaftlich vernünftiger Umgang mit Mitteln der Bundesanstalt und allemal besser als jede unfreiwillige UnterstütGabriele Iwersen
zung von Wohnungsspekulanten durch die Sozialämter.
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Das Ziel muß heißen: langfristige Verfügbarkeit von preiswertem Wohnraum bei gleichzeitiger sozialer Integration von Wohnungslosen.
Die Beratung in den Ausschüssen sollte auch die bereits geleistete Arbeit unterschiedlichster sozialer Wohnrauminitiativen und deren Finanzierungsansätze einbeziehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als nächste spricht die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einer persönlichen Vorbemerkung beginnen. In den achtziger Jahren war ich mit der Sanierung von ehemals besetzten Häusern in BerlinKreuzberg befaßt. Darunter waren drei Häuser, die von etwa 60 jungen arbeits- und wohnungslosen Menschen besetzt waren, die an der Schwelle zur Obdachlosigkeit lebten und vielfache Sucht-, Schulden- und Krankheitsprobleme gleichzeitig hatten. Natürlich waren sie praktisch alle arbeitslos und lebten von Sozialhilfe.
Wir haben seinerzeit die Häuser für die Bewohner und mit den Bewohnern mit Hilfe von Sanierungsförderungsmitteln, mit Arbeitsbeschaffung nach § 19 BSHG saniert und dabei ein erstaunliches Maß an sozialer Stabilisierung erreicht, das bis heute anhält. Ich glaube, wenn man eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmacht, kann man sagen, daß sich diese Häuser in ihrer Gesamtfinanzierung längst bezahlt gemacht haben.
Seit dieser Zeit habe ich viele Menschen am Rande von Obdachlosigkeit kennengelernt und erfahren, daß gerade die Menschen, die aus der Normgesellschaft herausgefallen sind und täglich soviel Verachtung erfahren, eine ganz eigene Form von Würde haben. Darum möchte ich von dieser Stelle aus als allererstes all den wohnungs- und obdachlosen Menschen meinen Respekt und meine Bewunderung für den aufrechten Gang, mit dem sie ihr Schicksal tragen, aussprechen. Ich denke, es ist wichtig, diesen Ort einmal für einen solchen Dank zu nutzen.
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Frau Iwersen hat sehr gut die Probleme und den Gegensatz zwischen Wohnungsleerstand und Wohnungsnot und das, was getan werden kann, geschildert. Ich möchte es deswegen etwas kürzer machen. Trotzdem muß man immer wieder eines deutlich machen: Die Regierung - auch Herr Kansy hat es getan - verweist voller Stolz immer wieder auf die 500 000 bis 600 000 Neubauwohnungen im Jahr 1994. Aber diese Wohnungen haben Mieten überwiegend
zwischen 18 und 25 DM pro Quadratmeter. Auch wenn gesagt wird, da sinken die Mieten etwas, ist das für die Leute, die Wohnungen dringend brauchen, ein Witz. Sie können sicher sein, daß, auch wenn eine Miete von 25 DM auf 20 DM pro Quadratmeter sinkt, die meisten bedürftigen Leute an diese Wohnungen nie und nimmer herankommen.
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Insofern haben wir nach wie vor einen skandalösen Wohnungsleerstand. Am liebsten möchte ich mit Ihnen in Berlin und im Umland von Berlin eine Begehung vornehmen und Ihnen zeigen, daß ganze Siedlungen zu mehr als 50 % leer stehen. Das sind Wohnungen, die über das Fördergebietsgesetz und das Einkommensteuerrecht mit unendlich viel Geld hoch subventioniert worden sind, aber gleichzeitig leer stehen. Es ist skandalös, immer wieder auf diese Wohnungen zu verweisen und so zu tun, als wären das die Wohnungen, die unsere Wohnungsprobleme lösten.
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- Es sind auch Sozialwohnungen dabei. Genau das ist der nächste Punkt, auf den ich kommen will. Von diesen Sozialwohnungen kommen aber die wenigsten bei den Menschen an, die am bedürftigsten sind.
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Wir haben ein Wohnungsbaufördersystem, bei dem ein großes Mißverhältnis zwischen Förderung und Bedürftigkeit besteht. Am meisten wird im dritten Förderweg gefördert. Auch der jetzige Haushalt ist so gestaltet. Für den dritten Förderweg und die vereinbarte Förderung werden die meisten Gelder bereitgestellt; beim sozialen Wohnungsbau reduziert es sich dann schon. Die eigentlich bedürftigen Schichten kommen an diese Wohnungen nur in ganz seltenen Einzelfällen heran. Das ist ein Punkt, der dringend geändert werden muß, auch durch Entscheidungen dieses Hauses.
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Dasselbe Problem haben wir im Bereich des Altbaus. Zu einem großen Teil werden Wohnungen durch private Modernisierungen und durch Umwandlung in Eigentum in teureren Wohnraum verwandelt. Das heißt, die preiswerten Wohnungen verschwinden vom Markt und werden für den Wohnflächenverbrauch von besserverdienenden Schichten aufbereitet. Dadurch erzeugen wir ständig mehr Wohnungsnot. Auch wir, der Gesetzgeber, sind dafür mitverantwortlich. Insofern müssen wir die wohnungspolitischen Instrumente und ihre Zielrichtung endlich verändern. Zur Zeit besteht der absurde Effekt, daß die Politik dieses Hauses, aber vor allem - ich will nicht nur den Bundestag dafür verantwortlich machen, obwohl seine Mehrheiten dafür stehen - der Regierung immer wieder mehr Wohnungsnot erzeugt als wirklich lindert. Wohnungsnot und Leerstand stehen sich in völlig absurder Form gegenüber.
Auf die Probleme von Obdachlosigkeit sind mein Vorredner und meine Vorrednerin in sehr guter Form eingegangen. Ich finde es sehr toll, daß sich der Bundestag und vor allem der Bauausschuß in der letzten Legislaturperiode intensiv mit diesem Problem befaßt hat. Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, daß es nicht nur um ein Wohnungsproblem geht, sondern auch - das ist sehr eng damit verknüpft - um die Probleme im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, Krankheit, familiären und Partnerschaftsaspekten und großer Verschuldung. Dies alles wirkt zusammen.
Das Wichtigste ist trotz allem das Dach über dem Kopf. Unsere wichtigste Aufgabe im Bereich Bau- und Wohnungswesen sollte daher sein, endlich mehr Geldmittel zur Verfügung zu stellen, damit die Leute ein Dach über dem Kopf bekommen.
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Ich denke, wir können dieses Problem nicht allein den Kommunen überlassen. Die Zahlen zeigen es: Im Winter 1992/93 sind 34 obdachlose Menschen auf den Straßen gestorben, im Winter 1993/94 28 und allein in diesem Winter, der weiß Gott milde war, schon 19. Wir alle sind daran mitschuldig und sind in der Pflicht, das schnellstens zu ändern.
Wir müssen auch zugeben: Es gibt wieder Armut in unserem Land. Die Armut wächst in dem Maße, wie auf der anderen Seite der Reichtum wächst. Darum fordere ich dieses Haus auf, die wachsende Armut in all ihren Aspekten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, das Schweigen über die Armut endlich zu brechen und konkrete Schritte zur Lösung zu beschließen.
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Frau Iwersen hat das sehr schön dargestellt: Die Menschen brauchen als erstes eine Wohnung, dann Beratung und Betreuung, und dann brauchen sie Arbeit, soweit sie arbeitsfähig sind. All diese Aspekte müssen wir mit beachten. Trotzdem gilt: Die Wohnung ist das vordringliche Problem.
Es ist klar, daß die Kommunen zuständig sind. Niemand will den Kommunen diese Zuständigkeit nehmen. Aber wenn wir alle wissen, daß die Obdachlosigkeit und die Armut wachsen, dann haben wir die Verantwortung, die Kommunen bei der Lösung des Problems zu unterstützen. Uns ist es sehr wichtig, daß diese Unterstützung zu einem Dreiklang der Gemeinsamkeit. führt: Die Initiative soll vom Bund ausgehen, aber sie soll als Gemeinschaftsinitiative die Länder auffordern, ihrerseits Geld einzubringen.
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- Die Länder bilden den Bundesrat. Insofern ist dies eine Aufforderung an den Bundesrat, hier mitzuziehen. Die jeweils am meisten betroffenen Länder - da gibt es ja große Unterschiede - müssen auch am meisten eingeben. Aber nur wenn endlich begonnen wird, ist es möglich, die Kommunen mit diesem Problem nicht alleine zu lassen.
Der Antrag der Regierungskoalition enthält Empfehlungen zur Präzisierung des BSHG und einige andere Aspekte, die Herr Kansy ausgeführt hat. Wir alle finden diese Aspekte unterstützenswert. Aber sie bleiben dort stehen, wo materielle Aspekte betroffen sind. Im Endeffekt sind das freundliche Worte, die keine handfeste Hilfe bieten. Insofern möchte ich Sie, Herr Kansy, auffordern: Ziehen Sie bei uns mit - die SPD hat signalisiert, daß sie bereit ist, gemeinsam ins Boot zu steigen -, seien Sie bereit, bares Geld für das Problem Obdachlosigkeit auszugeben! Sonst können wir die Probleme nicht lösen, sonst bleiben wir auf der Ebene der schönen Worte. Das, so denke ich, können wir uns alle nicht leisten.
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Ich möchte auch die SPD bitten, Ihr Sofortprogramm, das auch in Ihrem Antrag gefordert wird, finanziell zu beziffern. Ich möchte gerne darlegen, wie wir zu der Zahl, die in unserem Antrag steht, gekommen sind. Diese Rechnung ist schon phänomenal, ich bin selbst beim Formulieren erschrocken. Wir haben in unseren Antrag den Betrag von 300 Millionen DM hineingeschrieben. Wie kommen wir zu diesem dreisten Betrag? Wir haben dazu folgende Modellrechnung aufgestellt: Wenn 100 000 Obdachlose in den berühmt-berüchtigten Läusepensionen untergebracht werden sollen - die Kosten betragen mindestens 50 DM pro Person und Nacht -, so müssen 5 Millionen DM für eine Nacht aufgebracht werden. 30 Nächte, also ein Monat, kosten 150 Millionen DM. Ein halbes Jahr, also ein anständiger Winter, kostet satte 900 Millionen DM.
Das heißt jetzt nicht, daß wir weiter Läusepensionen bauen wollen. Darin sind wir uns ja völlig einig. Es heißt nur, daß dieses Geld nötig ist, um langfristig vernünftige Bau- und Wohnungsprojekte zu organisieren. Insofern befinden wir uns in dem Zwiespalt, daß einerseits ein Sofortprogramm sofort helfen muß, aber andererseits auch Geld für langfristige Projekte gebraucht wird. Unsere Initiative soll beiden Aspekten dienen. Sie soll zur Linderung der akuten Not beitragen und gleichzeitig die dauerhafte Versorgung mit vernünftigen Wohnungen gewährleisten.
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Frau Eichstädt-Bohlig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kansy?
Ja.
Frau Kollegin, ich will uns nicht aus der Verantwortung nehmen, wir werden auch über finanziell wirksame Maßnahmen sprechen müssen. Aber glauben Sie wirklich, das Hauptproblem einer Gemeinde aus meinem Wahlkreis, die jährlich Millionen für Verkehrsberuhigung ausgibt, liegt darin, dieses Problem durch fragwürdige Leistungsgesetze, für die wir eh die Länder brauchen, anzugehen? Die Länder glänzen hier ja durch pausenlose Abwesenheit, schon heute morgen beim Gedenken an Auschwitz,
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aber fordern im neuen Plenarsaal des Reichstagsgebäudes dennoch 80 Plätze. Glauben Sie wirklich, dies ist der richtige Weg? Meinen Sie nicht, es geht vielmehr darum, auch auf kommunaler Ebene Verantwortlichkeit für dieses Problem zu wecken, Bewußtsein zu schaffen?
Sie wissen, daß eine Gemeinschaftsinitiative von Bund, Ländern und Gemeinden immer so konstruiert ist, daß sie alle drei Ebenen in die Verantwortung zwingt. Ich denke, daran sollten wir arbeiten: mit unserer Initiative die beiden anderen Ebenen ins Boot zu bringen. Bei den Kommunen sehe ich nicht so sehr das Problem; denn sie stehen in der Pflicht. Aber auch deren Verantwortlichkeit kann erhöht werden, wenn Bund und Länder mitarbeiten. Natürlich müssen die Länder teilweise dazu gezwungen werden. Das ist mir völlig klar. Insofern steckt hinter diesem Antrag, den wir gestellt haben, auch ein gewisser moralischer Druck auf die Länder. Darüber können praktisch alle drei ins Boot gezwungen werden.
Ich finde, diese Methode, die in der Städte- und in der Wohnungsbauförderung funktioniert, ist ein wunderbares System: Wer Geld hineingibt, fordert die anderen auf, das gleiche zu tun. Irgendwann sind sie genötigt, es gemeinsam zu machen, wenn sie an das Geld herankommen wollen.
Von daher hoffe ich, gerade über unsere Initiative das, was Sie so skeptisch sehen da bin ich mit Ihnen völlig einig -, konstruktiv wenden zu können.
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Ich möchte zum Schluß kommen: Genau in dem Sinne, Herr Kansy, wie Sie das jetzt gesagt haben - und so, wie es Frau Iwersen gesagt hat -, wären wir wirklich sehr daran interessiert - es geht uns dabei nicht um Pfennigfuchserei: ob es 300 Millionen DM oder 280 Millionen DM sind -, gemeinsam sehr engagiert an einem Antrag zu arbeiten, in dem alle Ihre Ziele, die auch qualifizierter und vorbereiteter sind als unsere, inhaltlich aufgehen und in dem gleichzeitig eine Geldsumme benannt wird, die den Menschen wirklich hilft und die Länder und Kommunen mit in die Verantwortung bringt, damit den Obdachlosen materiell geholfen werden kann. Denn es geht nicht nur um Verfahren, es geht um das Dach über dem Kopf.
Ich danke.
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Als nächster spricht der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundestag könnte es sich im Grunde leichtmachen und auf die Zuständigkeit der Kommunen für obdachlose Menschen in unserer Gesellschaft verweisen. Er würde sich dann aber selbst an der Erkenntnis vorbeimogeln, daß seine Gesetze und die Gesetze, die er nicht macht, einen wesentlichen Einfluß auf das Schicksal der Obdachlosen in unserer Gesellschaft haben.
Ich bedauere sehr, daß die Fraktionen keinen Weg zu einer gemeinsamen Entschließung gefunden haben; denn eigentlich eignet sich dieses Thema, das wir heute erarbeiten, kaum zur parteipolitischen Profilierung. Eine gemeinsame Entschließung hätte viel mehr Gewicht gehabt: Das ist das, was wir alle wollen - in diesem Bereich ganz besonders.
Da sich die Vorredner besonders mit den Menschen befaßt haben, die durch Kündigung ihre Wohnung verloren haben, ohne aus eigener Kraft eine neue zu finden, die aber durch die Kommunen in Sozialwohnungen, Unterkünften oder Pensionen untergebracht werden, will ich mich mit einer anderen Gruppe befassen, deren Probleme noch sehr viel größer sind, nämlich mit den sogenannten alleinstehenden wohnungslosen Menschen mit besonderen sozialen Problemen, die uns speziell in den Städten in großer Zahl begegnen, die unter Brücken oder in Bauruinen, aber auch in Hauseingängen schlafen und uns nur allzuhäufig durch ihr abweichendes Verhalten provozieren.
In Deutschland leben mehr als 100 000 Menschen unter diesen Bedingungen. Ich möchte sagen: Sie vegetieren ohne ein Dach über dem Kopf. Diese Menschen, die sich selbst Berber nennen, finden immer wieder das besondere Interesse von wohlmeinenden Menschen, die sich mit dem einen oder anderen unterhalten und dann zu dem vorschnellen Ergebnis kommen: Die wollen gar keine Wohnung, die wollen so leben, wie sie leben. Ist das Leben der Berber in unseren Städten ein Ausdruck absoluter Freiheit von Menschen, die sich keinen Zwängen beugen wollen? Diese Beobachtung wäre wohl außerordentlich oberflächlich. Sie ist schlicht falsch.
Richtig ist, daß das Leben dieser Menschen in vielfältiger Weise von Angst geprägt ist: von Angst vor den bürgerlichen Menschen, die sie verachten; von Angst vor anderen Berbern, denn die Situation unter Berbern ist von Gewalt geprägt - auch das sollten wir sehen -; von Angst vor der Zukunft, die keine Perspektive mehr aufzeigt; von Angst vor einer weiteren Verschlechterung der Lebenssituation, insbesondere vor Krankheit und völliger Hilflosigkeit.
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß mehr als 100 000 Menschen in unserem Land vor unseren Augen langsam krepieren. Wenn sie dennoch in kleinen Gruppen auftreten und gemeinsam unter Brücken übernachten, so ist dies Ausdruck der Sehnsucht, die auch die anderen Menschen kennen, geprägt von dem Wunsch, dem totalen Alleinsein in der Gruppe zu entkommen und wenigstens einen kläglichen kleinen Rest von Wärme und Geborgenheit zu erhaschen.
Alle diese Menschen haben ein Schicksal hinter sich, welches sie in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu ertragen vermochten. Sie haben den Job verloren, sind häufig geschieden, in vielen Fällen sind sie straffällig geworden oder sind psychisch krank, also irgendwie auffällig,
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und deswegen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr akzeptiert.
Hildebrecht Braun ({1})
Die Lebenswege der Betroffenen ähneln sich. Sie mündeten fast durchgehend in Alkoholismus, körperlichem und seelischem Verfall. Ihr Selbstwertgefühl ist nahezu auf null reduziert. Ein erheblicher Teil von ihnen bettelt trotz Sozialhilfe und zeigt damit, daß eine der letzten Hürden, die unsere Erziehung aufgerichtet hat, nämlich das Selbstwertgefühl und der Stolz, auch noch dahin ist.
Berber ziehen in großer Zahl in die Großstädte; denn für entwurzelte Menschen gilt in abgewandelter Form der mittelalterliche Satz: Stadtluft macht frei. Nur in den Städten mit ihrer Anonymität ergibt sich ein Lebensraum, in dem kaputte Menschen mehr schlecht als recht überleben können, Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, an sich selbst Forderungen zu stellen.
Ob die Flucht aus der Verantwortung und aus bestehenden Sozialbezügen, die wenigstens noch einen Resthalt geben könnten, in die Städte durch das Bundessozialhilfegesetz erleichtert werden sollte, wie das jetzt der Fall ist, erscheint sehr, sehr zweifelhaft. Aber es würde den Rahmen sprengen, wenn ich hier näher auf diese Problematik einginge.
Art. 1 unseres Grundgesetzes beinhaltet die großartige Aussage, auf die wir stolz sind, nämlich daß die Menschenwürde unantastbar sei. Die Menschenwürde auch von Pennern oder von Berbern? Gewiß ist die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung größer, für das Überleben eines leidenden Wales in Alaska
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zu spenden oder auch zu demonstrieren als für das Los der Menschen, die vor unseren Augen verrecken.
Wir Politikerinnen und Politiker sind angehalten, uns aber nicht nur mit der Zustandsbeschreibung zufriedenzugeben, sondern intensiv darüber nachzudenken, was zu tun sei, damit sich die Situation grundlegend verändert.
Es gibt so viele Gründe, wie Leute in die Situation kommen, die ich jetzt beschrieben habe. Prävention ist angesagt. Prävention beginnt in der Familie, beginnt in der Schule. Verwahrlosung ist ein Phänomen, das wir alle - auch bereits bei Jugendlichen - kennen. Aber wir dürfen nicht gezielt wegschauen, sondern wir sind verantwortlich dafür, daß Jugendlichen Hilfestellung gegeben wird,
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damit sie auf diesem Weg eben nicht fortschreiten, insbesondere in den Alkoholismus, der in ganz besonderem Maß dazu beiträgt, daß sie später in die Situation kommen, die ich jetzt beschrieben habe.
Ich möchte auch deutlich machen: Das Geld, das in pädagogisch gebildete Betreuer und in betreute Wohngemeinschaften für verwahrloste Jugendliche investiert wird, ist sehr gut angelegt, gerade in diesem Zusammenhang.
({4})
Ich möchte die Gelegenheit heute hier wahrnehmen, mich vor dem Forum des Bundestages ganz herzlich zu bedanken bei den Mitarbeitern der Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe und bei Ehrenamtlichen, die ihre freie Zeit dazu verwenden, um der Forderung nach Menschenwürde auch und gerade bei diesen Ärmsten unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen.
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Ich will, da wir hier als Wohnungspolitiker sprechen, aber auch ein paar Worte zur Wohnungspolitik sagen, die natürlich ebenfalls eine Menge mit der Obdachlosigkeit zu tun hat. Zunächst ist Obdachlosigkeit ein Mengenproblem bei der Versorgung mit Wohnungen. Deswegen darf ich hier mit Stolz berichten, daß diese Koalition in den letzten vier Jahren einen gewaltigen Anstieg des Baus von Wohnungen zustande gebracht hat: allein in den westlichen Ländern von 200 000 auf 500 000. Sie hat dadurch einen gewaltigen Beitrag zur Linderung der allgemeinen Wohnungsnot, aber auch gerade der Personen, über die wir sprechen, geleistet.
Ich möchte sagen, daß, nachdem feststeht, daß der Verlust des Jobs einer der wichtigsten Gründe für das Entstehen von Obdachlosigkeit ist, eine richtige Wirtschaftspolitik eine der besten Maßnahmen ist, um all dies überhaupt erst nicht entstehen zu lassen.
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Ich möchte auch ein Wort zum sozialen Wohnungsbau sagen; denn er hat in diesem Zusammenhang natürlich eine große Bedeutung. Der Bundestag hat vor kurzer Zeit den Kreis der Berechtigten für Sozialwohnungen gewaltig ausgeweitet, indem er die Grenzen des § 25 des Wohnungsbindungsgesetzes massiv angehoben hat. Er hat aber mit dieser Maßnahme keine einzige zusätzliche Sozialwohnung geschaffen, sondern ein Heer von Scheinberechtigten, die in der Praxis vor den Wohnungsämtern stehen, die ihnen sagen müssen: Pech gehabt; ihr seid zwar formal Berechtigte, aber Wohnungen sind nicht da. Das zeigt, daß die bisherigen Wege in diesem Bereich falsch waren. Der erste Förderweg mag nach dem Krieg seine Berechtigung gehabt haben; er ist jetzt der falsche Weg, und deswegen bin ich froh darüber, daß der Haushalt des Wohnungsbauministeriums für 1995 den Schwerpunkt massiv auf den dritten Förderweg legt, auf den Erwerb von Belegrechten. Belegrechte brauchen die Kommunen, nicht große Wohnungsbestände,
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die dann zum großen Teil fehlbelegt sind.
Jetzt komme ich zu einem Thema, mit dem ich Sie noch häufig nerven werde. Erst in der gestrigen Bauausschußsitzung hat ein Vertreter aus NordrheinWestfalen mit Stolz berichtet, in seinem Bundesland seien 83 % der Sozialwohnungen richtig belegt. Wie schön ist das doch. Aber 17 % sind fehlbelegt. Das ist der Skandal vor dem Hintergrund dessen, daß Tausende und aber Tausende kein Dach über dem Kopf haben. Es kann nicht weiter angehen, daß Fehibeleger geschützt werden, auch durch den Bundestag.
Hildebrecht Braun ({8})
Nein, wir brauchen ein Sonderkündigungsrecht für die Mieter von Sozialwohnungen für den Fall, daß Bewohner von Sozialwohnungen, Fehlbeleger, die gesetzlichen Grenzen des Einkommens um mehr als 100 % übersteigen.
Darf ich Sie darauf aufmerksam machen: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Vielen Dank. Nur einen Satz. - Nur wenn die Sozialwohnungen, die mit großem Aufwand durch alle Steuerzahler errichtet wurden, auch wirklich für diejenigen zur Verfügung stehen, die sie brauchen und für die sie gedacht sind, nur dann ist es gerechtfertigt, in dem vorgesehenen Maße öffentliche Mittel in diesen Bereich einzuspeisen.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster spricht der Kollege Stefan Heym.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es sehr, daß in diesem Bundestag die Frage der Obdachlosigkeit im Lande zum Thema geworden ist. Vielleicht gibt es also doch so etwas wie ein soziales Gewissen bei den Abgeordneten nicht nur einer Partei. Das läßt mich hoffen.
({0})
Die genaue Zahl der Obdachlosen ist nicht festzustellen. Die Menschen verlieren das Dach über ihrem Kopf, können sich kein neues leisten und verschwinden dann nur allzu häufig aus den behördlichen Registern. Bei allen Statistiken, die ja schlimm genug ausfallen, empfiehlt es sich also, noch eine Dunkelziffer hinzuzurechnen. In meinem Wahlkreis, BerlinMitte und Prenzlauer Berg - der Prenzlauer Berg ist einer der ärmsten Bezirke in der künftigen Regierungshauptstadt -,
({1})
sind es jedenfalls so viele, daß nicht nur eine, sondern sogar drei Zeitschriften für Obdachlose und unter ihrer Regie erscheinen. Die Lektüre ist aufschlußreich. Man spricht sogar - eine besonders tragische Zahl, die eigentlich die Feder eines Dickens erfordert - von über 3 000 obdachlosen Kindern und Jugendlichen in Berlin.
Glauben Sie doch nicht, daß Sie mit Vergleichsmieten, Altschuldenhilfe-Gesetzen und ähnlichen Maßnahmen dem Problem zu Leibe rücken könnten.
({2})
Schon die Silbe „Hills" im Namen eines Gesetzes
erregt bei erfahrenen Bürgern und Bürgerinnen Mißtrauen. Fakt ist, daß Wohnraum in diesem Jahr noch teurer werden wird, als er jetzt schon ist. Immer mehr Leute werden ihre paar Möbel vor die Tür gesetzt bekommen, und der Teufelskreis, der sich hierzulande herausgebildet hat - ohne Arbeit kein Obdach, ohne Obdach keine Arbeit - wird immer mehr Menschen erfassen.
Dabei ist die Obdachlosigkeit nur eine Teilerscheinung, allerdings eine sehr dramatische, jener Armut, die es, zu unserer Schande sei es gesagt, in einem der wohlhabendsten Länder der Welt durchaus gibt und die das Land in zwei Teile trennt, in zwei Teile, die nicht mehr durch eine Mauer voneinander geschieden sind, dennoch aber durch eine deutlich sichtbare, spürbare und nicht zu kaschierende Grenze.
Da nützt auch die individuelle Caritas nicht viel. Zwar ist die Suppenküche für die Hungrigen eine Wohltat, aber sie löst die soziale Frage nicht. Ich habe mich bemüht, einen kleinen persönlichen Fonds zu schaffen, um in meinem Wahlkreis gelegentlich direkt helfen zu können. Vielleicht sehen auch andere Kollegen auf den Bänken hier eine Chance, etwas der Art in ihrem jeweiligen Wahlkreis zu tun. Das ist jedoch selbst im besten Falle nur ein Tropfen auf den heißen Stein, nicht mehr.
Ich glaube, es wird notwendig sein, der Sache auf den Grund zu gehen, wirklich auf den Grund. Ich möchte daher dem Hohen Haus einen Vorschlag unterbreiten, der sich an alle Fraktionen richtet, auch an die, die mich seinerzeit mit solch bemerkenswerter Zurückhaltung empfangen haben.
Ich schlage vor, eine Enquete-Kommission des Bundestages zur Untersuchung der Armut in Deutschland und ihrer Wurzeln sowie der Möglichkeiten ihrer Abschaffung oder zumindest Linderung zu schaffen. Ich weiß natürlich, daß diese Frage nicht auf ein Land, das unsere, zu beschränken sein wird.
Aber nach dem Grundsatz „Jeder kehre zuerst vor der eigenen Tür" könnten wir das Projekt wenigstens in Angriff nehmen. Das Weitere wird sich dann ergeben.
Ich danke Ihnen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich in der Rednerliste fortfahre, möchte ich Ihnen das Ergebnis der Wahl der Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission mitteilen. )
Abgegebene Stimmkarten: 631, davon gültig: 630, eine ungültige Stimmkarte. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Hartmut Büttner ({0}) 542 Stimmen, auf den Abgeordneten Erwin Marschewski 518 Stimmen, auf den Abgeordneten Rolf Olderog 543 Stimmen, auf den Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann 535 Stimmen, auf die Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier 503 Stimmen, auf den Abgeordneten Norbert Gansel 505 Stimmen, auf den
*) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Abgeordneten Dr. Peter Struck 529 Stimmen, auf den Abgeordneten Manfred Such 426 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch 526 Stimmen und auf die Abgeordnete Ulla Jelpke 59 Stimmen.
Die Abgeordneten Olderog, Büttner ({1}), Zeitlmann, Struck, Hirsch, Marschewski, Gansel, Brandt-Elsweier und Such haben die nach § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderliche Mehrheit von 337 Stimmen erreicht. Sie sind damit als Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission gewählt.
({2})
Der nächste Redner ist der Kollege Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Heym, die verfallenen Häuser und die Lebensumstände der Menschen im Prenzlauer Berg sind das wahre Gesicht der DDR, nicht die Paläste der Protokollstraßen.
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Die Debatte um Obdachlosigkeit ist eine Debatte um den Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland. Es ist in der Tat das vorrangige Ziel des Sozialstaats, Armut zu vermeiden. Das ist auch richtig. Armut ist nicht einfach Schicksal, es gibt vielmehr neben der Eigenverantwortlichkeit stets auch eine Mitverantwortlichkeit der Gemeinschaft für die Lebenssituation der in ihr lebenden Benachteiligten.
Das ist der Grund, warum sich die Union im Jahre 1961 zu der großen, umfassenden Reform der Sozialhilfe entschlossen hat. Wir waren das erste Land, das einen Rechtsanspruch auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens eingeräumt hat. Das ist der Grund, weshalb wir uns in einer Arbeitsgruppe in den 70er Jahren um den damaligen Sozialminister Heiner Geißler um das Thema neue Armut gekümmert haben. Das ist der Grund dafür, warum ich mich als Sozialsenator von Berlin besonders um die benachteiligten Gruppen gekümmert habe.
Wir wissen, Zehntausende von Obdachlosen leben zur Zeit auf der Straße. Es gibt schätzungsweise 800 000 Menschen, die in Notunterkünften leben. Es sind 50 000 Kinder, die in Notunterkünften, in Obdachlosenheimen und auf der Straße leben.
({1})
Wir können viel von den Vereinigten Staaten von Amerika lernen. Aber eines sollten wir nicht lernen: In vielen großen Städten Amerikas prägen Obdachlose das Bild der Straße. Ich finde, das darf sich bei uns nicht wiederholen.
({2})
Es gilt, alle Anstrengungen daranzusetzen, Obdachlosigkeit zu vermeiden und den Teufelskreis der verschiedenen Armutsursachen zu durchbrechen.
({3})
- Ich komme darauf. - Wir werden die Obdachlosigkeit nur bekämpfen, wenn die verschiedenen Politikbereiche, von der Wohnungspolitik über die Sozialpolitik bis hin zur Ordnungspolitik, zusammenfassend betrachtet werden.
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Und, Kollegen von der SPD, dazu gehört dann auch, daß nicht nur gesagt wird: Bund, Länder und Gemeinden müssen zusammenarbeiten. Vielmehr müssen bei einer solch wichtigen Debatte dann auch die Vertreter der Länder, die auf diesem Gebiet eine Hauptverantwortung tragen, wirklich anwesend sein.
({5})
Was hilft es denn, wenn genügend Wohnungen gebaut werden, aber Obdachlose keine Chance haben, diese Wohnungen zu bekommen?
({6})
Oder: Was hilft es, wenn ein Obdachloser zwar eine Wohnung bekommt, er aber keine Chance auf Arbeit erhält, er also die Wohnung nicht bezahlen kann und sich damit der Teufelskreis der Armut wieder schließt - von der Notwendigkeit gesundheitlicher Hilfen und ganz praktischer Lebensbegleitung ganz zu schweigen?
Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß ein rechtzeitiger Informationsfluß von den Gerichten zu den Sozialämtern und den Wohnungsämtern hergestellt wird, wenn Räumungsklagen anstehen. Man kann doch nur helfen, wenn bekannt ist, wo geholfen werden muß.
({7})
Das zeigt auch, Frau Iwersen und Frau Eichstädt-Bohlig: Es geht nicht nur um Geld, sondern es geht auch darum, daß die rechtlichen Instrumentarien wirklich genutzt werden. Vorbeugen ist besser, als den Schaden nachträglich heilen zu wollen.
({8})
Wir schlagen in unserem Antrag vor, zu prüfen, wie die Möglichkeiten einer Übernahme rückständiger Mieten mit dem Ziel der Vermeidung eines Wohnungsverlustes verbessert werden können. Es ist schwer genug, für Obdachlose neue Unterkünfte zu finden. Deshalb ist es immer besser, alles daranzusetzen, daß die Menschen gar nicht erst obdachlos werden.
Für eine Gemeinde ist es einfach ein Sparen an falscher Stelle, bei der Übernahme rückständiger Mieten kleinlich zu sein, dann aber für die UnterbrinUlf Fink
gung von Obdachlosen das Mehrfache bezahlen zu müssen.
Wir haben hier eine Studie vorliegen: Danach liegt der durchschnittliche Betrag für die Übernahme rückständiger Mieten bei rund 1 850 DM. Wenn man bedenkt, daß man allein für ein Bett in Hotelunterkünften, in Obdachlosenunterkünften, monatlich 1 500 bis 3 000 DM bezahlen muß, dann ist es ausgesprochen ein Sparen an falscher Stelle, bei der Übernahme rückständiger Mieten kleinlich zu sein.
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Die Sozialhilfereform ist ein wichtiges Vorhaben der Regierungskoalition in dieser Legislaturperiode. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dabei dem Thema Obdachlosigkeit einen ganz gewichtigen Stellenwert einräumen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch eines sagen: Obdachlose sind von ihrer Anlage her nicht eine Randgruppe, sondern sie werden eine Randgruppe dadurch, daß sie obdachlos werden. Setzen wir alles daran, daß es nicht erst dazu kommt!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})
Das Wort hat jetzt zum erstenmal in diesem Haus die Kollegin Angelika Mertens, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es einen Preis dafür geben würde, wie man das Thema Obdachlosigkeit privatisiert und delegiert - der gemeinsame Antrag der Regierungsparteien müßte ihn bekommen. Sie haben es weder in Ihrem Antrag und schon gar nicht in Ihren Redebeiträgen geschafft, den Unterton herauszubekommen - mit Ausnahme vielleicht des letzten Redners -, daß Obdachlosigkeit für Sie etwas mit vermeintlich persönlichen Defiziten zu tun hat. Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß Einkommensprobleme -- ich zitiere einmal aus Ihrem Antrag -, „oft durch Verlust des Arbeitsplatzes" , eine Ursache für Obdachlosigkeit sind? Sie vermeiden hier übrigens sowohl das Wort Armut wie das Wort Arbeitslosigkeit. Das ist doch sehr erstaunlich.
Ursache für Obdachlosigkeit sind mindestens zwei Millionen fehlende bezahlbare Wohnungen. In einem reichen Land, wie es die Bundesrepublik ist, darf doch Arbeitslosigkeit nicht Ursache von Obdachlosigkeit sein.
Sie haben natürlich trotzdem recht, denn Sie beschreiben die Realität, nämlich daß in der Folge von Arbeitslosigkeit jemand obdachlos werden kann. Da muß es ja vielleicht doch nicht so weit her sein mit dem flotten Arbeitslosenleben, wie Sie das ja sonst immer so gern beschreiben. Ich bin Ihnen für dieses Eingeständnis übrigens sehr dankbar.
Auch nicht private Probleme sind schuld an Obdach- und Wohnungslosigkeit, sondern es ist die strukturelle Versorgungslücke, die Versorgungslücke bei bezahlbarem Wohnraum. Die Ausgrenzung aus dem Wohnungsmarkt betrifft übrigens zwischenzeitlich ja gar nicht mehr nur die sogenannten Problemgruppen; sie geht darüber hinaus. Obdach- und wohnungslos kann heute fast jede und jeder werden.
Ich kenne Menschen, die morgens zur Arbeit oder zur Schule gehen und nachts unter den Brücken schlafen, und das tun sie nicht freiwillig. Mit persönlicher Freiheit und anderen philosophischen Betrachtungen hat, auch wenn immer der Versuch gemacht wird, das so darzustellen, Obdachlosigkeit nichts zu tun, und ich glaube, damit hat sie auch nie etwas zu tun gehabt. Nichtseßhaftigkeit ist ja denn auch kein positiv besetzter, sondern ein diskriminierender Begriff.
Das ganze Ausmaß von Obdach- und Wohnungslosigkeit sehen wir übrigens ja gar nicht. Das, was wir sehen, sind diejenigen, die „Platte machen", und vielleicht noch die, die in den Unterkünften leben müssen. Was wir nicht sehen, sind all diejenigen, die informelle Wege nutzen, die bei Freunden und Bekannten übernachten oder die für ein Dach über dem Kopf zweifelhafte Beziehungen eingehen müssen, hier in erster Linie Frauen, junge Frauen, deren Wahlmöglichkeiten dann etwa die zwischen Pest und Cholera ist,
({0})
ein, wie ich meine, noch völlig unterschätztes Phänomen.
Ich wiederhole noch einmal: Wohnungslosigkeit ist kein privates Problem, und deshalb verbietet sich auch jede Privatisierung.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ohne Hilfestellung wird es bei den meisten Obdachlosen nicht gehen, aber je behutsamer damit umgegangen wird, je weniger Zwangsbetreuung und Zwangsberatung ausgeübt wird, desto größer werden die Erfolge sein.
Meine Fraktionskollegin Gabriele Iwersen hat ja schon darauf hingewiesen: Die wahren Experten sind die Betroffenen oft selbst. Sie nicht mit in die Beratung und in die Betreuung einzubinden, wäre geradezu fahrlässig.
({1})
Wer wüßte besser als ein Obdachloser, was Obdachlosigkeit bedeutet und wie die Hilfestellungen aussehen müssen? Hier müssen ganz großzügige Lösungen gefunden werden, es müssen arbeitsrechtliche Lösungen gefunden werden, die sich dann vielleicht auch ganz wohltuend von der sonst üblichen Sozialpädagogisierung aller mit Berührungsängsten belegten Probleme abheben.
Jetzt zu den Verantwortlichkeiten. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie die Bundesregierung lediglich Prüfaufträge erteilen und ansonsten auf die Zuständigkeiten von Ländern und Gemeinden verweisen und gute Ratschläge geben. Daß es in etlichen Städten noch Nachholbedarf gibt, darf nicht als Argument
dienen, sich aus der Verantwortung und damit auch aus der Mitfinanzierung wegzukrümeln.
({2})
Wenn die Bekämpfung von Obdach- und Wohnungslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist, wie Sie es sagen, dann muß auch anerkannt werden, was die Städte und Länder jetzt schon tun und wo die Grenzen sind. Meine Heimatstadt Hamburg gibt fast 130 Millionen DM jährlich für eine Politik gegen Obdachlosigkeit aus. Das sind etwa 80 DM pro Einwohner.
Der Einsatz dieses Geldes steht in Konkurrenz zu dem Geldeinsatz für Kindertagesheime und Jugendeinrichtungen, und es wird erbracht auch für Menschen, die zu einem großen Teil nicht aus Hamburg kommen. Darin sind übrigens die Ausgaben für die Sozialhilfe noch gar nicht berücksichtigt.
Die SPD fordert für ihr Sofortprogramm 150 Millionen DM für die gesamte Bundesrepublik. Das sind für jeden Bundesbürger ungefähr 1,85 DM - im Gegensatz zu den 80 DM in Hamburg. Sie verweisen bei diesem Betrag auf die Zuständigkeiten der Länder, die Ihnen nämlich tagtäglich den sozialen Sprengstoff wegräumen, der schließlich nicht vom Himmel gefallen ist.
({3})
Wenn Sie jetzt wenigstens bereit wären, den Städten rechtliche Instrumente an die Hand zu geben, damit sie den vorhandenen leerstehenden Wohnraum, den Spekulationswohnraum belegen könnten! Aber auch das tun Sie nicht.
Was ist also zu tun, um Obdachlosigkeit zu bekämpfen? Ich sage nicht, daß es einfache Lösungen gibt. Da stimme ich mit Ihnen voll überein. Der Zeitpunkt für einfache Lösungen ist zudem ein für allemal verpaßt. Man kann ein Feuer mit einem Eimer Wasser löschen, wenn man schnell ist. Ist man es nicht, braucht man die Feuerwehr. Wenn man gar nichts tut, dann kann man sich hinterher die Grundmauern angucken. Ich glaube, wir befinden uns zur Zeit zwischen Phase 2 und 3.
Was muß man also machen?
Erstens. Das Problem der Wohnungslosigkeit strukturell angehen - da sind wir uns sicher alle einig - heißt Wohnungen bauen, und zwar - da sind wir uns nicht mehr einig - bezahlbare Wohnungen bauen. Das heißt auch: erster Förderungsweg.
Zweitens: preiswerten Wohnraum erhalten, Belegungsbindungen erhalten und vor allem in den Ballungsgebieten der großen Städte Mietwohnungen erhalten. Das heißt auch, die Möglichkeit eines Verbots der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und rechtliche Grundlagen für die Städte zu schaffen, leerstehenden Wohn- und Gewerberaum zu belegen.
Drittens: Problembewußtsein schaffen. Nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch Wohnungsnot kann heute ja fast jeden treffen.
Wer sich das klarmacht, kann auch - viertens - mehr Akzeptanz für Wohnungslose und mehr Solidarität aufbringen.
Fünftens: Der Würde des Menschen entsprechende Wohnmöglichkeiten für Obdachlose bereitstellen - immer mit dem Ziel einer Integration in den normalen Wohnungsmarkt.
Sechstens: Selbsthilfe der Betroffenen stärken und finanzieren.
Siebentens - dieser Punkt hätte vielleicht an den Anfang gehört -: Obdachlosen von politischer Seite und von anderer Seite nicht die Bürgerlichkeit absprechen.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun?
Ich spreche heute das erste Mal. Ich weiß nicht, ob es schlau ist, aber: Machen Sie einmal!
({0})
Es ist auch nicht eine Frage der Schläue, sondern ich möchte Sie ganz schlicht um folgende Auskunft bitten: Ist Ihnen bekannt, daß nach der Auskunft Ihres Parteifreundes, des früheren Oberbürgermeisters der Stadt München, Georg Kronawitter, schon im Jahr 1992 das Fördervolumen für eine einzige Wohnung mit 59,8 m2 in München im ersten Förderweg im Durchschnitt bei über 350 000 DM lag?
({0})
Ich glaube, wir können uns über alle Formen der Finanzierung von Wohnungsbau unterhalten. Daß vielleicht eine Sozialwohnung auf dem Papier etwas teurer ist als eine andere Wohnung, das will ich Ihnen gerne zugestehen. Aber wenn wir einmal ausrechnen, welche steuerlichen Möglichkeiten jeder hat, der ein eigenes Heim hat oder sich im frei finanzierten Wohnungsbau betätigt,
({0})
dann bin ich mir gar nicht so sicher, ob Sie mit Ihrer Frage so gut dastehen.
({1})
Ich würde gerne zum Schluß kommen.
Wohnen ist ein Grundbedürfnis, und jeder Mensch hat das Recht auf Immobilität. Das einzulösen ist nicht billig. Die Bekämpfung von Obdachlosigkeit kostet eine Menge Geld. Nichts zu tun kostet LebensplanunAngelika Mertens
gen und Lebensperspektiven von Menschen. Das, finde ich, ist unbezahlbar.
({2})
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Professor Dr. Klaus Töpfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines ist, glaube ich, bei allen Rednern und Rednerinnen sehr deutlich geworden: Daß es in unserer Gesellschaft das Problem der Obdachlosigkeit gibt, ist bedrückend und für uns alle eine Herausforderung zum Handeln. Ich möchte mit Glückwunsch für die erste Rede ergänzend eines hinzufügen: Ich bin und bleibe der Überzeugung, daß auch und gerade der Antrag der Koalitionsfraktionen eines zum Ausdruck bringt: Es geht hier wirklich nicht um Urteilen oder gar Verurteilen auf Grund von Vorurteilen, sondern es geht um Helfen. Weil es darum geht, ist es keine Ablenkung, sondern eine Hinführung zu dem Problem, wenn man sich in der Analyse klarmacht, daß es weiter greift als nur in die Wohnungsversorgung hinein. Deswegen ist es so wichtig, auf dieses aufmerksam zu machen.
Ich habe, wie Sie wissen, ganz am Anfang als Bauminister darauf hingewiesen, daß Wohnungsbaupolitik angewandte Familienpolitik ist. Wenn wir Helfen richtig verstehen, muß es ein vorbeugendes Helfen, wo immer möglich, sein. Das fängt bei einer breiten, überzeugenden Familienpolitik und bei der Sozialpolitik insgesamt an.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie haben mit Ihrem beeindruckenden Beispiel aus Berlin eigentlich deutlich gemacht, daß solche Instrumente existieren. Sie haben es mit Arbeitslosen und mit Wohnungslosen gemacht; Sie haben es auf der Basis des bestehenden Bundessozialhilfegesetzes gemacht. Lassen Sie uns dann in den Ausschüssen doch auch fragen: Was können wir ergänzend tun, um das breiter einzubringen, um die vorhandenen Instrumente intensiver zu nutzen? Ich glaube, daß das sinnvoller ist, als wenn wir von vornherein sagen: Alles dies geht nicht.
Deswegen lassen Sie mich auch das aufgreifen, was Herr Kollege Braun so beeindruckend an Hand eines ganz bestimmten Teils der Obdachlosen deutlich gemacht hat. Es ist auch für mich ein großes Anliegen, darauf hinzuweisen, daß diese Hilfe vornehmlich von Menschen erbracht wird. Wir sollten in einer Zeit, die dem Dienstleisten nicht gerade sehr offen gegenübersteht und in der das Dienstleisten nicht gerade Mode ist, all den Menschen sehr herzlich danken, die sich diesem schwierigen Personenkreis auch weiterhin widmen und ihm helfen.
({0})
Wir wollen die Probleme also mit einem über den Wohnungsbereich hinausgreifenden Ansatz bewältigen, aber natürlich auch in der Wohnungspolitik. Deswegen nur einige Anmerkungen; in einer so
kurzen Zeit kann man das sicherlich nicht ausdiskutieren; dafür gibt es den Ausschuß.
Für mich ist nicht ganz nachvollziehbar, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, warum DIE GRÜNEN in ihrem Antrag bei der Gegenfinanzierung gerade eine Verminderung im dritten Förderweg vorsehen. Der dritte Förderweg - so habe ich es gelernt; ich bin gerne bereit, noch weiter zu lernen - ist die vereinbarte Förderung. Gerade dort haben wir viel Flexibilität; gerade dort kann die Umsetzung zielgenauer erfolgen. Um das zu belegen, habe ich die Broschüre über Wohnungsbau 1995 des Landes Baden-Württemberg mitgebracht, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es eine Große Koalition hat, so daß die Broschüre sicherlich zumindest die Zustimmung der beiden großen Fraktionen in diesem Hause findet.
In der Broschüre aus Baden-Württemberg - Bauminister ist dort der Kollege Spöri - heißt es:
Mietwohnungen für sonstige besondere Bedarfsgruppen. Das heißt, gefördert wird auch der Erwerb von Belegungsbindungen an guterhaltenen Mietwohnungen, die für die Wohnungsversorgung Wohnsitzloser gebunden werden.
Aber Sie bieten gerade den Teilbereich, der uns über die vereinbarte Förderung sehr viel Zielgenauigkeit ermöglicht, bei der Gegenfinanzierung an. Ich glaube, darüber müssen wir wirklich noch einmal weiter nachdenken, um keine falschen Fronten aufzubauen. Wir wollen Zielgenauigkeit. Das ist das ganze Vorhaben in dieser Legislaturperiode. Gerade deswegen muß ich im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau auch fragen, ob wir hier nicht gerade das Gegenteil von dem erreichen, was wir vorgesehen haben.
Herr Minister Töpfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Da ich einen solchen Hinweis wie meine Kollegin vorhin nicht anbringen kann, will ich das gerne tun.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß es der von Ihnen gerade zitierte Minister Spöri in Baden-Württemberg geschafft hat, die meisten Wohnungen im sozialen Wohnungsbau zu schaffen, und daß in Baden-Württemberg auf Initiative des Landes in den letzten drei Jahren über 70 000 Wohnungen entstanden sind?
({0})
Herr Kollege, ich hatte fast erwartet, daß Sie diese Frage stellen. Mir ging es im Augenblick gar nicht darum, welches Land die meisten Sozialwohnungen gebaut hat. Mir ging es vielmehr darum, daß auch von den Kollegen in Baden-Württemberg gesagt wird: Im dritten Förder874
weg können wir zielgenau vereinbarte Förderung machen. Darum ging es mir.
({0})
Aber wenn Sie Wert darauf legen und das in Ihrer Heimatzeitung auch nachlesen wollen, will ich Ihnen diese Frage gerne mit Ja beantworten.
({1})
Darum ging es mir aber wirklich nicht. Ich hatte den Eindruck, am Ende dieser Diskussion sollten wir uns bemühen, die Voraussetzungen dafür zu erhalten, daß wir am Ende der Ausschußdiskussion zu einem gemeinsamen Antrag kommen. Wir sollten jetzt nicht danach suchen, was uns trennt, sondern danach, wo wir bei diesem gesellschaftlichen Problem, das kein parteipolitisches ist, Gemeinsames erreichen. Deswegen hatte ich mir erlaubt, das aufzugreifen.
({2})
Natürlich geht es in dem Bereich, den wir hier zu diskutieren haben, auch um viele Vorurteile. Ich hatte am Anfang gesagt, daß es Vorurteile gibt, die zu Verurteilungen führen. Wenn man mitbekommt, was an Stammtischen geredet wird, wird einem wirklich einigermaßen angst und bange. Man muß darauf hinweisen, daß es nicht so ist, denn es gibt natürlich Vorurteile, die sich so niederschlagen, daß gerade solche Bevölkerungsgruppen in besonderer Weise im Wohnungsmarkt nicht mehr unterkommen.
Ein ganz kurzer Hinweis: Daß durch eine spezielle Auswirkung des Mietrechts gerade solche als problematisch angesehenen Mieter keine Wohnungen bekommen, ist auch eine Konsequenz, die wir nicht einfach leugnen können. Wir müssen uns ihr in der Diskussion stellen. Ich jedenfalls halte das für wichtig.
Es gibt diese Vorurteile, diese Vorbehalte gegen Ausländer, gegen Familien, insbesondere gegen Alleinerziehende mit Kindern, ganz besonders aber gegen Personen, bei denen besondere soziale Schwierigkeiten bestehen oder auch nur vermutet werden. Deshalb müssen wir nicht nur die Instrumente zur sozialen Sicherung des Wohnens, etwa das Wohngeld, leistungsfähig erhalten. Auch das möchte ich hier unterstreichen. Auf absehbare Zeit muß zudem das Wohnungsangebot, auch das Angebot an Mietwohnungen, noch ausgeweitet werden. Wir brauchen am Wohnungsmarkt zusätzliche Belegungsrechte.
Lassen Sie mich noch ein anderes Thema aufgreifen. Keiner sagt, daß mit über 500 000 neu gebauten Wohnungen das Obdachlosenproblem automatisch weg ist. Ich sage nur: Ohne daß wir sie gebaut hätten, wäre es noch schlimmer, und es wäre an vielen Stellen noch dramatischer geworden.
({3})
Es ist wirklich nicht notwendig, darauf hinzuweisen, daß Wohnungen zu 20 DM je Quadratmeter nicht von Obdachlosen gemietet werden. Auch das ist selbstverständlich. Aber diejenigen, die zu 18 DM oder 17 DM mieten können, machen die Wohnungen frei, die jetzt 12 DM kosten, und dort ziehen die hinein, die gegenwärtig noch weniger bezahlen. Diese Frage müssen
' wir in aller Ruhe diskutieren. Es kann nicht sein, daß eine Mengenerweiterung keine Preiseffekte in allen Bereichen des Marktes mit sich bringt. Ich weiß, daß wir uns darüber noch nicht einig sind. Aber alles, was wir in diesem Zusammenhang marktwirtschaftlich orientiert diskutieren können, läuft auf jeden Fall darauf hinaus.
Die Tatsache, daß über 500 000 Wohnungen gebaut worden sind, daß über 150 000 neue Sozialwohnungen gebaut worden sind, wobei wir über die vereinbarte Förderung im dritten Förderweg noch zielgenauer vorgehen könnten, führt zu einer Entspannung insgesamt. Ich hoffe, daß wir sie fortführen können.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?
Selbstverständlich.
Herr Minister Töpfer, Sie haben eben gesagt, daß der Weg so geöffnet würde, daß diejenigen, die bisher 12 DM Miete bezahlt haben, in die 17-DM-Wohnung ziehen würden. Erste Frage: Liegen Ihnen Belege vor, daß es so ist? Zweite Frage: Liegen Ihnen Belege und Aussagen der Kommunen darüber vor, mit welchen Mietzuschüssen diese Einkommen belegt werden müßten? Nach meiner Kenntnis ist der Weg eher andersherum: daß Menschen aus den 17- oder 20-DM-Wohnungen nach unten hin suchen, weil ihnen schon diese Wohnungen zu teuer sind.
({0})
Kollege Schwanhold, die damit zusammenhängenden Untersuchungen können Sie ganz gut in dem so sehr geschmähten Expertengutachten nachlesen, da sich dieses sehr intensiv zu dem sogenannten Filtering äußert.
({0})
-Herr Kollege Reschke, hier unterscheiden wir uns. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß etwas nicht allein dadurch zu Unsinn wird, daß es meinen eigenen Erwartungen nicht entspricht.
({1})
Das ist allerdings wahr, und darüber werden wir uns sicherlich noch intensiv auseinandersetzen.
({2})
- Wissen Sie, Herr Kollege Schwanhold, so lange sind wir uns ja schon begegnet, daß wir wissen, daß man einen solchen Zwischenruf gern nutzt, um die Beantwortung Ihrer Frage etwas länger hinausschieben zu können. Außerdem wird mir das, wie wir wissen, nicht auf die Redezeit angerechnet.
Es ist gar keine Frage, daß es Anpassungsprozesse auch in die andere Richtung geben wird, weil sich die Einkommensverhältnisse ändern, weil sich die Familiengröße ändert. Gerade deswegen ist es ja so wichtig, daß wir im Zusammenhang mit der Fehlbelegung nicht so etwas wie einen Sperriegel bekommen, daß
diejenigen, die jetzt schon andere Wohnungen nehmen würden, dies nicht tun können. Je stärker diese Sperrwirkung ist, desto weniger funktioniert das Filtering; das ist wahr. Dennoch kann ich nicht übersehen, daß Wohnungen nicht auf Dauer leerstehen dürfen, sondern daß sie über Preisanpassungen ihre Mieter finden müssen, so daß Wohnungssuchenden auf anderen Gebieten die Wohnungen nicht weggenommen werden. Dies ist der Zusammenhang, den zumindest ich einigermaßen vernünftig weiterverfolgen kann.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß wir neben der klassischen Wohnungsbauförderung auch noch andere Modelle haben können, beispielsweise die sogenannte Kombiförderung, die einige Länder anbieten, also eine Kombination von Neubauförderung und Schaffung bzw. Verlängerung von Belegungsrechten im Bestand. In den neuen Bundesländern besteht darüber hinaus die Möglichkeit, im belegungsgebundenen Wohnungsbestand nach Außerkrafttreten des Belegungsrechtsgesetzes auch längerfristige Belegungsbindungen zu schaffen. Sie wissen, daß dies bei uns in der letzten Woche schon intensiv diskutiert worden ist.
Lassen Sie mich mit Blick auf die Zeit nur noch auf eines in besonderer Weise aufmerksam machen. Auch der Bundesbauminister führt - schon seit einiger Zeit von der Frau Kollegin Schwaetzer, wie ich meine, sehr konsequent und sehr gezielt in Gang gesetzt - Modellvorhaben durch. Im experimentellen Wohnungsstädtebau führen wir zur dauerhaften Wohnungsversorgung von Obdachlosen solche Modellvorhaben durch. Ein Projekt wird gegenwärtig in Berlin-Treptow vorbereitet, das mir deswegen so interessant erscheint, weil dort versucht wird, in die Baufinanzierung auch kapitalisierte Sozialhilfemittel einzubeziehen. Ich hielte das für eine gute Sache.
Ich sage noch einmal: Bei intelligenter Nutzung dessen, was wir jetzt schon haben, kommt man ein ganz wesentliches Stück weiter. Meine Erfahrung, die sicherlich begrenzt ist, geht dahin, daß man besser und schneller handelt, wenn man zunächst das Vorhandene nutzt, statt bei jedem Problem zunächst einmal zu fragen: Wo müssen wir Gesetze neu schaffen?
({3})
Deswegen mein Angebot, meine Damen und Herren, daß wir mit dem gemeinsamen Ziel, ein sicherlich drängendes und schmerzendes gesellschaftliches Problem zu bewältigen, im Ausschuß alle Möglichkeiten ergebnisoffen erörtern. Ich hoffe, wir kommen dann zu einem gemeinsamen Ergebnis.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Volkmar Schultz ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz aller Appelle zur Gemeinsamkeit möchte ich mich kritisch mit der Wortmeldung von Herrn Kollegen Braun von der
F.D.P.-Fraktion auseinandersetzen. Herr Braun, Sie haben aus dem Ausschuß unvollständig und damit verfälschend zitiert. Sie haben nicht gesagt, daß die genannte Zahl von 17 % Fehlbelegern in Nordrhein-Westfalen sich auf die Zeit vor dem 1. Oktober 1994 bezog. Das heißt, mit der Anhebung der Einkommensgrenzen hat sich die Zahl der Fehlbeleger auch in Nordrhein-Westfalen erheblich reduziert, wahrscheinlich um die Hälfte. Statistische Angaben dazu gibt es nicht.
Sie haben auch nicht berichtet - es wäre aber fair gewesen, es zu tun -, daß ein Vertreter der Bundesregierung in dieser Ausschußsitzung ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß Nordrhein-Westfalen eine relativ niedrige Fehlbelegerquote hat. Sie haben auch nicht darauf hingewiesen, daß im Ausschuß unwidersprochen gesagt worden ist, daß die sogenannte Fehlbelegungsabgabe niemals als solche konzipiert war, sondern als Fehlsubventionierungsabgabe, d. h. die Bezieher etwas höherer Einkommen sollten den Mietvorteil an den Darlehensgeber für Sozialwohnungen sozusagen wieder abgeben. In Nordrhein-Westfalen haben diese Mieter das getan. Seit Bestehen der Fehlbelegungsabgabe - das Land Nordrhein-Westfalen hat einen Prozeß führen müssen, damit es die Fehlbelegungsabgabe beispielsweise auch in Bonn erheben konnte - hat das Land Nordrhein-Westfalen etwa 1 Milliarde DM eingenommen. Dieses Geld ist den Kommunen für den Neubau von Sozialwohnungen wieder zur Verfügung gestellt worden. Deshalb sollte man die Fehlbeleger nicht vertreiben, sondern man sollte ihren Beitrag zum Neubau von Sozialwohnungen hervorheben.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Braun, Sie haben das Recht zur Gegenrede, wenn Sie wünschen.
Ich verzichte.
Dann liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/96 ({0}), 13/247 und 13/288 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Dann gebe ich das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums gemäß § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung bekannt. )
Es wurden 633 Stimmkarten abgegeben; gültige Stimmen: 663, Enthaltungen: eine, ungültige Stimmen: keine.
Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Dietrich Austermann 515 Stimmen, den Abgeordneten Dr. Erich Riedl ({1}) 553 Stirn-
*) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
men, den Abgeordneten Adolf Roth ({2}) 555 Stimmen, den Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Uelhoff 552 Stimmen, den Abgeordneten Rudolf Purps 516 Stimmen, die Abgeordnete Uta Titze-Stecher 509 Stimmen, den Abgeordneten Helmut Wieczorek ({3}) 524 Stimmen, den Abgeordneten Oswald Metzger 426 Stimmen, den Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng ({4}) 497 Stimmen, die Abgeordnete Dr. Christa Luft 67 Stimmen. Die Abgeordneten Roth, Riedl, Uelhoff, Wieczorek, Purps, Austermann, Titze-Stecher, Weng und Metzger haben die nach § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in Verbindung mit § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderliche Mehrheit von 337 Stimmen erreicht. Sie sind damit als Mitglieder des Vertrauensgremiums gewählt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD. Bündnis gegen Arbeitslosigkeit
- Drucksache 13/19 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner ({5}).
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf einleitend für die SPD-Fraktion ausdrücklich begrüßen, daß es gestern abend im Bundeskanzleramt zu einem Treffen des Bundeskanzlers mit den Tarifparteien und anderen gekommen ist. Wir begrüßen auch die vereinbarten drei weiteren Treffen, die in absehbarer Zeit stattfinden sollen. Wir haben als SPD-Fraktion diese Treffen seit Jahren gefordert. In dem hier zur Diskussion stehenden Antrag steht ausdrücklich - ich zitiere -:
Alle Beteiligten aus Politik, Gewerkschaften, Handel, Industrie und Verwaltung müssen zu diesem Zweck in einem Bündnis gegen Arbeitslosigkeit zusammenwirken. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, den dazu notwendigen gesellschaftlichen Diskurs in Gang zu setzen und zu organisieren.
Wir begrüßen auch das einzig greifbare Ergebnis des gestrigen Abends, nämlich die beabsichtigte Neuauflage des Programms für Langzeitarbeitslose. Die Gewerkschaften haben dieses Programm seit langem gefordert. Wir haben hier im Deutschen Bundestag mehrfach entsprechende Vorstellung en formuliert.
Die Neuauflage des Programmes sieht deutlich besser aus als das bisherige Sonderprogramm. Vorgesehen sind nunmehr 45 000 Förderungsfälle pro Jahr - im Gegensatz zu etwa 20 000 in der vergangenen Zeit - bei einem Finanzvolumen von 750 Millionen DM im Vergleich zu bisher etwa 300 Millionen DM pro Jahr. Herr Bundesarbeitsminister, das ist ohne Zweifel ein Schritt in die richtige Richtung.
So viel Lob sind Sie von mir überhaupt nicht gewöhnt. Deshalb höre ich jetzt damit auf;
({0})
denn nach den Vereinbarungen des gestrigen Abends besteht im Bereich der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik nicht der geringste Grund zur Entwarnung.
({1})
Wenn man die beabsichtigten 45 000 Förderfälle im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit zur Gesamtheit der Langzeitarbeitslosigkeitsfälle ins Verhältnis setzt, wird deutlich, daß dies immer noch verschwindend wenig ist. Wir haben in Deutschland inzwischen einen Sockel von rund 1,2 Millionen Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos, also langzeitarbeitslos, sind; die Tendenz ist stark steigend. Von dem Programm werden etwa 4 %, dieses Sockels der Langzeitarbeitslosen erfaßt.
Parallel zu den Vereinbarungen des gestrigen Abends hat die Bundesregierung die Vorschläge des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zu einer deutlichen Aufstockung der arbeitsmarktpolitischen Mittel brüsk zurückgewiesen. Der Verwaltungsrat hatte gefordert, 130 000 Menschen, darunter sehr viele Langzeitarbeitslose, in zusätzliche arbeitsmarktpolitische Programme einzubeziehen. Das ist von Ihnen kategorisch abgelehnt worden.
Was die Arbeitsmarktpolitik insgesamt angeht, wird sich die Situation im Jahre 1995 noch deutlich schlechter darstellen, als es die eh schon relativ schlechte Schlußbilanz für das Jahr 1994 wiedergibt. Ich darf Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, aus den „Informationen zum Arbeitsmarkt" , herausgegeben vom Informationsdienst eines Arbeitsamtes aus dem Saarland, aus meiner Heimat, eine Passage zitieren. In der Ausgabe vom Dezember 1994 - bekanntlich geben die Arbeitsämter diese Informationen jeden Monat heraus - heißt es:
Für die geförderte Arbeitsbeschaffung wird 1995 ein schwieriges Jahr. Die Grundförderung beträgt nur noch 90 % der bisherigen Berechnungsbasis. Für die Träger kann diese Regelung einen höheren Eigenanteil bedeuten. Angesichts leerer Kassen bei den Kommunen und Landkreisen sowie bei den kleineren Trägern wäre es schon ein Erfolg, wenn das ABM-Angebot im neuen Jahr nicht weit hinter dem Stand des Jahres 1994 zurückbliebe.
Es wäre schon ein Erfolg, wenn es nicht weit hinter dem Stand des Jahres 1994 zurückbliebe. - Ich denke, daß diese sehr negativen Prognosen für alle Arbeitsämter der Bundesrepublik Deutschland repräsentativ sind.
Von einem schlüssigen Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit kann also überhaupt keine Rede sein. Der Konjunkturaufschwung geht an den Arbeitslosen, insbesondere an den Langzeitarbeitslosen, weitgehend vorbei.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat vor wenigen Wochen prognostiziert, daß wir in diesem Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 3 % zu rechnen haben. Die Zahl der Arbeitslosen soll aber nur um 90 000 zurückgehen, und gerade einmal 15 000 neue Arbeitsplätze sollen entstehen. Wenn diese Prognosen richtig sind, wenn es richtig ist, daß über Wachstumsprozesse des Bruttoinlandsprodukts kein nennenswerter Abbau der Arbeitslosigkeit zu bewirken ist, dann bleibt die Kernfrage auf der politischen Tagesordnung, mit welchen Mitteln die Massenarbeitslosigkeit bekämpft werden soll.
({2})
Im wesentlichen gibt es zwei Antworten darauf: Das eine ist eine offensive, auf Jahre hinaus expansiv angelegte Arbeitsmarktpolitik, das andere ist eine Neuverteilung des Arbeitszeitvolumens.
Eine grundlegende Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik wird auch in dem hier in Rede stehenden Antrag gefordert. Ich darf Frau Präsidentin Süssmuth zitieren, die dieses Problem vor einigen Wochen so beschrieben hat, wie wir es hier im Deutschen Bundestag seit Jahren vorgetragen haben. Ich zitiere einen Artikel aus der Zeitung „Die Zeit" vom 2. Dezember 1994:
Ich sehe nicht die Verteilungsgerechtigkeit als zentrale Diskussion, weil die Verteilungsmöglichkeiten so gering geworden sind. Ich sehe das Hauptproblem darin, daß wir gegenwärtig auf die unintelligenteste Weise
- auf die unintelligenteste Weise! Wohlfahrtsstaat praktizieren. Niemals zuvor haben wir so viel Geld dafür ausgegeben und haben doch nicht mehr Gerechtigkeit, beispielsweise durch Beteiligung an Arbeit, geschaffen.
Erstmals in der Geschichte erleben wir, daß wir menschliche Arbeitskraft am wenigsten brauchen, es aber genügend Arbeit für Menschen gäbe.... Wir geben im Jahre 1994 113 Milliarden Mark zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit aus.
Das ist genau der Kern der Kritik, den wir hier über Jahre hinweg an die Adresse der Bundesregierung gerichtet haben. Das Problem ist nicht eine Krise des Sozialstaates, das Problem sind die hohen Kosten der Arbeitslosigkeit.
({3})
Wir haben über Jahre hinweg gefordert, daß größere Teile des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit nicht auf die phantasielose oder, wie die Frau Präsidentin schreibt, „unintelligenteste Weise" verausgabt werden, nämlich in die bloße Finanzierung von Arbeitslosigkeit.
An diesem Grunddilemma hat sich auch nach den Vereinbarungen des gestrigen Abends nichts, aber auch gar nichts geändert. Deshalb bleibt unsere Forderung nach einer grundlegenden Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik, die in den Eckpunkten hier vorgelegt worden ist, auf der politischen Tagesordnung, und wir werden in den nächsten Wochen dazu weitere, konkretisierende Initiativen hier im Deutschen Bundestag ergreifen.
Zum zweiten Feld, der Arbeitszeitpolitik, einige Anmerkungen: Für mich jedenfalls ist völlig klar, daß ohne eine Neuverteilung der Arbeitszeit keine Vollbeschäftigungsperspektive erreichbar ist. Das jüngste Angebot des Bundesvorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist geradezu sensationell: spürbare Verkürzung der Arbeitszeit bei flexiblerer Gestaltung des Arbeitszeitrahmens und differenzierten Lohnausgleichsregelungen.
Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß trotz der Reallohneinbußen der letzten Jahre die große Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland diesen Weg mit beschreiten wird, wenn klar ist, daß sie dafür mehr Beschäftigung eintauscht, wenn klar ist, daß mehr Beschäftigung das Ergebnis ist, und wenn klar ist, daß sie selbst damit ein gutes Stück eigener Arbeits- und Lebenssicherheit eintauschen kann.
({4})
Die Haltung der Bundesregierung in der Frage der Arbeitszeitpolitik war über Jahre hinweg völlig konfus, kontraproduktiv und hat immer wieder in die falsche Richtung gedrängt. Ich erinnere an die Worte des Bundeskanzlers 1984, als die Industriegewerkschaft Metall den Einstieg in die 35-Stunden-Woche gefordert hatte. Die politische Kommentierung war: töricht, absurd und dumm!
({5})
Das ist immer noch richtig, sagen Sie. Alle Leute in dieser Republik, die ein kleines bißchen von Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik begreifen, sagen, daß es ohne eine spürbare Neuverteilung der Arbeitszeit nicht gehen wird.
({6})
Offenkundig sind diejenigen, die töricht, absurd und dumm sind, in den Reihen der Koalitionsfraktionen hier im Parlament versammelt. Sie haben nichts begriffen, Herr Kollege Louven, nichts! Nach allen Untersuchungen, die ich kenne, einschließlich der der Arbeitgeberverbände, hätten wir heute rund 1 Million Arbeitslose mehr, wenn es nicht zu den Arbeitszeitverkürzungen seit 1984 gekommen wäre.
({7})
Das scheint Ihnen alles völlig gleichgültig zu sein.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Louven?
Bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, Sie haben sich doch eben auf die Bundestag spräsidentin berufen und ihre Äußerung, derzufolge es in der Bundesrepublik genügend Arbeit gebe, für richtig erklärt. Wenn es in der Bundesrepublik genügend Arbeit gibt, dann ist doch der Weg, den Sie vorschlaJulius Louven
gen, nicht der richtige; dann müßten wir doch in Überlegungen eintreten, wie wir erreichen, daß die Arbeit, die in der Bundesrepublik genügend vorhanden sein soll, auch erledigt wird.
({0})
Dann sagen Sie mir bitte einmal Ihr Konzept, wie Sie zur Vollbeschäftigung kommen wollen. Wir als SPD-Fraktion, und zwar sowohl die Kollegen, die auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik tätig sind, als auch wir von seiten der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, haben hier immer wieder vorgetragen, daß es im wesentlichen drei Säulen gibt: auf der einen Seite eine durchgreifende Wachstumspolitik, so weit wie irgend möglich umweltverträglich. Wir brauchen mehr Innovationen im Umweltbereich. Das zerstört nicht Arbeitsplätze, sondern schafft unter dem Strich welche.
({0}) Auch da haben Sie weitestgehend geschlafen.
Wir haben eine neue preisliche Bewertung der Produktionsfaktoren Arbeit und Umwelt gefordert. Arbeit ist in vielen Bereichen zu teuer, weil über die Arbeit Dinge finanziert werden, die staatliche Aufgaben sind,
({1})
und weil die Energie aus Umweltgründen zu billig ist. Wir fordern also eine neue preisliche Bewertung, möglichst aufkommensneutral, weil wir die Menschen nicht zusätzlich belasten wollen.
Wir haben umfassende Renovierungskonzepte zur Arbeitsmarktpolitik vorgeschlagen. Die Eckpunkte kann man erneut in diesem Antrag nachlesen. Wir haben im vergangenen Sommer hier ein Arbeitszeitgesetz mit klaren Beschäftigungskomponenten eingebracht. Sie haben demgegenüber hier ein Arbeitszeitgesetz ohne irgendeinen Bezug zur Beschäftigungspolitik verabschiedet, was in einer Zeit mit 4 Millionen registrierten Arbeitslosen geradezu hirnverbrannt ist.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben zumindest ansatzweise ein Grundkonzept stehen, während die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen mit leeren Händen dastehen.
Ich sage Ihnen, lieber Kollege Louven, zum Schluß noch eines: Das einzige, was ich hier vom Bundeswirtschaftsminister und auch von vielen anderen Kolleginnen und Kollegen der Koalition immer wieder gehört habe - ({3})
- Ja, das ist ja die Frage, wo Herr Rexrodt ist, wenn hier über die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit beraten wird.
({4})
Lieber Kollege Louven, der Bundeskanzler ist ja manchmal ein schlauer Mann. Ich habe gelesen, daß er vor einigen Wochen den Bundesministern einen Brief geschrieben hat, in dem ihnen mitgeteilt wurde,
sie hätten gefälligst im Parlament anwesend zu sein, zumindest dann, wenn über ihre eigenen Themen verhandelt wird.
Nun weiß ich nicht, wo der Meister ist. Ich hätte dem Kollegen Rexrodt, der ja der Oberspezialist in Sachen Deregulierung ist, zum Schluß ganz gern eines mit auf den Weg gegeben. Wenn es richtig ist, daß die Bundesregierung weiterhin nicht bereit ist, von ihrer falschen Politik des Abbaus sozialer Schutzrechte abzugehen, dann hätte ich ganz gern die Diskussion mit denjenigen gehabt, die genau diese Linie verfolgen.
Zum Abschluß ein Zitat aus „Die Zeit" vom 2. Dezember 1994. Es stammt von Herrn Professor Dr. Maihofer - das müßte zumindest die Damen und Herren der F.D.P. interessieren.
({5})
- Falls Sie Herrn Maihofer nicht kennen sollten: Er war früher der Leiter der Programmkommission der F.D.P. und hat das sogenannte Freiburger Programm wesentlich formuliert. Er schreibt:
Niemand würde heute sagen, Ausbildung oder Bildung geht den Staat nichts an. Genauso ist die Arbeitslosigkeit ohne Intervention des Staates nicht mit Deregulierung zum Verschwinden zu bringen. Wenn der Staat hier nichts tut, wird unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auseinanderfallen, und wir werden mit unseren Alternativen politisch scheitern. Da können wir nicht einfach den Rückmarsch in einen Steinzeitliberalismus antreten.
Meine Damen und Herren Steinzeitliberale, das ist Professor Maihofer; er hat es vor wenigen Wochen geschrieben.
({6})
Wenn Sie doch wenigstens ab und zu einmal auf die Stimmen Ihrer eigenen Vordenker hören würden!
Meine Damen und Herren, das Zusammenwirken von Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik, die Einbindung der Regionen in eine moderne Arbeitszeitpolitik, die Offensive für mehr Innovation und Investitionen, vor allem im Umweltbereich - alles von der Bundesregierung nicht gelöste Fragen.
Herr Schreiner, Sie müssen zum Schluß kommen.
Die nächsten Gesprächsrunden im Kanzleramt - das ist mein letzter Satz - müssen unbedingt Ergebnisse bringen. Die SPD-Forderung nach einem umfassenden Bündnis gegen Arbeitslosigkeit bleibt weiterhin auf der Tagesordnung.
Schönen Dank.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich teile Ihnen, die Sie hier im Plenum anwesend sind, mit, was durch Hausruf den Abwesenden schon mitgeteilt worden ist: Die Fragestunde wird voraussichtlich zwischen 13.30 und 14.00 Uhr und nicht, wie ursprünglich angekündigt, gegen 15.00 Uhr aufgerufen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kann nur in einer großen Gemeinschaftsanstrengung erfolgreich sein. Deshalb hat der Bundeskanzler die Initiative ergriffen und für gestern Vertreter der Arbeitgeber und Vertreter der Gewerkschaften eingeladen, um gemeinsam mit ihnen an Lösungen zu arbeiten. Ich begrüße dies außerordentlich und danke dem Bundeskanzler für diese Initiative.
Auch die neue Flexibilität der Tarifpartner, die im Vorfeld des gestrigen Gesprächs erkennbar war, will ich ausdrücklich begrüßen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß diese Erkenntnis schon etwas früher gekommen wäre. Vielleicht hätten wir es uns dann ersparen können, daß viele Arbeitsplätze ins Ausland abgewandert sind. Um so mehr gilt heute: Die jetzigen Schritte gehen in eine vernünftige Richtung.
Doch nun zum vorliegenden Antrag. Ihre neuen Vorschläge, lieber Herr Schreiner, sind letztlich die alten. Sie sind oft diskutiert, dadurch aber nicht besser geworden.
({0})
Vor allem beantworten Sie die Frage nach der Finanzierung so, als könnten wir das Geld nur von der Bank abholen. Ich kann Ihnen deshalb den Vorwurf der Widersprüchlichkeit und des Mangels an Wahrhaftigkeit nicht ersparen.
Sie bezeichnen in Ihrem Antrag die bisherige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik als weitgehendes Laisser-faire. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Sie wissen genauso gut wie wir, daß durch eine Fülle von Entscheidungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der letzten Jahre die Bedingungen für Investitionen und für die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Deutschland wesentlich verbessert wurden und dies zu einem positiven Ergebnis geführt hat.
({1})
Sie wissen zum zweiten genauso gut wie wir, daß noch nie so viel Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wurden wie gerade im letzten und im laufenden Jahr.
({2})
Im vergangenen Jahr waren es über 50 Milliarden DM. Auch in diesem Jahr wird das wieder der Fall sein. Etwa die Hälfte des Volumens des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit wird hierfür verwendet. Das ist eine gewaltige Leistung, die den Menschen unmittelbar und der Beschäftigungsstruktur insgesamt zugute kommt.
Dabei ist unsere Politik nicht auf dem Instrumentarium von 1982 stehengeblieben. Wir haben neue Instrumente entwickelt, die die Arbeitsmarktpolitik
qualitativ verbessern, beispielsweise eigene Programme für Langzeitarbeitslose, für Schwervermittelbare und ähnliches.
({3})
Wenn gestern der Bundeskanzler zugesagt hat, daß die Aktion „Beschäftigungshilfe für Langzeitarbeitslose" für weitere vier Jahre auf hohem Niveau fortgesetzt wird, dann zeigt auch dies deutlich, daß wir auf dem Weg, besonders Benachteiligten zu helfen, fortfahren werden.
({4})
Ich begrüße in diesem Zusammenhang im übrigen auch die Überlegung des Bundesarbeitsministers, Langzeitarbeitslose in Betrieben zunächst probeweise zu beschäftigen. Wir können gar nicht genug neue Ideen entwickeln, um den besonders Betroffenen zu helfen.
Nun stellt sich die Frage: Können wir mit noch mehr Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, mit starren Quoten, mit verbindlichen Rechtsvorschriften, mit mehr Rechtsansprüchen, mit all dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern, das Beschäftigungsproblem schneller lösen? Meine Damen und Herren, wir sollten uns über eines im klaren sein: Eine noch so aktive Arbeitsmarktpolitik kann nicht alles leisten. Sie kann durch Qualifizierungsangebote und andere Hilfen individuelle und strukturelle Erleichterungen bringen, aber für die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen kann sie nur eine flankierende Wirkung haben. Wir dürfen nicht in eine Situation kommen, daß Arbeitslose nur dann eingestellt werden, wenn dies mit finanzieller Förderung durch das Arbeitsamt verbunden ist. Das wäre eine neue Subventionsentwicklung, und das kann doch nicht gewollt sein.
Auch deshalb ist unser Ansatz ein anderer. Wir setzen auf neue, zukunftssichere Arbeitsplätze. Dazu müssen die entsprechenden Wachstumsfelder erschlossen werden. Ich denke beispielsweise an die Stichworte Forschungsanstrengungen, Technologietransfer, aber auch an die grundsätzliche Einstellung zu neuen Technologien.
Unsere Wirtschaft muß auch wettbewerbsfähig sein. Nur dann wird bei uns und nicht woanders investiert. Was wir dazu brauchen, sind nicht etwa mehr Staat, mehr Reglementierung, mehr Vorschriften, wie Sie es wollen, sondern das, was wir dazu brauchen, sind weniger Staat und mehr Flexibilität, und zwar in allen Bereichen.
({5})
In Ihrem Antrag fordern Sie außerdem eine Verknüpfung von Arbeitsmarktpolitik mit Struktur- und Regionalpolitik im Rahmen eines regionalen Entwicklungskonzepts. Das klingt alles wunderschön, sehr hochgestochen. Es ist aber mit der großen Gefahr verbunden, daß eine Unzahl von Planungsgremien und Debattierklubs gebildet wird. Vor lauter Planen kommt man dann nicht mehr zum Handeln.
Tatsächlich sind wir heute schon viel weiter. Die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und für Fortbildung und Umschulung werden heute nicht mehr zentral verwaltet, sondern den Arbeitsämtern zur eigenverantwortlichen Bewirtschaftung zugewie880
sen. Es spricht überhaupt nichts dagegen, nicht irgendwo zentral, sondern vor Ort die struktur- und arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten miteinander zu verknüpfen. Allerdings ist dies nicht möglich, wenn alles in starre Strukturen gegossen wird, wenn etwa der Rechtsanspruch auf berufliche Qualifizierungsmaßnahmen wiederhergestellt werden soll, wie Sie es wünschen. Eine regionenspezifische Mittelbewirtschaftung, eine zielgerichtete Verknüpfung von Struktur- und Arbeitsmarktpolitik sind mit einem Rechtsanspruch auf Fortbildung und Umschulung nicht zu vereinbaren.
Meine Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wir machen Ihnen gern ein Angebot. In der Koalitionsvereinbarung wurde festgelegt, daß die Neuregelung des Arbeitsförderungsgesetzes und die Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit eine wichtige Aufgabe dieser Legislaturperiode darstellen. Der Bundesarbeitsminister hat die Vorarbeiten dazu schon aufgenommen.
Ich lade Sie ein: Beteiligen Sie sich an diesem Projekt,
({6})
konstruktiv, nicht durch Festschreibung starrer Quoten, wie Sie das vorhaben, nicht mit verbindlichen Rechtsvorschriften und neuen Rechtsansprüchen, sondern durch die Einführung von mehr Flexibilität, von mehr Regionalisierung und damit mehr Treffsicherheit in der Arbeitsmarktpolitik. Dann, meine Damen und Herren, sind Sie mit uns auf dem richtigen Weg.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit mehr als einem Jahrzehnt kennt dieses Land keine Vollbeschäftigung mehr. Seit mehr als einem Jahrzehnt begleitet Millionen von Menschen in diesem Land die Sorge um ihren Arbeitsplatz. Dabei geht es beileibe nicht nur um den Verlust von Einkommen. Arbeitslosigkeit in einer Gesellschaft, deren ganzes Wertegefüge so zentral an der Erwerbsarbeit hängt, vermittelt denen, die von Erwerbsarbeit ausgegrenzt sind, immer zugleich auch das Gefühl von Minderwertigkeit und von Nicht-mehr-Gebraucht-werden.
({0})
In dieser Situation trägt Politik eine große Verantwortung. Die Erwartung von Millionen von Menschen richtet sich auf die gestaltende Kraft der Politik mit der Hoffnung, daß endlich, endlich eine Antwort auf dieses Problem gefunden werden möge. Wir alle kennen die drängenden Fragen an uns Politiker, wie wir denn nun Arbeitsplätze schaffen wollen. Wir alle
müssen, wenn wir nur ehrlich sind, zugeben, daß niemand von uns Vorschläge in der Tasche hat,
({1})
die quasi mit einem Federstrich in millionenfachem Umfang Abhilfe schaffen. Wir alle müssen zugeben, daß in unserer Industriegesellschaft so viele nicht unmittelbar beeinflußbare Faktoren ineinandergreifen, daß eine Besserung angesichts der Not viel zu langsam und nicht in ausreichendem Umfang eintreten wird.
({2})
- Die „beeinflußbaren Faktoren" kommen noch. Ich werde sie schon noch aufzählen.
Politik hat dine große Verantwortung. Ich wünschte mir, daß wir sie akzeptieren und hier nicht einen politischen Schlagabtausch auf dem Rücken der Arbeitslosen abhalten. Die Gefahr der Enttäuschung ist zu groß. Diese Enttäuschung kann das demokratische Gefüge unserer Gesellschaft treffen.
Wir haben seit Jahren Millionen von Erwerbslosen, unbestritten. Die Zahl derjenigen, die sich resigniert zurückgezogen haben und deswegen in den Statistiken gar nicht mehr auftauchen, bewegt sich ebenfalls in Millionenhöhe. Auch das ist unbestritten. Selbst ein wirtschaftlicher Aufschwung, wie er auch für dieses Jahr prognostiziert ist, wird die Zahl der Erwerbslosen nur wenig verringern. Auch das, meine Damen und Herren, bestreitet in diesem Hause wohl niemand mehr.
Vor der Therapie hat die Diagnose zu stehen. Wenn die Diagnose richtig ist, daß die Industriegesellschaften der 90er Jahre ein „jobless growth" produzieren, daß die wirtschaftlichen Zuwächse auf Grund von Produktivitätssteigerungen kaum beschäftigungswirksam werden, und wenn wir anerkennen, daß dieses Phänomen alle Industriegesellschaften kennzeichnet, dann wird ein „weiter so! " den Patienten Arbeitsmarkt nicht heilen können.
Diese Diagnose fordert zwangsläufig eine bestimmte Therapie: Die vorhandene Arbeit muß neu verteilt werden.
({3})
Die 40-Stunden-Woche, abzüglich drei Wochen Urlaub im Jahr, gehört ins Industriemuseum. Wer nach wie vor nach dieser Vorstellung Arbeitsmarktpolitik gestaltet, der muß sich vorhalten lassen, daß er die Spaltung des Arbeitsmarkts betreibt. Deswegen war es so töricht, daß der Bundeskanzler in seiner denkwürdigen Rede im Oktober 1993 in diesem Hause den Ansatz der Arbeitsumverteilung als „Freizeitoffensive" denunzierte und vom „kollektiven Freizeitpark" gesprochen hat.
Die Umverteilung von Arbeit wird durchaus Widerstände hervorrufen. Es sind eben nicht alle Männer daran interessiert, Erwerbsarbeit gegen Arbeit in Küche, Klo und Kinderzimmer einzutauschen. Es sind nicht alle Menschen, die Einkommen, Status und Selbstbewußtsein aus ihrer Arbeit beziehen, bereit, von alldem abzugeben. Ich liege wohl nicht falsch,
Marieluise Beck ({4})
wenn ich mutmaße, daß sich die Herren der Schöpfung hier sehr viel schwerer tun werden als die Frauen; denn die haben über viele Jahre gelernt, mit der Position der Zuträgerinnen zu leben.
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Meine Damen und Herren, eine solche Umverteilung wird in dieser Gesellschaft Konflikte hervorrufen. Wir sollten sie aber im Interesse der Erwerbslosen und auch im Interesse der Frauen angehen.
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Es hat seinen Grund, daß viele Frauen der Teilzeitarbeit sehr skeptisch gegenüberstehen. Wenn sie nämlich wieder nur für die Frauen gedacht ist, dann ist sie keine adäquate Antwort. Vereinbarkeit wird so zu einem Köder, der den Frauen zusätzlich zu Familie und Haushalt noch ein bißchen Erwerbsarbeit aufbukkelt und die Männer in ihrer alten Rolle beläßt.
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Ich bin sehr froh, daß sich die Gewerkschaften nunmehr der gesellschaftlichen Verantwortung für die Umverteilung der Arbeit stellen, sich also gegen eine Politik der Ausgrenzung wenden. Die Parole „Drei Tage gehören die Eltern uns" ist richtig. Sie nimmt den Gedanken des solidarischen Teilens auf, und sie eröffnet nebenbei neue Spielräume für soziales, gesellschaftliches und familiäres Leben.
Das Sozialstaatsgebot gilt aber auch für die Unternehmen. Zum Sozialstaat gehört auch die Möglichkeit zur Erwerbsarbeit. Deshalb ist es für die Arbeitgeber an der Zeit, diesen Ball aufzunehmen - nicht um Arm in Arm mit Herrn Rexrodt endlich die langersehnte Deregulierung voranzutreiben.
({8})
Umverteilung von Arbeit darf nicht den Abbau von Schutz bedeuten.
({9})
Erforderlich sind neue Ansätze in der Arbeitsgesetzgebung, die die Interessen der Arbeitnehmer vor dem Wunsch der Arbeitgeber nach jederzeitiger Verfügbarkeit schützen. Erforderlich ist Zeitsouveränität je nach Lebenslage, je nach Einkornmensverhältnissen; aber sie muß von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bestimmt werden.
({10})
Das alles könnte eine moderne Politik in ihre Gesetzgebung aufnehmen, ohne damit in die Tarifautonomie einzugreifen.
Diese Chance hat die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode verpaßt. Statt dessen haben Sie ein Arbeitszeitgesetz beschlossen, das den Gedanken „viel Arbeit für die, die sie haben" weiterhin fortschreibt. Nicht einmal an eine Regelung zur Überstundenabgeltung durch Freizeitausgleich hat sich die Bundesregierung herangewagt. Selbst diesen ersten Schritt zur Arbeitsumverteilung hat man nicht getan.
Wenn die Politik nicht mit viel Mut alle diese Möglichkeiten der Umverteilung der Arbeit anpackt und gestaltet, wo sie Gestaltungsaufgaben hat, werden wir hier noch viele Jahre stehen und über die Arbeitslosigkeit lamentieren.
Wir haben nicht nur eine Krise der Arbeit, wir haben auch eine Krise der Ökologie. Allein die Krise der Ökologie versagt es uns, den Weg aus der Arbeitslosigkeit in dumpfem Ankurbeln der Wachstumsmaschine zu suchen. Die ökologische Krise gibt dieser Gesellschaft viel Arbeit auf, die endlich angepackt werden muß.
Seit zehn Jahren rechnen die alternativen Energieinstitute vor, daß das Setzen auf eine umweltfreundliche Energieversorgung im Vergleich zu Kohlekraftwerken und Atomkraftwerken ein Vielfaches an Arbeitsplätzen hervorgebracht hätte. Im übrigen hat der von Ihnen so kochgeschätzte Mittelstand, haben die Handwerker das durchaus begriffen.
Warum also schlagen Sie nicht endlich zwei Fliegen mit einer Klappe und lenken die öffentlichen Hilfen von der konzernbestimmten und arbeitsplatzarmen Atomenergie in den Aufbau eines modernen, ökologisch verträglichen Energiewesens um? Warum haben Sie diese Chance nicht gerade in den fünf neuen Ländern genutzt?
({11})
- Fünfeinhalb sollen es sein.
Warum wird im Straßenbau noch immer auf das Auslaufmodell Automobil gesetzt, obwohl unsere Städte bereits zu ersticken drohen?
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Moderne Politik müßte jeden Impuls aufnehmen, der eine mobile Gesellschaft über das öffentliche Verkehrsnetz herstellt. Auch hier steckt ein Potential von Arbeitsplätzen.
Meine Damen und Herren, die Ökologie ist nicht mehr der Feind der Arbeit. Wenn wir die Herausforderungen der Ökologie annehmen, wird Arbeit geschaffen. Unabhängige Institute wie das DIW prognostizieren 100 000 neue Arbeitsplätze im Umweltbereich. Es sind doch nicht irgendwelche grünen Wurzelzwerge, die eine ökologische Steuerreform und entsprechende Innovationen fordern. Diese Forderung kommt doch inzwischen aus den Reihen der Industrie. Auch wenn der Bundeskanzler nach eigenen Angaben seit Jahren keinen „Spiegel" mehr liest, so findet sich ja vielleicht ein Referent, der ihm eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs mit dem AEG-Manager Damm aus dem „Spiegel" dieser Woche vorlegt, in dem sich Damm über das Dinosaurierdenken in Industrie und Politik beklagt. In einer ökologischen Steuerreform liegen Chancen für den Standort Deutschland und die damit verbundenen Arbeitsplätze.
Trotz des wirtschaftlichen Wachstums war die Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 1994 noch einmal rückläufig. Wie, Herr Blüm, paßt das mit einem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zusammen, der für 1995
Marieluise Beck ({13})
im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik stagniert oder sogar reduziert ist und der von einer niedrigeren Zahl von Teilnehmern an Maßnahmen ausgeht?
Wenn es denn richtig ist, daß dieses Land auf lange Sicht vielen Menschen keinen Arbeitsplatz bieten kann, dann ist es doch geradezu zwingend, die aktive Arbeitsmarktpolitik endlich als eine dauerhafte Aufgabe anzuerkennen, als eine Aufgabe, die trotz der immer wieder gehörten Hinweise auf die Milliardenbeträge, die in diesen Sektor fließen, und trotz der gestrigen Zusage des Kanzlers, daß das Programm Lohnkostenzuschüsse zur Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser wieder aufgelegt wird, noch weitergehender finanzieller Anstrengungen bedarf.
Es ist doch Ideologie, wenn Subventionen für die sogenannte freie Wirtschaft mit dem Nimbus der Förderung des Guten und Nützlichen versehen werden, während die Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit offenbar im Bereich der drückenden Lasten anzusiedeln sind.
({14})
Wenn jede einschlägige Untersuchung, wenn alle Erfahrungsberichte belegen, daß es gerade die Alteren - auf diesem Arbeitsmarkt beginnt das Altsein verdammt früh -, die Minderqualifizierten und die Frauen mit Kindern sind, die langfristig vom Arbeitsmarkt verdrängt bleiben, dann hat diese Gesellschaft die Pflicht und Schuldigkeit, diesen Menschen einen Arbeitsplatz anzubieten.
Die Politik der Bundesregierung und der Bundesanstalt für Arbeit ist dafür viel zu kurzatmig. Da schiebt man Leistungsempfänger von einer Hilfe zur nächsten. Da eilen Beschäftigte von Maßnahme zu Maßnahme, von denen keine länger als zwölf Monate dauern darf. Da müssen sich die Träger ständig auf neue Bedingungen und verschlechterte Förderkonditionen einstellen und sind zum Teil nicht mehr in der Lage, dies zu leisten. Die Frage nach der Qualität von Maßnahmen wagt man da kaum noch zu stellen. Friedhofs- und Gartenbauämter, die die ABMs im Hunderterpack abschöpfen, sind nun wahrlich nicht geeignet, die vielzitierten Brücken zum ersten Arbeitsmarkt zu bauen.
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Auch bei den Mitteln für Fortbildung und Umschulung hat sich, nachdem die Ausgaben in den Jahren 1993 und 1994 drastisch gesenkt wurden, nichts Wesentliches getan. Wie, Herr Blüm, verträgt sich das mit den Qualifizierungsanforderungen an Rückkehrer in den ersten Arbeitsmarkt? Wie verträgt sich das mit dem Fortbildungsbedarf z. B. älterer Arbeitnehmer oder dem speziellen Orientierungsbedarf jugendlicher Berufsanfänger?
Die Aufzählung arbeitsmarktpolitischer Defizite ließe sich fortsetzen. Voraussetzung für eine Arbeitsmarktpolitik mit weitreichenden Gestaltungsansprüchen wäre es, daß wir, meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit nicht als Normalzustand akzeptieren. Zu viele Wünsche, Hoffnungen und Perspektiven zerbrechen an diesen Problemen.
Wir werden in den kommenden Wochen den Haushalt der Bundesregierung und damit auch den der Bundesanstalt für Arbeit diskutieren. Ich wünsche mir, daß von diesem Parlament, dem eigentlichen Haushaltsgeber, noch einmal ein Signal ausgehen möge, daß wir die Verantwortung akzeptieren und bereit sind, die Voraussetzungen für eine Politik zu schaffen, die den Ausschluß ganzer Bevölkerungsteile von der Erwerbsarbeit nicht länger hinnimmt.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel ({0}).
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich vorweg eine kurze Anmerkung zu dem machen, was Herr Schrei' ner gesagt hat. Wirtschaftsminister Rexrodt befindet sich gerade in einem Gespräch mit dem Chef der IG Bergbau und Energie, um die schwierige Situation im Kohlebergbau zu besprechen.
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Ich weiß nicht, ob Sie nun gerade das zum Anlaß nehmen sollten, Kritik zu üben.
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Meine Damen und Herren, die SPD legt heute einen Antrag mit dem Titel „Bündnis gegen Arbeitslosigkeit" vor. Er verdient durchaus eine eingehende Prüfung und eine differenzierte Beurteilung.
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- Das ist doch ein erstaunlicher Satz für den Anfang.
Nachdem Ihr Parteivorsitzender Scharping Ihnen, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der SPD, einen hohen Renovierungsbedarf bescheinigt und Ihnen solche umstürzlerischen Lehren erteilt hat wie die, daß Unternehmer künftig von Ihnen als Partner anerkannt werden sollten und daß das Krebsübel der Gegenwart, die Arbeitslosigkeit, nicht allein und ausschließlich mit öffentlichen Förder- und Beschäftigungsprogrammen, nicht mit Weiterbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bekämpft werden kann, schleichen sich vorsichtig neue Töne in Ihre Kampflieder, aber noch nicht in den ersten Strophen.
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Hier wird noch konventionell an der Behauptung festgehalten, der Staat müsse wirtschaftspolitisch handeln, sein Unterlassen schließe Menschen von der Teilnahme an der Erwirtschaftung des Bruttosozialproduktes aus,
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er handle sozial fragwürdig und wider wirtschaftliche Vernunft und verschleudere nationale Ressourcen.
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Das ist die alte, verstaubte Sozialdemokratie:
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Der Staat ist schuld; er gehört an den Pranger, und wenn er nur anders handeln würde - „anders handeln" heißt für Sie, 500 000 Menschen zusätzlich in staatlich finanzierte Beschäftigungsverhältnisse zu bringen -, dann wäre alles anders und alles besser.
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Ich denke, uns allen ist daran gelegen, einen vernünftigen Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vorzunehmen. Die F.D.P. teilt aber nicht Ihren Wunderglauben, daß der in einer Maßnahme beschäftigte, der in Umschulungen neu qualifizierte Arbeitnehmer automatisch Arbeit findet, vor allem, daß damit schon die benötigten Arbeitsplätze aus dem Boden wachsen.
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Hier liegt doch das eigentliche Problem: Warum gehen Arbeitsplätze verloren? Sie gehen nicht verloren, weil der Staat nicht genügend fördert, nicht genügend qualifiziert, nicht genügend beschäftigt.
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Dem Staat ist anzulasten - das ist schon oft gesagt worden, und ich wiederhole es -, daß er zu hohe Steuern erhebt, daß er zu viele Auflagen macht und daß er zu umständliche Genehmigungsverfahren vorschreibt.
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Sein Beitrag wäre es also - um die Herstellung wettbewerbsfähiger deutscher Produkte zu ermöglichen -, die finanziellen Belastungen und die Lohnnebenkosten zu senken.
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Daß die SPD bei diesem notwendigen politischen Prozeß mitwirken will, ist derzeit nicht erkennbar.
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Arbeitsplätze gehen verloren, weil in Deutschland zu teuer produziert wird. Das hat mehrere Ursachen - das gebe ich zu -, aber die Hauptursache ist, daß die Lohnkosten und die Lohnnebenkosten zu hoch sind.
Frau Kollegin Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, nachdem Sie insbesondere auch Dinge beklagen, die sich in den letzten zwölf Jahren ereignet haben, frage ich Sie: Wie ist es eigentlich möglich, daß die F.D.P.,
gerade auch in der Wirtschaftspolitik, in diesen letzten Jahrzehnten fast immer in der Verantwortung war, aber nach Ihrer Ansicht wohl nie für irgend etwas verantwortlich war?
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Frau Matthäus-Maier, Sie wissen aus Ihrer eigenen politischen Vergangenheit vielleicht noch sehr gut, wie schwer es ist, an der Seite von Volksparteien wirtschaftspolitische Vernunft durchzusetzen.
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Darüber hinaus ist es leider nicht von Gesetzes und der Verfassung wegen vorgesehen, daß die F.D.P. an den Tarifverhandlungen teilnimmt. Das ist ja wohl der Ort, an dem sehr viel bezüglich der Arbeitsmarktchancen entschieden wird.
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Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal von dem Kollegen Hans Büttner?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Babel, würden Sie mir bestätigen, daß es wohl diese Koalition mit der F.D.P. war, die über die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge für den Aufbau Ost eine einseitige Belastung bewirkt und allein die Lohnnebenkosten um über 3 % erhöht hat?
Kollege Büttner, ich will Ihnen einen Gefallen tun und gebe Ihnen in einem Punkt recht. Es ist in der Tat so, daß wir den großen Strukturwandel im Osten sehr gezielt, vordringlich und sehr langandauernd im System der Arbeitslosenversicherung und seinen Instrumenten haben lösen wollen. Das war sicher nicht der optimale Weg. Wir haben das auch schon in verschiedenen Debatten zugegeben und würden das, rückblickend betrachtet, vielleicht nicht wieder so machen. Die Alternative wäre allerdings eine Steuerfinanzierung gewesen. Wir wissen heute aber auch, daß wir bei der Steuerfinanzierung an unsere Grenzen stoßen.
Ich fahre fort: Rückständig und geradezu altmodisch ist das, was Sie zum Thema Arbeitszeit in Ihren Antrag geschrieben haben. Der Kollege Schreiner hat das heute ein wenig modernisiert, aber der Antrag ist wohl doch das entscheidende Dokument.
Die Entwicklung geht über Sie hinweg. Sie sehen den Gewerkschaften wie einer verpaßten Straßenbahn verblüfft hinterher. Nicht die gesetzliche Regelarbeitszeit von 40 Stunden, nicht die Fünftagewoche von Montag bis Freitag und nicht die Verringerung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich sind die aktuellen Forderungen.
Nein, es wird in laufenden Tarifverhandlungen ganz offen über flexible Arbeitszeitmodelle gespro884 Deutscher Bundestag -- 13. Wahlperiode Dr. Gisela Babel
chen, und es wird, wie heute im „Handelsblatt" steht, über die Reduzierung der Arbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich nachgedacht. Das war heute ausgerechnet eine Überschrift über dem fröhlichen Bild von Herrn Scharping, so daß man fast den Eindruck gewinnen konnte, er habe das gesagt. Dann denkt man: Klug, der Junge.
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Meine Damen und Herren, vielleicht sollten Sie auch jetzt einmal selber die Tarifautonomie ernst nehmen. Sie haben ja oft genug Gelegenheit, das anzumahnen. Sie sollten darauf vertrauen, daß die Tarifpartner vielleicht schlauer als die Politiker sind, zumindest schlauer als einige Politiker. Immerhin hat die Koalition im letzten Jahr durch das neue Arbeitszeitrecht die Voraussetzungen für flexible Arbeitszeiten geschaffen.
Was in Ihrem Antrag fehlt, sind die Forderung nach einer Bewertung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und die Frage nach Sinn, Erfolg und Kostenadäquanz. Ist es nicht viel aussichtsreicher, Arbeitslose in Gewerbebetrieben mit Lohnkostenzuschüssen für einen begrenzten Zeitraum als in Beschäftigungsgesellschaften und kommunal geplanten AB-Maßnahmen zu beschäftigen?
Frau Kollegin Babel, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Nein, ich finde, es war genug.
Gespräche mit Arbeitsamtsdirektoren und Handwerksmeistern bestätigen mir, daß die Eingliederung in einen Betrieb, wo wirklich mit Tempo und Sinn für Produktivität gearbeitet wird, viel höhere Erfolgschancen bietet, um später reguläre Beschäftigung zu finden. In vielen Arbeitsamtsbereichen wird das noch nicht hinlänglich genug genutzt.
Ich komme jetzt zu Ihrem Sonderprogramm zur Betreuung und Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen. Das ist übrigens ein Punkt, den die F.D.P. begrüßt. Zum Wirtschaftsteil Ihres Antrags, darf ich zitieren:
Zur Stärkung der Investitionskraft der kleinen und mittleren Betriebe müssen Existenzgründungen in den alten und neuen Bundesländern, vor allem im Bereich technologischer Unternehmensgründungen, stärker gefördert, der Zugang zu Risikokapital erleichtert, die Lohnnebenkosten gesenkt, die Forschungsleistungen unterstützt, der Konkursschutz ausgebaut, der gewerbliche Mieterschutz wirksamer ausgestaltet, Qualifikation, Aus- und Weiterbildung sowie Unternehmensberatung gestärkt und die mittelständischen Unternehmen auf den Auslandsmärkten wirksamer unterstützt werden.
Das steht alles in Ihrem Antrag.
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Abgesehen davon, daß der Satz zu lang und überfrachtet ist und das Wort Mieterschutz etwas verräterisch klingt, könnte er auch von der F.D.P. stammen. Er ist vernünftig.
Sie fordern auch die Straffung der Verwaltungsabläufe, Gewerbesteuerreform - sehr bemerkenswert -, Beseitigung wettbewerbshemmender Strukturen und aktive Außenhandelspolitik für deutsche Produkte. Es stellt sich, kurz gesagt, die Frage: Hat der Wolf Kreide gefressen, oder stellen Sie sich tatsächlich auf den schmerzlichen Renovierungsprozeß ein?
Ich unterstütze übrigens die Initiative bei der bevorstehenden Anhörung über Ihren Antrag, den Ausschuß für Wirtschaft zu beteiligen. Die F.D.P. sieht beim Thema Arbeitslosigkeit ohnehin in erster Linie die Verantwortung in der Wirtschaft und nicht in der Sozialpolitik.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat der Vorsitzende der Gruppe PDS, Dr. Gregor Gysi.
herr Präsident! Meine Damen und Herren! Massenarbeitslosigkeit in dieser Größenordnung und von dieser Dauer hat etwas Gesellschaftszerstörerisches an sich. Sie spaltet die Gesellschaft und führt zu unsolidarischem Verhalten dort, wo sie sie nicht spalten dürfte, nämlich zwischen jenen, die Erwerbsarbeit haben, und jenen, die keine haben. Erstere stehen unter dem Druck der letzteren und sind dadurch auch mit ihren Interessenvertretungen, den Gewerkschaften, in allen Verhandlungen, Tarifverhandlungen etc. wesentlich geschwächt. Das ist die eine Seite.
Andererseits wird das auch noch benutzt, um diejenigen, die eine Erwerbstätigkeit haben, gegen jene aufzubringen, die keine haben, und zwar mit der berühmten Argumentation der Abstandswahrung, wo ihnen eingeredet wird, sie verdienten zwar nicht zuviel, aber die anderen bekämen zuviel, und dadurch sei der Abstand zwischen jenen, die Erwerbsarbeit haben, und jenen, die sie nicht haben, zu gering.
Wenn man ernsthaft meint, daß dieser Abstand zu gering ist, dann könnte man ja die Löhne entsprechend erhöhen. Schon wäre der Abstand größer. Man darf das aber nicht zu Lasten der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger und nicht zu Lasten der Arbeitslosen in dieser Gesellschaft austragen.
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Ich will eine Kritik an der Einleitung des Antrags der SPD anbringen. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht genau, ob Ihnen das auffällt: Diese Einleitung ist durch und durch ökonomisch begründet. Weil Ihnen immer vorgeworfen wird, daß Sie das nicht ökonomisch begründen, versuchen Sie dann, es sozusagen in Abwehr dieser Vorwürfe besonders ökonomisch zu begründen. So weisen Sie z. B. ausdrücklich darauf hin, daß Arbeitslosigkeit auch bedeutet, daß viele Ressourcen ungenutzt bleiben. Das ist ja wahr, aber das ist doch höchstens ein Drittel der Wahrheit. Mir fehlt ein Satz zu den Betroffenen, zu den Menschen, zu
den psychologischen Wirkungen von Massenarbeitslosigkeit,
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zur Zerstörung von Persönlichkeit, die damit verbunden ist. Das halte ich immer noch für das entscheidende Moment.
Ich will noch eine zweite Kritik anbringen, und zwar im Zusammenhang mit dem öffentlichen Beschäftigungssektor - einmal abgesehen von dem Streit, wie groß der sein soll usw. -: Sie lassen sich in Ihrem Antrag schon darauf ein, zu akzeptieren, daß das ein zweiter oder dritter Arbeitsmarkt ist. Daß das so ist, ist klar. Aber vielleicht könnte man doch einmal darüber nachdenken, ob es nicht ungeheuer progressiv wäre, diesen öffentlichen Beschäftigungssektor in den ersten Arbeitsmarkt einzuführen,
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um gerade auf dieser Strecke sozial und demokratisch vorbildliche Arbeitsplätze zu schaffen, die die privaten Unternehmen unter Druck setzen, ihre Arbeitsplätze zu verbessern. Es sollte nicht sozusagen eine Drohung sein, in den öffentlichen Beschäftigungssektor zu kommen, weil dort die Bedingungen schlechter sind als bei den privaten Unternehmen. Ich glaube, der Anreiz müßte umgekehrt geschaffen werden. Dann würde das übrigens auch die privaten Unternehmen dazu bringen, ihre Strukturen zu verändern.
Über ein Thema wird so gut wie gar nicht mehr gesprochen, nämlich über das Thema Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie. Aber nach wie vor werden doch die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Investitionsentscheidungen überhaupt nicht beteiligt. Wenn sich diese Entscheidungen aber als Fehlschlag herausstellen, dann sind sie zuständig, für die soziale Abfindung zu kämpfen. Sie sollen auch in die Verantwortung für Wirtschaftsentscheidungen mit einbezogen werden; dann wäre die Zuständigkeit für die sozialen Folgen wesentlich gerechtfertigter, als das heute der Fall ist.
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Ich glaube des weiteren, daß man bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit die Kommunen ganz anders einbeziehen muß, als das gegenwärtig der Fall ist, schon deshalb, weil es auch um die große Zahl von Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern geht. Ich denke, daß der Staat und der Gesetzgeber viel mehr tun können.
Es ist für mich immer wieder interessant, daß Flexibilität und alles mögliche gefordert werden. Aber wie schaffen wir eigentlich die gesetzlichen Voraussetzungen dafür, daß man flexibler werden kann, daß sich Teilzeitarbeit auch wirklich lohnt? Wo ist denn die gesetzliche Bestimmung, die z. B. besagen würde, daß ein junger Mensch, wenn er heute mit Teilzeitarbeit beginnt, dennoch so sozialversichert und rentenversichert ist, als ob er eine Vollzeitarbeit hätte? Erst dann würde doch auch Teilzeitarbeit lukrativ werden.
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Oder: Wir lassen zu, daß im Bereich der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen 18 % der Beschäftigten - 18 %! - nicht mehr sozialversicherungspflichtig tätig sind. Das heißt, sie leben in ungeschützten Arbeitsverhältnissen. Das soll attraktiv sein? Sie verlieren ihren Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, sie verlieren in erheblichem Umfang den Anspruch auf Renten.
Das kann doch nicht Ausdruck von Flexibilität sein - vielleicht einer Flexibilität, wie sie sich die F.D.P. vorstellt. Aber ich meine, Flexibilität und Arbeitszeitverkürzung müssen immer mit sozialer Sicherheit verbunden sein. Sonst ist das kein ernsthaftes Angebot.
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Natürlich müssen wir über die ökologische Umgestaltung nachdenken. Ich glaube, die Zeit ist vorbei, wo man Ökologie und Soziales einander alternativ gegenüberstellt. Auch was die Arbeitsmarktpolitik betrifft, stimmt eher das Gegenteil.
Dann will ich Ihnen noch etwas zu einer Sache sagen, die mich wahnsinnig ärgert: Es wird immer über Lohnkosten und Lohnnebenkosten gesprochen, auch bei Ihnen. Es wird aber nie über Gewinne gesprochen. Die Gewinne sind viel schneller gestiegen als die Löhne. Was hat es denn gebracht? - Sie wollen sie ja immer noch weiter steuerlich entlasten, weil sie angeblich dann für Investitionen eingesetzt werden würden. Sie werden nicht zu arbeitsplatzsichernden und arbeitsplatzschaffenden Investitionen eingesetzt!
Im übrigen, Frau Hasselfeldt, verstehe ich auch nicht, daß Sie sagen, wir könnten doch nicht Lohnnebenkosten subventionieren, das will doch niemand, das wäre doch furchtbar. Ja, wieso eigentlich nicht? Statt nun Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe zu bezahlen, wäre es doch viel sinnvoller, dieses Geld zu nehmen und Lohnkosten und Lohnnebenkosten zu subventionieren. Dann wären die Menschen wenigstens noch zusätzlich in Erwerbsarbeit, und es würde gar nicht mehr kosten, ganz im Gegenteil: So ein Zuschuß ist billiger als Arbeitslosengeld; es würde sich also auch noch rechnen. Das wäre doch sehr viel sinnvoller als das, was wir gegenwärtig praktizieren.
Aber ich behaupte, wir brauchen dringend grundlegende Strukturveränderungen. All das ist letztlich ein Herumdoktern, und das bringt uns nicht weiter. Dazu nur folgendes: Ich denke, wenn wir das Finanzkapital nicht entprivilegieren, werden wir kein Investitionsklima erreichen. Ich will Ihnen dafür ein Beispiel nennen:
Täglich gibt es einen grenzüberschreitenden Güterverkehr im Wert von 13 Milliarden Dollar, aber täglich gibt es einen grenzüberschreitenden Devisenhandel von 900 Milliarden bis 1 Billion DM.
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- Ja, ich weiß, daß das kompliziert ist. Aber ich sage,
wenn wir das nicht erreichen, daß es sich nicht mehr in
erster Linie lohnt, das Geld zur Bank zu bringen,
sondern daß es wesentlich lohnender ist, in die Wirtschaft zu investieren, werden wir kein Investitionsklima schaffen, werden wir Massenarbeitslosigkeit nicht wirksam bekämpfen können. Solange ich mit Spekulation wesentlich mehr verdiene als mit Investition, werden Sie kein Investitionsklima erzeugen.
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Das könnte man steuerlich durchaus anders regulieren.
Oder ein Zweites: Warum denken wir denn nicht einmal darüber nach, Lohnnebenkosten wenigstens anders zu berechnen, auf einer anderen Grundlage, um sie vom Anreiz her nicht mehr so arbeitsplatzvernichtend zu gestalten, wie das heute der Fall ist? Wer hindert uns denn eigentlich daran, die Zahlungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Versicherungssysteme in etwa so zu belassen, wie sie heute sind, aber die Anteile der Unternehmen nicht mehr länger nach der Zahl der Beschäftigten und nach der Lohnsumme zu berechnen, sondern nach Umsatz und Gewinn? Das wäre doch wesentlich flexibler, denn das würde bedeuten, bei steigenden Umsätzen muß ich mehr einzahlen, bei sinkenden Umsätzen muß ich weniger einzahlen und brauche nicht sofort Arbeitskräfte zu entlassen. Für kleine Existenzgründungen würde es bedeuten, daß sie zunächst gar keine Lohnnebenkosten haben.
Aber es würde eben auch bedeuten, daß ein Unternehmen, das mit ganz wenig Beschäftigten riesige Umsätze macht, wesentlich mehr in diese Kassen einzuzahlen hätte. In einem konjunkturell schwachen Jahr müßte der Staat vielleicht etwas zuschießen, aber in einem konjunkturell starken bekäme er es zurück. Das wäre z. B. ein Ausdruck von Flexibilität.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schmidt?
Ja, selbstverständlich.
Ich bin die Kollegin Fischer, dem Kollegen Gysi aber, glaube ich, wohlbekannt.
Ja, wir sind aus demselben Wahlkreis. Das sieht man.
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Das erklären Sie mir dann später, ja?
Herr Kollege Gysi, Sie waren eben beim Stichwort der lohnenden Investitionen so besorgt, daß die Unternehmen ihre Gelder auf die Banken tragen könnten, anstatt sie zu investieren. Was für Investitionsanreize versprechen Sie sich denn davon, wenn Sie die Lohnnebenkosten, die seitens der Arbeitgeber zu tragen sind, über einen Anteil vom Umsatz und Gewinn finanzieren wollen? Welche investiven Impulse versprechen Sie sich denn dann von dieser Maßnahme?
Das sind zwei verschiedene Dinge. Beim ersten geht es mir darum, den Anreiz für Investitionen im Vergleich zur Spekulation zu erhöhen. Beim zweiten geht es darum, die sogenannten Lohnnebenkosten flexibel an Umsatz und Gewinn zu binden, um nicht sofort bei konjunktureller oder anderer Auftragsschwäche als erstes an die Entlassung von Arbeitskräften zu denken, weil wir eine andere Flexibilität in den Lohnnebenkosten hätten, so daß sozusagen die Beschäftigung nicht mehr so teuer wäre,
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aber die Einzahlungen bei großen Umsätzen zunehmen würden, unabhängig davon, daß dieser Betrieb möglicherweise viel weniger Beschäftigte hätte. Das sind sozusagen zwei verschiedene Instrumentarien.
Da käme noch ein drittes hinzu, wenn ich das als letztes auf Ihre Frage sagen darf. Es ist ja auch ganz wichtig, daß wir endlich lernen, bei Investitionen zu unterscheiden. Es gibt ja Investitionen, die Arbeitsplätze vernichten; die erhöhen ja ohnehin den Gewinn. Da muß ich nicht noch zusätzlich steuerlich begünstigen.
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Steuerlich begünstigen muß ich nur bei solchen Investitionen, die Arbeitsplätze erhalten oder Arbeitsplätze schaffen. Das wäre z. B. auch eine wichtige Regulierung, die wir vornehmen müssen.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Fischer, die ich zugleich um Entschuldigung bitte? - Wir lernen noch. Es sind so furchtbar viele Kolleginnen und Kollegen, deren Namen man sich neu merken muß.
Sie haben mein vollstes Verständnis für dieses Versehen.
Ich wollte nur noch einmal fragen: Sie sehen also gar keinen Widerspruch zwischen diesen beiden verschiedenen Strategien und glauben, daß sich die beiden widerspruchsfrei und parallel verfolgen ließen?
Ich würde sagen, daß sich beide parallel verfolgen lassen. Daß es da auch gewisse Widersprüche gibt, halte ich in unserem Wirtschaftssystem für völlig normal. Damit müssen wir leben.
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Aber die Wirkungen wären, wenn auch auf unterschiedlicher Ebene, gleichermaßen positiv für die Beschäftigung.
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Lassen Sie mich noch etwas zur Regulierung und zur Deregulierung sagen. Die F.D.P. fordert hier sozusagen eine Deregulierung in größtem Umfange. Ich sage Ihnen nur: Das würde bedeuten, die ohnehin Benachteiligten in der Gesellschaft weiter schwer zu benachteiligen.
Ist es für Sie Deregulierung, wenn wir z. B. den Schutz für Menschen mit Behinderungen aufgeben? Ist es für Sie Deregulierung, den Schutz für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzugeben?
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Brauchen wir nicht sogar umgekehrt mehr Schutz? Brauchen wir nicht mehr Förderung - gerade auch für die Beschäftigung von Frauen?
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Ich bin z. B. der Meinung: Wir werden irgendwann dahin kommen - Sie können diesen historischen Prozeß zwar zeitlich verzögern, aber aufhalten können Sie ihn nicht -,
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daß wir sogar Quoten bei Einstellungen und Entlassungen bekommen. Das wird auch höchste Zeit; denn sonst kommen wir nämlich in der Frage der Gleichstellung der Geschlechter nicht ernsthaft weiter.
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Natürlich brauchen wir auch eine Umbewertung gesellschaftlicher Arbeit, wie es hier von der Vertreterin des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gesagt wurde. Wir brauchen eine soziale Anerkennung der vielen Arbeit, die es zwar gibt, aber die gegenwärtig nicht bezahlt wird. Das werden wir auch noch - davon bin ich überzeugt - trotz allen konservativen Widerstands erleben.
Natürlich brauchen wir für beschäftigungspolitische Maßnahmen auch Geld. Es tut mir leid, aber ich sage Ihnen - auch wenn Ihnen das nicht gefällt -, wie die Situation heute ist: Das obere Fünftel unserer Gesellschaft weiß 56 % des Gesamtvermögens und 68,5 % des Geldvermögens hinter sich. Das untere Fünftel unserer Bevölkerung hat 7 % des Gesamtvermögens und 1 % des Geldvermögens hinter sich. Ein Fünftel in unserer Gesellschaft besitzt 1 % des Geldvermögens! Das ist geradezu eine irrwitzige soziale Ungerechtigkeit, die dahinter steckt.
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- Das war nun wirklich nicht das Problem. Die DDR hatte wirklich viele Probleme, aber der Reichtum war nicht ihr Problem. Das können Sie mir glauben.
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Ich sage Ihnen noch etwas: Die Steuern und Abgaben auf die Arbeitseinkommen sind von 1989 bis 1993 von 29,9 % auf 33,4 % gestiegen, die Steuern und Abgaben auf Gewinn und Vermögenseinkommen aber von 21,8 % auf 17,9 % gesunken. Genutzt hat uns das gar nichts. Damit will ich sagen: Es gibt in dieser Gesellschaft nicht zuwenig Geld. Man muß es sich nur von den Richtigen holen.
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Dann lassen sich soziale Gerechtigkeit und Arbeitsmarktpolitik auch finanzieren.
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Im übrigen sage ich Ihnen nur eines: Schauen Sie sich die Opposition an, wenn es um Arbeitsmarktpolitik geht. Die ist fast vollständig hier. Dann schauen Sie sich einmal Ihre Reihen an. Das zeigt die wirkliche Interessenlage.
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Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle sagen, die Arbeitslosigkeit sei das wirtschaftliche Hauptproblem. Alle sagen auch, man brauche die Finanzpolitik, man brauche die Sozialpolitik, die Wirtschafts- und die Technologiepolitik, Forschung, Bildung und Wissenschaft. Ich halte es angesichts einer Zahl von 3,7 Millionen Menschen ohne Arbeit - laut Statistik -, angesichts einer Zahl von 5 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen für eine Mißachtung des Parlaments, schlimmer noch, für eine Mißachtung der Menschen, die davon betroffen sind, daß hier weder der Bundeswirtschaftsminister noch der Bundesfinanzminister, noch der sogenannte Zukunftsminister anwesend sind, schon gar nicht der Bundeskanzler. So kann man mit diesem Thema nicht umgehen!
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Der eine müßte was sagen zum Geld und zu seinem Widerwillen, es zur Verfügung zu stellen, damit Arbeitslosigkeit endlich abgebaut wird. Von dem anderen erwarten wir überhaupt keine Konzepte mehr. Er sagt ja selbst von sich: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht. Die beste Begründung für die Entlassungsurkunde, die man sich überhaupt vorstellen könnte!
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Der dritte sollte etwas sagen über Zukunftstechnologien und ist vermutlich nicht hier, weil sich jetzt schon abzeichnet, daß mit dem Haushalt 1995 den großen Sprüchen der Regierungserklärung überhaupt keine Taten folgen werden.
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Und dann sitzt da Norbert Blüm.
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Wir haben ja - das sage ich hier einmal persönlich - durchaus Respekt, weil wir wissen, daß er wenigstens versucht, in die richtige Richtung zu streiten. Diese Anerkennung will ich Ihnen nicht verweigern, Herr Bundesminister. Aber wie man das mit einem solchen Kabinett und mit solchen sogenannten Partnern machen kann, das erschließt sich mir nicht.
Nun gut, die Ergebnisse sind ja auch entsprechend. Dieser Bundesregierung fehlen der Mut und das Konzept, eine integrierte, aufeinander abgestimmte Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu betreiben,
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und das in einer Situation, in der man viele große deutsche Städte zusammenfügen müßte, um das riesige Potential an arbeitslosen Mitbürgerinnen und Mitbürgern überhaupt erfassen zu können. Die höchste Arbeitslosigkeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir 1994 erlebt. Diese Art der Behandlung durch Nichtanwesenheit und durch Mißachtung von Menschen wird dazu beitragen, daß sie sich ausgegrenzt und mißachtet fühlen. Sie sind doch selbst mit Ihrer Kälte und Ihrer Mißachtung mitverantwortlich dafür, daß viele Menschen kein Vertrauen mehr haben in den Willen der Politik und der Regierenden, ihre Probleme ernst zu nehmen und zu ihrer Lösung beizutragen.
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Was soll denn eine Frau im Osten oder Westen Deutschlands, was soll ein langfristig Arbeitsloser, was soll ein 54jähriger, den man aus dem Betrieb rausgekegelt hat, sagen, was sollen die vielen Menschen sagen, die mittlerweile durchschnittlich 29 Wochen arbeitslos sind, wenn sich die Politik dieser Bundesregierung darin erschöpft, mal das eine oder andere und dann auch noch nach der Methode des Hü oder Hott zu betreiben?
Ich will durchaus respektieren, daß nach erheblichem Druck in der Öffentlichkeit, nach vielfältigen Forderungen der Gewerkschaften, nach intensiven Vorschlägen der Sozialdemokratie jetzt auf dem Felde der langfristigen Arbeitslosigkeit etwas getan werden soll. Aber es ist nur etwas; es ist nur ein Schritt. Vor allen Dingen leidet dieser Schritt darunter, daß diese Bundesregierung zum Ende des Jahres 1994 genau das hat auslaufen lassen, was sie jetzt wieder neu auflegen will. Ich muß Sie mal fragen: Wie soll denn Vertrauen in die Langfristigkeit und in die Ernsthaftigkeit von Politik entstehen, wenn Sie innerhalb von wenigen Wochen erklären: „Das brauchen wir nicht mehr", um dann dem erstaunten Publikum und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen: „Nun machen wir es wieder, es ist verantwortungsbewußte Politik"? So entsteht keine Orientierung, und diese ist Ihnen ja auch schon lange verlorengegangen.
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Wir schlagen in unserem Antrag vor, die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik klug zu verzahnen. Dazu gehört Wachstum; dazu gehört Arbeitsmarktpolitik; dazu gehört eine Verteilung des Arbeitsvolumens. Es geht nicht um die Frage, ob alles wachsen sollte. Man muß schon schauen: In welche Felder könnte investiert werden? Wer kann das tun? Welche Hilfe kann man ihm gehen? Dabei fällt mir dann doch ein, daß Deutschland als ein Standort für Investitionen, die nicht allein rationalisieren, so notwendig das ist, und nicht allein die Produktivität erhöhen, so notwendig das ist, sondern auch Arbeitsplätze schaffen, zunehmend weniger attraktiv geworden ist.
Jetzt will diese Bundesregierung die Gewerbekapitalsteuer abschaffen, 16 der Betriebe begünstigen. Dann reicht sie leise Vorschläge herum, man wolle eine Beteiligung der Gemeinden an der Mehrwertsteuer - was automatisch in ihre Erhöhung münden wird - und wolle diese Beteiligung nach der in den Betrieben gezahlten Lohnsumme verteilen. Wissen Sie, wozu das führt? Das wird erneut dazu führen, daß kapitalintensive Betriebe steuerlich entlastet und arbeitsplatzintensive Betriebe zusätzlich belastet werden. Wie kann man eine solche Politik verfolgen und gleichzeitig sagen, man bekämpfe die Arbeitslosigkeit?
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In Ihrer praktischen Politik belasten Sie genau diejenigen, die für die Mehrzahl der Arbeitsplätze und den überwiegenden Teil der Ausbildungsplätze Verantwortung tragen, nämlich Handwerk und Mittelstand.
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Sie begünstigen jene, die im Zweifel nach einem neuen Fall Schneider sagen, auch das seien Peanuts gewesen.
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Ich halte es für unverantwortlich, mit öffentlicher Finanzpolitik eine solche leichtfertige Unternehmenspolitik noch zu honorieren.
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Deutschland muß ein Standort für Innovation sein. Da aber werden die Mittel heruntergefahren. Wir sind in der Reihe der industrialisierten Staaten auf dem vierten Platz, was die Aufwendungen für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie angeht, freilich nicht von vorne, sondern von hinten. Es gibt Menschen, die sagen - man kann einmal eine solche Grundüberlegung zur Debatte stellen, was ich hiermit tue -: Kann es sich Deutschland leisten, durch steuerliche Privilegierung und anderes immer noch mehr Geld und Phantasie in Beton und Boden zu lenken anstatt in neue Technologien, in die Existenzgründung und die Entwicklung neuer Produkte?
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Wir sind der Meinung, das geht so nicht weiter. Wir brauchen die Entwicklung von intelligenten und umweltverträglichen Verkehrssystemen, wir brauchen alternative Exportmittel, wir brauchen Umwelt- und Entsorgungstechnik, im Bereich der Pharmazie muß einiges getan werden, auch wegen der Verbindung zum Gesundheitswesen, die Veredelung industrieller Produkte muß vorangebracht werden, auch die Informations- und Kommunikationstechnologie - um nur einige Felder zu nennen.
Nun hätte ich gedacht, daß die spärliche Zahl anwesender CDU-Abgeordneter wenigstens leise
Beifall klatscht. Denn das sind die Vorschläge von Lothar Späth und Herrn Henzler von McKinsey in einem interessant zu lesenden Buch, in dem im übrigen der Wirtschaftspolitik ganz generell bescheinigt wird, sie wurstelt nur, sie schaut nur auf den nächsten Wahltermin. Den haben Sie gerade mit Ach und Krach hinter sich gebracht. Aber das ersetzt keine Konzeption, die Menschen helfen soll, in Deutschland wieder Arbeit zu finden.
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Ich habe registriert, Sie wollen gelegentlich über Fragen der Ausbildung reden. Wo ist die öffentliche klare Kritik des Bundeswirtschaftsministers und anderer an dem verhängnisvollen Verhalten großer Industriebetriebe, Ausbildungsplätze immer weiter zu reduzieren?
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Wo ist die Anerkennung für Handwerk und Mittelstand, auf die sich große Industriebetriebe bei der Ausbildung zunehmend verlassen? Zu sagen, das greifen wir später auf, wir stehen Gewehr bei Fuß, und wir wollen jetzt nichts tun, um nicht der Industrie ein falsches Signal zu geben, das ist genau jene Untätigkeit, die die Dinge laufen läßt, die nicht weiterlaufen dürfen.
({14})
Arbeit ist in Deutschland nur auf der Grundlage einer anständigen Ausbildung vorstellbar. Die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Ingenieure, der Selbständigen, ihre Kreativität, ihr Mut, ihr Verantwortungsbewußtsein: das sind die Rohstoffe, die wir in Deutschland haben und die wir pflegen müssen. Sie haben in den letzten Jahren - das sage ich auch mit Blick auf die Zukunft - mit dem wichtigsten Rohstoff Schindluder getrieben, den wir haben, um wettbewerbsfähig zu sein und Arbeitsplätze zu bekommen.
({15})
Ich finde den Streit ziemlich akademisch, ob erst die Investitionskonjunktur oder erst die Kaufkraft oder anderes anspringen müsse. Eines weiß ich allerdings sehr genau: Eine Politik, die es den Tarifpartnern mit steuerlicher Belastung zunehmend schwerer macht, zu verantwortbaren, vernünftigen, konsensualen Lösungen zu kommen, müßte in Deutschland endlich ein Ende haben. Es ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit und gegen die wirtschaftliche Vernunft, jetzt den Solidaritätszuschlag von allen zu erheben. Sie senken die Kaufkraft, Sie erschweren die Tarifverhandlungen, Sie gefährden die Rentenanpassung. Das sind alles Dinge, die wir in Deutschland jetzt nicht brauchen können und die Sie vielleicht einmal bedenken und korrigieren sollten.
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- Wer das beschlossen hat? Ich war bei dieser Runde
anwesend. Ich erinnere mich sehr genau an die
Zusage des Bundesfinanzministers und anderer, eine sozialverträgliche Lösung zu suchen, die nicht alle unten so stark belastet. Diese Zusagen haben Sie gebrochen. Glauben Sie im Ernst, ich verteidige ein Konzept, das die Bundesregierung vom ersten Tag seiner Verabschiedung an nicht ernst genommen hat? Ich denke überhaupt nicht daran!
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Ohne aktive Arbeitsmarktpolitik wird nichts gehen. Neben einer konkreten Wachstums- und Technologiepolitik muß die aktive Arbeitsmarktpolitik helfen. Sie aber haben eine Politik verfolgt, die durch Kürzung der Hilfen an langfristig Arbeitslose, durch Kürzung der ABM-Mittel und anderer Mittel dafür gesorgt hat, daß in den letzten Jahren zusätzlich 700 000 Menschen arbeitslos geworden sind.
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Sie müssen uns nicht erzählen, wie eine aktive Arbeitsmarktpolitik aussehen könnte. Nein, man kann etwas nicht erst streichen, um es anschließend wieder einzuführen. Dann kommt die F.D.P. und sagt: Wir begrüßen das, Norbert Blüm will das, Helmut Kohl duldet das, und Herr Waigel will es nicht finanzieren.
Meine Damen und Herren, mein Kollege Schreiner hat dazu alles Notwendige gesagt, aber ich will nur noch einmal unterstreichen: Wir werden unbeschadet dieses Antrags Ihnen relativ rasch Vorschläge zu einer Verbesserung, zu einer Reform des Arbeitsförderungsgesetzes auf den Tisch legen. Das haben wir schon in der letzten Legislaturperiode getan.
Wir sind davon überzeugt, daß wir so notwendig dieser Konsens auf den Spitzenebenen ist, auch den Konsens im regionalen Bereich finden müssen, die Zusammenarbeit zwischen Handwerkern, Selbständigen, Unternehmern, Arbeitnehmern, Betriebs- und Personalräten auch auf der regionalen Ebene, und daß die Arbeitsmarktpolitik nicht allein durch bundesweit einheitliche Regelungen, sondern auch durch regional unterschiedliche Phantasie und Kreativität angereichert und vorangebracht werden muß.
({19})
Es kommt hinzu, daß das Volumen der Arbeit gerechter verteilt werden muß. Wir haben nicht vergessen, daß dieselben, die vom Freizeitpark gefaselt haben und davon redeten, es sei absurd, dumm und töricht, die Arbeitszeit zu verkürzen, mittlerweile jene sind, die mit großzügiger Geste und einer Mischung aus Arroganz und Heuchelei sagen, die Gewerkschaften seien auf dem richtigen Weg. Das sind sie schon seit Mitte der 80er Jahre.
({20})
Denn sie haben vorgeschlagen, die Maschinenlaufzeiten von der persönlichen Arbeitszeit abzukoppeln,
Maschinen länger laufen und Menschen kürzer arbeiten zu lassen, die Arbeitskraft flexibler einzusetzen und intelligenter zu organisieren, die Arbeitszeit zu verkürzen und auch mit Teilzeitarbeit einen Beitrag dazu zu leisten, nicht zuletzt Überstunden abzubauen. Nicht jede Überstunde wird abgebaut werden können, aber daß es in einem Land, in dem 3,7 Millionen Menschen keine Arbeit haben, weder von der Arbeitszeitgesetzgebung noch von der Steuergesetzgebung, weder von den Mitbestimmungsregeln der Personalräte und Betriebsräte noch von anderswo einen Anreiz gibt, Überstunden abzubauen, daß im Gegenteil Anreize gegeben werden, noch weitere aufzuhäufen, halte ich allerdings - milde gesagt - für kontraproduktiv. Es werden in einem Jahr 1,7 Milliarden Überstunden gemacht. Das entspricht dem rechnerischen Gegenwert von einer Million Arbeitsplätzen. Wir sollten uns vornehmen, wenigstens die Hälfte dieser Überstunden abzubauen, damit andere, die Arbeit suchen, wieder eine faire Chance bekommen.
({21})
Die Jüngeren werden zunehmend Probleme bekommen, die zweite Beschäftigungsschwelle zu überschreiten. Die Frauen werden immer stärker als konjunkturelle Reserve mißbraucht.
Und die Bundesregierung? Sie sagt, die Arbeitszeitgesetzgebung sei vernünftig, obwohl jeder Sachkundige das Gegenteil weiß, und sie fügt hinzu, die Gewerkschaften seien jetzt auf dem richtigen Weg. Die Arbeitgeberverbände, insbesondere die Herren Murmann und Stihl, akkordieren das mit der Forderung nach Samstagsarbeit und wollen der deutschen Öffentlichkeit weismachen, das gäbe es nicht. Aber immerhin ein Drittel aller Beschäftigten in Deutschland arbeitet regelmäßig am Samstag, und in den letzten drei Jahren ist der Umfang der Arbeit an Samstagen zurückgegangen. Wenn es ein wirtschaftliches Bedürfnis gäbe, dann müßte der Trend eigentlich andersherum sein. Er ist es aber nicht. Es gibt nur ein Bedürfnis, Kostensenkungsstrategien durchzuziehen. Das steckt eigentlich dahinter. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden weder bei der Arbeitsmarktpolitik noch bei der Wirtschaftspolitik, noch bei anderen ein zukunftsweisendes Konzept finden, wenn Sie es nur unter dem Gesichtspunkt der Kostensenkung und nicht auch unter dem Gesichtspunkt einer fairen Verteilung von Arbeit und übrigens auch von Belastungen, die mit Steuern und Sozialabgaben zu tun haben, betrachten.
({22})
Es muß mit einer Politik in Deutschland ein Ende haben, die auf öffentlichen Plakaten dauernd verkündet, sie wolle die Arbeit voranbringen, Arbeitsplätze schaffen und die Arbeitslosigkeit bekämpfen, die aber in der Realität durch Lohnnebenkosten, durch steuerliche Belastung, durch die Schnapsidee der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer real nichts anderes bewirkt als eine Belastung genau jener Betriebe, die
50 % der Arbeitsplätze und 80 % der Ausbildung in Deutschland garantieren.
({23})
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung hat weder Mut noch ein Konzept. Sie hat keine langfristig angelegte, orientierende, glaubwürdige wirtschafts-, finanz- und arbeitsmarktpolitische Strategie. Sie hat eine gewisse Kunst des arbeitsmarktpolitischen Gestammels entwickelt nach der Methode Hü oder Hott, rein oder raus, abschaffen oder wieder neu auflegen. Dazu fällt mir nur ein Satz von Erich Kästner ein: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Tun Sie endlich etwas, anstatt immer nur zu reden!
({24})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Joachim Hörster ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fühle mich durch die Rede des Kollegen Scharping insoweit angesprochen, als er nach meinem Dafürhalten in einer nicht gehörigen Weise die Abwesenheit des Bundeskanzlers, des Bundesfinanzministers und des Zukunftsministers gerügt hat.
({0})
Zu Beginn dieser Debatte habe ich mit dem Kollegen Struck besprochen, wer auf der Regierungsbank anwesend sein solle. Er hat mir erklärt, es sei für ihn zufriedenstellend und ausreichend, wenn der Bundesminister Blüm anwesend sei und in dieser Debatte rede. Ich habe den Kollegen Struck gefragt, ob er weitere Mitglieder der Regierung wünsche, insonderheit den Bundesminister für Wirtschaft. Er hat dies verneint.
Wenn dies so besprochen worden ist, halte ich es für unanständig, dann zu rügen, daß die entsprechenden Regierungsmitglieder im Vertrauen darauf nicht anwesend sind;
({1})
denn wir haben überhaupt keine Probleme, Herr Kollege Scharping, uns mit der Arbeitsmarktpolitik, die Sie dort betreiben, wo Sie sie zu verantworten haben, in den Ländern, auseinanderzusetzen.
({2})
Da würden wir gerne den Stein der Weisen suchen, wenn Sie ihn denn hätten. Ich fände nur, es wäre gut, wenn wir in der parlamentarischen Beratung bestimmte Umgangsformen miteinander wahren würden.
({3})
Das Wort zur Gegenrede hat der Kollege Rudolf Scharping.
Herr Kollege Hörster! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es vor allen Dingen höchst beachtlich, daß weder der Bundeskanzler noch andere überhaupt den Willen haben, an einer solchen Debatte teilzunehmen.
({0})
Herr Kollege Hörster, Sie werden verstehen, daß ich Ihre Hinweise auf die Länder und Gemeinden mit dem ebenso deutlichen Hinweis darauf beantworte, daß bisher niemand die Absicht hat, die Länder und Gemeinden an solchen Aktivitäten zu beteiligen. Das liegt in der Verantwortung der Bundesregierung.
({1})
Ich nutze die Gelegenheit, um zwischendurch zwei weitere Ergebnisse bekanntzugeben.
Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes. Abgegebene Stimmen: 639, gültig: 631, Enthaltungen: keine, ungültig: 8. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU 290, auf den Vorschlag der Fraktion der SPD 224, auf den Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 46, auf den Vorschlag der Fraktion der F.D.P. 47 und auf den Vorschlag der PDS 24 Stimmen.
Nach dem Höchstzahlverfahren d'Hondt entfallen auf den Wahlvorschlag der CDU/CSU 8 Mitglieder, auf den Vorschlag der Fraktion der SPD 6 Mitglieder, auf den Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1 Mitglied, auf den Wahlvorschlag der F.D.P. 1 Mitglied und auf den Wahlvorschlag der PDS kein Mitglied.
Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die Mitglieder und ihre Stellvertreter in der Reihenfolge gewählt, in der ihr Name auf dem Vorschlag erscheint. Die Namen der gewählten Mitglieder und Stellvertreter entnehmen Sie bitte der Drucksache 13/307.
Wahl des Wahlausschusses gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht.* )
Abgegebene Stimmen: 636, davon gültig: 627, Enthaltungen: keine, ungültig: 9. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Vorschlag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. 336, auf den Vorschlag der Fraktion der SPD 221, auf den Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 47 und auf den Vorschlag der Gruppe PDS 23 Stimmen.
Nach dem Höchstzahlverfahren d'Hondt entfallen auf den Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. 7 Mitglieder, auf den Vorschlag der Fraktion der SPD 4 Mitglieder, auf den Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1 Mitglied und auf den Vorschlag der Gruppe PDS kein Mitglied.
Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht sind die Mitglieder und die Ersatzmitglieder in der Reihenfolge gewählt, in der ihr
* ) Diese Wahl ist noch während der Plenarsitzung angefochten worden.
Name auf dem Vorschlag erscheint. Die Namen der gewählten Mitglieder und deren Stellvertreter entnehmen Sie bitte der Drucksache 13/306.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lasse mir den heutigen Tag durch nichts, aber auch durch gar nichts, sei es noch so kleinkariert, vermiesen; denn wir haben gestern einen guten Tag für den Sozialstaat Deutschland gehabt. Sozialpartner und Bundesregierung ziehen an einem Strang; das ist die wichtigste Nachricht für die Arbeitslosen und für unseren Sozialstaat.
({0})
Warum versuchen Sie pausenlos, Anklagebänke zu besetzen? Schwarzer Peter zu spielen kann ganz unterhaltsam sein; aber wir schaffen es nur zusammen. Weder die Gewerkschaften noch die Arbeitgeber, noch die Bundesregierung schaffen das alleine,
Daß wir uns gestern abend auf ein Konzept verständigt haben, und zwar nicht nur als Absichtserklärung, mit dem wir den Langzeitarbeitslosen konkret helfen, halte ich für eine wichtige Nachricht. Das sollten wir alle heute unterstützen.
({1})
Das Gespräch war übrigens offen und konstruktiv. Meine Damen und Herren, was ich als Ergebnis nicht nur des gestrigen Abends für wichtig halte: Es gibt in unserem Sozialstaat immer noch einen Fundus von Gemeinsamkeit, der uns hilft, Schwierigkeiten zu meistern.
({2})
- Manchmal, im Pulverdampf von Auseinandersetzungen, kann das schon einmal in Vergessenheit geraten.
Es gibt Interessenunterschiede. Mein Gott, wir sind kein Gesangverein! Aber es gibt doch noch immer einen breiten Fundus von Gemeinsamkeiten. Ich kenne beispielsweise weit und breit keine Gewerkschaftsbewegung der Welt mit einer so hohen Verantwortung, wie sie in Deutschland noch immer zu Hause ist, bei aller Kritik.
({3})
Ich kenne auch weit und breit keine Sozialkultur, in der Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammen in einer Selbstverwaltung arbeiten. Warum freuen Sie sich nicht mit mir darüber?
Das war übrigens das Erfolgsgeheimnis des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit, und das ist auch die Voraussetzung, daß wir die Probleme dieser Zeit lösen. Wir sind nicht die Besprecher, wir sind die
Bearbeiter der Probleme! Besprecher haben wir genug.
({4})
- Mundwerker kenne ich viele, Diagnostiker kenne ich auch viele. Wissen Sie, die Sozialpolitik lebt von konkreten Vorschlägen, nicht von grünen und anderen Seifenblasen, sondern von handfesten Vorschlägen.
({5})
Darauf warte ich.
({6})
- Ja, das kenne ich ja alles.
Wir brauchen nicht darüber zu streiten, daß Arbeitslosigkeit die größte Herausforderung ist, erstens für den Sozialstaat - er wird aus der Arbeit bezahlt -, zweitens für die Betroffenen, und zwar nicht nur materiell. Sehr richtig, es geht nicht nur um Geld, es geht nicht nur um Einkommen, es geht urn tausende, um Millionen Schicksale, um Menschen, die mitwirken wollen. Arbeit ist ein Teilhaberecht, ist mehr als nur Einkommensrecht.
Aber, Herr Scharping, ich glaube, da liegen die Unterschiede. Ich höre beim Kollegen Schreiner immer heraus - und ich habe das auch bei Ihnen als Hauptbetonung gehört -, als sei die Regierung, als sei der Staat für die Arbeitsplätze zuständig. Haben Sie eigentlich noch nicht genug Lehrgeld gezahlt? In der DDR hatten wir Staatswirtschaft; das ist doch alles in die Hosen gegangen!
({7})
Wenn das 1945 einer behauptet hat, kann ich es ja noch verstehen. Wie einer 1995 noch alle seine Hoffnungen darauf setzt, ist mir unbegreiflich. Ich höre immer nur: Staat, Staat, Paragraphen, Geld!
Das Hauptthema unserer Volkswirtschaft ist: Wir haben Produktionsverspätung, wir haben Innovationserlahmung. Wir sind zu bequem geworden. Wir sind beim Fortschritt eingeschlafen. Das ist unser Thema!
({8})
Und, Herr Scharping, ich will die Politik ja nicht aus dem Spiel drängen. Jeder muß seine Hausaufgaben machen. Aber vielleicht liegen die Innovationshemmnisse auch in einer sozialistischen, in einer sozialdemokratischen Politik, die gegenüber technischen Neuerungen immer ängstlich war. Wer hat denn den Transrapid gebremst, Herr Scharping?
({9})
Wer hat ihn nicht fahren lassen? Diese Bundesregierung oder Herr Rau? Und Herr Rau gehört der SPD an. Was nützen mir denn all die schönen Bekenntnisse zum technischen Fortschritt? Ein Gegenwind, und
dann ist die ganze SPD nicht zu sehen. So war es beim Transrapid.
({10})
Wie war es bei der Gentechnik? Wir haben doch einen Teil der Entwicklung in der Tat verschlafen. Das können wir wieder aufholen.
({11})
- Herr Fischer, Sie melken doch die Frustration, das ist doch Ihre einzige Milchkuh, die Sie haben!
({12})
Für etwas zu sein scheint mir heute fast mutiger zu sein als gegen etwas. Wir sind in einer Vetogesellschaft. Früher waren die Radfahrer die Jasager; heute, fürchte ich, sind die Neinsager die Opportunisten. Es fehlt uns Mut zu neuen Projekten, zum Durchsetzen auch risikoreicher Projekte, bis hin zur Kerntechnologie.
({13})
Herr Fischer, glauben Sie denn, unsere Sicherheit wäre größer, wenn wir aus der Kerntechnologie ausstiegen, aber die alten Klamotten in Tschernobyl weiter in Betrieb sind? Wäre es nicht wichtiger, an einer Weiterentwicklung der Kernenergie mitzuarbeiten, hin zu größerer Sicherheit? Das ist Fortschritt, das ist Innovation.
({14})
- Warum sind Sie denn so aufgeregt? Hören Sie mich ganz ruhig an!
({15})
- Nein, ich bin nicht der größte Schwätzer, ich bin der größte Entlarver.
({16})
Herr Schreiner, ich lese Ihre Rede vor. Da hieß es immer nur Staat, AZO und noch ein Paragraph. Die einzige Beschäftigung, die Schreiner und Konsorten schaffen, sind Planstellen im Überwachungsstaat. Das ist das einzige, was Sie schaffen!
({17})
Und noch etwas: Sie wollten doch eine AZO, die den Gewerkschaften die Tarifpolitik abnimmt. Sie wollten doch die Überstunden per Gesetz regeln. Wozu haben wir eigentlich Betriebsräte? Wozu haben wir Verantwortung im Betrieb?
({18})
- Zu den Überstunden werde ich gleich Stellung nehmen.
({19})
- Mein Gott, ich glaube, ich habe den Nerv der staatsgläubigen Sozialdemokraten getroffen - staatsgläubig, Paragraphenverehrer, Fetischisten obrigkeitlicher Weisungen!
Was wir brauchen, ist wirklich ein Aufstand von Innovation. Sehen wir uns einmal die Arbeitsorganisation an, Herr Scharping. Als IG-Metaller, der ich bin, entsinne ich mich noch an eine große Mitbestimmungsdiskussion. Da waren diejenigen, die für Mitbestimmung am Arbeitsplatz waren, die die Gruppe in den Mittelpunkt stellen wollten, Ihr Genosse Matthöfer und ich, am Rande eines Ausschlußverfahrens, weil man da oben, beim lieben Gott im Himmel, gegenüber Mitbestimmung immer mißtrauisch war. Man war immer mißtrauisch gegenüber den Initiativen von unten. Das hat die deutsche Wirtschaft auch verpennt.
({20})
Sie hat jenes Potential von Erfahrung, von Initiative am Arbeitsplatz verpennt.
Wenn über die Hierarchie und über die Bürokratie des Staates gesprochen wird - sehr zu Recht -: Da muß entkalkt, entbürokratisiert werden. Aber ich kenne Großbetriebe, die sich in Sachen Hierarchie und Bürokratie nicht hinter dem Staat zu verstecken brauchen. Ich habe nicht gesehen, wie die Mitbestimmung genutzt werden konnte, um dieses Dickicht von Anweisungen wirklich aufzulockern.
Wir brauchen auch eine neue Organisation der Arbeitszeit. Der Kolonnenfeldwebel Schreiner
({21})
hat doch die Flexibilisierung immer mies gemacht. Ich entsinne mich noch daran, als wir hier den befristeten Arbeitsvertrag vorgeschlagen haben, um gerade am Anfang eines Konjunkturaufschwungs etwas Bewegung hineinzubringen. Soll ich Ihnen Ihre Reden noch einmal vorlesen? - Lesen Sie einmal im Protokoll nach! Da bin ich von Ihnen zum Arbeiterverräter erklärt worden. Flexibilisierung war doch Teufelswerk! Und heute ist sie für Sie das Gegenteil!
({22})
- Mein Gott, ich will Ihnen ja Ihre Sünden nicht vorhalten. Ich sage nur: Sturheit, dein Name sei SPD!
({23})
So ist es gewesen. Und jetzt lockert sich Ihre starre Haltung allmählich.
({24})
- Gott sei Dank sind Sie besonders klug, und deshalb begrüße ich Sie sehr herzlich. - Meine Damen und Herren, ich bin ja gar nicht für übertriebene Vergangenheitsbewältigung. Aber ich bin dafür, daß Sie aus Ihren Fehlern lernen, daß Sie dem Staat weniger und der Initiative in den Unternehmen mehr zutrauen, mehr der Selbstregelung von Gewerkschaften, Betriebsräten und Unternehmern. Das ist unser Weg.
Zur Teilzeit: Warum sind wir denn auf diesem Gebiet ein Entwicklungsland? - Weil wir den Parademarsch auch in der Arbeitswelt auf fast militärische Weise bevorzugen. Warum haben die Holländer doppelt soviel Teilzeitarbeitsplätze wie wir? - Im Kopf fängt es an, im sozialdemokratischen Kopf! Sie haben immer gern die Kolonne gehabt, und wir sind für den zivilen Schritt, für Flexibilität, sozial abgesichert.
Ich glaube, die Teilzeit hat mehr als eine Chance. Sie hat u. a. zum erstenmal die Chance, wieder Lebensrhythmus und Arbeitsrhythmus miteinander in Kombination zu bringen. 200 Jahre haben wir die Lebensphasen stur und abrupt gegeneinander abgeschottet. Wir haben es mit Gesetzen zementiert, und mit Gesetzen allein werden wir es nicht auflösen.
Seit über zwei Jahren haben wir ein Gesetz für Altersteilzeitarbeit. Man kann sein Alterseinkommen aus einer Teilrente und einem Teileinkommen zusammensetzen. Das Gesetz ist da. Aber was nicht da ist, sind diejenigen, die die Altersteilzeit in Anspruch nehmen. Es sind etwas über 2 000; man braucht ein Mikroskop, um die Zahl überhaupt zu erkennen.
({25})
- Wissen Sie, woran es liegt? - Es liegt nicht an den Paragraphen. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Teilzeitarbeitsplätzen. Es fehlt an einem Angebot, das nicht nur auf der Hauptstraße der Vollerwerbstätigkeit organisiert wird.
({26})
- Nicht Schwadroneur! Wenn Sie schreien, muß ich Ihnen sagen: Das ist nicht die einzige Form, in der man sich mitteilen kann.
({27})
- Ich muß doch gegenkalten. Wir können uns auch auf das Verfahren einigen, daß Sie etwas stiller sind und ich etwas ruhiger bin. Ich gehe jede Gangart mit. Ich boxe in jeder Gewichtsklasse, wie Sie es haben wollen!
({28})
Erforderlich sind also: Produktinnovation, Arbeitszeitorganisation, neue und vielfältige Formen der Arbeitszeiten - und dies nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert-, neue Beschäftigungsfelder.
Die größte Herausforderung sehe ich darin: Was passiert eigentlich mit denjenigen, die es trotz konjunkturellen Aufschwungs schwer haben, in die Erwerbsgesellschaft zu kommen? Die Nachricht, die uns wirklich beunruhigen muß, ist, daß rund drei Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte in den nächsten zehn Jahren wegfallen. Da kann die Konjunktur boomen, wie sie will, sie fallen weg. Wie antworten wir darauf? Ich antworte mit Qualifikation, aber nicht nur in der herkömmlichen Form. Auch dieses Problem läßt sich wiederum nicht durch Paragraphen, nicht allein durch Geld lösen. Wir brauchen neue Beschäftigungsfelder. Geben Sie beispielsweise die Blockade auf, den Haushalt vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Im Haushalt gibt es neue Beschäftigungsfelder auch für solche, die in Hochtechnologiebereichen nicht unterkommen. In der Pflege werden Begabungen
gebraucht, die dazu befähigen, eine ältere Mitbürgerin zu pflegen, zu waschen und zu betreuen. Das ist eine mindestens so hohe Begabung wie die, die Einsteinsche Relativitätstheorie erklären zu können.
Eine neue Hierarchie der Werte, z. B. Menschen bedienen zu können, ist wiederum nicht mit Paragraphen, nicht mit Geld herzustellen. Das setzt eine mentale Veränderung voraus. Die Pflegeversicherung bietet dafür im übrigen die institutionelle Antwort. Aber Institutionen bleiben ein leeres Gehäuse. Ich warne davor, die Pflege überzuprofessionalisieren und nur noch den zuzulassen, der ein Fachhochschuldiplom hat.
({29})
Was die Qualifikation anbelangt - auch Frau Beck hat sie angesprochen -, glaube auch ich, daß sie das große Thema der Zukunft ist. Allerdings betrifft dies wiederum nicht nur den Staat. Ich halte es für die Pflicht des Unternehmens, nicht nur für technologische Erneuerung, sondern auch für personelle Qualifikation zu sorgen. Ich bedaure mit Ihnen - dieser Kritik schließe ich mich, nicht erst hier, ausdrücklich an; dies gilt auch für Ihre Kritik, Herr Scharping -, daß sich viele Großbetriebe unter dem Stichwort „schmales Management" auf diesem Gebiet aus ihrer Pflicht herausbegeben. Ich halte das für eine kurzsichtige Unternehmenspolitik.
({30})
- Es war gestern ein Thema.
Das kann nicht an objektiven Schwierigkeiten liegen. Nehmen Sie das Beispiel dreier Automobilwerke, also gleiche Branche, ungefähr gleiche Größe: Das eine reduziert auf null Lehrlinge, das andere, mit staatlichen Geldern sehr gefördert, in einem ostdeutschen Land neu aufgebaut,
({31})
hat 20 gewerbliche Lehrlinge, und das dritte Werk, in großen Schwierigkeiten, hat sogar die Arbeitszeit zurückgenommen, hat alle 4 500 Lehrlinge übernommen, allerdings mit Teilzeit, und das Ausbildungskontingent nicht zurückgenommen. Das sind drei Beispiele, wie man antworten kann. Wollen Sie das alles auf Befehl verändern? In unserer Gesellschaft muß ein stärkeres Bewußtsein entstehen, daß Qualifikation ein Produktionsfaktor ist, auf dem wir aufbauen. Dies und intelligente Produkte sind unsere weltwirtschaftlichen Chancen. Wir müssen besser sein als andere. So billig wie in der Dritten Welt können wir nicht sein.
Herr Minister, Sie sind so gut in Form, daß es mir schwerfällt, Sie zu unterbrechen.
Mir auch.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Herr Büttner hat immer Wünsche. Er ist an der Reihe. Bitte.
Eine ganz kurze Zwischenfrage, Herr Kollege Blüm. Halten Sie es für ein besonders gutes Signal an die deutsche Wirtschaft, wenn gerade der Bund, weil auch er Stellen reduzieren muß, in dieser Phase sein Ausbildungskontingent und seine Ausbildungsstätten a) im Bereich der Bundeswehr und b) im Bereich von Bahn und Post drastisch reduziert, statt mit dazu beizutragen, wenigstens die Ausbildung weiterzuführen, um jungen Menschen eine Chance zu geben, in den Arbeitsmarkt zu gelangen?
({0})
Wo wir unmittelbare Verantwortung haben - das gilt sowohl für die Ausbildung als auch für die Schwerbehindertenquote und die Teilzeitquote -, liegen wir, der Bund, weit über dem, was vergleichbarer öffentlicher Dienst in den Ländern leistet. Dennoch schließe ich mich ausdrücklich der Auffassung an, daß der öffentliche Dienst sowohl bei der Ausbildung als auch bei der Einstellung von Schwerbehinderten und beim Anbieten von modernen Arbeitszeitformen eine Vorbildfunktion hat.
({0})
- Nicht nur „sollte", sondern „hat".
Was die Qualifikation durch Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit anbelangt - Frau Beck, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit da noch einmal erlangen darf -: Es ist richtig, man muß immer besser werden. Ich werde mich nie auf den Lorbeeren ausruhen. Das wäre falsch. Aber: Immerhin zwei Drittel derjenigen, die an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen teilgenommen haben, haben anschließend einen Arbeitsplatz erhalten. So schlecht, wie Sie sie dargestellt haben, scheinen diese Maßnahmen nicht zu sein. Sie lohnen sich; denn die Einstellungschancen wachsen nach Fortbildung und Umschulung gegenüber denjenigen, die darauf verzichtet haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Beck?
Ja, bitte schön.
Herr Minister Blüm, ich habe nicht in Frage gestellt, daß die Maßnahmen sinnvoll sind. Gerade weil sie sinnvoll sind, habe ich Sie gefragt, weshalb sie so stark gekürzt worden sind. Die FuU-Maßnahmen sind ja um 40 % zurückgegangen. Das ist doch das Problem!
({0})
Verehrte Frau Kollegin, für FuUMaßnahmen standen 1994 13,4 Milliarden DM und stehen für 1995 15,4 Milliarden DM zur Verfügung.
Wie kommen Sie darauf, daß sie stark gekürzt wurden?
({0})
Die Teilnehmerzahl geht zwar zurück, aber es wird mehr ausgegeben.
Sie haben vorhin gesagt, wir würden bei der Arbeitsmarktpolitik mit leeren Händen dastehen. Auch Herr Scharping hat in diese Richtung attackiert. Wir geben 15,4 Milliarden DM für FuU-Maßnahmen, 3 Milliarden DM für Maßnahmen nach § 249 h AFG und 9,6 Milliarden DM für AB-Maßnahmen aus, und Sie sagen, wir würden mit leeren Händen dastehen. Wenn das „leere Hände" sind, dann sind Sie früher nackt herumgelaufen!
({1})
Sie haben doch nicht die Hälfte davon bereitgestellt!
({2})
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Entschuldigen Sie, Frau Beck, ich muß leider noch diesen Einwurf der verehrten Frau Kollegin beantworten.
Das ist natürlich ein gefährlicher Einwurf. Aber auch da habe ich Zahlen: 1982, ein denkwürdiges Jahr, kamen auf 1 000 Arbeitslose 15 ABM-Plätze, derzeit kommen auf 1 000 Arbeitslose im Osten 260, im Westen 22 ABM-Plätze. 1982, im Jahr der Regierung des Herrn Schmidt, kamen auf 1 000 Arbeitslose 110 Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, heute kommen auf 1 000 Arbeitslose im Westen 125, im Osten 225. Wir haben die Anstrengungen nicht nur absolut, wir haben sie auch relativ erhöht. Vielleicht gibt Ihnen das bei der weiteren Diskussion um die Proportionen zu denken.
({0})
Herr Minister, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Vielleicht setzen wir die Diskussion nachher fort.
({0})
Ich möchte zwar eigentlich nicht pausenlos Vergangenheitsbewältigung betreiben. Aber ich werde immer gereizt: erstens durch Ihre Einwürfe und zweitens durch die Schönschreiberei der Vergangenheit.
Was lehrt uns die jüngste konjunkturelle Entwicklung? Daß mancher Betrieb - ich denke gerade an den Maschinenbau - zu schnell entlassen hat und heute in der Schwierigkeit steht, daß ihm fachliches Personal fehlt. Der Weg, den viele Betriebe gegangen sind - in personellen Schwierigkeiten ist ihnen nicht mehr eingefallen als die Verrentung -, ist falsch. Das
ist eine Verschleuderung von Qualifikation. Mancher dieser Betriebe sucht heute wieder Arbeitskräfte.
Es gehört zu unserer Sozialkultur, daß Stammbelegschaft kein disponibler Faktor ist, daß auch Loyalität einen Produktionsfaktor darstellt. Mancher Großbetrieb könnte sich eine Scheibe abschneiden von dem kleinen Handwerksbetrieb, der auch in Notzeiten zu dem Gesellen steht, der ihm 20 Jahre lang die Treue gehalten hat.
({1})
Diese Gesinnung, in guten und in schlechten Zeiten zusammenzustehen, wünsche ich manchem Betrieb. Für die Fehler müssen jetzt einige bezahlen.
Dagegen, daß die Entwicklung jetzt wieder zur Leistung von Überstunden geht, biete ich kein neues Gesetz, keinen neuen Paragraphen. Nehmt den befristeten Arbeitsvertrag! Befristet zu arbeiten ist immer noch besser, als unbefristet arbeitslos zu sein. Befristete Arbeit ist immer noch besser als Überstunden für diejenigen, die schon in Arbeit sind. Außerdem hat der befristete Arbeitsvertrag aus meiner Sicht ja das Ziel, in einen unbefristeten zu münden. Man darf nicht erst mit der Einstellung beginnen, wenn sich die Auftragslage stabilisiert hat. Der befristete Arbeitsvertrag ist der erste Schritt zur festen Einstellung.
Es gab immer den Abstand zwischen konjunktureller Besserung und Besserung auf dem Arbeitsmarkt. Diesen Abstand müssen wir verkleinern. Es ist kein Naturgesetz, daß der Arbeitsmarkt der konjunkturellen Entwicklung in großem zeitlichen Abstand hinterherhinkt. Hier halte ich den befristeten Arbeitsvertrag für eine Möglichkeit, diesen Abstand zu verringern.
Im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung - auch tabuisiert; über die Sünden Schwamm drüber - kann man den schwer Vermittelbaren einem Betrieb zur Probe überlassen: Wenn er die Bewährung nicht besteht, fällt er nicht ins Nichts, sondern bleibt an der Hand des Verleihers.
Warum sollte nicht die Bundesanstalt für Arbeit den Langzeitarbeitslosen an die Hand nehmen? Denn das Schicksal der Langzeitarbeitslosen läßt sich nicht durch globale Maßnahmen beeinflussen. Es sind tausend Schicksale und tausend unterschiedliche Wege.
Zur Struktur - eher: zu den Handicaps - der Langzeitarbeitslosen: 52 % sind ungelernt, 62 % sind über 45 Jahre alt, 40 % sind gesundheitlich eingeschränkt, 11 % sind schwerbehindert. Der Prototyp mit allen Handicaps ist die 55jährige Frau, ungelernt, mit Allergie und einem Schwerbehindertenausweis. Das ist sozusagen die Kumulation. Wer diese Handicaps hat, dein hilft nicht allein die Beschäftigungspolitik. Vielmehr brauchen wir hier neue Wege - auch für den Arbeitsmarkt. Deshalb, glaube ich, sollten wir das Instrument das mit „Start" bereits seinen Namen gefunden hat, allseits unterstützen.
Meine Damen und Herren, wir werden die Lohnkostenzuschüsse für die Langzeitarbeitslosen weiterführen, 3 Milliarden DM. Dabei warne ich davor, zu glauben, Lohnkostenzuschüsse würden das Problem schon lösen. Ich sage es nicht gern, aber man sollte darüber nachdenken: Die Lohnkostenzuschüsse für
die älteren Arbeitnehmer sind gar nicht alle abgeholt worden. Herr Kollege Schreiner, es fehlt nicht an Geld, es hat an Initiativen gefehlt. 800 Millionen DM waren vorgesehen, nur 560 Millionen DM sind in Anspruch genommen worden. Nur an Geld zu denken könnte sehr leicht zum Alibi verkommen. Geld ohne Initiative, Geld ohne Verantwortung verändert überhaupt nichts.
Ich schlage eine große Diskussion vor, um das Arbeitsförderungsgesetz zu reformieren. Es hat in 25 Jahren viel Rost angesetzt. Ich gebe kritisch zu: Auch der Gesetzgeber war sehr hektisch. Das Gesetz ist fast in die Zone der Unlesbarkeit geraten: § 242 s - wir sind schon bei „s" angekommen; wir sollten schnell reformieren, da „z" der letzte Buchstabe unseres Alphabets ist.
Ein Handwerksmeister, der alle Hilfen in Anspruch nehmen will, muß nachts das Arbeitsförderungsgesetz lesen, damit er tagsüber keinen Fehler macht. Ein solches Gesetz muß reformiert werden. Wir haben allein vier Lohnkostenzuschüsse. Man braucht einen Berater für „Subventionologie" und Lohnkostenzuschüsse.
({2})
- Lassen Sie den Finger unten! Schon Heinemann hat gesagt: Drei Finger weisen auf einen selbst zurück.
Wenn wir all Ihre Anträge angenommen hätten
- heute haben Sie wieder einen eingebracht , hätten wir noch 25 Paragraphen mehr. Wir wollen gerade verhindern, was Sie bei uns kritisieren. Wenn wir allen Ihren Vorschlägen gefolgt wären, hätten wir heute ein Buch mit 800 Seiten, nebst drei Anhängen.
({3})
- Sammeln Sie einmal, was bei Ihnen verboten ist. Ein solches Buch wird dicker als das, in dem Sie schreiben, was bei Ihnen erlaubt ist.
({4})
Wir brauchen eine Dezentralisierung der Arbeitsverwaltung. Ich warne allerdings davor, unter Dezentralisierung „Balkanisierung" zu verstehen. Es bleibt bei einer Bundesanstalt für Arbeit. Es darf nicht 16 Landesanstalten - möglicherweise mit eigenem Beitragsaufkommen - geben. Das wäre kontraproduktiv: In den Gegenden, in denen die Arbeitslosenquote hoch ist, wäre auch der Beitrag hoch, und in den Gegenden, in denen es genug Arbeit gibt, wäre der Beitrag niedrig. Es bleibt dabei: ausgewogene Lebensverhältnisse!
Das Ziel: ist Flexibilität für die Arbeitsämter vor Ort
- auch deren Kreativität kann mehr genutzt werden -, ein Budget für eigene Experimente, für eigene Wege, in der Verantwortung der Arbeitsämter vor Ort, eine Verbesserung der Vermittlung, Betriebsnähe. Ich möchte der Bundesanstalt ein großes Kompliment machen: Im Rahmen ihrer Vermittlungsaktion gab es im zweiten Halbjahr 200 000 Betriebsbesuche, 88 000 offene Stellen wurden aufgefunden. Ich fordere allerdings auch die Betriebe auf, nicht zu warten, bis das Arbeitsamt zu ihnen kommt, sondern in der Tat
- gerade in Zeiten des Aufschwungs dem Arbeitsamt jeden neuen Arbeitsplatz zur Vermittlung zu melden.
Es stellt sich auch die Frage, wie wir die Finanzierung neu regeln. Ich mache angesichts der Haushaltslage kein Programm und keine Ankündigung, daß das von heute auf morgen geschieht. Aber man muß doch eine Strategie haben. Die Frage ist sehr wohl, ob alles, was bisher mit Beiträgen finanziert wird, auch weiterhin mit Beiträgen finanziert werden muß. Das war im übrigen schon bei Verabschiedung des AFG das Problem. An der Arbeitsvermittlung nehmen viele Mitbürger teil, die nie einen Pfennig Beitrag gezahlt haben. Es sei ihnen gegönnt. Aber wieso soll der Beitragszahler - Fortbildung und Umschulung sind auch in Zukunft wichtig - dies alles finanzieren? Auch die akademische Bildung wird nicht durch Beiträge finanziert. Das Problem ist nicht im HauruckVerfahren zu lösen, sondern nur in einem großen Konsens über eine neue Lastenverteilung.
Ich bin sicher, daß unsere gute Sozialversicherung nur überlebt, wenn geklärt wird: Was kann der einzelne selber tragen, was muß durch Steuern getragen werden, und welches Versicherungsrisiko muß mit Beiträgen finanziert werden? Wenn die Sozialversicherung der Lastesel für alle sozialen Fragen wird, dann wird dieser Lastesel zusammenbrechen.
({5})
- In dieser Frage, Herr Fischer, sind wir schon weiter, als Sie es gemerkt haben. Wir haben beispielsweise die Kosten für Aussiedler aus der Beitragsankopplung herausgenommen.
({6})
Sie sehen: Mit dem, was ich hier vortrage, beginnen wir nicht erst in der Zukunft, sondern wir haben damit schon begonnen. Sie haben das nur nicht gemerkt.
({7})
Ein Beweis: Wir sind nicht die Besprecher, wir sind - das war meine Ausgangsthese die Bearbeiter. Es geht nicht um viele Worte, sondern es geht um ein Programm handfester Hilfen.
({8})
Auch den Kollegen Büttner kann ich beruhigen: Die Transferleistungen der Sozialversicherung in Sachen West-Ost nehmen ab, und zwar rapide. Die Transferleistungen des Steuerzahlers und damit die Transferleistungen im Bundeshaushalt steigen von 53 % in 1991 auf 76,7 und der Anteil der Beitragszahlungen geht von 17,1 % in 1991 auf 13 % zurück. Die oberen 5 % Steuerpflichtigen sind an diesen Transferleistungen mit 8 % beteiligt und die unteren 50 % der Steuerpflichtigen mit 3 %. In der Tat ist auch hier die Frage zu stellen, wie wir den Prozeß einer gerechten Lastenverteilung nicht nur zwischen Bund und Sozialversicherung, sondern auch zwischen Bund und Ländern neu ordnen.
Ich kehre zu meinem Ausgangspunkt zurück: Laßt uns über die Arbeitsmarktpolitik streiten in dem
Wissen, daß wir eine gemeinsame Verantwortung haben.
({9})
- Wer?
({10})
- Ich?
({11})
Der Politik, ABM auszuweiten, habe ich nicht nur zugestimmt, sondern dabei habe ich mitgemacht.
({12})
- Herr Scharping, ich sage es noch einmal ganz langsam: Wir haben aus der Sozialversicherung beispielsweise die Leistungen für die Aussiedler herausgenommen.
({13})
- Ich bin doch noch nicht fertig. Wir haben in der Rentenversicherung die Leistungen für die Sonderversorgungssysteme, für die Zusatzversorgungssysteme, für den Sozialzuschlag herausgenommen. Nicht etwa der Beitragszahler zahlt das, sondern das zahlt der Steuerzahler.
({14})
- Nein, ich beklage sie doch gar nicht, sie war ja gut. Sie war so gut, daß wir im Osten heute eine Rentenversicherung haben, von der sich die Bürger in der DDR nie hätten träumen lassen, daß sie im Alter eine so hohe Rente erhalten würden.
({15})
Ich nehme den Faden wieder auf; ich lasse ihn nicht gerne abreißen. Ich schlage vor, daß wir - ob uns das gelingt, weiß ich nicht - die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes im Gespräch mit den Sozialpartnern, mit den Ländern und mit Ihnen als eine gemeinsame Aufgabe nicht nur unter dem technischen Aspekt Lesbarkeit, sondern auch unter dem Aspekt, wie wir ins nächste Jahrhundert hinein eine moderne Arbeitsmarktpolitik betreiben, in Angriff nehmen; denn besser können wir immer werden. Richtig ist, daß wir eine neue Konzentration auf Hilfen für diejenigen brauchen, die es sehr schwer haben, nämlich die Langzeitarbeitslosen.
Was ich nur anders sehe als manche von Ihnen: Der zweite Arbeitsmarkt ist nicht dazu da, sich darin häuslich einzurichten. Ich möchte keine gespaltene Gesellschaft haben, in der sich die Jungen, Ausgebildeten auf dem ersten Arbeitsmarkt befinden und die Älteren und Kranken therapeutisch in einem zweiten Arbeitsmarkt aufbewahrt werden. Ich möchte eine Arbeitsmarktpolitik, die Brücken baut. Der zweite
Arbeitsmarkt, Fortbildung und Umschulung sind Rettungsboote; das rettende Ufer sind sie nicht.
({16})
Jede Brücke braucht ein Ufer; deshalb darf das Ziel des zweiten Arbeitsmarktes nicht sein, sich in ihm einzurichten, sondern sein Ziel muß sein, in die Integration aller Arbeitnehmer im ersten Arbeitsmarkt hinüberzuführen: der Älteren, der Jungen, der Männer, der Frauen, der Schwächeren, der Kranken, der Behinderten. Das ist das Ziel unserer Arbeitsmarktpolitik!
({17})
Frau Kollegin Luft, der Minister hat gesagt, er wolle keine Zwischenfragen mehr zulassen. Das ist Ihnen möglicherweise entgangen.
Als nächster spricht der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Scharping äußerte sich in dieser Woche in einem „Stern"-Interview wie folgt: Die F.D.P. werde scheitern, da ihr die Gewerbefreiheit wichtiger sei als die Gedankenfreiheit. - Wir Liberalen spielen die eine Freiheit nicht gegen die andere aus.
({0})
Lieber Herr Schreiner, wir wären mit der gedanklichen Freiheit als Voraussetzung für neue Ideen - offensichtlich interessiert ihn das auch heute nicht so - schon weiter, wenn Sie diese nicht ständig behindern würden.
Nun nehme ich mir die Freiheit, Ihnen meine Gedanken zur Gewerbefreiheit und zur Freiheit in der Wirtschaft und der damit verbundenen Schaffung von Arbeitsplätzen darzulegen. Dies erscheint mir schon deshalb notwendig, da Ihr Antrag über sieben lange Seiten weder ein Wort zur Gewerbefreiheit noch einen Gedankengang zur schöpferischen Kraft der Freiheit für Innovationen und Fortschritt verschwendet. Im Gegenteil: Die sozialdemokratische Fraktion will die Freiheit sogar noch weiter einschränken. So wollen Sie, meine Damen und Herren der SPD, das Arbeitszeitgesetz mit seinem Deregulierungseffekt - Gott sei Dank haben wir es zustande gebracht - wieder einstampfen lassen. Woher nehmen Sie eigentlich das Recht, über die Köpfe der Menschen hinweg zu bestimmen, wann und wie lange und an welchem Tag sie arbeiten wollen?
Ich billige Ihnen ja zu, daß Sie einen netten Antrag verfaßt haben, der brav alle zur Zeit in der Diskussion befindlichen Punkte für eine staatliche Arbeitsmarktpolitik und darüber hinaus aufgelistet hat. Das sagt aber über die Richtigkeit noch nichts aus. Mit Abschnitt III auf Seite 6 Ihres Antrages sind Sie sogar auf unserer Seite. Man könnte bei der Passage über die Innovationsoffensive meinen, wir würden uns in dem F.D.P.-Wahlprogramm befinden, wäre da nicht die Forderung nach einem Technologiebeirat. Ich glaube nicht, daß das die Lösung ist. Aber auch wenn es diesen Punkt nicht gäbe, würde dieser Abschnitt
den Antrag nicht retten. Wir haben zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine grundsätzlich andere Konzeption.
Zur Klarstellung: Für uns ist die derzeitige aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung kein ordnungspolitischer Sündenfall, weil der in der Geschichte einmalige Umstrukturierungsprozeß hin zur Marktwirtschaft besonders in Ostdeutschland streng befristeter arbeitsmarktpolitischer Flankierungsmaßnahmen bedarf - das ist unstrittig -, damit die Ordnungspolitik ohne gesellschaftspolitische Verwerfungen überhaupt erst greifen kann.
({1})
Das gleiche gilt im übrigen auch für die alten Bundesländer, in denen die Sockelarbeitslosigkeit dramatisch ansteigt.
Aber arbeitsmarktpolitische Hilfen - das zeigt uns die westdeutsche Erfahrung - wirken nur zeitlich begrenzt. Sie haben die Eigenschaft eines Beruhigungsmittels; die Krankheit „Arbeitslosigkeit" auf dem Arbeitsmarkt heilt man damit langfristig nicht.
({2})
Im Gegenteil: werden die Gründe für die Arbeitslosigkeit in der Zeit der staatlichen Flankierungsmaßnahmen nicht beseitigt, folgt auf eine zeitliche Besserung der Arbeitsmarktsituation eine noch größere Verschlechterung. Aber das will von Ihrer Seite offensichtlich niemand wahrhaben. Wie bei einer Sucht muß das Beruhigungsmittel staatlicher Arbeitsmarkthilfen immer höher dosiert werden. Darum treten wir so heftig für eine strikte zeitliche Begrenzung von staatlichen Arbeitsmarktinstrumenten ein, damit der Zwang besteht, die wahren Ursachen zu bekämpfen und nicht nur an Symptomen herumzudoktern. Dies ist der große Denkfehler dieses Antrages: die Bekämpfung der Symptome als heilende Medizin gegen Arbeitslosigkeit zu verkaufen.
({3})
Zu dem Jobkiller „starre Arbeitszeiten" fällt Ihnen im Vergleich zu den Gewerkschaften - das möchte ich hier betonen - auch nichts ein. Dort bewegt sich wenigstens etwas.
({4})
Die F.D.P.-Fraktion begrüßt darum ausdrücklich die Stellungnahme der Gewerkschaften zur Einführung von flexibleren Arbeitszeiten, mit denen sie in die Kanzlergespräche hineingegang en sind. Die ersten Gesprächsergebnisse stimmen uns optimistisch. Es ist klar, daß man nicht alles an einem Abend lösen kann.
({5})
Zu dem Jobkiller „Rationalisierung durch zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten" fällt den Antragsstellern natürlich auch nichts ein. Wenn wir Liberalen die hohen Einstiegstarife als aufgebaute Hürden für Arbeitslose, insbesondere für Langzeitarbeitslose, zum Schutz der Arbeitsplatzbesitzer kritisieren, hören
wir von Ihrer Seite sofort die Anklage der Ketzerei gegen die Tarifautonomie.
Wer Arbeitslosigkeit in einem Hochlohnland, wie es die Bundesrepublik nun einmal ist, wirklich bekämpfen will, kann nicht das Lohnniveau als eine der Ursachen ausklammern.
({6})
Zu dem Jobkiller „Bürokratie", der Abwesenheit von Freiheit auf den Märkten, fällt den Damen und Herren von der SPD auch nichts ein.
In einem bemerkenswerten Bericht in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Die Woche" wird unter der Überschrift „Die Jobmaschine" eine Untersuchung von McKinsey in sechs Industrieländern, u. a. der USA, vorgestellt. Das Thema der Untersuchung sind die Gründe für Beschäftigungsmangel.
Dort führt der Direktor, Herr Lewis, u. a. aus:
Der Hauptgrund für zu geringe Beschäftigung sind ... vielmehr übermäßige Regulierungen auf den Kapital- und Gütermärkten ... Unnötige Gesetze und Vorschriften behindern in ganz Europa arbeitsplatzschaffende Innovation und die Gründung neuer Unternehmen.
({7})
- Auch.
Als Beispiel werden vier Branchen genannt, wo in Deutschland in bedeutender Zahl Jobs entstehen können:
Erstens im Einzelhandel durch eine Lockerung der Ladenschlußzeiten. Wir gehen davon aus, daß das natürlich ein Kompromiß sein muß, nicht gegen die Betroffenen, sondern mit ihnen.
Zweitens können sie im privaten Wohnungsbau durch die Deregulierung der engen Flächennutzungspläne, die das Angebot an Bauland einschränken und die Grundstückspreise hochtreiben, entstehen.
Drittens können sie im Finanzdienstleistungssektor durch neue Finanzinstrumente, die in Deutschland noch unbekannt sind, entstehen.
Viertens können sie im elektronischen Medienmarkt durch Wettbewerb, den wir statt behindernder Kartellvorschriften brauchen, entstehen.
Daß wir Liberalen die gleichen Forderungen aufstellen, ist Ihnen aus vielen Äußerungen bekannt. Hier muß nichts hinzugefügt werden. Daß dagegen der hier zur Diskussion stehende Antrag der Problematik und ihrer Bekämpfung nicht gerecht wird, versteht sich von selbst.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz ({0}).
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Schon die bisherige Debatte hat gezeigt, daß sich die Regierungsposition trotz einiger blumiger Ankündigungen nicht verändert hat. Sie will ArbeitErika Lotz
nehmer, Arbeitnehmerinnen und die Arbeitslosen den Selbstheilungskräften des Marktes überlassen. Sie unterstützen einseitig die Arbeitgeberposition, die nur in Kostensenkungen und Deregulierung ihr Heil sucht.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist Ihnen gar nicht so wichtig.
({0})
Bei einem Wirtschaftswachstum von 3 % erwarten Sie gerade einmal einen Rückgang der Arbeitslosenzahl von 200 000. Es sollen sogar nur 15 000 neue Arbeitsplätze entstehen.
Die Bürgerinnen und Bürger fragen sich, welchen utopischen Wachstumsraten Sie eigentlich hinterherlaufen, um damit die Arbeitsmarktlage zu verbessern.
({1})
Sie müssen doch endlich einsehen, daß der Aufschwung nicht automatisch neue Arbeitsplätze schafft. Sie müssen endlich etwas gegen die Arbeitslosigkeit und nicht gegen die Arbeitslosen unternehmen.
Ohne große Propaganda, aber für die Betroffenen durchaus spürbar, verabschieden Sie sich von einem weiteren Eckpfeiler unseres Staates: der Sozialen Marktwirtschaft. „Sozial" wollen Sie am liebsten streichen.
({2})
Dabei sind die Gewinne der Unternehmen vor und in dem Jahr 1994 kräftig gestiegen, und sie steigen weiter. Die Arbeitnehmer dagegen hatten 1994 mit zweieinhalb Prozent den stärksten Rückgang der Realeinkommen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Den Arbeitgebern genügt dieses noch immer nicht; sie lassen nicht locker, sie fordern weitere Lohnkürzungen, einen Niedriglohnarbeitsmarkt und ähnliches.
Während dies bei einem Interessenverband leider wohl zum politischen Geschäft gehört, ist das Eingehen der Bundesregierung auf die Arbeitgeberforderungen unverantwortlich.
({3})
Wir brauchen ein Bündnis gegen Arbeitslosigkeit mit beiden Tarifvertragsparteien unter Einschluß der Bundesbank und der Bundesländer. Gebot der Stunde ist nicht Demontage des Sozialstaates, sondern die energische Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und illegalen Beschäftigungsverhältnissen.
({4})
Unser Antrag „Bündnis gegen Arbeitslosigkeit" ist ein schlüssiges Konzept, an dem sich alle Beteiligten ausrichten können. Ich will mich auf einige arbeitsmarktpolitische Vorschläge konzentrieren.
Mit unserem Arbeits- und Strukturförderungsgesetz wollen wir mehr Entscheidungen vor Ort, Frau
Hasselfeldt, sowie die Zusammenarbeit in der Region. Nur noch das Notwendigste, z. B. die Fördersätze, wollen wir per Gesetz festlegen.
Zentral bestimmt werden muß auch die globale Verteilung der Haushaltsmittel auf die einzelnen Landesarbeitsämter und Arbeitsämter.
({5})
Über die Verwendung der Mittel können die Arbeitsämter dann weitgehend selbständig entscheiden. Ein Ausschuß aus Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Kommunen muß zustimmen. Es wird in einem regionalen Konsens sichergestellt, daß es sich nicht um bloße Mitnahme von Geldern handelt und daß ortsansässige Unternehmen nicht verdrängt werden.
({6})
Die jeweiligen Regionen kennen ihre Probleme selbst am besten. Sie sollen besser als jetzt selbst helfen können. Die Fördermittel des Arbeitsamtes werden mit Geldern aus der Region zusammengepackt. So entsteht auch gemeinsame Verantwortung. Zum Beispiel könnten Betriebe, die in größerem Maße Arbeitsplätze abbauen, Sozialplanmittel mit den Fördermitteln des Arbeitsamtes kombinieren und Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften aufbauen.
Denkbar ist auch eine Kombination von Beschäftigungsförderung und Wohnungsbau. Genau das erwarten die Menschen von uns; das erwarten die Wählerinnen und Wähler - auch in Hessen -: konkrete Handlungsmöglichkeiten vor Ort.
Es ist ja nicht so, daß die Menschen keine Ideen hätten,
({7})
sie brauchen aber die entsprechenden Instrumente, mit denen sie unbürokratisch umgehen können.
({8})
Wir brauchen ein verbessertes Zusammenwirken von staatlicher Arbeitsmarktpolitik mit den Betrieben, Kurzarbeit und Qualifizierung, innerbetriebliche Qualifizierung als Strukturwandel.
Aber wir wollen auch, daß sich für die Frauen etwas positiv verändert. Besonders die hohe Arbeitslosigkeit von Frauen in den neuen Ländern zeigt, wie weit wir noch von einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben, von der Gleichberechtigung am Arbeitsmarkt entfernt sind. Dem wollen wir mit einer verbindlichen Frauenquote für die Arbeitsförderung gegensteuern.
({9})
Besonders gefördert werden soll die Wiedereingliederung nach der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Das gilt selbstverständlich auch für Männer, die sich der Kindererziehung widmen wollen. Wir wissen aber, daß es in der Praxis meistens die Frauen trifft.
Die Gesellschaft ist den Frauen in diesem Punkt eine besondere Hilfe schuldig.
({10})
Auch das Thema Teilzeitarbeit ist in der Realität meistens noch Frauensache. Der Wunsch nach Teilzeitarbeit ist weiterhin hoch; die Teilzeitarbeitsquote ist in vielen anderen Industrieländern höher als bei uns. Dies stimmt. Teilzeitarbeit darf allerdings nicht mit platter Arbeitszeit, Deregulierung und Billigarbeit verwechselt werden.
({11})
Daher muß erst einmal der Mißbrauch mit der Geringfügigkeit in der Sozialversicherung beseitigt werden.
({12})
Und was bietet die Bundesregierung? - Sprüche, Informationsbroschüren, schönes Zureden
({13})
und bei der Geringfügigkeitsgrenze sogar das Gegenteil von dem, was notwendig ist, nämlich eine Anhebung des Verdienstes von 560 auf 580 DM monatlich.
Ich will noch ein Wort zu den Überstunden verlieren. 1993 wurden 1,7 Milliarden Überstunden geleistet; Kollege Scharping hatte dies schon angesprochen. Wenn mit einem neuen Arbeitszeitgesetz der Spielraum für Überstunden noch erweitert wurde, wird doch den Betriebsräten der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihnen wird es erschwert, zu vereinbaren, daß Überstunden mit Freizeit ausgeglichen werden. Deshalb brauchen wir eine Beschränkung der Überstunden und hier eine gesetzliche Regelung.
({14})
Wir brauchen Verbesserungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik und nicht einen um 3,1 Milliarden DM gekürzten Haushalt. Aktive Arbeitsmarktpolitik entlastet den Arbeitsmarkt, spart Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe und spart Sozialhilfe. Das bedeutet Einnahmen für die Sozialversicherungsträger, bedeutet Steuereinnahmen und Kaufkraft. Sie ist eine Investition in die Zukunft der Menschen und des Landes.
Wir wollen, daß das vorhandene arbeitsmarktpolitische Instrumentarium nicht noch weiter zerschlagen wird, sondern voll zur Anwendung kommt. Neue, wirksame Instrumente wie unser Arbeits- und Strukturförderungsgesetz müssen dazukommen. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist vorrangiges Ziel eines Bündnisses gegen Arbeitslosigkeit. Lassen Sie die Menschen, die Arbeitslosen nicht im Stich!
({15})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Böhmer ({0}).
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir einige Anmerkungen zu dem, was Frau Lotz gesagt hat.
Frau Lotz, mit Umverteilung und mit neuen Subventionen können wir die Probleme, die vor uns liegen, mit Sicherheit nicht lösen.
({0})
Der Glaube an den Staat, der alles und jedes zu leisten hat, ist ausgesprochen unausrottbar bei der SPD,
({1})
und ich habe Zweifel, daß Sie überhaupt wahrnehmen wollen, was mittlerweile von seiten der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden ist.
({2})
Wer die Augen verschließt und wer negiert, was an wirksamen Maßnahmen da ist, der kommt nicht weiter.
Gestern abend ist im Rahmen der Kanzlerrunde ein entscheidender Schritt .nach vorne getan worden, genau in die richtige Richtung.
Frau Kollegin Dr. Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Bitte, Herr Schily.
Frau Kollegin, weil Sie die Rolle des Staates bei solchen Diskussionen nun auch wieder immer in Frage stellen: Kennen Sie den Ausspruch des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, der erklärt hat, die wichtigste Aufgabe der bayerischen Landesregierung sei Industriepolitik?
({0})
Also, ich kenne die Aussage, ich kenne aber auch andere Aussagen, die ja heute Herr Scharping hier getätigt hat,
({0})
und von daher gibt es eine ganz andere Dimension. Aber ich will Ihnen eine Antwort geben, die die Situation im Bereich des Maschinenbaus widerspiegelt.
Im Maschinenbau haben wir einen enormen Abbau an Arbeitsplätzen, 250 000 bundesweit. Ich habe das selbst in meinem Wahlkreis erlebt - eine Schreckensmeldung nach der anderen. Wenn Sie genau hinschauen, warum das so ist, werden Sie auf viele Gründe stoßen. Nur: Sie werden dem Facharbeiter, der dort seinen Arbeitsplatz verloren hat, nicht mit den Vorschlägen helfen können,
({1})
die ich im Antrag der SPD gefunden habe; denn ein
öffentlicher zweiter Arbeitsmarkt hilft ihm nicht weiDr. Maria Böhmer
ter. Frau Beck hat ganz richtig gesagt: Es nützt nichts, die Friedhofsgärtnereien und die Grünflächenämter zu öffnen. Diese Menschen wollen zukunftsorientierte Arbeit haben, und dafür müssen wir sorgen.
({2})
Frau Dr. Böhmer, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schily?
Ich möchte jetzt gern im Text fortfahren, da ich weiß, daß meine Redezeit auf Grund der vorhergehenden Redebeiträge begrenzt worden ist.
Ich will an einer Stelle, bei dem von der SPD geforderten Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, noch einmal nachsetzen. Ich bin in der Tat neugierig, endlich einmal einen Entwurf zu sehen. Aber: Wo bleibt er? 1993 ist er doch wohl schon angedacht worden. Mittlerweile müßte sich das Ganze doch so weit konkretisiert haben, daß Sie ihn hier einbringen können. Haben Sie Schwierigkeiten, das, was Sie an Eckpunkten haben, umzusetzen, oder - was wahrscheinlicher ist - scheitert es an der Finanzierung?
Ich glaube, wir müssen hier auf einige andere Punkte sehr wohl achten. Es sind neue Ansätze in die Diskussion gekommen, und die sollten wir ausbauen. Diese neuen Ansätze heißen für uns: stärkere Förderung der Bereiche, die den Strukturwandel wirklich begleiten können; Schlüsseltechnologien nachhaltig fördern; Umwelttechnologie und Multimedia. Hier haben wir deutliche Wachstumsbereiche. Das sind keine kleinen Bereiche. Umwelttechnologie hat in unserem Land einen Umfang von 1 Million Arbeitsplätzen. Im Multimediabereich können wir mit 2 Millionen rechnen.
Da wir auch ein Gesamtbild der Bundesregierung sehen wollen, hebe ich noch einmal ein Förderprogramm hervor, das der Zukunftsminister, Jürgen Rüttgers, vorgelegt hat: kleine Technologiefirmen fördern. Ich denke, das ist ein Ansatz, der in der Zukunft tragen kann, und 2 Milliarden DM werden dafür bereitgestellt.
({0})
- Das sind Dinge, die in die Zukunft weisen.
Aufschwung schafft Arbeitsplätze. Qualifikation sichert Arbeitsplätze. Damit darf ich einen Punkt aufgreifen, den Herr Scharping so sehr eingefordert hat, nämlich Bildung und Ausbildung. Nur, wenn ich in die Länder schaue, Herr Scharping, wo die SPD das Sagen hat, dann muß ich sagen: Da gehen Eltern in Niedersachsen auf die Straße, weil im Bildungsbereich gekürzt wird. Da ist in Rheinland-Pfalz ein Wildwuchs an bunten Maßnahmen im Bereich der Bildungspolitik vorhanden. Wer nach Hessen schaut, wird sehen, daß das Abitur dort keinen Wert mehr hat. Das wünsche ich mir nicht für die Zukunft von Bildung und Ausbildung.
({1})
- Schauen Sie doch, was in Ihren Schulen los ist! Da werden Sie genug an Aufräumarbeiten leisten müssen. Schüler kommen von Hessen nach Rheinland-Pfalz, um dort die Schulen zu besuchen. Das ist der beste Beleg dafür, was dort los ist.
({2})
Ich will einen anderen Punkt aufgreifen. Wenn wir über Arbeitsmarktpolitik sprechen, brauchen wir dort auch Innovationen. Der Bundesarbeitsminister hat mit Recht einen Weg hervorgehoben, den wir als neu verstärken sollten, nämlich die Möglichkeit, Langzeitarbeitslosen über Arbeitsverleihgesellschaften die Chance zu geben, sich in einem neuen Tätigkeitsbereich zu bewähren und von dort aus in ein Dauerarbeitsverhältnis überzugehen. Dies scheint mir ein attraktiver Weg zu sein, um wirklich Arbeitsplätze für Problemgruppen zu schaffen. Ich denke, wir sollten diesen Weg gut begleiten und weiter beschreiten.
({3})
- Nehmen Sie doch einmal Nordrhein-Westfalen! Ich habe gehört, das sei SPD-regiert.
({4})
Selbst dort hat man sich zu diesem Weg entschlossen, und zwar mit großer Unterstützung des Bundes. Herr Schily, Sie sollten sich vielleicht einmal vor Ort kundig machen, wie es gelingt.
({5})
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Frage der Flexibilisierung der Arbeitszeit. In der Tat haben sich SPD und Gewerkschaften über Jahre hin gesträubt, in diesem Bereich zu Veränderungen zu kommen. Ich habe mit großer Befriedigung aufgenommen, daß von seiten des DGB vor der Kanzlerrunde Bewegung in die Sache gebracht worden ist. Bewegung ist dringend notwendig. Wir brauchen flexiblere Arbeitszeitregelungen, und wir brauchen mehr Phantasie und Veränderungen in den Köpfen derjenigen, die über Arbeit entscheiden.
({6})
Frau Kollegin, darf ich noch einmal fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss zulassen?
Ich sehe, daß ich noch eine Minute habe, und die würde ich gerne ausschöpfen.
Ich rechne Ihnen das nicht an; aber Sie brauchen die Frage nicht zuzulassen.
Sie haben sich schon reichlich zu Wort gemeldet; deshalb fahre ich jetzt fort.
Ich denke, wir müssen im Bereich der Teilzeitarbeit die Chancen nutzen. Hier kann nicht die Rede von einer platten Arbeitszeitregulierung sein. Das ist phantasielos. Es gibt mittlerweile Unternehmen, die hundert verschiedene Formen von Arbeitszeitregelungen haben. Daran sollten sich andere Unternehmen ein Beispiel nehmen und die Möglichkeiten nutzen, die es hier gibt. Aber wir sind auch alle miteinander gefordert, Rechtsvorschriften und Tarifverträge zu durchforsten, um noch bestehende Hemmnisse für Teilzeitarbeit wirklich abzubauen.
({0})
Daß das Potential groß ist, zeigt sich schon daran, daß über 260 000 Menschen in Deutschland Teilzeitarbeit nachfragen. Das Angebot ist nach wie vor ungenügend. Hier müssen wir verstärkt ansetzen, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Ich sage das nicht nur mit Blick auf Frauenerwerbstätigkeit. Ich sage, daß Teilzeitarbeit und flexiblere Arbeitszeiten ein deutliches Angebot für Frauen und für Männer sein müssen, daß wir hier mehr qualifizierte Angebote und attraktivere Arbeitsplätze brauchen und daß wir alle Wege ausschöpfen sollten, um in diesem Bereich mehr zu erzielen. Das muß ein Bemühen aller gemeinsamen Aktivitäten sein, die heute immer wieder eingefordert werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat Herr Professor Dr. Uwe Jens ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, viele Redner der Regierungskoalition haben unseren Antrag nur halb gelesen. Die zweite Hälfte, in der es um den ersten Arbeitsmarkt geht, wurde geflissentlich verschwiegen. Es wäre gut, wenn Sie das noch einmal genau nachlesen würden. Nur die Dame von der F.D.P. hat uns ein bißchen gelobt.
Ich möchte in meiner kurzen Zeit zwei Punkte ansprechen. Der erste Punkt ist die sogenannte Konsensrunde des Bundeskanzlers. Ich sage einmal: Das, was dort passiert, ist auf sozialdemokratischem Humus gewachsen. Wir haben immer dafür gesorgt, daß die Tarifvertragsparteien mit der Regierung an den Runden Tisch der kollektiven Vernunft kommen. Insofern begrüßen wir das natürlich. Das, was dort praktiziert worden ist, ist gewissermaßen sozialdemokratische Duftmarke: mehr Kooperation in der Wirtschaft und weniger Konfrontation. Das ist insofern richtig.
Aber, meine Damen und Herren, Lohnkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose sind herausgekommen. Das begrüße ich auch; das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn ich das aber richtig sehe, hat man 1994 diese Lohnkostenzuschüsse abgeschafft, und 1995 führt man sie wieder ein. Darm sagt man, das sei ein ganz großer Erfolg. Das ist ein bißchen Scharlatanerie. Aber es ist schon richtig, daß hier endlich etwas passiert.
({0})
Meine zweite Anmerkung: Wir haben ausführlich dargestellt, wo die Mängel in der Wirtschaftspolitik dieser Regierung liegen. Heute wurde weitgehend über Sozialpolitik gesprochen. Aber wir brauchen dringend mehr Innovationen, wir brauchen mehr Investitionen, und wir brauchen auch mehr qualitatives Wachstum in der Wirtschaft. Auf diesem Felde passiert bisher noch nichts. Da müßte die Regierung, Herr Rexrodt, endlich einmal aktiv werden, wie mir scheint.
Manchmal habe ich das Gefühl, die Manager sind ein bißchen träge geworden. Das gilt aber lange nicht für alle; das will ich überhaupt nicht behaupten. Denn wir haben ganz zweifellos ein Strukturproblem in unserer Wirtschaft. Wenn jemand Geld hat und es in Finanzkapital anlegt, kann er wesentlich mehr verdienen, als wenn er in Sachkapital, in Maschinen, investiert. Das sorgt dafür, daß das Geld zum Teil auch ins Ausland geht und hier keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden. Das muß dringend geändert werden.
({1})
Diese Bundesregierung kritisiert, daß die deutschen Unternehmen im Bereich Forschung und Entwicklung zuwenig getan haben. In der Tat haben wir hier eine negative Tendenz festzustellen. Aber wer hat zunächst einmal gekürzt? Im Bereich Forschung und Entwicklung wurde von dieser Regierung in den letzten Jahren kräftig gekürzt. Da ist es schon ein bißchen Heuchelei, wenn man sich darüber aufregt, daß auch die deutschen Unternehmen kürzen. Das kann man nicht. Das ist nicht in Ordnung, wie mir scheint.
({2})
Diese Bundesregierung redet gerne von Deregulierung. Dieses Wort nimmt sie kräftig in den Mund. Das sei der entscheidende Schritt, um die Wirtschaft wieder flottzumachen. Tatsache ist, daß wir z. B. im Handel oder auch in der Entsorgungswirtschaft eine enorme Konzentrationstendenz festzustellen haben. Dagegen tut diese Regierung überhaupt nichts. Das muß dringend geändert werden.
({3})
Ein wichtiges Schlagwort ist ganz zweifellos „Risikokapital". Davon brauchen wir dringend mehr. Die deutschen Banken versagen auf diesem Felde. In Amerika wurde viel mehr „venture capital" zur Verfügung gestellt. Warum denkt man z. B. nicht darüber nach, ein inländisches Hermes - so nenne ich es einmal - zu machen, indem man der Kreditanstalt für Wiederaufbau die Möglichkeit gibt, wenn sie risikoreiche Sachen finanziert, dieses rückzuversichern, wie es auch bei Hermes der Fall ist? Warum denkt man nicht stärker darüber nach, ob die Versicherungen wirklich alles mündelsicher anlegen müssen? Könnten sie nicht einen Teil nutzen, um verstärkt in Risikokapital zu gehen?
Hier muß etwas passieren. Greifen Sie das endlich auf! Tun Sie mehr auf diesem Felde! Das ist dringend
notwendig, um zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen, meine Damen und Herren.
({4})
Herr Professor, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluß. - Professor Naschold, ein anerkannter Experte vom WZB, Berlin, hat vor kurzem gesagt: Die 80er Jahre - den Anfang der 90er Jahre hat er dazugepackt - waren Jahre, die verschlafen worden sind. In der Tat; er hat recht. Wir haben verschlafene 80er Jahre. Wir müssen dringend mehr tun und die Weichen neu stellen, damit wir wieder mehr Innovation und Investition in der Wirtschaft zustande bringen.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann ({0}).
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man heute morgen diese arbeitsmarktpolitische Debatte verfolgt hat und schon seit Jahren im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mitarbeitet, dann hat man manchmal den Eindruck, als meinte die SPD, wir müßten das Rad in der Arbeitsmarktpolitik gänzlich neu erfinden.
Wer den heutigen Antrag der SPD liest und ihren alten Antrag zum ASFG kennt, weiß, daß sich vieles wiederholt. Ich verstehe das auch. Man kann nicht jeden Tag neue Ideen haben. Wir haben damals zum ASFG eine Anhörung gemacht. Wenn ich es noch richtig in Erinnerung habe, hat diese Anhörung vieler Experten zutage gefördert,
({0})
daß das AFG, wie wir es seit dreißig Jahren haben, wie wir es weiterentwickelt haben und wie wir es in dieser Wahlperiode reformieren wollen, genauso gute und genauso effektive arbeitsmarktpolitische Instrumente hat wie die Vorschläge, die Sie haben.
({1})
Ich glaube, wir sollten uns über eines im klaren sein, trotz aller arbeitsmarktpolitischen Debatten: Ohne Wachstum werden wir mit den Problemen nicht fertigwerden. Ich bin froh, daß wir wieder Wachstum haben. Ich bin froh und dankbar, daß wir mit richtigen politischen Entscheidungen dieser Koalition in der letzten Wahlperiode das ein Stück begleiten konnten, teilweise gegen den energischen Widerstand der SPD.
({2})
Ich glaube auch, daß wir alle wissen müßten: Wir brauchen eine innovative Wirtschaft, wir brauchen konkurrenzfähige Produkte. Aber wir müssen auch an
die große spannende Frage denken: Wie halten wir in diesem Land menschliche Arbeit bezahlbar?
({3})
Wir müssen darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn ein Maschinenschlosser mit einem Stundenlohn von 23 DM brutto bei sich zu Hause einen Anstreicher beschäftigt, um das Wohnzimmer zu renovieren, und eine Rechnung mit einem Stundenlohn von 50 DM und 60 DM bekommt. Das heißt, daß dieser Schlosser heute dreieinhalb bis vier Stunden arbeiten muß, um netto das zu verdienen, was er einem gleich qualifizierten Handwerker bezahlt, den er offiziell bei sich zu Hause beschäftigt.
({4})
Dieses macht deutlich - ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe 17 Jahre als Schlosser gearbeitet und kenne mich in diesen Einkommensverhältnissen aus -, daß für breite Schichten unserer Bevölkerung über einen Unternehmer angebotene menschliche Arbeit fast unbezahlbar geworden ist.
({5})
Deswegen müssen wir Politiker, die Verbände, die Gewerkschaften darüber nachdenken, wie wir menschliche Arbeit bezahlbar halten können. Dabei müssen wir die Ansprüche, die an den Staat und die Sozialversicherung gestellt werden, in engen Grenzen halten; sonst wird uns das nie gelingen, und die Schere klafft immer weiter auseinander.
({6})
Herr Scharping, von Ihrer Partei sind in den vier Jahren, die ich diesem Hause bislang angehören durfte, nicht sehr viele Vorschläge gekommen, um dieses Anspruchsdenken in Grenzen zu halten.
({7})
Sie hatten immer die Rezepte der 70er Jahre. Wenn ein neues Problem auftauchte, mußte es nach Ihrer Auffassung mit neuen staatlichen Leistungen gelöst werden. Das können wir uns nicht mehr erlauben. Deswegen war es richtig, daß wir bei der Pflege kompensiert haben. Aber wie schwer haben Sie uns diese Kompensation gemacht!
({8})
Die Tatsache, daß wir heute so viel Ärger mit dem Buß- und Bettag haben, liegt doch daran, daß Ihnen die Streichung eines Feiertags lieber war als der Verzicht auf einen Urlaubstag. Das ist in diesem Zusammenhang die Wahrheit.
({9})
Dieses Beispiel macht deutlich, daß wir diesen Weg fortsetzen müssen: Wenn wir etwas Neues einführen, müssen wir kompensieren, um die menschliche Arbeit bezahlbar zu erhalten. Diejenigen, die das tun - ich stehe für eine solche Politik -, sind nicht die Feinde der Arbeitnehmer, sondern deren Freunde, weil sie dafür sorgen, daß die menschliche Arbeit in diesem Lande überhaupt noch organisierbar ist.
({10})
Meine Damen und Herren, ich denke auch - das macht mir wirklich Sorgen -, daß wir in unserem Lande wieder eine öffentliche Stimmung benötigen, welche die Investitionen nicht verteufelt und behindert. Ich kann mich erinnern: Wenn in meiner Kindheit eine neue Fabrik eingeweiht wurde, dann veranstalteten die Menschen ein Volksfest, weil sie sich freuten, daß eine neue Fabrik gebaut worden war. Ich bin seit 15 Jahren Kommunalpolitiker und stehe dort mächtig an der Front. Wenn heute solche Projekte durchgezogen werden sollen, gibt es in fast jedem Dorf und in fast jeder Stadt mächtige Bürgerinitiativen, die solche Investitionen verhindern das ist die Wahrheit -, die sie aufhalten.
Denken Sie einmal darüber nach, wie schwierig es heute ist, eine notwendige Startbahnverlängerung oder einen notwendigen Autobahnanschluß für ein Industrie- oder Gewerbegebiet durchzuziehen! Bedenken Sie, welche Zeiträume man benötigt, um die Proteste aus der Bevölkerung wegzubekommen! Oft sind diejenigen, die da protestieren, solche, die ihren Arbeitsplatz beim Staat haben und sich keine Gedanken darüber machen müssen, wie eigentlich Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft entstehen.
({11})
Ich habe oft den Eindruck, daß es gerade die Vertreter von Rot-Grün sind, die vor Ort blockieren und hemmen. Diese Widerstände müssen wir schneller überwinden.
({12})
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. In der Gesellschaft ist deutlich geworden, daß wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stärker an einem Strang ziehen müssen. Die Gespräche, zu denen der Kanzler eingeladen hat, nehmen einen guten Verlauf. Das macht mich hoffnungsfroh. Wir sollten alle wünschen, daß diese Gespräche konkrete Ergebnisse für die Menschen bringen, die noch keine Arbeit haben und für die wir Arbeitsplätze schaffen müssen. Das werden wir begleiten - ich will das nicht alles wiederholen - mit enormen Anstrengungen in der Arbeitsmarktpolitik.
Ich glaube schon, daß es Norbert Blüm und unserem Bundeskanzler gelingen wird, die gesellschaftlichen Kräfte, die an der Lösung dieses Problems Interesse haben und auch über die entsprechende Kompetenz verfügen, zusammenzubinden. Dann werden wir weiterkommen. Der Kanzler, der die deutsche Einheit geschaffen hat, der Kanzler, der die europäische Einigung entscheidend vorangetrieben hat, wird auch dafür sorgen, daß wir in dieser wichtigen Frage des inneren Friedens wieder stärker zusammenfinden. Ich bin ganz sicher, daß Helmut Kohl auch in diesem Punkt deutsche Geschichte schreiben wird.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
({0})
- Die Aussprache ist geschlossen, Herr Kollege.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/19 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht darüber Einverständnis des Hauses? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a bis 13 1 und Zusatzpunkt 11 auf:
13. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geflügelfleischhygienegesetzes ({1})
- Drucksache 13/118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({2})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes
- Drucksache 13/240 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({3}) Rechtsausschuß
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsvereinheitlichung bei der Sicherungsverwahrung ({4})
- Drucksache 13/116 -
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes ({5})
- Drucksache 13/192 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({6})
Sportausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 sowie des Übereinkommens vom 29. Juli 1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens ({7})
- Drucksache 13/193 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({8})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Vizepräsident Hans Klein
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - §§ 44, 69b StGB - ({9})
- Drucksache 13/198 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({10}) Ausschuß für Verkehr
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern
- Drucksache 13/203 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({11}) Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Berlin und Brandenburg
- Drucksache 13/206 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({12})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen ({13})
- Drucksache 13/119 -
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit
j) Beratung des Antrags des Bundesministeriums für Wirtschaft
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" für das Wirtschaftsjahr 1993
- Drucksache 13/169 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({14}) Ausschuß für Wirtschaft
k) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer Teilfläche der bundeseigenen Liegenschaft Vauban-Kaserne in Freiburg an die Stadt Freiburg
- Drucksache 13/91 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
1) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft HeinrichMann-Allee 107 in Potsdam, Flurstücke 347/1 und 347/5 der Flur 6 mit einer Gesamtgröße von 65 191 m2 an das Land Brandenburg
- Drucksache 13/210 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
ZP11 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung stillgelegter und landwirtschaftlich genutzter Flächen
- Drucksache 13/121 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({15})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Ausführungsgesetzes zum Seerechtsübereinkommen soll zusätzlich dem Rechtsausschuß und dem Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden. Besteht damit Einverständnis? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14b bis 14 g auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({16})
Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages
- Drucksache 13/261 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Bertold Reinartz
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({17}) zu dem Antrag auf Genehmigung zur Fortsetzung von Strafverfahren
- Drucksache 13/262 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Bertold Reinartz
d) Beratung der Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses ({18})
Übersicht 15
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 13/248 -
Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann
Vizepräsident Hans Klein
e) Beratung der Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses ({19})
Übersicht 16
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 13/249 -
Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
- Drucksache 13/250 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 13/251 Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 14b: Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Deutschen Bundestages, Drucksache 13/261. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 14c: Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag auf Genehmigung zur Fortsetzung von Strafverfahren, Drucksache 13/262. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkte 14 d und 14 e: Es handelt sich um Beschlußempfehlungen des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksachen 13/248 und 13/249. Das sind die Übersichten 15 und 16. Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen zu? - Wer stimmt gegen diese Beschlußempfehlungen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 f: Interfraktionell ist vereinbart, die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/250, Sammelübersicht 1, von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 14g: Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, Drucksache 13/251. Das ist die Sammelübersicht 2. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 13/266 Als erstes rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 43 der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga auf:
Wie viele ehemalige Soldaten der Nationalen Volksarmee, die das 40. Lebensjahr bereits überschritten hatten, wurden als Offizier oder Unteroffizier nach der zunächst für die Dauer von zwei Jahren festgesetzten Dienstzeit als Soldat auf Zeit auf eine längere Dienstzeit weiterverpflichtet, und bestehen weiterhin Möglichkeiten für eine Dienstzeitverlängerung als Soldat auf Zeit?
Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Ehemalige Soldaten der Nationalen Volksarmee wurden zunächst für die Dauer von zwei Jahren in ein sogenanntes Probedienstverhältnis übernommen. Von diesem Personenkreis wurden 101 Offiziere und 113 Unteroffiziere mit Portepee, die 40 Jahre und älter waren, als länger dienende Soldaten auf Zeit verpflichtet. Die Verpflichtungsdauer lag in der Regel bei vier Jahren.
Bei den gesetzlichen Bestimmungen zu weiteren Dienstzeitverlängerungen ist zwischen Offizieren und Unteroffizieren zu unterscheiden. Für Offiziere ist eine Verpflichtungszeit von maximal 15 Jahren, für Sanitätsoffiziere für maximal 20 Jahre möglich, längstens jedoch nur bis zur Altersgrenze vergleichbarer Berufssoldaten. Dieses wird in Einzelfällen auch praktiziert, soweit dies aus dienstlichen Gründen - so vor allem wegen eines besonderen Bedarfs trotz der allgemeinen Reduzierung der Personalstärke der Bundeswehr - geboten ist. Für Unteroffiziere ist eine weitere Verlängerung der Dienstzeit jenseits des vierzigsten Lebensjahres nach den Bestimmungen des § 40 Abs. 2 des Soldatengesetzes nicht zulässig.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Können Sie zudem Angaben darüber machen, wie viele der über 40jährigen Soldaten auf Zeit, deren Dienstzeit verlängert wurde, in die Bundeswehrverwaltung übernommen wurden?
Soweit ich das im Kopf habe, waren es bisher ca. 2 000.
Die zweite Zusatzfrage, bitte.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß für einen Großteil der nunmehr aus dem Dienst entlassenen über 40jährigen Soldaten auf Zeit durch die Nichtanerkennung ihrer Vordienstzeiten eine enorme Versorgungslücke entsteht? Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die aus dieser Ungleichbehandlung entstehende Härte wirksam zu mildern?
Der Bundesregierung ist bekannt, daß es eine gewisse Versorgungslücke gibt. Ich will noch einmal sagen, wie die Versorgung der Soldaten auf Zeit geregelt ist: Die aus dem Dienstverhältnis als SaZ 2 Ost in ein längeres Dienstverhältnis als SaZ, Soldat auf Zeit, übernommenen Soldaten der ehemaligen NVA haben die gleichen Ansprüche wie alle Soldaten auf Zeit. Die Dienstzeitversorgung richtet sich unabhängig vom Lebensalter allein nach der in der Bundeswehr geleisteten Dienstzeit. Die Dienstzeit der aus der NVA übernommenen SaZ wird ab der Ernennung zum SaZ 2 Ost berechnet.
Im einzelnen sieht das Soldatenversorgungsgesetz vor: Zur Dienstzeitversorgung gehören eine einmalige steuerfreie Übergangsbeihilfe ab einer Wehrdienstzeit von vier Jahren und zusätzlich steuerpflichtige Übergangsgebührnisse. Die Höhe der Übergangsbeihilfe und die Dauer der Zahlungen von Übergangsgebührnissen hängen von der vorangegangenen Verpflichtungszeit ab.
Darüber hinaus hat es im parlamentarischen Raum schon Initiativen gegeben, die beim Innenausschuß anhängig sind; sie sind noch nicht entschieden worden. Soweit ich gehört habe, wird es weitere Initiativen geben. Diese werden wir natürlich gern unterstützen.
Wünschen andere Kolleginnen oder Kollegen, dazu Zusatzfragen zu stellen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 44 auf, die ebenfalls von der Kollegin Dr. Christine Lucyga gestellt worden ist:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß bei ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee bei ihrem Ausscheiden aus der Bundeswehr als Berufssoldat oder lebensälterer Soldat auf Zeit eine „Versorgungslücke" und eine daraus resultierende Schlechterstellung zu den Soldaten aus den alten Bundesländern mit gleich langer Dienstzeit entsteht, da die in der Nationalen Volksarmee abgeleistete Dienstzeit bei der Berechnung der Dienstzeitversorgung unberücksichtigt bleibt, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die aus der gravierenden Ungleichbehandlung resultierenden Härten für diese ehemaligen Soldaten zu mildern?
Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Frau Kollegin, bei der Umsetzung der Regelungen des Einigungsvertrags wurde grundsätzlich festgelegt, daß Dienstzeiten in der ehemaligen Nationalen Volksarmee allein rentenrechtlich berücksichtigt werden. Die als Soldaten auf Zeit in die Bundeswehr übernommenen Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee haben nach dem Soldatenversorgungsgesetz die gleichen Ansprüche auf Berufsförderung und Dienstzeitversorgung wie die Soldaten auf Zeit aus den alten Bundesländern. Eine lebenslange Versorgung ist dem geltenden Dienstrecht der Soldaten auf Zeit fremd. Von einer gravierenden Ungleichbehandlung kann daher in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden.
Der Bundesminister der Verteidigung ist sich aber natürlich der Schwierigkeiten bewußt, denen sich insbesondere lebensältere Soldaten gegenüberstehen, die verständlicherweise Hilfe vor allem durch die
Bundeswehr erwarten, wenn sie nach nur kurzer Dienstzeit aus den Streitkräften ausscheiden müssen. Deshalb leistet das Bundesministerium der Verteidigung sowohl im Rahmen dienstzeitbegleitender und dienstzeitbeendender Maßnahmen des Berufsförderungsdienstes als auch in der Zusammenarbeit mit der Arbeitsverwaltung umfangreiche Hilfestellung beim Übergang in ein ziviles Beschäftigungsverhältnis.
Die Versorgung der aus der ehemaligen Nationalen Volksarmee übernommenen Berufssoldaten ist auf der Grundlage des Einigungsvertrages und der Konkretisierung durch das Renten-Überleitungsgesetz sowie die Soldatenversorgungs-Übergangsverordnung geregelt. Danach werden Zeiten im Beitrittsgebiet vor dem 3. Oktober 1990 bei der Rente berücksichtigt, es sei denn, die rentenrechtliche Wartezeit von 60 Monaten ist nicht erfüllt. Zeiten ab dem 3. Oktober 1990 werden beim Ruhegehalt berücksichtigt.
Da die Zahlung der Rente regelmäßig erst mit 65 Jahren einsetzt, Soldaten aber bereits ab dem 52. Lebensjahr in den Ruhestand versetzt werden können, hat der Gesetzgeber eine versorgungsrechtliche Überbrückung geschaffen. Von dieser Überbrückungsmaßnahme sind bisher allerdings Empfänger von Mindestversorgungen im Beitrittsgebiet ausgeschlossen. Da die Anwendung der Regelung außer bei Dienstunfähigkeit erst ab dem 60. Lebensjahr erfolgt, bleibt für die betroffenen Soldaten eine gewisse Versorgungslücke. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß der Bundesminister der Verteidigung dieses Problem kennt. Er unterstützt die Überlegungen im parlamentarischen Raum, hier Abhilfe zu schaffen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, im Rahmen eines notwendigen Rentenüberleitungskorrekturgesetzes für diesen Personenkreis Abhilfe zu schaffen?
Das ist Sache des Gesetzgebers, also des Parlaments. Wenn sich die nötigen Mehrheiten finden, gibt es diese Möglichkeiten bestimmt.
Eine zweite Zusatzfrage.
Liegen der Bundesregierung Angaben darüber vor, wie viele der jetzt aus dem Dienstverhältnis entlassenen Soldaten auf Zeit nach Ende ihrer Dienstzeit in die Arbeitslosigkeit gefallen sind, ohne daß die berufsfördernden oder berufsbegleitenden Maßnahmen gegriffen haben?
Dazu liegen mir keine genauen Zahlen vor, aber mir liegen andere Zahlen vor, die sehr positiv sind. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir natürlich alle Anstrengungen unternehmen, um den Soldaten ein späteres Berufsleben außerhalb der Bundeswehr zu ermöglichen.
Wir haben u. a. Stellenbörsen eingerichtet. Von diesen Stellenbörsen haben bis 1994 fast 3 200 Soldaten Gebrauch gemacht. Rund 400 Soldaten - das sind rund 13 % - konnten in ein Dauerbeschäftigungsverhältnis vermittelt werden. Von 1990 bis 1994 haben z. B. allein im Wehrbereich VII rund 24 300 Soldaten an dienstzeitbegleitenden Maßnahmen teilgenommen. Hierfür haben wir 45 Millionen DM aufgewendet.
Sie sehen also, Frau Kollegin, das Bundesverteidigungsministerium tut viel, um sich des Schicksals dieser Menschen anzunehmen.
Weitere Zusatzfragen dazu aus dem Haus? - Das ist nicht der Fall.
Vielen Dank, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Zur Beantwortung erschienen ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bernd Neumann.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte beantworten Sie die Frage 3, die der Herr Kollege Horst Kubatschka gestellt hat:
Welche Schlußfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem erfolgreichen Test der Windkraftanlage AEOLUS II für den zukünftigen Einsatz von Windkraftanlagen, insbesondere in Gebieten mit einer Windgeschwindigkeit von weniger als sechs Meter pro Sekunde?
Die Bundesregierung zieht aus dem erfolgreichen Test der Windkraftanlage AEOLUS II folgende Schlüsse: Die Entscheidung der Bundesregierung, die Entwicklung von Großwindanlagen zu fördern, die von mittelständischen Firmen hergestellt werden, war richtig. Nachdem die technische Machbarkeit nachgewiesen worden ist, soll in diesem Fall umweltschonender Technik die Förderung fortgesetzt werden, damit die Anlagekosten gesenkt werden können und Windstrom aus Großwindanlagen zu einem wettbewerbsfähigen Preis erzeugt werden kann.
Der Einsatz von Großwindanlagen wird das Standortpotential auch in Gebieten mit einer Windgeschwindigkeit von weniger als sechs Metern pro Sekunde besser ausnutzen können als kleine und mittelgroße Anlagen. Er wird die Landschaft weniger beeinträchtigen als viele kleinere Anlagen mit gleicher Gesamtleistung und durch eine höhere Akzeptanz und bessere Nutzung der Standortpotentiale einen nennenswerten Beitrag zur Reduktion von CO2 und Schadstoffen leisten können.
Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, ist mit dieser Anlage der Fehlschlag des berühmt-berüchtigten GROWIAN überwunden?
Ja, er ist überwunden. Sie bringen das in Ihrer Frage selbst zum Ausdruck, indem Sie von einem
„erfolgreichen Test der Windkraftanlage AEOLUS II" sprechen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, bei welcher Windgeschwindigkeit schaltet sich die Anlage ab, und besteht die Möglichkeit, die Leistung der Anlage mit Blick auf die Windgeschwindigkeiten noch weiter zu steigern, damit sie optimal ausgenutzt werden kann?
Die Frage der Windgeschwindigkeiten, der Größe der Anlagen und ihrer Erfolge ist ja gerade der Hauptgegenstand der Forschung. Aber man kann etwa sagen, daß Anlagen einer solchen Größenordnung wie AEOLUS II mit 3 Megawatt elektrischer Leistung, aber auch kleinere Anlagen bei einer Windgeschwindigkeit von etwa vier Metern pro Sekunde in Betrieb gehen und die Anlage AEOLUS II bei einer Windgeschwindigkeit von 14 Metern pro Sekunde ihre größte Leistung erbringt. Dies gilt aber auch für Anlagen kleinerer und mittlerer Größe.
Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? - Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 6 der Abgeordneten Angelika Beer:
Ich frage die Bundesregierung, ob es zutrifft, daß der Bundesnachrichtendienst im Jahr 1987 in der deutschen Botschaft in Tripolis eine Legalresidentur eingerichtet hat, und ob es nach Einrichtung der Legalresidentur eine Ausbildungshilfe für den libyschen Geheimdienst in Libyen oder in Bayern gegeben hat?
Herr Staatsminister, ich bitte um Beantwortung.
Frau Kollegin, beide Teile Ihrer Frage beantworte ich mit Nein.
Ich weise aber darauf hin, daß die Bundesregierung mit der Beantwortung dieser Frage eine Ausnahme von dem sonst strikt eingehaltenen Grundsatz der nichtöffentlichen Behandlung solcher Themen macht. Weil sich aber die Antworten in die Ergebnisse der Fragestunde vom 19. Januar 1995 nahtlos einfügen, habe ich die beiden Teilfragen beantwortet. Weitere Fragen zum Thema in diesem Zusammenhang können nur in den zuständigen parlamentarischen Gremien beantwortet werden.
Frau Kollegin Beer, Sie haben zwei Zusatzfragen.
Es ist natürlich schwer, Zusatzfragen zu stellen, wenn die Frage nicht beantwortet worden ist.
Ich würde in diesem Zusammenhang aber gern wissen, ob eventuell in dem Zeitraum vor 1987, den
wir in der letzten Fragestunde schon behandelt haben, eine Legalresidentur des BND eingerichtet wurde und, falls dies nicht der Fall ist, ob deutsche Staatsbürger in irgendeiner Form mit dem libyschen Geheimdienst zusammengearbeitet haben.
Frau Kollegin, ich sagte eben, daß wir bei der Beantwortung - es war eine Beantwortung, denn beide Teile Ihrer Frage wurden verneint - eine Ausnahme von dem strikt einzuhaltenden Grundsatz gemacht haben, nur in der PKK oder im Vertrauensmännergremium darüber zu berichten.
Es ist für mich jetzt auch ungeheuer schwierig - ich habe das beim letztenmal gesagt -, mich darum zu kümmern, wie solche Fragen in den von Helmut Schmidt und Willy Brandt geführten Bundesregierungen behandelt wurden. Ich mache es gern, aber ich weise noch einmal auf die Schwierigkeit hin, die besteht, wenn man solche Dinge noch einmal aufgreifen will.
Ich bitte Sie darum, daß die Frage von Ihrem Kollegen in der nächsten Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission gestellt wird. Ich werde ihn gern ermächtigen, Ihnen die diesbezügliche Auskunft zu geben.
Zweite Zusatzfrage.
Vielen Dank. Das hatten Sie uns in der letzten Fragestunde schon zugesichert.
Ich möchte mich nur noch einmal vergewissern, daß das Nein, das Sie ausnahmsweise hier erläutert haben, auch auf meine Zusatzfrage zutrifft, ob deutsche Staatsbürger im Zusammenhang mit dem libyschen Geheimdienst standen. Oder fällt das nicht unter Ihre Antwort?
Frau Kollegin, es würde unter meine Antwort fallen, wenn ich etwas darüber wüßte. Aber es wäre ja verwunderlich, wenn aus diesem Jahr zufälligerweise die Kenntnis bei Nachrichtendiensten angelangt wäre, daß deutsche Staatsbürger, unter welcher Abdeckung auch immer, hier eine Zusammenarbeit getätigt haben. Ich kann es gern zusätzlich abfragen. Es war nicht in Ihrer Frage enthalten; deshalb habe ich beide Teile mit Nein beantwortet. Ich glaube, das ist für Sie ein wichtiges Ergebnis; denn Sie hatten ja mit der Fragestellung wohl die Absicht zu erkunden, ob dies der Fall war. Es war nicht der Fall.
Übrigens möchte ich erwähnen, daß ich Ihnen beim letztenmal dieses Angebot nicht machen konnte, weil die Wahl der Mitglieder der PKK nicht durchgeführt war und Sie keine Möglichkeit hatten, durch Ihre Vertreter in der Parlamentarischen Kontrollkommission anwesend zu sein, was inzwischen der Fall ist.
Herr Kollege Gansel, Sie wollen eine Zusatzfrage stellen.
Kann mir die Bundesregierung die Frage beantworten, warum entgegen der Ankündigung in der letzten Fragestunde der Staatsminister im Bundeskanzleramt Schmidbauer mich nicht darüber informiert hat, ob es in der deutschen Botschaft in Tripolis Unterlagen oder Erkenntnisse über die Tätigkeit von deutschen Staatsbürgern bei der Ausbildungshilfe im militärischen Sicherheitsbereich von Libyen gegeben hat?
Herr Kollege, es gibt noch eine zweite Frage der Kollegin Beer, und bei deren Beantwortung weise ich auf diesen Punkt hin. Wenn Sie aber die Fragestellung von damals und Ihre jetzige Fragestellung betrachten, werden Sie erkennen, daß beide Komplexe von der Fragestellung her sehr unterschiedlich sind.
Wenn Sie diese Frage in dem zuständigen Gremium stellen, bin ich gern bereit, Ihnen darauf eine dezidierte Antwort zu geben. Diese kann aber nicht anders aussehen als heute.
({0})
Herr Gansel, Sie haben dazu nur eine Frage. Jeder Kollege kann - ({0})
Nein, Herr Kollege Gansel, ich habe beide Teile der Frage 6 beantwortet. Die zweite Frage kommt noch.
Herr Gansel, Sie werden mir doch keine Fehlinterpretation der Geschäftsordnung unterstellen.
({0})
Gibt es zur Frage 6 noch Zusatzfragen aus dem Haus? Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 7 auf, ebenfalls von der Kollegin Angelika Beer gestellt:
In welchem Umfang und auf welchem Sektor hat es von 1978 bis heute und Polizeihilfe sowie Hilfe bei geheimdienstlichen Tätigkeiten für Libyen gegeben?
Herr Staatsminister, ich bitte um Beantwortung.
Frau Kollegin, ich will diese Frage auch im Namen des BMVg und des BMI beantworten, weil ein Teil auch die Dienste betroffen hat.
Zur Frage zu den Diensten darf ich Ihnen sagen, daß es Hilfe bei geheimdienstlichen Tätigkeiten nicht gegeben hat. Ich darf aber sagen, daß die militärische Ausbildungshilfe von der Bundeswehr in folgendem Umfang geleistet wurde: In der Zeit von 1965 bis 1983 waren insgesamt 19 Soldaten zur Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland, darunter 8 Seekadetten und 5 Offiziere im Bereich der Fliegerausbildung. Nach 1983 wurden keine Ausbildungsmaßnahmen mehr durchgeführt.
Polizeiliche Ausbildungshilfe hat es in verschiedener Form gegeben. Die Maßnahmen wurden nicht auf dèr Grundlage des Ausstattungs- und Ausbil910
dungshilfeprogramms der Bundesregierung durchgeführt, sondern vom Bundeskriminalamt im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit ausländischen Polizeien. Die Kosten hierfür hat die libysche Seite selbst getragen.
Der Zeitraum dieser Ausbildungsmaßnahmen für die libysche Polizei erstreckte sich vom 15. März bis zum 28. März 1973 für einen Studienaufenthalt von 2 Beamten des libyschen Innenministeriums. Das Fachgebiet war Verkehrspolizei. Der zweite Teil fand von 1975 bis 1977 mit der Ausbildung von 10 Polizeibeamten auf verschiedenen Gebieten der Tatortermittlung und Kriminaltechnik statt.
1976 wurde ein deutscher Beamter zur Inbetriebnahme eines kriminaltechnischen Labors nach Libyen gesandt. 1977 gab es die Entsendung eines Beamten nach Libyen zur Beratung für den Bereich der technischen Sicherheit von Objekten. Von Februar 1979 bis Dezember 1980 bzw. bis Februar 1982 gab es eine Ausbildung von 28 libyschen Polizeibeamten beim Bundeskriminalamt und bei anderen Polizeibehörden. Von März bis Juli und im November/Dezember 1979 kam es zur Ausbildung von Schutz- und Begleitdienstbeamten durch Experten des Bundeskriminalamtes in Tripolis. Weiter gab es eine Ausbildung, die im März 1984 begonnen, aber auf Beschluß des Bundeskabinetts abgebrochen wurde. Es ging dabei ebenfalls um die Ausbildung von 10 libyschen Polizeibeamten im Bereich der Kriminalistik und Kriminologie im Bundeskriminalamt.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Beer.
Können Sie mir erklären, warum bei dieser regen polizeilichen Ausbildungstätigkeit und Unterstützung bei zivilen Maßnahmen im Bereich Räumung deutscher Minen aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch heute in Libyen liegen, keine Unterstützung oder Ausbildungshilfe geleistet wurde, obwohl die Minen von einem ehemaligen Bundeswehrangehörigen geräumt werden?
Frau Kollegin, ich sagte bereits, daß die Bundesregierung seit 1982 bis auf eine Ausnahme, die abgebrochen wurde, überhaupt keine Unterstützungsleistungen mehr erbracht hat und daß es ein Prinzip dieser Bundesregierung ist, hier unter den gegenwärtigen politischen Umständen keine Ausbildungsbeihilfe zu leisten.
Ich sprach über die Regierungsverantwortung früherer Bundesregierungen. Ich sagte es bereits beim letzten Mal im Zusammenhang mit anderen Fragen: Es steht mir überhaupt nicht an, diese Ausbildungshilfe zu kritisieren. Im Gegenteil, sie sind im damaligen politischen Umfeld zu sehen, in dem diese Ausbildungsbeihilfen geleistet wurden.
Zweite Zusatzfrage.
Da ich nicht bewerten, sondern nur fragen darf, verzichte ich auf die zweite Zusatzfrage.
Herr Kollege Gansel, Sie wollten eine Zusatzfrage stellen.
Welche Gründe hat die Bundesregierung, die mir durch Sie in der letzten Fragestunde gegebene Zusage, über etwaige Aktenvorgänge in unserer Botschaft in Tripolis betreffend mögliche militärische Ausbildungshilfe von deutscher Seite brieflich Auskunft zu geben, zurückzuziehen und jetzt auf die PKK zu verweisen?
Herr Kollege Gansel, wir haben überhaupt keine Gründe, die aus der Fragestunde vom 19. Januar 1995 übriggebliebene Zusatzfrage von Ihnen bezüglich des Wissens bzw. Unterlagen des AA und der deutschen Botschaft in Tripolis nicht zu beantworten. Die Fragen zum Ausbildungsprojekt der besagten Firma und andere Fragen habe ich noch am Freitag per Telefax dem zuständigen Ministerium zugeleitet, aber darauf noch keine Antwort erhalten. Deshalb müssen Sie sich einfach gedulden; es geht nicht in dieser Geschwindigkeit. Aber Sie wissen, daß das zuverlässig weiter bearbeitet wird. Ich sehe keinen Grund, Ihnen diese Antwort nicht zu geben.
Im übrigen: Da Sie, wenn ich das richtig gelesen habe, heute ebenfalls in das zuständige Gremium gewählt worden sind, werden Sie dort entsprechend nachfragen können.
({0})
- Aber die Frage, die Sie angeschnitten haben, wird Ihnen auch hier beantwortet.
({1})
Es weist einen erfahrenen Abgeordneten aus, daß er seine Zusatzfrage einfach per Handzeichen zu stellen versteht, wenn er keine weitere Zusatzfrage hat.
Frau Kollegin Schulte, Sie haben die nächste Zusatzfrage.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich frage Sie, Herr Schmidbauer: Wie viele Angehörige der Bundeswehr haben in diesen Jahren in Tripolis, also in Libyen, militärische Ausbildung geleistet? Sie haben uns nur von Angehörigen der Bundeswehr, die in Deutschland Ausbildungshilfe geleistet haben, berichtet. Ich möchte gerne wissen, wie viele Soldaten in Libyen Ausbildung geleistet haben.
Die gestellte Frage bezog sich darauf, in welchem Umfang und auf welchem Sektor Libyen bis heute militärische und polizeiliche Hilfe gewährt wurde. Diese Frage habe ich beantwortet. Die Frage, die Sie mir jetzt stellen, muß ich überprüfen. Ich werde jetzt nicht aus der hohlen Hand antworten. Ich gehe davon aus, daß die Intention, die in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt, eine Fehlanzeige ist. Aber ich will dieser Frage trotzdem nachgehen.
Sie ersparen sich somit eine zusätzliche Frage in der Fragestunde. Sie bekommen die Antwort schriftlich.
Gibt es weitere Zusatzfragen zu diesem Komplex? - Das ist nicht der Fall. Herr Staatsminister Schmidbauer, ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Die Fragen wird Staatsminister Werner Hoyer beantworten.
Herr Staatsminister, der Kollege Simon Wittmann, der die Frage 8 gestellt hat, bittet um schriftliche Beantwortung. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 9 des Kollegen Dr. Winfried Pinger auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Regierung der Republik Sudan derzeit offenbar eine Großoffensive gegen die Provinz West-Equatoria begonnen hat, und diese Offensive nicht nur die bemerkenswerten Erfolge der über Nichtreorganisationen finanzierten Entwicklungshilfemaßnahmen der Bundesregierung zunichte macht, sondern auch Hunderttausende nach Uganda vertreiben könnte?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Präsident! Herr Kollege Pinger, der Bundesregierung ist bekannt, daß die bewaffneten Auseinandersetzungen im Süden des Landes, vor allem im Hauptkampfgebiet Ost-Equatoria, mit unverminderter Härte weitergehen. Die derzeitigen Operationen sind weitere Versuche der Zentralregierung in Khartoum, die Geländeverluste der vergangenen Zeit wieder wettzumachen. Der Ausgang bleibt abzuwarten.
Die Offensive verschärft die ohnehin schon schwierige Flüchtlingslage weiter. Auch die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit werden gefährdet. Dennoch wird derzeit in Gesprächen mit der sudanesischen Regierung versucht, im Rahmen eines FZ-Nothilfeprogramms Basismedikamente als unmittelbare humanitäre Hilfe auch in den Bürgerkriegsgebieten an alle Bedürftigen zu verteilen.
Die Bundesregierung unterstützt seit langem finanziell und materiell die Maßnahmen der humanitären Hilfsorganisationen, um das Elend der betroffenen Menschen im Südsudan und in den benachbarten Ländern zu mildern. Im letzten Jahr stellte sie dafür einen Betrag von 7,5 Millionen DM zur Verfügung. Außerdem ist Deutschland an der Soforthilfe der EU mit mehr als 28 % beteiligt. Innerhalb der Aktion „Operation Lifeline Sudan" ist die Bundesregierung einer der größten Geldgeber.
Herr Kollege Pinger, bevor ich Sie einlade, eine erste Zusatzfrage zu stellen, möchte ich nur gerne an die Adresse des Protokolls sagen: In der Frage ist - was bei Bundestagsdrucksachen glücklicherweise selten vorkommt - ein Druckfehler enthalten. Es muß natürlich „Nichtregierungsorganisationen" heißen, nicht „Nichtreorganisationen".
Herr Kollege Pinger, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, welche Initiativen hat die Bundesregierung ergriffen, um, soweit möglich, Aktionen der Regierung des Sudans in West-Equatoria zu verhindern oder inzwischen wenigstens zu stoppen?
Die Bundesregierung muß ihre Einflußmöglichkeiten natürlich sorgfältig wägen. Sie sollte sie auch nicht überschätzen. Sie hat im Grunde zwei Ansätze, zumindest zu einer Linderung dieser grausamen Situation beizutragen: Das eine ist die humanitäre Hilfe, über die ich kurz berichtet habe und auf der wir unsere Bemühungen auch weiterhin engagiert fortsetzen werden. Das zweite ist die Frage, inwiefern eine Einflußnahme auf den Friedensprozeß - wenn man ihn überhaupt so nennen darf - möglich ist.
Wir sind uns mit unseren Partnern in der Europäischen Union einig, daß wir uns sicherlich überheben würden, wenn wir hier eigenständige Vermittlungen betreiben würden. Wir konzentrieren uns daher darauf, mit einem Dialog der Europäischen Union mit den sogenannten IGADD-Staaten - also den unmittelbaren Nachbarstaaten, die ein Interesse daran haben, daß diese Situation nicht weiter eskaliert -, einen Beitrag dazu zu leisten, daß hier eine Entschärfung der wirklich bedrohlichen Situation zustande kommt.
Darüber hinaus versucht die Bundesregierung, im unmittelbaren Dialog mit der Regierung des Sudans, der sich außerordentlich schwierig gestaltet, bescheidene Fortschritte zu erzielen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, Sie haben auf die Anstrengungen, humanitäre Hilfe zu leisten, hingewiesen. Ist der Bundesregierung bewußt, daß zusätzlich möglicherweise über eine Million Flüchtlinge nach Uganda kommen könnten oder werden, wenn die kriegerischen Aktionen weitergehen? Ist der Bundesregierung dabei bewußt, daß dann auch auf die Bundesrepublik erhebliche Folgekosten zukommen?
Herr Kollege, diese Frage berührt in gewisser Weise die nächste Frage, die als nächste zur Beantwortung ansteht. Weil auch wir das so sehen und uns dieser Problematik bewußt sind, meinen wir, daß die enge Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, die sich in dem IGADD-Rahmen zusammengefunden haben, sinnvoll ist und daß die faktisch im ZweiMonats-Rhythmus stattfindenden Bemühungen zu Vermittlungsgesprächen, mit den Sudanesen zusammenzukommen, unterstützenswert sind, daß sie aber leider bei weitem noch nicht die Erfolge gebracht haben, die wir uns dringend wünschen.
Herr Kollege Dr. Schuster.
Herr Staatsminister, wir hatten schon vor einem Jahr in diesem Hause im Rahmen einer Aktuellen Stunde die Gelegenheit, gemeinsam über die sehr schwierige Situation im Sudan zu diskutieren. Da wurde u. a. deutlich, daß die sudanesische Regierung das, was sie tut, nicht ganz ohne fremde Unterstützung macht. Da wurde deut912
lieh, daß u. a. der Iran seine schützende Hand darüber hält.
Herr Kollege Dr. Schuster, Sie müssen Ihr Anliegen in eine Frageform bringen.
Die Frage an die Bundesregierung lautet: Inwieweit hat sie ihre außenpolitischen Möglichkeiten genutzt, im Umfeld mäßigend einzuwirken?
Ich kann diese Frage nur partiell beantworten. Die Bundesregierung nutzt diese Möglichkeiten, wo immer sie sie sieht. Das betrifft sowohl unsere Partner als auch diejenigen, zu denen wir Gesprächslinien haben.
Ihre Frage im Hinblick auf den Iran kann ich hier nicht beantworten. Ich bin aber gern bereit, eine präzise Antwort nachzuliefern.
Weitere Zusatzfragen? -Frau Kollegin Uschi Eid.
Herr Staatsminister, Sie haben gesagt, daß die Bundesregierung, soweit es ihr möglich ist, auch im IGADDRahmen versucht einzuwirken. Ist Ihnen bekannt - wenn ja: Was haben Sie dagegen getan? -, daß die Regierung des Sudans den Wunsch des Generalsekretärs der Vereinten Nationen abgelehnt hat, den IGADD-Friedensverhandlungen einen persönlichen Sonderbotschafter beiordnen zu dürfen?
Ich habe keine Informationen darüber, in welcher Form unsere Vertretung bei den Vereinten Nationen hierauf gegebenenfalls Einfluß genommen hat. Ich würde eine solche Haltung der sudanischen Regierung selbstverständlich bedauern, da wir diesen Versuch der IGADD-Staaten für unterstützenswert halten und die kleinen Fortschritte, die zwischendurch erzielt worden sind, Hoffnung hatten aufkeimen lassen. Von daher würde ich es außerordentlich bedauern, wenn Ihre Information zuträfe.
Weitere Zusatzfragen zu Frage 9? - Es werden keine gewünscht.
Dann rufe ich die teilweise bereits beantwortete Frage 10, die ebenfalls der Kollege Dr. Pinger gestellt hat, auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß schon heute in Nord-Uganda über 300 000 sudanesische Flüchtlinge leben, die mangels Geldmittel und Land nur notdürftigst versorgt werden können, und ist die Bundesregierung bereit, rnaßgebliche Mittel für die Versorgung dieser Flüchtlinge durch entwicklungspolitisch orientierte Maßnahmen über die Nothilfe von UNHCR hinaus bereitzustellen, um eine spätere rasche Wiedereingliederung dieser Flüchtlinge vorzubereiten und zu ermöglichen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, der Bundesrepublik ist bekannt, daß sich im Norden Ugandas eine bereits erhebliche Zahl von sudanesischen Flüchtlingen aufhält. Eine Versorgung dieser Flüchtlinge über die Nothilfe des
UNHCR hinaus ist gegenwärtig Gegenstand einer Untersuchung.
Im Nachgang der EU-Troika-Mission nach Ruanda und in die Nachbarländer unter deutscher Präsidentschaft im September 1994 hat die ugandische Regierung die Bundesregierung um Unterstützung bei der Erstellung eines Aktionsplanes gebeten. Dieser Aktionsplan soll sowohl Vorschläge zur Beseitigung der durch die große Anzahl von Flüchtlingen verursachten Schäden als auch Vorschläge zur Bewältigung gegebenenfalls zu befürchtender weiterer Flüchtlingsströme umfassen.
Die Bundesregierung hat sofort reagiert und die GTZ mit der Erarbeitung eines Aktionsplanes beauftragt. Gegenwärtig befindet sich in Uganda eine GTZ-Expertenmission mit dem Ziel, die verantwortlichen ugandischen Stellen zu beraten und Projektansätze zu identifizieren. Der Bericht wird Mitte März vorliegen und als Basis für die weiteren Entscheidungen über künftige Aktivitäten der Bundesregierung zur Linderung des Flüchtlingsproblems dienen.
Herr Kollege Pinger, haben Sie eine Zusatzfrage? - Nein, Sie sind voll befriedigt. Werden weitere Zusatzfragen gewünscht? - Frau Kollegin Eid, bitte.
Herr Staatsminister, die Politik der sudanesischen Regierung ist nicht nur nach innen unfriedlich, um es sehr zurückhaltend auszudrücken, sondern auch gegenüber den Nachbarstaaten. Frage: Ist Ihnen bekannt, daß sich z. B. die eritreische Regierung nach über einem Jahr Bemühungen, Aggressionshandlungen über die sudanesische Grenze nach Eritrea hinein zu stoppen, an die Vereinten Nationen gewandt hat, von dort keine Reaktionen kamen, die eritreische Regierung versucht hat, durch friedliche Mittel die sudanesische Regierung davon zu überzeugen, diese Aggressionshandlungen nicht mehr zu tolerieren, und sich dann gezwungen sah, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen? Wie schätzen Sie diesen sehr weitreichenden Schritt der eritreischen Regierung ein?
Ich will nicht im einzelnen hierauf eingehen, weil mir die notwendigen Detailinformationen fehlen. Ich bitte um Verständnis. Auf jeden Fall unterstützen wir nach Kräften die Bemühungen der Nachbarstaaten, zu einer Linderung beizutragen. Ob man wirklich von Lösungsversuchen in dieser wirklich grausamen und völlig verfahrenen Situation sprechen kann, steht auf einem anderen Blatt. Aber bitte verstehen Sie, daß ich eine einzelne Aktion, die gegebenenfalls vom Sudan nicht sehr weise beschieden worden sein mag, hier nicht näher kommentiere.
Werden weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 11 auf, gestellt von unserem Kollegen Graf von Waldburg-Zeil:
Sieht die Bundesregierung angesichts der Erfolge der bisherigen Entwicklungshilfeprogramme in der Provinz West-Equatoria, die dazu geführt haben, daß diese Provinz nicht nur die eigenen Bewohner ernähren, sondern auch nennenswerte NahVizepräsident Hans Klein
rungsmittelüberschüsse erwirtschaften bzw. eine weit größere Bevölkerung aufnehmen kann, noch Möglichkeiten, im Rahmen der EU die festgefahrenen Inter-Governmental Authority on Drought and Development-Friedensbemühungen mit dem Ziel zu unterstützen, zunächst einmal eine strikte Waffenruhe in der genannten Provinz zu erreichen?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, die Möglichkeiten der Bundesregierung, eine strikte Waffenruhe in den genannten Gebieten zu erreichen, sind leider gering. Die Einflußnahme beschränkt sich darauf, im Rahmen des EU- Dialogs mit dem Sudan die IGADD-Friedensbemühungen weiter zu unterstützen, da es derzeit kein anderes Vermittlungsforum gibt. Der Mitte des Jahres 1994 begonnene EU-Dialog mit Sudan wird fortgesetzt. Kleines, bescheidenes Ergebnis ist, daß die EU-Botschaften besseren Zugang zu den Regierungskreisen vor Ort haben. Es gibt vorsichtige, leichte Anzeichen einer Verbesserung der Menschenrechtssituation, die aber sehr zurückhaltend zu bewerten sind. Zur Verbesserung des eigenen Images - so schätzen wir das ein - hat die Regierung die Einrichtung eines Friedensrates angekündigt, um die Herbeiführung einer internen politischen Lösung zu fördern.
Danke. - Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatsminister, nachdem die Bundesregierung einen so großen Wert auf die Vermittlungsbemühungen der IGADD legt: Ist Ihnen bekannt, daß die zuständigen Minister von Kenia, Uganda, Äthiopien und Eritrea beklagen, daß sie kein Sekretariat zur Verfügung haben, und wäre es nicht möglich, auf dieser sehr bescheidenen Ebene die Vermittlungs- und Friedensbemühungen der IGADD stärker zu unterstützen?
Herzlichen Dank für die Anregung, Herr Kollege. Das war mir nicht bewußt. Ich werde das gern entsprechend weitergeben.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie die anklagenden Ausführungen von Pax Christi der Niederlande, die der französischen Politik vorwerfen, plötzlich eine Wendung vorgenommen zu haben, die nicht mehr der gemeinsamen europäischen Politik im Hinblick auf den Sudan entspricht? Ich teile diese Auffassung nicht. Ich wollte Sie nur fragen: Gibt es Gespräche mit den französischen Partnern, da wir zumindest versuchen sollten, ein solches Mißverständnis zu vermeiden?
Wir stimmen uns mit den französischen Partnern - wie auch mit den übrigen, aber gerade mit den französischen Partnern - in solchen Fragen in der Regel aufs engste ab. Wenn es Befürchtungen dieser Art geben sollte, werden sie mit Sicherheit im unmittelbaren Dialog mit Paris geklärt. Ich würde es außerordentlich bedauern, wenn die gemeinsame Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in dieser Frage - wie auch sonst - in Frage gestellt wäre. Von daher werden wir auch dies noch einmal genau prüfen.
Eine Zusatzfrage von Frau Kollegin Eid.
Herr Staatsminister, Sie haben gesagt, daß die Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesregierung gering sind. Nun ist ja die Bundesrepublik Mitglied im Sicherheitsrat. Wenn die Regierung eines dem Sudan benachbarten Landes sich an die Vereinten Nationen wendet, fände ich es gut, wenn die Bundesregierung den geringen Einfluß in diesem Gremium nutzen würde, um diesem Nachbarstaat zumindest eine Antwort zukommen zu lassen, dahin gehend, was denn die UN zu tun gedenkt. Stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Bundesregierung hätte aktiv werden können, wenn sie es denn in ihrer Afrika-Politik gewollt hätte?
Die Bundesregierung sieht gerade im Zusammenhang mit ihrer verantwortlichen Rolle als nunmehr nichtständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates eine ganz besondere Verantwortung auch im Hinblick auf die Afrika-Politik, und sie wird sich dieser Frage mit Sicherheit zuwenden. Allerdings würde ich vorschlagen, Herr Präsident, daß ich die grundsätzliche Frage nach der Involvierung des Weltsicherheitsrates im Zusammenhang mit der nächsten Frage des Kollegen Graf von Waldburg-Zeil beantworte, die sich ja ausdrücklich darauf bezieht, was wir im Weltsicherheitsrat zu unternehmen gedenken. Wenn Sie einverstanden sind?
Weitere Zusatzfragen? - Nein.
Dann rufe ich die Frage 12, ebenfalls vom Kollegen Graf von Waldburg-Zeil gestellt, auf:
Welche Schritte plant die Bundesregierung, wenn die Inter-Governmental Authority on Drought and Development-Friedensbemühungen zu keinem sofortigen Erfolg führen, sich sowohl innerhalb der EU als auch insbesondere innerhalb des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für die Errichtung einer demilitarisierten Zone unter internationaler Überwachung in West-Equatoria einzusetzen, damit nicht nur die Bewohner dort überleben können, sondern auch Flüchtlinge aus Uganda, aber ebenso aus den Vertriebenenlagern um Khartoum dorthin zurückkehren könnten?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, bei der Behandlung des Konflikts im südlichen Sudan konzentriert die Bundesregierung ihre Bemühungen auf die politische Unterstützung des durch die IGADD-Initiative getragenen regionalen Ansatzes zur Suche nach einer friedlichen Lösung. Nach Auffassung der Bundesregierung und der Mehrheit der Sicherheitsratsmitglieder würde eine formelle Befassung des Sicherheitsrates eher zu einer Verschärfung der Fronten führen und damit den Anstrengungen der IGADD zuwiderlaufen. Allerdings sieht die Bundesregierung in einer Diskussion des Themas im Sicherheitsrat unterhalb einer formellen Befassung ein geeignetes Mittel, dem Verhand914
lungsprozeß positive Impulse zu geben, und setzt sich insofern für eine Behandlung des Themas durch den Sicherheitsrat in dieser Form ein.
Zusatzfrage?
Herr Staatsminister, könnte die Frage der Einrichtung einer Sicherheitszone, die ja immer weitgehend die Zustimmung der Konfliktparteien erfordert, erleichtert werden, wenn der sudanesischen Regierung klargemacht werden könnte, daß West-Equatoria aufnahmefähig auch für Flüchtlinge aus dem Raum Khartum wäre?
Ja. Allerdings sehe ich bisher keine Bereitschaft bei den Konfliktparteien, darauf einzugehen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, daß zumindest bei der anderen Konfliktpartei, der SPLA, eine Bereitschaft besteht, sich bei einem entsprechenden Beschluß an der Einrichtung einer Sicherheitszone in West-Equatoria zu beteiligen?
Nach den mir gegenwärtig vorliegenden Informationen über die Haltung der SPLA ist diese Frage leider nicht eindeutig zu beantworten, da es auch dort mittlerweile mehrere Strömungen gibt, die nicht vollständig aufeinander abgestimmt sind.
Keine weiteren Zusatzfragen? - Die Kollegin Marieluise Beck ist nicht im Saal. Bezüglich ihrer Fragen wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 15, gestellt vom Kollegen Dr. Christian Schwarz-Schilling, auf:
Stimmt die Bundesregierung tatsächlich damit „überein, daß im Ergebnis nur eine tragfähige politische Lösung eine gesicherte Versorgung ({0}) ermöglicht" ({1}) und man damit - angesichts der Tatsache, daß eine politische Lösung durch die Haltung der bosnischen Serben seit dreieinhalb Jahren fehlgeschlagen ist und es auch nicht zu erwarten ist, daß hier in den nächsten Wochen eine entscheidende Änderung ansteht - offensichtlich glaubt, daß die Europäischen Nationen und die USA es einfach hinnehmen können, daß vor unseren Augen heute und jetzt Tausenden von Menschen langsam, aber systematisch das Leben durch Krankheit ({2}), durch Hunger ({3}) und durch Kälte ({4}) einfach ausgeblasen wird?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, die Bundesregierung ist nicht der Meinung, daß die unerträgliche Versorgungslage der Bevölkerung in Bihač „hingenommen werden " kann. Mit ihren Partnern im Sicherheitsrat, in der Kontaktgruppe und in der EU setzt sich die Bundesregierung für die Stärkung des Waffenstillstands und gleichzeitig für eine Verstärkung der humanitären Hilfe in ganz Bosnien ein.
In den letzten Wochen sind die folgenden humanitären Hilfsanstrengungen unternommen worden: Im Zeitraum Dezember/Januar ist es dem UNHCR gelungen, vier Konvois in die Bihač-Tasche zu bringen, am 16. Dezember mit 105 t, am 27. Dezember mit 91 t, am 11. Januar mit 110 t und am 17. Januar mit 112 t.
Das reicht bei weitem nicht aus. Der UNHCR strebt eine Frequenz von zwei bis drei Konvois in der Woche an. Mehr als einer ist zur Zeit nicht durchführbar. Die Bilanz laut UNHCR ist: Auf einen erfolgreichen Versuch kommen leider immer noch mindestens zwei Fehlversuche.
Zum IKRK: Zwei IKRK-Konvois mit medizinischen und Hygienehilfsmitteln haben Bihač am 11. und 13. Januar erreicht. Das waren die ersten erfolgreichen Bemühungen seit Mitte Oktober 1994. Der Umfang dieser Konvois dürfte jeweils bei etwa 15 % der UNHCR-Mengen liegen. Das hängt mit der Qualität der IKRK-Konvois zusammen, bei denen es in erster Linie um Medikamente, Wasser und Materialien zur Sicherung der Wasserqualität geht.
Eine quantifizierbare Relation zwischen erfolgreichen Konvois und Konvoiversuchen gibt es beim Roten Kreuz nicht. Konvois werden dort erst auf den Weg geschickt, wenn die Zustimmung aller Parteien gegeben ist.
Das Verbindungsbüro Deutsche Humanitäre Hilfe in Zagreb steht in regelmäßigem Kontakt mit dem UNHCR und hat die im Lager des Verbindungsbüros befindlichen ca. 120 t Nahrungs- und Hygieneartikel zur Mitnahme in die Bihač-Tasche angeboten.
Eine deutsche Beteiligung am Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft ist auf Grund der technischen Ausstattung der deutschen Luftfahrzeuge - Trans-all - und dem anzuwendenden Verfahren nur zusammen mit der US-Luftwaffe möglich. Sollten sich die Vereinigten Staaten entschließen, auf Antrag des UNHCR diese Operation wieder aufzunehmen, ist eine Beteiligung deutscher Luftfahrzeuge innerhalb von 72 Stunden möglich. Die erwähnte grundsätzliche Bereitschaft, sich innerhalb von 72 Stunden an Hilfsmaßnahmen zu beteiligen, würde natürlich auch für Srebrenica gelten.
Ich darf an dieser Stelle als letzte Information hinzufügen, daß uns heute morgen die Nachricht erreicht hat, daß am 24. Januar ein UNHCR-Konvoi mit Nahrungsmitteln, und zwar inklusive Salz, das von besonderer Bedeutung ist, Srebrenica erreicht hat.
Zusatzfrage, Herr Schwarz-Schilling.
Herr Staatsminister, Sie sagten eben, daß, wenn die Vereinigten Staaten eine solche Abwurfaktion wieder aufnehmen, sich die Deutschen daran beteiligen werden. Gibt es auch von deutscher Seite Initiativen, die die Richtung haben, daß auch Non-governmental Organizations in die Lage versetzt werden, ihre angesammelten Hilfsgüter zur hungernden Bevölkerung nach Bihač hineinzubringen, denn wie Sie selber
gesagt haben, ist das, was bisher geliefert wurde, alles andere als ausreichend.
Eine politische Lösung ist noch weit entfernt, so daß die Frage klar lautet: Welche politischen Initiativen hat die Bundesregierung in ihrer Planung, wenn von der Seite der bosnischen Serben, der Krajina-Serben oder der abtrünnigen Abdič-Leute eine Blockade so fortgesetzt wird wie bisher oder sich sogar verstärken wird?
Sie können davon ausgehen, daß es zum einen das Ziel der Bundesregierung ist, mit den Nichtregierungsorganisationen aufs engste zusammenzuarbeiten, national wie international, und daß wir im UNHCR-Zusammenhang zu jeglicher Mitwirkung bei der Linderung der katastrophalen Lage bereit sind.
Zweite Zusatzfrage? Oder soll ich die nächste Frage aufrufen?
Die nächste Frage bitte.
Ich rufe die Frage 16 auf, die ebenfalls der Kollege Christian Schwarz-Schilling gestellt hat:
Angesichts der Äußerungen des UNO-Generalsekretärs am Donnerstag/Freitag, 18./19. Januar 1995 hier in Bonn, daß die VN zu der klaren Auffassung gekommen ist, daß „ Peacekeeping-Maßnahmen " in Bosnien-Herzegowina nicht ausreichen, sondern „Peace-enforcement-Maßnahmen " erforderlich seien und diese Maßnahmen von ihm persönlich bei den Mitgliedstaaten dringend angefordert worden seien, frage ich die Bundesregierung: Wie haben die Bundesrepublik Deutschland und die Mitgliedstaaten der Kontaktgruppe darauf reagiert - zumal die Kontaktgruppe bei der Präsentierung des Friedensvorschlages vom Juli 1994 davon sprach, daß bei Ablehnung des Friedensplanes die ({0}) „Sicherung und Ausweitung der Friedenszonen der VN" vorgenommen werden muß, und welche Initiativen wird die Bundesregierung unverzüglich ergreifen, um die Vernichtung der Bevölkerung der Bihač-Zone in den nächsten Wochen durch geeignete Maßnahmen zu verhindern?
Herr Kollege, der UN-Generalsekretär hat in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses hier in Bonn am 20. Januar im Zusammenhang mit Ihrer Frage nach militärischer Durchsetzung der Schutzzonen darauf hingewiesen, daß UNPROFOR auf Grund seiner derzeitigen Fähigkeiten und Möglichkeiten hierzu nicht in der Lage ist. Gründe hierfür sind u. a. eine zu geringe Truppenpräsenz und die begrenzte Abschreckungswirkung bisheriger Lufteinsätze, wie z. B. in Bihač.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihnen das erf order-liche Mandat für ein massiveres Vorgehen zu erteilen und die erforderlichen Mittel einschließlich Truppen und zusätzliches Material zur Verfügung zu stellen.
Die politischen Entscheidungen zu UNPROFOR liegen beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Generalsekretär hat bereits am 1. Dezember 1994 dem Sicherheitsrat einen Vorschlag zur Demilitarisierung der Schutzzonen in Bosnien unterbreitet. Die Vorschläge des Generalsekretärs der Vereinten Nationen haben derzeit im Sicherheitsrat keine Chance. Das Demilitarisierungskonzept des Generalsekretärs geht über das bisherige Mandat hinaus, erfordert erhebliche Ressourcen und baut auf die Kooperation der Konfliktparteien.
Präsident Izetbegovic lehnte den Vorschlag des Generalsekretärs zur Demilitarisierung bereits ab. Zweifel an der Zustimmung anderer bestehen. Voraussetzung für ein entschlossenes militärisches Vorgehen sind die zur Zeit nicht vorhandene entsprechende Bereitstellung der truppenstellenden Staaten sowie der politische Konsens innerhalb der Völkergemeinschaft.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, die UNPROFOR gibt selber zu, daß sie nicht in der Lage ist, in dieser Frage die eigentlich ihrem Mandat obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Auf der anderen Seite - so höre ich von allen Regierungen Europas - bedrängen wir die UN, doch um Gottes willen aus Bosnien-Herzegowina nicht abzuziehen. Dasselbe gilt auch für die Krajina.
Heißt das, daß wir der Auffassung sind, daß wir der UN weiterhin zumuten, eine solche Rolle zu spielen, unter Einbuße aller Reputationen, die sich in der dortigen Gegend stündlich, täglich, wöchentlich und monatlich immer mehr ins Negative wandeln?
Sind Sie weiterhin nicht der Auffassung, daß eine Änderung der Haltung der Europäischen Nationen sowohl im Sicherheitsrat wie in der UNPROFOR wie im NATO-Rat auch zu einer entscheidenden Änderung unserer Haltung führen könnte?
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich habe für Ihre Frage außerordentlich großes Verständnis. Ich habe die Frage eben deshalb so klar und realistisch beantwortet, weil mich diese Situation in keiner Weise zufriedenstellen kann.
Auf der anderen Seite sind wir aber gut beraten, stets daran zu denken, daß wir aus Gründen, die jetzt nicht Gegenstand der Fragestunde sein können, sondern weit über diesen Betrachtungszusammenhang hinausgehen, selber keine Truppen stellen. Deshalb sind wir, denke ich, gut beraten, uns selber mit Forderungen nach massivem militärischem Vorgehen anderer zurückzuhalten.
Die Bundesregierung setzt sich natürlich weiterhin nachdrücklich dafür ein, die Friedensbemühungen auf der Grundlage der Akzeptanz des Friedensplans der Kontaktgruppe als Ausgangspunkt für Friedensverhandlungen voranzutreiben. Ich denke, es würde uns nicht gut anstehen, unsererseits die Optionen, die militärisch gegeben sein könnten, voranzutreiben, wenn wir selber nicht in der Lage oder bereit sind, uns entsprechend zu beteiligen.
Zusatzfrage.
Gilt dieses Nicht-in-Lage- oder Nicht-willens-Sein auch für den Fall, daß über militärische Aktionen die humanitäre Hilfe z. B. in die seit Monaten eingeschlossene Enklave Bihač in einer entsprechenden Notsituation gebracht wird, zumal Bihač nur einen
Korridor von rund 30 km bräuchte, den sogar die Kroaten bereit waren mit herzustellen, was aber auf Betreiben der Vereinigten Staaten und Deutschlands verhindert worden ist?
Herr Kollege, diese Frage gehört wirklich in einen sehr viel weiteren Zusammenhang, nämlich der Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, sich gegebenenfalls nicht nur an einem möglichen UNPROFOR-Rückzug, sondern auch an der Durchsetzung der humanitären Hilfe mit eigenen Menschen und eigenem Material zu beteiligen. Das ist die ganz grundsätzliche Frage, die dann zu beantworten sein wird.
Wir haben lange in den entsprechenden Ausschüssen darüber diskutiert, und die Bundesrepublik Deutschland muß sich eine Meinung bilden zu dieser sehr grundsätzlichen Frage. Bisher haben wir eine ganz klare Antwort dahin gehend gegeben, daß auf Grund der historischen Verstrickung eine Präsenz deutscher Truppen, deutscher Soldaten auf dem Boden von Bosnien-Herzegowina nicht in Frage kommt.
Werden aus dem Haus weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Herr Staatsminister, da die Kollegin Beck gerade nur eben einen Moment herausgerufen worden war, als ihre Frage aufgerufen wurde, rufe ich jetzt nachträglich die von ihr gestellte Frage 13 auf:
Was gibt der Bundesregierung Anlaß zu der Einschätzung, daft anders als im Jahr I 994 der deutsche Konvoi ab März nicht mehr notwendig sei, obwohl nach wie vor der überwiegende Teil Bosniens nicht frei zugänglich ist und damit die humanitäre Hilfe von NGOs und privaten initiativen nicht mittels kommerzieller Transportunternehmen oder privater Fahrten in die Notstandsgebiete gebracht werden kann?
Ich hitte. Herr Staatsminister, um Beantwortung.
Herr Präsident, sehr gerne, zumal trotz des grauenvollen Zusammenhangs diese Frage eine positivere Beantwortung ermöglicht, als das vorher der Fall war.
Die Finanzierung des deutschen Konvois ist zunächst bis zum 31. März 1995 gesichert. Die Fortsetzung des Konvois über diesen Zeitpunkt hinaus hängt vom Ergebnis der Prüfung einer weiteren Finanzierung ab.
Die Bundesregierung ist überzeugt, daß - sofern nach dem genannten Zeitpunkt weiterhin die sachliche Notwendigkeit besteht, was ja nicht unwahrscheinlich ist - eine Lösung gefunden werden kann, bei der das Transportpotential des Konvois den privaten Initiativen erhalten bleibt. Über die Form und Ausgestaltung sollte man dann allerdings gesondert reden, und deswegen haben wir diese Prüfung angesetzt.
Zusatzfrage.
Wann wird mit der Entscheidung der Bundesregierung zu rechnen sein? Die NGOs müssen ja
Planungen anstellen und wissen, auf welche Transportkapazitäten sie zurückgreifen können, denn die kommerziellen Transporte kommen in große Teile Zentral- und Ostbosniens nicht durch.
Ja, wir sind uns darüber im klaren, daß diese Entscheidung nicht auf die lange Bank gehört, sondern wegen der Planungssicherheit recht bald getroffen werden muß. Ich kann das nicht in Form einer konkreten Anzahl von Tagen von heute an beziffern, aber wir sind uns dessen bewußt, daß diese Konvois nicht nur ein in der Tat effektives Mittel der Hilfe sind, sondern darüber hinaus eben auch ein sehr kostenintensives Mittel.
Für den Aufbau der Strukturen und den Betrieb wird das Auswärtige Amt bis März 1995 insgesamt 8,2 Millionen DM zur Verfügung gestellt haben, und deswegen die Prüfung. Sofern sich kostengünstigere Alternativen zur Realisierung der gleichen Hilfseffekte eröffnen sollten, müßten diese gewählt werden, um Finanzmittel für zusätzliche Hilfen freizusetzen.
Die zweite Zusatzfrage.
Es ist wahrscheinlich, daß unter die kostengünstigeren Varianten die Nutzung der kommerziellen Transportunternehmen fallen wird, auf die auch die Bundesregierung in Beantwortung anderer Anfragen schon hingewiesen hat.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese kommerziellen Konvois sehr abhängig davon sind, wie sich das Kriegsgeschehen entwickelt, also von einem Tag auf den anderen nicht mehr bereit sind zu fahren, und schon heute, obwohl es einen weitgehenden Waffenstillstand in Zentral- und Ostbosnien gibt, die kommerziellen Transporte nicht weiter als bis Srebrenica fahren?
Ich bin mir über die Unterschiede durchaus im klaren. Es wird darauf ankommen, hier eine sorgfältige Abwägung vorzunehmen. Wie sie letztendlich ausgehen wird, kann ich Ihnen leider nicht vorhersagen.
Die Frage 14 ist ebenfalls von Frau Kollegin Beck gestellt:
Ist die Bundesregierung bereit, die Luftahwurfprogramme für bosnische Enklaven wieder aufzunehmen, nachdem die von serbischer Seite zugesagte Vereinbarung nicht eingehalten worden ist, den seit Monaten durchgeführten systematischen Salzentzug in der Enklave Srebrenica aufzugeben, und nachdem „Ärzte ohne Grenzen" darauf hinweist, daß die ProKopf-Kalorienversorgung für die Bevölkerung in der Enklave seit Monaten nicht über ca. 900 Kalorien pro Tag liegt?
Herr Staatsminister, ich bitte um Beantwortung.
Eine deutsche Beteiligung am Abwurf von Gütern aus der Luft ist auf Grund der technischen Ausstattung der deutschen Luftfahrzeuge und angesichts des anzuwendenden Verfahrens nur zusammen mit der US-Luftwaffe möglich. Sollten sich die Vereinigten Staaten entschließen, auf Antrag des UNHCR
diese Operation wieder aufzunehmen, ist eine Beteiligung deutscher Luftfahrzeuge hieran innerhalb von 72 Stunden möglich.
Zusatzfrage.
Nach meinen Informationen kann das Begehren nicht nur vom UNHCR ausgesprochen werden, sondern auch von seiten der jeweils beteiligten nationalen Regierungen.
Angesichts der Tatsache, daß der Bundesregierung ja nun bekannt ist, daß die Versorgungslage in manchen Enklaven äußerst prekär ist, stellt sich dann doch die Frage, ob nicht von seiten der Bundesregierung die Anfrage an die beteiligten Partner gerichtet werden könnte, diese Luftabwurfprogramme wieder aufzunehmen.
Das ist in der Tat grundsätzlich möglich. Trotzdem werden wir uns natürlich des Sachverstands des UNHCR stets bedienen. Da der UNHCR uns signalisiert hat, daß man gegenwärtig der Auffassung sei, der Zugang auf dem Landweg nach Srebrenica reiche aus, sieht die Bundesregierung deshalb gegenwärtig keine Notwendigkeit für Abwürfe aus der Luft. Wir sind uns aber darüber im klaren, daß wir uns hier sozusagen bereithalten müssen.
Zweite Zusatzfrage.
Ich greife jetzt nicht auf Informationen des UNHCR, sondern von „Médecins sans Frontières", Belgien, zurück, die in Srebrenica tätig sind und die Zahlen haben, daß in Srebenica seit Monaten eine Pro-Kopf-Versorgung von etwa 900 Kalorien pro Tag besteht - und nicht mehr. Der Verbrauch eines Erwachsenen liegt bei etwa 2 500 Kalorien pro Tag. Geht die Bundesregierung davon aus, daß diese 900 Kalorien ausreichend sind, oder wäre es nicht doch an der Zeit, die Luftabwurfprogramme wieder aufzunehmen?
Nein, die bisherige Versorgung in Srebrenica reicht keineswegs aus. Allerdings auch das habe ich vorhin dargestellt - hat der UNHCR gerade ja auch erst heute noch - die Information geliefert, daß eine Verbesserung im Zugang auf dem Landweg nach Srebrenica eingetreten ist, so daß ich keine Veranlassung sehe, hier unmittelbar eine Veränderung der Haltung der Bundesregierung vorzunehmen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schwarz-Schilling, bitte.
Entschuldigung, ich hatte an sich zur ersten Frage von Frau Beck eine Zusatzfrage. Aber das wurde gerade übersehen.
Ich nehme an, ich habe Sie übersehen. Ich entschuldige mich dafür. Ich nehme an, der Herr Staatsminister ist gern bereit, diese Frage auch jetzt noch zu beantworten.
Kein Problem.
Herr Staatsminister, wenn die kommerziellen Transporte als Möglichkeit gesehen werden, wird dabei auch bedacht, wieviel von den kommerziellen Transporten, um die Blockierer zu befrieden, jeweils abgeladen werden muß und wie die Quote der jeweiligen Mittel
Nahrungsmittel und Hilfsgüter - bei dem deutschen Transport gewesen ist und wie die Quote bei den privaten Transporten ist, um ihre Tätigkeit überhaupt. durchzuführen? Geht das mit ein in die Überprüfung? Ist es da nicht sinnvoller, den deutschen Transport beizubehalten?
Herr Kollege, ich bin der festen Überzeugung, daß diese Überlegung mit in die Abwägung eingehen muß.
Ich bedanke mich herzlich. Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Wir haben sie um 15 Sekunden überschritten. Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Ich nehme die Gelegenheit schnell zum Anlaß, an die Adresse aller zu sagen, daß nach unserer Geschäftsordnung die Fragen kurz gefaßt sein müssen, damit auch eine kurze Beantwortung möglich ist. Das Ganze wird ein bißchen schwierig, wenn die Regierung - das bezieht sich jetzt nicht auf Sie, Herr Staatsminister - durch eine so umfassende Fächerschußfrage dazu veranlaßt wird, halbe Lexika hier vorzutragen. Dann ist das Frage-und-Antwort-Spiel stark gehemmt.
Ich bitte doch sehr, dies künftig wieder ein bißchen stärker zu berücksichtigen. Außerdem sieht unsere Geschäftsordnung vor, daß die Frage weder unsachliche Feststellungen noch überhaupt Wertungen enthalten soll. Also: Ein langer Vorlauf mit Wertungen ist an sich schon geschäftsordnungswidrig.
Nun gibt es immer Situationen, wo bei längeren Fragestellungen auch längere Antworten notwendig sind. Aber wenn wir wieder ein bißchen zur Kürze zurückkehren, dient das auch der Lebendigkeit des parlamentarischen Lebens. Ich bedanke mich sehr.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde
Reise des Bundeswirtschaftsministers nach St. Petersburg
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema beantragt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Volmer.
Heer Präsident! Meine Damen und Herren! Am Freitag verabschiedete der Bundestag einstimmig eine Resolution, die den russischen Angriff auf Tschetschenien verurteilte. Am Freitag hatte die Bundesregierung auf Druck der Opposition offiziell ihre Haltung ändern müssen. Am Freitag ging sie zu Rußland auf Distanz - verbal. Aber schon am Montag flog Wirtschaftsmini918
ster Rexrodt nach Rußland, um Geschäfte zu machen. Dies ist ein Affront gegen den Deutschen Bundestag, den wir zurückweisen müssen.
({0})
Aus guten Gründen haben auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bisher keine Wirtschaftssanktionen gefordert. Aber der Verzicht darauf heißt nicht „weiter so". Es darf kein Business as usual geben.
({1})
Herr Rexrodt, Sie haben zwar betont, die Kritik an der russischen Aggression dürfe kein Lippenbekenntnis bleiben, aber nichts anderes haben Sie getan. Sie haben artig Ihr Mißfallen ausgedrückt, artig auf die diplomatische Antwort gewartet, und dann gingen Sie über zum geschäftlichen Teil der Veranstaltung. Nicht nur zahnlos war Ihre Kritik, Herr Rexrodt, sondern es war schlimmer: Im Prinzip haben auch Sie den Krieg wieder verharmlost, indem Sie Sanktionen zwar für möglich hielten, aber nur für den Fall, daß sich der Krieg verschlimmere - als sei das massenhafte Hinschlachten von Kindern, Frauen und alten Menschen nicht schon der Gipfel der Grauenhaftigkeit.
({2})
Mit dieser Verharmlosung, Herr Rexrodt, setzen Sie die Politik Ihres F.D.P.-Kollegen, Außenminister Kinkel, fort, der in mittlerweile mehreren Briefen an die Bevölkerung die Berechtigung des russischen Angriffskrieges zu erklären versucht. Nachdem Herr Kinkel einen kürzlich aufgetauchten Brief als Einzelfall abgetan hat, beweisen nun neue Schreiben - siehe „Frankfurter Rundschau" von heute -, daß es sich nicht um den Fehler eines voreiligen Mitarbeiters handelte, sondern um die offizielle Politik des Auswärtigen Amtes.
Wir verlangen, daß Herr Kinkel hierzu erneut Stellung nimmt. Wir lassen nicht zu, daß er sich aus der Verantwortung stiehlt und alles auf weisungsgebundene Mitarbeiter abschiebt. Wir werden Herrn Kinkel nicht mit einem Bauernopfer davonkommen lassen.
({3})
Wir fragen: Was sagt eigentlich der Bundeskanzler zu diesem Getümmel? Der Bundeskanzler hat in den letzten Wochen wirklich ein weites Herz bewiesen. Er scheint alles irgendwie verständlich zu finden: Irgendwie versteht er Herrn Rexrodt und die deutsche Wirtschaft, irgendwie versteht er Verteidigungsminister Rühe, der sich von Gratschow distanziert, irgendwie versteht er Herrn Kinkel, der mit Kosyrew innige Dialoge führt, irgendwie versteht er seinen Freund Boris, und irgendwie versteht er auch Dudajew. Wir fragen Sie, Herr Bundeskanzler: Wen verstehen Sie eigentlich nicht in diesem Konflikt?
({4})
Wer regiert hier eigentlich wen? Gibt die Außenpolitik den Rahmen für die Wirtschaft vor, oder wird sie selbst getrieben? Es hat den Anschein, als habe der Ostausschuß der deutschen Wirtschaft den Bundeswirtschaftsminister vor sich hergeschoben: als Handelsvertreter nach St. Petersburg und als PR-Mann nach Bonn, wo er erklären soll, daß das alltägliche Geschäftemachen irgendwie dem Frieden diene.
Ich frage Sie, Herr Rexrodt: Warum konnte die Reise nicht verschoben werden, bis der Krieg beendet ist? Warum nicht, wo im Moment die Mitgliedschaft Rußlands im Europarat zu Recht auf die lange Bank geschoben und das Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen Union nicht ratifiziert wird? Ich sage Ihnen, warum: Just in dem Moment, in dem in Europa endlich einmal gemeinsame außenpolitische Schritte gemacht werden - woran der Bundesregierung angeblich immer besonders gelegen war -, geht es nach Ihrem eigenen nationalen Interesse, und das heißt immer noch wirtschaftliche Expansion und Verbesserung der deutschen Konzernbilanzen.
Zu Zeiten Gorbatschows wäre eine entschlossene Außenwirtschaftsstrategie nötig gewesen, um ihn dabei zu unterstützen, das stalinistische Integrationsmodell, das auf Repression und militärisch-industriellem Komplex fußte, durch den Ausbau der Konsumgüterindustrie und allgemeine Wohlstandssteigerung zu ersetzen. Damals war man sehr, sehr zurückhaltend. Heute dient der Handel angeblich der Stabilisierung der Demokratie. Aber daß eine ungerichtete Wirtschaftspolitik ausgerechnet die demokratischen Elemente stützt, ist eine reine Behauptung. Im Moment sehe ich hauptsächlich Chaos und als denkbares absehbares Ordnungsmodell die Einführung eines neuen Zarismus.
Ich halte fest: Es gibt in diesem Konflikt keine sinnvolle Verknüpfung von Außenpolitik und Wirtschaftspolitik durch die Bundesregierung. Die Wirtschaft interessiert sich nur dann für die Verletzung von Menschenrechten, wenn sie das Geschäft stört.
Besonders makaber ist die Äußerung von Wolff von Amerongen: Wir dürfen keine Wirtschaftssanktionen verhängen, weil wir russisches Erdgas und Erdöl brauchen. Es gibt, wie gesagt, gute Gründe gegen Sanktionen. Aber dieser ist keiner. Denn es geht beim russischen Angriff auf Tschetschenien doch auch irgendwie um eine strategische Kontrolle von Pipelines.
Herr Kollege, Ihre Redezeit!
Ich frage Sie, Herr Rexrodt: Ist der Angriffskrieg Rußlands gegen Tschetschenien im Interesse der deutschen Wirtschaft, weil er die Erdölversorgung sichert? Ich möchte eine klare Antwort auch von Ihnen als F.D.P.-Mann.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluß.
Nein, nein, Sie sind schon am Schluß.
Wenn in den letzten Jahren Geldverdienen und Wahrung der Menschenrechte in Gegensatz gerieten, entschied sich die F.D.P. für das Geld und gegen die Menschenrechte. Damit muß Schluß sein.
({0})
Die Redezeiten in der Aktuellen Stunde sind klar fixiert. Fünf Minuten heißt nicht sechs Minuten. Es tut mir leid, ich bin hier nicht der Wauwau des Hauses, aber ich muß dafür sorgen, daß alle gleichermaßen fair behandelt werden.
Ich erteile dem Kollegen Friedhelm Ost das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Volmer, Ihr Versuch eines verbalen Kraftaktes hat mich an grüne Luftballons erinnert, die aber kaum vom Boden abheben.
({0})
- Herr Fischer, auch Sie erinnern mich an so vieles. Das kann ich Ihnen nachher erzählen, nicht während meiner Redezeit.
Die Reise unseres Bundeswirtschaftsministers zur Tagung des Deutsch-Russischen Kooperationsrates war eine schwierige Reise. Er hat sie gut gemeistert.
({1})
Gerade angesichts des Krieges Rußlands gegen Tschetschenien war diese Reise richtig. Denn der Dialog zwischen Bonn und Moskau muß auf allen Ebenen fortgesetzt werden. Sie haben das doch mit beschlossen. In unserer Erklärung heißt es nämlich: Wir erklären uns bereit, auch weiterhin Partner Rußlands zu bleiben. Wie wollen Sie Partner bleiben, wenn Sie sprachlos sind? Sie müssen schon sehr vernünftig reden.
({2})
- Ich verstehe Sie nicht. Sie sprechen so undeutlich, lieber Herr Kollege Fischer.
({3})
Ganz im Sinne unserer gemeinsamen Erklärung hat der Bundeswirtschaftsminister die jüngste Tagung in St. Petersburg bestritten. Er hat ganz klar unseren politischen Willen und unseren Abscheu gegen den Krieg in Tschetschenien zum Ausdruck gebracht. Sie
sollten wirklich alles nachlesen - und nicht Ihrer Phantasie freien Lauf lassen -, was er in den Tischreden und bei anderen Gelegenheiten wörtlich gesagt hat.
Ich denke, wir sollten weiter gemeinsam unsere Linie verfolgen, jede Gelegenheit zu nutzen, auf die Achtung und Einhaltung der Menschenrechte hinzuweisen und unseren Abscheu gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen.
({4})
- Der kommt gar nicht, lieber Herr Fischer.
({5})
- Nein, wir haben ihn auch nicht eingeladen. Darum geht es nicht.
({6})
Es geht um die Reise nach St. Petersburg. Ich weiß nicht, warum Sie jetzt unbedingt nach München wollen.
Wir sind jedenfalls daran interessiert - der Bundeswirtschaftsminister, der Außenminister, der Bundeskanzler, wir alle -, daß Rußland den Reformweg weiter beschreitet. Wir wollen alles versuchen, damit Demokratie und Marktwirtschaft dauerhaft implementiert werden. Das heißt auch - sprechen Sie mit Politikern, Bürgerrechtlern oder mit wem auch immer in den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten! -, daß wir alles tun müssen, den Reformkurs vor allem wirtschaftlich und sozial zu flankieren, damit die Menschen, die jahrzehntelang unter der Diktatur gelitten haben, ganz persönlich die Erfolge dieses Reformweges spüren und erleben.
Wir haben in der Tat seit Ende der 80er Jahre gewaltige finanzielle und wirtschaftliche Anstrengungen zur Steigerung der wirtschaftlichen Entwicklung in Rußland und auch in anderen Ländern gemacht. Wir haben deutsche Unternehmen zu Recht aufgefordert und ermuntert - hier hat der Bundeswirtschaftsminister Gewaltiges geleistet -, sich in Rußland mit Investitionen stärker direkt zu engagieren, alle möglichen Formen der Zusammenarbeit zu praktizieren und den Außenhandel zu intensivieren. Damit helfen wir den Reformern in Rußland, nicht indem wir diese Stränge von heute auf morgen abschneiden.
Der Deutsch-Russische Kooperationsrat hat dabei gute Dienste geleistet, auch die Unternehmer, die sich dort engagiert haben. Es ist eine etwas billige Polemik, wenn Sie hier die deutsche Wirtschaft so pauschal angreifen, auch Herrn Otto Wolff.
({7})
-Ich war immer für eine gute Ostpolitik, nicht wie
Sie.
Ich denke, daß der Bundeswirtschaftsminister auch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Probleme sehr deutlich gemacht hat, daß wir den Reformkurs weiter begleiten wollen. Dies geschieht in der Tat am besten, wenn sich Rußland so schnell wie möglich aus dem kriegerischen Geschehen in Tschetschenien herauszieht. Deshalb war die Reise richtig. Sie war zu dieser Zeit auch gerade angezeigt.
({8})
Ich denke, gerade der Bundeswirtschaftsminister hat hier Anknüpfungspunkte aufgezeigt, damit wir die deutschrussische Partnerschaft fortführen können.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Herr Kollege Eberhard Brecht, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verteidigungsminister Gratschow bedient sich einer in Europa ja nicht ganz unbekannten Propagandamusik: Die mühsam errungenen militärischen Erfolge werden im Dreivierteltakt als große, grandiose Siege verkauft, bis hin zum angeblich erfolgten Kriegsende. Gleichzeitig werden die innerrussischen Kritiker dissonant kriminalisiert. Gratschow signalisiert damit in Richtung Europa, sich nicht in innerrussische Angelegenheiten einzumischen, die unappetitliche militärische Disziplinierung eines aufsässigen Bergvölkchens im Kaukasus nun endlich zu vergessen und die außenpolitischen und wirtschaftlichen Kontakte mit der Moskauer Regierung ungestört fortzusetzen.
Daß der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe nicht bereit war, nach dieser Melodie zu tanzen, findet unsere volle Zustimmung. Für Herrn Rühe gab es doch, lieber Herr Ost, offensichtlich eine Hemmschwelle für einen Kontakt auf allen Ebenen.
({0})
Ihre Reise nach St. Petersburg, Herr Rexrodt, entwertet die Kritik Rühes. Sie vermittelt auch den Eindruck, als sei das Blut von Tschetschenien noch gar nicht geronnen, als gebe es für die Bundesregierung nicht einmal eine Schamfrist. Ohne es zu wollen, haben Sie mit Ihrem Besuch die Propagandastrategie des Herrn Gratschow bedient. Hatten Sie nicht selbst auch ein ungutes Gefühl? Dafür sprechen die von Ihnen in die Mikrophone gehauchten Entschuldigungen und Ausdrücke der Besorgnis.
({1})
Ob Ihr verbaler Protest als Entschuldigung gegenüber den russischen Menschenrechtlern ausreicht - ich wage es zu bezweifeln.
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Memorial und andere Menschenrechtsgruppen drängen uns zu einer deutlichen Sprache des Protestes und zur Distanz gegenüber der Jelzin-Administration.
Gerade nach dem Fauxpas, den sich Bundeskanzler Kohl geleistet hat, indem er - wie Herr Kostikow mitteilte - in seinem Gespräch mit Jelzin zum Ausdruck brachte, daß er volles Verständnis für die Aktion in Tschetschenien habe, hätte die Bundesregierung ihre Schritte besonders sorgfältig wählen müssen. Herr Rexrodt, Sie haben es an dieser Sorgfalt fehlen lassen. Sie hätten einen geeigneteren Ton auf der diplomatischen Klaviatur finden können, ohne dabei die langfristigen Wirtschaftskontakte mit Rußland zu gefährden.
Während sich Verteidigungsminister Rühe des Mittels der Ausladung bediente, folgten Sie, Herr Wirtschaftsminister, der Einladung einer Regierung, die noch immer in Tschetschenien töten läßt. Angekommen in Petersburg, haben Sie sich einer interessanten Doppelstrategie bedient: Auf der einen Seite haben Sie alles unternommen, um die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen zu intensivieren, und auf der anderen Seite fuchtelten Sie mit der Drohung herum, die Wirtschaftskontakte mit Rußland abzubrechen. Es ist völlig unklar, wann diese Sanktionen eigentlich verhängt werden sollen. Welches sind denn Ihre Kriterien, wenn gegenwärtig immer noch KSZE-Prinzipien verletzt werden? Wie ernst meinen Sie es mit Ihren Wirtschaftssanktionen, wenn die Wirtschaft, deren Vertreter Sie begleitet haben, nichts von Sanktionen hält? Wie ernst meinen Sie es mit Ihrer Drohung, wenn nicht einmal in den eigenen Regierungsfraktionen dafür eine Mehrheit vorhanden ist? Haben Sie Ihre donnernde Ankündigung auch mit dem Bundesaußenminister abgesprochen, der gerade vor einer Woche in diesem Hause Sanktionen als untaugliches Mittel abgelehnt hat?
Moskau konterte inzwischen, daß es weniger empfindliche Staaten gebe als Deutschland. Diese Reaktion Rußlands war zu erwarten. Was sollte also Ihre folgenlose Kraftmeierei? Ich bin davon überzeugt, daß Sie lediglich in Erwartung der Kritik aus dem Inland prophylaktisch mit dem Sanktionsinstrument gedroht haben.
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Jetzt sitzen Sie auf einem Baum, von dem Sie nur schwer wieder herunterkommen. Leider haben Sie Herrn Kinkel auch auf diesen Baum gejagt, der nun auf internationalem Parkett erklären darf, warum Deutschland eigentlich für Sanktionen ist und eigentlich auch wieder nicht für Sanktionen ist.
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Wie durchdacht und stringent ist eigentlich noch die deutsche Außenpolitik? Offensichtlich hat jedes Ministerium inzwischen einen eigenen Außenminister in diesem Land. Der Kanzler zeigt mehr und mehr Führungsschwäche.
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Der Streit zwischen Herrn Rühe und Herrn Kinkel um die Verfügungsbereitschaftsabkommen Deutschlands mit der UNO war keine Eintagsfliege.
Herr Wirtschaftsminister, ich hätte mir gewünscht, Sie wären etwas später zu den weißen Nächten nach St. Petersburg gereist und hätten uns diese schwarzen Tage der Konfusion erspart.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft Dr. Günter Rexrodt.
herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese vierte Sitzung des Deutsch-Russischen Kooperationsrates diente, Herr Volmer, keineswegs der Verharmlosung der russischen Kriegsführung in Tschetschenien. Es war auch keine Routinesitzung, denn wir haben erstens keine Gelegenheit ausgelassen, um der russischen Seite unsere Position zu Tschetschenien deutlich zu machen, die Position, die wir hier im Bundestag besprochen und verabschiedet haben, die Position der Bundesregierung. Wir haben nichts ausgelassen, um darauf hinzuweisen, daß sich Rußlands Vorgehen nicht mit den Prinzipien der KSZE-Schlußakte im Einklang befindet.
Ich lasse mich hier auch nicht, Herr Kollege Volmer, in irgendeine Ecke stellen und so behandeln, als ob ich Menschenrechtsverletzungen verharmlose. Ich habe in Rußland - das will ich Ihnen einmal sagen - deutlichere Worte zu Tschetschenien gefunden als diejenigen, die im Zelt von Herrn Gaddafi gesessen haben, meine Damen und Herren, sie zu Herrn Gaddafi gefunden haben.
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- Herr Fischer, Sie haben ein schlechtes Gewissen. Sie können noch so laut schreien, die Lautstärke sagt doch nichts über Ihre Haltung und Ihre Sympathie, die Sie zu diesen Leuten über Jahre hinweg jeden Tag vorgeführt haben. Da können Sie noch so laut schreien.
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Wir haben nichts ausgelassen, um deutlich zu machen, was unsere Position ist. Wir haben weiterhin einen Beitrag zur Stärkung derjenigen geleistet, die in Rußland die wirtschaftlichen Reformprozesse voranbringen wollen, denn diese Prozesse sind gefährdet.
Das kann uns alle, nicht nur im materiellen Sinne, teuer zu stehen kommen.
Wir haben zweitens einen Beitrag zur Ausweitung des Handels und zur Förderung der Investitionen geleistet, insbesondere deshalb, weil in den neuen Bundesländern der Gesamtexport der Industrieunternehmen immer noch zu 20 % von Exporten nach Rußland abhängig ist.
Meine Damen und Herren, unsere Position ist gegenüber dem Oberbürgermeister von St. Petersburg deutlich gemacht worden, aber vor allem gegenüber meinem neuen Kollegen in Rußland, Herrn Jassin. Unsere Position hat in Rußland weite Verbreitung gefunden: in Fernsehen, Radio und Presse. Darüber ist ausführlich berichtet worden. Damit ist auch eine Menge geleistet worden, was unsere Position zum öffentlichen Meinungsbildungsprozeß in diesem Land angeht.
Aber ich möchte mir erlauben, hier auch einmal einzuflechten, daß ich über die ungeheuer differenzierte und kluge Form erstaunt war, in der sich russische Regierungsvertreter zum Vorgehen der eigenen Regierung und des Präsidenten in Tschetschenien geäußert haben.
Ich war auch angenehm überrascht, in welch objektiver, gleichzeitig kritischer und distanzierter Form Presse und Öffentlichkeit das russische Vorgehen beurteilen und welches Verständnis für unseren Vortrag, für unsere Kritik an der russischen Regierung geäußert worden ist. In diesem Land - diese Erkenntnis habe ich mitgebracht - hat ein Umdenk-, ein Lernprozeß stattgefunden, den ich für irreversibel halte. Der Prozeß wird auch an den kritischen und distanzierten Verlautbarungen in den Medien und an der Haltung der Öffentlichkeit deutlich.
Meine Damen und Herren, in Rußland gibt es viele Wirtschaftsführer, die dem Alten verhaftet sind und noch nicht begriffen haben, wohin es geht und gehen muß, wenn dieses Land nicht zusammenbrechen soll. Zur Integration Rußlands in die Weltwirtschaft gibt es keine Alternative. Um diese Integration herbeiführen zu können, muß der Westen in Rußland neben vielem anderem, was notwendig ist, mehr investieren. Wir haben uns vornehmlich dafür eingesetzt, daß die Investitionsbedingungen verbessert werden; denn es steht eine große Summe Kapital zur Verfügung, das auf Anlagemöglichkeiten in Rußland wartet. Dies ist im Interesse der Menschen dort und hier.
Wir haben uns dafür eingesetzt, daß das Steuersystem transparent und kalkulierbar wird, daß Grund und Boden von Privaten erworben werden können, daß die Exportmöglichkeiten verbessert werden, daß die unsägliche Bürokratie zurückgeführt, die Genehmigungspraxis verbessert wird, daß die Sicherheit für die Menschen, die dort investieren und die Wirtschaft antreiben, erhöht und die Infrastruktur verbessert wird. Die russische Seite hat hier, ganz besonders im Bereich der Transparenz und Kalkulierbarkeit des Steuersystems, eine ganz erstaunliche Bewegung gezeigt.
Wir haben uns dafür eingesetzt, daß die Kooperation und die Kontakte zwischen den Regionen in Rußland und den Regionen in Deutschland vorange922
bracht werden. Hier sind wichtige Projekte mit Perm, mit Tjumen, mit Tscheljabinsk und Wladimir auf dem Weg. Wir haben auch Netzwerke herbeizuführen versucht, indem wir Vertreter aus den neuen und alten Bundesländern mitgenommen haben, die darauf hinwirken sollten, daß die in Rede stehenden, aber durch die Bürokratie immer wieder erschwerten Projekte vorankommen.
Wir haben über den Aufbau einer großen Getriebefabrik, über eine neue Produktion von Transportern, über Erdöl- und Erdgastransporte gesprochen und ein Netzwerk für Zulieferbetriebe und den Mittelstand herbeizuführen versucht.
Meine Damen und Herren, das Ganze liegt nicht zuletzt - das ist der dritte Aspekt - im Interesse der Menschen in den neuen Bundesländern.
Die Russen haben zugesagt, in vier ostdeutschen Betrieben eine Kapitalbeteiligung aufzunehmen. Diese Kapitalbeteiligung ist, obwohl auf dem Papier vereinbart, aus vielen Gründen nicht zustande gekommen. Damit sind Arbeitsplätze in der Papierfabrik in Pirna, bei der Märkischen Faser und in anderen Unternehmen gefährdet.
Die Menschen in Ostdeutschland sind daran interessiert, daß bezüglich unserer Prinzipien in der Wirtschafts- und Handelspolitik, die wir deutlich gemacht haben, Kontinuität und Stabilität vorherrscht. Diese Kontinuität und Stabilität wollten wir unterstreichen. Dazu gehört, daß wir kontinuierlich und beharrlich darauf hinwirken, daß in Rußland die Menschenrechte eingehalten werden.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Gerhard Zwerenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Richtige zum falschen Zeitpunkt zu tun kann ein doppelter Fehler sein. Ich kann sehr viele Argumente, die der Herr Wirtschaftsminister hier vorgetragen hat, akzeptieren, aber es bleibt dabei: Er hätte sich zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall diese Petersburger Schlittenfahrt erlauben dürfen.
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Wir stimmen auch den Vorbehalten des Verteidigungsministers Rühe zu, der sich deutlich gegen den kriegskonformen russischen Verteidigungsminister Gratschow gewandt hat. Genau zu diesem Zeitpunkt ist es das falsche Signal, wenn dann jemand nach Petersburg fährt.
Wir sprechen den russischen Generälen, die sich dem Tschetschenien-Massaker verweigerten, unsere Hochachtung aus, und wir ermutigen alle Generäle in aller Welt, Kriege, zu denen sie befohlen werden und die sie nicht akzeptieren wollen, zu sabotieren.
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Wir stimmen sogar Michael Glos, CSU, darin zu, daß wir nicht weiterhin einfach für Kriege, die mit uns nichts zu tun haben, zur Kasse gebeten werden wollen.
Es muß also eine Friedensstrategie entwickelt werden, die verhindert, daß solche Kriege stattfinden. Darin, meine Damen und Herren von der Rechten, haben Sie bisher hundertprozentig versagt.
Wir stimmen dem Bundeskanzler nicht zu, der uns in der vorigen Woche hier erzählt hat, welch eine Ostpolitik er in der Sauna und beim Telefonplausch eigentlich ausrichten will, so gewissermaßen kurzgeschlossen zwischen zwei Männerfreunden. Es kommt nichts dabei heraus, mußten wir erkennen.
Wir sehen im tschetschenischen Krieg den Sündenfall eines autoritären Regimes, das sich herausbildet, und seines mental stalinistisch gebliebenen Präsidenten. Dies erinnert uns, da wir einigermaßen geschichtsbewußt sind, an den Sündenfall der Oktoberrevolution, als unter Lenin und Trotzki die aufständischen Matrosen von Kronstadt zusammenkartätscht worden sind. Offensichtlich gibt es hier einen Fall von Wiederholung. Deswegen sind wir so extrem gegen dieses neue Zusammenkartätschen von Menschen des eigenen Volkes.
Wir sollten offensiv klarmachen, daß uns diese restaurativ-kriegerische Richtung ebensowenig paßt wie daheim bei uns im eigenen Lande die hiesige restaurativ-kriegerische Richtung. Wir sind darauf angewiesen, darauf zu drängen, daß das leider in den Südregionen Rußlands vorhandene Konfliktpotential durch demokratische Mittel kultiviert und gebändigt wird und nicht durch Kriegsmittel.
Deswegen rufen wir in Erinnerung, daß alle Seiten dieses Hauses und alle Parteien und Politiker Deutschlands bei der Wende und bei den verschiedenen Wenden der letzten Jahre auf eine Rüstungskonversion gesetzt hatten, daß wir gemeinsam darin die große Chance gesehen haben. Überlegungen aber zur Rüstungskonversion spielen im Hause Rexrodt überhaupt keine Rolle, und sie spielen zunehmend auch in den anderen Kreisen keine Rolle mehr.
Wir erkennen allerdings an, daß das Auswärtige Amt noch einige bescheidene Versuche unternimmt, die Umstellung russischer Rüstungsbetriebe auf zivile Produktion zu realisieren. Wir wissen auch, daß im Forschungsministerium bescheidene Mittel bereitstehen, um ehemaligen Atom- und Rüstungsforschern zu helfen, am Wissenschafts- und Technologiezentrum in Moskau neue Arbeitsperspektiven zu erhalten. Dies akzeptieren wir. Dies ist der richtige Weg. Es geschieht zuwenig.
Es fehlt das friedensstrategische Gesamtkonzept zur wirtschaftlichen Stabilisierung Rußlands. Dies kann nur von der Bundesrepublik, wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen, entwickelt werden. Dazu fehlt es an Chuzpe, dazu fehlt es an Energie. An Geld jedenfalls fehlt es nicht. Es fehlt aber am guten Willen.
Welche Gedanken - so fragen wir - kommen dieser Bundesregierung, falls ihr überhaupt noch welche kommen, um der ins Stocken geratenen Politik der Konversion in Rußland wieder auf die Beine zu
helfen? Die zweite Frage, die sich anschließt, ist: Müßten wir in der Bundesrepublik dabei nicht mit gutem Beispiel vorangehen?
Warum wurde nicht ernsthaft geprüft, wie man einen Markt für zivile Produkte ehemaliger Rüstungsfirmen hätte mitfinanzieren können? Es fehlt, wissen wir, in Rußland an einer zahlungskräftigen Binnennachfrage. Der Direktor unseres Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien schlug vor einiger Zeit vor, der Westen solle großzügig das gesamte russische Gesundheitswesen sanieren. Damit entstünde eine Nachfrage nach zivilen Produkten, was die Rüstungsumstellung erleichterte. Doch solche Ideen, die es bei uns durchaus in großen Mengen gegeben hat und auch jetzt noch gibt, verpuffen. Es gibt dafür kein Geld. Wir geben zu, es würde viel Geld verbraucht, aber es ist auch viel Geld vorhanden. Der Marshall-plan war auch nicht eben billig.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist um.
Ich bin am Ende, Herr Präsident. - Der Marshallplan war auch nicht eben billig, und damals ging es um ein Konzept zur strategischen Stabilisierung Westeuropas. Weshalb lassen wir uns so etwas nicht zur Stabilisierung Rußlands einfallen?
Ich danke Ihnen.
({0})
Herr Professor Dr. Uwe Jens, jetzt haben Sie das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle zunächst fest: Wir Sozialdemokraten wollen die Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland nicht abbrechen. Wer sie abbricht, wird gezwungen, sie später wieder einzuführen. Wirtschaftssanktionen machen im allgemeinen die Mächtigen nur noch mächtiger und schaden den einfachen Menschen im Lande.
Aber „weiter so! " , wie Ihre Parole ist, das scheint angesichts des Mordens in Tschetschenien keine richtige Antwort zu sein.
({0})
Die für den Krieg Verantwortlichen in Moskau fühlen sich nach meiner Meinung dadurch eher bestätigt. Es ist zu befürchten, daß der Konflikt ausgeweitet und nicht abgebrochen wird. Von der Reise zurückgekehrt, kann man plötzlich in den Zeitungen lesen: „Deutschland muß zur gegebenen Zeit den Russen die gelbe Karte zeigen." Rexrodt.
({1})
Wenn dies das Ergebnis der Gespräche im Rahmen des Deutsch-Russischen Kooperationsrates ist, muß man feststellen: Dies hätte man auch eher wissen können. Gutes Zureden, wie Wirtschaftsminister Rexrodt es versucht hat, ist zuwenig, wenn man gleich anschließend zur Tagesordnung übergeht.
Der Zeitpunkt für das Treffen des Deutsch-Russischen Kooperationsrates war aus unserer Sicht falsch gewählt. Die Gespräche hätten auch in sechs Wochen, nach Beendigung des Tschetschenien-Krieges, geführt werden können.
({2})
Einige Gouverneure wichtiger Regionen Rußlands haben sich im übrigen bei den Kooperationsgesprächen vertreten lassen. Auch sie haben offenbar den Zeitpunkt für falsch gewählt empfunden.
({3})
Aber nach Ansicht dieses Wirtschaftsministers soll der Aufschwung im deutsch-russischen Handel jetzt unmittelbar bevorstehen. Die Talsohle sei durchschritten, meint er.
Woher nimmt er eigentlich diesen falschen Optimismus? Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen sind zur Zeit so schlecht wie seit langem nicht mehr. Das Treffen in St. Petersburg hat sie nicht verbessert. Deutsche Exporte können von den Russen nicht mehr bezahlt werden.
Wir sind bis vor kurzem noch für eine Verbesserung der Risikoprämien im Rahmen der Hermes-Kreditversicherung gewesen. Dies setzt jetzt allerdings voraus, daß der Tschetschenien-Krieg zunächst einmal beendet wird.
Investitionen finden so gut wie nicht mehr statt, da sie besonders besteuert werden und der Steuerwirrwarr in Rußland kaum noch zu übertreffen ist. Rechtsunsicherheit, steigende Kriminalität und die Hyperinflation machen Geschäfte mit den Russen nahezu unkalkulierbar.
({4})
Wir haben zweifellos langfristig ein elementares Interesse daran, daß es in Rußland wirklich wieder bergauf geht. Wir haben dieses Land bei dem schwierigen Weg in die Marktwirtschaft unterstützt und müssen dies auch in Zukunft tun. In erster Linie müssen die Russen sich allerdings selbst helfen. Der interne Krieg in Tschetschenien muß ein Ende haben. Die schweren wirtschaftspolitischen Fehler bei der Umgestaltung sind endlich zu korrigieren.
Wirtschaftsminister Rexrodt hat in seinem Übereifer die Situation leider nicht verbessert. Verteidigungsminister Rühe war offenbar bei der Ausladung des russischen Verteidigungsministers ein wenig geschickter. Herr Rexrodt hat sich einmal mehr wie der berühmte Elefant im Porzellanladen benommen.
Schönen Dank.
({5})
Kollege Erich Fritz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst die dick aufgetragene Moral ohne differenzierte Betrachtung bei den GRÜNEN und jetzt das „sowohl - als auch" bei Herrn Jens - das bringt uns, glaube ich, nicht weiter.
Vor einer knappen Woche haben wir hier eine gemeinsame Linie beschlossen. Diese Linie heißt: keine antirussische Stimmung, Rußland bleibt Freund und Partner. Das heißt Kritik und heißt auch Hilfe. Die Unterstützung der Reformpolitik zum Aufbau demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen ist sowohl für Rußland selbst als auch für seine westlichen Nachbarn eine unersetzliche Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung in der Zukunft.
Deshalb muß die Kritik da ausgesprochen werden, wo sie nötig ist. Auf der anderen Seite müssen wir alles tun, damit die Reformkräfte weiter stabilisiert werden. Wir dürfen nichts tun, was denen, die diese Politik bekämpfen, noch in die Hände arbeitet.
Es geht also um ein abgewogenes Verhältnis von Kritik und Hilfe. Deshalb hat sich der Wirtschaftsminister in St. Petersburg genau richtig und konsequent verhalten. Er hat seinen Gesprächspartnern unsere Position unmißverständlich dargelegt, Gewaltanwendung und Mißachtung der Menschenrechte deutlich angeprangert und gefordert, alles zu tun, damit das Blutvergießen in Tschetschenien so schnell wie möglich beendet wird.
Herr Kollege Brecht, was Sie da mit dem Höhepunkt einer angeblichen Führungsschwäche des Bundeskanzlers konstruiert haben, so müssen Sie etwas verwechselt haben. In den Zeitungen der letzten Tage ist von der Führungsschwäche des SPD-Fraktionsvorsitzenden die Rede,
({0})
während ich in der Zeitung gleichzeitig über den niederländischen Außenminister lese, daß er gesagt habe, Helmut Kohl sei ein Genie. Da müssen Sie also irgend etwas verwechselt haben.
({1})
Daß der Bundeswirtschaftsminister bei seinem russischen Amtskollegen Verständnis erwarten konnte, liegt auf der Hand. Einsichtige und reformorientierte Politiker merken natürlich, welch katastrophale Auswirkungen der Krieg unmittelbar und mittelbar auf die Chance einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Rußland und auf die Handelsbeziehungen mit den wichtigsten Partnern hat. Wenn Sie die Interfax-Meldung von gestern lesen, so stellen Sie fest, daß sich Herr Dawydow, der russische Minister für Außenwirtschaftsbeziehungen ganz eindeutig äußert, wie katastrophal sich dieser Krieg eben nicht nur auf die Reputation der Regierung, auf die Chance zu Reformen, sondern auch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse in Rußland auswirkt.
Eine Absage des Kooperationsrates wäre in dieser Situation sicher nicht hilfreich gewesen. Die Abwägung, Herr Kollege Brecht, die Sie mit Recht gefordert haben, hat doch stattgefunden. Natürlich ist niemand mit Begeisterung und Hurra da hingefahren. Die Situation war jedem klar. Der Widerspruch, der in einer solchen Zeit in solchen Gesprächen liegt, ist
auch klar. Aber bei der Abwägung aller Dinge muß zum Schluß die Entscheidung so fallen, wie sie gefallen ist, nämlich auch zu signalisieren: Wir stehen bereit, wenn - wenn! - dieses Blutvergießen in Tschetschenien endlich aufhört.
Die Gespräche haben neben dem eigentlichen Inhalt, der schon wichtig genug war, auch Anlaß gegeben, die wirtschaftlichen Folgen des Krieges deutlich aufzuzeigen. Bei den Ausgaben in - davon muß man ausgehen - Milliardenhöhe für diesen Krieg ist in der angespannten wirtschaftlichen und finanziellen Situation Rußlands entweder mit inflationären Folgen zu rechnen, oder das Geld fehlt für Investitionsmaßnahmen, für Infrastrukturmaßnahmen, für den ganzen Umbau wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse, die die Menschen, die schon jetzt diese menschlichen Tragödien erleben, dringend brauchen.
({2})
- Das ist kein Aufrechnen, Herr Kollege, sondern der einfache Hinweis, daß eine Chance auch darin liegt, ihnen ganz klar zu machen, daß sie sich ins eigene Fleisch schneiden, daß sie ihre Chancen, die jetzt als Morgenröte am östlichen Himmel auftauchen, kaputtmachen, wenn sie in dieser Weise weitermachen.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist klar, daß der Bundesminister richtig gehandelt hat. Deshalb ist auch klar, daß die Wirtschaftskontakte weitergehen müssen. Ich sage dazu aber eines: Es gibt für mich und wahrscheinlich für uns alle eine Wendemarke. Vorhin wurde gefragt - ich glaube, von Ihrer Seite -: An welcher Stelle kommt die gelbe Karte? Für mich ist diese Stelle eindeutig definiert. Es gibt keine mathematisch bestimmbare Ideallinie für unser jetziges Verhalten, aber es gibt eine Stelle, die beachtet werden muß. Sollte der Krieg in Tschetschenien nicht beendet werden
({3})
- in absehbarer Zeit - und sollte sich Rußland in eine langanhaltende kriegerische Auseinandersetzung verwickeln lassen, muß die Frage beantwortet werden, ob internationale Finanzhilfen und wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht in Fremdfinanzierung eines Krieges umschlagen. Das wäre die Stelle, an der jeder, der auf der Seite der Menschenrechte und der Menschen in Tschetschenien steht, auch Partnern und Freunden sagen muß: So geht es nicht, jetzt müssen die Mittel deutlicher werden.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat Kollege Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, was hat denn Ihre Petersburg-Reise eigentlich gebracht? - Keine nachweisbaren Erfolge, keine neuen VertragsWerner Schulz
abschlüsse, keine Forcierung der schleppenden Geschäfte, keinen Waffenstillstand. Im Gegenteil: Die deutsche Öffentlichkeit erfährt verblüfft, daß Sie im Flugzeug allen Mut zusammengefaßt haben, um aus dem vorgeschriebenen Redemanuskript auszubrechen. Der liberale Friedensheld landet dann als kleingedruckte Papiertaube in Petersburg.
({0})
Wir erfahren zu unserer Verblüffung, daß Sie Kritik an der „übermäßigen Gewalt" üben. Nicht die Gesprächsebene, Herr Ost, sondern das gleiche Beurteilungsniveau ist das Problem. Herr Rexrodt steht auf dem gleichen Niveau wie Herr Jassin, der sagt, im Grunde genommen könne er die Kritik der Deutschen verstehen, aber es gebe gar keine Alternative zu diesem Krieg. Darin sind sie sich völlig einig. Oder meinen Sie wirklich, daß Wirtschaftshilfe zu jedem Zeitpunkt den Reformern nützt? Was muß denn noch passieren, damit Sie außer rhetorischen gelben Karten Sanktionen angebracht finden?
Wer genaueres wissen will, der muß die Unternehmer fragen, die mitgereist sind. Sie sagen nämlich folgendes: Wir brauchten Herrn Rexrodt als „Türöffner", als „Vorzeigeminister" - das ist eine Stufe unter Frühstücksdirektor, um Ihnen das deutlich zu sagen -, um in die „sowjetskaja administrazija" hineinzukommen. Denn in dieser Mentalität leben die Herren noch. Man brauchte Sie im Grunde genommen nur als Akquisiteur.
Wir haben Sie nach der Debatte, die wir am Donnerstag im Bundestag geführt haben, aufgefordert, diese Reise sein zu lassen; und das wäre angebracht gewesen. Aber offenbar ist Ihnen Ihre Wiederwahl schon so zu Kopf gestiegen, daß sich selbiger abgehoben hat.
({1})
Oder Ihre Arbeit in der Treuhandanstalt hat Sie so abgebrüht, daß Ihnen öffentliche Kritik mittlerweile überhaupt nichts mehr ausmacht.
({2})
Unter Ihnen ist die deutsche Außenpolitik - Sie folgen Ihrem Vorsitzenden; „his masters voice" ist für Sie wahrscheinlich entscheidend - zur reinen Kinkelei verkommen. „Deutschland", so sagt Herr Kinkel zur Überraschung aller seinem Kollegen Kosyrew in Bern, „ist bereit, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was innenpolitisch machbar ist" . Man höre und staune! Und Sie sind der Grenzgänger - der Grenzgänger der doppelten Moral. Das ist eine ganz saubere, perfekte Arbeitsteilung, was Sie hier vorführen.
({3})
Damit die Kritik, die Sie äußern, nicht allzu deutlich ausfällt, haben Sie noch Ihren Koreferenten an Ihrer Seite, diesen unseligen Herrn Wolff von Amerongen, der uns zu verstehen gibt, daß er in 30 Jahren deutsch-russischer Beziehungen schon Schlimmeres erlebt habe. Das muß man sich genau betrachten. Das
ist die Position eines Teils einer Generation, für die Stalingrad offensichtlich die größte deutsch-russische Katastrophe war.
Es ist also alles halb so schlimm? Wir hören von der russischen Opposition, den russischen Reformern - wir haben gestern Anatoli Schabad zu Besuch gehabt, einen Duma-Abgeordneten von „Rußlands Wahl", der uns das bestätigt hat -, daß es noch viel schlimmer ist. Ich glaube, es wäre sinnvoll und ratsam gewesen, wenn Sie, Herr Rexrodt, deutlich gemacht hätten, daß Sie auf Distanz zu denen gehen, die diesen grausamen Krieg führen. Das kann man nicht besser unter Beweis stellen, als indem man gar nicht erst hinfährt. Denn „Distanz" heißt schließlich Abstand.
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Gewiß, die ostdeutschen Firmen brauchen den russischen Markt. Aber die Bedeutung der Wirtschaftskooperation sollte man nicht überschätzen. Bei diesem Gespräch ist weder der große Durchbruch gelungen, noch hätte die Verschiebung der Reise irgendeinen großen Schaden angerichtet. Im Gegenteil, Schaden ist eingetreten, weil die Öffentlichkeit, vor allen Dingen die russische Regierung, gesehen hat, daß die ganze Suppe Ihrer Kritik an der Militäraktion in Tschetschenien, die Sie lauwarm servieren, eigentlich glatt zu vergessen ist.
Ihre Aufgabe wäre es gewesen, durch die Absage dieser Reise deutlich zu machen, daß es keine guten und dauerhaften Beziehungen, auch keine Wirtschaftsbeziehungen, zu Rußland geben kann, solange die russische Armee einen mörderischen Krieg gegen ein Volk im eigenen Land führt.
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Das Wort hat der Kollege Uli Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Debatte völlig verblüfft. Die Bundesregierung muß ja ganz toll sein, viel toller, als ich es selbst je für möglich gehalten habe, wenn die Opposition nichts anderes zu kritisieren hat als das, was sie hier heute vorgetragen hat.
Meine Damen und Herren, Sie haben eine Aktuelle Stunde beantragt, um sich dann eigentlich wieder nur über den Zeitpunkt der Kontakte zu beschweren.
Letzte Woche war es so, daß der Kanzler angeblich viel zu spät angerufen hat. Diesmal ist der Wirtschaftsminister zu früh gefahren.
({0})
In der Sache haben Sie im Grunde gar nichts vorzubringen.
Wenn das die massive Opposition, die massive Kritik an der Bundesregierung ist, dann tun Sie mir etwas leid. Sie tun mir auch leid, wenn Sie hier den Bundeswirtschaftsminister kritisieren wollen, weil er sich als Türöffner und Akquisiteur für die deutsche
Wirtschaft betätigt. Verdammt noch mal: Das ist seine Aufgabe. Das muß er machen, damit Arbeitsplätze gesichert werden.
({1})
Sie sollten dankbar sein, wenn er das tut.
Natürlich ist die Situation in Rußland im Augenblick außerordentlich schwierig. Ich möchte Sie nur auf folgendes hinweisen: Wir haben hier letzte Woche gemeinsam beklagt, zu welchen brutalen Kriegsereignissen es gekommen ist. Wir haben auch unsere tiefe Sorge darüber geäußert, wie es in Rußland mit der Demokratiebewegung nun weitergeht. Wir sollten uns alle über eines klar sein: Die Demokratie fällt doch nicht vom Himmel. Die Demokratie braucht Menschen und eine Gesellschaft, die sie tragen.
Weshalb tut sich die Demokratie in Rußland so schwer? Weil es an einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung fehlt, weil es keine Mittelklasse, weil es keinen Mittelstand gibt.
({2})
Wer in Rußland Demokratie entwickeln will, muß dafür sorgen, daß die russische Wirtschaft in Ordnung kommt und daß sich ein gesunder Mittelstand entwikkelt, der überhaupt erst die Chance dafür bietet, daß sich Demokratie entfalten kann.
({3})
Meine Damen und 1-Ierren, es kann doch gar kein Zweifel darüber bestehen, daß Herr Rexrodt in Petersburg sehr, sehr deutlich das getan hat, was Sie - wie wir übrigens auch - von der Bundesregierung letzte Woche erwartet und verlangt haben.
({4})
Er hat nämlich darauf hingewiesen: Leute, so geht es nicht! Ihr müßt auf den Boden der internationalen Übereinkünfte zurückkehren. Ihr müßt zu den Spielregeln der OSZE, zu den Spielregeln der Vereinten Nationen, zu den Spielregeln des Europarates, bei dem ihr Vollmitglieder werden wollt und jetzt nicht werden könnt, zurückkehren! - Das hat Herr Rexrodt mit der notwendigen Deutlichkeit
({5})
öffentlich gesagt. Da sollten Sie sagen: Ja, das ist richtig. Wie kann man denn auf jemanden Einfluß nehmen, wenn man nicht mit ihm redet?
({6})
Sie selber verlangen das doch immer. Der Gesprächsfaden darf nicht abreißen. Wenn man diese Konferenz abgesagt hätte, wäre das negativ für die wirtschaftlichen Chancen der Menschen in Rußland gewesen.
Wir haben hier als nahe gelegenes Land eine große Verantwortung zu tragen. Die Bundesregierung bemüht sich, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Daß es kein Vergnügen ist - auch nicht für Herrn Rexrodt -, nach Petersburg zu fahren und dort mit
Leuten zu reden, die zum Teil für das, was geschehen ist, mitverantwortlich sind, wissen Sie doch.
({7})
Aber was Sie jetzt hier aufführen, noch dazu in einer so widersprüchlichen Weise - einerseits sagen Sie, Herr Rexrodt habe gehaucht, andererseits werfen Sie ihm Kraftmeierei vor -, paßt genau in das Bild. Letzte Woche haben Sie gesagt, die Bundesregierung sollte eine deutliche Sprache sprechen. Die Bundesregierung hat das durch den Mund von Herrn Rexrodt getan. Jetzt ist es Ihnen wieder nicht recht.
Ich meine, daß das Thema der deutsch-russischen Beziehungen, insbesondere der Demokratiebewegung in Rußland, der Menschenleben und des Friedens, viel zu ernst ist, als daß man es auf diese - tut mir leid - recht billige Weise abhandeln könnte, wie Sie das heute versucht haben.
Danke.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Christian Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche Debatten sind nur durch wenige sinnvolle Bemerkungen gekennzeichnet. Die überwiegend lautstarken Reden
insbesondere die Ihrige, Herr Schulz - waren nicht davon gekennzeichnet.
Ich hätte mir überlegt, Herr Rexrodt, was passiert wäre, wenn Sie ein Bündel Verträge mit nach Hause gebracht hätten. Was hätte Herr Schulz dann gesagt? Er hätte Ihnen vermutlich vorgehalten, Sie hätten die wirtschaftlichen Interessen vor die Menschenrechte gestellt.
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Sie haben keine mitgebracht. Jetzt wirft er Ihnen vor, Sie hätten nichts mit nach Hause gebracht. So ist es zu einfach. Das, was Kollege Jens zu Beginn gesagt hat, ist da, meine ich, einen sehr viel konstruktiveren und richtigeren Weg gegangen.
Wo sind denn unsere Möglichkeiten, die wir zur Einflußnahme haben? Sie liegen im Gespräch, in der Einwirkung, im Hinweis auf internationale Vereinbarungen, ja, in letzter Konsequenz auch in der Androhung und in der Umsetzung von Maßnahmen des Zurückziehens. Das hat Herr Rexrodt in einer, wie ich meine, sehr richtigen Art und Weise getan.
Zu dem Zeitpunkt, Herr Rexrodt, als Sie in St. Petersburg Ihre Gespräche geführt haben, hatte ich in Moskau die Möglichkeit, mit Herrn Kowaljow zu sprechen, dem ich - damit glaube ich im Namen des gesamten Hauses gehandelt zu haben - den Dank des Deutschen Bundestages und der Kollegen übermittelt habe, der in der Debatte vom Donnerstag und in der Entschließung vom Freitag zum Ausdruck gekommen ist, den Dank für seine wirklich wichtige und hoffnungsbringende Arbeit als Berater des Präsidenten. Ich hoffe, daß die Worte und die Darstellungen, die Herr Kowaljow findet und auch uns gegenChristian Schmidt ({1})
über zum Ausdruck gebracht hat, beim Präsidenten ihren Niederschlag finden.
Ich habe bei den Gesprächen mit den Kollegen in der Staatsduma, die der Opposition angehören, keinen gefunden, Herr Rexrodt, der an dem vierten deutsch-russischen Wirtschaftsforum Kritik geübt hätte.
({2})
Ich habe auch keinen gefunden, der das Zusammentreffen von Außenminister Kinkel und Außenminister Kosyrew in Bern kritisiert hätte.
({3})
Ich habe auch keinen gefunden, der Telefongespräche des Bundeskanzlers mit Herrn Jelzin kritisiert hätte.
({4})
Ganz im Gegenteil: Ich bringe die Bitte mit zurück, daß wir den Gesprächsfaden viel stärker und viel intensiver knüpfen sollten und müßten, und zwar auf allen Ebenen.
({5}) Dazu haben Sie einen Beitrag geleistet.
Ich darf auch einmal ein Dankeschön für die abgewogene, aber deutliche Art und Weise sagen, mit der Sie im Beisein eines wichtigen Kritikers der russischen Regierung, nämlich von Anatoli Sobtschak, Ihre Position, die die Position der Bundesregierung sowie gemäß seiner Entschließung auch die des Bundestages ist, dargebracht haben.
Wir müssen den Gesprächsfaden, der von Ihnen aufgegriffen worden ist, fortführen. Wir müssen das ungeachtet der Tatsache tun, daß es manche gibt, die sich selber aus Gesprächen ausgrenzen. Herr Gratschow mit seinen unflätigen Bemerkungen und seinen Verantwortlichkeiten im militärischen Konflikt ist gegenwärtig in der Tat kein Gesprächspartner. Ich unterstütze das, was Volker Rühe - ob er nun ein Einladender oder Ausladender war - politisch getan hat. Er hat unter diesen Umständen und mit diesem Verständnis gegenüber Demokraten und demokratischen Politikern ein richtiges Signal gegeben.
({6})
- Er hat das überhaupt nicht nach Drängen der BÜNDNIS-GRÜNEN, sondern aus eigenem Antrieb gemacht. Das hat er mir so gesagt, und ich habe keine Gründe, daran zu zweifeln.
Ernsthaft gesagt: Dinge, die sich in manchen Teilen der russischen Administration abspielen, werden von anderen Teilen der Administration offensichtlich nicht mitgetragen. Hier kann vielleicht unsere Chance liegen, stärkeren Einfluß zu gewinnen und differenzierte Antworten zu geben. Man kann durchaus das Gespräch mit den einen verweigern und den anderen sagen: Wenn ihr den Weg in Richtung Demokratie weitergeht, sind wir an eurer Seite und sind bereit, den deutsch-russischen Dialog fortzusetzen.
({7})
Das ist auch der Wunsch der demokratischen Abgeordneten. Das Dilemma, in dem die Opposition in Rußland steckt, wurde mir nicht deutlicher erkennbar als in der Bitte von einigen Kollegen aus der Staats-duma, wir mögen doch dafür sorgen, daß Rußland so bald als möglich in den Europarat aufgenommen würde, damit Einwirkungsmöglichkeiten vorhanden wären. Es ist schwierig, einerseits zu argumentieren, die Wirtschaftskontakte abzubrechen und Rußland zu isolieren, und andererseits solche Wünsche auch und gerade aus dem Kreis der Opposition zu hören. Ich habe - ich glaube, auch darin besteht in diesem Hause Übereinstimmung - eindeutig gesagt, daß unsere Position, was den Europarat betrifft, gegenwärtig nur eine andere sein kann.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.
Aber das Dilemma bleibt, und es läßt sich nur durch Gespräche und deutliches Auftreten lösen. Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben dieses deutliche Auftreten gezeigt. Ich bedanke mich bei Ihnen dafür.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Dietrich Sperling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es stimmt schon, Herr Rexrodt hatte es schwer.
({0})
Das liegt an zwei Regierungen. Der einen gehört er an, die andere hat er besucht. Ich fange mit der anderen an.
Vor etwa anderthalb Jahren hielt der Außenminister der anderen Regierung, mit dem Namen Kosyrew, eine Rede, die seine Amtskollegen sehr entsetzte. Etwa einen Tag später klärte er darüber auf, daß diese Rede von ihm eigentlich nicht so gemeint war. Er habe mit dieser Rede nur vor einer Regierung warnen wollen, die kommen werde, wenn der Westen sich in Zukunft weiter so verhalten werde, wie er sich inzwischen verhalten hat.
Ohne personelle Diskontinuität im russischen Außenministerium scheint nun die Regierung vorhanden zu sein, vor der Herr Kosyrew damals gewarnt hat.
({1})
Dies ist eine objektive Schwierigkeit, der auch Herr Rexrodt begegnete.
Die andere Schwierigkeit mache ich anders herum deutlich. Wenn der Verteidigungsminister der Regierung, der Sie, Herr Rexrodt, angehören, das sagen würde, was Herr Gratschow sagt, würden Sie - da bin ich sicher - zurücktreten. Ich glaube ebenfalls, der Kanzler würde den Verteidigungsminister entlassen.
Die Regierung, der Sie angehören, ist von einer völlig anderen Art.
({2})
Das hat diese Regierung nicht begriffen. Das ist die zweite Schwierigkeit: daß diese Regierung, der Sie angehören, nicht begreift, daß sie es bei der Regierung in zu Rußland mit einem ganz anderen Typus von Regierung zu tun hat. Wie könnte man sonst stolzer Wirtschaftsminister einer Regierung sein, der ein Verteidigungsminister wie Gratschow angehört, und wie könnte man unter einem Präsidenten oder Kanzler - Jelzin dienen, der einen solchen Verteidigungsminister amtieren läßt?
Und nun läßt sich fragen, ob es klug ist, das zu sagen, was ich gerade gesagt habe. Ich will freimütig bekennen: Ich halte es nicht für klug, innenpolitische Abgrenzungs-, Schön- und Schlechtredebedürfnisse an außenpolitischen Themen festzumachen.
({3})
Dies ist eine Mahnung, die im Prinzip auch für mich selber gilt, aber sie hat auch schon für die ganze Phase der Ostpolitik gegolten.
({4})
Damals wurden Sie für das beschimpft, wofür wir heute beschimpft werden usw. Aber lassen wir das einmal beiseite. Ich halte jedenfalls fest: Es ist nicht klug. Denn wir sind aus Rußland bedroht. Die Drohungen aus Rußland lauten: strahlender Müll, Atomkraftwerke in unsicherer Verfassung, eine Gesellschaft in unsicherer Verfassung, wenn es darum geht, die industriellen Risiken zu kontrollieren, die sie gesetzt hat, sowohl in der Kernenergie wie in der Abfallbehandlung wie bei chemischen Großtechniken wie in den Transportleitungen für Energierohstoffe.
({5})
Dieses Rußland bedroht mit dieser Technik nicht nur die eigene Bevölkerung - vom TschetschenienProblem einmal ganz abgesehen -, sondern die ganze Erde. Deswegen sage ich jetzt ganz zugespitzt: Wir können Rußland unsere Kooperation unaufhörlich versprechen - denn sie liegt in unserem eigenen Interesse -, nur muß sich die Kooperation auf das beziehen, was unser Interesse ist. Dann, Herr Wirtschaftsminister,
({6})
muß man deutlich miteinander reden.
Jetzt sage ich es einmal ein bißchen verdreht. Den außenpolitischen Teil Ihrer Darstellung haben Sie nach meiner Ansicht gerade einmal mit der Note fünf plus beendet, was immerhin noch eine halbe Note besser als das ist, was Ihr Außenminister vorher vorgetragen hat. Also, gegenüber Herrn Kinkel haben Sie in außenpolitischer Hinsicht etwas positiver abgeschnitten.
Den wirtschaftspolitischen Teil würde ich etwas anders charakterisieren. Sie haben Ihren russischen Gesprächspartnern gesagt - wenn ich das richtig verstanden habe -, daß Kapital für Investitionen in Mengen zur Verfügung steht.
({7})
- Oh.
Das galt nicht Ihnen.
Ich habe Ihre übliche Großzügigkeit? - Danke schön.
Ich wollte Ihnen nur die Aufmerksamkeit eines weiteren Kollegen verschaffen.
Danke schön.
Sie haben also gesagt, es gebe viel Kapital, das für Rußland bereitstehe. Ich glaube nicht, daß sich irgendwo im Westen Kapital befindet, das für eine wertschöpfende Produktion in Rußland zur Verfügung gestellt werden würde. Für den Handel mit Produkten, die wir selber dorthin transportieren und an denen wir verdienen - wie die Leute auch immer an das Geld gekommen sind, um sie zu kaufen -, gibt es westliches Kapital. Ich kenne aber kaum einen der von der Bundesregierung bezahlten Berater, der das in Rußland durch Beratung erworbene persönliche Einkommen irgendwo dort, wo er Beratungen durchgeführt hat, investieren würde. Die Zustände sind chaotisch.
Ich drücke es noch etwas anders aus: In Rußland - das haben Sie ja bei Ihrer Reise gemerkt - wird neben-, über-, unter- und vor allen Dingen durcheinander geherrscht. Rußland ist ein Land mit Herrschaft ohne Ordnung. Es gibt dort vielerlei Herrschaft, die durcheinandergeht. Aus diesen Zuständen muß Rußland heraus, bevor irgendwelches Kapital dorthin transferiert wird. Sie reden mit den Russen, als wären sie eine galante Dame, die Sie irgendwie einmal schnell herumkriegen müssen. Nein, bis da Kapitalinvestitionen aus dem Westen ohne Hermes-Garantien kommen, wird noch viel Zeit vergehen. Es macht keinen Sinn, den Russen darüber falsche Vorstellungen zu machen.
Herr Kollege, jetzt gilt meine Intervention Ihnen.
Sie haben sich daher als Wirtschaftspolitiker falsch verhalten.
Herr Präsident, Sie wollen mir jetzt nahelegen, daß ich mich an meinen Platz begebe. Ich komme wieder!
Schönen Dank.
({0})
Das war nicht als politische Drohung gemeint, sondern das war eine AnkünVizepräsident Hans Klein
digung. Die SPD hat den Kollegen Sperling zweimal auf die Rednerliste gesetzt.
({0})
Bitte, Herr Kollege Wimmer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß man sich fernab jeder Aufgeregtheit durchaus nüchtern mit dem Thema beschäftigen kann. Ich will versuchen, dazu allein deswegen einen Beitrag zu leisten, weil es bestimmt Gründe gibt oder hätte geben können, warum man nicht gefahren wäre. Es gibt aber auch Gründe, warum man gefahren ist.
Wenn das so ist, muß man sich natürlich fragen: Warum wird das heute thematisiert? Ich werde den Verdacht nicht los, daß diejenigen, die das heute zur Frage gemacht haben, damit überdecken wollen, daß sie in der Zeit, wo es wirklich gegolten hätte, das Wort zu ergreifen, durch atemloses und aufgeregtes Schweigen aufgefallen sind.
({0})
Ich glaube, das ist eine Ersatzhandlung für diejenigen, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Deswegen gibt es Veranlassung, noch einmal nüchtern auf das eine oder andere aufmerksam zu machen, was hier bedacht werden muß.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich finde es gut, daß der Bundeswirtschaftsminister nach St. Petersburg gefahren ist. Ich will das mit Nachdruck unterstreichen. Allerdings möchte ich auch eines sagen: Es wäre manchmal angemessen, in der Sprache etwas sorgfältiger zu sein.
Diesen Rat kann man vielleicht dem einen oder anderen, aber auch dem Bundeswirtschaftsminister geben. Denn wenn die Zeitungsmeldungen, so die der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", stimmen, ist gesagt worden: Wenn es in Tschetschenien noch schlimmer kommt, dann müßte man auch an Sanktionen denken.
Was soll denn in Tschetschenien eigentlich noch Schlimmeres passieren als das, was da gelaufen ist?
({2})
Das ist genauso, als würde man nur wegen unangemessener Äußerungen, die getätigt worden sind, Herrn Gratschow nicht die Hand geben wollen. Was soll denn eigentlich noch mehr passieren, als daß dieser Herr die Verantwortung dafür trägt, daß die Söhne seines Volkes hingeschlachtet werden? D a s muß der Grund sein, warum man etwas nicht tut und möglicherweise in Deutschland auch verweigert.
Man sollte hier sehr sorgfältig auf das achten, was gesagt worden ist. Ich glaube, daß wir hier eine gute Gelegenheit hatten, auch deutsche Positionen klarzumachen. Ich sage das jetzt im Zusammenhang mit sonstigen Überlegungen, die die Wirtschaftspolitik betreffen.
Meine Damen und Herren, wenn ein Wirtschaftsminister fährt und große Delegationen mitnimmt, ist das nicht unbedingt ein Zeichen dafür, daß die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen ausgezeichnet sind. Das kann eigentlich nur noch dadurch unterboten werden, daß die Beziehungen zwischen Gemeinwesen oder zwischen Staaten nur durch Nachrichtendienste wahrgenommen werden.
Wenn man so etwas macht, kann das ein Moment dafür sein, daß man nach vorn kommen will. Ich denke, daß der Wirtschaftsminister in St. Petersburg deutlich gemacht hat, daß mehr auf dem Spiel steht als nur unzureichende Wirtschaftsbeziehungen, die in den letzten Jahren eine große Investitionstätigkeit haben vermissen lassen.
Aus der Sicht der deutschen Industrie war selbst in der alten Sowjetunion wirtschaftlich vieles besser gestellt als das, was wir heute haben. Aber wenn wir zu dem kommen wollen, was bei uns im Westen Europas die ökonomischen Beziehungen auszeichnet, dann muß zu der ökonomischen Beziehung eine politische Qualität hinzukommen. Denn das, was den ökonomischen Austausch im Westen Europas auszeichnet, ist, daß er glänzend läuft, weil die politischen Bedingungen stimmen.
Ich glaube, daß der Bundeswirtschaftsminister in St. Petersburg eine gute Gelegenheit wahrgenommen hat, auch auf der russischen Seite darauf aufmerksam zu machen, was auf dem Spiel steht, zumal aus dem Wirtschaftsbereich der Russischen Föderation mit Sicherheit nicht die Entscheidungen gekommen sind, die „Tschetschenien" ermöglicht haben.
Wenn man diese Perspektive nimmt, dann kann man dem Bundeswirtschaftsminister nur sagen, daß er eine Gelegenheit wahrgenommen hat, die im nationalen deutschen Interesse liegt und darauf gerichtet ist, daß die Beziehungen zu Rußland eine Qualität erreichen, die den Beziehungen, die wir zu Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden haben, nicht nachstehen. Das ist ein langer Weg. Auf diesem Weg haben Sie sich bewegt.
Ich bedanke mich.
({3})
Herr Kollege Sperling, zweiter Teil.
Herr Wimmer sagt, Sie haben sich auf dem Weg bewegt. Ich würde dem fast zustimmen können, wenn die Formulierung gelautet hätte: Sie haben versucht, sich auf dem Weg zu bewegen.
({0})
Aber das mit diesem Weg, der ein sehr langer ist, scheint in der Tat ein Problem zu sein.
Herr Minister, wenn Sie den russischen Partnern erzählen, da stünde Wirtschaftskraft bereit, um dort zu investieren, sie bräuchten nur in Tschetschenien
Schluß zu machen, dann ist dies falsch. Die Wirtschaftskraft steht nicht bereit, es sei denn, Steuerzahler anderer Länder zahlen dafür.
Was wir gegenüber Rußland brauchen, ist eine Politik, die deutlich macht, wofür unsere Steuerzahler zahlen werden, weil es im eigenen Interesse liegt, und wofür nicht. Es gibt eine Vielzahl von wirtschaftlichen Aktivitäten, die eigentlich nur den Westreisen russischer Funktionäre und Wirtschaftsrepräsentanten dienen.
Die Frage ist: Wann lädt man zu so etwas ein? Wenn Sie in dieser Situation mit einer Delegation von 50 Leuten dorthin fahren - Sie sind ja nicht alleine dagewesen -, was signalisiert das? Signalisiert das, daß alles, was wir hier sonst sagen, nicht so ernst gemeint ist? Das hätten Sie ja abwägen können; das hätte auch Ihr Außenminister abwägen können.
Ich will Ihnen offen sagen, ich wäre zu dem Schluß gekommen: Um dem gemeinsamen Votum des Bundestages Nachdruck zu verleihen, hätte ich dieses Gespräch verschoben,
({1})
und ich hätte gesagt: Wir haben eine Reihe guter Beamter; die sollen sich dort treffen - fern der Öffentlichkeit, darüber muß man keine Public-Relations-Show machen; dafür besteht jetzt kein Bedarf -, und die sollen das Verhältnis russischer Firmen zu ostdeutschen Betrieben klären - was längst überfällig ist, wenn ich das richtig erinnere -, damit wir sie, mit entsprechenden Regierungsmitteln gestützt, vermutlich zu negativem Kaufpreis mit Kapitalbeteiligung an ostdeutschen Firmen ausstatten können und dadurch Arbeitsplätze sichern.
Das war die Idee seit langem. Aber dafür muß man nicht mit 50 Leuten dorthin fahren. Auch das müßte man unseren russischen Partnern einmal sagen, daß man nicht überflüssig viel Geld in Public Relations hineinpumpt, wenn man damit eigentlich die falschen Signale gibt.
Für das, was praktisch zu machen war, hätte die Reise von ein paar fähigen Beamten - ich weiß, daß Sie davon einige haben - ausgereicht.
({2})
Insofern fand die Reise zum falschen Zeitpunkt statt, und sie war ein falsches Signal.
Auch der Wirtschaftspolitiker Rexrodt hätte den russischen Partnern wirtschaftspolitisch Klügeres sagen können, als er es getan hat. Er hätte nicht die Staffage einer großen deutschen Wirtschaftsdelegation zum Dementieren der Beschlüsse des Bundestages gebraucht, um zu zeigen, daß wir kooperationsbereit sind.
Die wissen, daß wir kooperieren müssen, aus eigenem Interesse. Das sollten wir ihnen auch sagen. Aber wir sollten ihnen ebenfalls deutlich machen, daß, wenn sie nicht unsere Interessen bei dem, was wir an Hilfe zu geben bereit sind, berücksichtigen, unsere
Hilfe enden muß, obwohl es auch uns schadet, wenn nichts mehr geschieht.
Deswegen haben wir ein Interesse an Kontakten mit Rußland. Wir haben ein Interesse an einem Zustand in Rußland, bei dem man die Selbstdisziplinierung einer politischen Gesellschaft - einer zivilen Gesellschaft, wie die es gerne genannt haben - spürt. Wir haben ein Interesse daran, daß Außenminister nicht vor den Regierungen warnen, denen sie selber immer noch angehören. Alles dies ist unser Interesse. Dies können wir auch unverhohlen sagen. Ich rate uns manchmal zu einem geringeren moralischen Aufputzen und zu einem deutlichen Kenntnisgeben dessen, woran wir wirklich interessiert sind.
Wir befinden uns kurz vor dem 50. Jahrestag eines bedeutsamen Ereignisses. Da sind die russischen Partner aller Art - vor allen Dingen nach dem, was in den letzten Jahren passiert ist - besonders empfindlich. Ich rate uns, darauf Rücksicht zu nehmen.
Ich rate uns aber auch, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Tschetschenen Opfer des deutschen Überfalls waren. Denen gebührt höhere Solidarität, als wir sie hier sonst deutlich machen. Auch dies hätte man den russischen Führungsgruppen sagen können, mit denen man zusammengekommen ist.
Also, Herr Minister, es geht um mehr Deutlichkeit und Ehrlichkeit, weniger galante und Public-Relations-Beziehungen für den innenpolitischen Bedarf. Behandeln Sie Rußland, wie dies es braucht. Aber beachten Sie nicht, wie die deutsche Innenpolitik es gerne dargestellt bekommen möchte, nämlich was für ein feiner Kerl man ist und wie deutlich man etwas sagt.
Auf die Worte war nach der Entschließung des Bundestages zu verzichten, und auf den Demonstrationseffekt der Reise aus PR-Gründen hätten Sie auch gut verzichten können.
({3})
Herr Kollege Herbert Lattmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich schade, daß einmal mehr die Gelegenheit einer solchen Debatte, die gerade im Moment doch sehr komplizierten Verhältnisse in den Beziehungen zu Rußland kritisch und sachgerecht zu würdigen, mit einer Menge von Polemik zugeschüttet worden ist.
Es gibt ja keinen Zweifel daran, daß jede Gelegenheit genutzt werden muß, den Verantwortlichen in Rußland unmißverständlich zu verdeutlichen, daß die Gewaltanwendung im Kaukasus nicht hingenommen wird. Man muß den Russen auch klarmachen, daß dieser Vorgang den russischen Wunsch auf Teilnahme an internationalen Entwicklungen der unterschiedlichsten Art nachhaltig behindert und insofern schon sehr weitreichende Folgen hat. Minister Rexrodt hat dies in St. Petersburg sehr deutlich getan.
Die Frage ist doch aber, ob wir darüber hinaus über geeignete Instrumente verfügen, die wir gegen die
Russen einsetzen können und wollen, und welche dies sind, und es ist die Frage, ob die wirtschaftspolitische Komponente ein solches Instrument sein kann.
Kollege Jens hat, wie ich finde, sehr zu Recht erklärt -jedenfalls für die SPD, und ich denke, das gilt für die Mehrheit des Hauses -, daß wir die Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland fortsetzen wollen und müssen. Ich glaube, das ist unstrittig.
Nun beschwert Sie, daß in dieser Phase an dieser Pflege und dem Ausbau der Beziehungen der Wirtschaftsminister beteiligt worden ist. Ich kann das nur begrenzt nachvollziehen; denn wenn er nicht mitgefahren wäre, also die Vertreter der Wirtschaft hätte allein fahren lassen, hätten Sie ja damit auf eines verzichtet - mindestens auf eines -, nämlich auf das deutliche Wort über die für uns unzumutbaren Verhältnisse in Rußland. Das konnte nur der Wirtschaftsminister mit dem nötigen Nachdruck vor Ort erklären. Schon deshalb war es wichtig, auch in dieser Situation nicht Beamte, nicht Wirtschaftsführer, sondern den politisch Verantwortlichen zu schicken.
({0})
Was ich gar nicht verstehe, ist dieses doch sehr unsensible Fehlen einer Differenzierung zwischen dem Vorgang um den Verteidigungsminister, den Sie hier zitiert haben, und diesem um den Wirtschaftsminister. Können Sie denn wirklich den Unterschied nicht erkennen, daß ein Verteidigungsminister einen Gesprächspartner, der für das ganze Elend verantwortlich zeichnet, und zwar in erster Linie, im Moment nicht sprechen will, daß aber ein Wirtschaftsminister, der ein ganz anderes Interesse zu verfolgen hat, hier vor einer anderen Situation steht?
({1})
- Natürlich ist jedes Regierungsmitglied verantwortlich, aber es ist ein Unterschied, ob ich mit jemandem spreche, der das Töten unmittelbar durchführt, oder ob ich mit Leuten spreche, die doch die Grundlage dafür schaffen sollen, daß auf einer gesicherten wirtschaftlichen Basis dieses Elend endlich zu Ende geht.
({2})
Da bin ich bei der Frage, die wir hier schon oft diskutiert haben, der Frage der möglichen wirtschaftlichen Instrumente, der Sanktionen. Wir haben das oft probiert, und es hat nie funktioniert. Trotzdem kann man darüber reden, ob das diesmal geht. Aber eines darf man dabei nicht aus den Augen verlieren: Wenn wir Demokratie in Rußland entwickeln helfen wollen, dann wird das nur auf einer gesicherten wirtschaftlichen Basis funktionieren. Deshalb ist Wirtschaftspolitik, richtig verstanden, auch ein Beitrag zur Entwicklung der Demokratie in Rußland, und wer diese Politik verweigert oder behindert, behindert auch die demokratische Entwicklung in Rußland.
({3})
Im übrigen frage ich mich doch sehr ich sage das ganz ruhig, aber es muß an dieser Stelle dann doch gefragt werden -: Hätte es diese Debatte auch gegeben, wenn Breschnew noch am Ruder wäre?
({4})
- Sie brauchen sich nicht zu erregen. Die Protokolle sind ja Gott sei Dank alle noch da; wir können das ja nachlesen.
({5})
Ich kann mich sehr gut erinnern, wie ein Mann, der viele Tschetscheniens zu verantworten hatte, hier nicht nur wohlwollende Zustimmung gefunden hatte, sondern wie wir immer wieder aufgefordert worden sind, die Beziehungen zu pflegen, nicht abbrechen zu lassen, wie viele von Ihnen, die hier noch im Haus sitzen, gar nicht schnell genug auf seinen Schoß kommen konnten
({6})
und sich heute hier hinstellen und die moralische Variante bemühen. Das ist nicht sehr überzeugend. Deshalb sollten Sie diese vor Moral triefenden, nicht besonders überzeugenden Argumente weglassen. Lassen Sie uns gucken, was den gemeinsamen Beziehungen, was der Entwicklung in Rußland hilft! Dann haben wir den Russen und auch unserem eigenen Land geholfen. Das ist unsere Aufgabe.
({7})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
({0})
Ich rufe die Punkte 6 a bis 6 d der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rudolf Dreßler, Konrad Gilges, Ottmar Schreiner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in Baubetrieben
- Drucksache 13/18 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
b) Beratung des Antrags des Abgeordneten Manfred Müller ({2}) und der weiteren Abgeordneten der PDS Verzicht auf die Streichung der Schlechtwettergeldregelung
- Drucksache 13/264 ({3}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Ausschuß für Wirtschaft
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anne-lie Buntenbach und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Sozialverträgliche Beschäftigung in Baubetrieben
- Drucksache 13/287 932
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes
- Drucksache 13/123 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Ich bitte die Kollegen, die sich an der Behandlung der nächsten Tagesordnungspunkte nicht beteiligen wollen, sich ein bißchen zu beeilen, wenn sie jetzt den Saal verlassen, damit wir weitermachen können. Herr Kollege Hinsken, das gilt auch für Sie.
({2})
- Nimm ihn mit!
Herr Kollege Rauen, es ist leider unüblich, Kollegen von hier aus zum 50. Geburtstag zu gratulieren. Deshalb kann ich das auch in Ihrem Fall nicht tun. Aber ich werde es nachher persönlich tun.
({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch gegen diese Vereinbarung. Dann ist sie so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Peter Dreßen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir behandeln heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der SPD, der die vollständige Wiedereinführung des im Spar-, Konsolidierungs-
und Wachstumsprogramm gestrichenen Schlechtwettergeldes vorsieht. Kaum eine Gesetzesänderung hat in der Öffentlichkeit und vor allem bei den Betroffenen zu Recht so große Empörung hervorgerufen wie die Streichung des Schlechtwettergeldes.
({0})
1959, unter der Regierung Adenauer, wurde das Schlechtwettergeld eingeführt. Die Bauarbeiter verloren damals erstmals den Status eines Saisonarbeiters. Eine ganzjährige Beschäftigung wurde ermöglicht, und günstigere Kostenstrukturen für die Unternehmen sowie eine Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit waren ebenfalls die Folge. Vor 1959 verlor noch jeder zweite Bauarbeiter seinen Arbeitsplatz. Damals wanderten pro Saison jeweils etwa 10 % der Facharbeiter in andere Branchen ab.
Mit der jetzigen Regelung wollen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wieder auf den Stand der 50er Jahre zurückkehren.
({1})
-- Sie können das ja widerlegen.
({2})
Ich sage Ihnen, daß es so ist. In der Baubranche werden die Arbeiter wieder zu Saisonarbeitern degradiert. Wenn so Ihre Vorstellungen von der Modernisierung des Sozialstaats aussehen, sage ich hierzu nur: Gute Nacht, Sozialstaat.
({3})
Unser Bestreben ist, daß der alte Rechtszustand voll und ganz wiederhergestellt wird.
({4}) Folgende Gründe möchte ich hierzu vortragen:
Erstens: Die Streichung des Schlechtwettergeldes führt dazu, daß die Arbeiter unter Umständen bei schlechter Witterung gekündigt werden können und Arbeitslosengeld bei der BA beantragen müssen. Kosten werden damit nur innerhalb des Arbeitsamts verschoben, und ein höherer Verwaltungsaufwand bei der Bundesanstalt ist die Folge.
Mit dieser Regelung entlassen Sie die Arbeitgeber ebenfalls aus ihrer sozialen Verpflichtung, auch im Winter für ausreichende Beschäftigung zu sorgen. Schätzungen ergeben, daß gesamtgesellschaftliche Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen an Steuern und Sozialbeiträgen in Höhe von 2,2 bis 3 Milliarden DM entstehen. Von heute 1,1 Millionen gewerblichen Arbeitnehmern der Baubranche werden mindestens 300 000 im Winter zusätzlich arbeitslos sein, wenn Ihre Vorstellungen durchkommen.
Die 1994 vorgenommenen Kürzungen im Arbeitsförderungsgesetz führen dazu, daß z. B. eine fünfköpfige Bauarbeiterfamilie gerade einmal etwas über 1 300 DM an Schlechtwettergeld im Monat erhalten wird. Sozialhilfe kann nicht beantragt werden, da ja das jährliche Einkommen zugrunde gelegt wird. Von daher sind wir Sozialdemokraten auch nicht bereit, die Kürzungen für die Übergangszeit bis zur endgültigen Streichung des Schlechtwettergeldes 1996 mitzutragen.
({5})
Zweitens trägt die Politik Verantwortung für die Baubranche. Ich darf nur daran erinnern, daß rund zwei Millionen Wohnungen in unserem Land fehlen. Ich frage die Bundesregierung, wo ihr konzeptioneller Beitrag zur staatlichen Beteiligung an der Förderung des gezielten Winterbaus liegt. Bisher ist nur eine pure Kostenverschiebung zu Lasten der Arbeitnehmer erkennbar, die sich zu Recht dagegen wehren. Wo setzen Sie haushalts-, finanz- und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, damit eine ganzjährige Beschäftigung möglich wird? Ich sehe keine.
Meine Damen und Herren von der Koalition, das kann doch wohl nicht alles gewesen sein. Mit der Streichung des Schlechtwettergeldes wird Winterbau nicht mehr gefördert. Auch das Wintergeld soll gestrichen werden. Wenn die Sache nicht so ernst wäre, könnte man fast lachen. Die einzige Regelung, die den Winterbau fördert, wird gestrichen. Die Schlechtwettergeldregelung wird von der Bundesregierung mit dem Hinweis gestrichen, daß die Tarifparteien Verhandlungen über ganzjährig gesicherte Einkommen aufnehmen sollen.
Ich entnehme dem Protokoll der Bundestagssitzung vom 21. September 1994 eine Aussage meines KollePeter Dreßen
gen Gilges, der den Vorsitzenden der IG Bau-SteineErden zitierte. Ich wiederhole es:
({6})
Weder die IG Bau-Steine-Erden noch die Arbeitgeberverbände des Baugewerbes haben je erklärt, eine tarifpolitische Ersatzlösung für das Schlechtwettergeld vereinbaren zu wollen.
Dazu gab es einen Zwischenruf des Herrn Bundesarbeitsministers: „Das ist die absolute Unwahrheit!" Ich hoffe, Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben in den letzten vier Monaten gemerkt, daß das, was damals gesagt wurde, die Wahrheit war.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS - Bundesminister Dr. Norbert Blüm,
dem Redner ein Schriftstück überreichend:
Lesen Sie das einmal vor!)
- Das können Sie selber machen, Herr Minister. Als Ihr Vorleser wäre ich, glaube ich, überbezahlt. Vielleicht finden Sie jemand billigeren.
({7})
- Machen Sie das nachher! Da habe ich keine Bedenken.
({8})
Weiterhin sollen die Tarifparteien Regelungen zur Verstärkung der Bautätigkeit in der Schlechtwetterzeit im Sinne einer ganzjährigen Bautätigkeit finden. Vom Bundesarbeitsminister Blüm ist zu hören, daß das schwedische Modell beispielhaft sei. Hierzu kann ich nur sagen, Herr Minister Blüm: Ich kann Ihnen dazu gratulieren; unsere Bauarbeiter wären froh, sie hätten das, denn dann hätten sie eine hundertprozentige Einkommenszusicherung.
Arbeitgeber und Gewerkschaften haben inzwischen in verschiedenen Gesprächsrunden über die ganzjährige Beschäftigung miteinander verhandelt. Die Fronten haben sich seither verhärtet. Dies war allerdings auch abzusehen. Im Rahmen der Expertenanhörung zum ersten Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm vom September 1993 wurde schon deutlich, daß allein tarifvertragliche Regelungen die Beschäftigung in der Bauwirtschaft nicht sichern können. Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang, daß eine tarifliche Lösung, vielleicht über die Zusatzkasse in Wiesbaden, nach Expertenmeinungen die Lohnnebenkosten um 4 bis 5 % erhöhen wird. Die Bundesregierung wird meines Erachtens unglaubwürdig, wenn sie einerseits zu Recht feststellt, daß die Lohnnebenkosten in diesem Land zu hoch sind, aber auf der anderen Seite in diesem Fall Lohnnebenkosten von 4 bis 5 % zuläßt.
({9})
Die derzeitigen Verhandlungspositionen sehen so aus, daß die Arbeitgeber die Sicherung eines ganzjährigen Einkommens auf die betriebliche Ebene verlagern wollen. Zusätzlich soll geregelt werden, daß eine zwölfmonatige Arbeitszeitflexibilisierung dazukommt. Die Arbeitnehmer sollen dann auch noch bis zu acht Urlaubstage - nicht mit Überstunden zu verwechseln - opfern.
Daß die Arbeitnehmer hier nicht mitmachen können, hat gute Gründe. Erstens ist die Konkursrate in der Baubranche nicht gerade unerheblich. Bei Mehrarbeit im Sommer und Konkurs der Firma im November würden die betroffenen Arbeitnehmer leer ausgehen; selbst das Konkursausfallgeld zieht nicht.
Zweitens wechseln die Unternehmensverhältnisse oft schneller als manch ein Abgeordneter in diesem Hause sein Hemd. Dies würde bedeuten, daß der Arbeitnehmer große juristische Probleme hat, an seine erworbenen Rechte heranzukommen.
Drittens finanzieren die Arbeitnehmer bei diesen Vorschlägen der Arbeitgeber letztlich ihre Weiterbeschäftigung fast alleine.
Viertens muß das Witterungsrisiko von der gesamten Branche getragen werden. Vor allem die mittelständischen Betriebe müssen hier geschützt werden. Es darf aus Wettbewerbsgründen nicht zu regionalen Ungleichheiten kommen. Bauarbeiter im Hochschwarzwald fallen nämlich mehr unter diese Regelung als diejenigen, die in der Rheinebene arbeiten. Ich habe volles Verständnis, daß die Gewerkschaften hier so, wie Sie das vorsehen, nicht mitmachen können.
Es gibt in der Europäischen Union kein Land, in dem nicht staatliche Hilfen im Bau bei Schlechtwetter gezahlt würden. Die Bundesregierung dagegen läßt ihre Bauarbeiter künftig im Regen stehen. Die Tarifverhandlungen in der Baubranche werden seit 1959 auf der Basis der Schlechtwettergeldregelung geführt. Die Schlechtwettergeldregelung ist damit für die Sozialbeziehungen in dieser so gebeutelten Branche grundlegend wichtig. In diesem Zusammenhang muß man wissen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerade in der Baubranche durch die gemeinsame Zusatzversorgungskasse in Wiesbaden eine soziale Errungenschaft hervorgebracht haben, die man sich für andere Branchen nur wünschen könnte. Dies darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Die jetzigen Verhandlungen machen deutlich, daß Tarifverträge die Probleme nicht lösen können. Die Herstellung des alten Rechtszustandes würde die Unruhe in der Baubranche, die durch Sozialdumping, Scheinselbständigkeit und illegale Beschäftigung angespannt ist, entschärfen.
Meine Damen und Herren, ganzjähriger Winterbau ist nur mit staatlicher Unterstützung sicherzustellen. Die SPD hat ihre Verantwortung dafür erkannt. Der alte Rechtszustand von 1993 muß wieder her.
({10})
Das Wort hat der Kollege Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Dreßen, der Minister hatte recht mit dem, was er gesagt hat.
({0})
Der Beleg ist die Vereinbarung der Tarifpartner vom 10. März 1994. Unter dem Begriff Leipziger Erklärung müßte sie Ihnen bekannt sein.
({1})
Der Minister hatte also recht.
({2})
- Das ist eine so unendliche Geschichte. Die Bauarbeiter können sich für eine Regelung, wenn es um die praktische Arbeit geht, soviel Zeit nicht leisten. Im Gegenteil: Sie würden schneller handeln und schneller zu Werke kommen.
Aber wir müssen uns mit Ihren Initiativen auseinandersetzen, ob wir wollen oder nicht, auch mit den übrigen. Hintergrund dieses Vorhabens dürfte sein - das sprechen die Wände -, daß die Gewerkschaft IG Bau - Steine - Erden in den Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern hinsichtlich einer Regelung der ganzjährigen Sicherung des Einkommens für die Bauarbeiter - darum geht es ja -- offensichtlich nicht weiterkommt. Nach Darstellung der Gewerkschaft zeichnet sich ein Konflikt mit den Arbeitgebern ab.
Ich möchte nicht auf die Einzelheiten eingehen, die dabei eine Rolle spielen. Nur kann die Interessenkollision der Tarifpartner kein Anlaß sein, uns im Parlament damit zu beschäftigen. Denn das ist Sache der Tarifpartner und nicht des Gesetzgebers. Um so verwunderlicher ist es, daß sich die SPD-Fraktion und wohl auch die Mehrheit der SPD-regierten Bundesländer auf dem Gesetzesweg in einen Tarifkonflikt einschalten
({3})
und versuchen, zu der alten Regelung zurückzukehren, und das zugunsten eines bestimmten Tarifpartners. So geht es nicht. Das ist nicht unser Verständnis von Tarifpartnerschaft. Das ist das Problem, um das es hier geht.
Bereits in den vergangenen Jahren hat die IG Bau - Steine - Erden im Bundestagswahlkampf - das fand ich im übrigen nicht fair - Flugblätter mit den Namen der Kolleginnen und Kollegen verteilt, die am 24. Juni 1994 gegen den Fortbestand der alten Regelung gestimmt haben. Ich muß wirklich sagen: Die heute zu diskutierenden Vorlagen können eigentlich nur eine Retourkutsche sein wegen der nicht zum Zuge gekommenen Initiativen der SPD. Das sage ich Ihnen ganz offen; wir Sozialpolitiker gehen ja immer ehrlich miteinander um. Der Kampf wird jetzt in dieser Form des Tarifstreits ausgetragen.
Dabei ist doch unverkennbar das wissen diejenigen, die über Jahrzehnte damit zu tun haben; hier sitzen ja einige alte Fuhrleute des Geschäfts, das hier betrieben wird -, daß das Jahreseinkommen für den
Bauarbeiter und damit eine bessere Absicherung stets eine Forderung gerade auch der IG Bau-Steine-Erden war. Das steht außer Zweifel, und das ist nachvollziehbar. Insofern hatte der Minister zum wiederholten Male recht.
({4})
- Lieber Ottmar Schreiner, die Aussage, daß er nie recht hat, zeigt nur, daß man die Situation aus einem sehr eingeengten Blickwinkel betrachtet. So gerät man schnell in den Verdacht, daß man immer im Unrecht ist. Das will ich aber nicht sagen; allerdings habe ich es ausgesprochen.
Schlechtwettergeld erhalten die Arbeiter in der Schlechtwetterzeit. Durch das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm von 1993 haben wir aus guten Gründen die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit reduziert. Diese Gründe haben heute mittag bei der Diskussion über die existentielle Frage der Arbeitslosigkeit wiederholt eine Rolle gespielt. Ich brauche die Argumente - Belastung der Wirtschaft, Standort Deutschland usw. - hier nicht im einzelnen aufzuzählen.
({5})
- Herr Gilges, die Einnahmen der Bundesanstalt für Arbeit kommen zu einem Teil auch von denjenigen Arbeitnehmern, die ständig Arbeit haben. Diese Einnahmen kommen ja nicht von einem Spender, der irgendwo in der Bundesrepublik wohnt.
Wir haben im Hinblick auf den Termin 1995 - hier kann ich zum dritten Mal sagen, daß der Minister recht hatte - beim Schlechtwettergeld zwei Monate zugegeben, auch wegen des Versprechens, daß es dann zu einem Tarifvertrag ab 1. Januar 1996 kommen soll.
({6})
Das mag dem einen oder anderen im Moment nicht mehr so gegenwärtig sein oder nicht passen, aber so war es.
Das haben die Tarifparteien am 10. März vergangenen Jahres eindeutig gemeinsam vereinbart. Der Beleg dafür ist, daß wir die Monate März und November wieder einbezogen haben. Ich sage ganz offen: Nun muß es zu einer Regelung kommen.
({7})
- Auch diese Stunde war einbezogen; einverstanden. Sie bestätigen den ganzen Zusammenhang noch einmal.
Auch die Gewerkschaft weiß, daß es zu einer Regelung kommen muß. Man sollte aber nicht auf Kampagnen wie die im Bundestagswahlkampf zurückgreifen. Man kann ja sogar darüber reden, ob dasselbe noch einmal in Hessen ankommt. Das müssen Sie wissen. Jetzt geht es darum, der Tariffreiheit den entsprechenden Spielraum zu geben.
Die Vorteile müssen klar angesprochen werden. Zum einen ist es besser, Lohn statt Lohnersatz zu bekommen. Das steht wohl außer Frage. Ein ganzjähriges Arbeitsentgelt ist besser, als auf Leistungen des Arbeitsamtes angewiesen zu sein.
Zum anderen wird das Schlechtwettergeld nur an Arbeiter des Baugewerbes gezahlt. Aber es kommt aus den Mitteln aller Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit. Die Beitragszahlungen aus dem Baugewerbe selbst liegen in etwa bei 6 %. Hier sehen Sie ein Ungleichgewicht. Hierin steckt ein Stück Subvention, die die Konkurrenzsituation verzerrt. Je nachdem, wie stark eine Abfederung durch das Schlechtwettergeld möglich ist, befindet man sich gegenüber anderen Anbietern im Vorteil. Das liegt im Wesen der Subvention.
Es geht auch darum, daß das Baugewerbe die im Vergleich zu den 50er Jahren verbesserten technischen Voraussetzungen nutzt. Heute müssen wir andere Antworten geben als früher.
({8})
- Das ist die Frage. Diesen Gesichtspunkt könnte man mit einbeziehen. Wir wollen diejenigen, die über ein ordentliches Arbeitsverhältnis verfügen, durch das Jahreseinkommen so stellen, daß es eben nicht zu Situationen wie der Saisonarbeit oder der Arbeit ohne Vertrag kommt.
({9})
- Der Staat muß aber nicht mit Subventionen einsteigen, er muß die Rahmenbedingungen schaffen.
Der Herr Minister bemüht sich zum Beispiel mit der Entsenderichtlinie, die Aufgabe wahrzunehmen, die auch am Bau sehr quält. Wenn Sie dann schon zu den unterschiedlichen Bewertungen des Lohnes kommen, so soll sich auch das Baugewerbe mit entsprechend fortschrittlichen Einrichtungen, die auch am Bau möglich sind, die kontinuierliches Bauen möglich machen, so ausstatten, wie es auch andere Wirtschaftszweige tun müssen. Nehmen Sie den gesamten Bereich des Fernverkehrs. Nehmen Sie die Landwirtschaft! Ja, Sie könnten sogar bis hin zum Transportgewerbe noch einige andere gewerbliche Bereiche nennen, die diesen Vorteil nicht haben.
({10})
- Ja, dazu könnte ich etwas sagen. Wir müssen uns auch im internationalen Wettbewerb darum bemühen. Da geht es nicht um Weihnachtsgeschenke. Da geht es darum, daß man jeden Tag Weihnachten hat. Ich halte es für ganz wichtig, nicht nur an einem Tag, lieber Ottmar, an Weihnachten zu denken, nämlich unter dem Weihnachtsbaum, sondern die Arbeit auch im übrigen Jahr zu haben. Das ist die Frage der internationalen Vergleichbarkeit.
({11})
Da wir nicht 1950, auch nicht Mitte 1950 haben, sondern in einer internationalen Konkurrenzsituation stehen, müssen wir uns daran messen lassen, wie es in anderen Ländern gehandhabt wird, z. B. auch mit dem durchgängigen Bauen. Das ist nun einmal so.
In den nordischen Ländern wird auch im Winter gebaut, und es finden sich Gestaltungsmöglichkeiten, die hier vielleicht, weil wir diese besondere Regelung haben, noch nicht ausgelotet sind. Das liegt in der Natur der Sache. Ich mache niemandem einen Vorwurf.
Also: Wir wollen eine Winterbauförderung. Wir wollen Jahresentgelttarife, weil sie besser sind, sozialer sind, für die Einkünfte der Familien auch sicherer sind. Wir wollen uns am Strategiepapier der IG Bau - Steine - Erden orientieren, das ich noch gerne zitieren möchte, und Sie damit wieder auf den Boden der schon gelaufenen Verhandlung zurückführen. Ich zitiere aus diesem Papier:
Trotz einer auf absehbare Zeit hohen bauwirtschaftlichen Nachfrage leisten wir uns in Deutschland im Gegensatz zu den Nachbarländern mit weit schwierigeren Witterungsbedingungen den Luxus, die vorhandenen Kapazitäten nur unzureichend auszulasten. An Stelle der jetzigen Beschränkung auf witterungsbezogene Ausgleichszahlungen ({12}) sollten zur erneuten Ankurbelung des Winterbaus ergänzende produktive Investitionsanreize geschaffen werden.
Wir stehen dazu. Die Umfrage bei den Beschäftigten von Bauunternehmen zielt eindeutig weg vom Wintergeld, weg vom Schlechtwettergeld, hin zum Lohn ohne saisonalen Effekt, mit 73 %. Ich sage das ausdrücklich.
({13})
Wenden wir uns trotz der wiederholten Aufsetzung der Tagesordnung der konkreten Frage zu! Dann tun wir auch den Bauarbeitern auf dem Bau einen guten Dienst. Dann tun wir der Wirtschaft einen guten Dienst und uns auch, denn wir haben weiß Gott noch größere Probleme.
Schönen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Annelie Buntenbach ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum ein Wirtschaftszweig ist derart vom Wetter abhängig wie das Baugewerbe.
({0})
- Ja. Die Arbeitsbedingungen sind geprägt durch witterungsbedingte Einbrüche im Winter und Spitzenbelastungen im Sommer. Die Folgen für die Bauarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sind Kurzarbeit oder vorübergehende Entlassung im Winter und drastische Überstundenbelastungen im Sommer. Der nächste Frost, Schnee und Eis kommen bestimmt. Wetter kann man nicht ändern, jedenfalls nicht willentlich. Das weiß ich als Ostwestfälin aus eigener Erfahrung leidvoll genug. Sehr wohl verändern und gestalten kann man die politischen Rahmenbedingungen. Unser Ziel dabei ist die gleichmäßige Beschäftigung und Verstetigung der Einkommenssi936
Annette Buntenbach
tuation über das ganze Jahr hinweg. Diesem Ziel steht die beabsichtigte Streichung des Schlechtwettergeldes diametral entgegen.
({1})
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, die Schlechtwettergeldregelung in der bis Ende 1993 geltenden Fassung wieder einzuführen.
Welche Funktion hat das Schlechtwettergeld?
Angestrebt wird vor allem die Aufrechterhaltung und Begründung von Beschäftigungsverhältnissen im Winter und damit ein wesentlicher Rückgang der bisher alljährlich eintretenden winterlichen Arbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft.
Meine Damen und Herren, diese Funktionsbeschreibung habe nicht ich mir ausgedacht, sie stammt aus der Begründung des Gesetzes, das der Bundestag in der 3. Legislaturperiode zum Schlechtwettergeld verabschiedet hat.
Ich befinde mich hier jetzt in der seltenen Situation, mit den Argumenten einer Adenauer-Regierung gegen deren Enkel zu argumentieren. Sie beklagte damals - das gilt auch heute noch - erstens einen privat- und volkswirtschaftlichen Verlust durch brachliegendes Investitionskapital und den hohen Sozialaufwand, zweitens infolge der Instabilität der Bauarbeiterberufe eine erschwerte Gewinnung des fachlichen Nachwuchses und drittens die Störungen auf dem Arbeitsmarkt, weil in jedem Winter Hunderttausende von Bauarbeitern arbeitslos wurden.
Mit der Streichung des Schlechtwettergeldes wird genau dieselbe Situation wiederhergestellt. Das bedeutet einen Rückfall in die 50er Jahre, den Rückfall in die Saisonarbeit.
({2})
Nach Schätzungen der Industriegewerkschaft Bau - Steine - Erden werden in den Wintermonaten zusätzlich rund 300 000 Bauarbeiter von Arbeitslosigkeit betroffen sein. Für sie wären Einkommensverluste von über 4 000 DM des Nettojahresverdienstes die Folge. Statt Erwerbseinkommen und Schlechtwettergeld bleibt ihnen im günstigsten Fall das Arbeitslosengeld. Doch gerade nach den Kürzungen der Regierungskoalition garantieren Lohnersatzleistungen bekanntlich weniger denn je ein existenzsicherndes Einkommen.
Arbeitsmarkt- und sozialpolitisch ist die Streichung des Schlechtwettergeldes schlicht nicht zu verantworten. Auch aus finanzpolitischer Sicht ist sie ausgesprochen kurzsichtig und unsinnig. Es sollen rund 700 Millionen DM jährlich eingespart werden. Mindestens diese Summe aber, wahrscheinlich einiges mehr, werden Sie doch an anderer Stelle wieder ausgeben müssen, nämlich beim Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit.
Um das Sparen kann es Ihnen also nicht gehen, wohl eher um das Prinzip. Das Prinzip dieser Bundesregierung heißt: Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und Abbau von sozial- und arbeitsrechtlichen Standards. Die Risiken werden reprivatisiert und den
Beschäftigten angelastet ohne Rücksicht auf die sozialen und biographischen Folgen. Deregulierung zeigt hier einmal mehr, was Ihr Kernstück ist, nämlich der Rückzug des Staates aus der Verantwortung für alle im Interesse weniger.
Daß die amtierende Bundesregierung, die statt Arbeitslosigkeit Arbeitslose bekämpft und statt der Armut die Armen, 300 000 zusätzliche Arbeitslose im Winter wenig beeindrucken, verwundert kaum noch. Müßte Ihnen aber nicht folgendes zu denken geben? Stellen Sie, die Sie immer vom schlanken Staat und von der Vereinfachung von Verfahren reden, sich doch einmal folgendes Bild vor: Berge von Aktendekkeln auf den Arbeitsämtern, hinter denen die Sachbearbeiter verschwinden, 300 000 zusätzliche Anträge auf Arbeitslosengeld, die jährlich geprüft und bewilligt werden müssen - das alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit.
Die Bundesregierung baut darauf, daß die Tarifparteien eine Vereinbarung aushandeln, die eine ganzjährige Beschäftigung und Einkommenserzielung sicherstellt.
({3})
- Das werden Sie nicht tun.
({4})
Deshalb gilt bis 1996 eine Übergangsregelung. Es ist aber nur allzu wahrscheinlich, daß dieser Übergang ins Nichts führt, soweit es die soziale Abfederung von Witterungseinbrüchen für die Beschäftigten betrifft.
Ich bin keineswegs dafür, die Tarifparteien aus ihrer Verantwortung zu entlassen, und hoffe sehr, daß eine Vereinbarung zustande kommt. Allerdings ist gerade vor diesem Hintergrund die Streichung des Schlechtwettergeldes, der Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung für flankierende politische Maßnahmen, keine Erweiterung der Tarifautonomie, wie Sie es hier versuchen darzustellen, sondern eine einseitige Parteinahme.
({5})
Die Arbeitgeber fordern u. a. eine drastische Flexibilisierung der Arbeitszeiten.
({6})
In einem bis zu zwölfmonatigen Ausgleichszeitraum soll die Arbeitszeit ohne Mehrarbeitszuschlag auf die einzelnen Wochen verteilt werden können. Das würde im Winter, wenn nicht ein Teil der Witterungsrisiken über Schlechtwettergeld ausgeglichen wird, auf Arbeit auf Abruf hinauslaufen: Ist das Wetter am Morgen gut, wird gearbeitet, ist es schlecht, wird nicht gearbeitet. Dafür gibt es dann im Sommer mehr Überstunden, die aber nicht mehr als Überstunden bezahlt werden müssen. Solche Art von Arbeit aus der Tube haben wir immer abgelehnt.
({7})
Sie läßt den Beschäftigten überhaupt keine eigenständige Verfügung mehr über ihre Zeit.
Zu einer Verstetigung der Bautätigkeit, was die Einbrüche im Winter und die Spitzenbelastung im Sommer angeht, trägt eine solche Arbeitsorganisation aber auch gar nichts bei. Ohne eine Schlechtwettergeldregelung als flankierende politische Maßnahme ist ein ganzjährig gesichertes Einkommen zu vernünftigen Bedingungen für die abhängig Beschäftigten im Baugewerbe nicht sicherzustellen.
Wenn die Bundesregierung in sozialverträglicher Weise zur Unterstützung der Baubranche tätig werden will -
Frau Kollegin Buntenbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Nicht bei meiner ersten Rede, bei meiner nächsten gern.
({0})
Wenn die Bundesregierung in sozialverträglicher Weise zur Unterstützung der Baubranche tätig werden will, dann fordern wir sie auf, in Zusammenarbeit mit den Tarifparteien einen ökologisch verträglichen Winterbau zu entwickeln und zu fördern.
In Schweden z. B. wird nun schon seit Jahren geschützter Winterbau betrieben und damit eine Verstetigung der Bautätigkeit gefördert.
({1})
In Schweden - es ist nicht zu vermeiden, daß ich heute hin und wieder über das Wetter rede - sind die Winter weit kälter und die klimatischen Bedingungen bekanntlich härter als hier in der Bundesrepublik. Also muß es doch auch hier möglich sein, die schwedischen Erfahrungen aufzugreifen und entsprechende Modelle zu entwickeln, die nicht aus Heizung und Energieverschwendung bestehen, sondern hohen umweltpolitischen Standards genügen.
({2})
Doch wir wollen den Bogen noch etwas weiter spannen: Den Einbrüchen im Winter stehen schon heute Spitzenbelastungen im Sommer gegenüber, die zu unvertretbaren Arbeitszeiten und Gesundheitsschädigungen für die Beschäftigten führen. Die Hälfte aller Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter geht heute mit 54 Jahren in Frührente. Qualifizierte Facharbeiter wechseln, wenn sie die Möglichkeit haben, in andere Branchen, und Ausbildungsplätze können trotz allgemeiner Lehrstellenknappheit wegen mangelnder Attraktivität des Berufs immer seltener besetzt werden. Diese Tendenzen werden bei einer Streichung des Schlechtwettergeldes massiv befördert. Dafür tragen dann Sie, verehrte Damen und Herren der Regierungsparteien, die Verantwortung.
Der zusätzliche Arbeitskräftebedarf im Sommer wird in letzter Zeit zunehmend aus einer Grauzone von Werksvertragskontingenten, Scheinselbständigen und illegaler Leiharbeit gedeckt. Es geht hier keineswegs darum - und das möchte ich unmißverständlich klarstellen -, daß diese Menschen nicht hier in der Bundesrepublik auf den Baustellen arbeiten sollen, sondern es geht darum, daß sie dies unter menschenwürdigen Bedingungen tun,
({3})
mit Tarifvertrag, Sozialversicherung und angemessener Unterbringung. Es geht darum, daß ihre soziale Notlage nicht weiter ausgenutzt werden kann - zum Profit von dubiosen illegalen Arbeitsvermittlern oder zum Lohndumping gegenüber den Kollegen oder um diejenigen anständigen Baufirmen auszubooten, die ihren Beschäftigten vernünftige Bedingungen bieten. Die Situation auf den Baustellen kann man in dieser Beziehung nur als erbärmlich bezeichnen - mit katastrophalen Wirkungen auf Arbeits- und Unfallschutz. Die Kollegen werden gegeneinander ausgespielt - nach unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichem Paß. So entstehen nationale Ressentiments und keineswegs ein weltoffenes Europa.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, erneut mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union über Entsenderichtlinien zu verhandeln, um tariflich abgesicherte und sozialverträgliche Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten auf dem Bau sicherzustellen. Es kann doch nicht wahr sein, daß die beschriebenen Zustände typisch für das vielbeschworene Europa der Zukunft sind! Wir können nicht zulassen, daß sich der Sozialstandard für Europa auf dem niedrigsten Niveau einpendelt und der europäische Einigungsprozeß auf Kosten der abhängig Beschäftigten geht.
Herr Blüm, an dieser Stelle will ich die Gelegenheit nutzen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich über Ihre engagierte Initiative zur Änderung der Entsenderichtlinien sehr gefreut habe und Ihnen die volle Unterstützung meiner Fraktion zusichere - in dieser speziellen Frage, versteht sich. Das fällt mir natürlich nach Ihrem zu Herzen und Nerven gehenden Gepolter von heute morgen etwas schwerer, aber ich möchte es nichtdestotrotz tun.
({4})
Mit unserem Antrag möchten wir eine eindeutige Willenserklärung des Bundestags erreichen, die Ihre Verhandlungsposition für einen neuen Vorstoß stärkt. Sollte auch dieser Versuch scheitern, wird sich dieses Haus mit einem Bundesgesetz auseinandersetzen müssen, um den unerträglichen Zuständen auf den Baustellen ein Ende zu setzen.
({5})
Herr Blüm, ich hoffe, daß Sie dann nicht nur die Unterstützung unserer Fraktion haben, sondern auch die Ihrer eigenen; sonst hätte ich das, was Sie über einen Alleingang gesagt haben, wohl falsch verstanden.
Es gibt dringenden Handlungsbedarf, und es gibt auch schnell umsetzbare Sofortmaßnahmen. Die öffentliche Hand vergibt einen großen Teil der Bauaufträge. Mir ist bekannt, daß inzwischen Bauunter938
Annette Buntenbach
nehmen ihre Angebote zum Teil in zwei Varianten vorlegen: eine Bauausführung zum Normalpreis mit Tarifbeschäftigten und alternativ - eine Billigvariante mit Billiglohnarbeitern.
In einzelnen Kommunen, z. B. in meinem Wahlkreis Bielefeld, wird diskutiert, die Einhaltung von Tarifverträgen bereits in den Ausschreibungen zu verankern. Mit diesem Mittel kann und muß auch der Bund umgehend zur Verbesserung der desolaten Situation auf den Baustellen beitragen.
Lassen wir das Baugewerbe nicht im Regen stehen! Deshalb bitten wir um Unterstützung für unseren Antrag.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme an, daß die Debatte zu diesem Thema und ihre Länge ein Beitrag der Opposition zur Reform der Parlamentsarbeit ist. Anders läßt es sich ja doch wohl nicht begreifen, daß Sie hier zwei Stunden über dieses ausgelutschte Thema reden.
({0})
Wir haben dieses Thema in der letzten Legislaturperiode dreimal in ausführlicher Debatte erörtert, und Sie bringen kein einziges neues Argument. Sie haben die Sachdarstellung in aller Breite, vorwärts und rückwärts, hier immer wieder dargeboten. Das einzige, was das rechtfertigen könnte - das gebe ich zu -, ist die Tatsache, daß Sie neue Kollegen in Ihren Reihen haben, die zu diesem Thema nun auch einmal etwas sagen sollen.
Meine Damen und Herren, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die Opposition rückwärtsgewandt und Denkmustern von gestern verhaftet ist, so ist es die immer wieder neue Befassung des Hauses mit einer einzigen Regelung, der Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes in seiner ursprünglichen Form.
Dieselben Vorlagen, die heute hier behandelt werden, wurden schon am 21. September vergangenen Jahres intensiv diskutiert. Ich habe damals zwei Prophezeiungen gemacht und darf mich mit einer davon ausnahmsweise selbst zitieren:
({1})
Die einzige Zukunft, die die SPD vor sich hat, ist ihre Zukunft als Oppositionspartei.
Dies bedarf nun wohl keiner weiteren Erläuterung.
({2})
Meine zweite Vorhersage war, daß es keine neue Modifizierung der Schlechtwettergeldregelung geben wird. Im Gegensatz zu meiner ersten Aussage will ich Ihnen das noch einmal erläutern.
Die Rückkehr zur Altregelung halte ich aus mehreren Gründen für falsch. Die Betroffenen haben selbst nicht geglaubt, daß die Schlechtwettergeldregelung ewig Bestand haben wird. Um so weniger gehen sie heute davon aus, daß wir ein Instrument wiederbeleben wollen, das in vielfacher Hinsicht Konstruktionsfehler aufweist. Das wissen wir heute deutlicher als damals, als man es einführte.
Nur die SPD und der Bundesrat - sie sind die einzigen, die letzten - glauben, man könne das Schlechtwettergeld einfach wieder einführen.
({3})
Die Fehler des Schlechtwettergeldes, ausbezahlt von der Bundesanstalt für Arbeit, sind offensichtlich. Schlechtwettergeld ist für die Arbeitnehmer am Bau mit Nettolohnverlusten verbunden.
({4})
Diese Verluste können in Zukunft entfallen, wenn sich die Tarifpartner auf ein Ganzjahresentgelt einigen. Seit Jahren diskutieren Tarifpartner über eine Verstetigung der Beschäftigung im Bauwesen, über ein Ganzjahresentgelt und eine Attraktivitätssteigerung im Bauberuf.
Durch die Änderung im Schlechtwettergeld hat der Gesetzgeber eine Lage geschaffen, die die Tarifpartner zum Handeln auffordert. Im Zuge der laufenden Tarifverhandlungen haben sie Gelegenheit, sozialverträgliche Lösungen zu finden.
({5})
Diese Tarifverhandlungen, meine Damen und Herren, sind in vollem Gange.
Nun darf ich Sie einmal fragen, warum Sie sonst nicht müde werden, jeden Politiker einzeln, die Politik insgesamt und insbesondere die Koalition immer davor zu warnen, sich in Tarifverhandlungen einzumischen, während Sie heute mit Ihrem Antrag nichts anderes tun, als sich ins Getümmel zu stürzen und über die Problemlage zu diskutieren.
({6})
Es liegen heute Vorschläge von beiden Seiten auf dem Tisch. Nach allem, was ich weiß, sind diese Vorschläge noch nicht kompatibel. Die Frage, wer die Kosten des witterungsbedingten Arbeitsausfalls trägt, kann sicher nicht von heute auf morgen in ein oder zwei Verhandlungsrunden geklärt werden. Leitlinie müssen nach Auffassung der F.D.P. die Sozialverträglichkeit, die Arbeitsplatzsicherung und die Förderung der Attraktivität im Bauberuf sein. Aber es steht mir nicht zu, die zur Debatte stehenden Vorschläge zu bewerten. Ich sehe nur, daß sich die Tarifpartner auf unseren Druck um Lösungen in gegenseitiger Verantwortung sehr ernsthaft bemühen. Das finde ich gut.
Der SPD scheinen Lösungen innerhalb der Tarif autonomie aber zu mißfallen. Sie halten sie ohnehin nur dann hoch, wenn es Ihnen paßt.
({7})
Ich kann es mir nicht erklären, daß Sie mitten in laufende Tarifverhandlungen mit einem Antrag hineinplatzen. Stellen Sie sich doch einmal vor, die Koalition veranstaltete jetzt eine Anhörung zur gesetzlichen Einführung der Samstagsarbeit! Wie würden Sie schreien! Halten wir deshalb fest: Es ist Sache der Tarifpartner, die branchenspezifischen Probleme zu behandeln.
({8})
- So, jetzt haben alle Zwischenrufe das Ohr des Stenographen erreicht, und ich darf wieder weiterreden.
({9})
Die Abschaffung des Schlechtwettergeldes ist Teil einer vernünftigen Politik, die darauf abzielt, die Finanzlasten richtig. zu verteilen. Auch andere Branchen haben spezifische Probleme, die sie ohne Subventionen durch die Bundesanstalt für Arbeit selbst lösen müssen. Denken Sie an die Schausteller, denken Sie an die Gastronomie! Da gibt es auch kein Geld vom Arbeitsamt. Durch Arbeitsausfall entstehende Probleme müssen sie in Tarifverhandlungen lösen.
Und warum? Im Grunde haben alle Wirtschaftsbranchen die Baubranche subventioniert. Alle hatten sich daran gewöhnt. Jetzt aber - das ist das eigentliche Motiv - wird der Wettbewerb stärker werden. Fast alle skandinavischen Länder - es ist schon darauf hingewiesen worden - sind Mitglieder der Europäischen Union. Finnland und Schweden haben viel Erfahrung mit dem Winterbau. Zweifellos werden diese Bauunternehmer mit ihrer Erfahrung in die Bundesrepublik drängen, wenn wir nicht wieder irgendwelche protektionistischen Harden errichten und dann die im Winterbau beschlagenen Baufirmen vielleicht wieder verdrängen. Wie will die heimische Wirtschaft eigentlich standhalten, wenn bei ihr die Räder stillstehen und die skandinavischen Unternehmen weiterarbeiten? Wir werden uns bemühen, in der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema solche skandinavischen Bauunternehmer mit ihren Erfahrungen anzuhören.
Auf diesen Wettbewerb muß sich die Baubranche einstellen, vor allem auch im Osten. Die deutsche Bauwirtschaft sollte gerade für diesen kommenden Wettbewerb winterfest gemacht werden. Es kann nicht sein, daß sich ausgerechnet der Baubereich den wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Verhältnissen entzieht. Ich bin sicher, daß der Strukturwandel von Arbeitgebern und Gewerkschaftern auch aus eigener Kraft geschafft wird. - Die sind immer noch eine Portion klüger als Sie. - Diese Haltung ist nach meinem Verständnis auch Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, wonach der Staat erst dann handelt,
wenn diejenigen, die vor Ort in der Verantwortung stehen, nicht zurechtkommen.
({10})
Sie steht im Gegensatz zu der interventionistischen Gießkannenpolitik, mit der die SPD den im Grunde genommen notwendigen Strukturwandel verhindert.
Die F.D.P. ist überzeugt: Wir müssen Hilfen gezielt dort einsetzen, wo Risiken von den Betroffenen nicht allein getragen werden können. Hierzu aber hat das Schlechtwettergeld keinen Beitrag geleistet. Auch Arbeitgeber und Gewerkschaften haben das begriffen. Ihre Politik ist von gestern, und deswegen lehne ich die hier behandelten Anträge nach wie vor ab.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter, Gruppe der PDS.
Ich heiße nur Eva, ohne „Maria", bitte.
I lerr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Bau gibt es ein Sprichwort, das für die Zukunft immer mehr an Geltung gewinnt: Sei schlau, geh auf den Bau, sei nicht dumm, kehr gleich wieder um! - Das Zitat wird verständlicher, wenn wir uns die Situation der Kollegen am Bau näher ansehen. Es hat fast 100 Jahre gebraucht, bis der Bauarbeit der Saisoncharakter genommen werden konnte. Arbeitslosigkeit im Winter war für den Bauarbeiter der Normalfall. Erst durch das tariflich festgelegte Kündigungsverbot aus Witterungsgründen und das gesetzlich verankerte Schlechtwettergeld des Jahres 1959 wurde die Winterarbeitslosigkeit weitgehend beseitigt. Diese Regelungen sollen jetzt rückgängig gemacht werden. Bauarbeiter sollen wieder zu Saisonarbeitern werden, wie zu Urgroßvaters Zeiten. Mit einem Wort: zurück in die Vergangenheit! Die Regierung Adenauer hat es gegeben, sein Enkel will es jetzt wieder zurücknehmen.
Besonders unverständlich erscheint diese Maßnahme angesichts der Tatsache, daß in diesem Haus vor einigen Stunden eine Debatte über ein Bündnis gegen die Arbeitslosigkeit geführt wurde und alle Fraktionen ihren Willen bekundeten, Arbeitsplätze zu schaffen. In dieser Debatte wurde von allen Rednerinnen und Rednern der Abbau der Arbeitslosigkeit als wichtigstes Ziel ihrer Politik formuliert.
Mit der Streichung des Schlechtwettergeldes werden mindestens 300 000 Bauarbeiter zusätzlich arbeitslos werden. Damit beginnt für viele die soziale Spirale nach unten. Der jährliche Rentenanspruch eines Bauarbeiters wird sich bei einer dreimonatigen Arbeitslosigkeit und 20 Berufsjahren ohne Schlechtwettergeld um 1 320 DM verringern.
Die Urlaubsregelung verschlechtert sich erheblich. Der tarifliche Urlaubsanspruch im Baugewerbe hängt allein von den Beschäftigungstagen in einem Kalenderjahr ab. Werden die Arbeitnehmer bereits vor Weihnachten entlassen und beginnt ein neues
Arbeitsverhältnis erst im März oder April, so verringert sich die Anzahl der Beschäftigungstage erheblich. Für eine Vielzahl dieser Arbeitnehmer stehen dann 30 Urlaubstage nur noch auf dem Papier. In der Praxis werden viele Bauarbeiter nicht mehr als 20 Arbeitstage Urlaub erwerben können.
Auch bei der Zusatzversorgungskasse - Rentenbeihilfen - drohen durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes und die damit verstärkt auftretende Winterarbeitslosigkeit erhebliche Einbußen, da grundsätzlich nur Tätigkeitszeiten als Wartezeiten anerkannt werden - Sozialdumping, um 700 Millionen DM einzusparen. Gleichzeitig werden die Mehrausgaben des Bundes beim Schlechtwettergeld 1996 auf 400 Millionen DM beziffert, wie der Haushaltsausschuß in seinem Bericht vom 25. Mai 1994 schreibt.
Nach Berechnungen der Gewerkschaft Bau-SteineErden ergeben sich gesamtwirtschaftliche Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen an Steuern und Sozialbeiträgen von jährlich 1,2 Milliarden DM bei einer dreimonatigen Winterarbeitslosigkeit bzw. 2,2 Milliarden DM bei vier Monaten und jeweils 300 000 zusätzlichen Bauarbeitern.
Ja, das sind stolze Summen, meine Damen und Herren. Man schüttelt sie, so scheint es, einfach aus dem Ärmel. Um eine Mark zu sparen werden vier Mark ausgegeben. Diese Logik erklären Sie bitte einmal unseren Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern!
Hintergrund dieser Waigelschen Reformen ist eine weitere Verteilung von unten nach oben. Die jetzt bestehende Schlechtwettergeldregelung sieht vor, daß gemäß § 163 Arbeitsförderungsgesetz allein der Arbeitgeber mit den Krankenversicherungsbeiträgen belastet wird und er auch alle Rentenversicherungsbeiträge zu erstatten hat. Einen 50%igen Anteil der Rentenversicherungsbeiträge erhält er auf Antrag von der Bundesanstalt für Arbeit zurück. Mit der Streichung des Schlechtwettergeldes wird der Arbeitgeber völlig aus der Pflicht zur Zahlung entlassen. All diese Kosten werden auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt. Eine Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit ist somit in keiner Weise gegeben. Im Gegenteil: Die Kosten, die bisher der Arbeitgeber getragen hat, übernimmt jetzt das Arbeitsamt.
Die Regierungskoalition verhindert mit der angestrebten Regelung jede Fortsetzung der Arbeit auf Baustellen und ruft weitere Arbeitslosigkeit hervor.
Zusätzlich tragen diese Maßnahmen dazu bei, einen eklatanten Nachwuchskräftemangel zu fördern. Seit Mitte der 80er Jahre hat das Interesse an Bauberufen bei der nachwachsenden Generation rapide nachgelassen. - Das müßten Sie eigentlich wissen, Herr Blüm. - Der jährliche Ausbildungsbedarf in den alten Bundesländern, der für den Ersatz überalterter Belegschaften in den nächsten Jahren nötig ist, kann derzeit nur zur Hälfte gedeckt werden.
Bauberufe rangieren auf der Wunschliste von Jugendlichen in Westdeutschland gerade noch an zehnter Stelle, in Ostdeutschland dagegen noch an erster. Selbst Leute vom Bau raten ihrem Nachwuchs
laut Befragung eines Instituts - zu 80 % davon ab, diesen Beruf zu ergreifen. Das Negativimage der Bauberufe ist so verbreitet, daß ein besonderer Handlungsbedarf besteht, um die Attraktivität der Branche als berufliches Betätigungsfeld wieder zu erhöhen.
Die gesetzliche Schlechtwettergeldregelung ist nahtlos mit den Tarifverträgen der IG Bau-SteineErden verknüpft. Darin werden ein Verbot der Kündigung bei Schlechtwetterzeit, Lohnausgleichszeiträume, eine tarifliche Winterausgleichszahlung sowie das Wintergeld geregelt. Fallen die Voraussetzungen für den Lohnausgleichstarifvertrag weg, fällt auch der Zwang für die Arbeitgeber weg, diesen Tarifvertrag aufrechtzuerhalten.
Die neuesten Vorschläge der Bauarbeitgeber belegen das bereits. Der Rahmentarifvertrag läuft zum 31. Dezember 1995 aus. Das heißt, bis dahin müßten sich die Tarifvertragsparteien über eine neue Regelung einigen. Die ersten zwei Verhandlungen zum ganzjährig gesicherten Einkommen endeten ohne Ergebnis; denn die Arbeitgeber nehmen die Streichung des Schlechtwettergeldes zum Anlaß, sämtliche bestehenden tariflichen und gesetzlichen Arbeitgeberleistungen zur sozialen Absicherung der Arbeitsverhältnisse in der Schlechtwetterzeit zu eliminieren. Das ist gewollt, und das ist Ihre Strategie, meine Damen und Herren. So Nebelt man Tarifverträge aus!
({0})
Das unkalkulierbare Schlechtwetterrisiko soll nach Vorstellungen der Arbeitgeber nicht mit einer Umlage aller Baubetriebe über die Sozialkassen abgesichert werden, sondern vom einzelnen Betrieb und Arbeitnehmer getragen werden. Kleinere und Mittelstandsbetriebe sind dazu nicht in der Lage. Der Wunsch der Arbeitgeber, acht Tage Urlaub dafür zu verwenden, ist eine glatte Unverschämtheit. Eine von den Arbeitgebern geforderte zwölfmonatige Arbeitszeitflexibilisierung führt zu einer Inflation von Überstunden im Sommer und ist beschäftigungspolitisch nicht wünschenswert.
Apropos Flexibilisierung: Die Vertreterin der F.D.P., Frau Babel, hat heute vormittag ihre Flexibilisierungspläne verteidigt und gleichzeitig die Argumente dagegen als rückschrittlich und alte Zöpfe bezeichnet. Da tauchen bei mir einige Fragen auf:
Erstens. Warum wird die Teilzeitoffensive der Bundesregierung nicht auf Ministerinnen und Minister angewandt?
({1})
Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen, meine Damen und Herren.
({2})
Leider sind so wenig da, daß wir sie nicht fragen können, nur den Herrn Blüm.
Zweitens. Warum wird nicht auch für Parlamentsabgeordnete die Anwesenheitspflicht für Samstage und Sonntage gefordert und die Pflicht zur Nachtarbeit eingeführt?
({3})
Was dem einen recht ist, sollte dem anderen billig sein. Aber das ist für Frau Babel sicher ein ausgelutschtes Thema.
Nun wieder zurück zu den Tarifvertragsparteien: Sollte keine Vereinbarung der Tarifvertragsparteien zustande kommen, greifen das Verbot der witterungsbedingten Kündigung und der Wegfall des Lohnanspruchs bei ungünstiger Witterung. Viele Bauarbeiter werden sich auf dem Sozialamt wiederfinden. Zwar kann den Kollegen nicht gekündigt werden, aber sie haben auch keinen Anspruch auf Lohn. Wohlwissend um diese Zusammenhänge hält die Bundesregierung an ihrer Absicht fest, die Schlechtwettergeldregelung abzuschaffen. Oder soll die Regelung vielleicht gerade deswegen so schnell durchgepeitscht werden?
Arbeitgeber und Regierungskoalition müssen sich endlich Gedanken machen, wie eine Förderung des produktiven und geschützten Winterbaus schnellstmöglich verwirklicht werden kann. Das heißt, die staatliche Wohnungsbau- und Infrastrukturpolitik zu forcieren und durch politische Entscheidungen und wirtschaftliche Anreize systematisch zu fördern. Handlungsbedarf ist gegeben.
Deshalb: Verzichten Sie auf die Streichung der Schlechtwettergeldregelung!
({4})
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Passend zur Jahreszeit diskutieren wir hier in witterungsgeschützten Räumen über das Schicksal von ca. 750 000 Arbeitnehmern auf dem Bau. Das ist mit Sicherheit kein ausgelutschtes Thema, das ist ein Hammer, Frau Babel!
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Mit großem Interesse habe ich die Stellungnahme der Bundesregierung zum Schlechtwettergeld in der Vorlage des Bundesrates gelesen. Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, sagen, daß das Schlechtwettergeld wegfallen muß, weil mit Tarifverträgen - die es allerdings noch gar nicht gibt - ein ganzjähriges Einkommen der Bauarbeiter gesichert werden soll. Dadurch soll der Beruf des Bauarbeiters attraktiver werden, die Baukapazitäten sollen besser genutzt werden, und der Wirtschaftsstandort Deutschland soll so gestärkt werden.
Die Bauarbeiter werden angeblich nicht zu Saisonarbeitern - dank Tarifvertrag, den aber noch immer keiner kennt. Dadurch sollen angeblich auch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung endlich von der Belastung Schlechtwettergeld befreit werden. Für die betroffenen Arbeitnehmer ist das, wie die Bundesregierung meint, absolut nicht unangemessen. Welch ein Hohn!
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Ich erinnere die CDU an ihre geistigen Großväter, auf die Sie sich dauernd beziehen. Die Gründe, die diese Bundesregierung heute zum Wegfall des Schlechtwettergeldes ins Feld führt, waren genau die Gründe der Regierung Adenauer und des damaligen Arbeitsministers Theo Blank, dieses Instrument zur Sicherung der ganzjährigen Beschäftigung der Bauarbeiter überhaupt erst einzuführen. Machen Sie sich, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, doch einmal die Mühe, die damalige Begründung zur Einführung des Schlechtwettergeldes nachzulesen. Sie könnten vielleicht etwas lernen.
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1959 machte sich die Regierung Sorgen über die Beschäftigungsschwankungen zwischen Sommer und Winter im Baugewerbe, insbesondere über die regelmäßige Winterarbeitslosigkeit. Diese Schwankungen führten auf Arbeitgeberseite zu Verlusten, weil ihr Investitionskapital, z. B. die Baumaschinen, brachlag. Volkswirtschaftlich bedeutete die Arbeitslosigkeit, daß Arbeitskraft nicht genutzt wurde, aber finanziert werden mußte.
Meine Damen und Herren, 1958/59 gab die Bundesanstalt von den 1,2 Milliarden DM Arbeitslosenunterstützung allein 480 Millionen DM - das sind 40 % - für die Winterarbeitslosigkeit aus. Hingegen nahm sie nur 165 Millionen DM an Beiträgen von der Bauwirtschaft ein.
Diesem Mißverhältnis zwischen Beitragsaufkommen und Inanspruchnahme von Leistungen mußte - so sahen es die Verantwortlichen damals - ein Ende gemacht werden, weil es weder für die Gemeinschaft, sprich: Staat, noch für die Arbeitgeber und erst recht nicht für die Arbeitnehmer einen Sinn machte. Denn die Winterarbeitslosigkeit führte zu massiven Störungen auf diesem Arbeitsmarkt. Nicht nur, daß die arbeitslosen Bauarbeiter in andere Branchen abwanderten - sie kehrten nach Wiederaufnahme der Bautätigkeit zu einem erheblichen Teil nicht zurück -, nein, auch das Ansehen des Baugewerbes litt stark unter dem Eindruck, daß es sich um ein Saisongewerbe handele. Nachwuchsmangel machte sich bemerkbar.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, es gab also auch schon andere Erkenntnisse in Ihren Reihen. Jetzt sagen Sie aber bitte nicht, daß sich die Zeiten und die Bedingungen geändert hätten. Nein, die sind gleichgeblieben. Aber Sie haben sich geändert. Sie können oder - was noch viel schlimmer wäre - wollen nicht erkennen, wie es heute ist.
Im Winter 1993 erhielten 700 000 Bauarbeiter für die ganze Periode - das sind fünf Monate, von November bis März - 700 Millionen DM Schlechtwettergeld. Das sind gerade mal 1 000 DM pro Person in der Saison. Die durchschnittlichen Kosten für einen Arbeitslosengeldempfänger im Westen Deutschlands betrugen 1994 aber 2 246 DM für einen Monat. Unterstellen wir, daß nicht alle 700 000 Bauarbeiter arbeitslos werden, wenn das Schlechtwettergeld wegfällt, sondern nur, wie schon gesagt, ca. 300 000, dann belastet das die Nürnberger Kasse pro Monat mit rund 674 Millionen DM. Multiplizieren Sie diesen Millionenbetrag mit der Anzahl der Schlechtwettermonate,
dann wissen Sie, was Sie der Bundesanstalt aufgehalst haben. Der Betrag, der dabei herauskommt, geht in die Milliarden - Mark, nicht Lire.
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Meine Damen und Herren, mit der Kappung des Schlechtwettergeldes stellen Sie Tarifverträge in Frage; denn gekoppelt an das Schlechtwettergeld ist ein Lohnausgleich an acht Kalendertagen, der vom Arbeitgeber gezahlt wird. Wenn es aber kein Schlechtwettergeld mehr gibt, dann gibt es auch keinen Lohnausgleich mehr.
Wenn in der Schlechtwetterperiode gearbeitet wird, gibt es zur Zeit noch ein Wintergeld von 2 DM pro Stunde. Es ist mehr als zweifelhaft, ob diese Wohltat aus der Sozialkasse des Baugewerbes den Winterbau aufrechterhalten kann. Wenn aber Lohnausgleichszahlungen eingestellt werden und auch der Winterausgleich fraglich wird, dann kommt wohl als nächstes die Urlaubskasse des Baugewerbes dran. Die tarifliche Urlaubsregelung hängt von den Beschäftigungstagen im Kalenderjahr ab, genauso wie die Rentenbeihilfe aus der Zusatzversorgungskasse. Also können die Arbeitgeber nach Wegfall des Schlechtwettergeldes auch gleich die Sozialkassen auflösen, weil das nur konsequent wäre.
Wenn es kein Schlechtwettergeld mehr gibt, die Voraussetzungen für Kurzarbeit nicht vorliegen, das Wetter aber jede Bautätigkeit unmöglich macht, kann der Bauarbeiter nicht arbeiten und hat damit auch keinen Lohnanspruch. Weil er aber in einem Beschäftigungsverhältnis steht, das nicht gekündigt ist, steht ihm auch kein Arbeitslosengeld zu. Dem Bauarbeiter bleibt also dann nur der Gang zum Sozialamt. Da muß es doch nach Ihren Vorstellungen nur konsequent und geradezu sozial sein, ihn zu entlassen, damit er wenigstens Arbeitslosengeld erhalten kann. Damit hätten wir sie dann wieder: die legale, witterungsbedingte Kündigung. Sie sehen, meine Damen und Herren: kleine Ursache, große Wirkung.
Der Bundesregierung geht es nicht darum, den Beruf des Bauarbeiters attraktiver zu machen. Sie will unter der Überschrift „Standortsicherung" der Bauwirtschaft vermeintliche Vorteile verschaffen, „vermeintlich" deshalb, weil ich den Eindruck nicht loswerde, daß Sie die Folgen Ihres Handelns nicht zu Ende gedacht haben.
Wir sind uns alle einig in dem Bemühen, die Lohnnebenkosten gering zu halten. Aber wenn diese Bundesregierung Arbeitslosengeldzahlungen in erheblichem Umfang in Kauf nimmt, um die Arbeitgeber angeblich zu entlasten, dann kommt es nach meiner Rechnung zwangsläufig zur Steigerung der Lohnnebenkosten oder zu Steuermehrausgaben. Wenn wir genau hinsehen, merken wir, daß jetzt die Krankenversicherungs- und die Rentenversicherungsbeiträge für die Ausfallzeiten nicht mehr vom Arbeitgeber, sondern von der Arbeitslosenversicherung zu zahlen sind. Was hier geschieht, ist, ganz unverfroren, die Risikoverlagerung zu Lasten aller Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, anders ausgedrückt: die Vergesellschaftung des Risikos.
Selbstverständlich habe ich mir auch die Argumente der Arbeitgeberseite angesehen, und zwar die aus dem Mittelstand, weil dort immer noch Arbeitsplätze zu ordentlichen Bedingungen angeboten werden. Von einem solchen Unternehmen aus meiner Heimat, aus Ludwigshafen, habe ich mir die Berechnungen geben lassen. Sie besagen nämlich, daß dem Betrieb bei Wegfall des Schlechtwettergeldes ein jährlicher Mehraufwand von 1,1 Millionen DM entsteht. Damit sind sie auf dem Baumarkt nicht mehr konkurrenzfähig, weil z. B. die Mitbewerber aus Portugal die gleichen Arbeiten zum halben Preis machen. Die mittelständische Bauindustrie fürchtet deshalb zu Recht um ihre Existenz. Mehr noch: Der Wegfall des Schlechtwettergeldes führt bei der mittelständischen Bauwirtschaft zu Mehrausgaben; diese Mehrausgaben verteuern den Bau, was wiederum Einfluß auf die Mieten haben wird. Dann dürfen Sie aber bitte nicht mit den Fingern auf die Unternehmen zeigen, die immer teurer bauen, sondern Sie müssen sich an die eigene Nase fassen. Dann haben Sie nämlich den Verursacher an der Hand.
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Da wir gerade über Folgeschäden sprechen: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was die wiederkehrende Winterarbeitslosigkeit für die Arbeitsämter bedeuten würde? So wie die Personalsituation bei den Arbeitsämtern ist, könnte diese Mehrarbeit nicht zusätzlich geleistet werden. Mehr Personal müßte her, weil die Belastungen der Mitarbeiter vor Ort mittlerweile unerträglich geworden sind. Das werden die Folgen sein, wenn das Schlechtwettergeld wegfallen wird. Niemand soll sagen, die SPD hätte nicht darauf hingewiesen, ob zum vierten- oder zum fünftenmal. Wir sagen es Ihnen so oft, bis Sie es begreifen.
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Herr Blüm, was sollen wir eigentlich von Ihren energischen Forderungen halten, wenn Sie sich medienwirksam im Fernsehen für Entsenderichtlinien in Europa einsetzen? Denn sobald Sie zu Hause sind, scheint Sie Ihr Gerede von vorher nicht weiter zu stören. Sonst würden Sie wohl kaum solche katastrophalen Fehlentscheidungen treffen, die den politischen Großvater von Herrn Kohl dazu veranlassen müßten, sich im Grabe herumzudrehen.
Nicht alles, was damals beschlossen wurde, gehört heute zum alten Eisen. Denken Sie nur an das Grundgesetz und sein Sozialstaatsgebot. Deshalb darf nicht der schnelle und größtmögliche Profit die Devise für 1995 sein, sondern eine gerechte Chance für die Zukunft, und zwar für alle.
Ein Baustein zu diesem Ziel ist ohne Zweifel das Schlechtwettergeld. Herr Blüm, ziehen Sie und Ihre Fraktion diesen Baustein nicht ohne Not und wider besseres Wissen aus dem Gefüge des AFG. Die Folgen wären fatal.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Peter Keller, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte jetzt auf die massiven Vorwürfe der Opposition nicht mit einer Scherzfrage antworten, aber ich will uns ernsthaft fragen: Was ist der Unterschied zwischen Deutschland und Schweden? Vielleicht fällt uns ein, daß es in Schweden kälter und schneereicher ist als bei uns. Die Winter sind länger.
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- Im Saarland sowieso.
In Schweden gibt es kein Schlechtwettergeld. Deshalb können wir jetzt ernsthaft und berechtigt fragen: Müssen die schwedischen Bauarbeiter deshalb im Winter darben, geht es ihnen schlechter als bei uns? Das ist eine Frage, die wir einfach stellen müssen, ob wir wollen oder nicht.
In dem „Mustersozialstaat Schweden" hat man sich dazu etwas einfallen lassen. Man nutzt nämlich den technischen Fortschritt und organisiert den Baubetrieb so, daß fast über das ganze Jahr hinweg gearbeitet werden kann. So einfach machen die das.
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Bei uns sind Winterausgleich und das Schlechtwettergeld aus dem Jahre 1959. Wir haben mittlerweile das Jahr 1995. Ich kann Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nur fragen: Sind die 35 Jahre technologisch einfach spurlos an uns vorübergegangen?
Herr Kollege Keller, gestatten Sie eine Zwischenfragen des Kollegen Gilges?
Ja.
Herr Kollege Keller, ist Ihnen bewußt, daß der Winterbau in Schweden, insbesondere der, der sich unter besonders schwierigen klimatischen Bedingungen abspielt, die es in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht gibt, staatlich geregelt ist, daß der Staat eine Gewährleistung übernimmt und dazu finanzielle Beiträge leistet und daß zweitens trotz alledem das Bauen in Schweden - Sie sollten sich das ansehen und sich einmal umhören - auf Grund der erheblichen Kosten, die durch den Winterbau entstehen, bedeutend teurer ist?
Wir wollen solch teures Bauen in der Bundesrepublik nicht. Wenn Sie sagen, Sie wollen dieses teure Bauen, Sie wollen, daß das Bauen um 30 % teurer werden soll, dann machen wir das wie in Schweden. Das ist überhaupt kein Problem, Herr Kollege.
Wollen Sie solch ein Gesetz vorlegen, mit dem wir Regelungen wie in Schweden bekommen?
Lieber Kollege Gilges, ich habe noch keine von der Präsidentin genehmigte Reise nach Schweden machen dürfen. Nur das, was ich darüber gelesen habe, gibt eine andere Position wieder. Ich schlage vor, daß wir das - wir müssen Ihren Gesetzentwurf im Ausschuß beraten - glaubhaft vorlesen. Ich setze mich mit solchen Dingen auseinander. Meine jetzige Position ist eine andere als die, die Sie hier vortragen.
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- Das habt ihr doch früher immer begeistert vorgeschlagen, ihr Sozialdemokraten. Das war doch immer ein SPD-Vorschlag, der war doch gut. Jetzt wollen wir einfach etwas Positives aufnehmen, und dann sind Sie dagegen. Das verstehe ich nicht ganz.
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- Ja, das ist Dialektik.
Ich möchte einfach darauf hinweisen, daß 35 Jahre vergangen sind und wir darüber nachdenken müssen, ob das, was vor 35 Jahren richtig war, heute auch noch angebracht ist.
Es hat sich ja einiges verändert. Die Durchlässigkeit der Grenzen zu Osteuropa hat den Wettbewerb nicht unbedingt in ein gutes Licht gebracht. Längst hat der technologische Fortschritt auch bei uns Einzug gehalten. Aber - das ist das Bedauerliche dabei - er wird noch zuwenig ausgeschöpft. Dabei ist abzusehen, daß Bauunternehmer aus Ländern mit dieser Winterbauförderung, z. B. aus dem hohen Norden, nach Deutschland drängen.
Jetzt müssen wir uns doch ernsthaft fragen, meine lieben Kollegen von der SPD: Sind wir vorbereitet, wenn plötzlich aus den EG-Ländern des Nordens die Leute zu uns kommen, bei uns Winterbau praktiziert wird und wir nicht konkurrenzfähig sind? Diese Frage müssen wir uns schon stellen. Deshalb will ich das hier einmal deutlich zur Sprache bringen.
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- Sie können ja hinausgehen, wenn Sie nicht zuhören wollen.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitslosenversicherung - das haben wir alle erfahren - stößt an ihre Grenzen. Ich meine, wir müssen die Arbeitslosenversicherung von Ausgaben befreien, die nicht ausschließlich Sache dieser Versichertengemeinschaft sind.
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- Das ist ja richtig; auch darüber kann man diskutieren. Nur, jetzt reden wir ganz konkret über den Punkt Schlechtwettergeld. Lieber Kollege Büttner, mit diesem Zuruf geben Sie indirekt zu, daß auch das Schlechtwettergeld eine solche Last ist, die nicht in die Arbeitslosenversicherung hineingehört. Das haben Sie doch damit bestätigt, wenn man das dialektisch - wie das jemand vorhin gesagt hat interpretieren darf.
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- Damit habe ich keine Probleme. Es sind ja alles nette Kollegen von der SPD; ich sage ja nichts Schlechtes über sie.
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Obwohl das so ist, fordert die Bauwirtschaft insgesamt - also auch die Arbeitgeber und zum großen Teil die Arbeitnehmer - weiterhin, daß von den Beiträgen auch das Schlechtwettergeld bezahlt wird.
Wir alle reden gern vom Umbau des Sozialstaates. Aber ich habe auch den Eindruck: Wenn wirklich jemand einmal mit einem ganz konkreten Vorschlag kommt, wie z. B. der Bundesarbeitsminister Blüm, dann werden alle Kräfte mobilisiert.
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Dann wird dreimal leidenschaftlich diskutiert. Die Kollegin Babel hat schon gesagt: Es gibt keine neuen Argumente. Aber ich muß andere Dinge wiederholen, um eben diesen Besitzstand zu wahren.
Aber auch mit den sogenannten sozialpolitischen Errungenschaften kann es kommen wie mit Großmutters ererbtem Pelz. Mit der Zeit nisten sich in den Pelz die Motten ein, und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, schwärmen dann immer noch vom Glanz der vergangenen Tage. Wo bleibt da Ihr wirklicher Beitrag zum sozialen Umbau,
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wenn man sich nicht so bewegen kann?, frage ich mich.
Wir alle haben ein gemeinsames Ziel - darin sind wir uns zumindest einig -: Wir wollen alle, daß in der deutschen Bauwirtschaft die Arbeitnehmer ganzjährig beschäftigt sind. Das ist wichtig. Das kann aber nur erreicht werden, wenn wir alte Zustände nicht in Beton gießen.
Genau das hat neulich die IG Bau-Steine-Erden mitten im Bundestagswahlkampf gemacht. Ich habe Versammlungen in Oberfranken und in der Oberpfalz erlebt, wo es nicht ganz so warm ist wie hier oder in der Main-Gegend, wo ich wohne. Dort wurde eindeutig für die SPD - bei uns in Bayern für Renate Schmidt und für Rudolf Scharping - geworben. Gut, da kann man sagen: Das war noch das Getöse vom Wahlkampf. Das nehme ich einmal gelassen so hin.
Aber innerlich bewegt hat mich doch wirklich die Tatsache, daß viele, auch christlich-soziale Kolleginnen und Kollegen vom Bau, wirklich Angst bekommen haben. Die Gewerkschaft hat sie durch Schreiben von der Hauptverwaltung und vom Bundesvorsitzenden bewußt in diese Angst versetzt.
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Dann hat es längerer Zeit bedurft - aber es ist immerhin gelungen -, unsere Kolleginnen und Kollegen vom Bau zu überzeugen, daß wir etwas anderes wollen.
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Besonders als wir die Vereinbarung von Leipzig deutlich gemacht haben, haben sie gemerkt, daß sie nicht ins Leere laufen, sondern daß die Tarifvertragsparteien versuchen, einen neuen gemeinsamen Weg zu gehen.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, daß die Arbeitslosenversicherung am Ende ihrer Belastbarkeit ist. Wir sehen die Chance, in der Bauwirtschaft einen neuen Weg zu gehen. Wege, die in die Zukunft gerichtet sind und ganzjährige Arbeitsplätze auf dem Bau sichern, sind richtige Wege in die richtige Zukunft, auch wenn es momentan vielleicht etwas schmerzhaft aussieht.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eine alte Lebensphilosophie sagt: Was man einem Menschen zutraut, hilft man ihm erreichen. Ich meine, das gilt auch hier.
Es gibt Beispiele von der Christlichen Gewerkschaft Metall, die gerade in den letzten Tagen zusammen mit dem Fachverband Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik Bayern und dem Fachverband Metall Bayern vorgemacht hat, wie moderne Tarifverträge aussehen können. Hier werden Jahresarbeitszeiten und eine wirkliche Arbeitszeitflexibilisierung eingearbeitet. Ich stelle Ihnen das gern zur Verfügung, wenn Sie daran Interesse haben.
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- Ja, gut, weil Sie bei der anderen Gewerkschaft sind. Wir sind tolerant.
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Ich hätte auch einen Vertrag einer DGB-Gewerkschaft gebracht, aber ich habe ihn momentan nicht gehabt; darum habe ich Ihnen den genannt.
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Worte belehren, aber Beispiele reißen mit. Das haben die alten Römer schon gesagt.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ja.
Herr Keller, Sie müssen doch zugestehen, daß Sie die Millionen, die Sie beim Schlechtwettergeld jetzt einsparen, schlichtweg auf Arbeitgeber, auf Arbeitnehmer umverteilen und daß diese dem Baubereich in der Zukunft fehlen. Gestehen Sie mir zu, daß es im Moment noch keine Tarifverträge gibt, die diese Zeiten regeln?
Die letzte Frage: Wie wollen Sie das regeln, wenn einer im Sommer die Überstunden bringt, die er vielleicht im Winter abfeiern könnte, und die Firma inzwischen bankrott geht? Wie wollen Sie denn dem helfen?
Also, lieber Kollege, wir haben hier vor zehn Jahren Debatten geführt, bei denen wir geprügelt worden sind - ich bin seit zehn Jahren im selben Ausschuß tätig - wegen einer Einflußnahme auf die Tarifautonomie. Damals ging es um das Kanzlerwort. Ich habe mir in meiner Rede noch ein paar Bemerkungen aufgeschrieben, Vorschläge an die Tarifparteien. Ich überlege mir, ob ich das so sage. Auf der einen Seite werden wir geprügelt, und auf der anderen Seite wollen Sie fordern, daß wir hier eingreifen.
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Ich meine - das resultiert auch aus Gesprächen, in denen uns dies Leute aus der Bauindustrie und auch von der Gewerkschaftsseite signalisiert haben -, daß das natürlich jetzt alles etwas Tarifdonner ist, aber daß sie ganz sicher zu einer Lösung kommen werden.
Politisch hilft es den Tarifpartnern auch weiter, wenn sie jetzt wissen: Ende 1995 läuft die Schlechtwettergeldförderung aus. Das ist unsere Position, die kann man drehen und wenden, wie man will.
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Sie werden sehen, wer am Schluß recht hat. Sie können die Protokolle hier nachlesen.
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Herr Kollege Keller, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Bitte.
Herr Kollege Keller, ich habe immer noch das Problem: Wir haben doch im Moment überhaupt keine Tarifverträge, die so etwas regeln. Wieso können Sie dann uns vorwerfen, daß wir in irgendeine Tarifautonomie eingreifen, zumal Arbeitgeber und Gewerkschaften versichert haben, sie wollen diese Nachteile, die hier entstehen, nicht im Tarifvertrag regeln?
Wenn ich die gemeinsame Erklärung vom 10. März 1994 richtig gelesen habe
- ich will sie nicht noch einmal zitieren, weil das hier schon gemacht worden ist - ({0})
- Also, wenn ich da lese, die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes sind sich darin einig, daß unmittelbar nach Beendigung der Einkommenstarifverhandlungen 1994 mit der Umsetzung der Vereinbarung vom 19. Mai 1992 - ganzjährig gesetzliches Einkommen und Arbeitszeit - begonnen werden soll, daß die Regelungen am 1. Januar 1996 in Kraft treten sollen
- letzter Absatz - und das vom Gewerkschaftsvorsitzenden Köberle und von den beiden Arbeitgebern als Tarifvertragsparteien unterschrieben ist, dann kann ich das doch nicht eindeutiger entnehmen. Ich verstehe das nicht.
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Die Arbeitnehmer in den Wahlversammlungen haben große Sorge gehabt, und als ich ihnen das vorgelesen und erklärt habe, waren sie zuversichtlich. Wir sollten den Leuten mehr Vertrauen entgegenbringen, wenn sie in einer schwierigen Situation sind,
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statt sie durch Angstmacherei zu verunsichern. Das ist doch die entscheidende Frage.
Herr Kollege Keller, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Iwersen?
Ja, freilich. Ich freue mich auf jede Diskussion.
Bitte.
Herr Keller, ist Ihnen bewußt, daß diese Verabredung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Baugewerbe mit der Ankündigung eines ganzjährigen Tarifs darauf hinausläuft, daß unter Einbeziehung des Schlechtwettergeldes für eine vernünftige ganzjährige Bezahlung eingetreten wird?
Ist Ihnen außerdem klar, daß ein Heizungsbauer natürlich im Winter, da er in der Regel einen Rohbau um sich hat, den man dichtmachen kann, arbeiten kann, während das im Tiefbau in gefrorenem Boden in der Regel nicht möglich ist? Haben Sie dies schon mit beachtet und betrachtet, und können Sie uns da gleich Lösungen mit auf den Weg geben?
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Ich will keine Ratschläge in bezug auf Tarifverträge geben. Nur: Weil ich als Ingenieur einmal etwas Handwerkliches getan habe, weiß ich natürlich, daß es im Heizungsbau besser ist. Ich weiß aber auch von Schweden - darüber werden wir uns dann im Ausschuß noch streiten -, daß sogar im Hochbau und im Tiefbau eben andere Dinge möglich sind als bei uns, weil die eine andere Tech946
nologie anwenden. Das ist die entscheidende Situation dabei.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion, die Zwischenrufe und die Bemerkungen zeigen zwar, daß wir das gleiche Ziel vor Augen haben, aber wir streiten uns über den Weg. Ich finde das an sich gut. Nur, Sie werden dann sehen, wer am Schluß den richtigen Weg gegangen ist.
Ich sage und betone noch einmal: Unser politisches Ziel ist die gleichmäßige, langjährige Beschäftigung der Bauarbeitnehmer. Dazu müssen die Arbeitszeiten noch intelligenter genutzt und auch die Arbeitsorganisationen verändert werden. Nebenbei gesagt: Das hilft auch, die Schwarzarbeit zu bekämpfen. Die Vorteile, die eine solche Regelung bringt, sind vielfältig. Ich lasse sie aber im Moment beiseite.
Ich will noch zwei andere Bemerkungen machen. Ich frage mich manchmal: Wie kann man noch die Situation in der Bauwirtschaft stärken? Entscheidend wäre, daß es uns gemeinsam gelänge, die vielen - Hundertausende - illegal Beschäftigten vom Bau zu bringen sowie die Arbeitnehmer, die mit Billiglöhnen abgespeist werden.
Ich glaube, es ist bedauerlich, daß es dem Bundesarbeitsminister trotz seiner wirklich guten Bemühungen nicht gelungen ist, eine europäische Entsenderichtlinie auf den Weg zu bringen. Unser gemeinsames Ziel ist es hoffentlich - davon gehe ich aus -, daß bei uns in Deutschland gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort gezahlt wird, damit wir keine gespaltenen Arbeitsmärkte bekommen, und daß illegale Beschäftigung und Scheinselbständigkeit bekämpft werden. Herr Bundesarbeitsminister, es muß schnell gehandelt werden, damit wir hier eine nationale Lösung bekommen, eventuell über die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge.
Zweiter Gedanke. Die Tarifverträge, die jetzt neu abgeschlossen werden, bieten die Chance, das Thema Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, Beteiligung am Produktivkapital nach vorne zu puschen. Es gibt leider bis jetzt noch keine Tarifverträge in diesem Bereich zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital. Ich meine, gerade in der Bauindustrie wäre es durch gemeinsame Einrichtungen - beispielsweise die gemeinsame soziale Einrichtung - möglich, über Kapitalanlagegesellschaften solche Dinge zu erledigen. Unter dem Stichwort Investivlohn ist das in den letzen Tagen immer wieder diskutiert worden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte uns am Schluß dieser Debatte ermutigen, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts denken. Das war auch einmal das Motto der Sozialdemokratie. Ich glaube, die Leipziger Erklärung muß der Aufbruch für eine neue Kreativität sein.
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Die Beibehaltung der jetzt geltenden Übergangsregelung wird sicher auch einen heilsamen Druck - auch wenn ein Heilungsprozeß manchmal schmerzlich ist - ausüben; denn nur so können wir ein Stück weit die Zukunft gestalten. Ich versichere, daß die Unionsfraktion die Bauarbeiter nicht alleine lassen wird.
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Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren von der SPD, vielleicht haben Sie noch ein bißchen Geduld.
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Es war so sicher wie das Amen in der Kirche - das konnten wir uns bei der SPD und der PDS schon ausrechnen -, daß zum Thema Schlechtwettergeld ein Antrag von Ihnen kommt und Sie nicht auf den Abschluß der Tarifverhandlungen warten. Sie drängeln wie ungeduldige kleine Kinder, weil Sie Sorge haben, eines Ihrer Wahlkampfthemen zu verlieren. Ich stelle fest: Die SPD wird immer mehr zur konservativen Partei, starr und unbeweglich.
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Es war auch nicht die feine englische Art, wie Sie in Ihren Reden vor dem 16. Oktober 1994 - das ist ja noch nicht so lange her - die Vereinbarung der beiden Tarifparteien, Verhandlungen über ein ganzjährig gesichertes Einkommen aufzunehmen, einfach weggelassen haben.
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Diese Vereinbarung gibt es; das können Sie schwarz auf weiß nachlesen. Diskutieren Sie die doch nicht immer wieder weg!.
Es ist bekannt, daß auch die F.D.P. erhebliche Bedenken gegen diesen Vorschlag des Finanzministers im Rahmen des ersten Spargesetzes von Ende 1993 angemeldet hatte. Die Begründung ist leicht verständlich: Auch wir hatten Zweifel, daß damit das Ziel einer jährlichen Einsparung von 700 Millionen DM erreicht werden kann. Es war immerhin zu befürchten, daß in der Schlechtwetterzeit verstärkt Entlassungen vorgenommen und dementsprechend Arbeitslosenunterstützung die Einsparungen aufheben bzw. übersteigen würden. Unser Ziel, daß die Bauunternehmen insbesondere in Ostdeutschland auf die Beine kommen, sahen wir dadurch gefährdet, weil sie dafür eine wachsende Stammannschaft brauchen.
Unumwunden kann ich hier zugeben: Wir hatten schon Bauchschmerzen, der Streichung des Schlechtwettergeldes ab 1996 zuzustimmen. Ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen, daß aber Ihre Anträge ins Leere gehen, da zur Zeit, zumindest noch bis Ende
1995, Ihre Forderungen geltendes Recht sind. Wir haben noch die Schlechtwettergeldregelung - siehe Erstes Gesetz zur Änderung des AFG im Bereich Baugewerbe vom 20. September 1994. Wir haben diesem Gesetz letztlich zugestimmt und dafür öffentlich gewaltige Prügel bezogen, weil es diese vernünftige gemeinsame Erklärung der Tarifparteien vom 10. März 1994 gibt - obwohl sie von Ihnen einfach ignoriert wurde und heute wieder wird, weil sie ganz einfach nicht in diesen Wahlkampf paßte.
Wissentlich weggelassen wurde auch, daß sich diese Erklärung auf ein wirklich altes Vorhaben der Tarifpartner beruft, nämlich auf eine Vereinbarung vom 19. Mai 1992, endlich ein ganzjähriges Einkommen und eine möglichst ganzjährige Arbeitszeit abzusichern.
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Ich stelle fest, daß Sie der Weitsicht der Gewerkschaften ständig hinterherhinken,
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der es inzwischen wirklich um Arbeitsplätze geht. - Das ist so; wir stellen das fest.
Dieser Vernunft der Tarifpartner auf der Suche nach einer noch besseren Lösung als der Schlechtwettergeldlösung wollten und konnten wir uns nicht verschließen und haben deshalb dem genannten Gesetz zugestimmt. Anstatt dieses Thema für Wahlkampfzwecke zu mißbrauchen, wollten wir uns nicht dem Suchen nach gemeinsamen Wegen der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auch des Baugewerbes zum Nutzen der Unternehmen und damit der Arbeitnehmer verschließen.
Spielen wir doch nicht Blindekuh. Der Wettbewerb in Europa wird härter, und die Konkurrenz aus den europäischen Ländern, in diesem Falle besonders aus den nordeuropäischen Ländern, schläft nicht. Bauen wird dort im Winter viel weniger unterbrochen.
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Damit werden Bauzeitvorteile erzielt, die bei Angeboten natürlich zählen.
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Selbstverständlich gibt es technische und technologische Grenzen. Aber es gibt auch technische und organisatorische Lösungen, die nicht zu Mehrbelastungen für Unternehmen und Arbeitnehmer führen müssen.
Wir wollen auch keine Mehrbelastungen für Unternehmen und Arbeitnehmer. Statt ständiger Polemik - wir wissen offensichtlich alle nicht, wie es wirklich in Schweden ist - sollten wir uns doch lieber einmal mit den Schweden unterhalten.
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Am besten ist es, wir laden uns die Schweden ein und lassen uns sagen, wie das tatsächlich läuft.
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Darum stimmt unsere Aussage: Laßt die Tarifparteien erst einmal ernsthaft prüfen, bevor wir anfangen, über notwendige Flankierungsmaßnahmen des Bundes zu diskutieren.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie zeigen mit Ihren Anträgen nicht gerade Kompetenz.
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Obwohl zur Zeit noch eine Schlechtwettergeldregelung existiert, beantragen Sie sozusagen vorsorglich für den Fall
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- die Stunde ist doch geschenkt -, daß sich die Tarifparteien nicht einigen sollten,
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eine staatliche Finanzspritze aus Steuergeldern und nehmen damit den Druck, daß sich die Tarifparteien vernünftig einigen.
Ich habe mich natürlich gefragt: Was könnte der Grund sein? Vielleicht wieder nur Wahlkampfgetöse unter Fortlassen von Argumenten? Hessen und Nordrhein-Westfalen lassen grüßen!
Zur Zeit ist es wirklich zunächst einmal Sache der Tarifparteien, wenn der ehrliche Wille dazu besteht, zu einem Ergebnis mit beiderseitigem Vorteil zu kommen.
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Nur: Diese Verhandlungen dürfen von keiner Seite zur Erlangung eines einseitigen Vorteils mißbraucht werden;
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das ist klar. Warum, Herr Büttner, unterschätzen Sie denn ständig die Stärke der Gewerkschaften?
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Sie werden es in diesen Verhandlungen schon richten. Sie haben zwei Runden verhandelt, und schon sagen Sie: Die schaffen es nicht. Sie waren bisher immer stark und haben für die Arbeitnehmer etwas erreicht; sie werden es auch in Zukunft tun.
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Sie reden denen ständig hinein. Damit unterstützen Sie die Gewerkschaften nicht.
Wichtig ist, daß unter dem Strich eine Minimierung des Schlechtwetterrisikos herauskommt. Dadurch würde auf jeden Fall - und darum muß es ja wohl auch gehen können - die Wettbewerbsfähigkeit gerade im europäischen Maßstab erhöht. Das ist sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer vorteilhaft, denn nur Aufträge sichern Unternehmen und Arbeitsplätze.
Natürlich muß man bei der Abschaffung des Schlechtwettergeldes und bei der Sicherung des ganzjährigen Einkommens - darum geht es ja - Lolmausgleichszeitraum, Urlaubsgeldregelung und Wintergeld neu ins Verhältnis zueinander setzen.
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Das muß aber nicht gleichzeitig die ersatzlose Streichung bedeuten. Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, da aufzupassen, daß es in diesen Verhandlungen nicht ersatzlos gestrichen wird.
Ich kann mir neben der Reduzierung des Schlechtwettergeldes durch technische und organisatorische Lösungen auch eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung vorstellen. Zu deutsch: Im Sommer können mehr und im Winter können weniger Stunden gearbeitet werden. Daß hier hinsichtlich Arbeitsschutz und Leistungskurve keine unbegrenzte Tagesstundenzahl geleistet werden kann, ist für mich eine Selbstverständlichkeit.
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Herr Gilges, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege, ich frage Sie in allem Ernst, ob Ihnen bekannt ist, daß ein großer Teil der Bauleistungen, insbesondere von den Bauarbeitern, im Akkord erbracht werden, daß ganze Berufsgruppen - beispielsweise die Maurer, die Stukkateure, die Verputzer, die Fliesenleger - AkkordTarifverträge haben und es da überhaupt nicht um die Stundenzahl geht, sondern um das Leistungsvermögen. Ist Ihnen bekannt, daß ein Fliesenleger - das sage ich aus eigener Erfahrung, weil ich das 15 Jahre lang gemacht habe - maximal 5 bis 6 Quadratmeter verlegen kann, und dann ist Ende?
Es kommt nicht auf die Zahl der Stunden, sondern auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit an. Die Leistungsfähigkeit ist begrenzt. Man kann nicht, wie Sie sich das vorstellen, im Sommer 20 Stunden arbeiten. Das ist anders als bei einem Bundestagsabgeordneten; der kann 24 Stunden hier herumsitzen, ohne müde zu werden - im Ausnahmefall.
Lieber Kollege, wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie meine Aussage vernommen, daß auch ich meine, daß man wegen des Arbeitsschutzes und der Leistungskurve nicht unbegrenzt arbeiten kann. Das ist klar. Man kann aber darüber reden, in welchem Umfang man das ausweiten kann. Genau das kann und muß Inhalt dieser Tarifverhandlungen sein.
Andererseits heißt Baustellentätigkeit oft auch, unter Montagebedingungen außerhalb des Wohnorts zu arbeiten und zu wohnen. Ich weiß, lieber Kollege
vom Bau, aus eigener Tätigkeit im Baugewerbe, obwohl Sie das vielleicht nicht interessiert, daß es vielen Kollegen vom Bau entgegenkommt - Ausnahmen wie Sie bestätigen natürlich die Regel -, etwas länger zu malochen, um dann im Zusammenhang zu Hause sein zu können. Ich komme vom Bau, und ich weiß, daß das viele begrüßen. Das ist so.
Es gibt viele Lösungsmöglichkeiten. Das setzt allerdings zunächst guten Willen und Phantasie der Tarifpartner voraus. Lassen wir ihnen diesen Spielraum für möglichst flexible Lösungen, stellen wir erst Anträge, wenn dieser Spielraum voll ausgeschöpft ist. Dann, aber erst dann, kann man mit uns über den unvermeidbaren witterungsbedingten Arbeitsausfall, den es natürlich gibt, und den Träger der dadurch entstehenden Kosten reden. Prämisse sollte dabei sein, daß das Baugewerbe einschließlich Arbeitnehmer für seine Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht mit zusätzlichen Lasten bestraft und daß das ganzjährige Einkommen gesichert wird.
Lassen wir den autonomen Tarifpartnern diese Chance, und belasten wir sie nicht durch Anträge zur Unzeit oder durch Wahlkampfpolemik! Lassen Sie uns damit einen Beitrag zum sozialen Frieden leisten!
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Das Wort hat die Kollegin Renate Jäger.
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Dr. Babel, warum reden wir hier eigentlich, wenn ich richtig gezählt habe, schon zum sechstenmal über dieses Thema?
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Nach den Auffassungen der Koalition müßte alles längst geklärt sein: Haushalt konsolidiert, Tarifvereinbarungen zum Ersatz des Schlechtwettergeldes unter Dach und Fach.
Im Mai vorigen Jahres erklärte der Kollege Hörsken, CDU-Fraktion, hier im Bundestag, die Tarifvertragsparteien werden eine bessere Lösung für den Wegfall des Schlechtwettergeldes finden. Im September gab Herr Louven, ebenfalls CDU-Fraktion, hier an gleicher Stelle, indem er irreführend oder irrtümlich aus der gemeinsamen Erklärung der Tarifpartner zitierte, seiner Überzeugung Ausdruck, daß nach den 94er Einkommenstarifverhandlungen mit der Umsetzung für ein ganzjährig gesichertes Einkommen und ganzjährige Arbeitszeit begonnen werde. Auf den Irrtum hat meine Kollegin Iwersen mit ihrer Zwischenfrage bereits hingewiesen, daß nämlich mit dem Schlechtwettergeld ganzjährig gesicherte Einkommen vereinbart werden sollten.
Von der Arbeitgeberseite sind Wege vorgeschlagen worden, Wege, die zu ungleich stärkerer Belastung der Arbeitnehmer führen. Diesen Konflikt zu lösen ist aber nicht unsere Sache und ist nicht Sache der Politik. Sie ist Sache der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Wenn aber der Staat das Schlechtwettergeld ohne
zwingenden Grund abschafft, gibt er seine soziale Verantwortung ab.
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In diesem Fall stimmt er indirekt einer Verlagerung des Witterungsrisikos auf die einzelnen Betriebe und die Arbeitnehmer zu. Ebenso wird auch die zwölfmonatige Arbeitszeitflexibilisierung mit allen negativen Folgen einer saisonabhängigen Beschäftigung von ihm akzeptiert. Damit ist die Waage der Gerechtigkeit nicht mehr im Gleichgewicht zu halten.
Wir bringen den Gesetzentwurf zur Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes u. a. deshalb noch einmal ein,
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weil die Arbeitnehmer auf dem Bau trotz eines enormen Aufschwunges in der Baubranche, insbesondere auch im Osten Deutschlands, einen Schutz brauchen. Ja, es ist sehr erfreulich, daß wir als Hauptüberschriften in den Tageszeitungen oftmals lesen: Die Bauwirtschaft im Osten boomt.
Der größte Teil der Arbeitgeber schätzt nach Umfragen seine geschäftliche Situation im Osten als gut oder zumindestens befriedigend ein. Laut Konjunkturbericht der Industrie- und Handelskammer Dresden hat in Sachsen die Zahl der Beschäftigten im Bauhauptgewerbe innerhalb eines Jahres um rund 225 000 zugenommen. Das ist eine Steigerung der Beschäftigtenzahl um rund 34 %. Der gewerbliche Umsatz im Bauhauptgewerbe stieg im gleichen Zeitraum um mehr als 64 %. Ähnlich sieht es im Ausbaugewerbe aus.
Auch die Auftragseingänge in den einzelnen Bauarten sind innerhalb eines Jahres um ca. 20 und mehr gestiegen, wobei im öffentlichen Bau und im Verkehrsbau Zuwächse von weit über 50 % zu verzeichnen waren.
Bekanntlich stellt die Konjunktur im Baubereich einen Motor für die Gesamtkonjunktur der Wirtschaft dar.
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Dieser Motor der Konjunktur darf durch nichts, aber auch durch gar nichts geschwächt werden.
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Ich meine, auch nicht durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes.
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Weiter heißt es in dem Bericht der IHK Dresden, daß der Fachkräftemangel für 22 % der Baubetriebe eine starke Behinderung darstellt. Das müßte uns doch zu denken geben. Wie sollen denn Bauberufe attraktiver werden? Wie können wir sie aus der Ecke der Saisonarbeitnehmer heraushalten und damit erreichen, daß mehr Jugendliche an Bauberufen interessiert sind und zukünftig keine Abwanderung aus diesem Berufszweig erfolgt?
Ein scheinbarer Widerspruch ergibt sich dadurch, daß in der Arbeitsmarktstatistik Ost trotz arbeitsloser Bauarbeiter offene Stellen im Baubereich ausgewiesen werden. Das hat verschiedene Ursachen: Erstens passen oftmals das Profil von Bewerber und angebotener Stelle nicht zusammen. Wäre da nicht über gezielte Qualifikationsmaßnahmen nachzudenken? Zweitens sind rund 30 % der Arbeitslosen aus Bauberufen über 50 Jahre alt; in der Regel können diese nur noch mit Förderleistungen oder auf dem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Drittens wird für rund ein Drittel dieser offenen Stellen eine Entlohnung unter Tarif angeboten.
Als weiterer großer Risikofaktor wird von den Bauunternehmern die starke Wettbewerbsverzerrung durch Dumpingpreise bei Billiganbietern angesehen. Auf Grund des Konkurrenzdruckes besteht die Gefahr, daß angestammte, langjährig beschäftigte Arbeitnehmer durch Billigkräfte ersetzt werden. Der Wegfall des Schlechtwettergeldes würde diesen Prozeß noch befördern.
Die IG Bau-Steine-ErdeninSachsen befürchtet, daß mit dem Wegfall der Schlechtwettergeldregelung ab Januar 1996 vor allem älteren Arbeitnehmern gekündigt wird, die dann im Frühjahr nicht wieder eingestellt werden. Das könnte allein in Sachsen über 100 000 Arbeitnehmer aus dem Baugewerbe treffen. Es gibt bereits jetzt Beispiele dafür, daß Firmen schon vorsorglich auf die zu erwartenden Regelungen hin gekündigt haben. Hinter dem sogenannten saisonalen Anstieg der Arbeitslosenzahl, der für Januar erwartet wird, stecken eben auch diese Entlassungen im Baubereich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits im März des vorigen Jahres sagte unser verehrter Minister Herr Blüm bei einem Gespräch mit Vertretern der Gewerkschaft, des deutschen Baugewerbes und der Bauindustrie - ich zitiere -:
Wir brauchen Winterbauförderung. Schlechtwettergeld ist eine Übergangslösung bis zur Vereinharung einer besseren Lösung durch die Tarifpartner. Der Gesetzgeber muß diese Regelung der Tarifpartner fordern. Die öffentlichen Haushalte müssen kontinuierliches Bauen unterstützen.
Wo bleibt denn die Unterstützung für das kontinuierliche Bauen durch die öffentlichen Haushalte, die Sie, I Ierr Blüm, gefordert haben? Tun Sie es doch! Wenn Sie Schlechtwettergeld scheinbar einsparen wollen, dann machen Sie doch eine so gute Winterbauförderung, daß das Schlechtwettergeld kaum noch beansprucht werden muß und somit kaum noch zum Tragen kommt.
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Bei dem großen Anteil öffentlicher Aufträge im Baubereich wäre es doch denkbar, bei Ausschreibungen Ausweichobjekte für den Winterbau vorzuschreiben oder gesonderte Fördermöglichkeiten für den Winterbau einzuführen.
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Da gerade „Immer mehr Staat!" dazwischengerufen wurde, möchte ich Ihnen sagen: Für Ludwig Erhard war es selbstverständlich, daß der Staat Ver950
antwortung für die Wirtschaft und das wirtschaftliche Schicksal der Menschen trägt.
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Der Staat kann sich in diesem Fall nicht einfach zurückziehen und abwarten, daß sich andere um das Ausfüllen der vom Staat geschaffenen Lücke kümmern.
Wir haben heute in diesem Parlament über mehrere Anträge der SPD-Bundestagsfraktion diskutiert, die allesamt Rahmenbedingungen, mehr Innovation und Investition in der Wirtschaft und ein verantwortungsvolles soziales Miteinander einfordern. In diesem Sinne möchte ich Heinrich Mann zitieren, der einmal sagte:
Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, daß wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.
Von dieser Verantwortlichkeit, meine Damen und Herren, dürfen sich aber die Stärksten der Gesellschaft, die Unternehmen und der Staat, nicht zunehmend zurückziehen. Dies möchte ich Ihnen noch einmal für unsere zukünftigen Entscheidungen zu bedenken geben.
Danke schön.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Harald Rauen, über den mir gesagt wurde, er habe heute Geburtstag. Dazu kann ich ihm zwar nicht offiziell gratulieren, aber ich kann ihm das Wort erteilen, weil es im Bundestag am Geburtstag besonders schön ist.
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Herr Präsident! Schönen Dank für die Gratulation. Das macht es natürlich erforderlich, daß ich jetzt sehr maßvoll zu diesem Thema rede.
Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Bulling hat für die Bauwirtschaft geworben. Sie hat gesagt: „Sei schlau, geh auf den Bau!" Ich habe dies vor 36 Jahren getan und bin bis zum heutigen Tage dabeigeblieben. Daran kann mich auch der Deutsche Bundestag nicht hindern.
Mit dem schlechten Wetter am Bau und dem Schlechtwettergeld habe ich als gelernter Maurer und als Unternehmer seit dieser Zeit zu tun, vor allem aber auch mit der Frage, wie man ganzjährig sinnvolle und für die Leute zumutbare Beschäftigung im Baugewerbe organisieren kann. Als Bauunternehmer, der normale Hoch-, Tiefbau- und Ingenieurbauarbeiten überwiegend im Raum Mosel-Eifel-Hunsrück durchführt, also in einem Raum, der nicht gerade von der Witterung begünstigt ist, können Sie davon ausgehen, daß ich beim Schlechtwettergeld weiß, wovon ich rede. Ich hoffe doch angesichts dessen, was ich heute teilweise gehört habe, daß diese Sachkenntnis zumindest nicht hinderlich ist, wenn man hier darüber spricht.
Als der Entwurf des Gesetzes zum Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm vorgelegt und die Streichung des Schlechtwettergeldes angekündigt wurde, war ich zunächst alles andere als begeistert. Da ich aber vom Grundsatz her für den Abbau von Subventionen bin, habe ich mich dennoch für die Abschaffung des Schlechtwettergeldes ausgesprochen. Man kann nicht grundsätzlich für den Abbau von Subventionen sein, aber halt rufen und dagegen sein, wenn es um die eigenen geht.
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Auch wenn das Schlechtwettergeld aus Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung gezahlt wird,
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handelt es sich dennoch um eine Subvention,
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da die Beitragszahler aus dem Baugewerbe gerade 6 % aller Beitragszahler in die Arbeitslosenversicherung ausmachen. Die Folge: Die Rolle des Schlechtwettergeldes für eine ganzjährige Beschäftigung im Baugewerbe wurde und wird in der aktuellen Diskussion völlig überzeichnet und übertrieben dargestellt.
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Denn das von der Bundesanstalt für Arbeit in der bisherigen Form gezahlte Schlechtwettergeld steht in unauflöslichem Zusammenhang mit tarifvertraglichen Ergänzungsregelungen im Baugewerbe.
Herr Kollege Rauen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gilges?
Ja, bitte.
Ich möchte Ihnen auch herzlich zum Geburtstag gratulieren und die Frage stellen, ob Sie als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion das Solidarprinzip, das es nach dem AfG bei der Arbeitslosenhilfe gibt, nicht mehr wollen, d. h. aufheben wollen? Denn das, was für das Schlechtwettergeld gilt, gilt natürlich auch für Kurzarbeitergeld und für andere Leistungen, die ja Solidarleistungen sind. Das heißt, es gibt keinen direkten Bezug zwischen der Beitragszahlung einer Berufsgruppe und dem, was sie daraus entnimmt.
Diese Frage macht zu dem, was ich gesagt habe, eigentlich gar keinen Sinn.
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Tatsache ist, daß das Schlechtwettergeld aus Mitteln der Arbeitslosenversicherungsbeiträge gezahlt wird, die von allen erbracht werden, und daß der Anteil derer, die im Baugewerbe beschäftigt sind, nur 6% derer ausmacht, die in die Solidarkasse einzahlen. Das ist einfach eine Tatsache.
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Insofern haben wir es hier schon mit einer Subvention zu tun.
Meine Damen und Herren, ich habe eben ausgeführt, daß das Schlechtwettergeld in einem untrennbaren Zusammenhang mit vielen anderen Ergänzungsregelungen im Baugewerbe steht, die insgesamt bisher die Philosophie der ganzjährigen Beschäftigung ausgemacht haben. Insbesondere sind dies Kündigungsverbot aus Witterungsgründen, Lohnausgleichszahlung zwischen Weihnachten und Neujahr, 2 DM Wintergeld je geleisteter Arbeitsstunde in den Monaten Dezember, Januar, Februar und März, ferner Zahlung eines Winterausgleichs und acht Tage Urlaub im Winter, die nur in den Wintermonaten, in der Schlechtwetterperiode genommen werden können.
Für diese zusätzlichen Maßnahmen bringen die Firmen der Bauwirtschaft jährlich ca. 6 Milliarden DM durch Umlagen an die Zusatzversorgungskasse in Wiesbaden bzw. Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und Beiträgen zur ZVK auf die sozialen Leistungen aus der Zusatzversorgungskasse auf.
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- Hören Sie einmal zu. Gegenüber den 6 Milliarden DM, die hier zur Finanzierung der bisherigen ganzjährigen Beschäftigung aufgebracht werden, stellen doch die 700 Millionen bis 800 Millionen DM, die als Schlechtwettergeld gezahlt werden, sehr wenig dar. Das Verhältnis von 6 Milliarden DM einerseits und 700 Millionen DM andererseits macht deutlich, von welch geringer Bedeutung das Schlechtwettergeld eigentlich bisher gewesen ist.
Herr Kollege Rauen, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?
Nein, ich möchte das im Zusammenhang darstellen, weil ich glaube, es ist für manche, die darüber reden, wichtig, einmal zu wissen, wie es sich in Wirklichkeit verhält.
Besser zu verstehen ist dies aus der einzelbetrieblichen Betrachtung heraus. Ein verheirateter Facharbeiter mit einem Kind und einem Stundenlohn von 23,25 DM bekommt jetzt, im Januar 1995, ein Schlechtwettergeld von 11,06 DM. Sein unverheirateter Kollege bekommt bei gleichem Lohn 9,69 DM pro SWG-Stunde. Beide kosten den Betrieb im Januar pro SWG-Stunde 7,87 DM, weil der Betrieb für die Schlechtwetterstunden die Beiträge für die Renten-, Kranken- und Unfallversicherung zu zahlen hat. Die Belastung der Betriebe je Schlechtwetterstunde ist den wenigsten bekannt, wie ich in vielen Diskussionen erfahren habe.
In den letzten fünf Jahren haben z. B. meine rund 90 Mitarbeiter jährlich Schlechtwettergeld zwischen 28 000 DM und 43 000 DM bekommen. Im Durchschnitt lagen die Zahlungen bei 34 000 DM pro Jahr. Dagegen hat der jährliche Betrag aus den 2 DM pro Stunde Wintergeldzahlung zwischen 51 000 DM und 55 000 DM pro Jahr ausgemacht. Das Überbrückungsgeld, das Urlaubsgeld für die acht Tage Urlaub im Winter, die Zahlungen für den Winterausgleich und die darauf fälligen Sozialversicherungs- und ZVK-
Beiträge des Arbeitgebers lagen in meinem Betrieb zwischen 270 000 DM und 320 000 DM.
Anders ausgedrückt: Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre waren unter Einbeziehung weiterer Umlagen an die ZVK jährlich ca. 680 000 DM Beiträge an die Zusatzversorgungskasse in Wiesbaden fällig, wogegen sich die durchschnittlich 34 000 DM Schlechtwettergeld im Jahr wirklich bescheiden ausgenommen haben.
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Bei den bisherigen Regelungen gab es darüber hinaus höchst interessante bürokratische Reibungsverluste.
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- Ich bin schon sehr großzügig, indem ich Ihnen diese Kenntnisse zukommen lasse. Sie sollten ruhig zuhören, dann können Sie zukünftig auch sachkundig über das Schlechtwettergeld reden, Herr Kollege Fischer.
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Meine Damen und Herren, es gab ganz interessante Reibungsverluste. Ich bitte Sie, einmal folgendes nachzuvollziehen. Die 2 DM Wintergeld, die wir jetzt im Januar den Mitarbeitern auszahlen, bekommen wir auf Antrag vom Arbeitsamt erstattet. Das Arbeitsamt wiederum bekommt dieses Geld von der ZVK in Wiesbaden erstattet, an die wir das Geld Monate vorher eingezahlt haben. Dieser ganze bürokratische Unsinn wird anschließend natürlich auch noch recht bürokratisch kontrolliert.
Sie erkennen daran unschwer, daß es für moderne Regelungen ganzjähriger Beschäftigung auch noch Ressourcen gibt, die jenseits rein fiskalischer Betrachtung liegen. Ich habe deshalb für das gemeinsame Geschrei der Gewerkschaften wegen der Abschaffung des Schlechtwettergeldes wenig Verständnis gehabt.
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- Ich habe doch gesagt: Ich habe für das Geschrei der Arbeitgeber und der Gewerkschaften kein Verständnis gehabt.
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- Dann habe ich es jetzt entsprechend deutlich nachgeholt.
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Es war allerdings richtig und wichtig, daß die Kürzungen um die Monate November und März rückgängig gemacht wurden und dadurch das Schlechtwettergeld bis zum 31. Dezember 1995 fast ungekürzt wie vor 1993 gezahlt wird. Dies war notwendig, damit die Tarifpartner mit dem Auslaufen des Bundesrahmentarifvertrages zum gleichen Datum die Möglichkeit haben, Regelungen für eine ganzjährige Beschäftigung im Baugewerbe zu finden. Natür952
lieh muß es für die Bauarbeiter eine gesicherte ganzjährige Beschäftigung und Bezahlung geben. Alles andere wäre auch aus meiner Sicht nicht akzeptabel.
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Wir müssen doch unsere guten Facharbeiter behalten. Wir können es uns gar nicht leisten, sie im Winter zum Arbeitsamt gehen zu lassen, geschweige denn, daß wir den Quatsch nachreden, sie müßten zum Sozialamt gehen.
Aus dem eigenen Betrieb weiß ich, daß dies mit etwas Phantasie zum Nutzen der Mitarbeiter und des Betriebs geschehen kann. Allerdings müssen die Tarifpartner selbst hinterfragen, ob alles, was bisher über die Zusatzversorgungskasse in Wiesbaden geregelt war, auch in der Zukunft noch sinnvoll ist.
In den letzten 20 Jahren gab es durchschnittlich etwa 14 Tage Ausfall in der Schlechtwetterperiode. Dabei verkenne ich überhaupt nicht, daß es zu diesen Durchschnittswerten und auch in Abweichung zu den Erfahrungen in meinem Betrieb durchaus erhebliche Abweichungen je nach Betriebsart und Betriebsstandort gibt. Im Kanalbau, Straßenbau, Landschaftsbau oder bei Dachdeckern und Zimmerern sind ungleich größere Probleme bei der Lösung der ganzjährigen Beschäftigung gegeben als bei einem Hochbauer im Rhein-Main-Gebiet oder einer Firma des Bauhauptgewerbes, die überwiegend im Innenausbau tätig ist.
Deshalb scheint es mir bei den jetzt anstehenden Tarifverhandlungen zur Sicherung ganzjähriger Beschäftigung im Baugewerbe von großer Bedeutung zu sein, daß es tarifliche Öffnungsklauseln gibt, die es den Betrieben ermöglichen, betriebliche Regelungen zu vereinbaren, welche den besonderen sektoralen und regionalen Bedingungen der Betriebe gerecht werden.
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Ich bin überzeugt, daß die Betriebe durchaus damit einverstanden sind, daß sie zur Sicherung ganzjähriger Beschäftigung mehr Verpflichtungen auferlegt bekommen, wenn diese Betriebe gleichzeitig auch die Möglichkeit erhalten, im Einvernehmen mit ihren Mitarbeitern Wege zu finden, welche die wirtschaftlichen Notwendigkeiten weisen.
Warum sollte z. B. ein Betrieb, der im Trockenausbau tätig ist, die Arbeitszeit unsinnigerweise auf neun Monate komprimieren, obwohl er überhaupt nicht durch Schlechtwetter benachteiligt ist? Dasselbe gilt für einen Hochbauer in einer gemäßigten Klimazone. Aber warum soll es z. B. einem Straßenbaubetrieb oder einem Tiefbaubetrieb im Sauerland, in der Eifel, im Hochschwarzwald oder in Bayern im Einvernehmen mit seinen Leuten nicht erlaubt sein, seine Wirtschaftsleistungen in einer Zeit zu erbringen, in der es vernünftig, wirtschaftlich sinnvoll und für die Mitarbeiter erträglich ist?
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Der Straßenbauer oder der Kanalbauer arbeitet dann
im Sommer vielleicht etwas mehr, aber unter erträglichen Bedingungen, wobei hinzukommt, daß Arbeitsplätze gesichert werden.
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Wenn die Betriebe diese Fragen mit ihren Mitarbeitern praxisnah und sachbezogen regeln können, wird es zum Guten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sein. Auf jeden Fall muß in den Tarifvereinbarungen sichergestellt werden, daß an der Unkündbarkeit des Arbeitsverhältnisses aus Witterungsgründen festgehalten wird. Wenn dazu ab einer gewissen Anzahl von Ausfalltagen Belastungsspitzen auftreten, die seriöserweise weder von den Arbeitnehmern noch von den Arbeitgebern ohne unnötige Risiken getragen werden können, sollte unvoreingenommen geprüft werden, ob für diesen Extremfall die Bundesanstalt für Arbeit durch den Gesetzgeber in die Lage versetzt wird zu helfen.
Ich will abschließend aus meiner wirklich tiefen Überzeugung keinen Hehl machen. Ich weiß mich da mit unserem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm einig.
({10})
- Das ist immer sehr gut, Herr Fischer; das sollten Sie sich einmal merken. - Wenn der Schlachtenlärm um das Schlechtwettergeld verklungen ist, werden die Praktiker in den Tarifrunden und später in den Betrieben bessere Lösungen als in der Vergangenheit zur ganzjährigen Beschäftigung im Baugewerbe finden. Dessen bin ich absolut sicher.
({11})
Damit dieser Prozeß beschleunigt wird, wäre es besser, Sie würden Ihren Gesetzentwurf zurückziehen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat Kollege Hans Büttner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß bei dieser Debatte die Kollegin Babel und ihre verehrte Fraktion dieses Thema als „ausgelutscht" betrachtet, wundert uns nicht. Es ist abstoßend - das sage ich mit aller Deutlichkeit, Kollegin Babel -,
({0})
wie Sie mit den Sorgen von nahezu 1 Million Menschen in diesem Haus umgehen. Das interessiert Sie nicht, weil Sie nämlich nur die Interessen der Automatenhersteller im Kopf haben, und sonst nichts.
({1})
Liebe Kollegin Babel, Sie haben deutlich gemacht, wo der Unterschied im sozialpolitischen Ansatz unseHans Büttner ({2})
rer Partei und bei Ihnen wirklich liegt. Sie haben
erklärt, für Sie ist Sozialpolitik dann angebracht, wenn sich der einzelne nicht mehr selbst helfen kann. Für uns ist die Sozialpolitik Voraussetzung dafür, daß sich der einzelne selbst helfen kann. Das ist der fundamentale Unterschied.
({3})
Herr Minister Blüm, Sie haben heute früh tränenreich, emotional erklärt, daß diese Republik auf dem Konsens von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Staat aufgebaut worden ist. Ich unterstütze das voll und ganz. Sie haben begrüßt, daß diese Praxis gestern abend wieder belebt worden sei - um anschließend diesen Konsens aufzukündigen, indem Sie das Schlechtwettergeld streichen, das Voraussetzung dafür ist, daß tarifvertragliche Regelungen überhaupt zustande kommen können. Denn genau das war die Grundlage der von Ihnen immer unzureichend und verkürzt zitierten Leipziger Erklärung.
({4})
Sie wissen genau, daß die Tarifparteien von 1992 an - von dem Zeitpunkt an, als Sie das Thema der durchgängigen Beschäftigung tarifvertraglich angehen wollten - immer wieder festgestellt haben: Eine tarifvertragliche Regelung ist nur möglich, wenn der Staat als dritter Partner konsensual mit am Tisch sitzt. Wenn er sich von dieser Haltung verabschiedet, schadet man der Möglichkeit einer tarifvertraglichen Regelung. Das wissen Sie.
({5})
Ich finde es etwas enttäuschend, daß das so ist, und kann mir das nur damit erklären, Herr Minister, daß Sie Ihre Rolle als Schönredner einer destruktiven, konsenszerstörenden Sozialpolitik nur noch mit Polemik überspielen können.
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- Sie reden anschließend. Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß Sie mit solchen Methoden, mit Halbwahrheiten nicht weiterkommen.
Sie alle kennen den Brief, den wir dieser Tage erhalten haben, von den Gewerkschaften, aber auch von Unternehmern unterzeichnet. Dort wird noch einmal betont: Das Schlechtwettergeld und seine Beibehaltung ist Voraussetzung für eine tarifvertragliche Regelung des Winterbaus.
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- Sie haben ihn doch alle bekommen. Er lag doch gestern bei Ihnen auf dem Tisch. Nur, das, was Sie nicht lesen wollen, legen Sie lieber beiseite, als sich um die wichtigen Dinge zu kümmern.
Warum eine Regelung zum Winterbau notwendig ist, müßte denen, die hier vorgeben, wenigstens ein
bißchen von Betriebswirtschaft zu verstehen, doch einleuchten.
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In diesem Zusammenhang wird immer auf Schweden verwiesen, ohne daß sich die Kollegen ein paar betriebswirtschaftliche Gedanken gemacht haben und ohne sich daran zu erinnern, was uns bei der Anhörung zum Schlechtwettergeld sowohl von Arbeitgeber- wie von Arbeitnehmerseite einhellig ins Stammbuch geschrieben wurde - dies ist eine ganz nüchterne betriebswirtschaftliche Rechnung -: Wenn der Winterbau über längere Zeit abgesichert werden muß, weil es wie in Schweden drei Monate Frost gibt, dann sind Investitionen in erheblicher Höhe erforderlich und sinnvoll. Wenn Sie diesen Aufwand nur für zwei Tage Frost oder vier Tage Schlechtwetter betreiben wollen, dann erhöhen Sie damit logischerweise die Preise beim Bau, die wir von der öffentlichen Hand, die wir alle mehrfach bezahlen. Das trägt nicht zu einer kontinuierlichen Beschäftigung beim Bau bei.
Dabei handelt es sich nicht um eine Subvention, sondern um ein Auffangen dessen, was auf Grund der Witterungseinflüsse betriebswirtschaftlich nicht zu leisten ist. Wenn Sie dann immer noch behaupten, dies seien Subventionen, dann haben Sie davon ein völlig falsches Verständnis. Das wäre so, als würden Sie zu Ihren Wählern im Moseltal im Moment sagen: Wir subventionieren euch, weil euch das Hochwasser zum drittenmal in kurzer Zeit Schäden in ungewöhnlichem Ausmaß zugefügt hat. Das hat doch nichts mit Subventionen zu tun. Das hat mit der Solidarität im Staat zu tun. Darum geht es beim Winterbau, beim Schlechtwettergeld.
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Das Schlechtwettergeld haben die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in allen Bereichen gerne gezahlt. Sie von der Regierungskoalition haben es ja nicht gestrichen, weil Sie den Winterbau fördern wollten oder aus welchen Gründen auch immer - Sie sollten keine Legenden bilden -, sondern weil Sie mit Ihrer kurzfristigen Politik den Bundeszuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit kürzen wollen, weil Sie den Auftrag hatten, Streichungen vorzunehmen und damit indirekt den Haushalt zu entlasten.
({10})
Dann ist man auf die Idee gekommen aufzugreifen, was ein Vertreter der IG Bau-Steine-Erden 1992 hier im Gespräch mit Abgeordneten und der Regierung auf den Tisch gelegt hatte, nämlich zu fragen: Welche Möglichkeiten gibt es für die Winterbauförderung?
Nachdem Herr Waigel sich hingestellt und Herrn Blüm gesagt hatte „Streicht 500 Millionen, 600 Millionen, 700 Millionen DM" und man das Schlechtwettergeld dabei ins Auge gefaßt hatte - denn da waren
Hans Büttner ({11})
700 Millionen DM -, hat man hinterher diese völlig falschen Konstruktionen aufgebaut.
Herr Blüm, mit dieser Methode bauen wir keinen Konsens auf; mit dieser Methode zerstören wir den Konsens. Alle Reden, die Sie hier halten, nach denen Sie das Zusammenwirken aller Kräfte wollen, sind pure Heuchelei, wenn gleichzeitig konsensuale Möglichkeiten eingerissen werden.
Herr Rauen, Sie haben das Thema Solidarprinzip und Subvention am Thema Schlechtwettergeld aufreißen wollen. Das läßt tief blicken. Ist es Subvention, wenn die Gesunden für die Kranken solidarisch ihren Beitrag leisten? Betrachten wir es als Subvention, wenn die Arbeitenden für die Arbeitslosen einstehen? Ist es Subvention, wenn wir denjenigen, die wegen schlechten Wetters wenige Tage nicht arbeiten können, helfen, damit au' ch sie ganzjährig beschäftigt sein können? Ist das Subvention, oder ist das Solidarität, wie wir sie in einem Staat brauchen, damit jemand durch etwas, was er nicht selbst beeinflussen kann, nicht benachteiligt wird? Weder die Bauwirtschaft noch die Bauarbeitnehmer können das Wetter beeinflussen. Deswegen sind alle aufgefordert mitzuhelfen, damit hier Lösungen gefunden werden können.
Sie wollen mit dieser Regelung aus dem Solidarprinzip aussteigen. Das trifft genau das, was Frau Babel hier vorhin erklärt hat, als sie ihren Begriff von Sozialstaat und Solidarität aufgezeigt hat: nur dann eingreifen, wenn sich der einzelne nicht selbst helfen kann,
({12}) selbst wenn er daran nicht schuld ist.
Das heißt für Sie auch: Die Unwetteropfer sollen sich erst einmal selbst helfen, bevor der Staat eingreift.
({13})
Die Kranken sollen sich erst einmal selbst 'helfen, bevor der Staat eingreift. Diejenigen, die durch schlechtes Wetter benachteiligt sind, sollen sich erst einmal selbst helfen, bevor der Staat eingreift. Das ist eine Vorstellung von Sozialstaat, die wirklich von vorgestern ist und nichts mehr mit moderner, der Menschenwürde entsprechender Sozialpolitik zu tun hat.
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Sie sollten sich schämen, mit einer solchen Argumentation hier weiter hausieren zu gehen.
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Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm.
Wenn ich Sie sehe, ist in der Tat schlechtes Wetter im Verzug.
Meine Damen und Herren, zur Sache. Ich habe mir das jetzt zwei Stunden angehört.
({0})
Es gab sechs Reden gegen den Wegfall der Schlechtwettergeldregelung. Ich denke, ich bin auf einem Ball paradox. Das waren nämlich alles Reden mit der Überschrift „Gegen den Wegfall der Schlechtwettergeldregelung" - mit Argumenten für den Wegfall der Schlechtwettergeldregelung.
({1})
Fangen wir bei Ihnen, Frau Buntenbach, an. Sie haben gegen „Arbeit aus der Tube" gesprochen. Sie haben gegen „Arbeit auf Abruf" gesprochen. Haben Sie gemerkt, daß Sie gegen das Schlechtwettergeld geredet haben? Doch genau die Schlechtwettergeldregelung ist ein System, das Arbeit nach Witterungsbedingungen auf Abruf, aus der Tube zuläßt. Sie verteidigen Saisonarbeit.
({2})
Denn: Was ist das Schlechtwettergeld? Die Schlechtwettergeldregelung ist eine Regelung für Saisonarbeiter.
({3})
- Hören Sie doch einmal zu! Die Bauarbeiter gehören zu denjenigen Arbeitnehmern, zu den wenigen Arbeitnehmergruppen, die kein gesichertes Jahreseinkommen haben. Der Bauarbeiter weiß zu Anfang des Jahres nicht, was er verdienen wird. Auch der Tarifvertrag sagt ihm das nicht.
({4})
- Hören Sie doch mal zu, auch wenn es Ihnen peinlich ist! Auf Sie komme ich auch noch zu sprechen. Jeder kommt dran.
({5})
Die Bauarbeiter - ich wiederhole mich - gehören wie im 19. Jahrhundert zu den wenigen Arbeitnehmergruppen, die trotz Tarifvertrag nicht wissen, was sie im Jahr verdienen. Sie haben kein gesichertes Einkommen. Denn sie wissen ja nicht, wieviel Schlechtwettertage das Jahr hat, es sei denn, sie hätten mit dem lieben Gott eine Telefonverbindung. Die haben aber auch die Bauarbeiter nicht. Also gehören die Bauarbeiter zu den klassischen Saisonarbeitern ohne gesichertes Jahreseinkommen. Das verteidigen Sie? Sie verteidigen eine Regelung „ungesichertes Jahreseinkommen". Sie verteidigen eine Regelung „Arbeit aus der Tube". Sie verteidigen eine Regelung „Arbeit auf Abruf". Haben Sie nicht gemerkt, meine Damen und Herren: Frau Jäger, Sie haben ein klassisches Plädoyer gegen die Schlechtwetterregelung und für gesichertes Jahreseinkommen gehalten.
({6})
Sie haben es nicht gemerkt. Die Bauarbeiter - so gesicherte Erkenntnisse - haben im Durchschnitt trotz Schlechtwettergeld im Winter je nach Witterungslage Einkommensausfall bis zu netto 25 %. Was
Sie verteidigt haben, ist eine Kurzarbeiterregelung. Wieso ist eine Kurzarbeiterregelung besser als ein gesichertes Jahreseinkommen?
({7})
Das ist nun wirklich der Höhepunkt: SPD und GRÜNE verteidigen einen Einkommensausfall bis zu 25 %.
({8})
- Das kann ich Ihnen hier in den Papieren der 1G Bau zeigen. Diese haben Sie vergessen, weil sie nicht in den Wahlkampf passen. Die 1G Bau weist nach, daß die Bauarbeiter trotz Schlechtwettergeld Einkommensausfälle haben, weil das Kurzarbeitergeld
- Schlechtwettergeld ist nämlich Kurzarbeitergeld - nicht den Ausfall - ({9})
- Sie sind so aufgeregt, weil ich Ihnen das endlich einmal erkläre und weil es Ihnen peinlich ist, daß Sie eine reaktionäre Regelung verteidigen, daß Sie eine Regelung verteidigen, bei der die Bauarbeiter weniger Geld haben, als wenn wir Winterbauförderung, geregeltes Jahreseinkommen und geregelte Jahresarbeitszeit hätten. Da würden sich die Bauarbeiter besserstellen.
({10})
- Ja, das kommt daher, daß ich es so schwer habe. Ich habe es so schwer.
({11})
- Sie werden immer nervös, wenn ich rede. Ich scheine ein Aufputschmittel für Sie zu sein.
Jetzt hören Sie einmal zu:
Die Bauarbeiter bevorzugen eindeutig kontinuierliche Bautätigkeit bei gesichertem Einkommen im Vergleich zur jetzigen Praxis periodischer witterungsbedingter Arbeits- und Einkommensausfälle.
Soll ich es Ihnen noch einmal vorlesen?
Die Bauarbeiter bevorzugen ... kontinuierliche Bautätigkeit bei gesichertem Einkommen im Vergleich zur jetzigen Praxis . . .
Das ist ein Zitat aus dem Vorstandspapier der IG Bau.
({12})
Das ist nicht mein Wort.
Sie haben die jetzige Praxis verteidigt. Sie haben eine Praxis verteidigt, die auch in den Papieren der IG Bau-Steine-Erden als eine schlechte Praxis dargestellt wird. So ist es, wenn man die Schalbretter vom Bau als Scheuklappen vor dem Gehirn hat. So ist es.
({13})
Dann merkt man nicht, daß man reaktionäre Bedingungen verteidigt. Machen wir weiter!
Frau Barnett, Sie haben gesagt: „Die Bedingungen sind die alten. Sie" - damit war ich gemeint - „haben sich verändert". Das haben Sie gesagt. Sie haben nicht gemerkt, Frau Barnett, daß Sie auf dem technologischen Stand der Dampfmaschine stehengeblieben sind.
({14})
So ist das, wenn man zuviel ideologischen Druck hat. Haben Sie nicht gemerkt, daß sich die technologischen Bedingungen auf dem Bau verändert haben? Vor 40 Jahren hat man auch in Schweden keinen Winterbau praktiziert, weil man ihn technologisch nicht im Griff hatte. Sie sind ideologisch auf einer Technologie von vor 40 Jahren stehengeblieben. Sie haben eine Zeitverspätung. Sie haben nicht gemerkt, daß sich die Bedingungen verändert haben, daß man heute mit Technologien bauen kann, die vor 40 Jahren noch gar nicht denkbar waren. Warum sollten nicht Regelungen diesen neuen technologischen Entwicklungen folgen?
Trotz einer auf absehbare Zeit hohen bauwirtschaftlichen Nachfrage leisten wir uns in Deutschland
- wollen Sie mitschreiben? im Gegensatz zu Nachbarländern mit weit schwierigeren Witterungsbedingungen ({15}) den Luxus, die vorhandenen Kapazitäten nur unzureichend auszulasten. Selbst in milden Wintern der letzten beiden Jahre sinken die Bauleistungen ab und steigen Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit im Baugewerbe deutlich an.
Zitat IG Bau-Steine-Erden. Und das trotz des von Ihnen favorisierten Schlechtwettergeldes.
Liebe Frau Barnett, Sie haben gesagt: Die Ausbildungszahlen und die Ausbildungsattraktivität gehen zurück. Dagegen sage ich: Sie sind trotz des Schlechtwettergeldes zurückgegangen; sie sind doch nicht jetzt zurückgegangen. Vielleicht sind sie wegen der Schlechtwettergeldregelungen zurückgegangen, weil es sich nämlich um einen Beruf handelt, bei dem man kein gesichertes Einkommen und keine gesicherte Tätigkeit über das ganze Jahr hat, und weil es in der Bauwirtschaft, von Ihnen verteidigt, eine solche reaktionäre Regelung gibt. Schämen Sie sich eigentlich nicht, solche reaktionären Regelungen zu verteidigen, die dazu führen, daß die Bauarbeiter kein geregeltes Jahreseinkommen haben, daß sie Saisonarbeiter sein müssen? Das verteidigen Sie. Das ist der Grund, daß in der Tat die Ausbildungsattraktivität abgenommen hat.
({16})
Ihr Ehrenberg, ein guter Arbeitsminister, auch wenn er Sozialdemokrat war, schreibt: In der Bauwirtschaft wird von Dezember bis März ein Drittel der potentiellen Baukapazität nicht genutzt; übers Jahr gerechnet liegen 10 % der Produktionsmöglichkeiten brach. - Wir leisten uns den Luxus, ein Drittel der Baukapazität in den Wintermonaten nicht zu nutzen.
Die Maschinen rosten. Das ist eine Verschleuderung von Kapazitäten.
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Das macht die Wettbewerbschancen der deutschen Bauwirtschaft kaputt.
Ich bin für eine Entsenderichtlinie. Aber selbst wenn wir die Entsenderichtlinie durchsetzen, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz garantieren soll, dann werden wir nicht verhindern, daß die portugiesischen, die schwedischen und finnischen Arbeiter - dann zwar zu dem gleichen Lohn - in den Monaten hier bauen, in denen die deutschen Bauarbeiter Schlechtwettergeld beziehen. Das wird keine Entsenderichtlinie verhindern. Richtig ist: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Aber wann sie arbeiten, ist nicht gesagt. Die Schweden und Finnen können im Dezember arbeiten. Sie bauen dann im Dezember, Januar, Februar, März die Bauten, in denen die deutschen Bauarbeiter sitzen und Schlechtwettergeld beziehen.
({18})
Ich fürchte, meine Damen und Herren, Sie werden dann nicht nur im Dezember, Januar, Februar und März bauen, sie werden dann auch im Sommer bauen. Denn sie können ihre Termine halten. Sie können kalkulieren. Ein deutscher Unternehmer kann das nicht. Er weiß ja gar nicht, wie viele Schlechtwettertage ihm den Bau verhageln.
Sie werden mit der Entsenderichtlinie, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit vorsieht, nicht verhindern, daß die Schweden und die Finnen, die keine Schlechtwettergeldregelung haben, dafür über Erfahrung im Winterbau verfügen, die Lücken nutzen, die Sie jetzt verteidigen. Sagen Sie mir einmal, was daran Fortschritt ist. Erklären Sie mir einmal, was Sie hier verteidigen. Sie verteidigen in der Tat einen ausgesprochen überholten Zustand. So kommt es, wenn man Politik immer aus Lehrbüchern macht und wenn man nicht kapiert hat, daß die Zeit weitergegangen ist und daß es heute eine andere Technologie gibt.
Die schöne Rede, die Sie, verehrte Frau Kollegin, hier gehalten haben, war wirklich ein glänzendes Plädoyer gegen die jetzige Schlechtwettergeldregelung.
Jetzt kommen wir, Herr Kollege Dreßen, auch noch zu der von den Tarifvertragsparteien abgegebenen Erklärung. Jetzt machen wir es ganz wörtlich, auch für den Kollegen Gilges, weil dauernd behauptet wird, der Blüm sagt die Unwahrheit und mogelt sich um etwas herum. Hören Sie zu. Ich wollte ja vorhin dem Kollegen Dreßen die Chance geben, den Text selber vorzulesen.
({19})
- Nein, ich lese ihn jetzt vor. Entweder ist es für Sie eine Überraschung, oder Sie haben vorhin in Kenntnis dieses Textes das Entgegengesetzte von dem gesagt, was dort steht.
Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes sind sich darin einig, daß unmittelbar nach Beendigung der Einkommenstarifverhandlungen 1994 mit der Umsetzung der Vereinbarung von 1992 zum ganzjährig gesicherten Einkommen begonnen wird. Auf Grund dieser Vereinbarung werden die Tarifvertragsparteien in Verhandlungen über ein ganzjährig gesichertes Einkommen und die Möglichkeiten einer Verstetigung desselben, so über bauspezifische Lösungen der Wochen- und Jahresarbeitszeit, eintreten. Die Vereinbarungen werden sich auch mit der Lösung des Problems befassen,
- Achtung, Frau Jäger, weil Sie gesagt haben, das ist mit Schlechtwettergeld die sich aus dem vorgesehenen Wegfall des Schlechtwettergelds ergeben.
Es hat sich nicht um eine Lösung unter Einbeziehung des Schlechtwettergeldes gehandelt, sondern um Lösungen, die sich aus dem Wegfall ergeben. Sie können es nachlesen. Wenn Sie es haben wollen, gebe ich es Ihnen.
Ich bin noch nicht fertig.
Die Regelungen sollen zum 1. Januar 1996 in Kraft treten. Also, Frau Jäger, können wir nicht versprochen haben, daß sie jetzt schon in Kraft sind. Selbst die Tarifpartner haben gesagt, sie werden erst ab 1996 gelten. Deshalb war es notwendig, eine Übergangszeit für die Verhandlungen vorzusehen.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Ohne unsere Regelung über den vorgesehenen Wegfall des Schlechtwettergeldes kämen diese Tarifverhandlungen gar nicht zustande.
Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Herr Kollege Dreßen, darf ich Ihnen zuvor eine Frage stellen?
Bitte.
Würden Sie unter dieser Bedingung der Vereinbarung zurücknehmen, daß ich die Unwahrheit gesagt habe? Würden Sie in Kenntnis des jetzt vorgelesenen Textes sagen, daß - Peter Dreßen ({0}): Ich weiß nicht, woher Sie Ihren Text haben und von wann der ist.
({1})
Ich will Ihnen jetzt auch eine Frage stellen. Papier ist immer geduldig.
Herr Bundesarbeitsminister, nachdem die ersten Tarifverhandlungen nun angelaufen sind, würden Sie zustimmen,
({2})
daß beide Parteien erklärt haben, daß sie sich eine
ganzjährige Einkommenssicherung nur dann vorstelPeter Dreßen
len können, wenn das Schlechtwettergeld weiterbezahlt wird? Arbeitgeber und Gewerkschaften haben das erklärt. Die Tarifverhandlungen würden dann auch zum Ende kommen. So wie sie jetzt sind, sind sie festgefahren, weil das Schlechtwettergeld da ist.
Haben Sie diese Tarifverhandlungen überhaupt begleitet? Haben Sie etwas davon gehört?
Ich begleite keine Tarifverhandlungen, sonst würde der Kollege Gilges schreien, ich würde eingreifen.
Würden Sie einmal den vor sich liegenden Text hochnehmen und den zweiten Absatz lesen. Da steht drin: nach Wegfall des Schlechtwettergeldes. Vielleicht können Sie es noch einmal vorlesen oder Ihren Kollegen weitergeben. Der Text ist ganz eindeutig.
({0})
- Sie sollen es doch nur lesen, ich spreche. Wir machen die Arbeitsteilung: Ich spreche, Sie lesen. Dann werden Sie mich bestätigen.
Ich behaupte, diese Debatte heute ist eine Sabotage am Tarifvertrag.
({1})
Wenn hier die Hoffnung erweckt wird, wir würden die Schlechtwettergeldregelung beibehalten, dann entsteht auf die Tarifpartner kein Druck. Nur unter Druck werden bessere Lösungen ermöglicht. Seit wann sind Tarifpartner so resignativ, daß sie nach zwei Verhandlungen schon sagen, sie wären gescheitert? Wer nach zwei Verhandlungen sagt, er wäre gescheitert, hat nicht ordentlich verhandelt.
Lieber Kollege Büttner, alter Experte von Tarifverträgen, ein Kärrner von Tarifvertragsverhandlungen: Wann ist denn nach zwei Tarifrunden gesagt worden, sie sind gescheitert? Das ist überhaupt kein Tarifvertrag. Geben Sie deshalb nicht so vorschnell Entwarnung.
Wir wollen bessere Regelungen. Wir wollen ganzjährige Beschäftigung und gesichertes Einkommen. Die Bauarbeiter müssen wissen, wieviel Geld sie im Jahr erhalten. Wenn eine ganzjährige Arbeitszeit vereinbart ist, dann werden Sie sehen, wie tüchtig und erfindungsreich auch Bauuntemehmer sind, die dann selbst an Tagen sagen, es geht weiter, wo sie heute in schöner Eintracht sagen: Ach, machen wir doch heute einmal Schlechtwettergeld.
({2})
Daß wir auf 30 % Kapazität verzichten, ist kein Geschenk. Es muß ja alles bezahlt werden. Das macht Bauen in Deutschland teurer. Wir spielen leider oder Gott sei Dank - ich sage: Gott sei Dank - nicht mehr Bundesliga, wir spielen Europaliga. Da sind 30 % Kapazitätsausfall in Deutschland, während die Schweden 100 % durchbauen, ein schwerer Wettbewerbsnachteil.
Weil ich das für die deutschen Bauarbeiter nicht will, bin ich für ganzjährige Beschäftigung und nicht
für eine Regelung, die vor 40 Jahren richtig war. Na, so alt sind Sie ja noch gar nicht, dann sage ich stehengeblieben vor 20 Jahren. Das langt auch schon. 20 Jahre hinter der Entwicklung zurück ist auch schon schlimm genug.
Die Bauarbeiter sollten sich entscheiden. Sie sollten wissen, wer auf ihrer Seite steht. Nicht jeder, der Herr, Herr sagt, kommt in den Himmel. Nicht jeder, der sagt, er würde es mit den Bauarbeitern gut meinen, meint es auch gut.
({3})
Ich darf mir bei dieser Gelegenheit eine Zwischenbemerkung erlauben. Es gehört zur Geschäftsgrundlage, daß ein Mitglied der Bundesregierung natürlich jederzeit so lange reden kann, wie er will. Wir haben uns aber darauf verständigt, daß die Zeiten ein wenig eingehalten werden.
Da das schon das zweite Mal ist, daß gegen diese Vereinbarung - ich nehme an, aus Temperamentsgründen - verstoßen worden ist, bitte ich darum, daß es künftig beachtet wird.
Zu einer Kurzintervention erteile ich Hans Büttner das Wort.
Herr Bundesarbeitsminister, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß die Vereinbarung, die Sie immer wieder zitieren, unter der Voraussetzung getroffen worden ist, daß das Schlechtwettergeld erhalten bleibt? Das war schon vor 1994.
Nach diesen Entscheidungen der Bundesregierung haben die Gewerkschaften und Tarifparteien trotzdem in ihrer Verantwortung den Versuch gemacht, eine Lösung zu finden. Sie haben aber immer wieder erklärt - auch noch in Schreiben im letzten Jahr, die jedem von Ihnen zugegangen sind -, daß dies nur mit einer Beteiligung des Staates, des Bundes, möglich sein wird.
Gestern haben Sie alle einen Brief der Gewerkschaft Bau - Steine - Erden auf den Tisch bekommen, in dem es deutlich heißt - das sollte uns nachdenklich stimmen -:
Der jetzige Stand und die Absicht der Tarifparteien auf Arbeitgeberseite bedeutet, daß die Arbeitnehmer alleine, mit enormen Lohneinbußen verbunden, die ganzjährige Beschäftigung finanzieren sollen.
Das heißt, die Zusage, die Sie den Bauarbeitnehmern geben wollen, lautet: Ihr habt zwar die Sicherheit eines Einkommens im ganzen Jahr, aber es wird wesentlich geringer sein als bisher.
Weil das so ist, hat uns die Gewerkschaft nachdrücklich aufgefordert - ich zitiere für jeden von uns, für jeden, der hier vorhin gesagt hat, die werden sich schon einigen, den letzten Satz -:
Wir bitten Sie daher: Unterstützen Sie alle Bestrebungen nach Wiedereinführung einer Schlechtwettergeldregelung ! Tragen Sie mit dazu bei, daß der drohende soziale Konflikt nicht zum Aus958
Hans Büttner ({0})
bruch kommt und der soziale Friede am Bau erhalten bleibt!
Die sagen das nicht von ungefähr, sondern deshalb, weil gerade die Tarifpartner am Bau über die Jahre hinweg eine sehr kooperative, sozialverträgliche, solidarische Tarifpolitik betrieben haben und sich immer darauf verlassen konnten, daß der Staat sie dabei begleitet. Jetzt kündigt er diesen Konsens, zu einem Zeitpunkt, wo Sie sich hier hinstellen und sagen, Konsens sei gefordert. Das halte ich für skandalös, und das können Sie mit noch so vielen Reden hier nicht wettmachen.
({1})
Herr Bundesminister, bitte.
Da ich den Text nicht nur gelesen habe, sondern an seinem Zustandekommen beteiligt war, will ich darauf hinweisen, daß das eine Vereinbarung war, die auf folgender Voraussetzung basierte:
Wir nehmen die vorgesehene Streichung im November und März zurück und lassen die Regelung mit Schlechtwettergeld im März bis 1995 noch laufen. Dafür verhandeln die Tarifpartner über eine Folgelösung.
Kollege Büttner, was da an staatlicher Flankierung vielleicht auch rechtlich möglich sein wird, kann ich nur entscheiden, wenn eine solche Tarifverhandlung zustande gekommen ist. Würden wir jetzt eine solche Flankierung anbieten, würden wir das, wozu sich die Tarifpartner verpflichtet haben, wieder zurücknehmen.
Ich glaube, daß die Tarifpartner das besser regeln können als der Staat. Wenn das der Staat übernimmt, muß er das nämlich nicht nur für die Bauarbeiter regeln. Ich frage Sie: Warum regelt er das nicht für die Rheinschiffer? Auch die haben schlechtes Wetter.
Wenn wir damit anfangen, kommen wir in ein Gedränge, das kein Ende mehr hat.
({0})
Deshalb bleibe ich dabei: So wie vereinbart - Wort gegeben, Wort gehalten.
({1})
Es gibt keine weiteren Wortmeldungen. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/18, 13/264 ({0}), 13/287 und 13/123 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/287 soll zusätzlich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie die Zusatzpunkte 6 bis 8 auf:
7. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur grundlegenden Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes
({1})
- Drucksache 13/216 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Novellierung des Renten-Überleitungsgesetzes
- Drucksache 13/20 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten der PDS
Stopp der Rückforderungen von Sozialzuschlägen
- Drucksache 13/274 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner und der weiteren Abgeordneten der PDS
Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern
- Drucksache 13/275 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({5}) Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer ({6}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rentenkürzungen in den neuen Bundesländern
- Drucksache 13/286 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({7})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn Minuten erhalten soll.
({8})
- Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler ({9}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der heutigen Debatte zum RentenÜberleitungsgesetz geht es nicht um irgendeine rententechnische Angelegenheit. Es geht auch nicht nur um ein Mehr oder Weniger an verfügbaren Einkommen für Rentnerinnen und Rentner in den neuen Ländern. Es geht im Kern um Grundfragen unseres Verfassungsverständnisses.
Das Renten-Überleitungsgesetz war im Ansatz eine unglückliche Konstruktion. Die rückwirkende Überstülpung des Westrechts auf die neuen Länder mußte zwangsläufig zu Enttäuschungen und Härten führen. Wir haben davor gewarnt und sind durch die Entwicklung bestätigt worden, obwohl wir dieses Gesetz zweimal in schwierigen Verhandlungen ganz wesentlich verbessert haben. Das alles ist jetzt schon Geschichte.
Die Grundsatzentscheidungen, die mit dein RentenÜberleitungsgesetz getroffen wurden, sind längst unumkehrbar geworden, aber als ungelöstes Problem und als dauerhaften Mißstand schleppen wir nach wie vor das diskriminierende Rentenstrafrecht mit uns herum. Das Rentenstrafrecht, meine Damen und Herren, vergiftet auf unerträgliche Weise das Klima und schafft Unfrieden.
({0})
Es gehört zu dem Nährboden, auf dem in den neuen Ländern Verdruß über die neue demokratische Ordnung wächst.
({1})
Alle Demokraten in diesem Parlament sollten nun ein Einsehen haben und endlich den Stein des Anstoßes im Konsens aus der Welt schaffen. Diesem Ziel dient der Antrag, den die Fraktion der SPD eingebracht hat. Unser wichtigstes Anliegen ist die Rückkehr zu einem Grundsatz, der vor der deutschen Einheit in der alten Bundesrepublik unumstritten gegolten hat und der auch in jedem anderen zivilisierten Land gilt: der Grundsatz der strikten Trennung von Strafrecht und Sozialrecht.
Meine Damen und Herren, jedem Mörder und jedem Dieb zahlen wir seine Rentenanwartschaften aus. Er wird vor Gericht gestellt und bestraft, wenn ihm eine Straftat nachgewiesen wird. Aber niemand kommt auf die Idee, daß wegen der Straftat die Leistungsversprechen des Sozialstaates nicht erfüllt zu werden brauchen. Der Grund ist ganz einfach: Sozialleistungen sind kein Gnadengeschenk für Wohlverhalten, sondern gesicherte Rechtsansprüche.
Auch ein Arbeiter, der seinen Chef bestiehlt, verliert weder das Anrecht auf den Lohn für geleistete Arbeit noch eine etwaige Anwartschaft auf eine Betriebsrente. Er wird bestraft, er wird fristlos entlassen, er muß den Schaden ersetzen, aber er behält den Lohnanspruch, denn für diesen Lohn hat er gearbeitet.
Die Trennung von Strafrecht und Sozialrecht ist keine Frage von Rentensystematik und keine von Versicherungsdogmatismus. Es ist keine abstrakte Prinzipienreiterei, sondern es geht um den Rechtsstaat. Jede Vermischung von Strafrecht und Sozialrecht ist nach unserem Verständnis mit dem Rechtsstaat unvereinbar.
Wer Strafrecht und Sozialrecht vermischt, der durchbricht das Prinzip der Gewaltenteilung. Das Richten und Strafen ist ausschließlich Sache der dritten Gewalt. Der Gesetzgeber und die Regierung haben sich davon absolut fernzuhalten.
({2})
Wer Strafrecht und Sozialrecht vermischt, der verstößt gegen das zentrale rechtsstaatliche Prinzip, daß der Angeklagte bis zum Beweis der Schuld als unschuldig zu gelten hat.
In der Rentenversicherung ist keine Einzelfallprüfung möglich. Wer im Rahmen eines zum Strafrecht verfälschten Sozialrechts als Verdächtigter behandelt wird, kann deshalb nicht in den Genuß der individuellen Unschuldsvermutung kommen, die im Strafprozeß selbstverständlich ist. Er hat nicht die Möglichkeit der Verteidigung wie der Angeklagte in einem Strafverfahren. Es gibt keine Kontrolle durch die Öffentlichkeit wie beim Strafprozeß. Die Verwaltungsbeamten und Angestellten der Sozialversicherung genießen auch keine richterliche Unabhängigkeit, wie wir wissen, sondern sie sind an Weisungen gebunden.
Gewaltenteilung, meine Damen und Herren, ist ein klassisches rechtsstaatliches Verfassungsprinzip und ein Strukturelement der geltenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Entsprechend der repräsentativ-mittelbaren Demokratie, wie sie das Grundgesetz verfaßt hat, wird die vom Volke ausgehende Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt. Sinn der „Besonderung" zentraler hoheitlicher Machtbereiche ist es, daß sich Legislative, Exekutive und Judikative, denen je eigene Staatsfunktionen von der Verfassung zugewiesen sind, wechselseitig kontrollieren und in Schranken halten. Dieses System der Gewaltenteilung dient letztlich der Sicherung individueller Freiheit und soll verhindern, daß die furchtbare Wucht der Staatsgewalt, an einer Stelle vereinigt - so wie es Staatsrechtler ausdrücken -, den Bürger trifft. Nach allem bezweckt die vom Grundgesetz bestimmte Gewaltenteilung eine innerstaatliche Machtbalance und Machtmäßigung zum Schutz der Würde des freien Menschen.
Die Fraktion der SPD verlangt nicht mehr und nicht weniger, als daß diejenigen, die in Ostdeutschland Ansprüche auf Leistungen aus einem Sonder- und Zusatzversorgungssystem der ehemaligen DDR erworben haben, nicht schlechter behandelt werden als jeder Mörder oder Dieb in Westdeutschland.
({3})
Wir respektieren die Gefühle derjenigen Menschen, die unter dem DDR-Regime gelitten haben. Wir wissen, daß sie unsere rechtsstaatliche Position häufig schwer verstehen können und daß ihnen das Rentenstrafrecht gleichsam als normal und als Ausdruck von selbstverständlicher Gerechtigkeit vorkommt. Aber diese Gefühle, meine Damen und Herren, so verständ960
lieh sie sein mögen, dürfen für den Rechtsstaat nicht ausschlaggebend sein; denn wir fordern die Abschaffung des Rentenstrafrechts nicht aus Sympathie mit denjenigen, die im früheren DDR-System in irgendeiner Weise Mitläufer oder Mitverantwortliche gewesen sein mögen, sondern wir erheben diese Forderung um des Rechtsstaates willen und weil wir nicht haben wollen, daß in der Sozialversicherung unseres demokratischen Staates Prinzipien praktiziert werden, die bislang ausschließlich von den Nazis und den Kommunisten praktiziert worden sind.
({4})
Das häufigste Argument der Anhänger des Rentenstrafrechts besteht darin, zu sagen, es gehe gar nicht um Strafe, sondern nur um die Beseitigung von Privilegien. Dieses Argument, meine Damen und Herren, läßt sich mit der heutigen Gesetzeslage keinesfalls rechtfertigen. Wer z. B. im Staatsdienst der DDR beschäftigt war und 140 % des Durchschnittslohnes verdient hat, wird vom Renten-Überleitungsgesetz sozusagen als Normalbürger ohne Privilegien eingestuft und bekommt seine 140 % auch ungeschmälert in der dynamischen Rente angerechnet.
Wer 170 % des DDR-Durchschnitts verdient hat, der bekommt nur 120 % angerechnet. Er wird also schlechter gestellt als derjenige, der nur 140 % verdient hat. Sein Privileg könnte aber höchstens darin bestehen, 170 % statt 140 % des Durchschnitts verdient zu haben. Als Wegnahme des Privilegs könnte man es demnach allenfalls rechtfertigen, wenn der Privilegierte genauso gestellt wird wie jeder Bürger ohne Privilegien, d. h. wenn von 170 % auf 140 % gekürzt würde. Wenn aber der sogenannte Privilegierte nicht gleich -, sondern schlechter gestellt wird als der Unprivilegierte, dann ist das nichts anderes als Strafe.
({5})
Grundsätzlich aber geht die Rede von der Wegnahme von Privilegien am Thema vorbei. Auf die Beseitigung von ungerechtfertigten Privilegien konnte sich im Sommer 1990 die demokratisch gewählte Volkskammer der DDR berufen, als sie in die Rentenregelungen des früheren DDR-Staates eingriff. Das haben wir nicht zu beanstanden, schon deshalb nicht, weil der Einigungsvertrag die Klausel enthält, daß „ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen" sind. Die Volkskammerbeschlüsse von 1990 sollen auch gar nicht angetastet werden.
Aber heute, im Deutschen Bundestag, steht etwas ganz anderes zur Debatte als damals in der DDR-Volkskammer. Es handelt sich nicht mehr um das Rentenrecht der DDR, meine Damen und Herren, und um die Rentenprivilegien, die der SED-Staat einem Teil seiner Bürger eingeräumt hat. Heute geht es um die Frage, auf welche Weise das bundesdeutsche Rentenrecht auf die Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR angewendet werden soll.
Der Grundsatz des Renten-Überleitungsgesetzes besagt, daß aus den Arbeitsverdiensten der ehemaligen DDR dynamische Rentenanwartschaften erwachsen, und zwar so, als seien damals Beiträge nach
bundesdeutschem Rentenrecht gezahlt worden. Bei der Anwendung dieses Grundsatzes müssen elementare rechtsstaatliche Prinzipien beachtet werden.
Das bedeutet: Gleiche Arbeitseinkommen in der ehemaligen DDR müssen auch zu gleichen dynamischen Rentenanwartschaften nach neuem Recht führen, und zwar ohne politische Bewertungen und ohne Rücksicht auf mögliche strafrechtsrelevante Aspekte.
({6})
Dieses, meine Damen und Herren, ist der Kern der Debatte um das Rentenstrafrecht.
Von dem Grundsatz, daß gleiches Arbeitseinkommen auch zu gleicher Rente führen muß, ist in Westdeutschland mit Recht niemals abgewichen worden. Wenn wir jetzt in Ostdeutschland davon abweichen, dann ist das Willkür und letztlich nichts anderes als Mißbrauch des Rentenrechts zur politischen Bestrafung und zur Abrechnung mit einem besiegten politischen Gegner.
Im Deutschen Bundestag gibt es eine klare Mehrheit für die Abschaffung des politischen Rentenstrafrechts, eine klare Mehrheit.
({7})
Im Bundesrat gibt es diese Mehrheit ohnehin. Einmal völlig von der PDS abgesehen: Die SPD-Fraktion ist dafür, die Fraktion vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist dafür, und die F.D.P.-Fraktion ist dafür, wenn sie ihr eigenes Wahlprogramm ernst nimmt.
({8})
Die meisten CDU-Kollegen und -Kolleginnen aus den neuen Ländern haben längst eingesehen, daß es ein schwerer Fehler gewesen ist, das Rentenrecht mit Strafrecht und politischer Diskriminierung zu belasten. Im Bundestagswahlkampf haben diese CDU-Kolleginnen und -Kollegen vor Ort ihren Wählern versprochen, sich in Bonn für die längst fällige Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes einzusetzen. Jetzt müssen die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU und der F.D.P. nur noch die erforderliche Charakterstärke hier im Deutschen Bundestag beweisen - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({9})
Deshalb appelliere ich an Sie und auch an den Bundesarbeitsminister, im Konsens mit uns eine Lösung zu finden, die mehr als eine weitere Notreparatur mit ungenügenden Mitteln ist.
Herr Kollege Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pfeiffer?
Bitte schön.
Herr Dreßler, da Sie gerade lauthals von Charakterstärke sprechen: Sind Sie sich bewußt, daß Sie 1991 noch gesagt haben, daß
Herr Blüm und das Ministerium versagt hätten, die Luxusrenten abzubauen? Sie haben weiter gesagt, daß nicht einmal in Ansätzen erkennbar sei, daß dem Problem der Sonderversorgung der SED-Größen begegnet werde, weil diese nach wie vor viel zu hohe Renten hätten. Auch bei dem Sonderversorgungssystem für die NVA, die Vopo und den Zoll habe sich Blüm bisher nicht zu harten Schritten durchringen können. Das war 1991. Jetzt werfen Sie uns Charakterlosigkeit vor. Wie erklären Sie sich Ihre plötzliche Charakterumwandlung?
({0})
Frau Kollegin, wenn Sie damals dabeigewesen wären, dann wüßten Sie um folgende zwei Sachverhalte - ich darf Ihnen das ganz leidenschaftslos erklären -: Erstens ist das, was Sie zitieren, völlig richtig. Das hat in der „Berliner Morgenpost" in einem Zweispalter mit einem Bild von mir und der besagten Überschrift gestanden. Ich weiß also genau, worüber Sie reden. Das ist zu einem Zeitpunkt erschienen, zu dem der Bundesarbeitsminister, bezogen auf das Monate später stattfindende Übereinkommen mit uns, ein Renten-Überleitungsgesetz zu schaffen, in dieser Frage nichts, aber auch gar nichts in dieser Richtung gemacht hatte.
({0})
- Ich sage Ihnen: nichts gemacht hatte, überhaupt nichts, gar nichts. Das weiß ich nun etwas besser als Sie; davon verstehe ich ein bißchen mehr.
({1})
- Nun regen Sie sich ab und hören Sie erst einmal zu; dann können Sie weitertoben.
Ich füge zweitens hinzu: Wenn Sie die Konstruktion dieses Gesetzes begreifen, dann wissen Sie, daß der Betrag von 2 700 DM mit dem hier in Rede stehenden Punkt überhaupt nichts zu tun hat. Dieser Punkt hat etwas mit den 2 010 DM und den 802 DM zu tun. Das ist der rentenpolitische Straftatbestand, um dessen Aufhebung wir hier ringen. Das andere ist eine politisch gegriffene Größe. Die kann man lassen, die kann man erhöhen, die kann man vermindern, doch die hat mit Rentenstrafrecht überhaupt nichts zu tun, gnädige Frau, überhaupt nichts zu tun. Wenn Sie das einmal begriffen haben, dann kommen Sie auch dahinter, daß Ihre heutigen Äußerungen in der „Leipziger Volkszeitung" schlicht und ergreifend dummes Zeug sind.
({2})
Ich sage also: Lassen Sie uns eine Lösung finden, die mehr ist als eine weitere Notreparatur mit ungenügenden Mitteln! Lassen Sie uns vor allen Dingen endlich mit dem politischen Mißbrauch des Rentenrechts Schluß machen, der unser Land vergiftet und mit unserer freiheitlichen Rechtstradition unvereinbar ist.
Ich will Ihnen zum Schluß noch aus einem von Hunderten von Briefen vorlesen, die ich bekommen habe, die die Situation schlagartig beleuchten und die jeden von uns zum Nachdenken bringen müssen. Mir schreibt ein Betroffener u. a. folgendes: Er habe bis
Ende 1988 26 Jahre Tätigkeit in der Berufsfeuerwehr Leipzig und zwölf Jahre Einsatz bei der Volkspolizei hinter sich gebracht.
Nun ist er Rentner und schreibt folgendes: Ich schlage im Jahre 1994 die Zeitung auf und lese ein Interview mit dem jetzigen Leiter der Verkehrspolizei. Er war vor der Wende mein direkter Vorgesetzter. Beim Betreten meiner letzten Dienststelle lese ich eine große Haustafel mit Namen und Zimmernummer verantwortlicher Mitarbeiter: fast alles ehemalige Kollegen. Heute steht dort „Leiter der Verwaltung", „Herr Oberregierungsrat", „Personalleiter", „Herr Regierungsrat" . Er sagt, die beiden letztgenannten Beispiele betreffen für mich nur gewesene indirekte Vorgesetzte. Er fragt mich: Was hat sie ausgezeichnet? Er sagt selbst: das Glück der späteren Geburt? Dann schreibt er: Da entstehen für mich kaum Gefühle von Neid, sondern vielmehr Zorn über die bestehenden Ungerechtigkeiten in der Bewertung „regimenützlicher Tätigkeit" .
Ich muß Ihnen sagen: So etwas auf deutschem Boden ist mit dem Geist unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung nicht vereinbar.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Engelmann.
({0})
Engelmann ist mein Name.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rentenangleichung nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und die Einführung des RentenÜberleitungsgesetzes ist einer der herausragendsten Erfolge auf dem Wege zur deutschen Einheit.
({0})
Enorme Leistungen seitens der Bundesrepublik gegenüber den neuen Ländern haben es ermöglicht, daß den dort lebenden Senioren erstmals ein wohlverdienter Lohn für ihre Lebensarbeitszeit gezahlt wird.
150 000 Witwen erhielten erstmals Witwenrente. 780 000 Witwenrenten wurden durchschnittlich um 270 DM erhöht. 200 000 Männer erhielten erstmals mit 60 Jahren statt wie bisher mit 65 Jahren Rente. 150 000 Personen erhielten Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente, auf die sie nach DDR-Recht keinen Anspruch hatten. Derzeit erhalten rund 210 000 Kriegsopfer Leistungen nach dem sozialen Entschädigungsrecht. Die sogenannte Eckrente beträgt nunmehr 1 484 DM. Demgegenüber lag die Rente zum 30. Juni 1990 zwischen 470 und 602 Mark in DDR- Geld. Viele Rentner, meist Frauen, erhielten die Mindestrente von 330 Mark.
Wir können mit Fug und Recht behaupten: Unseren Rentnern geht es gut. Sie sind die ersten Gewinner der deutschen Einheit. Das ist gewollt und gut so.
({1})
Nun soll in wesentlichen Teilen das Gesetz rückgängig gemacht werden. Die SPD, die im Konsens mit beschlossen hat, möchte die vom Gesetzgeber gewollten Begrenzungen bei Personen, die überhöhte und privilegierte Bezüge durch ihre Staatsnähe erzielt haben, aushebeln. Welch seltsame Wandlung! Will man sich jemandem nähern?
({2})
Man muß es noch einmal sagen: Im Februar 1991 warf der sozialpolitische Sprecher der SPD, der jetzt eben hier gestanden hat, dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Versagen beim Abbau der Luxusrenten vor. Nun - ich sage es noch einmal, weil es wunderbar hereinpaßt - haben wir diese Begrenzung, und nun ist es, laut Opposition, wieder falsch.
Die jetzige Forderung der SPD nach Beseitigung der Entgeltpunktbegrenzungen für alle Zusatz- und Sonderversorgten der ehemaligen DDR führt zu Höchstrenten bei Spitzenfunktionären, nahezu zu einer Verdoppelung z. B. für Frau Honecker und
({3})
Herrn Keßler und zur Verdreifachung für Herrn Mielke. Dies ist auch mit den Vorstellungen der neuen Länder nicht vereinbar, die beim Sechs-LänderAntrag im Bundesrat am 14. Oktober 1994 deutlich gemacht haben, daß auch sie Höchstrenten für diesen Personenkreis nicht mittragen werden.
Meine Damen und Herren, wie wollen wir den Opfern der SED-Diktatur vermitteln, daß ihre Unterdrücker, die Stacheldrahtzieher, Schießbefehlsgeber und Zuchthausleiter mehr Rente als sie selbst bekommen? Soll das als Lohn gedacht sein? Für welche Arbeit oder Zuarbeit?
Es ist bekannt, daß die von der SPD angestrebte Novellierung von 76 % der Bevölkerung in Ost- wie in Westdeutschland nicht mitgetragen wird, da diese Höchstrenten für Spitzenfunktionäre ebenfalls ablehnen. Selbst in den eigenen Reihen der SPD gibt es Andersdenkende. Wie sollte man sonst die gestrige Äußerung des SPD-Abgeordneten Rolf Schwanitz verstehen, der, da es bei den Tätern des DDR-Unrechts in den vergangenen Jahren „kein Klima der Öffnung und Reue gegeben habe", eine Amnestie ablehnt? So seine Worte. Oder wollen die Hardliner der West-SPD das „neue Selbstbewußtsein der Nomenklaturkader" - auch ein Zitat von Herrn Schwanitz - mit Höchstrenten und Amnestie belohnen, um sich von der Partei Willy Brandts zu verabschieden zugunsten einer vermeintlichen Mehrheit mit den Altkadern der SED/PDS?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte jetzt keine Fragen beantworten, Herr Schwanitz. Das machen wir nachher.
({0})
Nun einige Zahlen: Von den Renten von 330 000 Rentnern, die nach dem AAÜG überführt wurden, sind nur knapp 60 000 von Begrenzungen erfaßt. - Hören Sie bitte zu. Hören Sie mit den Dialogen untereinander auf. - Das sind lediglich 1,5 % aller Renten in den neuen Ländern; 1,5 %, meine Damen und Herren!
Ein Großteil des Unmuts, der bei den Betroffenen hervorgerufen wurde, wird sich von selbst erledigen, wenn diese ihre neu berechneten Renten erhalten. So wird es in rund 80 % der Fälle 400 DM mehr im Monat und zum Teil beträchtliche Nachzahlungen geben.
Meine Damen und Herren, zu dieser positiven Gesamteinschätzung steht nicht im Widerspruch, daß Nachholbedarf in einigen Bestimmungen vorhanden ist und Verbesserungen ernsthaft diskutiert werden müssen.
So haben bereits die CDU-Abgeordneten der neuen Länder im März 1994 in ihrer Erklärung zum Änderungsbedarf beim bestehenden Rentenrecht festgelegt, daß in der neuen Legislaturperiode Initiativen eingeleitet werden, um die soziale Ausgewogenheit im bestehenden Rentenrecht zu festigen. Bezugnehmend auf diese Erklärung wird auch in der Koalitionsvereinbarung davon ausgegangen, daß Vorschläge zur Neuordnung der Begrenzungsregelungen geprüft werden sollen. Die CDU-Abgeordneten der neuen Länder haben eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich intensiv mit den noch zu klärenden Rentenfragen beschäftigt und Vorschläge erarbeitet.
({1})
Damit wird sich wohl das Hohe Haus noch zu befassen haben. Deshalb lehnen wir heute die vorliegenden unausgewogenen, politisch unvertretbaren Vorschläge der PDS und der SPD-Genossen ab.
({2})
Herr Dreßler, wir gedenken der Vergangenheit, aber wir schauen auch zuversichtlich nach vorne.
Danke schön.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Rudolf Dreßler.
Meine Damen und Herren, es hat alles seine Grenzen in einer Debatte um Rechtsstaatlichkeit und um die Auslegung unserer Verfassung. Ich muß wirklich sagen: Was soll dieser niederträchtige Versuch von einem Menschen, der seit 1962 der SED/CDU-Ost angehört hat, der deutschen Sozialdemokratie zu unterstellen, wir würden die Rente von Frau Honecker verdreifachen wollen?
({0})
Es ist eine unglaubliche Bemerkung, die Sie sich hier
leisten. An dieser Stelle sage ich Ihnen: Wir haben
nicht vergessen, daß Sie, die CDU/CSU und der Bundesarbeitsminister 1993 noch versucht haben, diejenigen in der DDR-Volkskammer, die damals unter das Blockflötensyndrom fielen, im nachhinein vom Straftatbestand dieses Rentenrechts zu entlasten. Dafür wollte man die deutsche Sozialdemokratie gewinnen. Das haben wir in den Rentenkonsensverhandlungen verhindert.
Wenn Sie heute hierherkommen und uns eine solche Unverschämtheit unterstellen, dann muß ich Ihnen sagen: Sie sollten sich schämen und dahin zurückgehen, woher Sie gekommen sind!
({1})
Herr Kollege Dreßler, wir können hier mit scharfen Worten streiten. Es gab keine Partei, die SED/CDU hieß. Die Aufforderung an Kollegen, dorthin zurückzugehen, woher sie gekommen sind, nämlich in die Unfreiheit, halte ich für absolut unzulässig.
Herr Kollege Dreßler, bei aller Schärfe und allem Engagement, ich fände es gut, wenn Sie diese Intervention noch einmal überdächten. Wenn wir anfangen, uns darüber auseinanderzusetzen, woher Mitglieder einzelner Fraktionen kommen, welcher Partei sie einmal angehört haben, dann geraten wir in sehr schwere Fahrwasser.
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Das kann nicht der Ton dieses Hauses sein.
Herr Kollege Engelmann, wünschen Sie, auf diese Kurzintervention zu antworten?
Ich glaube, es ist sinnlos, auf diese Intervention zu antworten. Er hat sich selbst blamiert.
({0})
Ich erteile der Kollegin Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern erst hat der bayerische Ministerpräsident Stoiber beklagt, die Ostdeutschen wüßten nicht zu würdigen, was die Westdeutschen für sie tun. Es fehle ihnen an Dankbarkeit.
({0})
- Habe ich eine Chance, Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen? ({1})
Ministerpräsident Stoiber steht mit seiner Meinung im Westen bestimmt nicht allein. Immer wieder wird denen, die über ungerechte Behandlung im Rentenrecht klagen, ein mangelndes Bewußtsein für die große Leistung der Rentenüberleitung vorgeworfen.
Das entspricht nicht meinen Erfahrungen. Im Gegenteil, ich habe viele Menschen getroffen, die
sehr wohl spüren, daß ihnen die Rentenüberleitung eine auskömmliche Rente sichert.
({2})
Aber auch diejenigen, die selber keinen Grund zur Klage haben, sind über die Behandlung einer vergleichsweise kleinen Gruppe, der sogenannten Staatsnahen, deren Renten gekürzt oder begrenzt wurden, empört. Ich meine, diese Empörung ist berechtigt.
Wie paßt die Sonderbehandlung einer politisch definierten Gruppe von Rentnerinnen und Rentnern in ein Rentenrecht, das auf Beiträgen beruht und rechtsstaatliche Grundlagen hat?
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Wieso wird die Biographie bei der Rentenberechnung im Osten berücksichtigt, wo doch im Westen jeder ohne Ansehen der Person die Rente entsprechend seinen Beitragsleistungen bekommt?
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Wie soll Zutrauen in ein Rechtssystem entstehen, wenn die Unterscheidung zwischen Straf- und Sozialrecht nicht mehr klar getroffen wird?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, wie sehr uns, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Auseinandersetzung mit der schwierigen Vergangenheit der DDR am Herzen liegt. Aber gerade weil wir die politischen Lehren aus der Vergangenheit eines Unrechtsstaates ziehen wollen, gerade weil wir die Auseinandersetzung über Schuld und Verantwortung suchen, lehnen wir die pauschale Kürzung der Renten bei den vermeintlich über ihre Angehörigkeit zu spezifischen Sonder- und Zusatzversorgungssystemen bestimmten Tätern ab.
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Diese Position hat die Bundestagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon in der letzten Wahlperiode verfochten.
Wir schätzen die Errungenschaften des Rechtsstaates zu sehr, als daß wir ihn dadurch diskreditieren wollten, daß er seine Mittel nicht am richtigen Ort, bei den richtigen Personen und beim angemessenen Sachverhalt einsetzt. Gerade weil wir zur Zeit eine so lebhafte Debatte in der Gesellschaft über den richtigen Umgang mit Schuld und Bestrafung führen, müssen wir sehr sorgfältig prüfen, ob die Mittel angemessen sind, die wir verwenden.
Unser Vorschlag soll den Weg für diese Auseinandersetzung ebnen, indem die offenkundigen Ungerechtigkeiten bei der Rentenüberleitung zurückgenommen werden. Wir schlagen daher vor, daß alle Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen bei der Rentenberechnung bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt werden. Dies schließt auch eine Rücknahme der Zahlbetragsbegrenzungen ein. Durch die Beitragsbemessungsgrenze - ich bitte
die Kollegin Pfeiffer, mir zuzuhören, weil sie in diesem Punkt anderer Ansicht ist - wird automatisch verhindert, daß extrem hohe Einkommen bei hohen Funktionären zu übermäßig hohen Renten führen können.
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Gleichwohl erscheint uns für die Angehörigen des früheren MfS angemessen, deren außerordentlich überdurchschnittlich hohe Einkommen durch eine Vergleichsberechnung auf das in der DDR für entsprechende Tätigkeiten übliche Gehalt zu reduzieren.
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Dieses mit dem Rentenrecht konforme Verfahren führt nicht zu einer Bestrafung der Mitarbeiter des MfS, es stellt sie nur den übrigen Erwerbstätigen der DDR gleich.
({8})
Dieser Vorschlag, den wir hier unterbreiten, wird nicht alle Schwächen des Renten-Überleitungsgesetzes heilen, aber er wird seinen ärgsten Fehler beseitigen.
Ein solches Vorgehen ist für uns gerade aus der Perspektive der Opfer politischer Verfolgung unerläßlich. Aus dieser Perspektive nämlich sieht es so aus, als hätte sich das vereinigte Deutschland auf billige Weise der Auseinandersetzung zu entziehen gesucht. Die vermeintlichen Täter werden kostensparend durch Rentenkürzungen bestraft, die Opfer speist man mit einem skandalös unzulänglichen SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ab. Wir Bündnisgrünen werden uns nicht damit abfinden. Wir werden bald einen Vorschlag zur Verbesserung der Situation der Opfer vorlegen.
Zum Schluß möchte ich noch einmal auf die Dankbarkeit. zurückkommen. Dankbar ist man in der Regel für ein Geschenk. Ist der deutsche Einigungsprozeß also ein Geschenk des Westens an den Osten? Heißt das, er ist nicht unsere gemeinsame Sache? Waren es nicht die Ostdeutschen, die sich selber befreit haben? Ich meine, daß allein diese Fragen zeigen, daß Dankbarkeit keine taugliche politische Kategorie ist, Gerechtigkeit allerdings sehr wohl.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 13. Deutsche Bundestag hat seine ersten 100 Tage hinter sich. Wie steht es mit der Einlösung der Wahlversprechen in Sachen Rentenüberleitung?
({0})
Erinnern wir uns: Kandidatinnen und Kandidaten aller Parteien versprachen auf Wahlveranstaltungen in den neuen Bundesländern sofortige Veränderungen.
Die Aufforderung der SPD vom 10. November 1994 an die Bundesregierung, baldmöglichst einen Gesetzentwurf vorzulegen, blieb bisher ohne Reaktion. Wenn die Problematik bis zum Sommer, einem rentenrechtlich günstigen Zeitpunkt, geregelt werden soll, muß der gesetzgeberische Prozeß in diesem Hause schnellstens beginnen. Deshalb stellen wir heute unsere Lösungsvariante zur Diskussion.
Unser Rentenüberleitungs-Korrekturgesetzentwurf knüpft an die Positionen der PDS im 12. Bundestag an, die davon ausgehen, daß Biographien, die unter anderen rechtlichen Bedingung en zustande gekommen und nicht mehr korrigierbar sind, anerkannt werden müssen.
Der erste Komplex umfaßt die Abschaffung des Strafrechts. Wir schlagen vor, für alle, die in der DDR in Zusatz- oder Sonderversorgungssysteme eingeordnet waren, bei der Rentenberechnung nach Sozialgesetzbuch VI Einkommen his zur allgemeinen Bemessungsgrenze anzuerkennen, also die willkürlichen Entgeltpunktbegrenzungen von 0,7, 1,0 und 1,4 entfallen zu lassen.
({1})
Damit bietet unser Gesetzentwurf eine Ausgestaltungsvariante sowohl des SPD-Antrages als auch der Bundesratsentschließung. Wir bleiben dabei: Innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung darf es keine Beschneidungen, welcher Art auch immer, geben. Wir akzeptieren, daß es in der DDR bei gleichen Berufsgruppen in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Einkommen gab. Diese Einkommen lassen sich aber von Überhöhungen bereinigen, bevor sie in die Rentenberechnung gehen. Verbände und Vereine in den neuen Bundesländern mühen sich hier seit langem um eine Klärung der Zusammenhänge, und ich denke, gerade sie sollten als Sachverständige von uns in diese Diskussion einbezogen werden.
Den Vertrauensschutz sehen wir nur dann ausreichend geregelt, wenn die Rente nach DDR-Recht ohne Kappungen gezahlt wird - nicht nur für Bestandsrentnerinnen und -rentner, sondern auch für die rentennahen Jahrgänge, und zwar so lange, wie sich ein günstigerer Zahlbetrag ergibt.
Hören Sie bitte auf, zu lamentieren, daß das massenhaft zu Luxusrenten für Staatsfunktionäre führen würde! Nennen Sie doch bitte einmal konkret die Zahlen, Kollegin Pfeiffer! Zum Zeitpunkt der Vereinigung gab es für ganze 58 Personen eine Altersversorgung von über 3 000 DM.
Einen Moment, Frau Kollegin Bläss! - Es wäre gut, wenn wenigstens die Angesprochenen in dem Moment, in dem sie angesprochen werden, zuhörten. Ich weiß, daß die drehbare Bestuhlung dazu verleitet, mit dem Hintermann zu reden. Aber wenn man den Rücken nach vorn kehrt, ist das nicht so schön.
Bitte, fahren Sie fort.
({0})
Danke. - Mit Ihren Beschneidungen treffen Sie vor allem Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, deren Ruf auch heute - leider meist nur international - noch etwas zählt.
Letztlich sehen wir aber die Überführung der DDR- Anwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung nicht als Endpunkt der Herstellung von Rentengerechtigkeit an. Wir erwarten, daß durch Bund und Länder Regelungen getroffen werden, mit denen Ansprüche aus zusätzlichen Versorgungen für einzelne Berufsgruppen angemessen in Zusatzrenten überführt und auf die gesetzliche Rente aufgestockt werden.
Durch die Verlagerung der Zuschüsse zur Rentenversicherung nur auf den Bund erhalten die Länder für derartige Regelungen erhebliche Gestaltungsspielräume. Deshalb hoffen wir, daß sich die Regierungen in den neuen Bundesländern für unseren Lösungsansatz erwärmen können; denn sie befinden sich doch gegenwärtig in der Situation, leicht erpreßt werden zu können, wenn der Bund droht, hei einer Verbesserung die Kosten zu zwei Dritteln auf die Länder abzuwälzen.
Nach unserer Auffassung sind die Kosten für die Korrektur der Rentenüberleitung kein Mehraufwand, sondern es ist Geld, das den Anspruchsberechtigten bisher vorenthalten wurde, das bereitgestellt werden muß - und zwar vom Bund - angesichts des Beschlusses, alle in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen.
Im zweiten Komplex wendet sich unser Gesetzentwurf den zahlreichen Überführungslücken und Ungerechtigkeiten zu. Hinweise von Gewerkschaften und Verbänden ließen die Liste der abzuschaffenden Unzulänglichkeiten gegenüber unserem Gesetzentwurf der 12. Legislaturperiode länger werden. Da es bisher seitens des Parlaments kaum Reaktionen auf diese Sachverhalte gab, möchte ich Sie mit einigen Fakten etwas für diese Sachlage sensibilisieren.
Herr Engelmann, wenn Sie mir in den nächsten Minuten folgen, können Sie sich vielleicht doch noch einmal überlegen, ob es richtig ist, was Sie vorhin an diesem Pult verkündet haben, als Sie von den überhöhten und privilegierten Bezügen sprachen und die Betroffenen mit Unterdrückern und Stacheldrahtziehern gleichsetzten.
Was hält Sie beispielsweise davon ab, freiwillig gezahlte Beiträge von 3 bis 12 Mark anzuerkennen? Diese Frauen haben geklebt in dem Vertrauen darauf, ihren Rentenanspruch zu erhalten und aufzubessern. Wenn Sie meinen, es brächte heute kaum etwas an Rentenbeträgen, dann gibt es doch erst recht keinen Grund, es einfach zu streichen.
Einigen Frauen würde die Anerkennung dazu verhelfen, einen sicheren Anspruch auf Rente nach Mindestentgeltpunkten zu erzielen, wofür nach SGB VI mindestens 35 .Jahre rentenrechtliche Zeiten zu Buche stehen müssen.
({0})
Oder nehmen wir die Bäuerin, die vor LPG-Gründung als mithelfende Ehefrau mit ihrem Mann mitversichert war. Wenn es eine solche Regelung nach bundesdeutschem Recht nicht gibt, kann doch nicht einfach getan werden, als ob es diese Arbeitsleistung
nie gegeben hätte. Vielen Frauen fehlen dadurch trotz Berufstätigkeit bis zu 15 Jahre.
Oder nehmen wir die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner. Sie hatten nach DDR-Recht wie andere Berufsgruppen auch einen besonderen Steigerungssatz von 1,5 für die Rentenberechnung. Wir sehen ja ein, daß das schwerlich innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung angemessene Beachtung finden kann. Das bleibt noch zu schaffenden zusätzlichen Versorgungen der Rechtsnachfolger vorbehalten. Aber der Vertrauensschutz gebietet es, eine Lücke zu schließen.
Oder nehmen wir diejenigen, die zeitweilig aus dem Erwerbsleben ausschieden und Aspiranturen absolvierten. In der DDR bestand für diese Zeit eine pauschale Versicherung. Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß das jetzt Fehlzeiten für die Rente sind.
Oder nehmen wir die Frauen, die zum Zeitpunkt des Beitritts wegen der Betreuung und Pflege von Familienangehörigen nicht berufstätig waren. Mit mehr als 15 Jahren rentenrechtlich wirksamen Zeiten vertrauten Sie darauf, mit 60 Jahren einen Rentenanspruch zu haben. Nach bundesdeutschem Recht müssen dazu aber nach Vollendung des 40. Lebensjahres mehr als 10 Jahre Pflichtbeiträge erbracht werden. Angesichts der Arbeitsmarktlage ist das für die meisten kaum erfüllbar. Für die über 55jährigen ist das auch rein rechnerisch nicht möglich.
In all diesen Fällen lautet unser Appell: Anspruchsvoraussetzungen, auf die Menschen in der DDR ihre Lebensplanung ausgerichtet haben, können nicht nachträglich einfach gestrichen werden. Das verbietet der Vertrauensschutz.
({1})
Der dritte Komplex unseres Gesetzentwurfes wendet sich der Problematik der Sozialzuschläge zu. Wir schlagen vor, sie zeitlich unbegrenzt weiter zu gewähren und zuzuerkennen, bis eine grundsichernde Regelung im Rentenrecht für die gesamte Bundesrepublik verankert ist. Der Regelungsvorschlag, den Sozialzuschlag eigenständig, also ohne Berücksichtigung des Einkommens des Ehepartners, zu gewähren, hängt mit unserem Ansatz zusammen, daß jedem Menschen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht werden muß. Viele ältere Ehepaare in den neuen Bundesländern sind derzeit in tiefe Verzweiflung gestürzt, weil sie durch die nachträgliche Berücksichtigung des Partnereinkommens mit Rück forderungen von mehreren tausend D-Mark konfrontiert sind. Die meisten der inzwischen 30 000 Betroffenen haben diese Beträge, die ihre Rente bis 600 bz zuletzt 674 DM aufstockten, doch im guten Glauben, sie rechtmäßig erhalten zu haben, verbraucht. Eine Rückforderung ist sozial untragbar.
({2})
Ich habe diesen Fakt bereits in Juni letzten Jahres hier angesprochen, doch niemand ging darauf ein. Daher unser heutiger gesonderter Antrag, diesem Gebaren sofort Einhalt zu gebieten.
Damit hängt auch unser zweiter Antrag eng zusammen, den Mehrbedarfszuschlag nach dem Bundessozialhilfegesetz für Alters-, Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrentnerinnen und -rentner in den neuen Bundesländern sofort in Kraft zu setzen. Im Einigungsvertrag war die zeitlich unbefristete Nichtgewährung sicher damit begründet, daß nach dem Auslaufen der Sozialzuschläge mit einer generellen Neuregelung gerechnet wurde. Es ist nichts geschehen. Nach der Lektüre der Koalitionsvereinbarung ist leider zu befürchten, daß sich die Bundesregierung von der Aufgabenstellung einer besseren Alterssicherung insbesondere für Frauen gänzlich verabschiedet hat. Wir jedenfalls werden den Druck, den Verbände auf diesem Gebiet zu entwickeln beginnen, unterstützen und ihn auch ins Parlament transportieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mit einer konkreten und vor allem sachorientierten Diskussion über die Abschaffung des Unrechts bei der Rentenüberleitung und die Weiterentwicklung des bundesdeutschen Rentenrechts sofort beginnen und schnellstmöglich handeln! Unser Angebot liegt vor.
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Herr Kollege Uwe Lühr, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es steht außer Frage, daß die Überführung der für bundesdeutsche Verhältnisse chaotischen Altersversorgung in der ehemaligen DDR eines der Glanzstücke des Managements der deutschen Einigung war.
Nichts ist so individuell wie der Lebensweg des einzelnen, der im Rentenrecht im Spiegel der Beiträge bewertet wird. Um den anspruchsberechtigten Rentnern in den neuen Bundesländern unverzüglich Versorgungsbezüge auszahlen zu können, die einen adäquaten Lebensstandard sicherten, mußte pauschaliert werden, was nicht zu pauschalieren ist. Auch diejenigen, denen man verwehren wollte, erneut Profiteure ungerechtfertigter Vergünstigungen des ehemaligen Regimes werden zu können, mußten pauschal ausgegrenzt werden.
Die davon betroffenen Bürger der ehemaligen DDR, denen man auf Grund der Bestimmungen im Einigungsvertrag wegen „Staatsnähe" die Versorgungsleistungen kürzen wollte, sind natürlich keine - damals wohl eher emotional definierte - homogene Gruppe, die man mit einer pauschalen Regelung erfassen könnte. Ich denke, das müssen wir ändern. Die Ungerechtigkeiten im Rentenrecht müssen abgebaut werden.
({0})
Die Gründe für Zusatz- oder Sonderversorgung in der DDR waren höchst vielfältig und unsystematisch und längst nicht nur mit „Staatsnähe" zu definieren. In diesem Personenkreis finden sich z. B. Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, staatsangestellte Ärzte oder Schulleiter. Ich würde die Grenze bei der Bezirksebene, teilweise sogar bei der Ministerialebene ziehen. Es handelt sich also um einen Personenkreis,
der dieser Gruppe in der jetzigen Regelung auf Grund erhöhten Gehaltes zugeordnet ist.
Darunter finden sich auch die Versicherten, die ihre Rentenversicherung mit einer freiwilligen Zusatzversicherung und selbst zu zahlenden eigenen Beiträgen aufbessern wollten. Problematisch wird es - das sage ich hier in aller Deutlichkeit - bei der Personengruppe, die unmittelbar politische Verantwortung getragen hat, z. B. Mitglieder des Zentralkomitees, des Politbüros, auch des Staatsrates und hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. Deshalb finde ich den Vorschlag von Frau Fischer vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durchaus diskutierenswert.
Viele von uns haben in der Vergangenheit Briefe erhalten, in denen durchaus glaubhaft berufliche Schicksale von Personen geschildert werden, die absolut keine staatstragenden Funktionen hatten. Aber selbst wenn das der Fall wäre, ist das Rentenrecht, weil wertneutral, das ungeeignete Instrument, unerledigte Abrechnung an der vermeintlich staatstragenden Klasse zu üben.
({1})
Der gewaltfreie Prozeß der Wende von 1989 wollte gerade das nicht. Er wollte kein politisches Scherbengericht, das pauschal Rache nimmt.
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Deshalb muß die Ungerechtigkeit in Einzelfällen aufgehoben und endlich Rechtsfrieden hergestellt werden. Die Schuldfrage im strafrechtlichen Sinne ist einzelfallbezogen in rechtsstaatlichen Verfahren zu klären.
({3})
Das Rentenrecht ist hierfür aus seiner Systematik heraus nicht das geeignete Mittel - ja, ich halte es sogar für ein unzulässiges Mittel.
({4})
Die Sozialpolitiker der F.D.P.-Fraktion haben die pauschale Versorgungskürzung auf Grund der unterstellten Staatsnähe von Anfang an für falsch und bedenklich gehalten. Vor allem Dieter-Julius Cronenberg sah die traditionell gehütete Wertneutralität der beitragsbezogenen Rente massiv verletzt.
({5})
- Die Wandlung der Anschauungen bei den Sozialdemokraten hat Herr Dreßler vorhin klar gezeigt.
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Das ist ja auch verständlich. Wir befinden uns in einem Prozeß, in dem sicherlich alle dazugelernt haben.
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Auch in der Sachverständigenanhörung während der parlamentarischen Beratungen des Entwurfs zum Renten-Überleitungsgesetz ist deutlich gemacht worden, daß eine Entgeltbegrenzung auf die Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, da sie eine dem Sozialversicherungsrecht eigentümliche Beschränkung darstellt. Weitergehende generelle Einschränkungen der Leistungen an die Angehörigen spezifischer Berufsgruppen stießen in dieser Anhörung wegen der verfassungsmäßig gebotenen Trennung von Straf- und Sozialrecht allerdings auf erhebliche Bedenken.
Selbst für die individuelle Kürzung sehe ich keine ausreichende Rechtsgrundlage. Vor allen Dingen verbietet sich diese Praxis meines Erachtens bei der Behandlung der freiwilligen Zusatzrente - unabhängig von anderen bestehenden Zusatzversorgungen -, weil für sie tatsächlich individuelle Beiträge von den Versicherten gezahlt wurden.
({8})
Nach intensiver Vorarbeit der ostdeutschen Landesverbände meiner Partei und schließlich einschlägigen Beschlüssen der Parteigremien haben wir in den Koalitionsvereinbarungen eine „Überprüfung der Rentenüberleitung der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme in den Bundesländern" festgeschrieben.
({9})
Ich erspare mir aus Zeitgründen die genaue Formulierung; sie ist jedem bekannt.
Die besondere Problematik der gravierenden Ost-West-Unterschiede in den Bezügen derjenigen Rentenbezieher, die in der ehemaligen DDR in beamtenähnlichen Beschäftigungsverhältnissen oder in dem öffentlichen Dienst vergleichbaren Stellen erwerbstätig waren, ist dringend regelungsbedürftig. Das geht nicht ohne die Beteiligung der neuen Bundesländer an der Lösung dieser Problematik.
({10})
Die neuen Bundesländer sind bisher durch die Rentenüberleitung von der Zahlung von Pensionsleistungen quasi freigestellt.
Der Bundesarbeitsminister hat noch im vergangenen Jahr die Regierungen der neuen Bundesländer angeschrieben und gebeten, ihm ihre Modifizierungswünsche mitzuteilen. Bisher ist von keiner dieser Landesregierungen eine konstruktive Antwort eingegangen.
Zum Renten-Überleitungsgesetz sind noch verschiedene Klagen beim Bundesverfassungsgericht anhängig, die im Laufe dieses Jahres entschieden werden. Ich hoffe, daß die entsprechenden Entscheidungen rechtzeitig vorliegen werden, damit sie bei der Neufassung bzw. der Novellierung berücksichtigt werden können.
Wenn die Anzahl der Betroffenen im Vergleich zu den durch die Rentenregelung insgesamt Begünstigten auch einen geringen Umfang hat, so ist jeder ungerecht behandelte Einzelfall eine besondere Härte, die unverzüglich gemildert werden muß.
Herr Kollege Lühr, die Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Die Revision darf deshalb nicht auf die lange Bank geschoben werden, und schon gar nicht darf mit verstreichender Zeit kalkuliert werden.
Ich bin zuversichtlich, daß wir in den kommenden Beratungen in den Ausschüssen einen Konsens, der fraktionsübergreifend ist, zustande bringen werden.
Danke.
({0})
Ich erteile der Kollegin Ulrike Mascher das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn ich nach den Briefen und Beiträgen auf zahlreichen Veranstaltungen zum Thema Renten- Überleitungsgesetz urteilen müßte, würde ich feststellen, daß dieses Gesetz offenbar völlig mißraten ist. Dieses Urteil wäre sicher falsch, denn erhebliche Leistungen der Beitragszahler der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglichen für die große Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland eine sichere Existenz, ein Leben ohne Not. Das ist das Ergebnis eines Konsenses, zu dem die SPD ganz wesentlich beigetragen hat.
Es geht nicht nach der Melodie „Die Rosinen haben die CDU/CSU und ihr Arbeitsminister produziert, und die SPD ist für das Schwierige und für das Drecksgeschäft zuständig".
({0})
- Das sage ich nicht. Wir haben nur dazu beigetragen.
Trotzdem erfährt das Renten-Überleitungsgesetz nur geringe Zustimmung. RÜG ist für viele ein Kürzel für verfehlte Einigungspolitik geworden. Warum ist das so? Das Renten-Überleitungsgesetz hat von Anbeginn an einen Makel. Die Regierung, CDU/CSU und Teile der F.D.P. haben ihm die Aufgabe aufgebürdet, das zu tun, was die Strafgerichtsbarkeit bisher nicht geleistet hat und vielleicht auch gar nicht leisten kann: das Unrecht des staatlichen Systems DDR aufzuarbeiten. Das hat Vertrauen in die Rentenversicherung zerstört.
Der verständliche Wunsch vieler Ostdeutscher, die Täter nicht besserzustellen als die Opfer, ist 1991 beim Renten-Überleitungsgesetz von der Regierung genutzt worden, in das Sozialrecht erstmals Elemente der Bestrafung einzuführen. Pauschal wurden Beschäftigte, die den Zusatz- oder Sonderversorgungssystemen zugeordnet waren, als system- oder staatsnah mit einer Begrenzung der Entgeltpunkte belegt. Faktisch führt diese Begrenzung dazu, daß sie einen geminderten Verdienst als Grundlage der Rentenberechnung zugeordnet bekommen. Hier wird eine politische Wertung zur Grundlage der Rentenberechnung gemacht.
Die wertneutrale Haltung, die hier von einigen beschworen wurde, lautet: Das Rentenrecht ist aufgegeben worden. Das heißt nicht, daß das Rentenrecht strafwürdiges Verhalten billigt, sondern Rentenrecht kann keine politische Bewertung des individuellen Verhaltens oder des Verhaltens ganzer Berufsgruppen leisten.
Ich erinnere uns alle daran, daß sich alle Experten 1991 bei der Anhörung einig waren: Der Weg der Regierung mit der pauschalen Entgeltpunktbegrenzung durchbricht die bisherige Systematik des Sozialversicherungsrechts. Obwohl alle angehörten Rechtswissenschaftler die Position der SPD. „Raus mit dem Strafrecht aus dem Sozialrecht" unterstützten, konnten wir uns nicht durchsetzen, weil uns die F.D.P. - auch wenn Herr Lühr die Geschichte der F.D.P. hier etwas schönreden möchte - dabei nicht unterstützt hat.
({1})
Ich erinnere mich sehr positiv an Ihren Kollegen Menzel, der sich hier sehr engagiert hat; aber leider hat es nicht gereicht.
Von der PDS war 1991 zu diesem Thema noch nicht so viel zu hören. Aber sie hat inzwischen mächtig und erfolgreich aufgeholt.
({2})
Jetzt findet sich in Ihrem Gesetzentwurf eine minutiöse Auflistung aller Wünsche und Forderungen, die es zu diesem Thema überhaupt gibt.
Bereits in der letzten Legislaturperiode habe ich für die SPD hier gesagt, daß es dabei eine ganze Reihe von Punkten gibt, die die SPD von Anfang an gefordert hat, daß es aber auch einzelne Punkte gibt, z. B. die spezielle Rentenaufstockung für Lehrer der ehemaligen DDR als Ausgleich für geringe Verdienste, die in unserem Rentenversicherungssystem nicht realisierbar sind, weil wir dann auch viele andere Berufsgruppen berücksichtigen müßten.
In Ihrem erneut eingebrachten Gesetzentwurf gibt es diesmal eine eindeutige Aussage zur Finanzierung. Die gesetzliche Rentenversicherung soll praktisch für die Kosten aufkommen mit dem frommen Wunsch auf einen Bundeszuschuß. Dazu gibt es von der SPD eine eindeutige Absage. Die SPD wird bei der bisherigen Finanzierungsregelung, Teilung der Kosten zwischen Bund und ostdeutschen Ländern, bleiben. Aber in der öffentlichen Debatte wird es nicht um diese fachlichen Fragen gehen, sondern um die Frage: Wird das Rentenrecht als Instrument mißbraucht, um Ziele, die mit dem Strafrecht nicht erreicht werden, doch noch zu erreichen?
Ein besonders wirkungsvolles Totschlagargument war in der Vergangenheit die Rente Erich Honeckers. Nachdem er tot ist, muß nun Margot Honeckers angebliche Maximalrente als Keule dienen. Niemand in der SPD will Margot Honecker eine Maximalrente erstreiten. Wenn das der Kollege und Arbeitsminister Engelmann nicht weiß - er könnte es zumindest wissen -, dann könnte man ihm erklären, daß nach dem SPD-Antrag auch Frau Honeckers Rente in etwa so aussehen würde: alle über das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung hinausgehenden Zusatzversorgungsansprüche aus der DDR-Zeit entfallen, und nach 40 Beschäftigungsjahren in der ehemaligen DDR, also von 1950 bis 1989, ist heute eine dynamische Rente von rund 2 469 DM möglich. Auch Frau Honecker oder andere Führungskräfte der DDR werden nicht mehr erreichen können.
({3})
Die SPD will das Renten-Überleitungsgesetz endlich von seinem Geburtsmakel befreien. Wir wollen dabei auch nicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts warten. Wir wollen die strafrechtlichen Elemente entfernen, damit das Renten-Überleitungsgesetz endlich seine Wirkung als ein großes soziales Gesetz entfalten kann, damit es endlich seine integrierende und befriedende Wirkung bekommt.
Ich freue mich, daß es hier einige Ankündigungen auf Bündnispartner gibt. Ich hoffe, daß wir bei den Beratungen auch mit der CDU/CSU zu einer sachlichen Diskussion kommen und daß der Stil, der hier von dem ersten Redner der CSU angeschlagen worden ist, unsere Beratungen nicht bestimmen wird.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Volker Kauder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dreßler, was Sie heute hier gemacht haben, war ein schlimmer Anwurf auf ein Mitglied dieses Hohen Hauses.
({0})
Ich meine vor allem den letzten Satz, den Sie gesagt haben. Ich bitte Sie - ich fordere Sie nicht auf, sondern ich bitte Sie -, daß Sie diesen Satz zurücknehmen. Dieser Satz kann so nicht stehenbleiben.
({1})
Herr Kollege Dreßler, der Satz, den Sie gesagt haben, ist so zynisch - ({2})
- Herr Dreßler, nun mal mit der Ruhe!
Der Satz - ich sage das, damit Sie die Tragweite dieses Satzes einmal erkennen -, den Sie gesagt haben, ist so zynisch und menschenverachtend wie früher in der kommunistischen Diktatur der Satz: Ab nach Sibirien! So zynisch und menschenverachtend ist Ihr Satz.
({3}) Herr Dreßler, ich sage Ihnen noch eines.
({4})
Herr Kollege Kauder, darf ich Sie einen Moment unterbrechen?
Ich möchte den Gedanken zu Ende führen, dann bin ich bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten.
Bitte.
Herr Dreßler, ich habe das Ganze in den letzten vier Jahren hier mitgemacht. Sie nehmen an unseren Besprechungen immer erst dann teil, wenn die Arbeitsebene schon einiges erledigt hat. Aber wir haben uns immer darum bemüht, daß ein Konsens zustande kommt. Wenn der Satz von Ihnen nicht zurückgenommen wird, belastet dies die Gespräche und Verhandlungen über die Änderung des Renten-Überleitungsgesetzes. So können wir nicht miteinander arbeiten.
({0})
Frau Mascher, Ihr Satz, wir sollten zur sachlichen Arbeit kommen, bedingt zunächst einmal, daß Herr Dreßler zu dieser sachlichen Arbeit zurückfindet.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thierse?
Aber selbstverständlich.
Bitte, Herr Kollege Thierse.
Herr Kollege, erlauben Sie mir als einem, der aus jener Gegend kommt, in die der Kollege zurückgeschickt werden sollte, eine kleine Zwischenfrage. Ausweislich der mitgeteilten Biographie des Kollegen Engelmann, der knapp 30 Jahre Mitglied der Ost-CDU war, ist doch klar, daß er mindestens in dieser Zeit kein heftiger Gegner von Margot Honecker war.
({0})
Finden Sie den Vorwurf,
({1})
die SPD wolle Margot Honecker eine fette Rente verschaffen, vor diesem Hintergrund nicht einigermaßen widerwärtig?
({2})
Sehr geehrter Herr Kollege Thierse, ich habe manche Äußerung von Ihnen mit großem Respekt zur Kenntnis genommen. Aber ich habe gedacht, Sie hätten aus den Verhandlungen der Enquete-Kommission zu dem DDR- Unrechtssystem ein bißchen mehr gelernt, als es jetzt aus Ihrer Frage herausklingt. So habe ich mir das wirklich gedacht.
({0})
Ich will Ihnen einmal folgendes sagen: Wenn sich der Kollege Dreßler hier hinstellt und mit einer arroganten Selbstgerechtigkeit unter Verfälschung der Geschichte wörtlich von SED-CDU spricht, dann weiß er ganz genau, was er damit sagt, und weiß genau, daß dies ganz falsch ist. Das, Herr Dreßler, ist ungeheuerlich.
({1})
Herr Kollege Dreßler, Ihre SPD war es, die auf engste Art und Weise mit der SED zusammengearbeitet hat.
({2})
Sie waren es. Jetzt wollen wir doch die Geschichte so lassen, wie sie wirklich war.
({3})
- Können Sie jetzt einmal einen Augenblick ruhig sein?
Die Ost-CDU - jetzt weiß ich sehr wohl, was ich sage - hat vermutlich in bestimmten Phasen weniger auf den Kurs der SED Einfluß nehmen können als die West-SPD.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben es - das zeigt ja auch schon diese Diskussion - mit einem sensiblen Thema zu tun. Daß da natürlich auch Emotionen hochkommen, ist überhaupt keine Frage. Trotzdem muß es gelingen, daß wir wieder zu den sachlichen Fragen zurückkehren, um die es eigentlich ging.
Herr Dreßler, zum zweitenmal innerhalb von zwei Sitzungswochen muß ich leider, an Ihre Adresse gerichtet, sagen: Sie erwecken den Eindruck, als ob das Gegenteil von dem eingetreten sei, was wirklich passiert ist, in der letzten Woche zum Thema Beihilfe und Pflegeversicherung. In dieser Woche treten Sie vor den Deutschen Bundestag und vor die deutsche Öffentlichkeit und erwecken den Eindruck, als ob den Rentnern in der ehemaligen DDR, als sie in das gemeinsame Deutschland kamen, etwas weggenom970
men worden wäre. Genau das Gegenteil ist der Fall; denen ist nichts weggenommen worden,
({5}) keine Ansprüche und überhaupt nichts.
Wir waren uns - an diesen Beratungen haben Sie nicht teilgenommen -, so meine ich, Frau Kollegin Mascher, als wir die Arbeiten zum Renten-Überleitungsgesetz begannen, darin einig, daß wir in diesem Renten-Überleitungsgesetz und im Rentenrecht keine Strafe wollen. Wir wollten vielmehr das, was auch heute noch über 60 der Menschen in Deutschland wollen, daß nämlich diejenigen, die in dieser Diktatur andere unterdrückt haben und sich Privilegien verschafft haben, diese nicht auch noch in ihren Ruhestand mit hinübernehmen können. Dies war das einzige, sonst war da überhaupt nichts. Von einer Strafe soll nicht die Rede sein.
Wenn Sie heute einen Antrag vorlegen, in dem Sie sagen, daß alles wegkommen muß und daß es keine Begrenzungen mehr geben darf, dann frage ich, ob wir tatsächlich - darüber werden wir im Ausschuß reden - wollen, daß diejenigen, die für die sogenannte Firma, für die Stasi, Verantwortung getragen und hohe Gehälter bezogen haben, auch noch in der Rente besser gestellt werden als diejenigen, die sie in die Fabrik geschickt haben und nicht haben studieren lassen. Dies ist der einzige Punkt.
({6})
Es geht, Herr Kollege Dreßler - dies haben Sie, glaube ich, verkannt -, nicht um Strafrecht, sondern es geht schlicht und ergreifend um die Frage: Geht es gerecht zu?
({7})
Gerechtigkeit hat auch damit zu tun, daß diejenigen, die sich ungerechte Vorteile verschafft haben, jetzt diese ungerechten Vorteile nicht auch noch weiter genießen können.
Herr Kollege Kauder, heißt das, Sie lehnen ab?
Jawohl.
Wenn Sie das Beispiel der Feuerwehr bringen, dann befinden Sie sich auf einer Wanderung auf einem ganz schmalen Grat. Denn dann können Sie genauso den Eindruck erwecken, als ob Sie all diejenigen, die einmal in einer besonderen Situation waren, dort auch belassen wollen.
Wir wollen nicht nur nach dem beurteilen, was früher einmal war, sondern auch nach dem, was heute ist. Wenn die Menschen heute ihre Arbeit korrekt machen und alles in Ordnung ist, messen wir sie nicht an dem, welche Arbeit sie früher gemacht haben, wenn dabei nicht Menschenrechtsverletzungen vorgekommen sind.
Es ist aber überhaupt nicht einsehbar, daß ein Stasi-Offizier - das ist jetzt ein konkretes Beispiel -, der eine junge Frau daran gehindert hat, ein Studium zu absolvieren, so daß sie in die Fabrik gehen mußte,
heute eine wesentlich höhere Rente in Anspruch nehmen kann als diese Frau. Nur darum geht es.
({0})
Ich habe bei meinen Gesprächen, auch mit vielen Bekannten aus der früheren DDR, etwas ganz anderes festgestellt, als Sie hier sagen. Die sagen mir alle: Die Rentner sind die ersten Gewinner der Einheit.
({1})
99 % von denen, über die wir reden, haben ihre Rente, und es geht ihnen gut.
Es geht hier nur um ganz wenige Prozente. Ich kann die Zahl nennen: Es sind nicht einmal 60 000. Deswegen dürfen Sie nicht den falschen Eindruck erwecken, als ob wir mit der Rentenüberleitung etwas Falsches gemacht haben. Das war eine der größten sozialpolitischen Taten zu Beginn des gemeinsamen Deutschlands. Das lassen wir uns auch von Ihnen nicht kaputtreden.
({2})
Sind Sie bereit, eine Frage des Kollegen Tippach zuzulassen?
Nein, danke. Ich habe nur noch eine Minute Redezeit und will noch einen Satz sagen.
Was mich am meisten betroffen gemacht hat, Herr Dreßler, war, daß Sie gesagt haben, es gehe darum, daß Ansprüche, die in einem Sozialstaat erworben sind - ich werde diesen Satz noch einmal nachlesen -, auch behalten werden müssen. Wollten Sie damit etwa zum Ausdruck bringen, daß Ansprüche, wenn es überhaupt welche waren, die in der ehemaligen DDR erworben wurden, in einem Sozialstaat erworben wurden? Das können Sie doch nicht gemeint haben.
({0})
- Ich frage Sie ja nur, Herr Dreßler.
Man hat bei Ihnen den Eindruck, daß nicht die Fragen „Geht es gerecht zu?" und „Was ist früher geschehen?" zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden, sondern daß Sie lediglich eine Ideologie durchsetzen wollen. Die Bundesregierung hat hier und auch im Bundesrat erklärt, daß wir natürlich darüber reden werden, wo Korrekturbedarf besteht.
Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Es wird überhaupt nicht gehen, daß diejenigen, die Befehle gegeben und Anordnungen erteilt haben, daß menschenunwürdige Dinge geschehen sind, jetzt auch noch die Höchstrenten in den neuen Bundesländern abkassieren. Das darf mit uns nicht passieren.
Deswegen werden wir das, was wir in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben haben, tun und dies auch genau prüfen. Ich bitte Sie wirklich herzlich: Tragen Sie durch eine Erklärung in diesem Haus dazu bei, daß Konsensgespräche auch in dieser Frage
unbelastet von solchen unglaublichen Schärfen geführt werden können!
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christel Deichmann das Wort.
Herr Kollege, Sie waren über die Bemerkung SED-CDU so empört. Herr Kollege, darf ich Sie darann erinnern, daß es in der ehemaligen DDR üblich war, daß die CDU-Mitglieder gemeinsam mit den SED-Genossen montags zum Parteilehrgang der SED gingen?
({0})
Zur Replik Herr Kollege Kauder.
Frau Kollegin, auch wenn einige bei der SPD noch nicht - ich habe den Zwischenruf gehört - zwischen konsequenter Betrachtung der Realität und einer gewissen Schärfe, wobei ich durchaus zugebe, die Dinge sehr pointiert auf den Punkt zu bringen, unterscheiden können, muß ich Ihnen folgendes sagen: Es ist mancher auch versucht, eine Interpretation der Geschichte der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg zu geben. Da würde ich mich ganz vehement dagegen wehren, SED-SPD zu sagen. Denn ich weiß, was war. Deshalb sollten Sie nicht solche Dinge wie SED-CDU sagen.
({0})
Ich erteile dem Bundesminister Dr. Norbert Blüm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nichts gegen eine scharfe Debatte. Ich habe nichts gegen eine scharfe Kontroverse; sie ist das Salz in der Suppe des Parlaments. Aber das hier ist eine schlechte Debatte.
Lieber Kollege Rudolf Dreßler, in aller Freundschaft - es ist jetzt eine Stunde her; man kann sich ja auch besinnen -: Der Satz: „Geh zurück!" steht in einer ganz schlimmen Tradition. Das ist eine rechtsradikale Parole, mit der hier heute ein Kollege verunglimpft wurde.
({0})
Wir wollen den Satz: „Geh zurück!" noch einmal untersuchen. Wohin soll er denn zurückgehen? Seine Heimat ist Deutschland. Wer sagt: „Geh zurück!", der hat die Mauer im Kopf.
({1})
- Lieber Kollege Dreßler, wer zu einem Kollegen aus den neuen Ländern sagt: „Geh zurück! ", hat die Mauer in seinem Kopf nicht beseitigt.
({2})
Wer hier so eindrucksvoll gegen das Strafrecht im Rentenrecht agiert, aber gleichzeitig einen Kollegen verunglimpft, der arbeitet mit einer doppelten Moral.
({3})
Jetzt habe ich aber noch eine Frage an alle. Wenn ich hier höre, was daran alles falsch ist, dann frage ich mich, wieso dieses Gesetz überhaupt eine Mehrheit bekommen hat. Das haben anscheinend alle für falsch gehalten. Aber ich frage mich, wer das Gesetz eigentlich beschlossen hat.
({4})
- Das bestätige ich Ihnen ausdrücklich.
Aber ich will hier festhalten - auch für die Öffentlichkeit, damit hier niemand flüchtet -, daß dieses Renten-Überleitungsgesetz, ich sage: Gott sei Dank im Konsens zwischen SPD und Regierungskoalition beschlossen wurde.
Wir haben von dieser Errungenschaft - sie war nicht ganz leicht - heute mittag viel verschüttet. Bei einem Konsens ist nicht alles jedermann bekömmlich. Bei einem Konsens ist es immer so, daß im Sinne eines Kompromisses keiner seine Meinung voll durchsetzen kann. Wenn man den Konsens anschließend wie einen Steinbruch ausbeutet - jeder holt sich nur das heraus, was ihm paßt -, dann braucht man keinen Konsens mehr; dann ist dieser um seine moralische Rechtfertigung gebracht.
({5})
Lieber Kollege Dreßler, zuerst gab es den Vorwurf an mich, daß ich nach der Wiedervereinigung nichts gemacht hätte. Aber heute mittag habe ich gerade den Vorwurf gehört, daß ich etwas gemacht habe.
({6})
Einen Teil der Rede habe ich so verstanden, als wäre jede Begrenzung abzulehnen. Wenn nicht jede Begrenzung abzulehnen ist, dann sage mir doch jemand einmal, wo eine Begrenzung nicht Strafrecht ist und wo eine Begrenzung Strafrecht ist. Entweder - oder: Entweder erklärt die SPD, es gibt überhaupt keine Grenzen. Dann müßten wir Renten bis zu 12 000 DM zulassen. Dann müßten wir Rentenprivilegien bis zu 12 000 DM auszahlen. Ich unterstelle auch dem Kollegen Dreßler nicht, daß er das will.
({7})
12 000 DM Rente müßte man dann übernehmen.
Wenn allerdings jemand nein sagt, dann müssen wir doch eine Grenze einziehen. Wenn eine Grenze
eingezogen wird, kann sie nicht als Strafrecht diffamiert werden. Im übrigen haben die Verfassungsrechtler, z. B. Herr Simon, unser Renten-Überleitungsgesetz als verfassungskonform bezeichnet. Es geht dabei nicht um Strafrecht.
Wir übernehmen ein System, das zum Teil nicht mit Beiträgen finanziert war, und haben dabei eine größere Freiheit, als wenn man ein System fortsetzt.
Ich gebe zu, daß es in dieser Frage letztlich keine befriedigende Lösung gibt. Wissen Sie, warum? Das alte DDR-Rentenrecht war ein verschachteltes Privilegienrecht:
({8})
61 Zusatzsysteme,
({9})
vier Sondersysteme. Bringen Sie das einmal in eine stringente, alle befriedigende Form! Die gibt es nicht. Wir können nur versuchen, der Gerechtigkeit immer näherzukommen; daran will ich mich beteiligen.
Aber ich sage schon jetzt: Es wird keine absolute Gerechtigkeit geben. Es gibt nämlich zwei Absturzstellen: Wenn es keine Begrenzung gibt, würden wir alte Privilegien fortsetzen. Wenn es doch eine Begrenzung gibt, würden sich manche davon betroffen fühlen.
Ich will Ihnen für diese Absturzstelle ein Beispiel geben: Ich habe in einer Diskussion einen Rentner erlebt, dessen Rente nicht gekürzt war, der sagte, daß seine Rente halb so hoch war wie die Rente eines Mannes, dessen Rente gekürzt war. Das war nämlich einer von denen, die ihn früher im Betrieb gequält haben. Die Rentenregelung hat mit seinem Rechtsgefühl übereingestimmt.
Trotz Kürzungen sind Renten mit Zusatz- und Sonderversorgungssystemen im Durchschnitt 1,3 mal höher als die Renten ohne Zusatz- und Sonderversorgungssysteme.
Von den 330 000 Rentnern in dem System sind 50 000 betroffen. Ich will das Thema aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Quantität behandeln; denn jeder hat ein Recht darauf, daß ihm Gerechtigkeit widerfährt. Nur, wer dieses Thema mit der Einzelfallgerechtigkeit behandeln will, wird diese Einzelfallgerechtigkeit erst finden, wenn die Menschen gestorben sind. Also muß man mit Pauschalierungen arbeiten, und Pauschalierungen haben immer einen Rest von willkürlicher Grenzziehung.
Im übrigen ist es so, wie es hier dargestellt wurde, offenbar nicht, denn unsere Untersuchungen - Infas, Institut für angewandte Sozialforschung - besagen:
({10})
70 % der Befragten haben diese Begrenzungen nicht nur akzeptiert, sondern für richtig befunden. 75 % waren für Spitzenfunktionäre sogar für eine Begrenzung auf die Durchschnittsrente.
Ich möchte nur darauf aufmerksam machen: Was immer wir tun, wir werden es stets mit Widerstand zu tun haben. Ich bin trotzdem dafür, einer Gerechtigkeit
so nahe wie möglich zu kommen, ohne sie absolut versprechen zu können.
Ich habe deshalb die Regierungen der neuen Bundesländer, wie auch immer sie zusammengesetzt sind, aufgefordert, dazu Vorschläge zu machen. Wissen Sie, das Problem ist nämlich theoretisch leichter zu behandeln als praktisch, denn bei der praktischen Lösung werden Sie immer auf eine Lösung stoßen, bei der es -
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Bitte, Herr Kollege Gilges.
Herr Kollege Blüm, die erste Bundesregierung nach 1945 unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer hat im Konsens davon abgesehen, daß nach dieser schwierigen Zeit, die wir zwischen 1933 und 1945 hatten, strafrechtliche Elemente in das Rentenrecht eingeführt wurden, und hat deswegen den Art. 131 des Grundgesetzes geschaffen. Das war damals umstritten, auch bei Sozialdemokraten umstritten. Wie ich im nachhinein meine, war es richtig.
Wir haben des weiteren - ich will das hier ganz sachlich diskutieren und ohne diese Aufgeregtheit ({0})
nachfolgend bei allen anderen Maßnahmen immer davon abgesehen, daß Strafrechtsgesichtspunkte in das Rentenrecht aufgenommen werden. Sonst wäre es nämlich nicht logisch, daß ein zehnfacher Mörder oder ein Kinderschänder Rente bekommt.
Durch das Renten-Überleitungsgesetz sind das erste Mal, Herr Blüm, gegen den gesellschaftlichen Konsens, gegen meine innere Überzeugung - ich war auch in der SPD-Fraktion dagegen, ich war mit allen Mitteln dagegen - Strafrechtselemente in das Rentenrecht übernommen worden.
Das hat überhaupt nichts mit der Begrenzung, mit der Deckelung zu tun. Auch wir sind der Meinung, daß ein NVA-General oder ein Stasi-General nicht 7 000 oder 8 000 DM Rente bekommen soll. Ich bedauere das; das hätten wir auch damals bei dem Art. 131 machen sollen, Herr Blüm. Es ist nämlich nicht gerecht, daß die Witwe von Freisler nach wie vor 5 000 DM Rente erhält. Das ist nicht gerecht.
({1})
Aber wir haben es nicht gemacht.
Meine Frage: Halten Sie es eigentlich nicht für richtig, daß wir an die Tradition, die mit dem ersten Bundeskanzler Adenauer begann, nämlich keine Strafrechtselemente ins Rentenrecht zu übernehmen, anknüpfen und das, was wir damals aus einer bestimmten historischen Situation heraus falsch gemacht haben, korrigieren? Halten Sie cias nicht eigentlich für angebracht?
Herr Kollege Gilges, da muß ich zurückfragen. Sie sind also für Begrenzungen? Und Sie halten Begrenzungen nicht für Strafrecht?
Ja.
Ist das klar? - Gut. Dann sind wir schon einen Schritt weiter.
Das würde doch bedeuten, daß es in der Tat nach dem Vorschlag auch zu Einkommensverlusten käme.
({0})
Sind Sie auch dafür, daß unterhalb dieser Grenze nicht das Alles-oder-nichts-Prinzip gilt, sondern daß man, wie wir es ja vereinbart hatten, in einem System - wir haben das einmal ein Überrollsystem genannt, vom Überrollen des Faktors - versucht, sozusagen eine Linie zu finden, die nicht mit dem Prinzip „alles oder nichts" arbeitet?
({1})
Was ist daran Strafrecht? Ist das Prinzip „alles oder nichts" kein Strafrecht, aber ein System, das differenziert vorgeht, Strafrecht? Nennen Sie mir mal den Unterschied, wieso das Prinzip „alles oder nichts" kein Strafrecht ist, wohl aber eine differenzierte Lösung Strafrecht ist. Können Sie mir mal den Unterschied deutlich machen?
Ich diskutiere ja gerne darüber, ob es gerecht ist oder nicht gerecht, aber daß Ihre Lösung ohne Strafrecht ist und unsere mit Strafrecht, das vermag ich nicht einzusehen.
Es ist kein Strafrecht. Wenn Sie ein System übernehmen, dürfen Sie es sehr wohl nach den Prinzipien des Systems, das übernimmt, auch gestalten, zumal der Lohn in der alten DDR - so ist das nun einmal in einer Privilegienwirtschaft - nicht unbedingt der Ausdruck von Leistung war, sondern Löhne auch gezahlt wurden, um das System zu stabilisieren. Es wurden Löhne gezahlt, von denen ich nicht wünsche, daß sie in die Rentenberechnung eingehen, weil sonst diejenigen, die diese hohen Löhne bezogen und andere gequält haben, im neuen Sozialstaat Deutschland wieder die Privilegierten sind.
Lassen Sie uns keine dogmatische Diskussion führen. Lassen Sie uns die Diskussion wie folgt führen: Wie kommen wir der Gerechtigkeit am nächsten?
Herr Bundesminister, auch die Kollegin Fischer würde Ihnen gerne eine Frage stellen.
Ja, bitte.
Herr Minister Blüm, es ist ja unbestritten, daß es keine vollständige Gerechtigkeit geben kann, und es kann auch keine Einzelfallgerechtigkeit geben. Aber vielleicht könnten Sie noch einmal dazu Stellung nehmen.
Natürlich gibt es politischen Gestaltungsspielraum, wenn man ein so ungewöhnliches Gesetzeswerk wie das Renten-Überleitungsgesetz auf den Weg bringt. Aber es gibt doch ein System, in das die Renten aus Ostdeutschland überführt wurden, nämlich das westdeutsche Rentenrecht. In diesem gibt es doch bestimmte Systemgrundsätze. An denen müßte sich diese Überführung doch ausrichten.
Deswegen will ich Sie fragen, warum Sie meinen, daß diese Vorschläge, die hier im Raume stehen, damit nicht vereinbar sind.
Verehrte Frau Kollegin, Sie übernehmen ein System, in dem nicht alle Leistungen wie im Westen durch Beiträge finanziert wurden.
({0})
Wenn ein System nicht vollständig durch Beiträge finanziert worden ist, können Sie nicht anschließend den Beitragsgesichtspunkt für einen unüberwindbaren Punkt halten.
({1})
- Nicht in allen Punkten. Ich kenne Sie hier zwar als einen der tüchtigsten Zwischenrufer, aber auch als einen Mann, der offenbar - wie vieles andere im übrigen auch - das Zusatz- und Sonderversorgungssystem nicht kennt.
Ich erkläre noch einmal: Es war ein verschachteltes System. So ist das in jeder Diktatur. Niemand weiß, was der andere erhält. Das System war verschachtelt und privilegierte einige. Das werden Sie nicht ohne Korrekturen überführen können. Wir streiten uns jetzt nur darüber, wo diese Korrekturen vorgenommen werden können, so daß sie von den Menschen akzeptiert werden.
Die Frage, warum das Rentenrecht - das haben Sie ja auch gesagt - nicht jene Leistungen übernehmen kann, die das Beamtenrecht gewährt, warum ein ostdeutscher Professor nicht so viel Rente bekommen kann, wie ein westdeutscher Professor als Beamtenpension bekommt, müssen Sie nicht an die Rentenversicherung richten, sondern an den öffentlichen Dienst. Der öffentliche Dienst ist hier Ihr Ansprechpartner.
({2})
- Ich bin ja auch nicht der Meinung, daß wir in allem konträr sind. Es ist ja gut, wenn wir ein paar Punkte festhalten, in denen wir übereinstimmen. Wenn es aber so ist, daß wir in einigen Punkten übereinstimmen, in einigen anderen Punkten aber noch konträr sind, dann bitte ich uns alle, hier nicht mit dem großen Hammer von Willkür, Strafrecht und dem Untergang des Abendlandes die Diskussion zu führen. Wir sollten die Diskussion dann etwas differenzierter führen, als uns dies heute mittag gelungen ist.
An einer Stelle haben Sie gelacht. An sich habe ich Lachen gern; aber an der Stelle hat es mich geärgert. Ich meine die Stelle, als hier einer meiner Kollegen gesagt hat: Die Rentner sind die ersten Gewinner der
deutschen Einheit. Da ist von Ihrer Seite gelacht worden.
({3})
Ich wiederhole noch einmal diese These: Gott sei Dank sind die Rentner diejenigen, die zuerst von der deutschen Einheit profitiert haben. Die Durchschnittsrente liegt heute um das 2,6fache höher.
({4})
Selbst diejenigen, die sich heute über die Begrenzung beschweren, hätten im alten System - selbst wenn es unbegrenzt gewesen wäre - weniger erhalten, als sie heute mit einer begrenzten Rente erhalten, zumal diese begrenzte Rente auch in die Dynamik eingeht und gar nicht ewig begrenzt bleibt. Selbst bei der begrenzten Rente sind bei 80 % der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme schon heute die normale Rente und die Zusatzrente höher als 1991.
Ich bleibe bei der These: Gegenüber diesem Willkürsystem - Rentenerhöhungen nach Laune des Herrn Honecker - haben wir jetzt ein Rentensystem der Verläßlichkeit, ein gemeinsames Rentensystem.
({5})
- Seien Sie nicht so empfindlich. Es ist nicht das Rentensystem der Regierung. Es ist unser Rentensystem. Es schafft mehr Gerechtigkeit, mehr Verläßlichkeit.
Wir müssen einige große Probleme lösen. Schreiben Sie mit: 16,7 Milliarden Ostmark machten die letzten Rentenzahlungen in der DDR aus. Heute werden 63,5 Milliarden DM für den gleichen Personenkreis und auf gleichem Gebiet ausgegeben. Wer dennoch behauptet, dies sei kein Fortschritt, der versteht nicht nur nichts von Mathematik, sondern der versteht auch von Sozialpolitik nichts.
({6})
Deshalb lassen Sie uns festhalten: gemeinsamer Fortschritt. Ich will ihn gar nicht nur für eine Seite verbuchen. Lassen Sie uns hei der Frage, wie das System noch gerechter werden kann, hier keine Kreuz- und Weltanschauungskriege führen. Lassen Sie uns eine gemeinsame Anstrengung in Detailbereichen versuchen. Ich kündige jetzt schon an, dazu bereit zu sein - in dem Wissen, daß es keine absolute Lösung geben wird.
Diese Anstrengung lohnt sich, nicht aber die Polemik - und schon gar nicht die Verunglimpfung eines Kollegen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/216, 13/20, 13/286, 13/274 und 13/275 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht darüber Einverständnis? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Auswirkungen der 2. und 3. Novelle zum Abwasserabgabengesetz auf die Gewässer
- Drucksache 12/8344 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Finanzausschuß
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({1}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
zur Technikfolgenabschätzung ({2})
hier: „Grundwasserschutz und Wasserversorgung"
- Drucksache 12/8270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Zum Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offenkundig kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich Klinkert das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Bericht der Bundesregierung umfaßt die zweite und dritte Novelle des Abwasserabgabengesetzes, die am 1. Januar 1989 und am 1. Januar 1991 in Kraft getreten sind. Diese Novellen hatten vor allen Dingen zwei Ziele: zum ersten die Erhöhung der Anreizwirkungen der Abwasserabgabe für eine stärkere Förderung des Baus und der Erweiterung von Abwasserbehandlungsanlagen und damit insgesamt eine Verminderung von Schadstoffeinträgen und zum zweiten eine Verringerung des Verwaltungsaufwandes durch eine Vereinfachung des Gesetzesvollzuges zu erreichen.
In der zweiten Novelle wurde u. a. eine Abgabepflicht für eine Reihe gefährlicher Stoffe eingeführt, z. B. für organische Halogenverbindungen oder Schwermetalle wie Chrom, Nickel, Blei und Kupfer. Darüber hinaus war beabsichtigt, eine enge Verzahnung von Abgabenrecht und Wasserrecht zu erreichen.
Uns allen sind noch die Bilder des Sommers 1988 in Erinnerung, als es ein massenhaftes Algenwachstum und das dramatische Robbensterben in der Nordsee gab. Leider ist diese Erinnerung nicht mehr bei allen vorhanden. Dies führte 1988 zu der dritten Novelle des Abwasserabgabengesetzes, die dann die Nährstoffe Phosphor und Stickstoff in die Abgabepflicht mit einbezog. Damit war ein Anreiz für Investitionen in die Nährstoffelimination geschaffen.
Weitere Anreize dieser dritten Novelle bestanden darin, daß man einerseits die Abgabensätze erhöhte, aber andererseits die Verrechnung der Abgabe mit Gewässerschutzinvestitionen vorsah.
Die zweite und die dritte Novelle insgesamt haben zu einer Verminderung von Schadstoffeinträgen und zu einer Vereinfachung des Vollzugs geführt. Die erweiterte Verrechnungsmöglichkeit hat mit dazu beigetragen, daß in den letzten Jahren gigantische Investitionen in Abwasserbehandlungsanlagen in der Bundesrepublik Deutschland getätigt werden konnten. Sie bewegen sich allein in den alten Bundesländern jährlich zwischen 6 und 8 Milliarden DM, und dies bei einem Aufkommen der Abgabe, das zwischen 300 und 400 Millionen DM schwankt. Die Abwasserabgabe hat sich insgesamt bewährt. Sie ist mit den Mindestanforderungen nach § 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes ein international anerkanntes Markenzeichen erfolgreicher deutscher Umweltpolitik.
Die Belastung in der Nordsee ist deutlich zurückgegangen; aber sie ist noch immer zu hoch. Deswegen werden weitere Schutzmaßnahmen notwendig bleiben. Die Abwasserabgabe muß, weil mit einer ökologischen Wirkung verbunden, als ökonomisches Lenkungsinstrument erhalten bleiben. Sie ist im übrigen die einzige wirkliche Umweltabgabe in Deutschland.
Die politischen Diskussionen um den Wirtschaftsstandort Deutschland und die steigenden Kosten bei der Abwasserentsorgung haben dazu geführt, daß die vierte Novelle zum Abwasserabgabengesetz im Sommer 1994 verabschiedet wurde.
Ziel dieser Novelle war, die Investitionsbereitschaft der Abwassereinleiter zu erhöhen. Ich weiß: Den Kritikern ist diese Novelle zu schnell gekommen und auch zu weit gegangen, aber sie war von der ausdrücklichen Mehrheit der Bundesländer gewünscht und gefordert.
Insbesondere in den neuen Bundesländern waren die erheblichen Kosten der Abwasserbeseitigung den Bürgern kaum noch zumutbar. Aber - das erwähne ich ausdrücklich - die Abwasserabgabe bewegt sich bei ca. 6 % der Gesamtkosten und ist damit durchaus nicht als Hauptursache der hohen Gebühren anzusehen.
Aber auch nicht die hohen Einleitungsstandards, sondern vielmehr eine ganze Reihe von Ursachen in Ost und West sind für die Kostenbelastung heranzuziehen, so u. a. die überzogene Projektierung, die mitunter daran liegt, daß die Projektierungshonorare sich am Investitionspreis messen. Ursachen sind auch darin zu suchen, daß einzelne Kommunen mit den Abwassergebühren eine verdeckte Kommunalfinanzierung betreiben und daß in einzelnen Kommunen
eine mangelnde Bereitschaft festzustellen ist, über Innovationen in Technik und Management nachzudenken.
({0})
Der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder haben den Auftrag zur Bekämpfung der Gebührenentwicklung ausgelöst. Die vierte Novelle war eine erste Reaktion dazu. Sie hat eine Begrenzung der Abgabenhöhe gebracht, gleichzeitig jedoch auch eine Erweiterung der Verrechnungsmöglichkeiten unter Wahrung des hohen Standards der Abwasserreinigung.
Gestatten Sie mir einige Gedanken zur Perspektive des Abwasserabgabengesetzes. Es ist klar, daß die Erfahrungen des Vollzugs zur Weiterentwicklung des Gesetzes führen werden und führen müssen. Mit der vierten Novelle hat der Deutsche Bundestag eine erneute Überarbeitung des Abwasserabgabengesetzes ins Auge gefaßt. Er hat die Bundesregierung beauftragt zu prüfen, ob die Abgabe nach gemessenen, tatsächlichen Werten erhoben werden kann. Dazu sind in der Folgezeit eine Vielzahl von technischen und juristischen Fragen zu klären.
Ich begrüße diesen Novellierungsauftrag, denn er gibt die Gelegenheit, über das Konzept der Abgabe im ganzen nachzudenken und es den Erfordernissen einer „Wasserwirtschaft 2000" anzupassen.
Wir haben aber auch das Ziel, keinen weiteren Anstieg der Steuer- und Abgabenlast von Bürgern und Betrieben zuzulassen. Und: Wir wollen eine weitere Verminderung des bisher noch zu hohen bürokratischen Aufwandes erreichen.
Die nächste Novelle wird eine gründliche Vorbereitung erforderlich machen, da sie sehr umfassend sein wird und im Zusammenhang mit der Novellierung des Wasserhaushaltsrechts insgesamt zu sehen ist.
Die Bundesregierung wird mit den Bundesländern auch die aus dem Bericht resultierenden Konsequenzen - einschließlich der Anregung der Indirekteinleiterabgabe - aufgreifen, diese Anregungen prüfen und dem Gesetzgeber dazu entsprechende Vorschläge zuleiten. Der Gewässerschutz bleibt eine zentrale Aufgabe der Umweltpolitik der Bundesregierung.
Lassen Sie mich nun noch kurz auf den Endbericht des Büros für Technikfolgenabschätzung „Gewässerschutz und Wasserversorgung" eingehen. Dieser umfangreiche Bericht ist äußerst detailliert und enthält wertvolle Informationen und Anregungen. Ich möchte den Autoren dieses Berichtes ausdrücklichen Dank für die Mühe aussprechen, die sie sich mit diesem Bericht gegeben haben.
({1})
Er wurde über mehrere Jahre erarbeitet. Die Erkenntnisse dieses Berichtes sind bereits während der Erarbeitung in politische Handlungen und Entscheidungen eingeflossen. Persönlich halte ich den Teilbericht 5 für besonders wertvoll, in dem es um Grundwasserdefizite durch den Braunkohletagebau in den neuen Bundesländern geht. Der Bericht hat
hier den Beweis erbracht, daß die Jahrzehnte der extremen Wasserhebung durch den Braunkohlebergbau mit über einer Milliarde Kubikmeter Wasser pro Jahr in den neuen Bundesländern ein nun künstliches Gleichgewicht des Wasserhaushaltes und des Naturhaushaltes geschaffen haben. Der Bericht weist darauf hin, daß eine plötzliche Änderung dieses Gleichgewichts auch zu ökologischen Schäden führen kann. Ich glaube, dieser Bericht wird in Fachkreisen in Zukunft wesentlich mehr Beachtung finden, als die mir im Moment zur Verfügung stehende knappe Zeit es erlaubt.
Vielen Dank.
({2})
Frau Kollegin Susanne Kastner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte mir weiß Gott heute abend etwas Sinnvolleres vorstellen, als einen Bericht zu diskutieren, der schon längst überfällig ist und zudem vor umweltpolitischer Unfähigkeit nur so strotzt. Wie Herr Staatssekretär Klinkert erklärt hat, sollen wir einen Bericht diskutieren, in dem die positiven Auswirkungen der zweiten und dritten Novelle des Abwasserabgabengesetzes beschrieben sind, obwohl bereits im Juni letzten Jahres in einer von der Koalition durchgedrückten vierten Novelle exakt diese positiven Auswirkungen wieder eingeschränkt wurden. Das versteht kein Kommunalpolitiker mehr. Jeder Bürger in dieser Republik würde das schlicht und ergreifend als Schwachsinn bezeichnen.
({0})
Der Bericht schildert ausführlich die Vollzugsschwierigkeiten in den Ländern bis Ende 1993. Die Gesetzesänderungen konnten von den Ländern zum Teil bis heute, Herr Staatssekretär Klinkert, nicht umgesetzt werden. Gleichzeitig wurden von Bayern über den Bundesrat Änderungen gefordert, auf die die Bundesregierung eine sehr weitgehende vierte Novelle draufgesattelt hat. Dies führte in den Ländern und in den Kommunen zu neuen Umsetzungsschwierigkeiten und zu einer vollständigen Wirkungslosigkeit des Abwasserabgabengesetzes.
Da wird von Ihnen von Deregulierung geschwafelt, und im Bundestag handeln CDU/CSU und F.D.P. gerade entgegengesetzt, indem sie neue Vollzugshindernisse schaffen. Ein Beispiel: Obwohl die Meßlösung für Schadstoffeinheiten bei einer vorherigen Novellierung wegen mangelnder Praktikabilität gestrichen worden ist, wurde bei der vierten Novelle ein neuer Einstieg gesucht. Federführend - die Kolleginnen und Kollegen des Umweltausschusses wissen es ganz genau - ist ein Abgeordneter der Koalition, der diese Meßgeräte herstellt. Zusätzlich wird bei der Bundesregierung eine fünfte Novellierung in Auftrag gegeben, die die Meßlösung endgültig wieder einführen soll.
({1})
Fragen Sie einmal bei Ihrem Koalitionspartner, der F.D.P., nach. ({2})
Ein weiterer Schwachsinn! Die von den Ministerpräsidenten immer wieder geforderte Verfahrensvereinfachung wird in Bonn ins Gegenteil verkehrt.
Der Bericht sagt nichts über die tatsächlichen Auswirkungen der zweiten und dritten Novelle des Abwasserabgabengesetzes auf die Gewässer. Die allgemeine Schlußfolgerung der Bundesregierung, „die Novellen wirken sich positiv auf die Gewässergüte aus und haben den Vollzug verbessert", ist eine nicht belegbare Behauptung. Sie forcieren die Abschaffung der von der sozialliberalen Koalition geschaffenen Abwasserabgabe, trauen sich nur nicht, dies auch laut zu sagen.
Es klingt wenig glaubwürdig, wenn das Umweltministerium in dem Bericht schreibt - ich zitiere -: „Die Abwasserabgabe hat sich bewährt. Sie muß als ökonomisches Lenkungsinstrument des Gewässerschutzes erhalten bleiben."
({3})
In Wirklichkeit, Herr Kollege Hinsken, wurde alles getan, eine beschleunigte Verbesserung der Abwasserreinigung über die Anforderungen des § 71 Wasserhaushaltsgesetz hinaus abzuschwächen. Die Festschreibung der beschlossenen stufenweisen Anhebung des Abwassersatzes auf 70 DM pro Schadeinheit und die erweiterte Verrechnungsmöglichkeit von Investitionen auch im Bereich der Kanalisationen werden dafür sorgen, daß die Länder kein Geld mehr aus der Abwasserabgabe erhalten. Das hat die logische Konsequenz, daß die Kommunen, die dieses Geld dringend für Bezuschussungen brauchen, dieses nicht mehr bekommen. Das heißt, die Gemeinden werden für Investitionen im Kläranlagenbereich weniger Zuschüsse von den Ländern erhalten, und die Abwassergebühren werden dadurch weiter steigen.
Bei den Beratungen im Umweltausschuß über diesen Bericht werden wir über die Unglaubwürdigkeit und Unfähigkeit dieser Bundesregierung im Gewässerschutz und bei der Abwasserreinigung noch reden müssen.
({4})
Ich kann deshalb nur zum wiederholten Male an Sie appellieren, sich unsere Zielsetzung einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Dabei sind uns folgende Punkte wichtig:
Wir müssen gemeinsam mit den Ländern Regelungen im Abwasserabgabengesetz treffen, die den Verwaltungsvollzug vereinfachen und den Lenkungseffekt der Abgabe verstärken.
({5})
Die Initiative Bayerns, den Vollzug der dritten Reinigungsstufe auf das Jahr 2002 zu verschieben, ist
falsch. Die Anforderungen an die Abwasserreinigung
im Wasserhaushaltsgesetz und in der EU-Richtlinie dürfen nicht wegen der vom Bund mitverursachten Finanzprobleme der Gemeinden zurückgenommen werden. Vielmehr ist eine Gemeindefinanzreform längst überfällig.
Die Abwasserabgabe stellt für die einzelnen Gemeinden nur einen sehr kleinen Anteil an den die Gebühren beeinflussenden Kosten dar. Bei Wegfall der Abwasserabgabe insgesamt - ich habe das schon einmal gesagt - könnten die Länder wegen dieses fehlenden Aufkommens keine Zuschüsse mehr an die Gemeinden gewähren, was dort wiederum zu höheren Gebühren führen würde. In ländlichen Regionen - ich weiß, wovon ich rede; denn ich habe zwei Problemfälle in meinem Wahlkreis -, insbesondere in den neuen Bundesländern, müssen wir zu dezentralen, kostengünstigeren Abwasserreinigungsanlagen kommen, die denselben oder sogar ökologisch größeren Reinigungseffekt haben, aber die Gebühren und Beiträge in sozial verträglicher Höhe belassen.
Ebenfalls verhindert werden muß jede zusätzliche steuerliche Belastung der Abwasserentsorgung durch die von der Bundesregierung geplante Mehrwertsteuer, die zu einem weiteren nicht akzeptablen Gebührenanstieg führen würde. Die tatsächlichen und kalkulatorischen Kosten, die der Berechnung der Abwassergebühren zugrunde gelegt werden, müssen für die Bürgerinnen und Bürger offengelegt werden, damit sie durch Wassersparen, Regenwassernutzung und Abwasservermeidung die Höhe ihrer Abgaben mitbeeinflussen können. Grundsätzlich müssen wir die heutige Abwasserentsorgung auf mögliche Verbesserungen überprüfen.
Damit komme ich zum zweiten Beratungspunkt dieser Debatte, dem Bericht zur Technikfolgenabschätzung im Gewässerbereich. Der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag zum Grundwasserschutz und zur Wasserversorgung ist eine begrüßenswerte, gründliche wissenschaftliche Untersuchung der Gefährdungen des Grundwassers und damit auch der Trinkwasserversorgung.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei all denjenigen, die diesen Bericht erstellt haben, recht herzlich bedanken;
({6})
denn dieser Bericht zeigt die Defizite und Handlungsoptionen für einen vorsorgenden Grundwasserschutz insbesondere zur Reduktion der Nitrat- und Pflanzenschutzmittelbelastungen auf und beschreibt Vorsorgestrategien für einen flächendeckenden Grundwasserschutz.
Die Bundesregierung hat den Gewässerschutz in den letzten Jahren vernachlässigt, wie die steigende Nitratbelastung, die Belastung mit gefährlichen Chemikalien wie Pflanzenschutzmitteln und die zunehmende Grundwasserversauerung in den kalkarmen Mittelgebirgsregionen nur allzu deutlich zeigen. Ein vorsorgender Gewässerschutz muß sicherstellen, daß grundsätzlich jede mögliche Gewässerverschmutzung und Beeinträchtigung der Gewässer vermieden wird, um die Gewässer als Teil des Naturhaushaltes zu
schützen. Wir brauchen nämlich Trinkwasser, das möglichst nichtaufbereitet getrunken werden kann. Dies sind wir unseren Kindern schuldig.
Ein nur auf das Medium Wasser bezogener Umweltschutz führt nicht zu einem vorsorgenden Gewässerschutz. Dieser kann nicht nur durch allgemeine begrenzte Schadstoffeinleitungen erreicht werden. Insbesondere die Einträge über die Luft, wie Stickstoff, Schwefeldioxid und Ammoniak aus Verkehr und Landwirtschaft, zeigen, daß ein flächendeckender Gewässerschutz nur unter Einbeziehung der Luftreinhaltung und des Bodenschutzes wirksam sein wird. Es gilt, ein abgestimmtes System von Grenzwerten und Qualitätszielen festzusetzen, das auf wissenschaftlich begründeten ökologischen und toxischen Belastungsgrenzen auch der empfindlichsten, besonders schützenswerten Mitmenschen, nämlich der Säuglinge und Kleinkinder, basiert. Wir brauchen ein umfassendes Grundwasser- und Gewässerschutzprogramm, das Gewässerschutzanforderungen in die Politikbereiche Landwirtschaft, Verkehr, Bau, Wirtschaft und auch Forschung integriert.
Auf europäischer und internationaler Ebene ist dies ebenfalls erforderlich. Aber die Europäische Kommission hat trotz mehrerer Aufforderungen bis heute kein Grundwasserschutzkonzept vorgelegt. Das liegt sicher auch daran, daß die Bundesrepublik Deutschland bis jetzt keine umfassenden und verläßlichen Daten an die EU geliefert hat.
Eine internationale Gewässerschutzkonvention gibt es ebenfalls noch nicht, obwohl in der Agenda 21 des Rio-Gipfels wichtige Gewässerschutzmaßnahmen vereinbart worden sind. Auch deshalb bringen wir erneut unseren Antrag zum vorsorgenden Gewässer- und Trinkwasserschutz in der EU ein.
Auf europäischer Ebene werden zur Zeit die Weichen in Richtung „Rückschritt im Gewässerschutz" gestellt. In der Pflanzenschutzzulassungsrichtlinie hat der Agrarministerrat die Möglichkeit eröffnet, daß grundwasserbelastende Pflanzenschutzmittel weiterhin bzw. wieder zugelassen werden. Dies steht im Widerspruch zum verpflichtenden Grundwasserschutz, der in der Pflanzenschutzmittel-Inverkehrbringungsrichtlinie festgeschrieben wurde. Es widerspricht auch der EG-Trinkwasserrichtlinie, die mit dem Vorsorgegrenzwert von 0,1 Mikrogramm Pestizide pro Liter eine Belastung des Grundwassers mit Pestiziden verbietet.
Die Regierung beteuert immer wieder ihr Bestreben, die nationalen Standards zu erhalten. Wie sie dies angesichts des massiven Wettbewerbs gerade im Bereich der Landwirtschaft auf EU-Ebene halten will, sagt sie uns aber geflissentlich nicht. Es wäre deshalb mehr als ein symbolischer Akt gewesen, wenn der Herr Bundeskanzler als amtierender FU-Ratspräsident der Klage des Europäischen Parlaments vor dem Europäischen Gerichtshof beigetreten wäre.
({7})
Der Vorsorgegrenzwert für Pestizide droht auch über eine Änderung der EG-Trinkwasserrichtlinie ausgehebelt zu werden. Die Europäische Kommission hat zwar in ihrem kürzlich beschlossenen Änderungsvorschlag für die Trinkwasserrichtlinie die Beibehal978
tung des Grenzwertes beschlossen, in einer Note wurde aber die Überprüfung des Grenzwertes für einzelne Pestizide durch die Kommission in Aussicht gestellt. Dies muß verhindert werden, da eine Aufhebung dieses Grenzwertes eine Abkehr vom Vorsorgeprinzip wäre und einen flächendeckenden Grundwasserschutz unmöglich machen würde. Nicht akzeptable gesundheitliche Risiken würden entstehen, und die Wasserwerke würden vor riesige Probleme gestellt. Ich möchte Sie ermutigen, den Bericht der Gelsenwasser zu Nordrhein-Westfalen zu lesen. Dort können Sie das dezidiert nachlesen.
Das Wissenschaftliche Komitee der Europäischen Kommission zur Bewertung der toxischen und ökologischen Gefährlichkeit chemischer Wirkstoffe hat sich in einer Stellungnahme zur Änderung der EG-Trinkwasserrichtlinie für eine Beibehaltung des Vorsorgegrenzwertes von 0,1 Mikrogramm ausgesprochen. Die von der chemischen Industrie und der Landwirtschaft geforderten höheren Einzelgrenzwerte entsprechend den WHO-Empfehlungen für Wassernotstandsgebiete wurden für Europa als nicht sicher genug abgelehnt. Da die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirkung einzelner Wirkstoffe, deren Abbauprodukte und das Zusammenwirken mit anderen Stoffen noch sehr lückenhaft sind, wäre es unverantwortlich, Pestizide ins Grundwasser gelangen zu lassen.
Wir brauchen schnelle Verbote aller grundwasserbelastenden Wirkstoffe und ein einheitliches europäisches Grundwasserschutzprogramm, das die Belastung mit Nitraten und Pestiziden und die Grundwasserversauerung mit wirksamen Maßnahmen in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bekämpft.
Ich hoffe, daß wir in den nächsten Wochen auf diesem Gebiet parteiübergreifend die notwendigen Entscheidungen treffen. Der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung kann uns dafür viele Anregungen geben; denn unsere Bürgerinnen und Bürger werden es nicht verstehen, wenn ihre Wasser-und Abwassergebühren immer höher werden, die Qualität ihres Trinkwassers aber schlechter wird. Das Gegenteil sollte der Fall sein, und dazu ermutige ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
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Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Norbert Rieder.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über das Abwasserabgabengesetz, ein Gesetz, von dem wir alle wissen, daß es in seiner jetzigen Form noch keineswegs endgültig und für alle Zeiten ist.
({0})
Daß das bei diesem Gesetz allen Beteiligten von Anfang an klar war, wird auch dadurch deutlich, daß inzwischen vier Novellierungen des Gesetzes vorgenommen wurden und bei der letzten Novellierung bereits der eindeutige Auftrag erteilt wurde, eine ganz wesentliche neue Komponente, die Meßlösung, so
vorzubereiten, daß sie in absehbarer Zeit in den Gremien des Bundestages beraten werden kann.
({1})
Liebe Kollegin Kastner, das Interessante war ja, daß bei der Lesung der letzten Novellierung dieses Gesetzes der damalige Umweltminister des Saarlandes ausdrücklich bemängelt hat, daß wir diese Meßlösung nicht bereits in der vierten Novellierung vorgenommen hätten. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß da innerhalb der SPD die Informationsstränge nicht ganz so funktionieren, wie sie eigentlich funktionieren könnten. Das ist im Protokoll nachzulesen.
({2})
- Das kann natürlich sein.
Doch nun zum Bericht über das Abwasserabgabengesetz, der gefordert wurde, um an Hand der Erfahrungen der letzten Jahre die erkannten Fehlstellen, aber auch Fehleinschätzungen korrigieren zu können. Denn bei diesem Gesetz wurde schon sehr klar, daß man es mit vielen Unbekannten zu tun hat. Es war übrigens auch ein neuer Versuch, ein Einstieg in etwas, was wir in dieser Form noch nie probiert hatten.
Die erste Unbekannte war und ist wie immer: Wie schnell schaffen es die Länder, das Gesetz umzusetzen? Daß das nicht ganz so schnell funktioniert hat, wie viele sich erhofft haben, wissen wir inzwischen.
Zweitens. Wie sieht die Verwaltungspraxis aus? Sind Gesetz und Vollzug wirklich in jedem Punkt praktikabel? Auch das müssen wir uns jedesmal überlegen.
Drittens. Erreicht das Gesetz seine idealtypische Aufgabe, nämlich in diesem Fall die, die Wasserqualität nachhaltig zu verbessern, oder dient es nur als Alibifunktion oder als Geldschöpfungsmaschine für die Länder, nämlich dann, wenn zwar fleißig Abwasserabgaben bezahlt werden, aber keine Maßnahmen zur Verbesserung der Abwasserqualität getroffen werden? - Es gibt übrigens einige Bundesländer, die nicht unionsgeführt sind, wo genau das passiert ist.
Viertens. Wie weit werden Innovationen im Abwasserbereich angeregt, und wie kommen diese neuen Techniken dann auf dem Markt an? Setzen sie sich durch? Sind es echte Innovationen?
Fünftens. Wie muß der Zeithorizont gestaltet sein, um nicht nur nachsorgenden Umweltschutz mit Endof-the-pipe-Technologien anzuregen, sondern die Produktionsprozesse so zu beeinflussen - das ist etwas ganz Wichtiges -, daß möglichst wenig umweltbelastende Produkte und Abfälle entstehen?
Sechstens. Gelingt es mit dem Gesetz, nicht nur das eigentliche Zielobjekt, also die Oberflächengewässer, günstig zu beeinflussen, sondern auch andere benachbarte Bereiche, etwa das Grundwasser, positiv oder zumindest nicht negativ zu beeinflussen? Mit einem Verschiebebahnhof, den es ja häufig genug auch im Umweltbereich gibt, ist niemandem gedient.
Zu einigen dieser Fragen lassen sich jetzt noch keine abschließenden Urteile abgeben, wie die teilweise sehr weit auseinanderliegenden Ländermeinungen sehr deutlich zeigen. Dies gilt besonders für die Regelungen der dritten und vierten Novelle, die einfach so kurz zurückliegen, daß eine abschließende einheitliche Beurteilung nur zum Teil möglich ist.
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- Richtig, deswegen wissen wir jetzt etwas mehr.
Generell läßt sich aber sagen, daß die bisherigen Regelungen keineswegs so danebenliegen, daß man sagen müßte, das Gesetzeswerk insgesamt sei falsch angelegt. Im Gegenteil! Dies zeigt sich auch draußen in der Natur. Denn die Wasserqualität zumindest unserer Fließgewässer hat sich in den letzten Jahren so deutlich verbessert, daß man zugeben muß, daß ein sehr ehrgeiziges Programm bundesweit durchgezogen wurde.
({4})
Daß wir das Erreichte noch nicht als endgültig bezeichnen können, daß wir noch nicht mit dem zufrieden sein können, was wir erreicht haben, hat Herr Staatssekretär Klinkert in aller Deutlichkeit gesagt.
Das soeben Gesagte - die Verbesserung der Gewässer, die sich deutlich feststellen läßt - gilt übrigens, wenn auch mit entsprechender Zeitverzögerung, ebenfalls für die neuen Bundesländer. Allerdings muß man ganz offen zugeben, daß aus den bisher vorliegenden Daten nicht zu erkennen ist, welcher Anteil an der verbesserten Wasserqualität dem klassischen Ordnungsrecht - etwa im Wasserhaushaltgesetz -, welcher dem Abwasserabgabengesetz und welcher dem allgemein gestiegenen Wissen und dem Bemühen um eine Verbesserung der Umwelt zu verdanken ist. Auch der letzte Faktor, der nicht direkt gemessen werden kann, hat zusammen mit der berechtigten Erwartung oder auch Befürchtung - je nach Standpunkt -, daß der Umweltverbrauch in Zukunft auf keinen Fall billiger, sondern eher viel teurer werden wird, zu einer beachtlichen Zahl von Investitionsentscheidungen geführt, die nur begrüßt werden können.
Insgesamt werden wir uns bei den weiteren Beratungen auf drei Schwerpunkte konzentrieren müssen.
Erstens. Wie sieht die ideale Zeitschiene für die weitere Verbesserung unserer Gewässer aus? Welchen Anteil daran können technische Maßnahmen und Maßnahmen der Renaturierung und damit der Verbesserung der Selbstreinigungskraft leisten?
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Hier könnte man übrigens überlegen, ob es nicht sinnvoll sein könnte, auch Renaturierungsmaßnahmen durch eine Verrechnungsmöglichkeit mit der Abwasserabgabe anzuregen oder zu fördern.
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- Das können wir in den Ausschüssen sehr ausführlich und vernünftig diskutieren.
Zweitens. Ganz sicher müssen wir in dieser Legislaturperiode die sogenannte Meßlösung angehen, also das Verfahren, nach dem nur das bezahlt wird - belegt durch entsprechende Meßverfahren -, was wirklich eingeleitet wird. Dies wird sicher eine ausführliche Diskussion erfordern, denn die Ausgestaltung der Meßlösung wird nicht einfach werden. Ich erinnere nur daran, daß der Verrechnungsschlüssel nicht nur die Konzentration oder die Gesamtmenge, also die Fracht der Schadstoffe, berücksichtigen muß, sondern beides, da sowohl die Fracht als auch die Spitzenkonzentration auf die Gewässerbiologie wirken.
Drittens schließlich müssen wir - da ist eine denkbare Lösung sehr eng mit den technischen Möglichkeiten, die bei der Meßlösung ausgelotet und entwikkelt werden müssen, gekoppelt - sehr genau die Möglichkeit der Überwälzung der Abgabe auf die Indirekteinleiter, also die eigentlichen Erzeuger der Schadstoffe, prüfen, eine Sache, die in den früheren Diskussionen immer wieder aufgekommen ist, mangels praktikabler Meßverfahren aber nie zum Zuge kam.
Wir werden diese Diskussion aber nur dann zu einem guten Ende führen können, wenn es uns gelingt, wenigstens in diesem Bereich eine ideologiefreie Diskussion zu führen.
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Obwohl die Meinung der Bundesländer, unabhängig übrigens von der jeweiligen Regierung, bisher sehr heterogen bis - leider Gottes - diffus ist, hoffe ich sehr darauf, daß das gelingen kann. An uns jedenfalls soll es nicht liegen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat Kollege Dr. Jürgen Rochlitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offenbar Schicksal oder - eher noch - Absicht, wenn scheinbar trockene Umweltdebatten in die beinahe journalistenfreien und abgeordnetenarmen Abendzeiten verlegt werden.
({0})
Dies darf nicht zur Dauerregel werden.
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Jetzt hat es ausgerechnet das Abwasserabgabengesetz getroffen. Das ist besonders schade, weil damit die Debatte über die einzige bundesweit akzeptierte Lenkungsabgabe - im Volksmund „Ökosteuer" genannt - vor ziemlich leeren Bänken stattfindet und die Ökosteuerspezialisten von Joschka Fischer bis Wolfgang Schäuble schon zu Hause sind.
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Das Abwasserabgabengesetz hat beinahe naturgemäß eine positive und eine negative Seite. Die positive Seite geht auf Willy Brandt und Helmut Schmidt zurück. Ich möchte heute nicht dem von mir sehr geschätzten Willy Brandt unterstellen, daß er außer dem blauen Himmel über dem Ruhrgebiet auch noch den durchsichtigen sauberen Rhein als Ziel sah. Aber immerhin ist es ihm und seiner sozialliberalen Koalition gelungen, mit diesem Gesetz eine neue umweltpolitische Dimension zu eröffnen:
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Neben ordnungspolitische Verbote und Einschränkungen wurde der ökonomische Anreiz gestellt.
Meine Damen und Herren, das Abwasserabgabengesetz - das ist schon ausgeführt worden - ist ein auf Bundesebene bisher einzigartiges und einmaliges Lenkungs- und Steuerungsinstrument. Es entspricht und entspringt dem Leitbild einer ökonomischen Abgabe, die konsequent der Marktsteuerung der Gewässergüte dient. Da spricht alle Welt und auch die Bundesregierung im Chor - ob Lippenbekenntnisse oder nicht - von Preisen für knappe Umweltgüter über Ökosteuern. Die ökologische Wahrheit wird herangezogen.
Auf dem Gebiet der Wasserreinhaltung könnte die Bundesregierung bereits über ein gleichartiges Instrument verfügen, würde es von der Koalition nicht von Novelle zu Novelle total verwässert.
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Dazu müßte sie jedoch eher den Empfehlungen des Sachverständigenrats im Umweltgutachten 1994 und weniger den Kungelverhandlungen mit der Industrie folgen. Dann würden die Abgabensätze nicht gesenkt werden, wie dies durch die letzte Novelle mit der Begründung der deutschen Einheit und der Standortdebatte geschah. Seltsam genug mutet es an, wenn gerade angesichts des erbärmlichen Zustands der ostdeutschen Gewässer und der damit verbundenen Aufgabe die Gebührensätze nicht erhöht, sondern - im Gegenteil - noch gesenkt werden.
Gerade wegen der deutschen Einheit und der damit verbundenen Sanierungen, gerade wegen der Qualität des Standorts Deutschland, die auch an der Qualität von Boden, Luft und Wasser gemessen wird, ist nicht die Verwässerung, sondern eine konsequente Verbesserung des Abwasserabgabengesetzes notwendig.
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Das kann aber nur gelingen, wenn der Gerechtigkeit halber und gemäß dem Verursacherprinzip auch die Indirekteinleiter den ökonomischen Anreiz zur Schadstoffvermeidung zu spüren bekommen: über eine Indirekteinleiterabgabe, wie sie auch vom Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut an der Universität zu Köln befürwortet wird, nachzulesen im Bericht der Bundesregierung.
Die negative Seite des Gesetzes ist eine Folge der ersten Phase des Umweltschutzes und einer Umweltpolitik, die allein auf nachgeschaltete Reinigungsstufen wie Kläranlagen oder Filter setzte. Diese Schwäche des Gesetzes, die zu immer weiteren nachgeschalteten Reinigungsstufen mit immer weiter ansteigenden Kosten für Bürger und Betriebe führte und führen mußte, gilt es endlich zu brechen. Statt nachgeschalteter Reinigungsanlagen im Sinne der End-of-thepipe-Technik brauchen wir endlich flächendeckende Maßnahmen zur Veränderung von Produkten und Produktionen, in deren Gefolge weniger Abwasser anfällt und weniger Abwasserbehandlung nötig ist. Das bedeutet aber auch, daß Investitionen zum Produkt- und produktionsintegrierten Umweltschutz auf die Abwasserabgaben anrechenbar sein müssen. Wir haben heute die große Chance, endlich einmal Umweltpolitik machen zu können, ohne daß uns ein Brand bei Sandoz und die daraus folgende Gewässervergiftung dazu zwingt und ohne daß uns die erhöhte Nährstoffbelastung durch ein Robbensterben bewußt gemacht worden ist.
Sie wollen doch sicher nicht so lange warten, bis beim nächsten Jahrhunderthochwasser - das, wie wir gerade lernen müssen, in Abständen von wenigen Jahren oder gar Monaten kommen kann - gefährliche, toxische Stoffe in den Untergrund und das Grundwasser von Trinkwasserschutzgebieten eindringen können. Sie wollen doch sicher nicht so lange warten, bis uns die Natur zwingt, so zu handeln, wie wir es heute vorschlagen.
Meine Damen und Herren, Ziel der konsequenten Umsetzung aller abwasserrechtlichen und produk - tionsintegrierten - also schadstoffvermeidenden - Maßnahmen muß letztlich eine Vision sein: die Vision einer Gewässergüte, die im Jahre 2000 wieder ein bedenkenloses Baden in den großen deutschen Flüssen erlaubt,
({6})
und zwar ohne dermatologisch-toxikologische Gesundheitsgefahren befürchten zu müssen.
Diese Vision steht in vollem Einklang mit dem von allen zuständigen Ministern der Rheinanliegerstaaten unterstützten „Aktionsprogramm Rhein" für das Jahr 2000. Danach soll - erstens - das Ökosystem des Rheins so verbessert werden, daß die natürlicherweise im Rhein vorkommenden Arten, beispielsweise der Lachs, dort wieder heimisch werden, und - zweitens - die Nutzung des Rheinwassers für die Trinkwasserversorgung weiterhin gewährleistet sein.
Wir fügen ausdrücklich hinzu: Diese Ziele müssen für alle Flüsse in West, Ost, Süd und Nord gelten. Ab dem Jahre 2000 müssen die Menschen wieder in den Flüssen baden können. Erst dann haben wir die durch keinerlei Recht zu begründende Selbstverständlichkeit, unbelastetes Wasser einfach zu nutzen und noch einfacher flußabwärts verschmutzt wieder einleiten zu dürfen, wirkungsvoll eingedämmt. Künftig muß es selbstverständlich sein, daß der Wassernutzer sein verschmutztes Wasser selbst nutzt. Alles andere als der Kreislauf des Wassers muß unzulässig sein - endgültig!
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Meine Damen und Herren, wir Bündnisgrünen fordern Sie auf, unserem Antrag zuzustimmen. Die
Umweltministerin, die leider auch heute abend wieder einmal fehlt,
({8})
fordern wir ganz persönlich auf, den Inhalt des Antrags umzusetzen, damit sie selbst schon bald den Rhein, wie weiland Dr. Töpfer, ohne Taucheranzug durchschwimmen kann.
Danke schön.
({9})
Es besteht kein Grund zur Erregung. Der Kollege Rochlitz hat ja auch noch andere aufgezählt, die nicht da sind.
({0})
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. teilt die Auffassung der Bundesregierung, daß sich das Abwasserabgabengesetz bewährt hat.
({0})
Insofern sind wir uns - soweit ich das heute gehört habe - einig. Mit diesem ökonomischen Lenkungsinstrument erreichen wir umweltpolitische Zielsetzungen.
({1})
Durch das Zusammenspiel von Wasserhaushaltsgesetz und Abwasserabgabengesetz wurden Gewässerschutzinvestitionen forciert. Die Abwasservermeidungstechnik wurde gefördert. Die Zellstoffindustrie z. B. wurde zum Umstieg auf die chlorfreie Bleiche angeregt. Überall wurden und werden Investitionen in die Nährstoffelimination getätigt.
Allerdings führt die Stickstoffeliminierung für die Kommunen zu höheren finanziellen Belastungen und steigenden Gebühren. Vor allem die vielerorts nötige Sanierung der Kanalisation verschärft die Situation. Mit der letzten Novelle des Abwasserabgabengesetzes haben wir die Kommunen allerdings erheblich entlastet, indem Investitionen in die Sammlerkanäle jetzt mit der Abwasserabgabe verrechnet werden können. Das ist ein deutlicher Fortschritt für die Kommunen. Man sollte das einmal wahrnehmen.
Es reicht allerdings nicht. Die F.D.P. fordert eine umfassende Initiative zur Gebührensenkung. Die Bundesregierung hat dazu Gespräche mit Ländern und Kommunen geführt. Jetzt müssen rasch konkrete Maßnahmen getroffen werden. Dazu brauchen wir nach meiner Einschätzung vor allen Dingen eine Privatisierungswelle. Wir müssen privates Kapital sowie das technische und betriebswirtschaftliche Know-how der Privatwirtschaft nutzen. Wir brauchen einen Preiswettbewerb bei der Ausschreibung der Betreiberverträge. Zwischenzeitlich gibt es viele
Kommunen, die bewiesen haben, daß es so wirtschaftlicher geht.
({2})
Die F.D.P. hat in der Koalitionsvereinbarung die Aufhebung der steuerlichen Privilegierung der hoheitlichen Abwasserbetriebe durchgesetzt.
({3})
Es ist nicht einsehbar, warum Betreiber privater Anlagen der Mehrwertsteuerpflicht unterliegen, die öffentlich-rechtlichen Anlagen aber nicht. Wir haben diese Forderungen seit langer Zeit erhoben. Ich bin der Überzeugung, daß, wenn die Kommunen diesen Weg gehen, das Ergebnis eine ökologisch und ökonomisch effizientere Abwasserbeseitigung sein wird.
({4})
Die F.D.P. will das Abwasserabgabenrecht - auch darüber ist heute abend schon gesprochen worden - weiterentwickeln. Wir wollen die Abgabe verursachergerechter ausgestalten. Die Abwasserabgabe soll nicht mehr auf Grund der genehmigten, sondern auf Grund der tatsächlich gemessenen Einleitungen erhoben werden. Das ist gerechter und regt zu einer sorgfältigeren Anlagenfiihrung an.
({5})
- Frau Kollegin Kastner, ich finde diese Lösung bestechend, auch wenn ich keinerlei Provision für irgendwelche technischen Zusätze, die man dafür braucht, bekomme.
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Wir müssen auch Wege für eine Vereinfachung des Vollzugs entwickeln. Wir müssen in der Tat überlegen, wie wir die bisherige Privilegierung der Indirekteinleiter beseitigen.
Wir wissen, daß die zu rasche Folge der Novellierungen auch Vollzugsprobleme verursacht.
({7})
Dabei muß aber auch erwähnt werden, Frau Kollegin Kastner, daß die letzte Novelle von den Ländern selbst durch eine Bundesratsinitiative angestoßen wurde.
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Es ist deshalb richtig, daß sich die Bundesregierung Zeit für eine gründliche Vorbereitung der neu anzugehenden Punkte nehmen will.
Unsere Flüsse sind der Beweis für die erfolgreiche Gewässerschutzpolitik. Im Rhein haben wir teilweise spektakuläre Schadstoffverringerungen. Die Artenvielfalt hat sich gegenüber den 70er Jahren verfünf facht. Auch in der Elbe zeigen sich Fortschritte. Die neuen Kläranlagen im Einzugsbereich der Elbe und nicht nur die Schließung alter Industrieanlagen sind dafür ursächlich.
({9})
Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Der unverändert hohe Stickstoffgehalt in der Nordsee verdeutlicht den Handlungsbedarf. Das gilt besonders für den Schutz des Grundwassers. Das Büro für Technikfolgenabschätzung weist in seinem Bericht darauf hin. 70 % des Trinkwassers holen wir aus Grundwasser. Ohne zusätzliche Vorsorgemaßnahmen werden die Stickstoffbilanzüberschüsse auf dem heutigen hohen Niveau bleiben.
Die in den letzten Jahren etablierten Modelle zur Kooperation zwischen Trinkwasserversorgern und Landwirtschaft haben Erfolg. Ich meine, wir müssen sie ausbauen. Aber das genügt nicht, schon deshalb nicht, weil das Grundwasser auch außerhalb der Trinkwasserschutzzonen schutzbedürftig ist.
({10})
Deshalb muß die Düngeverordnung endlich vorgelegt werden. Die EG-Nitratrichtlinie müßte seit einem Jahr umgesetzt sein. Die Bundesregierung - das möchte ich hier ganz deutlich sagen - darf dieses wichtige Instrument zur Verringerung der Stickstoffbilanzüberschüsse nicht länger hinauszögern.
Ich fordere hier vor allen Dingen den Landwirtschaftsminister auf, endlich dafür zu sorgen, daß eine mehrheitsfähige Vorlage gemacht wird.
({11})
Ebenso wichtig ist der Hinweis des TAB-Berichts auf die enge Verknüpfung von Bodenschutz und Grundwasserschutz, von Altlastensanierung und Grundwassersanierung. Die F.D.P. setzt sich für die baldige Vorlage des Bodenschutzgesetzes ein. Dabei wird es meines Erachtens wichtig sein, Grundwasser- und Altlastensanierung sinnvoll zu verknüpfen.
Die Überlegungen der Kommission in Brüssel über neue Anforderungen an die Trinkwasserqualität haben viele mit Sorge beobachtet. Jetzt liegt ein Entwurf vor, der auch von den Trinkwasserversorgern positiv gewürdigt wird. Damit wird auch in Zukunft ein einheitlicher Schutz des „Lebensmittels Nr. 1" garantiert. Die Bundesregierung muß sich in den nun folgenden Ministerratsverhandlungen dafür einsetzen, daß dieser Entwurf nicht verschlechtert wird. Die Unterstützung der F.D.P. wird ihr dabei sicher sein.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Bericht der Bundesregierung wird festgestellt, daß die Auswirkungen der 2. und 3. Novelle zum Abwasserabgabengesetz im Moment schwer abzuschätzen sind. Unsere Gruppe ist der Auffassung, daß diese Novellierungen dazu beigetragen haben, die Nutzung von natürlichen Ressourcen sinnvoll zu verteuern. Allerdings ist es mit der 4. Novelle wieder billiger, eine Abwasserabgabe zu zahlen, als die Verschmutzung der Abwässer notwendigerweise zu vermeiden. Das Einfrieren der Abgabe auf 70 DM pro Schadstoffeinheit an Stelle einer schrittweisen Steigerung dieses Beitrages war ein Kniefall vor den Interessen der Hauptverschmutzer. Die erste Ökosteuer der Bundesrepublik wurde damit in ihren gewässerökologischen Lenkungseffekten beschnitten.
Eine starke Unternehmenslobby dürfte auch hinter der erweiterten Möglichkeiten zur Verrechnung der Abwasserabgabe mit Investitionen in diesem Bereich stecken. An Stelle von Anreizen zur Vermeidung von Schadstoffeinleitungen werden dadurch Anreize für immer ausgefeiltere Klärwerkstechniken geschaffen. Wenn mit dieser Verrechnungsmöglichkeit überhaupt Lenkungseffekte erzielt werden, dann vor allem in die Richtung der bereits oft zitierten End-of -pipe-Philosophie. Die Vertreter der Ausrüstungs- und Baubranche stoßen sich nebenbei an den milliardenschweren Umweltreparaturaufträgen gesund.
Die gegenwärtige Regelung der Abwasserabgabe hat noch einen weiteren Konstruktionsfehler. Durch die neue Möglichkeit der Verrechnung mit Investitionen in Hauptsammlern werden letztlich lange Oberleitungen subventioniert. Damit wird einer Entwicklung Vorschub geleistet, die in den neuen Ländern gegenwärtig ihren dramatischen Höhepunkt findet: die ökonomisch und ökologisch unsinnige Zentralisierung von Abwasseranlagen in dünnbesiedelten Gebieten.
In vielen Gemeinden und Zweckverbänden wird ein Fetzen Toilettenpapier aus einer Siedlung mit knapp 100 Einwohnern über mehr als 20 km durch Druckleitungen gepreßt. Dort angekommen, dümpeln die Exkremente nicht selten recht einsam in einer hypermodernen Kläranlage vor sich hin. Damit die Biologie in den meist überdimensionierten Klärbekken nicht zusammenbricht, muß teilweise Frischwasser in die Anlagen gepumpt oder angestaut werden. Während in dünnbesiedelten ländlichen Gebieten Niedersachsens herkömmliche, gegebenenfalls belüftete Klärteiche die Abwässer nach allgemein anerkannten Regeln der Technik naturnah reinigen, werden in noch dünner besiedelten Regionen Brandenburgs gigantische Anlagen in die Landschaft gerammt, an denen kilometerlange Überleitungen hängen.
Neben dem ökonomischen Desaster dieser Entwicklung haben die Edelkläranlagen paradoxerweise oft noch eine negative ökologische Gesamtbilanz. Dies betrifft den enormen Material- und Energieverbrauch genauso wie die Zerstörung von regionalen Wasserkreisläufen.
Zentralismus plus Verschwendung von Ressourcen - vom Realsozialismus unterscheidet sich diese Politik nur dadurch, daß die finanziellen Folgen nicht vergesellschaftet, sondern kraft der Kommunalabgabengesetze unmittelbar den Bürgern der betroffenen Gebiete aufgebürdet werden. So steigen beispielsweise die Abwassergebühren im Brandenburger Großkreis Barnim auf sage und schreibe 30 DM pro Kubikmeter. Zum Vergleich: Westdeutsche Haushalte zahlen im Durchschnitt ein Zehntel dessen. Der Abwasserverband argumentiert zynisch: Die Leute verbrauchen einfach zuwenig Wasser. Darüber hinWolfgang Bierstedt
aus stehen den Grundstückseigentümern horrende Anschlußbeiträge ins Haus, in Sachsen-Anhalt im Einzelfall von über 60 000 DM.
Aus diesen Gründen spielt die Höhe der Abwasserabgabe für die Abwasserproduzenten in den neuen Bundesländern kaum eine Rolle. Während im Bundestag bald die fünfte Novelle des Abwasserabgabengesetzes verhandelt wird, stehen ostdeutsche Haushalte vor einer kalten Enteignung.
Die Fehlplanungen wurden von einer ideologisierten ordnungspolitischen Kampagne massiv befördert. Der Einigungsvertrag sah eine Kommunalisierung der DDR-Wasser- und Abwasserbetriebe vor. Es hätte also die reale Chance bestanden, das ganze Geschäft auf große Zweckverbände zu übertragen, die wiederum die reformierten ehemaligen DDR-Wasser- und Abwasserbetriebe mit der Aufgabenerfüllung beauftragen. Alternativ dazu hätten sie auch Anteile an diesen Gesellschaften übernehmen können.
Statt dessen wurde von der Bundesregierung und den Landesregierungen die Zerschlagung dieser Unternehmen propagiert. Während in den vom Bundesumweltministerium herausgegebenen Informationsbroschüren noch alle Organisationsformen offengehalten wurden, zogen Vertreter von Bund und Ländern Hand in Hand mit Bau- und Ausrüstungsfirmen mit einer Unzahl sogenannter Informationsveranstaltungen für Kommunalpolitiker durch die neuen Länder. Die Nachfolgeunternehmen der DDR-Wasser- und Abwasserbetriebe wurden als Überbleibsel des Sozialismus gegeißelt, die es auszumerzen galt.
Als Ergebnis dessen haben wir heute eine Ansammlung unrentabler kleiner und kleinster Zweckverbände mit entsprechend vielen Geschäftsführungen. Daß man bei jedem Zug an der Spülkette oder jedem Druck auf den Knopf 1 DM für den Geschäftsführer bezahlt, mag eventuell noch zu verkraften sein. Aber leider saß gerade in der Anfangsphase, als über diese Millioneninvestitionen entschieden wurde, in den Chefsesseln vieler dieser neuen kommunalen Miniunternehmen mehr der gute Wille als die Qualifikation.
({0})
So war es für die Bau- und Ausrüstungsfirmen sowie für schlitzohrige Planungsbüros, die laut Honorarordnung für Architekten und Ingenieure nach Prozenten der Bruttobausumme bezahlt werden müssen, ein Leichtes, den Kommunen die oben genannten Mercedes-Lösungen aufzuschwatzen. Parallel dazu werden die Kommunalvertreter noch heute -
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit schon ein Stück überschritten.
({0}) [CDU/CSU]:
Es hört ja doch keiner mehr zu, Herr Präsident!)
Ich finde es außerordentlich nett, daß Sie bemerkt haben, daß ich am Ende meiner Rede war. Also haben Sie doch zugehört.
Vielleicht noch einen Satz zum TA-Bericht, nur kurz: Leider sind dieser wichtigen Institution im neuen
Haushaltsjahr deutliche Mittelbegrenzungen auferlegt worden, was ich sehr bedauerlich finde.
Herr Kollege, wenn der Hinweis auf die Zeit kommt, dürfen Sie noch einen letzten Satz sprechen und nicht einen letzten Absatz. Aber einen letzten Satz haben Sie noch.
Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen, Herr Klein, für diese nette Art bedanken. Danke schön.
({0})
Das ist Präsidentenpflege. - Ich erteile das Wort dem Kollegen Josef Hollerith.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich in das Plenum blicke, dann sehe ich viele leere Ränge, und ich muß gestehen, daß ich den Kolleginnen und Kollegen um 21.11 Uhr nicht verdenken kann, wenn sie anderes zu tun haben, als sich eine solche Debatte zu Gemüte zu führen.
({0})
Ich meine, daß wir gut beraten sind, wenn wir gemeinsam versuchen, eine Parlamentsreform zustande zu bringen, die die Parlamentsarbeit strafft, sie effektiver macht und uns allen mehr Kraft für Wesentliches gibt. Ich werde deshalb mit Genehmigung des Präsidenten meine Rede zu Protokoll geben*).
Herzlichen Dank.
({1})
Vom Präsidenten aus, Herr Kollege Hollerith, ist das natürlich mit Vergnügen genehmigt. Aber das muß das Plenum genehmigen. - Sind Sie einverstanden, daß wir die Rede zu Protokoll nehmen?
({0})
- Sepp, das Volk schreit nach dir.
Als nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Bodo Teichmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der auf Drucksache 12/8270, datiert vom 12. Juli 1994, vorliegende Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages zur Technikfolgenabschätzung betreffend Grundwasserschutz und Wasserversorgung wurde zwar im Auftrag des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschät-
*) Anlage 6
zung des Bundestages angefertigt, aber in seinem Werden durch die Kompetenz und das Engagement einer Vielzahl von Abgeordneten des vorgenannten Ausschusses, des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sachkundig und motiviert begleitet und mitgestaltet.
Ihnen und allen anderen, die an der Erarbeitung dieses Berichts beteiligt waren, möchte ich an dieser Stelle meinen uneingeschränkten Respekt und meine Anerkennung aussprechen und sie zu dieser fundierten Leistung ausdrücklich beglückwünschen.
({0})
Dieser Bericht stellt unter dem Aspekt des Grundwasserschutzes und der Gefährdung des Grundwassers und damit der Gefährdung der Trinkwasserversorgung eine ausgezeichnete Analyse der Situation in Deutschland dar. In einem der sechs Teilberichte wird zu meiner besonderen Freude ein Problem behandelt, das vorwiegend in den sogenannten neuen Bundesländern eine beträchtliche Rolle spielt, und zwar keine erfreuliche.
Ich meine die durch den Braunkohletagebau hervorgerufenen Grundwasserdefizite speziell im mitteldeutschen Bitterfelder Revier und dem Lausitzer Revier mit all ihren Folgeerscheinungen und dem dringenden Sanierungsbedarf. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, darf ich doch an dieser Stelle auf eine an sich paradoxe Situation hinweisen, die vorhin schon ganz kurz angesprochen worden ist. Die in den Braunkohletagebaugebieten der Lausitz abgepumpte Menge an Grundwasser bestimmt im wesentlichen den Wasserstand der vielen Wasserstraßen in dem herrlichen Spreewaldgebiet und bestimmt, ob Berlin wirklich an der Spree liegt oder im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen sitzt.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie, daß ich, einem der Teilberichte folgend, etwas näher auf die Problematik der Grundwassersanierung eingehe.
Ich hatte als Wissenschaftler an einem Forschungsinstitut in der DDR seinerzeit u. a. die Aufgabe, eine Stellungnahme zu den „Air Quality Guidelines" und den „Water Quality Guidelines" der Weltgesundheitsorganisation anzufertigen, einschließlich einer Einschätzung der Übertragbarkeit der dort empfohlenen Richtlinien und Maßnahmen auf DDR-Verhältnisse.
Ich erwähne das nicht, um damit zu zeigen, daß es auch in diesem Teil Deutschlands zumindestens Vorstellungen über die Sicherung bzw. Gewährleistung der Grund- und Trinkwasserqualität gab. Vielmehr verbindet sich mit dieser Stellungnahme für mich die Erinnerung an eine damals zeitgleiche Begebenheit, die nicht alltäglich, aber irgendwie charakteristisch war.
In dieser Zeit erhielten wir Telefonate und Briefe, praktisch Hilferufe, SOS-Rufe von Kreisgesundheitsbehörden bzw. Kreishygieneinspektionen, daß in bestimmten Regionen des sächsischen Erzgebirges das Trinkwasser, und zwar aus Grundwasser gewonnen, seit einiger Zeit zunehmend einen relativ hohen Arsengehalt aufwies. Wir wurden dringend um Vorschläge zur Abhilfe mit möglichst geringem Kostenaufwand ersucht, gipfelnd in der Anfrage, wie lange unter solchen Trinkwasserbedingungen die Latenzzeiten für bestimmte Krebserkrankungen beim Menschen seien und ob und wie man durch Zumischen von nichtkontaminiertem Trinkwasser, das durch Tankwagen herangeschafft werden sollte, diese Latenzzeiten möglichst verlängern könnte.
Damit will ich nicht gesagt haben, daß eine solche Situation nur in der DDR auftreten konnte. Der kleine Unterschied ist nur, daß im Gegensatz zu jener Zeit heute derartige Vorkommnisse, falls sie denn überhaupt auftreten sollten, nicht nur von den Medien aufgegriffen und publik gemacht würden, sondern auch in Parlamenten vorgebracht und diskutiert würden und die Verantwortlichen öffentlich Rede und Antwort stehen müßten und gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen würden.
So stehe ich hier und darf sagen: Der vorliegende Bericht weist auf Defizite hin, für die letztendlich die Bundesregierung eine große Verantwortung trägt.
({1})
Gleichzeitig muß festgestellt werden, daß Handlungsoptionen für den vorsorgenden Gewässerschutz und die Grundwassersanierung für die gesamte Bundesrepublik aus diesem Bericht abzuleiten sind, und zwar mit einem Komplex von Maßnahmen unter Einbeziehung wissenschaftlicher, technologisch-technischer, ökonomischer, finanzieller, ökologischer, juristischer, gesundheitspolitischer, verwaltungstechnischer und nicht zuletzt legislativer Komponenten.
Man könnte diese Aufzählung sicher noch erweitern, und zwar mit dem Ziel, Grundwasser- und Trinkwasserbelastungsquellen qualitativ und quantitativ maximal zu reduzieren und möglichst zu eliminieren.
Dabei kann es nicht nur darum gehen, z. B. den unkontrollierten und ungehemmten Eintrag von Dünger und Pflanzenschutzmitteln als Grundwassergefährdung ausschließlich punktuell anzugehen. Es müssen, wie u. a. in dem Bericht gefordert, umfassende Vorsorgestrategien entwickelt und umgesetzt werden, die den regionalen Spezifika entsprechend angemessenen und flächendeckenden Grundwasserschutz gewährleisten.
({2})
Neben den Gefährdungen des Grundwassers durch unsachgemäßen Umgang bei der Herstellung, der Verwendung und der Lagerung sowie beim Transport von schädlichen Stoffen und durch andere Formen anthropogenen Schadstoffeintrags, durch den Schadstoffeintrag aus Altlasten, Altablagerungen, Versickerungen aus undichten Kanalisationen usw. muß hier ausdrücklich auf die Gefährdung von Gewässern und Grundwasser durch unmittelbare oder mittelbare Schadstoffeintragung über die Luft hingewiesen werden.
Auch das macht deutlich, wie komplex vorsorgender Gewässerschutz und Grundwassersanierung sind
und angegangen werden müssen. Vorsorgender Gewässerschutz und Grundwassersanierung müssen sicherstellen, daß grundsätzlich jede vermeidbare Gewässerverschmutzung und Beeinträchtigung der Gewässer- bzw. Wasserqualität auch wirklich vermieden wird.
Die hier nur skizzierte Komplexität der Problemfelder erfordert ein komplexes Herangehen eines wie schon gesagt - flächendeckenden Grundwasserschutzes und einer flächendeckenden Grundwassersanierung unter Einbeziehung der Luftreinhaltung und des Bodenschutzes, was schon längst angemahnt wurde.
Damit ist die Forderung nach einem komplexen System von Sanierungs- und Präventionsmaßnahmen mehr als berechtigt, weil es besonders um den Schutz der Gesundheit der Menschen geht.
({3})
Dieser Auftrag, Reinhaltung und Sanierung unserer Grundwasserressourcen, kann jedoch nur sinnvoll durchgeführt werden, wenn das uns zur Verfügung stehende Wissen, die Sachkenntnis und Kompetenz aller involvierten Gebiete strategisch und den Gegebenheiten entsprechend eingesetzt wird.
An dieser Stelle spätestens muß die Verantwortung der Bundesregierung ansetzen - ich sage ganz bewußt „Bundesregierung" und nicht „Bundesministerium für Umwelt" -, entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, um damit zu einem umfassenden Grundwassersanierungsprogramm als Teil eines bundesweiten Grundwasserschutz- und Gewässerschutzprogramms zu kommen, in das alle relevanten Bereiche integriert sein müssen. Dieses Programm, das mehr als überfällig ist, könnte beispielgebend für die Europäische Union und darüber hinaus sein.
In diesem Zusammenhang mutet die eindeutig nach rückwärts gerichtete Diskussion über die Möglichkeit einer Anhebung des in Deutschland zulässigen Grenzwertes für Pestizide im Grundwasser wie Hohn an.
({4})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.
Einen Satz noch, Herr Präsident.
Die Bundesrepublik Deutschland besitzt mit ihrem geistigen und materiellen Potential alle Voraussetzungen, das hier angesprochene Problem Grundwassersanierung und Grundwasserreinhaltung der Zielstellung adäquat zu lösen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/8344 und 12/8270 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/305 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Bericht der Bundesregierung. Besteht damit Einverständnis des Hauses? - Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Robert Antretter, Wolf-Michael Catenhusen, Klaus Kirschner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwurf einer Bioethik-Konvention des Europarates
- Drucksache 13/321
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0})
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Robert Antretter.
Ich weiß, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, es wäre Ihnen allen lieber gewesen, wenn die Mitglieder des Europarats ihre Reden zu Protokoll gegeben hätten. Ich glaube aber, das läßt die Brisanz des Themas nicht zu.
Der Entwurf des Europarats für eine „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin" - so heißt er formell und korrekt - stellt einen der bedeutsamsten Konventionsentwürfe der vergangenen Jahre des Europarats dar. Er versucht, eine Weiterentwicklung des menschenrechtlichen Individualschutzes in den Anwendungsfeldern der modernen Wissenschaft auszudrücken, und er versucht, einen Kern von unantastbarem Recht des Menschen zu definieren.
Ich bin mir sicher, für alle deutschen Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist das Kriterium nach Art. 1 unseres Grundgesetzes, das Kriterium der Unantastbarkeit der Menschenwürde, entscheidend bei der Bewertung des gesamten Regelwerks.
Weil der Entwurf dem Schutz der Würde des Menschen nicht entspricht, hat ihn die Parlamentarische Versammlung des Europarats in einer ersten Debatte zur weiteren Überarbeitung an ihre Fachausschüsse zurückverwiesen und bei einzelnen seiner Bestimmungen grundlegende Veränderungen angemahnt, insbesondere bei den sogenannten fremdnützigen Eingriffen an geschäftsunfähigen Personen, also Eingriffen an Behinderten oder Entmündigten ohne deren Zustimmung, die in der Öffentlichkeit den Verdacht geweckt haben, daß durch diese Konvention
der Weg zu Menschenversuchen freigemacht werden könnte.
Auch andere Bestimmungen des Entwurfs haben die Kritik herausgefordert, z. B. die Zulässigkeit von Forschungen an Embryonen bis zum 14. Tag ihrer Entwicklung oder die Weitergabe von Gentests.
Nicht zuletzt durch die einmütige Ablehnung des Entwurfs durch die Parlamentarische Versammlung, die von allen damals vertretenen Fraktionen mitgetragen worden ist, zeichnet sich mittlerweile in der Tat ein Konsens ab, der unseren Vorstellungen zumindest in einigen Teilbereichen nahekommt. Damit sind aber unsere grundsätzlichen Bedenken gegen die ganze Anlage des Konventionsentwurfs nicht ausgeräumt.
Wir benötigen eine klare Grenzziehung zwischen dem, was wir - wir alle - ethisch verantworten können, dem, was wir brauchen, um das Wachstum der Wirtschaft nicht zu gefährden, und dem, was wir für verwerflich halten, weil es mit unseren grundlegenden Wertvorstellungen über die Menschenwürde nicht übereinstimmt. Dafür benötigen wir dringend eine längst überfällige öffentliche Diskussion und ganz vordringlich die Diskussion im Parlament. Darauf zielt unser Antrag.
({0})
Nur so können wir dem Vorwurf begegnen, daß die nationalen Parlamente bei diesen schwierigen Entscheidungen übergangen oder ausgeschaltet werden.
Übrigens, Zigtausende von Eingaben und Unterschriften, die in diesen Wochen bei unseren Kollegen vom Europarat, bei der Bundestagspräsidentin und den zuständigen Ministerien eingehen, belegen es ja auch: Die Wählerinnen und Wähler würden sich von uns im Stich gelassen fühlen, wenn wir hier nicht diskutieren würden, was sie und ihre Angehörigen in den nächsten Jahren erwarten könnte,
({1})
z. B. Gentests, wie sie kurz vor dem Einsatz stehen, bei sogenanntem übergeordnetem Interesse auch die Weitergabe von deren Ergebnissen ohne Rücksicht auf nationalen Datenschutz, Forschung an Bewußtlosen und manch anderes.
Daß die Definition zum Recht auf Menschenwürde oder die unterlassenen Definitionen zu den Begriffen „Mensch", „menschliches Wesen", „Identität des Menschen" oder „Person" die volle Aufmerksamkeit von uns Parlamentariern erfahren müssen, belegt beispielsweise Art. 24 der Erläuterungen der Konvention. Er gibt den Begriffen „Mensch" und „menschliches Wesen" eine für die Konvention gültige Auslegung. Danach soll darunter der Mensch als Individuum, aber auch der Mensch als Mitglied der menschlichen Spezies verstanden werden.
Dies, meine Damen und Herren und verehrten Kolleginnen und Kollegen, verkehrt den Menschenrechtsgedanken in sein Gegenteil; denn wenn wir zwischen Person und Mensch einen Unterschied machen, dann müssen wir doch ein Kriterium dafür
finden, wann der Mensch mehr ist als ein Mensch, nämlich Person.
({2})
Wenn wir z. B. sagen: Es ist das Bewußtsein, oder: Es ist die Interessenfähigkeit, es ist die Fähigkeit, seine Zukunft selbst zu bestimmen, dann sind das alles Kriterien, bei denen beispielsweise Säuglinge sofort herausfallen würden.
({3})
Natürlich können wir beispielsweise sagen, daß Menschsein ein Prozeß ist, daß nicht alles voll da ist, was mit dem Menschen gemeint ist, wenn er entsteht. Wir können sozusagen vom potentiellen Menschsein sprechen, wir können auch vom potentiellen Personensein sprechen, aber wir müssen Mensch und Person beisammen behalten und vor allen Dingen von Anfang an vom Menschen als Person sprechen
({4})
mit allen Rechten, die einer Person zukommen.
({5})
- Diesen Zwischenruf würde ich zumindest an meine Adresse nicht unbedingt als adäquat bezeichnen.
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Um welche Interessen geht es denn dabei, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen? Es geht um das Interesse, den Menschen in eine verfügbare Masse - das sind die Nichtpersonen - und in solche Leute zu spalten, die darüber verfügen können - das sind die Personen. Hier läßt Peter Singer grüßen.
Herr Kollege Antretter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, bitte,
Ich verhehle nicht, daß mir Ihre Ausführungen so gefallen haben, daß ich ihnen zustimme.
Würden Sie mir auch zustimmen in dem Argument - ich habe Ihre Antwort auf den Zwischenruf, der von hinten kam, nicht richtig verstanden -, daß Ihre Ausführungen auch für den noch nicht geborenen Menschen Geltung haben müssen?
Herr Kollege Geis, ich will Ihnen dazu zum einen sagen, daß wir zusammen in einem Buch unsere Haltung zum § 218 dargelegt haben, allerdings nicht in allen Fällen übereinstimmend, aber Sie kennen meine Haltung.
Zum anderen möchte ich Ihnen sagen, Herr Kollege, daß ich beide Themen für so komplex und so schwierig halte, daß ich meine, es sei nicht angebracht, jetzt, da wir versuchen, uns bei einem zu verständigen, das andere durch Zwischenrufe einzubeziehen,
({0})
wo uns noch eine schwierige Diskussion bevorsteht.
Lassen Sie mich bitte zu einem in diesem Zusammenhang immer wieder zu hörenden Argument kommen. Auch die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU im Europarat sind es mittlerweile leid - wie ich jedenfalls aus Gesprächen höre -, immer wieder mit dem Argument konfrontiert zu werden, daß wir hier in Europa eine Art Sonderrecht schaffen, das die Expansionsmöglichkeiten einer neuen Wachstumsbranche behindere mit der Folge, daß biotechnologische Anwendungen nur noch in den USA oder in Japan entwickelt würden.
Wir haben bereits eine Reihe von internationalen Kodizes wie die Erklärungen des Weltärztebundes von Helsinki aus dem Jahr 1964 oder die Erklärung von Tokio aus dem Jahr 1975. Weiterhin haben wir in Art. 7 des Internationalen Paktes über politische und bürgerliche Rechte der UN die Bestimmung, daß kein medizinischer Eingriff ohne die Einwilligung der betreffenden Person erfolgen darf.
Wir halten den Entwurf auch rechtstechnisch für revisionsbedürftig. Hier werden nämlich die unterschiedlichsten Regelungsbereiche in einen Rechtstext gepackt, wie z. B. Bestimmungen, die das Wohl des Patienten regeln, Einschränkungen bei der medizinischen Forschung an Embryonen oder die Weitergabe von genetischen Tests. Hier sehen wir die erhebliche Gefahr, daß einzelne Mitgliedstaaten zu einzelnen Bestimmungen ihre Vorbehalte einlegen und wir am Ende wiederum eine Konvention erhalten, die in ihrem europaweiten Regelungsgehalt völlig entwertet sein wird.
Ich bitte Sie abschließend, auch unter diesem Aspekt unserem Antrag zuzustimmen, weil ansonsten diese Konvention - noch handelt es sich ja um einen Entwurf - der erste Völkerrechtsvertrag wäre, der zwischen Interessengruppen ohne Parlament ausgekungelt wurde, der den normalen Rechtsweg ausschließt, beispielsweise wenn der Bürger bei Verletzung seiner Rechte diese Rechte geltend machen will. Die Konvention soll ein völkerrechtlicher Vertrag sein, aber die gewählten Parlamente haben bisher nicht daran mitgewirkt, sondern scharenweise - ich sage: auch dankenswerterweise, aber dies darf nicht ausschließlich sein Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, die Ministerialbürokratie und Forschungsverbände, die jedoch samt und sonders kein Mandat haben.
Deshalb: Bitte stimmen Sie diesem Vertrag zu, damit er nicht verbindlich wird, bevor der Deutsche Bundestag darüber beraten hat!
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Peter Altmaier, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung der Bio- und Gentechnologie erlaubt uns heute, Krankheiten zu erkennen oder zu heilen, die früher hingenommen werden mußten. Viele Menschen, denen wir heute
noch nicht helfen können, setzen große Hoffnungen auf weitere Fortschritte in diesem Bereich.
Auf der anderen Seite dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, daß uns dieselbe Technik zu Eingriffen und Manipulationen an menschlichem Erbgut befähigt, die in diametralem Gegensatz zu unserem christlichen Weltbild und zum ethischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft stehen. Menschliches Leben - hier wiederhole ich, was Herr Kollege Antretter gesagt hat -, ob geboren oder ungeboren, ist unverfügbar und schutzwürdig.
({0})
Die Würde eines jeden Menschen ist gleich und unteilbar. Sie ist unabhängig von Behinderung, Gesundheit oder Leistungskraft. Sie bedarf um so mehr des staatlichen Schutzes, als der Betreffende selbst außerstande ist, für seinen eigenen Schutz zu sorgen.
Wir haben mit dem Embryonenschutzgesetz in einem wichtigen Teilbereich für einen solchen beispielhaften Schutz gesorgt. Aber mit nationalen Regelungen allein können wir der Bedeutung dieses Problems nicht gerecht werden. Nur wenn es gelingt, auf europäischer Ebene verbindliche Standards auf hohem Niveau für möglichst viele Staaten festzulegen, können wir der Umgehung und Aushöhlung nationaler Schutzvorschriften wirksam entgegentreten.
Der im Juli 1994 spät, aber noch nicht zu spät vorgelegte Entwurf, den wir grundsätzlich begrüßen, entspricht unseren Anforderungen allerdings nicht. Wir haben ihn von Anfang an kritisiert und abgelehnt, weil er an vielen Stellen unklar ist und in den entscheidenden Punkten hinter dem zurückbleibt, was wir auf Grund unseres Menschenbildes und unserer eigenen staatlichen Regelungen für unverzichtbar halten.
Ich nenne die drei entscheidenden Punkte, über die zwischen allen demokratischen Parteien Konsens besteht: erstens keine Regelung, die Forschung an menschlichen Embryonen oder Eingriffe in die menschliche Keimbahn zuläßt, auch nicht in den ersten 14 Tagen; zweitens keine Eingriffe an geistig Behinderten oder nicht Geschäftsfähigen ohne die Zustimmung dieser Personen oder die ihrer gesetzlichen Vertreter; drittens die Aufnahme einer Regelung, die geeignet ist, die mißbräuchliche Weitergabe der Ergebnisse von Gentests zu verhindern. Es mag gerechtfertigt sein, Ausnahmen zur Aufklärung von Straftaten zu machen, aber es wäre eine erschrekkende Vorstellung, wenn die Ergebnisse von Genomanalysen beim Abschluß von Arbeits- oder Versicherungsverträgen eine Rolle spielen würden.
Ein weiterer Aspekt, der mir wichtig erscheint, ist die Frage, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet werden sollten, Verstöße gegen die Konventionsbestimmungen mit strafrechtlichen Mitteln zu ahnden. Zu denken wäre auch an eine Ergänzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, um einen wirksameren Individualschutz möglich zu machen.
Ich räume offen ein, daß wir in manchen Fragen selbst noch nachdenken müssen und noch keine
endgültigen Antworten haben. Aber ich hätte mir auch gewünscht, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie in Ihrem Antrag, dem wir grundsätzlich positiv gegenüberstehen, stärker auf diese inhaltlichen Fragen eingegangen wären, anstatt den Eindruck zu erwecken, als ob die Bundesregierung nicht alles in ihrer Macht Stehende getan hätte, um im Konventionsentwurf Verbesserungen zu erreichen. Dieses wichtige und sensible Thema eignet sich nicht für parteipolitisch motivierte Polemik.
({1})
Viele Bürgerinnen und Bürger - auch wir bekommen Zuschriften - sind auf Grund der Berichterstattung in den Medien - teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht - besorgt und verunsichert. Herr Antretter, Sie haben zu dieser Verunsicherung heute einen Teil beigetragen.
({2})
Man muß diesen Bürgerinnen und Bürgern deutlich sagen, daß selbst die Verabschiedung des von uns kritisierten und abgelehnten Konventionsentwurfs keinerlei Auswirkungen auf die hohen deutschen Standards hätte, weil die Konvention ohne unseren Beitritt nicht verbindlich werden kann und weil in Art. 22 der Konvention vorgesehen ist, daß strengere nationale Vorschriften nicht berührt werden.
Herr Kollege Altmaier, sowohl der Kollege Catenhusen als auch der Kollege Antretter möchten gern eine Zwischenfrage stellen.
Ich gestatte die Zwischenfragen unter der Voraussetzung, daß sie mir nicht auf die Redezeit angerechnet werden,
Wenn Sie auf die Uhr schauen, dann merken Sie, daß sie bereits steht.
Bitte, Herr Kollege Catenhusen.
Da Sie sicherlich mit mir übereinstimmen, daß in unserem Antrag keine Polemik enthalten ist, wollte ich Sie fragen: Sehen Sie nicht auch die Gefahr, daß die europäische Mindestnorm, wenn die im gemeinsamen Konsens geschaffenen hohen Bewertungsstandards in Deutschland zu sehr von den europäischen Normen differieren, von Teilen der Wissenschaft und von der Industrie als die Standardnorm auch für Deutschland eingefordert wird?
Das war die nächste Feststellung in meinem Manuskript:
({0})
daß natürlich nach Inkrafttreten der Konvention, auch wenn sie für Deutschland nicht gilt, Druck ausgeübt würde, von diesen Standards abzuweichen. Aus diesem Grund wollen wir keine Konvention, die sich auf Mindeststandards beschränkt, sondern ein Vertragswerk, das sich an Regelungen mit hohem Schutzniveau orientiert und in Europa einen wirklichen Fortschritt bedeutet.
Herr Kollege Antretter, bitte.
Herr Kollege, in ähnlichem Zusammenhang wollte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß die Konvention nach ihrem Wortlaut - der auch verbindlich sein soll, wenn sie beschlossen worden ist - dann Gültigkeit in allen 33 Mitgliedsländern des Europarats erlangt, wenn fünf sie ratifiziert haben.
Herr Kollege, ich muß einräumen, daß ich an dieser Interpretation Zweifel habe. Aber selbst wenn Sie recht haben sollten - ich habe den Text nicht hier -: Art. 22 der Konvention, den Sie sehr genau kennen, bestimmt ausdrücklich, daß die Konvention weitergehende nationale Vorschriften in keiner Weise berührt oder antastet.
Ich will in der verbleibenden Zeit noch ganz kurz auf zwei Aspekte eingehen. Das erste ist der Zielkonflikt, in dem wir uns befinden. Je höher wir die Meßlatte legen, desto weniger Staaten können der Konvention beitreten oder sie ratifizieren. Es ist daher zu hoffen, daß die öffentliche Diskussion einen Umdenkungsprozeß bewirkt und daß auch in den Staaten, die derzeit noch zurückhaltend sind, die Bereitschaft zur Vereinbarung hoher Standards wächst.
Zweitens. Im Hinblick auf die zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen wäre es natürlich wünschenswert, weltweit zu einem stärkeren Schutz zu gelangen, als er derzeit nach den von Ihnen zitierten Instrumenten völlig unzureichend besteht. Aber so lange können und wollen wir nicht warten. Der Umstand, daß es außerhalb Europas Entwicklungen gibt, die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken zuzulassen, ist für uns kein Anlaß, von dem abzugehen, was wir aus ethischen Gründen für unabdingbar halten.
Freiheit und Freiraum für Wissenschaft und Forschung gehören zum Grundverständnis unserer Politik. Gerade weil dies für meine Partei außer Zweifel steht, können wir uns die Feststellung erlauben, daß die Freiheit von Wissenschaft und Forschung dort ihre absoluten Grenzen findet, wo die Würde des Menschen berührt oder die Schöpfung insgesamt gefährdet ist.
({0})
- Das gilt auch für die Neuregelung des Schutzes des werdenden Lebens und für die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches. Ich würde mir wünschen, daß Sie dort ähnliche Maßstäbe anlegen würden wie bei Fragen der Bioethik.
({1})
Meine Damen und Herren, bei den anstehenden Ausschußberatungen sind wir aufgerufen, in offener und sachlicher Atmosphäre für eine zügige, gründliche und umfassende Beratung zu sorgen im Zusammenwirken mit der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der übrigen beteiligten Staaten. Wir sollten gemeinsam die Chance nutzen, im Konventionsentwurf zu wirklichen VerbesserunPeter Altmaier
gen zu gelangen, die dann dazu führen, daß er seinem hohen Anspruch auch tatsächlich gerecht wird.
Ich danke Ihnen.
({2})
Wenn Sie, Herr Kollege Altmaier, ein Mitglied der F.D.P.-Fraktion wären, hätten Sie jetzt einen Blumenstrauß bekommen. So gehen nämlich die Liberalen mit denen um, die ihre erste Rede halten. Bei uns ist das nicht so. Die CDU/CSU-Fraktion teilt im äußersten Falle dem Präsidenten mit, daß der Abgeordnete seine Jungfernrede hält.
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits im 12. Deutschen Bundestag wurde der Versuch unternommen, die Bioethik-Konvention zum Gegenstand der parlamentarischen Beratung zu machen - damals im Ergebnis leider vergeblich. Die Bioethik-Konvention ist ein Türöffner für Eingriffe am Menschen im Namen der Forschung. Wenn wir uns als Gesetzgeber überhaupt noch ernst nehmen, muß der Deutsche Bundestag bei so weitreichenden Konventionen frühzeitig auf einer Parlamentarischen Beratung bestehen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern deshalb zu diesem Thema eine Anhörung der beratenden Ausschüsse. Diese muß im Februar oder März stattfinden, damit das Parlament auf die abschließende Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland im Lenkungsausschuß beim Europarat noch Einfluß nehmen kann. Ich warne die Bundesregierung davor, trotz des gerade Gesagten den Bundestag einfach zu übergehen. Wir lassen uns weder von Ministerkomitees noch von der Bundesregierung auf den Rang einer Bezirksvertretung herabstufen. Wir wollen ganz präzise mitreden, wenn es um die einzelnen Bestimmungen geht; denn wir haben weitergehende Vorstellungen als die, die Sie, Herr Altmaier, gerade vorgetragen haben.
Der Konventionsentwurf vom Juli 1994, der den Fraktionen von der Bundesregierung zugeleitet wurde, war ein Generalangriff auf die Menschenwürde. Er hat zurecht zu einem Aufschrei bei Behindertenverbänden, bei christlichen und jüdischen Religionsgesellschaften und Wohlfahrtsorganisationen geführt. Was wurde da nicht alles zur Disposition gestellt, was sollte nicht alles erlaubt werden! Selbst der „Nürnberger Codex" von 1947, der nach dem NS-Ärzte-Prozeß entstand, wurde in Frage gestellt. Man wollte den Einstieg für Menschenversuche an Behinderten ermöglichen. Der Entwurf sah Forschung und Versuche an Behinderten und Kindern ohne therapeutischen Wert vor, Entnahme transplantierbaren Gewebes von Behinderten, Forschung an Embryonen bis zum 14. Tag und die Weitergabe der Erkenntnisse von Gentests.
Dieses Horrorszenario macht die Absicht der Konvention deutlich. Es geht um eine ethische Legitimation der genetischen Veränderung des Menschen und fragwürdiger Forschung. Einklagbare Grundrechte der Menschen gegenüber Gesetzgeber und Forschern sieht die Konvention dagegen erst gar nicht vor.
Manches wurde auf Grund der Proteste zurückgenommen. Doch zur Entwarnung besteht kein Anlaß.
An der Perspektive einer „Schönen, neuen, durch Gentechnik veränderten Welt" hält die Konvention weiter fest. So fehlt ein Verbot des Klonens genauso wie ein Verbot der Patentierung menschlicher Gene. Die Konvention erlaubt auch weiterhin genetische Tests, die Weitergabe der Testergebnisse an Gesundheitsbehörden und Krankenkassen und auf gesetzlicher Grundlage sogar auch an andere Stellen, z. B. zum Schutz der öffentlichen Gesundheit oder der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ich frage: Wie soll denn durch eine Weitergabe von Testergebnissen die öffentliche Gesundheit gefördert werden? Vermögen Sie sich vorzustellen, werte Kolleginnen und Kollegen, wann die Weitergabe von Gentests für die Herstellung von Sicherheit und Ordnung notwendig sein soll? Man kommt sich vor wie in einem zweitklassigen Science-Fiction-Film, aber leider ist das bitterer Ernst.
({0})
Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen, um klarzumachen, wohin die Reise gehen kann. Gestern flatterte mir per Fax eine Einladung zu einem Meeting in London auf den Tisch. Zwei Pharmastiftungen, die CIBA-Foundation und das Wellcome Centre for Medical Science, laden für den 17. Februar 1995 zu einer Tagung mit dem Titel „The Genetics of Criminal and Antisocial Behavior" ein. Anscheinend kehrt der Biologismus des 19. Jahrhunderts wieder, wo Pseudo-Wissenschaftler wie der berüchtigte Cesare Lombroso dicke Bücher über den „geborenen Verbrecher" schrieben.
({1})
Und schon seit einiger Zeit gibt es in den USA rassistische Forscher, die über eine genetische Disposition zur Kriminalität bei Schwarzen schwadronieren.
Die Verfasser der Konvention haben die Gefahr von Gentests nicht begriffen: die Selektion von Menschen nach angeblich genetischen Defekten und die Nutzung der Technik zu eugenischen Zwecken. Diesem Ungeist müssen wir entgegentreten.
({2})
Zum Schluß: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen den vorliegenden Entwurf auch in seiner neuesten Fassung ab. Wir wollen strengere ethische Standards zur Kontrolle von Forschung und Anwendung von Biologie und Medizin. Es geht um Eingriffe am Menschen. Vergessen wir das nicht.
({3})
Herr Abgeordneter Heinz Lanfermann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wissenschaft und Forschung sind für die Fortentwicklung Europas, insbesondere für die
rohstoffarme Bundesrepublik Deutschland, von entscheidender Bedeutung. Wir dürfen die Chancen der Forschung daher nicht leichtfertig preisgeben. Aber wir müssen auch die Grenzen sehen, die uns durch Menschenwürde und Menschenrechte gesetzt sind.
Deshalb hat die heutige Debatte und haben die weiteren Beratungen über die Bioethik-Konvention des Europarates einen hohen Stellenwert. Und weil wir uns gerade in vielem einig sind - ich will die letzte Rede einmal etwas ausnehmen - und wir darüber auch auf hohem Niveau diskutieren, ist es mir doch wichtig, festzustellen, daß der Antrag, der uns hier von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegt worden ist, seinem Duktus nach den falschen Eindruck erweckt, die Bundesregierung kümmere sich nicht hinreichend um den Fortgang der Bioethik-Konvention und beteilige nicht die Fraktionen des Hohen Hauses. Dem muß ich widersprechen.
({0})
Die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat im November 1994 den Fraktionen und dem Rechtsausschuß des Bundestages sowie dem Bundesrat den Konventionsentwurf zur Information zugeleitet, und der Parlamentarische Staatssekretär Funke hat im September 1994 auf Ihre Nachfragen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, den Standpunkt der Regierung unmißverständlich erläutert.
Im übrigen ist der Einfluß des Deutschen Bundestages auf Konventionen des Europarates durch die Mitgliedschaft von Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewährleistet. Diese Mitgestaltungsmöglichkeit bei der Erarbeitung des Konventionsentwurfs wurde ja auch in der Debatte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 5. Oktober 1994 in Straßburg genutzt. Stellvertretend nenne ich hier Herrn Kollegen Robert Antretter, Frau Kollegin Leni Fischer und Torsten Wolfgramm.
Dies vorausgeschickt lassen Sie mich zur Sache festhalten, daß wir uns in der kritischen Haltung zum ursprünglichen Entwurf der Bioethik-Konvention einig sind. Die im Zentrum der berechtigten Kritik stehenden Art. 6 Abs. 2 und 15 bis 18 der ursprünglichen Fassung sind mit unserer Rechtsauffassung in der Tat nicht vereinbar. Deshalb wurden sie sowohl von der deutschen Delegation im Lenkungsausschuß für Bioethik als auch von allen Rednern in der Debatte am 5. Oktober 1994 in Straßburg abgelehnt und zur weiteren Beratung an die Ausschüsse zurückverwiesen.
Ich bin insbesondere Torsten Wolfgramm dankbar, daß er seinerzeit die Notwendigkeit der geplanten Bioethik-Konvention begrüßt hat, um europaweit den Mißbrauch von Biologie und Medizin zu verhindern, gleichzeitig aber ebenso deutlich gemacht hat, daß im wohlverstandenen Interesse der Menschen eine rechtlich klare Abgrenzung zwischen der notwendigen Forschung einerseits und der Menschenwürde andererseits erzielt werden muß.
Inzwischen haben, wie Bericht und Beschlußempfehlung des federführenden Ausschusses für Wissenschaft und Forschung an die Parlamentarische Versammlung des Europarates vom 12. Januar 1995 ausweisen, die hartnäckige Verhandlungsstrategie der deutschen Delegation sowie die einmütige Kritik der deutschen Vertreter im Europarat Erfolge gezeitigt.
({1})
So steht in Art. 6 Abs. 2, der Eingriffe bei einwilligungsunfähigen Personen betrifft, nunmehr der Zusatz, daß jede Weigerung der geschäftsunfähigen Person stets respektiert werden muß. Ein Eingriff ist also nur noch mit ausdrücklicher Zustimmung möglich. Die Geschäftsunfähigkeit ist nunmehr legal definiert.
In Art. 15, der Forschung an Embryonen bis zum 14. Tag ihrer Entwicklung regelt, wurde ergänzt, daß zu Forschungszwecken nur Eingriffe an nicht lebensfähigen Embryonen zulässig sind.
Der neue Wortlaut von Art. 16, dem Verbot der Keimtherapie, schließt jetzt einen Eingriff in die menschliche Keimbahn aus.
Allerdings unbefriedigend gelöst und somit nachzuverhandeln sind sicherlich die Art. 17 und 18, damit bei der Durchführung von Gentests und der Weitergabe der Ergebnisse in diesem hochsensiblen Bereich jeder Mißbrauch ausgeschlossen werden kann.
Abschließend freue ich mich feststellen zu können, daß die Verhandlungslinie der Bundesregierung, der Achtung der Menschenwürde Vorrang vor der Forschung zu verschaffen, erfolgreich war. Meine Damen und Herren Kollegen, ich darf meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, daß wir im Rechtsausschuß zu einer gemeinsamen Linie finden werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Frau Kollegin Dr. Ruth Fuchs, jetzt haben Sie das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem dreiviertel Jahr war Ludger Honnefelder, Mitglied der deutschen Delegation für die Bioethik-Konvention, noch voll des Lobes: Eine Fortschreibung der Menschenrechte auf dem Gebiet der Biowissenschaften sollte es werden. Dabei war schon damals absehbar, daß die Konvention diesem Anspruch nie und nimmer gerecht werden würde. Als dann die Öffentlichkeit Wind von dem Vorhaben und seinen konkreten Inhalten bekam, löste dies eine Distanzierungswelle aus, und auch Honnefelder wurde kleinlaut.
Ich frage mich, ob dies auch geschehen wäre, wenn Medien und Behindertenverbände nicht entschieden gegen den Konventionsentwurf protestiert hätten; denn in der Tat ist auch der jetzt vorliegende Entwurf mit seinen minimalen Änderungen gegenüber dem ursprünglich veröffentlichten Text völlig unakzeptabel.
Es sind nicht nur Art. 6 der Konvention, der noch immer gewisse Eingriffe an sogenannten geschäftsunfähigen Personen ohne deren Zustimmung erlaubt, und Art. 15 mit der Freigabe der Forschung an nicht
entwicklungsfähigen Embryonen, die auf Ablehnung stoßen. Die weitgefaßte Erlaubnis, genetische Tests durchzuführen und diese sogar an Stellen außerhalb des Gesundheitssektors weiterzugeben, ist ein Skandal.
Es lohnt sich auch hinsichtlich der Punkte, die gar nicht erwähnt oder geregelt werden sollen, einen Blick auf die Konvention zu werfen. Warum z. B. enthält die Konvention kein Verbot der Patentierung von Genen? Das ist doch ein Bereich, der dringend zu regeln wäre, wenn es doch angeblich um die Menschenrechte in der Anwendung der Biowissenschaften geht. Das Schicksal des US-Amerikaners, dessen Arzt sich das sogenannte Krebsgen seines Patienten patentieren ließ, zeigt doch deutlich, wohin die Reise geht, wenn hier nicht schnellstens etwas geschieht.
Allerdings kann ich mir gut erklären, warum dieser Bereich unerwähnt bleibt. Der Geist der Konvention läßt sich nämlich mit den Worten zusammenfassen: Erlaubt ist fast alles, was technisch machbar ist, den ungehinderten Fortgang der Forschung ermöglicht und einer industriellen Verwertung die Türen offenhält - das alles eindeutig auf dem Rücken der Menschenrechte.
Ich habe auch wenig Hoffnung, daß nach allen Beratungen über diese Konvention etwas herauskommt, was einen tatsächlichen materiellen Fortschritt im Bereich der Menschenrechte bedeuten würde. Zu befürchten ist vielmehr, daß mit diesen Regelungen nationale Standards unterlaufen werden sollen. Die Standortdiskussion sehe ich schon vor mir, wenn es dann heißt, im Ausland werde geforscht und deshalb müsse dies in Deutschland auch geschehen, um den Anschluß nicht zu verlieren.
Wir stimmen dem uns heute vorliegenden Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ GRÜNE zu. Auf diese Weise wird wenigstens Zeit gewonnen, in der alle noch einmal über Sinn und Ziel dieser Konvention nachdenken können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Leni Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollten einige Punkte richtigzustellen versuchen.
Die Parlamentarische Versammlung hat seit 1976 Vorbereitungen zu einer Konvention getätigt. Wir haben 1989 und 1991 weitere Empfehlungen gegeben. Der Vorschlag, ein Regelungswerk in Form einer Konvention zu machen, kam von der Parlamentarischen Versammlung, weil es in vielen Mitgliedsländern des Europarates zum damaligen Zeitpunkt überhaupt keine Regelungen in diesem Bereich gab. Insofern soll eine Konvention die Unmenge verschiedener bilateraler Verträge ersetzen bzw. ergänzen.
Wir - das gilt für die gesamte deutsche Delegation - haben die Punkte aufgegriffen, die von den verschiedenen Rednern und Rednerinnen auch hier zu Recht kritisiert wurden. Wir haben dann in unseren Fraktionen gemeinsam dafür gestritten, daß der Entwurf in die entsprechenden Ausschüsse zurückversandt wird. Drei Ausschüsse sind beteiligt. Federführend ist der Ausschuß für Forschung und Technologie. Er hat jetzt die Änderungen, die zum Teil angesprochen worden sind, vorgelegt.
Die Christdemokraten in der EVP-Fraktion werden am Samstag noch ein Seminar dazu veranstalten, um uns die einzelnen Texte noch einmal genau anzusehen. Nach dem, was ich bislang gesehen habe, werde ich der EVP-Fraktion vermutlich empfehlen, das noch einmal zurückzuschicken, weil wir bei einigen Punkten noch schwere Bedenken haben.
({0})
Ein ganz besonders großes Hindernis ist für uns die Tatsache, daß es nur eine provisorische deutsche Übersetzung gibt. Das macht für viele unserer Kollegen bei einem solch schwierigen Sachverhalt die Arbeit noch komplizierter. Hinzu kommt, daß in der provisorischen Übersetzung, die wir uns vom Europäischen Parlament besorgt haben, auch noch Übersetzungsfehler waren, die das Ganze noch mehr komplizierten.
Daher meine ich, wir sollten auch im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament, das auch an diesen Fragen arbeitet, versuchen, zu einem möglichst breiten Konsens zu kommen. Es nützt überhaupt nichts, wenn wir sagen, das Parlament sei nicht beteiligt. Die Parlamentarische Versammlung ist über sehr viele Jahre hinweg sehr wohl beteiligt gewesen. Sie ist auch durch den Ausschuß für Forschung und Technologie in der Kommission beteiligt gewesen. Aber Sie sehen daran auch, daß innerhalb Europas in den einzelnen Parlamenten die Vorstellungen so weit auseinandergehen.
Ich bin sehr froh, daß wir uns in der deutschen Delegation wirklich völlig einig waren und daß es uns durch unseren Einsatz in den Fraktionen gelungen ist, das weiter hinauszuzögern. Ich bin schon der Meinung, daß wir, wenn eine weitere Sitzung der Kommission stattgefunden hat, in der dann die bislang eingegangenen Vorschläge beraten worden sind, das auch im Deutschen Bundestag diskutieren sollten, und zwar nicht nur im Rechtsausschuß, sondern auch in anderen Ausschüssen.
Ich glaube nicht, daß wir bis zum 16. März bzw. bis zum Juni - das sollte der letzte Termin sein - die Konvention fertig vorliegen haben. Mir ist es wichtiger, daß wir eine Konvention bekommen, der möglichst viele Staaten beitreten können, damit wir wenigstens den Hauch eines Regelungswerkes in Europa bekommen und nicht eine fürchterlich wilde Landschaft.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile der Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Herren! Es ist nur allzu verständlich, daß sich an dem vorliegenden Entwurf einer Bioethik-Konvention des Europarates allgemein Kritik breitmacht, die im Kern übereinstimmend ist.
Um das wichtige Ziel der Konvention zu erreichen, nämlich den Mißbrauch von Biologie und Medizin zu verhindern und der modernen Medizin klare ethische Grenzen aufzuzeigen, bedarf es noch der Verbesserungen. Das haben alle Redner heute deutlich gemacht. Wir brauchen Verbesserungen, die gerade auch die Bundesregierung von Beginn der Beratungen an eingefordert hat.
Im Verlauf der zurückliegenden Beratungen ist es ja schon zu ersten Verbesserungen und Änderungen gekommen. Wir alle sind uns einig, daß insbesondere Regelungen im Art. 6 Abs. 2, auch wenn sich jetzt schon durch inzwischen vorliegende Stellungnahmen Änderungen ergeben werden, noch weiter überprüft und verändert werden müssen.
Wir sind uns einig, daß die Regelungen zur Embryonenforschung, die nicht mit unserem Standard im Embryonenschutzgesetz übereinstimmen, noch insofern verbessert werden müssen, als wir die bisher zugelassenen Forschungsmöglichkeiten eingrenzen müssen. Das entspricht unserer Überzeugung. Deshalb haben wir in der Bundesrepublik Deutschland das Embryonenschutzgesetz verabschiedet, und es hat nach wie vor Geltung.
Wir sind uns einig, daß Verbesserungen bei der Zulässigkeit und Weitergabe von Gentests nötig sind.
Ich darf hier ganz klar sagen, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, einer Konvention mit Regelungen zuzustimmen, die im Widerspruch zu unseren Grundsätzen stehen, wie sie in unserer Verfassung, aber auch in unseren gesetzlichen Regelungen verankert sind. Wir sind auch nicht bereit, später so eine Konvention zu ratifizieren. Darauf hat gerade das Justizministerium in den Sitzungen des Lenkungsausschusses im Sommer letzten Jahres hingewiesen.
Ich glaube, daß gerade durch diese nachdrückliche Positionsvertretung Änderungen u. a. im Bereich der Keimbahntherapie, nämlich in bezug auf das Verbot der Keimbahntherapie, erreicht werden konnten. Ursprünglich war in dem Konventionsentwurf vorgesehen, alle fünf Jahre zu einer Überprüfung des Verbots zu kommen. Dagegen haben wir klar votiert. Wir wollten nicht, daß dieses Verbot alle paar Jahre
wieder auf der Tagesordnung steht und Verunsicherungen entstehen, wenn durch Pro und Kontra und bei sehr unterschiedlichen Auffassungen in vielen Ländern Unsicherheit bei den Menschen erzeugt wird.
Wir haben bei den Beratungen auch Schwierigkeiten gesehen, weil die Fragen der Bioethik in vielen Mitgliedstaaten anders und weniger streng als in Deutschland gesehen werden. Deswegen müssen wir alles tun, um möglichst viele Staaten von der Richtigkeit unserer Anforderungen zu überzeugen.
Deshalb begrüße ich es sehr, daß gerade hier im Bundestag heute über diese Fragen debattiert wird. Ich darf aber auch sagen, daß Vorwürfe an die Informationspolitik der Bundesregierung nicht berechtigt sind; denn unmittelbar nach Vorliegen der Rohübersetzung ins Deutsche habe ich diesen Entwurf dem Bundestag, dem Bundesrat und den Fraktionen zugeleitet, weil ich es für ein so wichtiges und bedeutendes Vorhaben halte, das möglichst früh allen vorliegen muß, damit wir uns mit der Einzelausgestaltung beschäftigen können.
Ich hoffe, daß die Position der Bundesregierung durch Beratungen in den Ausschüssen und dann durch eine hoffentlich breite Konsensfindung Unterstützung erfährt. Dann haben wir noch mehr Rückendeckung, um unsere Position einzubringen und hoffentlich auch durchzusetzen.
Ich möchte noch einmal wiederholen: Ich begrüße es sehr, daß heute noch zur rechten Zeit, bevor entscheidende Beratungen Mitte dieses Jahres stattfinden werden, hier eine erste sehr sachliche und in vielen Punkten in der Kritik übereinstimmende Diskussion geführt werden konnte.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 13/321 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Besteht damit Einverständnis? - Dies ist der Fall.
Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Freitag, den 27. Januar 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.