Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sitzung.
Ich teile zunächst mit: Für den verstorbenen Kollegen Hans Klein hat die Abgeordnete Marion Seib am 27. November 1996 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin und wünsche gute Zusammenarbeit.
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Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
2. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({1})
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({2}) - Drucksache 13/6362 3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({3})
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes - RpflAnpG - Drucksachen 13/6039, 13/6408 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Haltung der Bundesregierung zu den Plänen der Landesregierung Schleswig-Holstein, in einem Modellversuch sogenannte weiche Drogen in Apotheken verkaufen zu lassen
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerald Häfner, Volker Beck ({4}), Kerstin Müller ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherung der Pressefreiheit und des Zeugnisverweigerungsrechts der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk, Film - Drucksache 13/6382 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Wilhelm ({6}), Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für ein soziales und ökologisches Städtebau- und Raumordnungsrecht - Drucksache 13/6384 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konvention zur Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen - Drucksache 13/6383 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Schmitt ({7}), Kristin Heyne, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verankerung sozialer und ökologischer Mindeststandards im internationalen Handel und Reformperspektiven der Welthandelsorganisation ({8}) - Drucksache 13/6385 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Gunnar Uldall und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff, Paul K. Friedhoff und der Fraktion der F.D.P.: Stärkung der Welthandelsorganisation ({9}) durch das WTO-Ministertreffen in Singapur vom 9. bis 13. Dezember 1996 - Drucksache 13/6387 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.
Die Beratungen ohne Aussprache werden heute erst nach der Debatte über die ehrenamtliche Tätigkeit aufgerufen.
Außerdem ist vereinbart worden, die zweite und dritte Beratung des Jugendarbeitsschutzgesetzes von Freitag vorzuziehen und bereits heute im Anschluß an den Tagesordnungspunkt 8 - Bundessozialhilfegesetz - zu beraten.
Des weiteren mache ich darauf aufmerksam, daß die von der Fraktion der SPD verlangte Aktuelle Stunde zu den Einwänden des EU-Wettbewerbskommissars zum Stromeinspeisungsgesetz zurückgezogen wurde.
Schließlich mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 138. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. November 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Abkommen vom 4. November 1995 zur Änderung des Vierten AKP- EG-Abkommens von Lomé sowie zu den mit diesem Abkommen in Zusammenhang stehenden weiteren Übereinkünften - Drucksache 13/5903 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({10})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuß
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Der in der 139. Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. November 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({11}) - Drucksache 13/6087 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({12})
Innenausschuß Sportausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Der in der 131. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17. Oktober 1996 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich zusätzlich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz ({13}), Annette Faße, Konrad Kunick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schutz der Nordsee durch Schiffsölentsorgung in Seehäfen - Drucksache 13/5756 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3i auf: Menschenrechtsdebatte
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
3. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsberichte und Lageberichte der Bundesregierung für die parlamentarische Arbeit nutzbar machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Andreas Krautscheid, Dr. Christian Schwarz-Schilling, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Burkhard Hirsch, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Den Menschenrechten weltweit zur Geltung verhelfen
Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1995
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Konzept für eine deutsche Menschenrechtspolitik in ihrer Verbindung mit den anderen Politikbereichen
- Drucksachen 13/3312, 13/3528 Nr. 1.8, 13/3210, 13/3214, 13/3229, 13/5363 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Krautscheid Volker Neumann ({16})
Dr. Irmgard Schwaetzer
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Anhangs I des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949
- Drucksache 13/5738 - ({17})
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({18})
- Drucksache 13/6395 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Krautscheid Gerd Weisskirchen ({19}) Amke Dietert-Scheuer
Ulrich Irmer
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({20})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Robert Antretter, Dr. Eberhard Brecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schritte zur politischen Regelung des Kurdenkonflikts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Steffen Tippach und der Gruppe der PDS
Vermittlungsinitiative der Bundesregierung für eine politische Lösung in Kurdistan/Türkei
- Drucksachen 13/4365, 13/4004, 13/6396 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Schmidt ({21}) Freimut Duve
Ulrich Irmer
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Tippach, Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS
Die Menschenrechtssituation in der Türkei verbessern
- Drucksache 13/5134 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({22})
Rechtsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
f) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS
Amt eines/einer Menschenrechtsbeauftragten des Deutschen Bundestages und Einrichtung eines beratenden Gremiums „Rat für Menschenrechten
- Drucksache 13/4749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung ({23})
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({24}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Lage in Osttimor
- Drucksachen 13/5799, 13/6397 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Krautscheid
Volker Neumann ({25})
Ulrich Irmer
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Helmut Lippelt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratie und Menschenrechte als Maßstab der deutschen Südost- und Ostasienpolitik
- Drucksache 13/5950 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({26})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
i) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Unterstützung der weltweiten Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe
- Drucksache 13/6060 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({27})
Rechtsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor. Weitere Entschließungsanträge sind angekündigt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte proklamiert. Ihr Auftrag bleibt leider äußerst aktuell.
In unserer heutigen Debatte wollen wir über das Erreichte Rechenschaft geben, zugleich gemeinsam darüber nachdenken, was unser Land für diejenigen tun kann, denen diese elementaren Rechte nach wie vor vorenthalten werden: Staatliche Willkür, willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen müssen aus der Welt verschwinden, wenn wir zu einer besseren Zukunft finden wollen.
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Wer die Menschenrechte verletzt, bedroht den Frieden der Welt. Frieden braucht die Menschenrechte.
Aufstieg und Fall von zwei menschenverachtenden Systemen und Ideologien haben dieses Jahrhundert geprägt. Der geschundene und gedemütigte Mensch ist schmerzlicher Teil unserer Erfahrung. Wir Deutsche haben aus unserer Vergangenheit gelernt.
Nach Nationalsozialismus, Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg haben wir im Grundgesetz unsere staatliche Neuordnung unter das Gebot gestellt:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Während der deutschen Teilung haben wir über 40 Jahre noch einmal erlebt, was es für einen Staat und seine Menschen bedeutet, wenn die Menschenrechte nicht gewahrt sind. Für die Bundesregierung folgt daraus die Verpflichtung, sich mit ganzer Kraft für diejenigen einzusetzen, die noch heute unter Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung leiden. Das sind leider unendlich viele.
Dem Schutz der Grundrechte nach innen entspricht die weltweite Förderung der Menschenrechte nach außen. Menschenrechtspolitik ist elementarer Ausdruck einer wertorientierten Außenpolitik, aber zugleich auch Interessenpolitik; denn wo Grundfreiheiten verweigert werden, kann sich der Mensch nicht entfalten, und ohne Freiheit ist dauerhafte wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht zu haben. Freiheit ist insoweit unteilbar.
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Wir sind der Vision der UN-Charta ein Stück nähergekommen. Das Bewußtsein für Menschenrechte ist weltweit gewachsen. Viele Menschen konnten das Joch der Unterdrückung abschütteln. Prinzipiell können wir sagen, daß Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft weltweit auf dem Vormarsch sind. Nelson Mandela und Václav Havel waren gestern noch Opfer menschenverachtender Systeme. Heute gestalten sie die Politik ihrer Länder in verantwortlicher Position mit. Wir neigen manchmal dazu, wenn wir Bilanz ziehen, solch positive Erfolge zu übersehen.
Aber kein Zweifel: Noch leiden auf dieser Erde unendlich viele Menschen. In zu vielen Ländern wird das Recht auf Leben verletzt. Nach Amnesty International starben allein im letzten Jahr in 54 Ländern über 4 500 Menschen durch Folter. In 43 Staaten weltweit sind Menschen im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden. In 85 Ländern sitzen politische Gefangene in Kerkern. Fundamentale Rechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf einen fairen Prozeß, werden vielerorts noch verwehrt.
Die Geißel von Unterdrückung und Armut nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung, die zweite übriggebliebene Weltgeißel, ist bei weitem noch nicht besiegt. Der Welternährungsgipfel hat deutlich gemacht: 840 Millionen Menschen weltweit hungern und sind chronisch unterernährt. Millionen von Kindern haben von der ersten Sekunde ihrer Geburt an nicht die geringste Chance, ein auch nur einigermaßen menschenwürdiges Leben zu führen.
Wie entgegenwirken? Natürlich ist Menschenrechtspolitik mit gleichgesinnten Partnern immer leichter durchzusetzen. Notwendig sind die Einbettung, und zwar die sorgsame Einbettung, in den gesamten Kontext der Außenpolitik und vor allem auch die Verknüpfung mit allen anderen Politikbereichen. Notwendig ist ein unbeirrbares, ein mutiges Vertreten der Menschenrechte. Natürlich sind Visionen notwendig. Aber notwendig ist auch das Gefühl für das jeweils Machbare in der jeweiligen Situation.
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Die bedrückendste Erfahrung der letzten Jahre sind ganz zweifellos die menschenrechtlichen Großkatastrophen. Wo Krieg ist, werden Menschenrechte zwangsläufig schlimm verletzt. Krieg läßt leider alle Dämme brechen. Krieg ist heute vor allem leider Bürgerkrieg, Krieg zwischen ethnischer Mehrheit und ethnischer Minderheit, zu oft getragen von Haß und Intoleranz. Die Ereignisse in Bosnien, in Liberia, im Gebiet der großen Seen in Afrika, in Afghanistan sind schrecklich. Wir sollten nicht vergessen, daß es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weltweit noch immer 45 Konflikte dieser Art gibt.
Wir können und sollten durch vorbeugende Menschenrechtspolitik soweit wie irgend möglich dafür sorgen, daß es zu Menschenrechtsverletzungen überhaupt nicht kommt, daß Menschen nicht getötet, verschleppt, bedroht und mißhandelt werden. Genauso notwendig ist aber auch die Nachsorge. Gerade ethnische Konflikte - wir sehen das im Augenblick in Afrika und in Bosnien besonders deutlich - zerstören das Vertrauen und das Sicherheitsgefühl der Menschen. Das muß durch eine aktive Menschenrechtspolitik langsam wiederaufgebaut werden.
Die zivile Komponente bei friedenserhaltenden und friedenschaffenden Maßnahmen der Vereinten Nationen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Beispiel Afrika: Wir unterstützen die OAE bei ihrem Bemühen, durch den Aufbau eines Konfliktlösungszentrums mehr für die Bewahrung des Friedens auf dem afrikanischen Kontinent zu tun. In Burundi finanzieren wir die OAE-Militärbeobachter. In Ruanda unterstützen wir Polizei, Justiz und UN-Feldoperationen insbesondere in der jetzigen Situation nach der Rückkehr der Flüchtlinge für ihre Reintegration; denn das ist zentralwichtig. Für diesen Zweck hat die Bundesregierung kurzfristig 1 Million DM zusätzlich zur Verfügung gestellt.
Beispiel OSZE: In Mazedonien, in Armenien und Aserbaidschan hat die OSZE in praktischer Konfliktverhütung viel geleistet. Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten, das Konfliktverhütungszentrum und Langzeitmissionen konnten Spannungen im Transkaukasus abbauen und verfeindete Lager wieder an den Verhandlungstisch bringen. Dies war zentrales Thema bei der Lissabonner OSZE-Konferenz in den letzten Tagen. Dank unserer Bemühungen ist es gelungen, gerade im Nagornij-KarabachKonflikt zum Schluß doch noch eine vermittelnde Lösung zu erreichen. Armenien und Aserbaidschan waren so ineinander verwickelt, daß das Gesamtergebnis der OSZE-Konferenz in Lissabon daran jedenfalls teilweise zu scheitern drohte.
Beispiel Bosnien-Konflikt: Dort wurden die Menschenrechte durch Mord, Totschlag, Vergewaltigung und ethnische Säuberungen schlimm verletzt. Jetzt muß man ihnen wieder Geltung verschaffen. Ohne ihre Respektierung wird der Wiederaufbau nicht gelingen.
Ich habe gestern bei der Londoner Konferenz an die Konfliktparteien appelliert, denen, die sich weltweit bemühen, in Bosnien zu helfen, das Gefühl zu geben, daß diese Hilfe auch willkommen ist. Man hat manchmal den Eindruck - das war gestern, als sie alle bei dieser Konferenz versammelt waren, wieder der Fall -, daß die Konfliktparteien zu der Anstrengung von 60 000 Soldaten und der Aufbringung von Milliardenbeträgen durch die Völkergemeinschaft immer wieder sagen: Na gut, weil ihr das wollt, machen wir es eben. Es ist zuwenig Bereitschaft da, bei zweifellos noch vorhandener Angst. Natürlich müssen wir nach all dem, was an Schrecklichem geschehen ist, Verständnis dafür haben. Es muß aber von der anderen Seite, von Bosnien aus, das Gefühl vermittelt werden: Wir wollen das zusammen packen! Wir wollen wieder zusammenleben! Wir wollen multiethnisch wieder in Gemeinden zusammensein! Die Furcht und Sorge, auch das vermittelte Gefühl, daß es nicht vorwärtsgeht, dürfen nicht eine zu starke Bedeutung erhalten.
Die militärische Umsetzung des Dayton-Vertrages hat funktioniert. Wir brauchen jetzt, damit selbsttraBundesminister Dr. Klaus Kinkel
gende Stabilität erreicht wird, einen Post-IFOR-Einsatz; dieser wird auch kommen. Wir brauchen aber auch, was die übrigen Komponenten anbelangt, eine stärkere Mitwirkung der Konfliktparteien.
Ich habe gesagt, daß es im letzten Jahr viele Reden gab. Die Rede von einem der Beteiligten habe ich vermißt. Ich habe gestern Herrn Izetbegović, die bosnischen Serben, auch die Kroaten aufgefordert, daß sie einmal ein Wort der Versöhnung und des Wiederzusammenfinden-Wollens füreinander finden. Ansonsten wird es dort nicht klappen.
({3})
Erfolgreiche Menschenrechtspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, erfordert internationale Zusammenarbeit. Natürlich brauchen wir starke UN. Wir brauchen handlungsfähige Regionalorganisationen. EU, Europarat und OSZE haben durchaus viel für die Menschenrechte getan.
Natürlich müssen wir auch zu mehr Gemeinsamkeiten im weltweiten Verständnis der Menschenrechte kommen. Menschenrechte sind Teil einer jeden Kultur. Es geht eben darum, die Ethik der Humanität freizulegen, eine Ethik, die uns alle verbindet. Die westlichen Länder wollen nicht ihr Menschenrechtsverständnis dem Rest der Welt überstülpen.
Wir sind übrigens mit unserem Menschenrechtsverständnis in der Minderheit. Menschenrechte und Demokratie sind Gott sei Dank globale Leitbilder geworden, und zwar nicht deshalb, weil der Westen es so will, sondern weil die Menschen weltweit von diesen Ideen erfaßt sind. Nach der Wiener Menschenrechtskonferenz kann niemand mehr die Universalität der Menschenrechte in Frage stellen. Der Schutzbehauptung, Menschenrechte gehörten zu den inneren Angelegenheiten, ist die Grundlage entzogen, und das war notwendig. Für das Ausspielen sozialer und kollektiver Menschenrechte gegen die klassischen bürgerlichen Freiheiten gibt es keine Rechtfertigung.
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Das Wort vom Zusammenprall der Kulturen, das zur Zeit durch die Welt geistert, meine Damen und Herren, darf nicht Wirklichkeit werden. Wir müssen den kulturellen Dialog, den die Welt so nötig braucht, offen, fair und verständnisvoll führen. Wir brauchen mehr gegenseitigen Respekt und Achtung. Ich betone aber ausdrücklich die Gegenseitigkeit, weil Toleranz natürlich keine Einbahnstraße sein darf.
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Der Dialog der Kulturen bedeutet im übrigen keinen Wertrelativismus. Das Verbot der Folter und anderer schlimmer Menschenrechtsverletzungen ist nicht verhandelbar. Mit Extremisten, die sich auf absolute Heilslehren berufen und zu ihrer Durchsetzung zu Terror und Gewalt greifen, gibt es keine Gemeinsamkeit.
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Die sechs großen Weltkonferenzen der Vereinten Nationen seit 1992 haben den Menschenrechtsdialog belebt. Sie haben den Blick für den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Entwicklung, für die wirtschaftliche und soziale Dimension des Menschenrechtsschutzes geschärft. Wir alle haben gelernt. Wir haben aus diesen Konferenzen vor allem gelernt, wo wir anpacken müssen und wo wir mehr tun müssen. 250 Millionen Jungen und Mädchen im Alter von 5 bis 14 Jahren werden in Fabriken und Haushalten zur Sklaverei und auch zur Prostitution gezwungen.
({7})
Wer aus der Arbeitskraft und den Körpern junger Menschen, von Kindern, Profit schlägt, zerbricht vor allem deren Seelen.
({8})
Fast noch verwerflicher: Mehr als 200 000 Kinder werden zum Dienst an der Waffe gezwungen. Viele von ihnen werden durch Personenminen getötet und verstümmelt. Mit dieser schlimmen Geißel der Menschheit muß es ein Ende haben. Dafür setzen wir uns in ganz besonderer Weise ein. Ich habe in der letzten Woche im Deutschen Bundestag gesagt - dabei bleibt es -: Unser Minenräumprogramm wird unter den knappen Haushaltsmitteln nicht leiden.
({9})
Unverändert sind Frauen in vielen Ländern schlimmsten Diskriminierungen ausgesetzt. Von rechtlicher oder gar politischer Gleichstellung keine Spur. „An der Stellung, welche die Frauen in einem Land einnehmen, kann man sehen, wie klar und frei die Luft eines Staates ist", sagte die Frauenrechtlerin Luise Otto-Peters schon vor 150 Jahren. Natürlich muß sich die Staatengemeinschaft wehren, wenn zum Beispiel in Afghanistan Frauen und Mädchen systematisch von Beruf und Bildung ausgeschlossen werden.
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Die Stockholmer Konferenz über den sexuellen Mißbrauch von Kindern und Minderjährigen, mit das Schlimmste, was es, für meine Begriffe jedenfalls, im Menschenrechtsverletzungsbereich gibt, hat die Weltöffentlichkeit wachgerüttelt. Wer sich an den Schwächsten unserer Gesellschaft, den Kindern, vergeht, gehört international verfolgt, hart bestraft, und er gehört ebenfalls in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gestellt.
({11})
Der sexuelle Mißbrauch von Kindern, eine ausgesprochene Scheußlichkeit, muß aus der Tabuzoneheraus. Wer am sexuellen Mißbrauch von Kindern
verdient, wer wegschaut und wer nicht sehen will, was in seiner Umgebung geschieht, lädt schwere Schuld auf sich.
({12})
Auch einige andere Entwicklungen sind für den Bereich der Menschenrechte sehr wichtig und sehr positiv. Die moderne Kommunikationstechnologie eröffnet völlig neue Möglichkeiten, weltweit die Verletzung der Menschenrechte wirksamer zu beobachten, sie anzuprangern und die Menschenrechte dadurch auch zu schützen.
({13})
Sie leuchtet in die entferntesten Winkel der Erde. Es gibt jetzt fast keine Rückzugsorte mehr; das ist ganz wichtig. Der Transport von Ideen und Werten ist eben nichtmehr an nationalen Grenzen zu stoppen. Daß gerade autoritäre Regime den Zugang zum Internet zu unterbinden oder - was noch interessanter ist - Satellitenschüsseln zu verbieten versuchen, ist kein Zufall. Damit soll eben verhindert werden, daß Berichte über Menschenrechtsverletzungen transportiert werden. Folterer und Menschenschänder haben es immer schwerer, ihr Tun vor der nationalen und internationalen Öffentlichkeit zu verbergen. Sie sollen wissen, daß sie nicht ruhig schlafen können. Medienpräsenz und selbstbewußte, machtvolle Nichtregierungsorganisationen wirken wie ein Vergrößerungsglas. Das ist gut so; sie bringen Mißstände ans Licht und machen Abhilfe möglich. Ich möchte heute gern allen Nichtregierungsorganisationen vor allem auch für ihren ungeheuer engagierten Einsatz in Sachen Menschenrechtsverletzungen danken. Wir wissen nicht, was in dieser Beziehung weltweit geschieht und wem wir sehr viel zu verdanken haben.
({14})
Natürlich müssen wir in der Welt dazu kommen, daß das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetzt wird. Vor 30 Jahren wurden der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verabschiedet. Sie sind 1976 in Kraft getreten. Aber leider Gottes sind noch nicht alle Länder Mitglied; China und Indonesien beispielsweise gehören nicht dazu. Ich habe gerade wieder den chinesischen Außenminister massiv gedrängt, diese Pakte zu unterzeichnen. Das würde uns auch in anderer Beziehung helfen.
Ein wichtiges Ziel deutscher Menschenrechtspolitik ist die weltweite Abschaffung der Todesstrafe sowie die Ächtung der Folter. Es gibt Fortschritte. Dem Zweiten Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sind inzwischen eine Reihe weiterer Staaten beigetreten. An einem Zusatzprotokoll zum Anti-Folter-Übereinkommen wird gearbeitet. Diese Schritte helfen, bisherige Lücken im Normengeflecht der Menschenrechte zu schließen.
Aber natürlich reicht die Kodifizierung nicht aus. Menschenrechtsverletzungen müssen sanktioniert und verfolgt werden. Deshalb setzt sich die Bundesregierung massiv für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs ein. Ich sage: Er muß kommen.
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Auf die friedensstiftende Wirkung der Ahndung und Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen hat in diesen Tagen die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú hingewiesen. Die Opfer wollen Wahrheit und Gerechtigkeit.
Wie recht sie hat, zeigt das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Ich habe als erster und bisher leider einziger Außenminister den Internationalen Gerichtshof und die Chefanklägerin in Den Haag besucht, um auf diese Art und Weise unsere besondere Unterstützung zum Ausdruck zu bringen. Das erste Urteil ist gesprochen. Die Konfliktparteien - auch das habe ich gestern in meinem Beitrag bei der Londoner Bosnien-Konferenz gesagt - sind verpflichtet, das einzuhalten, was sie im Daytoner Friedensvertrag unterschrieben und zugesichert haben, nämlich die Überstellung der Kriegsverbrecher an dieses Tribunal. Es gehören - ich werde nicht müde, das immer wieder zu rufen - auch und insbesondere die Herren Mladić und Karadžić nach Den Haag.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das hat gestern in London eine große Rolle gespielt: Was zur Zeit in Belgrad geschieht, ist ein Angriff auf die demokratischen Rechte der Menschen. Wer Staatsbürger um ihre Rechte und um ihre Stimme bringt, der wird den Weg nach Europa wohl kaum finden. Natürlich werden wir uns morgen bei dem Zusammentreffen der 15 Außenminister in Brüssel sehr genau überlegen müssen, ob wir einer Regierung, die sich so verhält, wie das im Augenblick in Belgrad geschieht, nun europäisch wirtschaftlich unter die Arme greifen sollen.
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Natürlich hat das zwei Seiten, die man bei einer solchen Gelegenheit auch ansprechen muß. Wir sind enorm daran interessiert, daß die inzwischen über 130 000 Asylbewerber im wesentlichen aus dem Kosovo auf Grund des von mir mit Herrn Milošević vereinbarten Rücknahmeabkommens zurückgehen. Wir sind mächtig daran interessiert, daß endlich die Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch eine kleine Minderheit aufhört, und wir sind natürlich auf der anderen Seite genauso stark daran interessiert, daß dort Pressefreiheit herrscht. Aber eines ist absolut nicht hinnehmbar: Wahlen, die - soweit es dort möglich war - demokratisch stattgefunden haben, auf diese Art und Weise zu unterlaufen und zu untermiBundesminister Dr. Klaus Kinkel
nieren geht nicht. Das muß man dann auch deutlich und klar sagen.
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In Myanmar hat die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi erneut Hausarrest bekommen. Studenten, die für Selbstbestimmung demonstriert haben, wurden verhaftet. Deshalb sage ich mit aller Deutlichkeit: Keine Repression und keine Unterdrükkung dieser Welt werden die Stimme der Freiheit zum Verstummen bringen.
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Der nicht zuletzt auf deutsches Drängen eingesetzte UN-Hochkommissar für Menschenrechte leistet gute Arbeit. Das Menschenrechtszentrum in Genf muß sich zu der zentralen Menschenrechtsinstanz der Vereinten Nationen entwickeln. Die beratenden Dienste erfüllen eine ganz, ganz wichtige Aufgabe: Sie fördern die institutionelle Verankerung für einen effektiveren Menschenrechtsschutz durch Beratungshilfe, Menschenrechtserziehung und Aufbau eines unabhängigen Justizwesens.
Daß nur 2 Prozent des UN-Haushalts für Menschenrechtsaufgaben aufgebracht werden, ist nicht in Ordnung, auch nicht in einer Zeit, in der das Geld knapp ist. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind nicht nur Haushaltsgründe, wenn nötige Mittel verweigert werden und erforderliche Feldoperationen für die Menschenrechte so unerträglich langsam zustande kommen. Es gibt leider auch, und zwar zu häufig, politischen Widerstand gegen eine aktive Menschenrechtspolitik. Gerade diejenigen, die etwas zu verbergen haben, versuchen immer wieder, die Arbeit der UN-Sonderberichterstatter zu verhindern oder mindestens massiv zu erschweren.
Menschenrechtspolitik braucht Überzeugung, braucht Prinzipienfestigkeit, braucht Mut, Beharrlichkeit und einen langen Atem. Allzuoft führen Anläufe erst beim dritten, vierten oder fünften Mal zum Erfolg, leider Gottes sehr oft auch nicht. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, als sei auf diesem Gebiet alles in kürzester Zeit machbar, und wir müssen vor allem aufhören, falsche Alternativen zu konstruieren. Es geht nicht um die Durchsetzung der Menschenrechte oder um Wirtschaftsinteressen; es geht um das Sowohl-Als-auch.
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Erinnern wir uns: Die KSZE hatte drei Körbe: Sicherheit, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte. Nur durch diese Kombination wurde der KSZE-Prozeß erfolgreich. Ich persönlich glaube daran: Wirtschaftliche Öffnung führt zwangsläufig auch zu politischer Liberalisierung. Der Bundespräsident hat dankenswerterweise gerade auf diesen Punkt in den letzten Wochen wiederholt hingewiesen. Wer seinen Bürgern wirtschaftliche Freiheit gibt, wie dies in vielen Ländern Asiens im Augenblick der Fall ist, kann sie auf Dauer nicht politisch bevormunden oder kontrollieren. Ein klarer Beweis dafür sind im übrigen die Entwicklungen der letzten Jahre gerade in den lateinamerikanischen Staaten.
Die moralisch-ethische Basis unserer Menschenrechtspolitik bleiben der einzelne Mensch, seine Nöte, seine Pein. Wenn wir aufhören würden, für ihn zu kämpfen, gäben wir die gesamte Idee der Menschenrechte auf. Manchmal ist es eher die stille Diplomatie, die konkrete Ergebnisse bringt. Ein gutes Beispiel dafür aus der allerletzten Zeit ist unsere Initiative gemeinsam mit den USA zur Freilassung von Kriegsgefangenen in der Westsahara. Normalerweise aber sind Druck und öffentliche Kritik notwendig, um Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Deshalb müssen wir Menschenrechtsverletzungen auch den Ländern gegenüber in aller Klarheit und Offenheit ansprechen und durchzusetzen versuchen, mit denen uns Partnerschaft, ja, Freundschaft verbindet. In diesem Zusammenhang nenne ich Länder wie die Volksrepublik China, Indonesien und auch die Türkei.
Wer allerdings seinen Finger immer nur moralisierend und belehrend erhebt, erreicht in der Regel gar nichts.
({21})
Nur wer im Gespräch bleibt, kann ein Wort einlegen für diejenigen, die der Fürsprache bedürfen. Das ist die Ratio unseres Menschenrechtsdialogs mit den schwierigen Partnern. Die Welt besteht leider Gottes eben nicht nur aus einfachen, sondern auch aus sehr vielen schwierigen Partnern, gerade im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen.
Deshalb wird die Bundesregierung weiterhin kühlen Kopf bewahren und den Dialog mit Teheran gerade über die Themen fortsetzen, die uns Sorge bereiten: Terrorismus, Lage der Menschenrechte und aggressiver Fundamentalismus. Ich will aber, damit kein Irrtum aufkommt, nochmals betonen: Wir werden es nicht zulassen, daß versucht wird, von außen Einfluß auf unsere Gerichtsverfahren zu nehmen. Wir sind ein Rechtsstaat mit Gewaltenteilung. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich vor die Bundesanwaltschaft und vor unsere Gerichte stellen.
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Der Drang nach Freiheit ist und bleibt die treibende Kraft des Wandels zum Guten. Viele Männer und Frauen haben ihn mit ihrem Leben bezahlt: Dietrich Bonhoeffer in Plötzensee, Peter Fechter an der Mauer, Ken Saro-Wiwa in Nigeria. Drei Namen - drei Schicksale. Sie stehen für viele. Sie wollten Freiheit und ein Leben in Würde. Ihr Vermächtnis verpflichtet.
Vielen Dank.
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Als nächster spricht der Kollege Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Für die SPD-Bundestagsfraktion begrüße ich ausdrücklich, daß die Bundesregierung heute - nach meiner Erinnerung zum erstenmal - eine Regierungserklärung zu den Menschenrechten abgegeben hat. Das unterstreicht unsere gemeinsame Entschlossenheit, die Menschenrechtspolitik nicht zu einer Randfrage der Politik werden zu lassen, sondern sie wirklich als eine zentrale Frage unserer Innen- und unserer Außenpolitik zu betrachten.
Ich begrüße ausdrücklich, Herr Außenminister, den Kernsatz Ihrer Regierungserklärung:
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Sie anerkennen für die Bundesregierung die Verpflichtung, sich „mit ganzer Kraft", so haben Sie gesagt, für diejenigen einzusetzen, die heute noch unter Gewalt, Unterdrückung und Verfolgung leiden. Sie werden uns erlauben, daß wir diese Botschaft nicht nur gern hören, sondern daß wir Sie auch an Ihren Taten messen werden.
Bei allem, was Sie dargestellt haben, drängen sich immer die Fragen auf: Was tun wir? Tun wir genug? Ich möchte als erstes versuchen, ein paar Grundsätze herauszuarbeiten, die aus unserer Sicht Grundlage einer gemeinsamen Menschenrechtspolitik des ganzen Hauses sein sollten.
Menschenrechtspolitik sollte nicht als ein Feld parteipolitischer Profilierung betrachtet werden. Wir werden manchmal dahin gedrängt; das wissen wir alle. Menschenrechtspolitik hat ein ganz klares Ziel. Es geht darum, einzelnen Menschen oder ganzen Gruppen von Menschen und manchmal sogar ganzen Völkern, die sich in Not befinden, zu helfen. Diesem Ziel muß alles andere untergeordnet werden.
Darum ist eines ganz klar: Je gemeinsamer wir als Parlament handeln, je stärker der Wille ist, den wir zum Ausdruck bringen, desto eher können wir vielleicht auch bei Regierungen, auf die sonst schwer Einfluß zu nehmen ist, etwas erreichen.
({1})
Das ist der Grund, warum wir in der Praxis in den letzten Jahren erreicht haben - ohne Absprache zwischen den Fraktionen; das hat sich von selbst entwikkelt -, daß wir uns in allen Menschenrechtsfragen darum bemühen, zu fraktionsübergreifenden gemeinsamen Anträgen zu kommen. Das bedeutet, daß man manchmal an der einen oder anderen Stelle mit seinen eigenen Vorstellungen zurückstehen muß.
Ich bekenne ganz offen: Mir geht das, was wir heute gemeinsam zu Nigeria beschließen wollen, nicht weit genug. Aber wenn die Alternative heißt, daß wir nur eine Teilerklärung des Bundestages bekommen würden, dann ist es mir lieber, wir haben eine Erklärung, hinter der wir gemeinsam stehen und mit der unsere Regierung nach Nigeria gehen und sagen kann: Das ist das, was der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit von euch will. - Das ist mir lieber, als wenn mit der Mehrheit des Hauses etwas weggestimmt wird, was ich für eine wichtige Sache halte, nämlich zum Beispiel, daß man den schrecklichen und korrupten Diktatoren in Nigeria den Geldhahn sofort zudreht und nicht erst, nachdem man sie gewarnt hat.
({2})
Menschenrechtspolitik ist für uns also nicht ein schmückendes Beiwerk, sondern unverzichtbare Leitlinie der deutschen Politik. Eine Welt, in der Menschenrechte geachtet werden, das ist eine Welt, an der wir ein ganz unmittelbares existentielles Interesse haben sollten. Es ist nicht so, als sei die Menschenrechtspolitik allein im strikt humanitären Bereich angesiedelt.
Wir haben ein Interesse daran, daß sich eine Welt bildet, in der die Menschenrechte nach innen und nach außen geachtet werden. Staaten, die die Menschenrechte nach innen achten, sind Staaten, die inneren Frieden halten können. Staaten, die inneren Frieden halten, sind Staaten, die auch im internationalen Verkehr - jedenfalls eher - in der Lage und bereit sind, Frieden zu halten als andere. Wer eine Welt des Friedens, der Sicherheit, der friedlichen Entwicklung will, der muß daran interessiert sein, daß die fundamentalen Menschenrechte überall gelten.
Menschenrechtsverletzungen - Herr Kinkel hat das dargestellt; ich kann mich dem anschließen - sind keine Ausnahmeerscheinung. Es gibt heute vielleicht einen Unterschied zu der Situation vor ein paar Jahren: Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist gewachsen. Das hängt mit Veränderungen der Medienlandschaft und der Medientechnik zusammen, hängt vielleicht auch damit zusammen, daß unsere Aufmerksamkeit nicht mehr so abgelenkt ist von der Blockkonfrontation.
So mag der Eindruck entstehen, die Zahl der Menschenrechtsverletzungen sei gestiegen. Ich glaube nicht, daß es so ist. Aber die Zahl der bekannten Menschenrechtsverletzungen, die Zahl der Fälle, die wir wahrnehmen, von denen wir etwas wissen, ist gestiegen. Darum ist Menschenrechtspolitik ein Feld der Politik geworden, auf dem mehr Aktivitäten abgefordert werden als in der Vergangenheit.
Bundespräsident Herzog - heute schon zitiert; ich will ihn jetzt in einem anderen Zusammenhang zitieren - hat in einem sehr bemerkenswerten Grundsatzartikel zur deutschen Menschenrechtspolitik vor einigen Wochen die These aufgestellt, die Diskussion gehe nicht um das Ob, also ob wir Menschenrechtspolitik betreiben, sondern um das Wie. Er hat also die Frage nach der Methode gestellt. Ich schließe mich dieser Einschätzung ausdrücklich an und auch seiner Aufforderung an uns, in der Menschenrechtspolitik einen pragmatischen Ansatz zu wählen. Das ist nichts anderes als das, was ich eben schon gesagt habe: Menschenrechtspolitik muß zielorientiert sein,
und es muß immer abgewogen werden, welches Mittel das jeweils geeignete ist, um das gewünschte Ziel zu erreichen.
Herr Kinkel hat die Hauptprobleme dargestellt. Wir sehen sie genauso, wobei wir vielleicht etwas stärker betonen wollen, daß die Verletzung des elementaren Rechts auf ein menschenwürdiges Dasein, also schlichte menschenwürdige Existenz, die Menschenrechtsverletzung ist, mit der wir es auf dieser Welt am häufigsten zu tun haben und von der nicht Millionen, sondern Hunderte von Millionen Menschen betroffen sind. Wenn soziale Ungerechtigkeit, wirtschaftliche Unterentwicklung und ökologische Ignoranz den Menschen nicht erlauben, ihre Anlagen zu entwickeln und ein Leben in Freiheit und Menschenwürde zu führen, wenn Ausbeutung und Korruption Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten vernichten, dann ist das eine Menschenrechtsverletzung systematischen und massenhaften Ausmaßes.
Eine Menschenrechtsverletzung systematischer Art sind auch die zunehmende Gewaltbereitschaft vor allen Dingen in Konflikten innerhalb von Staaten sowie die wachsende international organisierte Kriminalität. Hier möchte ich einen Punkt ansprechen, den Sie nicht erwähnt haben, Herr Außenminister: Gewalt innerhalb und zwischen Staaten, die wir mehr und mehr erleben, ist nur möglich, wenn diejenigen, die sie anwenden wollen, an die Mittel dazu kommen, und die Mittel dazu sind Waffen.
({3})
Rüstungsexporte sind in vielen Fällen direkte Beihilfe zu Menschenrechtsverletzungen.
({4})
Deshalb erwarten wir, daß eine restriktive Rüstungsexportpolitik Grundlinie der deutschen Politik bleibt.
({5})
Autoritäre und totalitäre Systeme, meine Damen und Herren, gibt es noch immer genug, auch in Europa. Es besteht sogar die Gefahr, daß sich gerade neue entwickeln. In solchen Fällen gilt es immer, sich auf die Seite der Menschen zu stellen. Ich fand es schön, Herr Dr. Kinkel, daß Sie die Verletzung der demokratischen Grundrechte in Serbien jetzt gegeißelt haben. Es wäre mir aber lieber gewesen, Sie und die anderen europäischen Regierungen hätten es sofort getan.
({6})
Hier zeigt sich leider ein Muster. Wir haben dasselbe schon beim Tschetschenien-Krieg erlebt. Man hat den Eindruck, daß die Bundesregierung und andere Regierungen zunächst einmal peinlich berührt wegsehen. Man braucht ja diesen Milošević, man will ja mit ihm noch politische Ergebnisse erzielen. Erst als immer stärker internationaler Druck aufgebaut wurde und erst als in Belgrad die Parallele zu dem, was vor genau sieben Jahren - das haben wir ja alle noch vor Augen - in Leipzig geschehen ist, immer deutlicher wurde, haben sich die westeuropäischen Regierungen endlich bequemt, das zu sagen, was zu sagen war. Ich denke, es kommt in solchen Fragen darauf an, schnell und entschlossen - vor allen Dingen aber schnell - klarzumachen, welches unsere Position ist.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß wir in der sehr schwierigen Frage der Methodik, wie wir Menschenrechtspolitik betreiben, drei Fehler nicht machen dürfen. Wir dürfen erstens niemals akzeptieren, daß gesagt wird, Menschenrechtspolitik sei eine Einmischung. Sie ist keine Einmischung, sondern die Menschenrechte gelten universal.
({8})
Zweitens. Wir dürfen nicht so tun, als seien Menschenrechte ein weiches Interesse unserer Politik. Amerikaner machen diesen bemerkenswerten Unterschied zwischen harten und weichen Interessen; es mag ihn ja auch geben. Aber wenn es ihn gibt, dann gehört die Verfolgung von Menschenrechtsinteressen zu den harten und nicht zu den weichen Interessen.
({9})
Schließlich sollten wir nicht den Fehler machen, zu glauben, daß Menschenrechtspolitik und Exportinteressen einander ausschließen. Ich glaube nicht an die These, die der Bundesaußenminister heute wieder vertreten hat, daß nämlich wirtschaftliche Beziehungen letztlich zur Veränderung politischer Systeme führen müssen. Sie können es; ich will das nicht bestreiten. Ich bin nicht der Meinung, daß es klug ist, unsere außenwirtschaftlichen Beziehungen als einen Beitrag zur Transformation gesellschaftlicher Systeme zu beschreiben. Das ist nicht der Zweck außenwirtschaftlicher Beziehungen. Ich bin sehr dafür, daß wir Handel treiben, und ich bin sehr dafür, daß wir einen Menschenrechtsdialog auch mit den Regierungen haben, mit denen es Schwierigkeiten gibt. Das Gegeneinander-ins-Feld-Führen von Menschenrechtspolitik und Außenwirtschaft ist ein schwerer Fehler und wird uns in jedem Einzelfall immer nur dahin bringen, daß unsere Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird.
Meine Damen und Herren, die Instrumente und Mittel werden von Fall zu Fall verschieden sein müssen. Es gibt Fälle, in denen das härteste Mittel, die wirtschaftliche Blockade, die Sanktion, angebracht ist. Es muß immer bedacht werden: Wen trifft man damit? Deshalb wird dieses Mittel der extreme Ausnahmefall bleiben müssen.
Es gibt Fälle, in denen es richtig sein wird, Entwicklungshilfe, Wirtschaftsbeziehungen und Handelspolitik so zu steuern, daß nicht ein Regime unterstützt wird, aber die Menschen nach Möglichkeit nicht darunter leiden. Es gibt die vielen Fälle, in deGünter Verheugen
nen politischer und diplomatischer Druck notwendig ist, und - ich will das gern zugestehen - es gibt auch Fälle, in denen stille Diplomatie richtig ist, in denen es richtig ist, ohne große Öffentlichkeitswirkung vertraulich mit einer Regierung darüber zu reden, ob ein spezieller Einzelfall gelöst werden kann. Das muß immer von Fall zu Fall entschieden werden.
Für uns ist wichtig, daß die Linie klar ist, daß erkennbar ist: Wir haben keine doppelten Standards, wir haben keine selektive Wahrnehmung, sondern wir reden über die Menschenrechte überall in der Welt und im eigenen Land gegenüber unseren eigenen Bürgerinnen und Bürgern mit derselben Sprache über dieselben Ziele.
Vielen Dank.
({10})
Es spricht jetzt in der Debatte der Kollege Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung des 3. Menschenrechtsberichts der Bundesregierung und die richtige Zielsetzung der deutschen Menschenrechtspolitik werden durch die einmütige Zustimmung unterstrichen, die dieser Bericht im Auswärtigen Ausschuß und im Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe gefunden hat. Der Deutsche Bundestag möge heute feststellen - so die Entschließung -, daß dieser Bericht in ausführlicher Weise der gewachsenen Bedeutung des Menschenrechtsthemas für die internationale Politik Rechnung trägt. Das ist gut so und wird von meiner Fraktion nachdrücklich begrüßt.
({0})
Dies ist ein Bericht, der den hohen Stellenwert dokumentiert, den der Schutz und die weltweite Förderung der Menschenrechte in der Politik der Bundesregierung und des Bundestages einnehmen. Dies ist unterschiedslos praktizierte Politik. Das läßt sich an zahlreichen konkreten Beispielen darstellen: Das gilt für die Chinapolitik der Bundesregierung ebenso wie für unsere Haltung zum Iran, den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien und für die Reise des Bundeskanzlers nach Indonesien.
Ich will, Herr Kollege Verheugen, aus dem persönlichen Erleben der Reise nach Indonesien gern eines sagen - schließlich haben wir in der Vergangenheit schon einmal über die Indonesienpolitik, die wir in Deutschland betreiben, gestritten -: Das Thema Menschenrechte war Gegenstand der Gespräche zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Suharto, ebenso mit beiden Kirchen. Bischof Belo war zu einer Begegnung eingeladen; wir begrüßen ausdrücklich, daß es sehr bald zu einem Treffen zwischen Bundeskanzler Kohl und Bischof Belo kommt.
({1})
Die Abgeordneten haben mit der Menschenrechtskommission, mit Nichtregierungsorganisationen, mit dem zuständigen Parlamentsausschuß, mit dem angeklagten früheren Parlamentsabgeordneten Pamungkas und mit dem Verteidiger des angeklagten Gewerkschaftsführers Pakpahan diskutiert. Die Diskussionen waren alle öffentlich, sie fanden im Beisein der Medien statt, auch vorgetragen in der Pressekonferenz des Bundeskanzlers.
Die beteiligten Organisationen haben die vielfältigen Aktivitäten unserer Seite und den Stellenwert des Themas Menschenrechte ausdrücklich begrüßt und anerkannt. Deshalb will ich mit Blick auf die Zukunft sagen: Nach meiner Einschätzung gibt es keinen Grund, im deutschen Parlament streitig über unsere Indonesienpolitik zu diskutieren.
Zu den Grundsätzen: Menschenrechte gelten universell, deshalb ist die Anmahnung der Menschenrechte keine Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten.
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Die Menschenrechte sind zwar nicht überall auf der Welt in gleicher Weise kodifiziert, dennoch gibt es einen Kernbestand an fundamentalen Rechten, der allen internationalen Menschenrechtskatalogen gemeinsam und der weltweit anerkannt ist.
Eine zentrale Frage unserer heutigen Debatte lautet: Ist es möglich, gleichzeitig eine interessenorientierte und eine werteorientierte Außenpolitik zu betreiben? Können wir unsere außenwirtschaftlichen Ziele verfolgen, ohne uns in Menschenrechtsfragen zu verbiegen? Unsere Antwort lautet: Ja. Wirtschaftliche Interessen und eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik sind kompatibel, denn:
Erstens - ich zitiere den Bundespräsidenten -:
So wenig es falsch war, daß mit der Sowjetunion auch über Fragen der Sicherheitspolitik gesprochen wurde, so wenig kann es falsch sein, beim Wirtschaftsaustausch mit asiatischen Staaten neben den Menschenrechten auch die Erhaltung deutscher Arbeitsplätze im Auge zu haben.
Zweitens. Das Eintreten für Menschenrechte ist nicht nur moralische Pflicht von Demokraten, sondern liegt im Eigeninteresse der Völkergemeinschaft selbst. Die Mehrzahl der friedensbedrohenden Krisenherde in der Welt wurzelt in einer Mißachtung der Menschenrechte, sei es aus ethnischer, religiöser, wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Motivation. Die Folgen von Menschenrechtsverletzungen reichen häufig weit über das betroffene Land oder die jeweilige Region hinaus. Sie gefährden beispielsweise durch neue Flüchtlingsströme den äußeren und inneren Frieden und damit auch die Sicherheit geordneter Handels- und Wirtschaftsbeziehungen.
Drittens. Wandel durch Handel ist wichtig. Wirtschaftliche Freiheit kann auf die Dauer nicht ohne korrespondierende gesellschaftliche Freiheit funktionieren. Wirtschaftliche Öffnung kann und wird eine politische Öffnung begünstigen. Dies darf uns jedoch nicht veranlassen, darauf zu warten, daß sich die Einhaltung der Menschenrechte irgendwann von selbst einstellt. Menschenrechte - also Leben, Menschenwürde, Schutz vor Folter und willkürlichem Freiheitsentzug, vor politischer, ethnischer oder religiöser DisRudolf Seiters
kriminierung - sind nicht Nebenprodukt wirtschaftlicher Beziehungen. Es gibt keine politische oder gesellschaftliche Lage und keine kulturelle Tradition, mit der die Verweigerung der fundamentalen Rechte der Person zu rechtfertigen wäre.
({3})
Dennoch müssen wir darauf achten, für die Durchsetzung der Menschenrechte auch die richtigen Methoden zu wählen. Der Einsatz für Menschenrechte darf nicht der Selbstdarstellung dienen. Er ist allein durch die Solidarität mit den Menschen legitimiert, denen das Recht auf Leben, Menschenwürde und Selbstbestimmung vorenthalten wird. Natürlich müssen wir die Einhaltung der auch von den jeweiligen Ländern akzeptierten Menschenrechtsnormen einfordern. Wir sollten aber etwa gegenüber den asiatischen Kulturnationen nicht der Gefahr erliegen, ihnen unser eigenes Menschenbild aufzuoktroyieren und damit unter dem Vorzeichen der Menschenrechte Kulturimperialismus zu betreiben. Für die Durchsetzung der Menschenrechte ist nichts gewonnen, wenn wir den Dialog über Werte und Kulturen so führen, daß er unweigerlich in den Zusammenprall der Zivilisationen mündet.
({4})
Herr Kollege Fischer, ich weiß sehr wohl, daß diese Überlegungen zum Menschenrechtsverständnis und zur Menschenrechtspolitik noch keine Lösungen für die Durchsetzung der Menschenrechte im konkreten Fall darstellen. Klar ist lediglich, daß unterschiedliche Formen von Menschenrechtsverletzungen in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Handlungsoptionen und Strategien erfordern. Dabei mag in bestimmten Fällen die Verhängung von wirtschaftlichen und politischen Sanktionen sinnvoll sein, in anderen vielleicht die Verurteilung durch die Völkergemeinschaft. Aber das Massaker in Srebrenica konnte weder mit der einen noch mit der anderen Strategie verhindert werden. Der Hungertod der ruandischen Flüchtlinge in Zaire, die Unterernährung von über 800 Millionen Menschen auf der Erde sowie der sexuelle Mißbrauch und die Ausbeutung von Kindern erfordern jeweils eigene Antworten. Wenn im übrigen manchmal lautstark die Isolierung von Staaten gefordert wird, dann frage ich: Wie isoliert man einen Staat von mehreren zig oder hundert Millionen Menschen?
({5})
Lassen Sie mich meine Meinung an drei Beispielen illustrieren.
Erstens unser Umgang mit der Volksrepublik China. Der chinesische Dissident Harry Wu hat die Bundesrepublik Deutschland vor wenigen Tagen aufgefordert, die guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Volksrepublik China selbstbewußt auch für Zugeständnisse in Menschenrechtsfragen einzusetzen. Das muß auch geschehen. Ich halte es für legitim, für notwendig und für auf lange Sicht erfolgversprechend, chinesische
Forderungen nach Zurückhaltung in Menschenrechtsfragen mit dem Hinweis zu beantworten, daß die außenwirtschaftlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie die Außenpolitik durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens legitimiert sein müssen und dieser Konsens gefährdet ist, wenn kein ernsthaftes Bemühen um die Wahrung der Menschenrechte erkennbar ist.
Einen neuen pragmatischen Ansatz hat Bundespräsident Herzog bei seiner jüngsten China-Reise aufgezeigt. Die Proteste gegen die Behandlung von Dissidenten und die Bitten ausländischer Staatsgäste in Peking um die Begnadigung politischer Häftlinge sind wichtig. Aber genauso wichtig ist gerade in China der Kampf gegen die tägliche Willkür der Behörden.
Verfassungsrechte sind in China wegen des mangelnden Justizverständnisses nur schwer durchzusetzen. Da sich die Menschen kaum gegen die Eigenmächtigkeiten des Apparates wehren können, haben die Rechtsschutzberatung und die Reform der Strafprozeßordnung hohe Priorität. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt deshalb nachdrücklich, daß der Bundespräsident deutsche Hilfe und Unterstützung auf diesen Feldern angeboten hat. Das könnte mittelfristig eine rechtsstaatliche Entwicklung in der Volksrepublik China begünstigen. Das sollte auch eine gemeinsame Aufgabe der Europäischen Union sein.
({6})
Zweitens. Die Menschenrechtsverletzungen während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien hatten andere Ursachen und ein anderes Ausmaß. Ich freue mich im übrigen, meine Damen und Herren, liebe Kollegen, daß die drei Ombudsleute aus allen drei Volksgruppen der Föderation Bosnien-Herzegowina heute anwesend sind. Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, daß ich sie - sicherlich im Namen aller Kollegen - herzlich auf der Tribüne begrüße.
({7})
In Srebrenica geschah Völkermord. Hunderttausende Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, gefoltert, vergewaltigt oder grausam ermordet. Der Fall von Srebrenica hat die Völkergemeinschaft aufgerüttelt. Es kam eine Intervention zustande, die dem Völkermord Einhalt gebot. Erst die schnelle Eingreiftruppe - das will ich nachdrücklich an alle Seiten dieses Hauses sagen - und anschließend die IFOR-Friedensmission, von der UNO beschlossen und unter NATO-Führung umgesetzt, haben die kriegerische Aktion gestoppt und das Morden beendet.
({8})
Die IFOR-Mission ist deshalb auch und in erster Linie eine Mission für die Menschenrechte.
({9})
Für meine Fraktion möchte ich deshalb in aller Klarheit und in aller Ruhe sagen: Wer den IFOR-EinRudolf Seiters
satz ablehnt, wer die Zustimmung zu einer Beteiligung der Bundeswehr an IFOR und der Nachfolgemission verweigert - darüber werden wir in der nächsten Woche noch zu sprechen haben -, trägt hohe Verantwortung, wenn es zu neuen schweren Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien kommt, und er macht sich auch unglaubwürdig für die Einforderung der Menschenrechte in Afghanistan, in Nigeria, im Iran, im Sudan oder in Indonesien.
({10})
Von Immanuel Kant stammt der Satz, daß Demokratien keine Kriege gegeneinander führen. Wenn unser Engagement in Bosnien und in den anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens dazu beiträgt, die demokratischen Strukturen zu entwickeln und zu festigen, dann haben wir nicht nur einen Beitrag für die Menschenrechte, sondern auch für einen dauerhaften Frieden geleistet.
({11})
Eine dritte Bemerkung. Es ist mittlerweile unbestritten, meine Damen und Herren, daß es einen engen Beziehungszusammenhang zwischen Entwicklungspolitik und Menschenrechten gibt, nicht nur, weil das Recht auf Entwicklung zunehmend als eigenständiges Menschenrecht der dritten Generation anerkannt wird, sondern weil Entwicklungspolitik die Menschenrechte in besonderer Weise fördern kann.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß die Vergabekriterien, welche wir in den vergangenen Jahren der bilateralen Entwicklungspolitik zugrunde gelegt haben und zu denen auch die Einhaltung der Menschenrechte gehört, sich nicht nur bewährt, sondern auch in der multilateralen Entwicklungshilfe und bei unseren europäischen Partnern durchgesetzt haben. Wer täglich einen fast aussichtslosen Kampf um ausreichende Ernährung, die Versorgung mit Wasser und Medikamenten, Wohnraum, Gesundheit und Bildung führen muß, der sieht seine Menschenrechte auf andere Weise verletzt als die Deutschen in der ehemaligen DDR.
Dennoch sind es die gleichen politischen Strukturmerkmale - Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, Unverletzlichkeit der Person, Presse- und Informationsfreiheit, politische Beteiligung -, die die Einhaltung der Menschenrechte und zugleich eine dauerhafte, tragfähige wirtschaftliche und soziale Entwicklung garantieren. Entwicklungshilfe ist von daher praktizierte Menschenrechtspolitik und zugleich Zukunftsvorsorge. Wir sollten uns dies auch und gerade in Zeiten schwieriger finanzieller Rahmenbedingungen immer wieder bewußt machen.
({12})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Für uns gilt auch künftig: Menschenrechtsschutz liegt im politischen Interesse der
Staaten, Menschenrechtspolitik dient der Entwicklung, der Stabilität und dem Frieden.
({13})
Die nächste Rednerin ist Amke Dietert-Scheuer.
FraU Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir jetzt ein Jahr Zeit hatten, ihn zu studieren, möchte ich zunächst auf den 3. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung eingehen.
Zwei Dinge kann ich gleich zu Anfang zu ihm sagen. Zuerst das Gute: Einige Sätze in diesem Bericht sind in ihrer Abstraktheit geradezu richtig zu nennen und heischen nach Anerkennung. Das Schlechte: Das war's auch schon.
In dem Bericht heißt es richtig, Menschenrechtspolitik sei eine Querschnittsaufgabe. Von der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnis ist aber in der Politik der Bundesregierung nicht viel zu spüren.
({0})
Es reicht nicht, Menschenrechtsprobleme in bilateralen diplomatischen Beziehungen anzusprechen, sondern es muß eine konsistente und konsequente Politik dahinterstehen.
Ein Beispiel. Eine konsistente Menschenrechtspolitik muß Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Außenwirtschaftspolitik, insbesondere der Rüstungsexporte, wesentlich stärker einbeziehen. In Ihrem Bericht heißt es dazu:
Insbesondere die restriktive Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung berücksichtigt sowohl im Bereich des Außenwirtschaftsrechts als auch des Kriegswaffenkontrollrechts das Kriterium der Menschenrechtslage im Empfängerland.
Wie bitte?, fragt sich da der unbefangene Leser. Ich glaube, Sie wollen uns für dumm verkaufen.
Das Beispiel Türkei haben wir in diesem Zusammenhang schon häufig diskutiert. Ungeachtet des Krieges, der dort gegen die kurdische Bevölkerung geführt wird, der grausamsten und abscheulichsten Menschenrechtsverletzungen werden weiterhin Waffen an die Türkei geliefert.
Ein weiteres Beispiel sind die Rüstungslieferungen nach Indonesien. Gerade am Beispiel der Politik gegenüber Südostasien wird deutlich, wie in dem zunehmenden Wettlauf um Marktanteile Menschenrechtspolitik auf der Strecke bleibt.
({1})
Hier noch ein Wort zu dem Kollegen Seiters. Es entsetzt mich immer wieder, wenn auch im Bundestag Politiker auf diese Rechtfertigungsstrategien hereinfallen, Menschenrechte seien westlicher Kulturimperialismus. Ich meine, der Menschenrechtsbegriff muß bei den Opfern ansetzen, und Menschen in InAmke Dietert-Scheuer
donesien, in Afrika oder wo auch immer wollen genausowenig gefoltert werden wie wir.
({2})
Von Amnesty International wurde treffend formuliert:
Menschenrechte sind nicht das Sahnehäubchen einer vorrangig auf wirtschaftlichen Vorteil orientierten Politik.
Das vielbeschworene Konzept von Wandel durch Handel funktioniert zumindest nicht durch bloßen Handel allein. Mit besonderem Interesse habe ich daher das sogenannte Arsenal an Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtslage studiert. Hier werden vorrangig Demokratisierungshilfen und Ausstattungshilfen genannt.
Schön und gut. Demokratisierungshilfen sind unstrittig ein wesentliches Element der Förderung der Menschenrechte. Aber nicht nur in Staaten, in denen demokratische Strukturen in der Entwicklung begriffen sind, sondern gerade auch in Ländern mit noch repressiven Regimen ist es wichtig, Demokratiebewegungen, Menschenrechts- und Frauenbewegungen zu unterstützen und zu fördern.
Auch Ausstattungs- und Schulungsmaßnahmen für die Polizei können ein Beitrag zur Förderung der Menschenrechte sein. Die entscheidende Frage ist hier jedoch, für wen und wann. Solange Verschwindenlassen und Folter zur politischen Strategie gehören, macht es wenig Sinn, die Polizei auszurüsten oder fortzubilden.
Hier ist wiederum das Beispiel Türkei stellvertretend für andere Länder zu nennen. Folter in Polizeistationen ist dort keine Frage von mangelnder Ausbildung der Polizisten, sondern ein Mittel, das politisch eingesetzt wird. Solange dies sich nicht ändert, werden auch Ausbildungshilfen für die Polizei nichts nützen.
Im Bericht der Bundesregierung werden besonders die Bemühungen herausgestellt, sich für den Menschenrechtsschutz im Rahmen internationaler Gremien einzusetzen. Das liest sich erst einmal überzeugend. Die Vorbehalte, die die Bundesregierung zu verschiedenen Menschenrechtskonventionen eingelegt hat, werden jedoch vornehm verschwiegen, zum Beispiel Vorbehalte zur Konvention über die Rechte des Kindes, die sich gegen den Schutz von Flüchtlingskindern richten.
Wir denken auch, daß es für die Bundesregierung nicht nur um eine Mitarbeit in internationalen Institutionen gehen darf, sondern um eine stärkere Nutzung der zur Verfügung stehenden Instrumentarien gehen muß.
In unserem Entschließungsantrag fordern wir deshalb die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, daß Algerien, China, Indonesien mit OstTimor, die Türkei, Kolumbien und Nigeria auf die Tagesordnung der nächsten Menschenrechtskonferenz gesetzt werden.
({3})
Besonders wichtig wäre auch ein aktiverer Einsatz der Bundesregierung für eine baldige Verabschiedung der UN-Erklärung zum Schutz verfolgter Menschenrechtler.
Am Beispiel Nigeria haben wir gesehen, wie wichtig ein solcher Schutz ist. Auch ein Jahr nach der Ermordung von Ken Saro-Wiwa hat sich in diesem Land trotz weltweiter Empörung und Appellen nichts geändert. Ich freue mich, daß dies auch die Kollegen aus den anderen Fraktionen so sehen. Es liegt Ihnen deshalb ein interfraktioneller Antrag vor, in dem gezielte Maßnahmen gefordert werden, um den Druck auf das Militärregime in Nigeria zu erhöhen. Ich schließe mich aber durchaus Herrn Verheugen an: Die Maßnahmen, die da gefordert werden, reichen bei weitem noch nicht aus.
Aber auch wir direkt können und müssen hier noch mehr tun. In Nigeria befinden sich derzeit 18 Ogoni in Haft mit der gleichen Anklage wie die gegen Ken Saro-Wiwa. Einer von ihnen ist auf Grund der katastrophalen Haftbedingungen bereits gestorben; weitere sind schwer krank und schweben in akuter Lebensgefahr. Einige Bundesländer haben ihre Bereitschaft erklärt, diese Gefangenen als politische Flüchtlinge anteilig aufzunehmen. Die Bundesregierung sieht jedoch keine Notwendigkeit, in diesem Sinne aktiv zu werden. Statt dessen werden Flüchtlinge lieber weiter nach Nigeria abgeschoben.
Wir haben auch dazu einen Entschließungsantrag eingebracht. Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesinnenminister, hat damit Gelegenheit, unter Beweis zu stellen, was in den Zielen und Grundsätzen deutscher Menschenrechtspolitik formuliert wird. Wir können dazu auf Seite 5 des Berichts der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik lesen:
Menschenrechtspolitik fängt im eigenen Land an. Nur so ist sie glaubwürdig und damit ein Element effizienter internationaler Menschenrechtspolitik.
Ich hoffe, daß dies demnächst auch einmal umgesetzt wird.
Vielen Dank.
({4})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Menschenrechtspolitik zu einem noch wichtigeren Thema der Außenpolitik geworden. Sie ist keine Alternative zur SicherheitsDr. Irmgard Schwaetzer
politik oder zur Außen- und Wirtschaftspolitik, sondern vorrangiges Ziel einer wertorientierten Politik demokratischer Staaten, was allerdings daneben die Verfolgung anderer Ziele nicht ausschließt, was natürlich auch nicht ausschließt, andere, auch wirtschaftliche Interessen zu verfolgen.
Ich möchte für meine Fraktion sehr nachdrücklich unterstreichen, daß wir entgegen Ihrer Unterstellung, Frau Kollegin Dietert-Scheuer, an einer restriktiven Rüstungsexportpolitik festhalten.
({0})
Herr Kollege Verheugen, Sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß Sie erwarten, daß es bei einer restriktiven Politik bleibt. Das heißt, Sie unterstellen das nicht, was die Kollegin ausgedrückt hatte.
Herr Kollege Verheugen, ich begrüße nachdrücklich, daß Sie in diesem wichtigen Bereich den Willen zur Gemeinsamkeit unterstrichen haben. In der Tat: Wenn wir mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen - damit erfolgreich zu sein, ist ja schon schwer genug -, Erfolg haben wollen, dann am besten in der Form, daß wir sie gemeinsam anwenden. Natürlich stellen wir uns immer die Fragen: Was ist zu tun? Tun wir genug?
Der Außenminister hat sehr klar formuliert, daß sich die Bundesregierung im Menschenrechtsbereich Ziele setzt. Er hat die Instrumente definiert. Beides ist gleich wichtig; denn ohne die Definition des Weges werden die Ziele, nämlich Hilfe für Opfer von Menschenrechtsverletzungen, Prävention und Verbesserung des Menschenrechtsschutzes, nicht erreichbar sein.
Es gibt allerdings, auch in der Bundesrepublik Deutschland, eine Diskussion über die Methoden der Menschenrechtspolitik. Hier ist dringend Klarheit von seiten der Politik gefordert. Ich kann mich einer Einschätzung, die einen aktiven Dialog über Menschenrechtsfragen mit allen Staaten dieser Welt, in denen Menschenrechte verletzt werden, als einen Teil von Kulturimperialismus hinstellen möchte, in keiner Weise anschließen.
({1})
Ich frage mich vielmehr, ob nicht diejenigen, die das tun, von Selbstzweifeln geplagt werden und ob sie damit dem Machtimperialismus derjenigen auf den Leim gehen, die den Dialog über Menschenrechtsverletzungen in ihren eigenen Gesellschaften verweigern, aber natürlich auch dem Westen gegenüber verweigern.
({2})
Eine solche Diskussion ist auch nicht im Sinne derer, die sich in Ländern, in denen heute Menschenrechte verletzt werden, massiv dafür einsetzen, daß sich die Bedingungen zu Hause verbessern.
Wer heute mit modernen Muslimen redet, wird immer wieder darauf verwiesen, daß islamischer Fundamentalismus zwar auch eine Verweigerung der Moderne, eine versäumte Aufklärung darstellt, aber auf keinen Fall eine verbindliche Interpretation des Koran sein kann. Er wird auf der anderen Seite aber auch darauf aufmerksam gemacht, daß der Westen völlig unvorbereitet auf diese Art des kulturellen Dialogs ist. Es ist eine der wichtigen Aufgaben, die wir in den nächsten Monaten und Jahren gemeinsam bewältigen müssen, diesen Dialog mit Nachdruck und von unserer Seite um so fundierter zu führen, wie andere versuchen, ihn für sich zu instrumentalisieren.
({3})
Welche Rechtfertigung kann es eigentlich für Folter geben? Es gibt in meinen Augen auch keinerlei Rechtfertigungen für jegliche Formen der Todesstrafe, sei es nun das Steinigen oder eine andere Form der Todesstrafe.
({4})
Wir müssen dieses mit Nachdruck gegenüber allen Ländern zum Ausdruck bringen, in denen die Todesstrafe angewendet wird, egal ob es sich um Afghanistan, Iran oder die USA handelt.
({5})
Fragen wir uns doch einmal: Was macht eigentlich den Menschenrechtsdiskurs mit manchen Staaten so schwierig, während wir mit anderen Staaten der gleichen Region überhaupt keine Probleme haben, weil dort die Menschenrechte umfassend respektiert werden und deswegen keinerlei Anlaß für einen kritischen Dialog besteht?
Es geht hier also nicht um Kulturimperialismus, sondern es geht darum, Geradlinigkeit, Beständigkeit und Überzeugungstreue in der Verfolgung der Ziele der Menschenrechtspolitik walten zu lassen.
Natürlich ist die Bekämpfung von Hunger und Elend Voraussetzung eines elementaren Menschenrechtsschutzes. Deshalb möchte ich an dieser Stelle Außenminister Kinkel und dem Delegationsleiter der Bundesrepublik Deutschland bei der Menschenrechtskonferenz in Genf, Herrn Baum, nachdrücklich danken, daß sie auf der 52. Tagung der Konferenz in diesem Jahr der Definition des Rechts auf Entwicklung zum Durchbruch verholfen haben.
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Dies stellt keine Ausweitung des Menschenrechtskatalogs dar, die es nach meiner Auffassung über den im Aktionsplan von Wien 1993 festgelegten Katalog hinaus auch nicht geben sollte.
Ich möchte allerdings sehr nachdrücklich darauf hinweisen, daß es keine Abstriche an diesem Katalog geben darf. Es wird vereinzelt, auch in der Bundesrepublik, diskutiert, den Menschenrechtskatalog auf den sogenannten Kernbereich zu konzentrieren. Ich würde dieses für falsch halten, denn der Aktionsplan
von Wien ist einmütig festgelegt worden und damit verbindlich für alle. Er ist Berufungsgrundlage für die Menschen, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden, und für die, die ihnen helfen wollen.
Die besonderen Ziele der Bundesregierung für die 53. Menschenrechtskonferenz unterstreichen noch einmal die Sorge um die Schwächsten und Bedrohtesten in allen Gesellschaften. Es geht neben der Diskussion um die Situation in einzelnen Ländern um die Abschaffung der Ausbeutung von Kindern und die Abschaffung des Frauenhandels. Ich denke, daß dies so wichtige Ziele sind, daß unsere Delegation die volle Unterstützung auch des Deutschen Bundestages verdient, um überhaupt Fortschritte in diesem Bereich erzielen zu können.
Ich möchte auch deutlich unterstreichen, daß diejenigen besondere Würdigung erfahren müssen, die sich zum Teil unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Freiheit für Menschenrechte anderer einsetzen. Der Konvention zum Schutz von Menschenrechtsaktivisten - ebenfalls ein vorrangiges Ziel auf der nächsten Menschenrechtskonferenz - muß endlich zum Durchbruch verholfen werden.
Das Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen ist reorganisiert. Jetzt allerdings gilt es, um eine neue Initiative zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen starten zu können, es mit besseren finanziellen Mitteln auszustatten.
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Feldoperationen, wie sie jetzt in Kolumbien geplant sind, sind ein wichtiger Punkt zum Schutz gegen Menschenrechtsverletzungen, aber auch zum vorbeugenden Menschenrechtsschutz. Wer einmal vergleicht, daß wir allein im letzten Jahr 30 Millionen DM für humanitäre Hilfe für Ruanda ausgegeben haben und daß der IFOR-Einsatz in Bosnien in einem Jahr mindestens 400 Millionen DM gekostet hat, daß das Menschenrechtszentrum in Genf aber für alle seine Operationen im präventiven Menschenrechtsschutz insgesamt gerade 7 Millionen DM zur Verfügung hat, dem wird deutlich, daß hier andere und zusätzliche Prioritäten gesetzt werden müssen.
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Lassen Sie mich noch ein Wort zur Diskussion über die Wirksamkeit der Instrumente der Menschenrechtspolitik sagen: kritischer Dialog, Sanktionen, Wandel durch Handel. Zunächst einmal: Es müssen alle Mittel nutzbar sein, aber im Einzelfall muß festgelegt werden, was wann und wo eingesetzt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die begrenzten Möglichkeiten von Sanktionen werden gerade im Fall Nigeria wieder deutlich. Wir können und wir sollen Sanktionen einsetzen, wo immer sie Aussicht auf Erfolg haben. Mit Sanktionen wollen wir die Isolation eines Landes erreichen. Wir müssen da differenzieren und je nach den Ländern einzeln entscheiden; ich glaube, wir sind uns da einig.
Die Isolierung einzelner Länder war erfolgreich. Das sieht man am Beispiel von Südafrika. Aber sie war nur deshalb erfolgreich, weil sich alle daran beteiligt haben. Sie war zumindest begrenzt im Bereich Serbien erfolgreich und muß möglicherweise dort wieder eingesetzt werden, wenn der Weg zur Demokratie weiterhin konsequent verweigert wird, wie es Präsident Milošević derzeit tut.
Isolierung bei einem Land wie China versuchen zu wollen wäre allerdings absurd. Es liegt auf der Hand, daß hier andere Erwägungen, etwa die Stabilität der Region, die sicherheitspolitische Rolle und die Einbindung in globale Entscheidungen, mit in der Betrachtung der bilateralen Beziehungen stehen müssen.
Das ändert jedoch nichts daran, daß der Diskurs über die Ergebnisse der Wiener Konferenz kontinuierlich zu führen ist, wie es Bundespräsident Herzog und Außenminister Kinkel bei ihren Besuchen getan haben.
Ich denke auch, daß es notwendig ist, gerade in diesem Bereich den Weg der stillen Diplomatie zu gehen. Ich bin allerdings auch fest überzeugt - ich denke, niemand wird mir widersprechen -, daß die Probleme einer menschenwürdigen Geburtenkontrolle in China sich nicht über stille Diplomatie lösen lassen, sondern nur über öffentlichen Druck.
({9})
Der Streit darüber, ob Wandel durch Handel erfolgreich ist, muß nicht theoretisch entschieden werden; den müssen wir und den werden wir gestalten.
Kritischer Dialog - ein Begriff, der im Zusammenhang mit dem Iran angewendet wird, der aber durchaus nicht nur gegenüber dem Iran verwirklicht wird, sondern auch gegenüber Ländern wie Algerien und Pakistan - hat selbst dann seine Begründung nicht verloren, wenn im Urteil zum Mykonos-Prozeß festgestellt werden sollte, daß es sich um einen Fall von Staatsterrorismus gehandelt habe. Auch hier gilt, daß eine Isolierung wegen der strategischen Bedeutung dieses Landes nicht in Frage kommen kann.
Die effektivsten Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten allerdings sind Demokratie und rechtsstaatliche Strukturen. Zur Bekämpfung von Hunger und Elend werden freiheitliche, wirtschaftliche Strukturen aufgebaut werden müssen. Das zeigt die Entwicklung aller Länder, die sich vom Entwicklungsland über das Schwellenland zum Industrieland aufgemacht haben.
({10})
Freiheit aber ist auf Dauer unteilbar. Das macht mich auch so zuversichtlich, daß letztlich Wandel durch Handel nicht eine vorrangige Strategie, aber auch eine Strategie der Menschenrechtspolitik ist. Welche Angst Diktatoren vor Meinungsfreiheit haben, zeigt sich derzeitig in Serbien, im Iran und in vielen anderen Staaten. Deshalb ist der Beschluß der OSZE in Lissabon, einen Medienbeauftragten zu schaffen, der richtige Weg. Ich denke, Außenminister Kinkel und dem Kollegen Duve, den Initiatoren dieDr. Irmgard Schwaetzer
ser Idee, gebührt der Dank des Deutschen Bundestages.
({11})
Welchen Wert Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit zum Schutz bedrohter Menschen hat, wird an einzelnen Fällen deutlich. Die internationale Öffentlichkeit hat die birmanische Nobelpreisträgerin und Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi bisher vor Schlimmerem - Hausarrest ist schon schlimm genug - als Hausarrest bewahrt. Die Öffentlichkeit der Nobelpreisverleihung an Bischof Belo aus Indonesien zeigt Präsident Suharto deutlicher als jeder Dialog die Grenzen seiner Machtausübung.
Meinungs- und Informationsfreiheit sind wichtige Instrumente gequälter Menschen zu ihrer Hilfe. Es wäre ein fundamentaler Fehler, sie als nachrangig zu anderen Werten zu begreifen. Freiheit ist der beste Verbündete der Menschenrechte.
Danke.
({12})
Als nächster erhält Steffen Tippach das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit dem Positiven beginnen. Es ist gut, daß die Bundesregierung im November 1995 den 3. Bericht über die Menschenrechtspolitik vorgelegt hat. So wird es effektiv möglich, über Sinn oder Unsinn der praktizierten Menschenrechtspolitik zu diskutieren.
Das Problem mit Rechenschaftsberichten ist jedoch der Wahrheitsgehalt. Das betrifft zwei Seiten: zum einen das, was drinsteht und zum anderen das, was nicht drinsteht. Lassen Sie mich mit ersterem beginnen.
Der Bericht verströmt die Aura von Klaus Kinkels machtvollem Bekenntnis, sich in Sachen Menschenrechten von niemandem überbieten zu lassen. Geschwisterlich Hand in Hand geht damit aber gleichzeitig ein völliges Abhandensein von Selbstkritik. Herr Außenminister, Sie haben in Ihrer Rede zum Beispiel gesagt, mit Extremisten darf es keine Gemeinsamkeiten geben. So weit, so gut.
Wie aber benennen Sie zum Beispiel den Fakt, daß der Bundesnachrichtendienst Waffen an die RENAMO in Mosambik geliefert hat? Sie werden sich erinnern: Sie waren Präsident des Bundesnachrichtendienstes, und die RENAMO ist eine Organisation, die für all die Sachen, die Sie verurteilt haben, verantwortlich steht: für Folter, für Rekrutierung von Kindersoldaten, für Massaker und so weiter.
({0})
Herr Außenminister Kinkel, Sie sagten, Belgrad ist für die Annullierung der Gemeinde- und Kommunalwahlen zu verurteilen. Da stehe ich mit Ihnen auf derselben Ebene und stimme Ihnen völlig zu. Jetzt sagten Sie aber, auf dieser Linie führt kein Weg nach Europa. Dazu muß ich Ihnen sagen: Offensichtlich führt er doch hierher; denn für Franjo Tudjman haben Sie den Weg zum Europarat breitgewalzt, obwohl er in Zagreb seit einem Jahr dasselbe betreibt. Auch dabei fehlt mir bei Ihnen die Nachhaltigkeit.
Sie sagen, Sie lobpreisen Mandela. Das ist auch gut so. Aber vor einigen Jahren war er in der Bundesrepublik noch als Terrorist verschrieen.
({1})
Wo ist da die Nachhaltigkeit?
Die skizzierte Rolle der Bundesregierung als Vorreiterin in Sachen Menschenrechten verträgt sich nun einmal nicht mit der Rolle als führende Rüstungsexportmacht.
Weltweite Ächtung von Folter als besonderes Anliegen zu beschreiben, ist das eine. Andererseits werden Menschen in Folterstaaten abgeschoben, Mittel für den Folteropfer-Fonds der UN zusammengestrichen, der Export von Foltergeräten nicht verboten und die Behandlungszentren für Folteropfer an den Rand des finanziellen Ruins getrieben.
Es ist zumindest scheinheilig, weitere Schritte für die Ermöglichung von Individualbeschwerden bei Menschenrechtsverletzungen in dem Wissen zu preisen, daß dieselbe Regierung durch Untätigkeit und Vorbehaltserklärungen die Individualbeschwerdemöglichkeit zu diversen Abkommen für Deutschland ausschließt,
({2})
etwa zu dem Übereinkommen der UN gegen Folter oder zu dem internationalen Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung. Das gleiche betrifft die Konvention des Kindes. Obwohl Sie dafür international mehrfach von verschiedenen Menschenrechtsgremien kritisiert worden sind, ändert sich daran nichts.
Die UN-Menschenrechtskonferenz in Wien hat erstmals geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung benannt. Dies ist ebenso ein Fortschritt wie die Schaffung des Postens einer Sonderberichterstatterin „Gewalt gegen Frauen" auf der 50. Sitzung der Menschenrechtskonferenz. Häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung, Zwangsprostitution, Frauenhandel und Zwangsabtreibung sind keine Privatsache, sondern Menschenrechtsverletzungen. Das kann gar nicht oft genug gesagt werden. Es ist Aufgabe von Regierungen, Frauen davor zu schützen und Gesetze abzuschaffen, die zur Gewalt gegen Frauen beitragen.
({3})
Für die Bundesrepublik betrifft das die Vergewaltigung in der Ehe und den § 218 ebenso wie die überfällige Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe im Asylrecht.
Die Differenz zwischen Anspruch und Realität wird allerdings im Finanzbereich besonders deutlich.
Die Schlucht zwischen den Aufgaben internationaler Menschenrechtsstrukturen und den Haushaltskrümein, die dafür zur Verfügung stehen, schreit geradezu nach Protest. Dies betrifft alle Bereiche, vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz über den UN-Landminenfonds bis zur humanitären Hilfe. Über allem schwebt zudem auch noch der Rotstift.
Es ist begrüßenswert, wenn sich die Bundesregierung im Rahmen der OSZE für eine überproportionale Erhöhung der Mittel für demokratische Institutionen und Menschenrechte eingesetzt hat. Nur, was nutzt es, wenn die ganze OSZE aus dem Bundeshaushalt weniger Mittel erhält als die Türkei für ein paar Mehrkomponentenkriegsschiffchen?
({4})
Daß die Menschenrechtssituation in der Türkei nicht die beste ist, steht sogar in dem vorliegenden Bericht. Der Skandal ist jedoch, daß sich die Bundesregierung weder bereit zeigt, ihre massive Unterstützung der türkischen Regierung zu überdenken, was natürlich zuallererst einen Rüstungsexportstopp bedeuten würde, noch, in Vermittlungsaktivitäten für eine friedliche Lösung des Konflikts in den kurdischen Gebieten einzutreten.
In den anschließenden Abstimmungen liegen dem Haus zwei diesbezügliche Anträge der PDS vor. Wir halten sie für besser als den Entschließungsantrag, der heute noch eingereicht wurde. Wir stellen uns die vorgeschlagene Vermittlungsalternative allerdings bedeutend transparenter vor als in der Maussschen Kolumbien-Variante.
Ich gestehe, vor einigen Tagen so etwas wie Mitleid mit der Bundesregierung gehabt zu haben, als sie die ASEAN-Konferenz aufforderte, Burma wegen massiver Menschenrechtsverletzungen nicht aufzunehmen, und über den Indischen Ozean ein nur zärtlich kaschiertes „Halt's Maul" zurückkam. Es dürfte sich dabei auch um ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem gehandelt haben,
({5})
nachdem sich Kanzler Kohl, Menschenrechte hin oder her, ob der Wirtschaftsinteressen wenige Tage zuvor mit dem Menschenschlächter Suharto zum Angeln getroffen hat.
Die Beschreibung des Menschenrechtsschutzes als „eine zentrale Aufgabe der Außenpolitik" im Menschenrechtsbericht hat Helmut Kohl im übrigen auch nicht dazu genötigt, bei seiner Lateinamerika-Reise auch nur einmal öffentlich die Menschenrechte zu erwähnen, und das, obwohl er dort ziemlich viel geredet hat.
Lassen Sie mich zu dem kommen, was im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung fehlt. Ich zitiere von Seite 5: „Menschenrechtspolitik fängt im eigenen Land an. " Dieser Aussage kann ich nur inbrünstig zustimmen.
({6})
Nur hört sie da offensichtlich auch gleich wieder auf;
denn zur Menschenrechtssituation im eigenen Lande
sagt dieser Bericht nichts, schon gar nichts Kritisches.
Das Antifolterkomitee des Europarates kritisiert Fälle von Mißhandlungen in Polizeiwachen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof beerdigte nach über 20 Jahren mit dem Fall Vogt die Berufsverbotspraxis. Das Europaparlament prangert den Rigorismus des deutschen Asylrechts an und kritisiert die Zustände in den Abschiebehaftanstalten. Das UN- Menschenrechtskomitee lobt einerseits das Engagement der Justiz bei rassistischen Übergriffen, fordert jedoch gleichzeitig unabhängige Gremien zur Untersuchung von Übergriffen der Polizei.
Nichts davon veranlaßt die Bundesregierung bisher zur Korrektur. Die DDR-Staatsführung hat auf Grund einer derartigen Vogel-Strauß-Politik ein böses Ende genommen; Sie werden sich erinnern. Das sollte Warnung genug sein.
Berichte von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen im Westen kamen im „Neuen Deutschland" auf Seite 1. Im umgekehrten Fall waren die Handlanger des Imperialismus am Werk. Von den „Handlangern des Imperialismus" spricht die Bundesregierung natürlich nicht; das ist ja ihr Klientel. Das Prinzip aber ist das gleiche.
Das zweite schwarze Loch betrifft die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Nicht nur, daß sie im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung schlichtweg nicht vorkommen. Was ich Ihnen vorwerfe, ist, daß Sie durch beständige Ignoranz ein Klima zu schaffen versuchen, in dem soziale Menschenrechte als solche gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Ich zitiere Art. 6:
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht auf Arbeit an, ...
Man muß dies ab und zu einmal zitieren. - Art. 11:
Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.
„Eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen" - das ist keine sozialistische Propaganda. Das hat die Bundesrepublik im Rahmen des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vor vielen Jahren unterschrieben und ratifiziert.
Die Realität ist: Es gab noch nie so viele Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger und Obdachlose wie jetzt. Genau aus diesem Grund torpedieren Sie die Schaffung von Möglichkeiten, diese kodifizierten Rechte tatsächlich auch einzuklagen.
({7})
Ebenso ist es der blanke Hohn, vom Recht auf Entwicklung zu sprechen und gleichzeitig den EntwickSteffen Tippach
lungshilfehaushalt auf Tiefstniveau zusammenzustreichen.
Sehr geehrte Damen und Herren, nach einem halben Jahr der Lagerung in der Bundestagsschublade liegt heute zur Überweisung unser Antrag auf Einrichtung eines Amtes für einen Menschenrechtsbeauftragten des Bundestages vor. Auch die im Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen erheben eine solche Forderung. Die zuvor von mir aufgezeigten Defizite erklären eindringlich die Notwendigkeit eines solchen Amtes.
Ich bin darüber hinaus der Meinung, daß sich der Bundestag nicht nur eine Wehrbeauftragte, sondern auch eine Menschenrechtsbeauftragte leisten kann und leisten muß. Deshalb bitte ich Sie um Überweisung und wohlwollende Beratung dieses Antrages.
Vielen Dank.
Das Wort in der Debatte bekommt nun der Kollege Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bereits bei der letztjährigen Debatte zum Tag der Menschenrechte haben die Redner der SPD zum Ausdruck gebracht, daß es bei der wertorientierten Zielsetzung der Menschenrechtspolitik einen umfassenden Konsens in diesem Hause gibt und daß sich bei dieser Lage die politische Debatte hauptsächlich auf die Frage konzentriert: Was kann die Politik tun, was tut sie und was müßte sie tun, um die erklärten hohen Menschenrechtsziele zu erreichen? Wer den operativen Teil der Menschenrechtspolitik betrachtet, wird bald feststellen, daß es noch einen erheblichen Reformbedarf bei der Menschenrechtspolitik gibt.
({0})
In einer konstruktiv kritischen Auseinandersetzung mit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung haben wir bei der Debatte im letzten Jahr in zehn konkreten Punkten einen Reformbedarf der deutschen Menschenrechtspolitik aufgezeigt. Ich möchte entlang dieser zehn Punkte darlegen, daß die Defizite der deutschen Menschenrechtspolitik weiterhin bestehen. Wir fordern Sie auf, unsere Vorschläge so konstruktiv und fair aufzugreifen und umzusetzen, wie Sie dieses mit dem Vorschlag unseres Kollegen Duve zur Schaffung eines Beauftragten der OSZE für die Medienfreiheit getan haben.
({1})
Wir haben Sie erstens aufgefordert, den Schwerpunkt der Menschenrechtspolitik bei der Ursachenbekämpfung anzusetzen und die bisher punktuell in verschiedenen Ländern geförderten Vorhaben zum Aufbau oder zur Konsolidierung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen zu einer konsistenten menschenrechtsbezogenen Projektpolitik weiterzuentwickeln.
Trotz einiger Ansätze zur Förderung der Demokratieentwicklung, der Unterstützung von Wahlen und der Einrichtung von Menschenrechtsbüros gibt es bisher weder auf bilateraler noch auf multilateraler Ebene eine menschenrechtsbezogene Projektpolitik nach einem durchdachten Sektorkonzept.
Wir haben zweitens gefordert, daß sich die menschenrechtspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nicht auf die Aufwendung der klassischen diplomatischen Mittel beschränken darf, sondern daß die Fähigkeit ausgebaut werden muß, gemeinsame Strategien für Problemländer festzulegen und sie konsequent anzuwenden.
Positive Ansätze gibt es in dieser Frage im Verhalten der Europäischen Union gegenüber Nigeria und Myanmar, wobei wir durchaus wissen, daß im Falle Nigeria einige andere europäische Länder nicht bereit waren, weitergehende deutsche Forderungen mitzutragen.
Bei der Türkei allerdings ist es Deutschland, welches die falschen Signale gibt.
({2})
Gerade erst in diesen Tagen hat die Türkei angekündigt, daß sie drei Gesetze verändern will, und sie hat als Begründung dafür angegeben, daß westliche Staaten, der Europarat, das Europäische Parlament der Dauer der Polizeihaft von Tatverdächtigen große Bedeutung beimäßen. Diese Wirkung zeigende Politik des Europäischen Parlaments wurde von Ihnen, Herr Kinkel, beim Besuch von Präsident Demirel in Bonn kritisiert. Dies, Herr Kinkel, war ein falsches Signal zur falschen Zeit.
({3})
Gerade bei der Türkei zeigt sich, daß nur eine kombinierte Politik aus Druck und Anreizen etwas zu erreichen vermag.
Wir haben drittens gefordert, die im Rahmen der Vereinten Nationen, der OSZE und des Europarates geschaffenen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte von deutscher Seite in einer gezielten politischen Aktion deutlich zu stärken. Von einer „gezielten politischen Aktion" zur Stärkung dieser Institutionen kann leider nicht die Rede sein. Das deutsche finanzielle Engagement für diese Organisationen stagniert weiterhin auf niedrigem Niveau. Gerade in Zeiten knapper Mittel kann aus Haushaltsentscheidungen sehr wohl abgelesen werden, welchen Bereichen Politik besondere Bedeutung und Priorität beimißt und was faktisch nachrangiger eingestuft wird.
({4})
Wir haben viertens darauf hingewiesen, von welch grundlegender Bedeutung für die Verwirklichung der Menschenrechte Aufklärung und Bewußtsein sowie Erziehung und Ausbildung sind. Es ist nicht bekanntgeworden, daß die Bundesrepublik zu der im Jahre 1996 von den Vereinten Nationen ausgerufeRudolf Bindig
nen Dekade der Menschenrechtserziehung an konkreten Programmen in diesem Bereich arbeitet. Der bewundernswerte, mutige Einsatz vieler Menschenrechtsaktivisten bedarf besonderer Anerkennung und besonderen Schutzes.
({5})
Wir haben fünftens gemahnt, daß mögliche Zusammenhänge zwischen deutschen Rüstungslieferungen und Menschenrechtsverletzungen nicht verdrängt oder verleugnet werden dürfen.
({6})
Weder ist bisher erkennbar, daß die deutsche und die europäische Rüstungsexportpolitik restriktiver als bisher gestaltet wird, noch hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, Instrumente wie Elektroschockwaffen, die zu Folterzwecken mißbraucht werden können, einer Ausfuhrkontrolle zu unterziehen.
({7})
An der Produktion und dem Export von Elektroschockwaffen in Deutschland können doch wohl kaum Arbeitsplätze hängen, und selbst wenn sie es täten, wäre in diesem Fall Konversion erforderlich.
({8})
Wir haben sechstens kritisiert, daß das in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit verankerte Kriterium der Achtung der Menschenrechte unterschiedliche Beachtung je nach politischer und wirtschaftlicher Bedeutung eines Staates findet. Wir wollen, daß dieses Kriterium in der Praxis konsequenter berücksichtigt wird. Menschenrechtliche Problemländer wie China, Indonesien, Türkei gehören immer noch zu den Hauptempfängerländern der deutschen Entwicklungspolitik, ohne daß erkennbar wird, daß es zum Beispiel zu Umschichtungen der Mittel in diesen Problemländern in Richtung auf die Förderung von Projekten von Nichtregierungsorganisationen oder zur Konzentration auf Projekte kommt, welche besonders den ärmeren Bevölkerungsschichten zugute kommen oder ökologischen Zielen dienen.
({9})
Wir haben siebtens gefordert, daß die Fähigkeit der humanitären Hilfe, auf Frühwarnungen zu reagieren, ausgebaut werden sollte und daß länger andauernde und „schleichende" Krisen nicht aus dem Blickfeld der Politik geraten und erste Opfer von Mittelkürzungen sein dürfen. Trotzdem müssen wir sehen, daß es noch immer so ist, daß sich anbahnende Katastrophen und Konfliktherde kaum wahrgenommen werden und erst dann auf sie reagiert wird, wenn ein erheblicher Aufwand erforderlich ist. Diese „End of the pipe"-Menschenrechtspolitik und „End of the pipe"-humanitäre Hilfe muß durch eine vorbeugende und nachhaltige Menschenrechtspolitik ersetzt werden.
({10})
Wir haben achtens gefordert, daß Zwangsarbeit und Kinderarbeit stärker als bisher als Menschenrechtsverletzung begriffen und behandelt werden. Diesem Thema wird die Kollegin Ernstberger ihren Redebeitrag widmen.
Wir haben neuntens darauf hingewiesen, daß sich in vielen Politikbereichen - von der Entwicklungspolitik über die Forschungspolitik, die Sozialpolitik bis hin zur Umweltpolitik - Systeme aus Beiräten, Institutionen oder spezialisierten Durchführungsorganisationen gebildet haben, und wir haben gefordert, daß eine derartige Umfeld- und Vorfeldentwicklung im Bereich der Menschenrechte angestrebt werden sollte und daß in diesem Zusammenhang die Errichtung eines unabhängigen deutschen Institutes für Menschenrechte nach dem Vorbild anderer europäischer Länder geprüft werden sollte. Herr Außenminister, diesen Prüfauftrag hat der Deutsche Bundestag im Juni 1994 einstimmig beschlossen. Es gibt bisher keine Reaktion der Bundesregierung darauf. Was ist und wird aus dieser Idee?
Und zehntens. Schließlich haben wir darauf hingewiesen, daß die Menschenrechtspolitik im eigenen Land beginnt und daß es hier noch einige vordringliche Aufgaben bei der deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Flughafenverfahrens und eines kindgerechten Umganges mit minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen gibt.
({11})
Bund und Länder sind gemeinsam gefordert, genauso wie bei der Abstellung der vereinzelten Übergriffe, die es gegen Ausländer bei Festnahmen gibt. Wir fordern zudem ausreichenden Schutz und Betreuung für Folteropfer, die nach Deutschland geflohen sind.
({12})
Leider hat der Bund angekündigt, daß er sich schrittweise aus dieser wichtigen Aufgabe zurückziehen will. Dieses Handeln ist nicht verantwortlich.
({13})
Eine Betrachtung aller zehn Punkte, für die wir Reformbedarf der deutschen Menschenrechtspolitik angemeldet haben, zeigt, daß unsere Vorschläge weiterhin aktuell sind. Nehmen Sie unsere Vorschläge auf, und setzen Sie sie um. Wir haben Ihnen eine Alternative aufgezeigt. Werden Sie aktiver - das ist möglich - im Bereich der Menschenrechte.
({14})
Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So sehr Menschenrechte unteilbar sind, so wenig kann schematisch ein Reaktionsmuster der internationalen Gemeinschaft auf deren Verletzung für alle Fälle gleichermaßen wirksam sein. Lassen Sie mich deswegen auf drei Länder und deren konkrete Situation eingehen und darzulegen versuchen, welche Möglichkeiten wir haben und was wir tun sollten, um dort den Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen.
Ich darf mich ausdrücklich, Kollege Bindig, auf Ihren Hineis beziehen, daß Menschenrechte und Demokratie ganz wesentlich miteinander verbunden sind. Ich bin durchaus Ihrer Meinung, daß wir durch die Demokratieförderung, das heißt das aktive Einwirken in solche Länder hinein, die diktatorisch oder autoritär regiert werden, die demokratischen Wurzeln, die in vielen Ländern vorhanden und nur verdeckt sind, wieder freilegen können und daß wir das durchaus in einer gemeinsamen, aktiven Politik betreiben können. Wir müssen uns allerdings davor bewahren, zu glauben, allein durch Mittel von außen ließen sich Diktaturen ohne weiteres in Demokratien umwandeln. Sehr viel mehr muß dazukommen. Das steht nicht allein in unserer Verantwortung. Vielmehr müssen in dieser Frage Entwicklungen gefördert werden, die aus den Ländern selbst heraus kommen.
({0})
„Mene, mene tekel" muß man den Potentaten zurufen, die die Zeichen an der Wand offensichtlich nicht erkennen, nicht erkennen wollen oder nicht rechtzeitig Konsequenzen daraus ziehen. In der Tat sind Menschenrechte und demokratische Grundrechte erst in zweiter Linie international verhandelbar; in erster Linie brechen sie sich aus einer konkreten Unterdrückungssituation heraus zu einem oft für die Potentaten unerwarteten Zeitpunkt Bahn.
Wir können auf ein aktuelles Beispiel schauen: Wir blicken mit großer Besorgnis auf die Entwicklung in Serbien. Der eigentliche Anlaß ist zwar gravierend, aber nicht existentiell: Es besteht der erhebliche Verdacht, daß Kommunalwahlergebnisse gefälscht worden sind. Aber daraus brechen sich Bürgerprotest und Großdemonstrationen der Opposition Bahn. Wir haben zu zweifeln, ob Herr Milošević die Zeichen an der Wand wahrzunehmen bereit ist.
Gerade wir Deutschen haben in unserer jüngsten Geschichte die Erfahrung gemacht, daß das Fälschen von Kommunalwahlen der Auslöser sein kann für eine breite, friedliche Volksbewegung.
({1})
Ist Serbien 1996 vergleichbar mit der DDR 1989? Ich will es mir ersparen, die Unterschiede und Ähnlichkeiten miteinander in bezug zu setzen. Aber wahr ist, daß sich die serbische Führung zwar formal zur Demokratie bekennt, aber Herr Milošević sich daran
auch messen lassen muß, und das ist weiß Gott nicht nur eine innere Angelegenheit Serbiens.
Wenn wir im Kantschen Sinne davon ausgehen, daß Demokratien miteinander keinen Krieg führen und darüber hinaus in Demokratien grundsätzlich die Achtung der Menschenrechte in einem sehr viel höheren Maße gesichert ist, als das je in einer diktatorischen oder autoritären Struktur der Fall sein kann, dann ist die demokratische Verfassung Serbiens ein wesentlicher Punkt bei der Verhinderung weiterer Explosionen auf dem Balkan. Deswegen müssen wir unterstreichen, daß es auch dem Geist von Dayton und natürlich dem Geist der OSZE kardinal widerspricht, diese Kommunalwahlen so zu akzeptieren, wie sie verfälscht worden sind.
Ich fordere deswegen die Belgrader Führung auf, einer OSZE-Kommission die Überprüfung der Wahlunterlagen zu erlauben und gleichzeitig verbindlich zuzusagen, bei verbleibenden begründeten Zweifeln an der Korrektheit des Wahlverlaufs die Kommunalwahlen vollkommen zu wiederholen ({2})
dies nicht nur, um einen Weg zu finden, damit Herr Milošević sein Gesicht wahren kann, sondern eigentlich, um ihm den einzig möglichen Weg zu bahnen, im pluralistischen Meinungswettstreit dabeisein zu können.
Wir wollen nicht Schiedsrichter zwischen den Parteien in Serbien sein und ihre Programme analysieren, aber es muß eines klar sein: Ohne Konsequenzen auf diese Kommunalwahlen wird es zu einem baldigen Ende der Ära Milošević und der Sozialistischen Partei in Serbien kommen.
({3})
Wir wollen keine Destabilisierung Serbiens; wir wollen ganz im Gegenteil mit einem stabilen demokratischen Serbien über die Dinge reden, um die es für Serbien momentan geht. Dazu gehört eine gewisse wirtschaftliche Normalisierung durch Kooperation mit der Europäischen Union, die Frage einer späteren Rückkehr Serbiens bzw. Jugoslawiens in die OSZE, die Teilhabe an den internationalen Finanzinstitutionen, aber auch die Frage der Diskriminierung der Albaner im Kosovo und die Bereitschaft, bei uns lebende Bürger Serbiens im Rahmen der Rückführung wieder ins Land zu lassen und ihre Sicherheit zu garantieren.
({4})
Eines ist klar: Wenn Gewalt angewendet wird, werden die Dinge schnell eskalieren und unkontrollierbar werden. Dies kann niemandes Interesse sein. Der Westen wird bei solch einem Weg gezwungen sein, mit harten wirtschaftlichen Sanktionen zu antworten und damit die innere Krise des Landes nicht zu lösen, aber ihren Gang gehen zu lassen. Herr Milošević hat also allein die Schlüssel in der Hand. Wir
Christian Schmidt ({5})
haben dies mit einem interfraktionellen Entschließungsantrag in der Drucksache 13/6413 unterstrichen, und ich hoffe, daß das Hohe Haus mit einem gemeinsamen Votum hierüber das entsprechende Signal sendet.
Ein weiteres Land, das sich dem westlichen Kulturkreis zurechnet und über dessen von seiner Führung aufgezwungenen politischen Kurs man nur besorgt sein kann, verdient angesprochen zu werden: Kuba. Die geschickte Inszenierung des Auftritts des alt gewordenen Fidel Castro auf der Welthungerkonferenz in Rom vermochte nur durch die erstaunlich unkritische Berichterstattung, auch in vielen Medien bei uns, die Blüte eines Tages zur Entfaltung zu bringen. Auch der Versuch, durch den Besuch beim Papst Reputation zu gewinnen, wird im politischen Bereich nicht verfangen und im religiösen Herrn Castro hoffentlich zur Umkehr bewegen
({6})
Es bleibt wahr, daß im Himmel über einen heimgekehrten Sohn mehr Freude herrscht als über 99 Gerechte, und es bleibt, daß das diktatorische Regime in Havanna die Menschenrechte mißachtet. Es bleibt dabei, daß sture und unbeweglich gewordene Regime aus sich heraus keine Überlebenschance haben werden. Wir sind aber bereit, die wenigen Ansätze zu einem Dialog, der zu mehr Demokratie führt, wahrzunehmen. Dies heißt, daß Demokratieförderung in Kuba betrieben werden soll und wir alles unternehmen müssen, um dieses Land von Castros Alternative „Socialismo o muerte", „Sozialismus oder Tod", wegzubringen zu Freiheit statt Sozialismus. Das sollen und müssen wir gemeinsam mit den USA tun.
({7})
Ich glaube, dazu gibt es keine Widerrede. Ich wüßte nicht, wieso.
Deswegen gibt es viel grundsätzliche Sympathie - ({8})
- Daß Sie grundsätzliche Sympathie für Castro haben, das mag sein; das hat aber mit der Diskussion über die Menschenrechte hier wenig Förderliches zu tun.
({9})
Wir müssen gemeinsam mit den USA unsere grundsätzliche Symphatie für Menschenrechte und Demokratie, die heute - ({10})
- Ich meine, das ist auch gut für Sie. Gerade bei diesem Thema laufen Sie ja in eine große Glaubwürdigkeitslücke hinein.
Manche Mittel gegenüber Kuba allerdings sind nicht hilfreich und produktiv. Ich bin der sicheren Hoffnung, daß im Kongreß der Vereinigten Staaten von Amerika langsam die Einsicht Platz greift, daß die Helms-Burton-Gesetzgebung nicht dienlich ist. Nach der von uns nicht zu beanstandenden Embargopolitik der USA für die bilateralen Beziehungen gibt es eine Vielzahl von anderen Möglichkeiten, die genutzt werden könnten. Hierüber sollten wir mit den USA auch auf parlamentarischer Ebene in einen umfangreichen Dialog eintreten.
Ein weiteres Land, das uns in vieler Hinsicht allerdings weit näher liegt als Kuba, auch im Sinne seiner demokratischen Entwicklung, soll angesprochen sein: Unser NATO-Partner Türkei,
({11})
mit dem wir in einer europäischen Zollunion verbunden sind, ist auf dem Weg zur Demokratie schon sehr weit gekommen.
({12})
Es bedarf einer sehr differenzierten Kooperation mit der Türkei. Ich will Außenminister Kinkel noch einmal ausdrücklich in Schutz nehmen gegen die Vorwürfe hinsichtlich des Besuchs von Staatspräsident Demirel.
({13})
Mir wäre es sehr viel lieber, wenn das Europäische Parlament die Zollunion mit der Türkei nicht fundamental blockieren würde, wobei wir doch alle wissen, daß hinter dieser Blockade nicht in erster Linie Fragen der Menschenrechte, sondern Überlegungen von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union stehen, die in dieser Frage eigentlich zurückgestellt werden sollten.
Im Hinblick auf Minderheitenrechte und demokratischen Pluralismus gibt es einige Schwachstellen, über die wir auch in diesem Hause oft und ausführlich gesprochen haben. Wir wiederholen es auch bei dieser Debatte mit großer Nachhaltigkeit: Der Kurdenkonflikt kann nach unserer festen Überzeugung nur politisch geregelt werden. Eine Politik der Gewalttätigkeit, wie sie von der PKK betrieben wird und ab und an auch nach Deutschland überschwappt, ist kein Weg, um legitime Rechte der Kurden zu erreichen.
Ein Staat hat grundsätzlich das Recht, Terrorismus zu bekämpfen. Er muß dies allerdings mit rechtsstaatlichen Mitteln tun. Wir sind bereit, den Dialog zu fördern. Wir können international nicht eine Vermittlungsposition einnehmen; aber wir sind bereit, Initiativen zu unterstützen, die aus dem Lande selbst heraus kommen und den Konflikt zwischen der kurdischen Bevölkerung und dem türkischen Staat politisch lösen helfen.
Wir haben zwischen den Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. einen gemeinsamen Entschließungsantrag vereinbart, der Ihnen nach geringfügiger redaktioneller Änderung unter der Drucksache 13/6412 ({14}) vorliegt, der dies noch einmal widerspiegelt. Wir wollen alles tun, um die demokratische Entwicklung in der Türkei zu befördern. Dabei sehen wir die Türkei als einen Verbündeten und nicht als einen Gegner.
Vielen Dank.
({15})
Es spricht jetzt der Kollege Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon der Umstand, daß in der heutigen Menschenrechtsdebatte der Antrag unserer Fraktion zur deutschen Südost- und Ostasienpolitik auf der Tagesordnung steht, weist auf ein Problem hin, das ich nicht zum erstenmal anspreche. Im Titel kommt das Wort „Menschenrechte" vor. Daraus folgt, wie üblich: Der Antrag gehört in die Schublade zum Tag der Menschenrechte, in der das Sammelsurium zur alljährlich wiederkehrenden Debatte abgelegt wird.
Ich will aber zugeben: Es gibt einen Fortschritt, nämlich eine Regierungserklärung zum Thema sowie die Tatsache, daß diese Debatte in der Kernzeit stattfindet. Aber immer noch sind Menschenrechte für viele Politiker auch in diesem Hause - wobei ich nicht nur eine Seite ansprechen will - noch nicht viel mehr als ein gelegentlich schmückendes Beiwerk zur eigentlichen, zur richtigen Politik.
Wer eine solche Haltung einnimmt, hat noch immer nicht begriffen, daß der glaubwürdige Einsatz für die Menschenrechte erst eine glaubwürdige Politik möglich macht,
({0})
hat nicht begriffen, daß ohne Garantie der Menschenrechte kein Staat und auch kein Verhältnis zwischen Staaten auf einem stabilen Fundament stehen. Zahlreiche Beispiele ließen sich dafür aufzählen.
Ich will nur eines nennen, heute besonders aktuell und naheliegend - auch der Kollege Schmidt hat es eben schon angesprochen -: das Verhältnis zu Serbien. Nicht der sinkende Lebensstandard löste die wochenlangen Demonstrationen in Belgrad aus, sondern der Wahlbetrug. Wer von Ihnen kann heute noch eine Prognose zur Überlebensdauer der Regierung Milošević abgeben?
Wir sollten deswegen nicht in erster Linie unsere Sorge gegenüber Milošević zum Ausdruck bringen, sondern vor allem eine Hoffnung: die Hoffnung, daß auf die Belgrader Demonstrationen eines Tages so zurückgeblickt werden kann, wie auf die Demonstrationen in Leipzig und Prag 1989.
({1})
Zurück zum eingangs erwähnten Antrag. Ich hoffe, Sie stimmen wenigstens der Formulierung zu, daß die Ostasienpolitik durch die Reisen des Bundeskanzlers und des Außenministers zu Recht in das Licht der Öffentlichkeit gerückt ist und daß die dieser Region gewidmete erhöhte Aufmerksamkeit zu begrüßen ist.
Um so problematischer war die relativierende Interpretation der Tibet-Resolution des Bundestages durch Außenminister Kinkel gegenüber der chinesischen KP-Führung und die gänzlich unangemessene Kritik des deutschen Botschafters in Peking. Diese Vorgänge resultieren nicht zuletzt aus dem Bemühen der Bundesregierung um Verständnis für das angeblich andersartige Menschenrechtsverständnis in Asien.
Die Erklärung für eine solche Argumentation liegt im wirtschaftlichen Erstarken der sogenannten TigerStaaten und in der wachsenden wirtschaftlichen Potenz Chinas und auch Indonesiens. Auf diesem Fundament wird zum erstenmal seit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 das Universalitätsprinzip der Menschenrechte in Frage gestellt. Ganze Staatengruppen - neben vielen Ländern Südostasiens vor allem islamistische Regime wie der Iran, der Sudan oder neuerdings Afghanistan - berufen sich auf die andersartigen gewachsenen Traditionen.
Nichts gegen wachsendes Selbstbewußtsein - gerade gegenüber früheren Kolonialmächten -; aber daraus muß nicht unbedingt ein prinzipieller Vorbehalt gegen die angeblich vom industrialisierten Norden weltweit oktroyierten Menschenrechtsprinzipien resultieren. Folter ist kein Ausdruck einer eigenständigen Kultur.
({2})
Es gibt auch Gegenbeispiele. Es gibt Japan, es gibt Taiwan, es gibt - mit Einschränkungen - Ägypten, also Staaten, die unserem Menschenrechtsverständnis von der Universalität folgen.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, es genügt nicht, die Menschenrechte gegenüber autoritären Herrschern nur anzusprechen. Deutlichere Signale müssen gesetzt werden. Leider hat der Bundeskanzler in Indonesien mit seinem holprigen Bemühen, den diesjährigen Friedensnobelpreisträger Bischof Belo mal schnell über 2 000 Kilometer nach Jakarta einfliegen zu lassen, eine Chance verpaßt. Aber Fehler sind korrigierbar. Deshalb begrüßen wir es, daß die Begegnung in Deutschland stattfinden wird.
Um so trauriger allerdings ist das Schicksal unseres gemeinsam mit der SPD gestellten Osttimor-Antrages, der nach monatelangen fraktionsübergreifenden Bemühungen an der Blockade der Koalition, die dem Suharto-Regime weiterhin Militärhilfe zukommen lassen will, gescheitert ist. Das ist ein für den Bundestag peinliches Resultat im Vorfeld des Belo-Besuches.
({3})
Aber ich kann nach der schlechten Nachricht eine gute einschieben. Soeben haben sich die Koalitionsfraktionen und die SPD entschieden, sich unserem Nigeria-Antrag anzuschließen. So geht es auch.
({4})
Der Einsatz auch deutscher Regierungsdelegationen für die individuellen Freiheitsrechte der Menschen als dem höchsten Gut des international verbrieften Menschenrechtsschutzes gerät leider noch häufig zur Pflichtübung. Als scheinbar wichtigeres Anliegen - übrigens nicht nur in der Politik der Bundesregierung, sondern der meisten Industrienationen - dominiert der Konkurrenzkampf um reale oder zukünftige Märkte. Wie jedoch das Beispiel Südafrika zeigt, ist die Wirtschaft, um deren AbsatzchanGerd Poppe
cen sich die vielen Regierungsdelegationen oft genug überflüssigerweise bemühen, meist schon viel weiter. Es gibt keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen Interessen und dem Menschenrechtsschutz.
Die komplexen Entscheidungsstrukturen auch zukünftig überlebensfähiger Gesellschaften setzen überall in der Welt freie, selbstbestimmte, eigenverantwortliche Individuen als entscheidende Basis für offene, demokratisch legitimierte und damit handlungsfähige Gesellschaftsmodelle voraus. Auch deshalb muß die deutsche Außenpolitik auf der Universalität der Menschenrechte beharren.
({5})
Menschenrechtspolitik darf nicht zur gelegentlichen Geste, zum Ritual werden. Das wäre kurzsichtig, unverantwortlich und letztendlich zu unserem eigenen Schaden.
({6})
Die Regierung wünscht das Wort zu einer Klarstellung. Ich gebe das Wort Herrn Minister Kinkel.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Poppe, Sie haben eben eine Behauptung wiederholt, die Sie kürzlich im Auswärtigen Ausschuß auch schon getan haben, und erklärt, ich hätte mich, was die Tibet-Resolution des Deutschen Bundestages anbelangt, in meinen offiziellen Gesprächen bei meinem letzten Besuch in China relativierend eingelassen.
({0})
- Nein, das war Herr Poppe im Ausschuß.
({1})
- Ich möchte ja nur etwas klarstellen.
Ich lege - das werden Sie verstehen - Wert darauf, vor dem Deutschen Bundestag nochmals zu wiederholen, daß diese Behauptung unrichtig ist.
({2})
Ich habe damals bei der Tibet-Resolution im Deutschen Bundestag mitgestimmt, und ich habe mich in Peking in gar keiner Weise relativierend geäußert.
({3})
Herr Kollege Poppe, Sie haben jetzt schon zum zweitenmal vor dem Deutschen Bundestag in Fragen, die wesentlich sind - sonst würde ich nicht hier ans Rednerpult gehen; ich mache dies zum erstenmal in einem solchen Zusammenhang -, etwas behauptet, zu dem ich Sie anschließend bitten muß, es entweder zu beweisen oder es zurückzunehmen. Ich sage Ihnen nachdrücklich nochmals: Ich habe dazu in Peking nicht relativierend Stellung genommen. Ich bitte Sie, das jetzt endgültig zur Kenntnis zu nehmen und diese Behauptung in Zukunft zu unterlassen.
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Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich über die Klarstellung, die der Herr Bundesaußenminister eben gegeben hat; denn ich weiß, Herr Bundesaußenminister, daß gerade Sie in Menschenrechtsfragen einen völlig untadeligen Record haben. Das sollte man hier hervorheben und betonen.
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Je länger man sich mit Menschenrechten beschäftigt, um so demütiger wird man eigentlich angesichts der Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen, die es auf dieser Erde gibt, und der Beschränktheit der Möglichkeiten, die die Bundesrepublik hat, sie zu bekämpfen. Darum ist es wichtig, jede Art der Zusammenarbeit innerhalb des Europarates und innerhalb der Vereinten Nationen zu fördern und deren Kraft in diesen Fragen zu stärken. Ich sage aber auch bewußt: Es ist ebenso wichtig innerhalb dieses Hauses nicht das hervorzuheben, wo wir vielleicht unterschiedliche Akzente haben, sondern das zu betonen, was uns in Menschenrechtsfragen eint.
Das ist das gemeinsame Bewußtsein, daß Menschenrechtspolitik Friedensfähigkeit von Staaten nach außen und nach innen bedeutet und daher in unserem gemeinsamen Interesse liegt. Die Universalität von Menschenrechten bedeutet nicht die Schrankenlosigkeit von Interventionen, sondern den Kampf um die Menschenwürde des einzelnen, welcher Nationalität, Staatsangehörigkeit und Rasse auch immer er sein mag.
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Es gibt - da folge ich Herrn Poppe - keine Kultur, die den Mord, die Folter, die willkürliche Hinrichtung, die Freiheitsberaubung, den Verstoß gegen grundlegende Habeas-corpus-Rechte zum Inhalt ihres Denkens und Wollens macht. Es gibt die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Sie ist die grundlegende und konstituierende Vereinbarung der zivilisierten Völker dieser Welt. Es kann keine Intervention sein, die Völker an diese gemeinsamen Grundlagen einer modernen Völkerrechtsgemeinschaft zu binden und sie immer wieder mit allen Mitteln aufzufordern, sie zu wahren.
Es gibt Antinomien zu praktischen Fragen der Politik. Die Frage, die uns hier immer wieder beschäftigt hat und auch in dieser Debatte eine Rolle gespielt hat, lautet, ob es zwischen Menschenrechten und wirtschaftspolitischen Interessen eine grundlegende Differenz geben kann. Ich zögere, das zu bestätigen.
Ich denke, daß ein großer Teil der Menschenrechtsverletzungen gerade in unserer Zeit auf wirtschaftlichen und sozialen Konflikten beruht und daß es gerade deshalb wesentlich ist, auch durch wirtschaftliche Hilfe dazu beizutragen, daß Völker und Staaten aus ihren inneren Bedrängnissen herauskommen. Es kann Ausnahmen geben. Südafrika ist ein Beispiel, bei dem die wirtschaftliche Isolierung dazu beigetragen hat, ein schändliches Apartheidsystem zum Zusammenbruch zu bringen.
Aber im allgemeinen muß man sagen, daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und auch Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht dazu führen, Menschenrechte weiter in Bedrängnis zu bringen, sondern sie helfen dem Land, mit dem man zusammenarbeitet und das man fördert.
Es sind ja nicht die starken, sondern es sind die schwachen, die labilen Staaten, die zu dem Mittel greifen, ihre eigenen Staatsangehörigen mit Gewalt zu Untertanen zu machen. Es sind innerstaatliche, ethnische, religiöse Minderheitenkonflikte, die in den letzten Jahren eine besondere Bedeutung erlangt haben.
Ich habe eine Statistik gesehen, aus der hervorgeht, daß allein im Jahre 1995 22 Kriege und Bürgerkriege mit 1,2 Millionen Toten und 25 bis 30 Millionen Flüchtlingen ausgetragen wurden. Das ist nicht nur eine Belastung für die unmittelbar Betroffenen, sondern der Völkergemeinschaft insgesamt.
Deswegen müssen alle Instrumente - hier folge ich Ihnen, Herr Bindig - gestärkt werden, die präventive Handlungen ermöglichen. Es ist wichtig, nicht erst einzugreifen, wenn es darum geht, mit Gewalt oder militärischen Mitteln Konflikte zu befrieden, sondern man muß sich vorher intensiver als bisher daran beteiligen, wirtschaftliche und soziale Konflikte zu lösen. Das ist in der Tat ein elementares Anliegen.
Dazu gehört auch die Kontrolle der Rüstungsexporte, wobei es nicht genügt, an die Bundesrepublik zu appellieren, sondern man muß den alten Plan verfolgen, Rüstungsexporte der Industrieländer in den Vereinten Nationen zumindest meldepflichtig und öffentlich zu machen, damit man erkennt, wer welche Himmelsgegenden mit Waffen vollstopft.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Hirsch, können Sie meine brennende Ungeduld verstehen, wenn wir immer die Notwendigkeit der Stärkung der Menschenrechtsinstrumente betonen, dann aber, selbst nach intensiven Bemühungen, für das so wichtige Genfer Menschenrechtszentrum nicht mehr Mittel zu mobilisieren bereit sind, als wir für 40 Meter Neubau einer Bundesautobahn ausgeben?
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Sie haben auch in Ihrer Rede an das Menschenrechtszentrum erinnert. Mir wäre es angenehm gewesen, wenn Sie gleichzeitig an das Menschenrechtsforum erinnert hätten, in dem in der Tat alle denkbaren Organisationen zusammenarbeiten. Ich finde, wir müssen der Bundesregierung dafür danken, daß sie dazu beigetragen hat, dieses Menschenrechtsforum zu bilden und zu dieser Zusammenarbeit zu kommen.
Was wir auf nationaler Ebene tun können, sollten wir genauso auf internationaler Ebene tun. Ich stimme Ihnen zu, daß wir mehr tun müssen, um Frühwarnsysteme zu errichten, um eine engere Zusammenarbeit auch mit den NGOs zu ermöglichen und sie zu fördern.
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die Türkei. Mir ist ganz wichtig, Herr Kollege Schmidt, daß wir hier zu einer gemeinsamen Resolution gekommen sind. Sie haben gerade eine Neufassung präsentiert, in der Sprachkünstler am Werk gewesen sind, die einen Gedanken nicht akzeptieren wollen, daß nämlich zum Friedensprozeß auch in der Türkei die Debatte mit allen an diesem Bürgerkrieg Beteiligten gehört.
Je länger er dauert, um so eher wird die türkische Regierung nicht daran vorbeikommen, auch mit der PKK zu sprechen. Es ist genauso gesagt worden: Mit der PLO reden wir nicht. - Natürlich wurde mit der PLO gesprochen. Es gibt viele Beispiele dieser Art. Je länger ein Bürgerkrieg geführt wird, desto mehr wächst die Gesprächsbereitschaft.
Solange die PKK Gewalt ausübt, kann sie kein Gesprächspartner sein. Aber wenn wir als Bundestag gemeinsam an die PKK appellieren, daß sie der Gewalt abschwören soll, daß sie endlich auf dem Weg der Gewalt einhalten soll, und sie täte es, sie würde uns folgen, wollten Sie auch dann sagen: Natürlich führen wir kein Gespräch mit ihnen?
Ich glaube, daß der Kurden-Konflikt in der Türkei die moralische und die wirtschaftliche Kraft dieses Landes in einer Weise zerstört hat, die wirklich katastrophal ist. Ein großer Teil der innenpolitischen Schwierigkeiten in der Türkei - ich will hier nicht über die Wahlergebnisse im einzelnen sprechen - liegt an der Zerstörung der moralischen und wirtschaftlichen Kraft dieses für uns wichtigen Landes, mit dem wir befreundet sind, und an der Unfähigkeit zu erkennen, daß nicht militärische, sondern nur politische Lösungen dazu beitragen können, diesen unseligen Bürgerkrieg zu beenden.
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Übrigens, Frau Dietert-Scheuer, ich beteilige mich daran, dafür zu sorgen, daß türkische Polizeibeamte in der Polizeiführungsakademie in Hiltrup in den gleichen Lehrgängen, wie wir sie für deutsche Polizeibeamte haben, ausgebildet werden. Es ist nicht am wichtigsten, ihnen Funkgeräte oder ähnliches zu geben. Es geht darum, an die Köpfe dieser Menschen zu kommen und ihnen klarzumachen, wie man
mit Bürgern eines Landes umzugehen hat. Ich hoffe, das ist ein Beitrag zur Normalisierung.
({1})
Man muß leider sagen, daß es in der Türkei noch keine Verbesserung der Menschenrechtslage gegeben hat.
Herr Kollege Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hirsch, ich habe nicht gesagt, daß derartige Polizeiausbildungshilfen grundsätzlich falsch sind. Aber sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß sie im menschenrechtlichen Sinne nur dann positiv wirken können, wenn auch auf seiten der türkischen Regierung die Bereitschaft besteht, die Probleme zu lösen, also zum Beispiel gesetzliche Bedingungen zu schaffen, die wiederum die Folter verhindern, und daß das Problem der Folter in der Türkei kein Problem der Köpfe der einzelnen Polizisten ist, sondern der politischen Förderung und Duldung von Folter?
In diesem Punkt bin ich mit Ihnen völlig einig. Ich war bestürzt darüber, daß mir der türkische Justizminister gesagt hat, daß die Frage, ob ein Anwalt während der Incomunicado, die nicht zwei oder drei Tage, sondern sieben Tage betragen soll, mit dem Verhafteten Kontakt haben kann, eine innertürkische Angelegenheit sei, die uns nichts anginge. Ich war bestürzt über eine solche Äußerung.
Aber die Möglichkeiten, auf einen türkischen Justizminister einzuwirken, sind gering. Man muß sich wegen dieses Themas darum bemühen, nicht nur mit ihm zu sprechen. Auch die türkischen Polizeibeamten sind Menschen mit Leidenschaften, mit Berufsinteressen.
({0})
- Nein, nicht mit Folter. Mir geht es im Gegenteil darum, diesen Polizeibeamten deutlich zu machen, wie man mit Menschen umgehen muß. Darum ist es wichtig, daß sie dieselben Lehrgänge besuchen wie deutsche Polizeibeamte. Ich halte dies für einen ganz wichtigen, wenn auch kleinen Beitrag. Alles, was wir leisten, sind kleine Beiträge; nicht mehr und nicht weniger.
Herr Kollege Hirsch, Ihre Redezeit ist eigentlich um. Es gibt aber noch den Wunsch des Kollegen Tippach nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie diese noch zulassen?
Nein. Ich glaube, ich habe das Wichtigste von dem gesagt, was ich sagen wollte. Ich möchte mich bei der Bundesregierung für den Menschenrechtsbericht bedanken. Wir stimmen ihm zu und begrüßen ihn. Es wäre wichtig gewesen, wenn sich das Parlament eher mit ihm befaßt hätte.
Ich hoffe, daß wir zwischen den Fraktionen des Hauses eine größere Gemeinsamkeit als bisher finden, um eine Menschenrechtspolitik zu formulieren und diese gemeinsam, jeder mit seinen Möglichkeiten, zu betreiben.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne hat nun Seine Exzellenz, der Präsident der Abgeordnetenkammer der Italienischen Republik, Herr Luciano Violante, Platz genommen.
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Herr Präsident, Sie sehen, wir begrüßen Sie und Ihre Begleitung sehr herzlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages.
Wir freuen uns, daß Sie sich inmitten einer für Ihr wie auch für unser Parlament sehr intensiven Arbeitsphase die Zeit für einen Besuch in Deutschland genommen haben. Der Deutsche Bundestag mißt den deutsch-italienischen Beziehungen eine besonders hohe Bedeutung bei, und wir haben ein großes Interesse daran, gerade die parlamentarische Ebene dieser Beziehungen weiter zu stärken. Sie hat, glaube ich, einen ganz wichtigen Anteil am Zusammenwachsen Europas. Deswegen freuen wir uns über Ihren Besuch, und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin gute Gespräche.
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Als nächste hat das Wort die Abgeordnete Heide Mattischeck.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, wir haben Ihre Klarstellung zur Relativierung zur Kenntnis genommen. Es wäre schön und erfreulich, wenn es auch eine Klarstellung der Koalitionsfraktionen zu der doch sehr stark relativierenden Äußerung von Herrn Kollegen Glos zur Tibet-Erklärung gäbe, die ja mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen worden ist.
Meine Damen und Herren, das Spektrum der Menschenrechtsverletzungen, derer wir uns annehmen müssen, ist breit. Bei kritischer Betrachtung der Menschenrechtsarbeit des Bundestages müssen wir allerdings konstatieren:
Die Notwendigkeit, auf aktuelle Menschenrechtsverletzungen zu reagieren, ist unbestritten. Dabei dürfen wir es jedoch nicht bewenden lassen.
Ein Schwerpunkt unserer Arbeit muß verstärkt auf einer langfristigen Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte liegen. Es reicht eben nicht aus, massiv gegen die schreckliche Ermordung von Ken Saro-Wiwa und seiner Mitstreiter zu protestieren; es müssen auch langfristig die Ursachen bekämpft werden, gegen die Ken Saro-Wiwa protestiert hat, nämHeide Mattischeck
lieh die Unterdrückung der Ogoni und die massive Umweltzerstörung.
({0})
Und es muß - dazu gibt es ja einen gemeinsamen Antrag - alles Erdenkliche dafür getan werden, daß die 18 Mitstreiter von Ken Saro-Wiwa, die seit einem Jahr von der Todesstrafe bedroht sind, nicht hingerichtet werden.
Unser Antrag „Unterstützung der weltweiten Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe" behandelt einen wichtigen Aspekt der Menschenrechtspolitik. Er soll einen Beitrag dazu leisten, langfristig die weltweite Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe zu erreichen. Das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe konnte 1991 in Kraft treten.
Seit Ende der 70er Jahre hat die Anzahl der Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft oder sie länger als zehn Jahre nicht mehr vollstreckt haben, im Schnitt jährlich um zwei zugenommen.
Mitte 1996 hatten 58 Staaten vollständig auf die Todesstrafe verzichtet. 15 Staaten sehen sie nur noch für außergewöhnliche Straftaten vor.
Die Zahl der Staaten, die die Todesstrafe gesetzlich oder faktisch abgeschafft haben, ist erstmals größer als die Zahl der Staaten, die an der Todesstrafe festhalten.
Trotzdem können wir die Augen nicht davor verschließen, daß immer noch weltweit 93 Staaten die Todesstrafe praktizieren: alle kleinen und großen Diktaturen, einige Staaten Osteuropas, Indien, Japan und die USA.
87 Prozent der Hinrichtungen, die bekannt wurden, gingen 1994 nach Informationen von Amnesty International auf das Konto Chinas, des Iran und Nigerias. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den uns vorliegenden gemeinsamen Antrag „Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Nigeria".
Laut Amnesty International wurden 1995 in 79 Staaten mindestens 4 165 Todesurteile verhängt, und in 41 Staaten wurden 2 900 Hinrichtungen registriert. Mehrere tausend Menschen warten oft jahrelang in Todeszellen auf ihre Hinrichtung.
Kein anderer Rechtsstaat läßt die Todesstrafe so häufig vollstrecken wie die USA. 1994 waren es 31 Personen, 1995 waren es 56 Personen. Das ist die höchste Vollstreckungsrate seit Wiederzulassung dieser Strafform im Jahre 1976. In ihrem 3. Menschenrechtsbericht geht die Bundesregierung auf dieses Problem mit keinem Wort ein.
Auf dem Weg zu einer endgültigen Abschaffung der Todesstrafe gehen Staaten verschiedene Wege. So werden bestimmte Personengruppen - zum Beispiel zur Tatzeit Kinder oder Jugendliche, geistig Behinderte, Schwangere - von der Verhängung der Todesstrafe verschont. In anderen Staaten wiederum wird die Zahl der in Frage kommenden Delikte reduziert. Wieder andere haben Moratorien verfügt.
Die Todesstrafe verletzt das grundlegende Recht des Menschen auf Leben, auch des Menschen, der zum Beispiel durch seine Tat das Recht eines anderen auf Leben und körperliche Unversehrtheit zerstört hat. Die Verhängung der Todesstrafe wegen Mordes ist ein Widerspruch in sich. Wenn ein Staat einen Menschen tötet, der gemordet hat, so verletzt er ebenfalls das Recht auf Leben.
Die Todesstrafe ist die einzige Strafe, die nicht zu revidieren ist. Sie ist unwiderruflich und kann nicht korrigiert werden. Und kein Verfahren, sei es noch so rechtsstaatlich, kein Gericht ist unfehlbar. Laut Amnesty International sind allein in den USA von 1900 bis 1985 350 Menschen unschuldig hingerichtet worden.
Bei der Anwendung der Todesstrafe kommt es gerade auch in den USA immer wieder zu Benachteiligungen von ethnischen und religiösen Minderheiten. Eine Studie belegt, daß zwischen 1973 und 1977 im Staate Florida Mörder, die einen Weißen umgebracht hatten, vierzigmal häufiger mit der Todesstrafe rechnen mußten als Mörder eines Schwarzen.
Die am häufigsten vorgebrachte These, die Todesstrafe wirke abschreckend, ist durch keinerlei Fakten bewiesen. Im Gegenteil, Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, haben keine Steigerung der Zahl von Straftaten registriert, die zuvor mit dem Tode bestraft werden konnten.
Statistiken des FBI besagen, daß die Mordrate in den US-Staaten, die hinrichten, genau doppelt so hoch ist wie in jenen, die auf die Todesstrafe verzichten.
Das Europäische Parlament weist in seiner Entschließung zur Todesstrafe aus dem Jahre 1992 darauf hin, daß in nichtdemokratischen Ländern die Todesstrafe häufig dazu benutzt wird, Grundfreiheiten - wie politische Freiheit, Religionsfreiheit, sexuelle Freiheit und Meinungsfreiheit - zu unterdrücken.
Durch weltweite Bemühungen zur Abschaffung der Todesstrafe ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 enthaltene Recht auf Leben durch eine ganze Reihe von Pakten und Konventionen zu ergänzen.
Weil wir meinen, daß weitere Schritte getan werden müssen, fordern wir die Bundesregierung auf, bei ihren Kontakten mit Staaten, in denen die Todesstrafe verhängt wird, nachdrücklich auf Zeichnung und Ratifizierung der bestehenden Übereinkommen zu drängen und auch konkrete Zwischenschritte einzufordern, wie Reduzierung der Zahl der in Frage kommenden Delikte, Moratorien und Ausschluß von bestimmten Personengruppen.
Ein neuer Anlauf für ein allgemeines Moratorium der Anwendung der Todesstrafe als erster Schritt zur Abschaffung der Todesstrafe könnte eine Initiative der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen sein.
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Ein weiterer Schritt der Bundesregierung muß sein, an die Mitgliedstaaten der OSZE und des Europarates zu appellieren, die Politik zur Abschaffung der Todesstrafe zu verstärken. So sollten zum Beispiel die Staaten, die in den vergangenen Jahren Mitglied des Europarates geworden sind und die Todesstrafe weiterhin vollstrecken, sofort ein Moratorium verkünden bzw. bereits verfügte Moratorien auch einhalten.
So gab es laut Amnesty International in Rußland seit dem Beitritt zum Europarat im Februar 1996 bis zum Juli 1996 30 Hinrichtungen. 46 Gnadengesuche wurden abgelehnt. In der Ukraine gab es 1995 ein Moratorium und seitdem mehr als 100 Hinrichtungen.
Vor allem aber fordern wir die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, daß politisch und wirtschaftlich besonders einflußreiche Staaten, die über ihre Mitarbeit im G-7-Zusammenschluß - Japan, USA und Rußland - oder als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der UN - China, Rußland und USA - ganz besonders auf die Politik der internationalen Staatengemeinschaft einwirken können, der international wachsenden Ablehnung der Todesstrafe wenigstens nicht entgegenwirken.
Gerade vom Verhalten der USA in der Frage der Todesstrafe geht eine Signalwirkung auf andere Staaten aus. Viele rechtfertigen ihr Festhalten an der Todesstrafe mit der Rechtslage in den Vereinigten Stauten. Von daher ist es dringend erforderlich, daß die Bundesregierung im Rahmen der Europäischen Union auf die USA einwirkt, ein Moratorium zu erreichen und die Praxis der Anwendung der Todesstrafe zu überprüfen.
({2})
Ich hoffe, daß wir in den Ausschüssen bei den Beratungen unseres Antrages „Unterstützung der weltweiten Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe" in dieser wichtigen Menschenrechtsfrage einen Konsens, vielleicht eine Übereinstimmung finden werden.
Danke schön.
({3})
Der Kollege Volker Beck möchte eine Kurzintervention machen. Bitte.
Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, Sie haben gerade den Aspekt der Todesstrafe besonders hervorgehoben. Deshalb will ich auf eine Problematik aufmerksam machen, die in dieser Debatte leider weder von den Vorrednerinnen und Vorrednern noch im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung erwähnt wurde. Es geht mir um die Menschenrechtssituation von Schwulen und Lesben.
Der Bericht der Bundesregierung erwähnt zu Recht jede Spezialproblematik - die Menschenrechte von Frauen und Kindern, von sprachlichen und ethnischen Minderheiten und von indigenen Bevölkerungen sowie die Maßnahmen gegen Rassismus und Rassendiskriminierung -, erwähnt aber den von mir genannten Aspekt mit keiner Silbe. Ich habe den Eindruck, daß die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung im Ausland zu diesem Problem oftmals einfach schweigt, und zwar mit dem Hinweis auf kulturelle Besonderheiten. Hier wird die „stille Diplomatie" zu einem völligen Schweigen über Menschenrechtsverletzungen. Das darf nicht sein.
In zahlreichen Staaten insbesondere des islamischen Kulturkreises, die islamisches Recht anwenden, steht auf Homosexualität schwere Körperstrafe - in der Regel 100 Stockschläge, die man nur schwer überlebt - oder gleich die Todesstrafe. Gegenwärtig sitzen zum Beispiel in Saudi-Arabien 24 philippinische Arbeiter wegen des Vorwurfes der Homosexualität ein. Sie haben schon mehrmals 50 Stockschläge verabreicht bekommen und sollen hinterher, sofern sie das überleben, ausgewiesen werden. Auf meine Nachfrage dazu erklärte das Auswärtige Amt: Es sei nicht üblich, sich für die Anliegen ausländischer Staatsbürger einzusetzen. Mich hat diese Antwort der Bundesregierung wirklich erschüttert. Dies ist für mich ein Hinweis dafür, mit welcher Ignoranz auch in unserem Land Menschenrechtsverletzungen, die an dieser Gruppe im Ausland begangen werden, betrachtet werden.
Ich fordere die Bundesregierung und auch alle Außenpolitiker auf, hierauf ein stärkeres Augenmerk zu richten. Ich hoffe, daß dies der letzte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist, der diese Frage mit keiner Silbe erwähnt. Menschenrechte sind etwas Umfassendes und Unteilbares. Wenn wir das wirklich ernst nehmen, dann dürfen wir zu keiner massiven Menschenrechtsverletzung einfach schweigen und nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Krautscheid.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorab zwei kurze Bemerkungen zum bisherigen Ablauf der Debatte. Erstens. Wir haben oft über den Stellenwert gestritten, den Menschenrechtspolitik in diesem Haus haben soll und vielleicht noch nicht hat. Eines dürfen wir nicht außer acht lassen: Vor zwei Jahren haben wir uns sehr, aber vergeblich darum bemüht, eine Debatte über dieses Thema überhaupt zustande zu bringen. Im letzten Jahr haben wir zum erstenmal nach langer Zeit wieder eine Menschenrechtsdebatte zum Tag der Menschenrechte gehabt. Heute haben wir zu diesem Thema eine Kernzeitdebatte mit einer
Regierungserklärung. Ich finde, solche Fortschritte sollte man zur Kenntnis nehmen.
({0})
Die zweite Bemerkung. Es ist sowohl von Nichtregierungsorganisationen als auch aus unserem Kreise - von Vizepräsident Hirsch - kritisiert worden, über diesen Bericht werde in diesem Hause zu spät debattiert. In der Tat, er ist erst zum Ende des letzten Jahres vorgelegt worden. Aber vielleicht geht in den Höhen präsidialer Tätigkeit ab und zu unter, daß auch Unterausschüsse ein Teil des Parlamentes sind. Der Unterausschuß Menschenrechte und auch der Auswärtige Ausschuß haben sich schon im Frühjahr dieses Jahres ausgiebig mit diesem Thema befaßt. Heute legen wir eine Beschlußempfehlung vor; das ist der Schlußstein unserer Befassung. Deswegen ist der Vorwurf des zu späten Befassens sicherlich obsolet.
({1})
In kaum einem anderen Jahr hat sich der Deutsche Bundestag so intensiv und so häufig mit Themen aus dem Bereich der Menschenrechte beschäftigt. Bei aller strittigen Diskussion - wir haben uns in den letzten 12 Monaten bei diesem Thema häufig nichts geschenkt - möchte ich doch daran erinnern, daß wir immer wieder einstimmig deutliche Signale in die Öffentlichkeit gesandt haben, nämlich dann, wenn es galt, ein Signal gegen Unterdrückung und Unterdrücker, ein Signal gegen Folter und Hinrichtungen, ein Signal gegen menschenverachtendes Unrecht auszusenden.
Ich denke dabei an unsere Debatte anläßlich der Verurteilung von Wei Jingsheng. Mit aller Deutlichkeit hat unser Parlament gegen seine erneute Verurteilung protestiert - eine Verurteilung allein auf Grund der Tatsache, daß er gewaltlos für Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt in seinem Heimatland eingetreten ist.
So wie wir Wei Jingsheng nicht in Vergessenheit geraten lassen werden, genau so werden wir weiterhin auf das Schicksal von Wang Dan aufmerksam machen. Wenn wir auch allein durch Worte Wirkung erzielen wollen, dann kann das dadurch gelingen, daß wir den Blick der Öffentlichtkeit auf die Zellen und Verließe unschuldig Verurteilter lenken und damit die Hoffnung der Unrechtsjustiz auf ein schnelles Vergessen zunichte machen.
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Ein Rückblick auf das vergangene Jahr muß natürlich auch unsere Tibet-Resolution erwähnen. Hier hat es Mißverständnisse, auch künstlich geschürte Aufregung gegeben. Aber unsere Debatte hat eines gezeigt: Das frei gewählte deutsche Parlament läßt sich in seiner Meinungsbildung und freien Entscheidung von niemandem unter Druck setzen. Wer dies versucht, wird nur noch stärkere Einigkeit unter uns hervorrufen.
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Wir waren der Auffassung, daß die Ergebnisse der Anhörung zur Situation der Menschen in Tibet veröffentlicht werden müssen, und daran haben wir festgehalten. Es sei nochmals darauf hingewiesen: Zu keinem Zeitpunkt ging es uns darum, völkerrechtliche Grenzen in Frage zu stellen oder gar Sezessionsbestrebungen zu fördern. Wir respektieren die territoriale Integrität anderer Länder. Aber zu den Rechten und, wie ich meine, auch zu den Pflichten unseres Parlamentes gehört es, auf Unrecht und Unterdrückung in anderen Teilen der Welt hinzuweisen. Dieses Recht werden wir auch in Zukunft wahrnehmen. Deshalb verfolgen wir derzeit mit großer Sorge die Umerziehungskampagne in den Klöstern Tibets, die bereits jetzt zur Ausweisung und auch zum Tode einer Reihe von Mönchen geführt hat.
Lassen Sie mich zur Situation in Asien noch ein anderes Land ansprechen, in dem wir auf dem Weg zur Demokratie schwere Rückschläge verzeichnen müssen. Ich spreche von Myanmar, wo die innenpolitische Situation und Entwicklung von uns mit großer Sorge verfolgt wird. Erst in den letzten Tagen sind bei einer Studentendemonstration 300 Teilnehmer festgenommen worden; die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi steht wieder unter Hausarrest; fünf ihrer Mitarbeiter wurden bereits inhaftiert. Nach einer vorübergehenden leichten Entspannung scheint das Militärregime wieder Härte demonstrieren zu wollen.
Auch in diesem Fall besonders drastischer Menschenrechtsverletzungen stellt sich wieder die Frage, ob Isolierung oder die Aufnahme von Gesprächen der richtige Weg ist. Die ASEAN-Staaten haben sich kürzlich dafür entschieden, Myanmar den Weg in ihre Staatengemeinschaft nicht gänzlich zu verbauen. Dieses Entgegenkommen darf aber nicht als Billigung oder Tolerierung der Zustände in und um Rangun verstanden werden. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie gemeinsam mit ihren europäischen Partnern und den ASEAN-Staaten alles unternimmt, um gegenüber dem Militärregime auf demokratische Reformen hinzuwirken.
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Das Schlagwort der letzten Monate scheint mir die Forderung nach einem größeren Verständnis für die kulturelle Andersartigkeit anderer Länder zu sein. Die Kenntnis und das Verstehen der unterschiedlichen historischen und kulturellen Vergangenheit eines Landes sind sicherlich Voraussetzung dafür, sich in die Lage des anderen versetzen zu können und Verständnis für seine Schwierigkeiten aufzubringen. Manchmal scheint es mir aber, als ob der drohende Vorwurf des Kulturimperialismus unser Verständnis für andere Kulturen in ein gewissermaßen vorauseilendes Einverständnis mit jedweder - auch noch so grausamen - Tradition in einem anderen Land zu wandeln droht. Ob uns nun gewissermaßen schon unser „Huntington" im Nacken sitzt oder ob bei manchen Zeitgenossen sein ach so großes Verständnis für die „Andersartigkeit" lediglich das bequemste Mittel zum Verschließen der Augen vor Unrecht ist: Mir scheint es dringend an der Zeit, darüber nachzudenken, was in einem Land zu dem zu reAndreas Krautscheid
spektierenden Traditionsbestand gehört und welche Usancen für uns inakzeptabel sind, seien sie auch noch so alt und noch so verbreitet.
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In den letzten Monaten hat sich die Diskussion um unser heutiges Thema auch dadurch erweitert, daß eine Vielzahl von Artikeln und Beiträgen veröffentlicht worden ist, etwa ein bemerkenswerter Aufsatz unseres Bundespräsidenten. Es ist keineswegs selbstverständlich, sich im Vorfeld einer Reise mit einer solchen Thematik öffentlich auseinanderzusetzen. Besonders diskussionswürdig finde ich dabei die These, wonach im Umgang mit Unrechtsregimen zunächst ein Schwerpunkt gewissermaßen auf einen „Kernbereich" der Menschenrechte gelegt werden sollte, zum Beispiel auf den Schutz von Leben und persönlicher Freiheit.
Diese Auffassung hat deshalb Widerspruch und Kritik in der Öffentlichkeit erfahren, weil sie unter Umständen zu dem Eindruck führen könnte, andere Menschenrechte wie etwa Meinungs- und Pressefreiheit seien von nachrangiger Bedeutung. Ich glaube nicht, daß dies so gemeint war, aber die Gefahr des Mißverständnisses besteht. Wer entscheidet denn, was zum Kernbereich der Menschenrechte gehört? Setzt das nicht einen internationalen Konsens über diesen Kernbestand voraus? Und spielt das nicht genau denjenigen Staaten in die Hände, die uns sagen, sie L wollten sich erst einmal um die wirtschaftlichen und sozialen Rechte ihrer Bürger kümmern, Meinungs-, Presse- und Bewegungsfreiheit kämen dann später hinzu?
Gerade weil ein Gespräch hierüber höchst interessant ist, freue ich mich, daß die Obleute des Unterausschusses Menschenrechte in den nächsten Tagen vom Bundespräsidenten zu einem Gespräch empfangen werden.
Ich möchte noch einen Punkt erwähnen: die Abschaffung der Todesstrafe. Wir werden uns in den nächsten Monaten mit diesem Thema befassen. In ihrem Menschenrechtsbericht betont die Bundesregierung, daß sie sich nachdrücklich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. In der Tat ist es ein positives Zeichen, daß immer mehr Staaten die entsprechenden Konventionen unterzeichnen.
Sorge bereitet uns in diesem Zusammenhang die Praxis in Rußland. Hier hat die Zahl der Exekutionen in letzter Zeit eher zu- als abgenommen. Allein im Monat März 1996 gab es über 30 offiziell bestätigte Hinrichtungen. Bei allem Verständnis für die riesigen Probleme dieses Landes mit Schwerstkriminalität und Mafia müssen wir unsere russischen Kollegen daran erinnern, daß sich Rußland bei der Aufnahme in den Europarat im Februar dieses Jahres verpflichtet hat, ein Moratorium für die Todesstrafe zu verhängen und die Strafe innerhalb von drei Jahren ganz abzuschaffen. Wir werden die Umsetzung dieser Zusage aufmerksam verfolgen. Denn wer ordentliches Mitglied des Europarates sein und bleiben will, muß sich auch in schwierigen Zeiten an die grundlegenden Regeln dieser Wertegemeinschaft halten.
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Meine Damen und Herren, zu einem glaubwürdigen Eintreten für die Abschaffung der Todesstrafe gehört sicherlich auch, nicht nur die Tausenden von Hinrichtungen in Afrika und Asien anzusprechen. Wir müssen in dieser Sache auch das Gespräch mit unseren amerikanischen Freunden suchen. Wir sind uns dabei bewußt, daß ein sehr großer Prozentsatz der amerikanischen Gesellschaft diese Praxis befürwortet und für richtig hält. Ich persönlich möchte dazu anmerken, daß ich in der amerikanischen Gesellschaft einen bemerkenswerten ethischen Widerspruch registriere: Mir ist es ein Rätsel, wie sich dieselben Interessengruppen, die äußerst vehement für den Schutz werdenden Lebens kämpfen, gleichzeitig für die Auslöschung menschlichen Lebens zu strafrechtlichen Zwecken einsetzen können.
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Wir werden dieses Thema bei unseren zukünftigen Gesprächen mit den neuen Kolleginnen und Kollegen im Repräsentantenhaus zur Sprache bringen.
Meine Damen und Herren, diese Debatte ist nicht nur Anlaß, die Situation in bestimmten Ländern anzusprechen; wir bemühen uns auch, bei den Konventionen weiterzukommen. Die Schaffung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofes ist schon angesprochen worden. Die derzeitige Praxis des Jugoslawien-Gerichtshofes in Den Haag zeigt die Notwendigkeit und die Bedeutung eines solchen Gerichtes, aber eben auch die Schwierigkeiten.
Die Ahndung schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von Völkermord und Aggression ist eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für die Herstellung eines weltweit geachteten Regimes von Recht und Gerechtigkeit. Daher unterstützen wir die Bemühungen der Bundesregierung für einen Ständigen Strafgerichtshof, die mit einer UN-Konferenz im Jahre 1998 einen wichtigen Schritt weiterkommen sollen. Wer wirklich die Lehren aus den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und von Den Haag ziehen will, der muß dieses Projekt mit allem Nachdruck verfolgen. Unser Ziel muß sein, daß sich die Karadžićs und Mladićs von heute und morgen in keinem Land der Welt mehr ihrer gerechten Strafe entziehen können.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß: Sowohl der 3. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung als auch unsere tägliche Arbeit zeigen, daß eine verantwortungsbewußte parlamentarische Menschenrechtsarbeit mühsam ist und oft nur kleine Erfolge zeitigt. In manchen Momenten beAndreas Krautscheid
neide ich die Nichtregierungsorganisationen, die mit markigen Worten Dinge anprangern, weil sie - durchaus zu Recht - die Anklage von Menschenrechtsverletzungen zum einzigen Thema ihrer Aktivitäten erkoren haben.
Wir haben im letzten Jahr oft gemeinsam Klartext geredet, aber noch häufiger müssen wir uns überlegen, ob wir über den Erfolg der Tagesschlagzeilen hinaus wirklich etwas an den Strukturen ändern, an denen die Menschen in vielen Ländern leiden. Deshalb ist das, was nach außen den Puristen als fauler Kompromiß erscheinen mag, oft durchaus das Ergebnis einer zwar unangenehmen, aber notwendigen Güterabwägung.
Ich möchte mit folgender Feststellung schließen: Eine große deutsche Tageszeitung veröffentlichte vor einigen Tagen den Bericht über eine Umfrage in ganz Zentral- und Lateinamerika. Ich fand es sehr erfreulich, daß die Umfrage ergab, daß die übergroße Mehrheit der Bevölkerung in diesen Staaten - das war vor 20 Jahren bestimmt nicht so - auf jeden Fall weiter in einem demokratischen System leben möchte und daß sich trotz großer Probleme mit Armut und Verbrechen nur eine kleine Minderheit nach autoritären Systemen zurücksehnt. Mir hat der Titel dieses Artikels besonders gut gefallen, weil wir alle dafür arbeiten, daß er in Zukunft auf die Bevölkerung noch möglichst vieler anderer Länder zutreffen möge. Die zusammenfassende Überschrift dieser Umfrage lautete ganz einfach: Sie lieben die Demokratie.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Siebenjähriger Haushaltshelfer wurde von seinem Arbeitgeber, einem höheren" - indischen -„Staatsbeamten, durch einen Gasbrenner verstümmelt und brutal geschlagen."
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Dies geschah nur deshalb, weil er aus einem Glas die Reste von Milch trank. Er bekam weder zu essen noch Lohn, sondern wurde noch zusätzlich geprügelt.
Dies alles zeigt, was Kinderarbeit ist. Es reißt ihr die heuchlerische Maske vom Gesicht und entlarvt die schreckliche Fratze der Gewalt, der Kinder weltweit tagtäglich ausgesetzt sind - Kinder, für die es keine Menschenrechte, keine Menschenwürde, keine Menschlichkeit gibt.
Minister Kinkel hat die Zahlen der ILO vorhin schon benannt. 120 Millionen Kinder gehen zum Teil einem Vollzeitjob - das sind mehr als 12 Stunden am Tag - nach. 130 Millionen Kinder arbeiten teilweise. Sie sind versklavt, gehen in die Kinderprostitution, arbeiten in Bergwerken, Fabriken, im Haushalt und in der Landwirtschaft. Zum Teil werden sie in Bordelle, Webereien und Betriebe der Glasindustrie weitergereicht.
Das ganze erschreckende Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen an Kindern kann nur erahnt werden, denn es gibt bis heute keine zuverlässigen und aussagekräftigen Statistiken auf der Welt. Man kann im günstigsten Fall auf Schätzungsergebnisse zurückgreifen; denn Kinderarbeit scheut das Licht der Öffentlichkeit, sie scheut die Helle der Überprüfung.
Kinderarbeit wird versteckt und gedeckt. Kinderarbeit ist sklavenhafte Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, ist Behinderung und Einschränkung der Ausbildung und der Bildung. Sie führt zu Narben an Körper und Seele, verletzt, begründet Abhängigkeit. Psychisch und physisch geschädigt, gedemütigt und gebrochen können diese Kinder nie zu voll leistungsfähigen Erwachsenen werden. Das Zukunftspotential einer Gesellschaft, das Kapital an jungen Menschen, wird hier für oft kurzfristige Wettbewerbsvorteile geopfert.
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Es ist unumstritten, daß Armut eine wesentliche Ursache für Kinderarbeit ist. Diese Erkenntnis erklärt aber nicht alles. Warum lassen einige arme Familien ihre Kinder arbeiten, während andere genauso arme Familien ihre Kinder in die Schule schicken? Sind qualitative und quantitative Defizite in den Bildungssystemen der Länder nicht auf falsche innenpolitische Prioritätensetzungen zurückzuführen? Kinderarbeit wird nämlich in den Entwicklungsländern ignoriert oder zum Teil sogar toleriert. Was diese Staaten bräuchten, ist Bewußtseinsänderung: statt Resignation Sensibilisierung, statt Gleichgültigkeit Verständnis und Verstehen und statt Passivität Bereitschaft zum Handeln.
Die Bundesregierung fordere ich auf, alles in ihrer Macht Stehende für die Rechte der Kinder und damit für die Menschenrechte einzusetzen.
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Alles, was unter dem Feldzeichen der Freiheit und der Menschenrechte ficht, durch wie große Gegensätze auch immer getrennt, muß sich doch irgendwie in einer Kampfgemeinschaft verbunden fühlen.
Diese Mahnung von Gustav Radbruch sollte uns alle Verpflichtung sein, den Verletzungen der Kinder- und Menschenrechte gemeinsam entgegenzutreten. Die Bundesregierung muß sich in diese Phalanx einbringen und darf nicht, wie so oft an ihrer Politik zu sehen, moralische Bedenken auf dem Altar wirtschaftlicher Interessen opfern.
Das Auswärtige Amt muß sich deutlich für die Weiterentwicklung der Kinderkonvention einsetzen. Diese Konvention benennt zwar das Recht des Kindes auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung, bePetra Ernstberger
inhaltet aber explizit keine Ächtung der Kinderarbeit. Hier besteht Handlungsspielraum, die Instrumentarien weiterzuentwickeln und grundlegende Bestimmungen festzulegen, um ein grundlegendes Konzept der Kinderrechte zu erarbeiten.
Wenn ich mir den Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit ansehe, muß ich feststellen, daß seine Mittel drastisch gekürzt wurden, was sich natürlich auch auf die Ausgaben gerade im Bereich der Grundbildung und der Gesundheit auswirkt. Aber nur durch einen ganz gezielten Einsatz der Mittel gerade im Bereich der Grundbildung lassen sich in der Bekämpfung der Kinderarbeit Fortschritte erzielen.
Herrn Rexrodt als Wirtschaftsminister möchte ich ins Stammbuch schreiben, daß Lippenbekenntnisse nicht ausreichen, um auf der Ebene der wirtschaftlichen Beziehungen Impulse zu setzen und den notwendigen Rahmen vorzugeben. Was wir nämlich brauchen, ist ein fairer Handel, nicht ein freier Handel.
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Ich erinnere an die Aussagen des Wirtschaftsministers in der Haushaltsdebatte, als er ankündigte, weltweit gewisse Mindeststandards einführen zu wollen. Diese sollten vor allem Sozialstandards hinsichtlich der Kinderarbeit betreffen. Warum hat sich aber gerade die Bundesregierung geweigert, darauf zu drängen, daß in der EU eine Arbeitsgruppe zur Einführung sozialer und ökologischer Standards in der WTO eingesetzt wird? Ist die Bundesregierung plötzlich zur Gralshüterin der EU vor Protektionismus mutiert? Hat nicht gerade die Bundesregierung die Verpflichtung, eine Vorbildwirkung zu haben? Ich kann nur feststellen, daß der Bundesregierung, wie mein Kollege Verheugen gesagt hat, hier die „harten Interessen" fehlen.
Herrn Minister Blüm, unserem regierungsbestellten Frontkämpfer gegen die Kinderarbeit, möchte ich sagen, er möge weniger unsensiblen Aktionismus an den Tag legen - der ihm sicherlich eine Menge Presse verschafft - und statt dessen mit etwas mehr Augenmaß handeln.
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Nur durch einen umfassenden und gemeinsamen Ansatz können die schlimmsten Auswüchse der Kinderarbeit eingedämmt werden. Sowohl nationale wie internationale Bemühungen müssen zu einem Gesamtkonzept zusammengefaßt werden.
Der Exportanteil an Produkten aus Kinderarbeit beträgt in den Entwicklungsländern 5 Prozent. Auf 250 Millionen Beschäftigte sind das dann 12,5 Millionen Kinder, die für den Export arbeiten.
Wirtschaftliche Strafmaßnahmen können unter Umständen kontraproduktiv sein, wie uns das Beispiel Bangladesch gezeigt hat, wo die Kinder durch Abdrängen in noch schlimmere „Arbeitsalternativen", nämlich in die Prostitution, gelitten haben. Diese Länder benötigen „guidance, not pressure" Begleitung und Beistand, nicht Druck. Das erwartet man in den Entwicklungsländern von uns.
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Der Handel hat sich bereit erklärt, seinen Beitrag zu leisten, indem er über Einführungen von Verhaltenskodizes und Selbstbeschränkungen ernsthaft diskutiert. Diese positiven Ansätze müssen wir unterstützen. Der Handel muß die Bekämpfung der Kinderarbeit endlich zu seinem ureigenen Anliegen machen. Er darf nicht warten, bis der Druck vom Verbraucher erfolgt, damit er zu Lösungen gezwungen ist.
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Auch wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben als Verbraucher ein Instrumentarium, um handeln zu können. Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, können wir durch unser Verhalten, indem wir nämlich ohne Kinderarbeit hergestellte Produkte kaufen, die wir etwa beim Teppichkauf an dem Siegel Rugmark erkennen können, einen aktiven Beitrag leisten.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wie hat ein Mädchen auf der Konferenz in Kopenhagen gesagt: Wir wollen, daß Sie uns nicht nur zuhören, sondern auch handeln. - Tun wir das konsequent! Tun wir es für die Menschenrechte und für die Kinder!
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich am Schluß dieser Debatte versuche, unser Thema noch einmal am Beispiel unseres afrikanischen Nachbarkontinentes zu bündeln, dann muß ich natürlich eines vorausschicken: Menschenrechtsverletzungen sind kein typisch afrikanisches Problem. Verletzungen der Gewissens- und Religionsfreiheit, Unterdrückung, ethnische Auseinandersetzungen und Völkermord gab und gibt es in Europa ebenso wie in allen anderen Erdteilen. Es gibt aber in Afrika hochgefährliche Gemengelagen wie geschichtlich nicht gewachsene Grenzen, Armut, Überbevölkerung, Analphabetismus und ungerechte politische und soziale Strukturen, die zu menschenrechtsverletzenden Explosionen größten Ausmaßes führen können. Da diese Voraussetzungen in Afrika leider an vielen Stellen gegeben sind, müssen wir geschehene Menschenrechtsverletzungen nicht nur beklagen und bekämpfen, sondern uns intensiv mit der Heilung von Konflikten und der Vorbeugung neuer Gewaltausbrüche befassen.
Ich will versuchen, exemplarisch und mit dem Mut zur wirklichen Unvollständigkeit einige Punkte zu markieren:
Erstens. Es genügt nicht - Herr Bundesaußenminister, ich habe mich sehr gefreut, daß Sie diesen Punkt in Ihrer Rede angesprochen haben -, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Wir müssen auch positive Beispiele dankbar vermerken.
Nur drei Beispiele: In fundamentalistisch orientierten Ländern beklagen wir vielfach beeinträchtigte Rechte der Frau. Tunesien ist ein islamisch-arabischer Staat, der die Achtung vor der Frau besonders pflegt. Sicher ist dies das Ergebnis der mittelmeerischen Kulturbegegnung. Der verstehenden Kulturbegegnung in der Tiefe wird in Zukunft in der Menschenrechtspolitik ganz besondere Bedeutung zuwachsen.
Das andere Beispiel: Südafrika. Es gab viele Kenner, die aus der verhärteten Apartheidsituation keinen anderen Ausweg mehr sahen als einen entsetzlichen und blutigen Bürgerkrieg. Der Ausweg wurde gefunden. Eine versöhnende, charismatische Persönlichkeit wie Nelson Mandela mag ein einmaliger Glücksfall sein; viele Probleme stehen noch vor diesem Lande. Aber die ausgestreckte Hand wurde angenommen, der gefürchtete große Knall ist nicht eingetreten. - Das Beispiel sollte Mut machen für andere schwierige Fälle des Zusammenlebens.
Ein weiteres Beispiel: Vor ganz kurzer Zeit war eine Delegation aus Mali hier. Ich war sehr verblüfft, festzustellen, daß der malische Parlamentspräsident jeden einzelnen seiner Parlamentskollegen vorgestellt hat, indem er sagte, von welchem Stamm sie sind. Das wäre vor 30 Jahren völlig unmöglich gewesen. Tribalismus galt als eine Erfindung des Kolonialismus. Darüber hat man nicht geredet. Jetzt ist man darauf gekommen, daß man seine eigenen Probleme geschichtlich bewältigen muß und nur so weiterkommt. Mali hatte ja schwere Auseinandersetzungen vor allem mit den Tuareg. Mali ist jetzt auf dem Wege der Versöhnung.
Ein Zweites: Weiterreden lohnt sich immer. Ich möchte das Beispiel Sudan ansprechen. Seit der Unabhängigkeit tobt - mit Ausnahme der Jahre 1972 bis 1982, als es eine Autonomie für den Südsudan gab -ein Bürgerkrieg, der Millionen von Menschen in Tod und Flucht getrieben hat. Die Grausamkeiten, die an der Zivilbevölkerung begangen wurden, sind kaum aufzuzählen. Man bräuchte Tage dazu.
Neben der Vielzahl der dem Konflikt zugrunde liegenden regionalen, ethnischen und wirtschaftlichen Probleme spielte und spielt die Frage eine entscheidende Rolle, ob das traditionelle islamische Recht, die Scharia, in den Provinzen des Landes angewandt werden soll und muß, deren Bewohner dem islamischen Glauben gar nicht angehören.
16 Jahre, die ich nun im Bundestag bin, begleitet mich dieses Sudan-Problem. Da möchte man müde werden, an Lösungen zu glauben und für sie zu arbeiten. Dennoch werden wir in Kürze wiederum einen interfraktionellen Antrag zum Thema Sudan vorlegen. Ein ganz entscheidender Punkt ist die Beteiligung der afrikanischen Nachbarländer an der Konfliktschlichtung. Zur Zeit hält sich der sudanesische Außenminister in Bonn auf. Regierung und Parlament müssen ihn davon überzeugen, daß es zum Wohle seines gesamten Landes wäre, den Konflikt zu beenden. Gerade wir Deutschen können dabei das Konfliktlösungsmodell Föderalismus als realistische Chance anbieten.
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Drittens. Viele zu schwersten Menschenrechtsverletzungen führende Konflikte lassen sich nur schlichten, wenn regionale Zusammenarbeit erfolgt.
Im zentralafrikanischen Gebiet der Großen Seen schwelt, ebenfalls seit der Unabhängigkeit, ein Konflikt, den man ebensogut wirtschaftlich, sozial oder ethnisch definieren kann. Er hat zu bestialischen Mordserien geführt: 1972 und in mehrfachen Wiederholungen in Burundi an Hunderttausenden von Hutu-Intellektuellen - die einzige Chance, mit der die Tutsi-Elite ihre Herrschaft über die Mehrheit sichern konnte - oder 1994 die grauenhafte Ermordung von Hunderttausenden der Tutsi-Minderheit in Ruanda, die dort, umgekehrt wie in Burundi, zu Beginn der Unabhängigkeit entmachtet und großenteils vertrieben wurden, dann aber 1990 mit einer Befreiungsarmee wiedergekehrt war.
Wir befinden uns leider noch nicht einmal auf dem Höhepunkt der Entwicklung. Noch ist offen, was mit den Flüchtlingen geschieht, die weiterhin in Zaire umherirren. In Burundi hat man zurückkehrende Flüchtlinge massakriert. In Ruanda besteht die einmalige Chance, die zu Hunderttausenden zurückgekehrten Flüchtlinge menschlich zu behandeln und damit dem ewigen Wechsel von Vertreibung mit Mord und Rückkehr mit Mord zu entrinnen. Dazu bedarf es aber des Zusammenwirkens aller Staaten im Gebiet der Großen Seen. Wenn es Flüchtlinge gibt, die nicht zurückkehren wollen, muß man für ihre endgültige Ansiedlung in anderen Ländern sorgen.
Ich freue mich, daß die Bundesregierung die Menschenrechtsbeobachtung verstärken will.
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Die Windstille der Nichtbeobachtung und Nichtberichterstattung begünstigt Menschenrechtsverletzungen wie kaum ein anderer Faktor. Dem muß man entgegenwirken.
Nicht minder freut es mich, daß die Bundesregierung beim Wiederaufbau des ruandischen Rundfunkwesens helfen will. Hier ergibt sich eine einmalige entwicklungspolitische Chance. Bildung und Entwicklung sind ein untrennbares Paar. Analphabetismus kann erfolgreich durch Erwachsenenbildung bekämpft werden. Solche Radiosendungen, die Friedenserziehung einschließen müssen, könnten in Ruanda und in Burundi und bei den Flüchtlingen in Zaire und in Tansania gehört werden und dort eine versöhnende Wirkung entfalten.
Viertens. Menschenrechte und Demokratie gehören zusammen. Zu Recht pocht der interfraktionelle Antrag zu Nigeria auf Menschenrechte, RechtsstaatAlois Graf von Waldburg-Zeil
lichkeit und Demokratie in Nigeria. Ich fürchte, daß im Moment die Gefahr eines großen Mißverständnisses besteht. Viele meinen, Demokratie sei ein Produkt typisch europäischer Geschichte, sie sei auf andere Kulturen nicht unbedingt übertragbar, ja, sie könne dort eher schaden als nutzen. Demokratie ist als Ausdruck der friedlichen Konfliktschlichtung, der Teilhabe der Bürger an der Gestaltung der rechtlichen Ordnung und der Regelung von Problemen stets auf der Ebene, die dazu fähig ist, kein europäisches Phänomen, sondern ein universelles.
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Dies gilt in doppeltem Sinne: einmal, weil die moderne Zeit den ganzen Globus eingeholt hat und moderne Staaten, wenn sie Menschenrechte beachten wollen, nur im Partizipationsmodell und nicht im Diktaturmodell funktionieren. Das andere aber ist, daß die Geschichte der Kulturen der Welt und Afrikas im speziellen stets einen Rückgriff auf eigene demokratische Modelle erlaubt.
Deshalb darf der Deutsche Bundestag etwa bei der nigerianischen Militärregierung auf eine Durchsetzung der Menschenrechte und die Herstellung demokratischer Verhältnisse hinwirken, eine Wiederzulassung demokratischer Parteien, die Durchführung freier Wahlen, die Wiedereinführung der Pressefreiheit sowie die Abschaffung der Sondergerichte und die Schaffung eines unabhängigen Rechtssystems verlangen. Nehmen wir die Freilassung politischer Häftlinge hinzu - ich freue mich, daß wir in beiden Anträgen Übereinstimmung erzielt haben -, so können wir dieselben Forderungen an die Putschisten in Burundi und an so viele andere Militärregierungen des Kontinents richten.
Wie eingangs gesagt, diese Anmerkungen sind unvollständig und nur exemplarisch. Es wäre noch zu reden von monoethnischen Armeen als absoluter Konterindikation zu Menschenrechten, von der Demobilisierung des Militärs - denn von kaum einer Gruppe geht ähnlich menschenrechtsverletzende Gewalt aus wie von marodierenden, unbezahlten Soldaten -, vom Zerfall staatlicher Ordnungen und des Gewaltmonopols des Staates. Vielleicht konnte ich aber wenigstens andeuten, daß die grundlegenden Forderungen, wie sie etwa die deutsche Sektion von Amnesty International erhebt, nämlich Prävention, Schutz der Opfer, Stärkung der Strukturen, die Wiederholungen vermeiden, und Stärkung des Menschenrechtsbewußtseins, auf diesem Kontinent eine besondere Bedeutung besitzen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf ein besonderes Problem hinweisen. Wer immer sich mit Menschenrechtsverletzungen befaßt, wird leicht zur Partei. Gerade in Bürgerkriegssituationen begehen beide Seiten Grausamkeiten - die Armee des Sudan wie die sudanesischen Widerstandsbewegungen, die Armee Burundis wie die Streitkräfte zur Verteidigung der Demokratie, die ehemalige Armee in Ruanda und die jetzige. Da hilft es wenig, Tote und Verstümmelte gegeneinander aufzurechnen. Ich glaube, es gibt eine Parteinahme, die immer richtig ist: für die geschundene Zivilbevölkerung, für getötete und gequälte Frauen und Kinder, für Männer, die von ihren Familien getrennt und erschossen werden, nur weil man fürchtet, daß sie einmal als Rächer gefährlich werden könnten. Wer sich an dieses Prinzip der Parteinahme hält, entscheidet richtig.
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Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Uschi Eid.
Herr Kollege Graf Waldburg-Zeil, ich schätze Sie sehr. Sie haben Burundi als Beispiel genannt und haben gleichzeitig gesagt, Menschenrechte und Demokratie gehören zusammen. Nun handelt es sich bei Burundi um einen der wenigen Fälle, in dem eine Putschistenregierung ein Parlament aufgelöst hat. Das heißt, demokratisch gewählte Abgeordnete wurden vertrieben. Der Präsident des burundischen Parlaments hat in den USA den Demokratiepreis verliehen bekommen; er hat von der Putschistenregierung keine Ausreisegenehmigung bekommen.
Herr Außenminister, der derzeitige Putschistenpremier Burundis hat ein Visum erhalten, um in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Sie haben am 25. Juli dieses Jahres, am Tag des Putsches in Burundi, ganz klar gesagt, daß es keine Zusammenarbeit mit dem Putschistenregime in Burundi geben wird. Nun frage ich - und darüber bin ich empört -: Wie kann es sein, daß die Demokraten Burundis nicht in dieses Land, nicht nach Europa, nicht in die USA reisen dürfen, aber der Premier dieser Putschistenregierung in der Bundesrepublik Deutschland von der Bundesregierung empfangen wird? Ich halte dies für einen Skandal und möchte meiner Empörung darüber hier Ausdruck verleihen.
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Möchte jemand antworten? - Graf Waldburg-Zeil, bitte.
Liebe Frau Kollegin Eid, ich verstehe Ihre Empörung und möchte Ihre Frage ganz persönlich zu beantworten versuchen.
Als der Premier der Putschistenregierung hier war, bin ich auch freundlich eingeladen worden, an einem Treffen teilzunehmen. Ich habe auf Grund genau der Empörung, die Sie auch empfunden haben, gesagt, mit dem möchte ich nicht reden. Nachträglich habe ich mir überlegt, daß das wahrscheinlich ein Fehler war, weil die einzige Möglichkeit, jemandem etwas ins Gesicht zu sagen, natürlich darin besteht, mit ihm zu reden.
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Ich wäre nachträglich lieber in der Lage gewesen, ihm ganz deutlich zu sagen, daß ich die derzeitige
Haltung des Regimes für sehr gefährlich und explosiv halte, daß es nicht anders als durch die Wiederherstellung der demokratischen Strukturen möglich ist, in Burundi wieder eine Zukunft zu gewinnen.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Dazu liegen zwei Wortmeldungen zu einer Erklärung zur Abstimmung vor. Ich erteile zunächst der Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort, die eine Erklärung zur Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/6412 ({0}) abgibt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann dem Entschließungsantrag von CDU/CSU, SPD und F.D.P. zur Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen nicht zustimmen bzw. werde ihn ablehnen. Dieser Antrag verwechselt meines Erachtens Ursachen und Wirkungen.
Erstens. Ich kann nicht mittragen, daß in diesem Antrag der furchtbare Krieg, den die türkische Regierung in Kurdistan führt, erst in zweiter Linie verurteilt wird.
Zweitens. Ich kann ebenfalls die verbale Verurteilung der PKK nicht mittragen. Sie reden von direkter und indirekter Gewaltandrohung und nehmen nicht zur Kenntnis, daß seit geraumer Zeit die PKK-Führung, insbesondere Abdullah Ocalan, auf die hier lebenden Kurdinnen und Kurden einwirkt und immer wieder betont, daß in diesem Land Gewaltfreiheit von den Kurdinnen und Kurden ausgehen soll.
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Sie nehmen auch nicht zur Kenntnis - jedenfalls ist davon in dem Antrag nichts zu lesen -, daß in diesem Land sowohl von der Politik als auch von den Medien immer wieder Stimmungsmache gegen die hier lebenden Kurden stattfindet.
Ich möchte ein Beispiel geben, das relativ aktuell ist.
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- Ich begründe mein Abstimmungsverhalten.
Frau Kollegin, ich bitte Sie, einen Moment zuzuhören.
Sie müssen Ihr persönliches Abstimmungsverhalten begründen, zumal wenn es von dem ihrer Gruppe differiert. Sie können aber nicht mehr zur Sache argumentieren.
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Sie können also nichts mehr zur Begründung der anderen, die hier abstimmen, sagen und auch nicht
mehr zu den Sachinhalten sprechen, sondern Sie
müssen begründen, warum sie persönlich so abstimmen.
Ich meine eigentlich, daß ich das bisher gemacht habe. Aber gut.
Ich kann diesem Antrag nicht zustimmen, weil nicht einmal der Versuch gemacht wird, Ursachen von Ausschreitungen bei Demonstrationen zu benennen.
Ich kann diesem Antrag nicht zustimmen, weil in ihm kein Wort von der Flut von Verboten kurdischer Organisationen, Demonstrationen und Veranstaltungen genannt wird.
Ich kann diesen Antrag nicht unterstützen, weil das erhebliche Ausmaß von Einschränkungen demokratischer Rechte und der Meinungsfreiheit von hier lebenden Kurden nicht erwähnt wird.
Ich kann dem Antrag nicht zustimmen, weil kein Wort zur Aufhebung des PKK-Verbots bzw. des Verbots ihrer sogenannten Teilorganisationen enthalten ist. Der Hinweis darauf ist im übrigen im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und in unserem Antrag enthalten.
Ich kann diesem Antrag schließlich auch deshalb nicht zustimmen, weil zwar zur Kenntnis genommen wird, daß es einen einseitigen Waffenstillstand seitens der PKK gibt, an dem unbedingt festgehalten werden sollte - denn nur so kann ein Dialog stattfinden; diesen Punkt des Antrages unterstütze ich -, die Antragsteller sich damit aber nicht an die türkische Regierung richten.
Die im zweiten Teil des Antrags genannten Maßnahmen, wo es um Demokratie, Menschenrechte und die Dialogbereitschaft geht, unterstütze ich.
Ich hoffe, daß mit mir viele Kollegen diesen Entschließungsantrag ablehnen werden.
Danke.
Ebenfalls eine Erklärung zur Abstimmung - in dem Fall zur Drucksache 13/6413 - möchte der Kollege Steffen Tippach abgeben.
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Liebe Kollegin, ich habe zwar in der Debatte geredet, aber da lag der Entschließungsantrag, zu dem ich jetzt sprechen möchte, noch gar nicht vor. Insofern war es schwierig, darauf einzugehen.
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Herr Kollege Tippach, es ist klar: Auch Sie können jetzt nicht zu einem Entschließungsantrag sprechen, sondern nur Ihr persönliches Abstimmungsverhalten erläutern.
Ja, natürlich, ich erkläre mein Abstimmungsverhalten.
Ich bitte dann aber auch alle zuzuhören. Ich denke, daß der Kollege verstanden hat, worum es geht.
Ich mache es auch ganz kurz.
Es geht um den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/6413, der die Frage der Annullierung der Kommunalwahlen in Serbien behandelt. Ich habe das in meiner Rede vorhin angesprochen. Wir verurteilen dies. Ich werde diesem vorliegenden interfraktionellen Antrag - bei dem wir natürlich auch wieder nicht gefragt wurden - dennoch zustimmen.
Ich werde dies tun, obwohl ich ihn für einseitig halte. Denn genau dasselbe passiert in Kroatien, und dort sind die Konsequenzen völlig anders. Auch dort wird das Ergebnis der Kommunalwahlen vom Präsidenten nicht zur Kenntnis genommen, werden unabhängige Medien verboten.
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- Das ist nicht lachhaft. Wenn Sie keine Kenntnis haben, dann seien Sie bitte etwas leiser und lassen Sie mich noch einen Moment reden.
Ich werde zustimmen, obwohl ich diese Einseitigkeit für politisch schädlich und politisch nicht dienlich halte. Ich werde diesem Antrag zustimmen, obwohl ich weiß, welche Position die Führungspersönlichkeiten der Opposition, die in diesem Antrag gelobt wird, in Serbien beziehen. Ich war 1993, in Zeiten der Repression, an der Seite der Friedensbewegung in Serbien, und ich habe die Äußerungen von Vuk Drasković vernommen, der sagte: „Wenn ein Arm die grüne Fahne erhebt, dann schlagt ihn ab!", womit er moslemische Arme meinte. Und ich kenne Zoran Djindjić, der sich deswegen von Milošević distanziert, weil Milošević Karadžić hat fallenlassen.
In der Blindheit, zu sagen, sozialistische Parteien seien schlimm, führt das letztendlich dazu, daß Sie sich mit Karadžić gemein machen. Darauf wollte ich Sie hinweisen.
Vielen Dank.
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Wir kommen nun also zu den Abstimmungen, zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/6413. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/6417. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/6418. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 13/6412 ({0}). Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Ablehnung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einiger Abgeordneter der PDS, von denen sich aber auch einige enthalten haben, angenommen worden.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/6394. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/ CSU und F.D.P., SPD, einigen Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und einer Enthaltung der PDS angenommen worden.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/6400 soll dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6416. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem 3. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen. Das ist die Drucksache 13/5363 Nr. I. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Benutzung der Menschenrechtsberichte und Lageberichte der Bundesregierung für die parlamentarische Arbeit. Das ist die Drucksache 13/5363 Nr. II. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3210 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zum Tag der Menschenrechte. Das ist die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Drucksache 13/5363 Nr. II. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3214 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Konzept für eine deutsche Menschenrechtspolitik in ihrer Verbindung mit den anderen Politikbereichen. Das ist die Drucksache 13/5363 Nr. II. Der Ausschuß empfiehlt, auch diesen Antrag auf Drucksache 13/ 3229 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Genfer Rotkreuz-Abkommens. Das ist die Drucksache 13/5738. Auf Drucksache 13/6395 empfiehlt der Ausschuß, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur politischen Regelung des Kurdenkonfliktes; das ist Drucksache 13/6396 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4365 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einer Vermittlungsinitiative der Bundesregierung für eine politische Lösung in Kurdistan; das ist Drucksache 13/ 6396 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4004 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der PDS und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Lage in Osttimor, Drucksache 13/6397. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5799 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/5134, 13/4749, 13/5950 und 13/6060 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Schmidt ({1}), Dorle Marx, Dr. Edith Niehuis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Menschenwürde von Kindern achten - Sexuelle Gewalt ächten
- Drucksache 13/6054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch dagegen. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste erhält die Kollegin Edith Niehuis das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die aufsehenerregenden und tragischen Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder haben die Öffentlichkeit in den letzten Wochen zu Recht empört. Jede öffentliche Diskussion, die dazu geeignet ist, den Blick auf die Situation von Kindern zu richten, ist zu begrüßen. Aber ist es, müssen wir uns doch kritisch fragen, in den letzten Wochen wirklich gelungen, den Blick auf die Kinder zu richten? Ich glaube nicht. Wir hatten keine Diskussion über Kinder; wir hatten eine Diskussion über Täter.
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Der Strafrahmen für Täter, die Therapiemöglichkeiten, die chemische Kastration - all das stand im Mittelpunkt. Wer wie die CSU daraus schlußfolgert, allein mit dem Ruf nach härteren Strafen die Kinder vor Gewalttaten besser schützen zu können, führt meines Erachtens die Öffentlichkeit in die Irre.
({1})
Aber auch jene irren, die die gegenwärtige Diskussion ausnutzen wollen, um den liberalen Umgang mit der Sexualität zu brandmarken und diesen als eine Ursache von Sexualstraftaten hinzustellen. Wie ich der „Wochenpost" vom 21. November entnehmen konnte, gehört leider auch die für Jugend zuständige Ministerin Nolte zu jenem Kreis, der mit einem Blick auf die 68er den liberalen Umgang mit der Sexualität im Zusammenhang mit dem sexuellen Mißbrauch brandmarkt. Meine Damen und Herren, wer so ansetzt, macht eine falsche Kinderpolitik und macht keine gute Politik zum Schutz von Kindern.
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Weil die SPD sich Sorgen macht, daß die kinderpolitische Diskussion in eine falsche Richtung gehen könnte, haben wir den heute zu debattierenden Antrag gestellt, um die Umsetzung der UN-Konvention
über die Rechte des Kindes anzumahnen, ebenso die Umsetzung der Ergebnisse des Stockholmer Weltkongresses.
Wie nötig dieses Anmahnen ist, lehrt nicht nur die schleppende Geschichte der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, sondern auch die erst kürzlich vorgelegte Halbzeitbilanz des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In dieser Halbzeitbilanz kommt die UN-Kinderrechtskonvention nicht vor. Mich erschüttert es, daß man mitten in einer Legislaturperiode nicht daran denkt, daß wir bezüglich der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland noch vieles zu tun haben.
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Wir alle wissen doch, daß Kinder nicht in erster Linie unbekannten Sextätern zum Opfer fallen, sondern zu einem Viertel - so schätzt man - sind die Täter Familienmitglieder, zu 50 Prozent Verwandte, Freunde und Bekannte der Familie. Zu Recht fordert der Präsident der Deutschen Gesellschaft gegen Kindesmißhandlung, Professor Fürniss, daß wir nicht nur von der sexuellen Gewalt reden sollten, weil diese eben nur ein Teil der Gewalt ist. Statt dessen sollten wir von Mißhandlung und körperlicher und seelischer Gewalt überhaupt reden.
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Zu Recht, Frau Ministerin Nolte, stellten Sie in Ihrer Rede auf dem Kongreß „Kinder in Deutschland" am 21. Oktober 1995 fest: „Häufig ist es die Gewalt gegen Kinder, die Kinder selbst gewalttätig werden läßt" .
Zu Recht sagt der Hannoversche Kriminologe Wetzel: „Sexualstraftäter, wie überhaupt Gewaltkriminelle, waren fast immer selbst einst ein geschundenes und geschlagenes Kind." Der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover, Professor Pfeiffer, beschreibt die potentiellen Opfer wie folgt:
Es sind meist Kinder aus Familien, in denen sich die Eltern prügeln oder sie selber geschlagen werden oder beides. Dabei sind die Mißbrauchstäter aus dem Umfeld, zu denen sich die Kinder offenbar hingezogen fühlen. Das kann leicht mißbraucht werden.
Weil dieses alles stimmt, fordert die UN-Kinderrechtskonvention in Art. 19 die Vertragsstaaten auf, alle Gesetzgebungs- und andere Maßnahmen zu treffen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung zu schützen.
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Im April 1992 ist bei uns die UN-Kinderrechtskonvention in Kraft getreten. Bis heute weigert sich die Bundesregierung, die klare Formulierung „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen" gesetzlich zu verankern. CSU, CDU und F.D.P. haben sich 1993 im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskommission geweigert, diese Formulierung in Art. 6 unseres Grundgesetzes aufzunehmen. Sie haben einen Entwurf der Reform des Kindschaftsrechts vorgelegt, in dem ebenfalls die Aufnahme der gewaltfreien Erziehung in das Bürgerliche Gesetzbuch nicht vorgesehen ist.
Angesichts der Tatsache, daß eine gewaltfreie Erziehung langfristig der beste Schutz auch vor Sexualstraftaten ist, frage ich Sie, wann Sie Ihre Blockadepolitik gegen die gesetzgeberische Forderung nach einer gewaltfreien Erziehung endlich aufgeben wollen.
({6})
Ich erinnere Sie daran, daß in diesem Sinne auch der Ausschuß für die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen auf Sie eingewirkt hat. Dieser Ausschuß für die Rechte des Kindes hat im November 1995 seine Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung dem Kind als Rechtssubjekt in gesetzgeberischer, politischer und programmatischer Hinsicht zuwenig Beachtung schenkt.
Von Beginn an bis heute steht die Bundesregierung der UN-Kinderrechtskonvention sehr zurückhaltend gegenüber. 1988 hat der deutsche Delegierte laut Aussagen von Nigel Cantwell von UNICEF beteuert, „nicht einmal in tausend Jahren würde die Bundesregierung einem solchen Dokument ihre Zustimmung geben". Dann wurde das Dokument in Deutschland mit Vorbehalten ratifiziert, und bis heute ist Ihre Position, die Standards des Übereinkommens seien in der Bundesrepublik bereits alle verwirklicht. Sie nehmen für sich in Anspruch, nichts tun zu müssen - leider auf Kosten der Kinder.
({7})
Die Bundesregierung weigert sich, den von der Kinderrechtskonvention geforderten Perspektivenwechsel vom Kind als Objekt zum Kind als Subjekt, als Persönlichkeit mit eigenen Rechten und Interessen mitzuvollziehen. Ihre Vorbehalte gegen das Kind als Subjekt machen Sie schon durch die von Ihnen gewählte offizielle deutsche Übersetzung deutlich. Was im Englischen „the best interests of the child" heißt, wird in der deutschen Übersetzung „das Wohl des Kindes". Dies ist eine Übersetzung, die vom Gedanken der Fürsorge ausgeht. Von der UN-Kinderrechtskonvention ist aber eine Übersetzung gewollt, die von den eigenen Interessen des Kindes ausgeht und das Kind als Rechtssubjekt ernst nimmt.
({8})
Meine Damen und Herren von der Koalition, damit wir im Interesse der Kinder weiter diskutieren, halte ich es für dringend geboten, die Verfassungsdiskussion der letzten Legislaturperiode wieder aufzunehDr. Edith Niehuis
men, um in Art. 6 unseres Grundgesetzes eigenständige Kinderrechte festzuschreiben.
({9})
Wenn wir diese Diskussion öffentlich und öffentlichkeitswirksam führen, wird es uns - wie von den Vereinten Nationen gefordert - gelingen, daß endlich auch bei uns über Kinder, ihre Rechte und ihre Interessen informiert und diskutiert wird.
Ich habe den Eindruck, daß die Kinderrechtskonvention zwar 1992 ratifiziert wurde, aber bis heute verschwiegen wird, daß bei den politischen Maßnahmen das Wohl der Kinder - oder besser: ihr bestes Interesse - vorrangig berücksichtigt werden muß. Wenn die Politik der Bundesregierung diesen Auftrag der UN-Kinderrechtskonvention auch nur annähernd ernst nehmen würde, hätte sie so manche politische Entscheidung in den letzten Monaten nicht treffen dürfen.
({10})
Oder glauben Sie wirklich, daß eine Politik, die immer mehr Familien, Kinder und Jugendliche auf die Sozialhilfe verweist, eine Politik zum Wohle des Kindes ist? Oder glauben Sie wirklich, daß eine Politik, durch die die Kommunen durch stetig steigende Sozialhilfeausgaben in den finanziellen Ruin getrieben werden und sie darum keine Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mehr vorhalten können, eine Politik für Kinder ist?
Wenn man Kinder und Jugendliche fragt, machen sie sich über zwei Dinge Sorgen: Nummer eins ist die Arbeitslosigkeit, Nummer zwei ist die Umweltverschmutzung. Über 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche leben schon heute in Haushalten, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hier geht es nicht nur um die materiellen Einschränkungen, sondern hier kann auch Perspektivlosigkeit vermittelt werden, die sich negativ auf die gesamte gesellschaftliche Entwicklung auswirken kann. Um so wichtiger ist es, daß wir den Jugendlichen deutlich machen, daß wir wollen, daß sie ein Recht auf einen Ausbildungsplatz haben.
({11})
Die SPD schlägt der Regierung einen Ausbildungsfonds vor, den Sie anscheinend ungeprüft verwerfen. Aber wenn Sie eine Umlagefinanzierung für Ausbildungsplätze blockieren wollen, dann können Jugendliche von Ihnen erwarten, daß Sie andere wirksame Konzepte vorlegen.
({12})
Ich halte es für dringend geboten, daß Sie, Frau Ministerin Nolte, Ihrem Kollegen Seehofer einmal den Art. 24 der Kinderrechtskonvention überreichen, der ein Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit festschreibt.
({13})
Diesem Artikel wird er mit seiner Gesundheitspolitik nicht gerecht.
Es wäre ebenso geboten, Sie würden auch die Umweltministerin Merkel einen Blick in die Kinderrechtskonvention werfen lassen. Es ist doch nicht so, wie die Bundesregierung gerne glauben machen will, daß sich die Industrieländer hinsichtlich des Rechts des Kindes auf Gesundheitsvorsorge zurücklehnen könnten und wir nur auf den Handlungsbedarf in den Entwicklungsländern zeigen müßten. Tatsache ist: Umweltgifte und Umweltbelastungen führen dazu, daß hierzulande immer mehr Kinder nicht das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit besitzen. Sie leiden an Allergie- und Atemwegserkrankungen, chronischen Hautreizungen und vielem mehr.
Welche Folgen die frühe Einlagerung von Schadstoffen im Körpergewebe haben wird, läßt sich noch gar nicht abschätzen. Wäre es darum nicht angebracht - das ist meine herzliche Bitte -, daß wir die Grenzwerte und Methoden der Schadstoffmessung der besonderen körperlichen Situation von Kindern anpaßten?
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Die UN-Kinderrechtskonvention ist in der Bundesrepublik seit 1992 gültig. Es muß ein Ende haben, daß diese wichtige Konvention von der Bundesregierung einfach totgeschwiegen wird. Im Gegenteil: Es wird Zeit, daß sie endlich Berücksichtigung findet. Dazu soll unser Antrag dienen.
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Für die Bundesregierung erhält jetzt die Bundesministerin Claudia Nolte das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! „... Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes", so heißt es in der bayerischen Landesverfassung. Wie grausam, wenn dieses köstlichste Gut den Trieben und der Gewalt erwachsener Menschen zum Opfer fällt, wie grausam der Tod Natalie Astners, wie grausam die Kindermorde in Belgien.
Wir stehen deshalb alle in der Pflicht, uns schützend vor die Kinder zu stellen. Wir dürfen und wir werden uns nicht damit abfinden, daß Eltern in Angst leben müssen, weil Kinder diesen Gefahren ausgesetzt sind.
Täglich werden in aller Welt - auch in Deutschland - Kinder sexuell ausgebeutet und mißbraucht, und sie können sich nicht wehren. Den Opfern werden sogar häufig Wege zur Hilfe verbaut, weil auch Helfer hilflos sind. Sie haben nicht gelernt, mit solch einer schwierigen Situation umzugehen. Die hohe Dunkelziffer beim sexuellen Mißbrauch von Kindern läßt erkennen, daß unsere Gesellschaft immer noch
nicht ausreichend in der Lage ist, Hilferufe und Signale betroffener Kinder aufzunehmen.
Der sogenannte Kindersextourismus stellt eine besonders brutale Form der erwerbsmäßigen sexuellen Ausbeutung von Kindern dar. Eine der wesentlichen Ursachen ist die von den Tätern skrupellos ausgenutzte existentielle materielle Not vieler Kinder und ihrer Familien in den Zielländern.
Begleiterscheinungen dieser sexuellen Ausbeutung und familiären Erpressung sind unter anderem eine wachsende Zahl HIV-infizierter prostituierter Kinder, die zunehmende Nutzung internationaler Datennetze für die Verbreitung von Kinderpornographie verbunden mit Angeboten zum sexuellen Mißbrauch von Kindern und hohe Gewinne beim kommerziell organisierten Kindesmißbrauch.
Der erste Weltkongreß gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern in Stockholm hat uns den Handlungsbedarf nachdrücklich vor Augen geführt. Wir brauchen umfassend aufeinander abgestimmte und konsequent umgesetzte Maßnahmen sowohl bei der Prävention als auch im rechtlichen Bereich sowie beim Opferschutz.
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Ich denke, Frau Niehuis, hier brauchen wir auch keine Schärfen hineinzubringen. Es wäre dem Thema in keiner Weise angemessen, und es ist einfach vieles von dem, was Sie hier unterstellt haben, unzutreffend.
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- Das brauchen Sie nicht, ich komme noch im Detail darauf zurück.
Ich halte es für notwendig, daß wir ein gemeinsames Maßnahmenpaket entwickeln und daß wir uns dabei auf den Sachverstand und die Erkenntnisse vieler stützen. Für mich ist dabei die Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen besonders wichtig.
Ich habe aus diesem Grunde vor einer Woche die Vertreter der Nichtregierungsorganisationen, die entsprechenden Ausschußmitglieder, die Delegationsteilnehmer, die Kinderkommission des Bundestages sowie die zuständigen Vertreter der anderen Bundesressorts zu einer Anhörung ins Ministerium eingeladen. Von allen Beteiligten wurde ganz klar anerkannt, daß der Schutz der Kinder Vorrang vor allen anderen Maßnahmen hat. Dieser Schutz muß immer am Anfang stehen. Deswegen kommt der Prävention eine entscheidende Bedeutung zu. Es wurde auf diesem Nachtreffen ausdrücklich betont, daß Fachkräfte wie beispielsweise Mediziner, Richter und Staatsanwälte auf die Problematik der sexuellen Gewalt gegen Kinder schon in der Ausbildung besser vorzubereiten sind.
Zur Prävention zähle ich ebenso, daß wir durch ein zeitgemäßes Multimediagesetz den Jugendschutz verbessern wollen. Ich begrüße den Vorschlag der NGOs, eine nationale Hotline für Straftatbestände im Internet einzurichten, so daß Bürgerinnen und Bürger sowie Behörden auf Kinderpornographie und andere strafbare oder jugendgefährdende Angebote in Online-Diensten und im Internet aufmerksam machen können.
Ich habe weiterhin entschieden, daß wir die regulär Ende des Jahres auslaufende Förderung der bundesweiten Informations- und Dokumentationsstelle für Kindesmißhandlung in Münster auch 1997 fortsetzen.
Des weiteren wurde bei dem Gespräch mit den NGOs hervorgehoben, daß es eine engere Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden in den Zielländern des Kindersextourismus geben muß. Wir müssen Absprachen mit allen in Betracht kommenden Zielländern treffen, so wie uns das zum Beispiel mit Thailand gelungen ist. Aber ich denke, auch eine bessere Kooperation zwischen NGOs und staatlichen Stellen ist wichtig, kann entscheidend sein, denn viele Hinweise können von den NGOs kommen.
Auch im rechtlichen Bereich besteht Handlungsbedarf. Wir müssen den Strafrahmen bei sexuellem Mißbrauch ausweiten. Schwere Fälle sexuellen Mißbrauchs sind Verbrechen und gehören als solche geahndet.
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Ebenso gilt es, den Schutz kindlicher Opferzeugen durch eine zeugenschonendere Sachverhaltsermittlung zu verbessern. Sie können sicher sein, daß wir dementsprechend auch tätig werden.
Die Bundesregierung hat in Anlehnung an die „Agenda for Action" von Stockholm geplant, ein entsprechendes Maßnahmenpaket zu erarbeiten. Ich denke, wenn dieses Paket vorliegt, können wir auch einen entsprechenden Zeitplan für die Umsetzung der einzelnen Maßnahmen festmachen.
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Es ist keine Frage, Frau Niehuis, die Rechtsstellung und der Schutz der Kinder sind durch die UNKinderrechtskonvention für alle Länder wesentlich gestärkt worden. Schon mit dem Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 21. Januar 1993 ist deutlich geworden, daß das Übereinkommen einen wichtigen Impuls auch für innerstaatliche Reformen gegeben hat.
Ihre Vorwürfe, die Sie hier vorgetragen haben, sind in ihrer Überspannung verzerrend und einfach nicht gerechtfertigt. Es ist überhaupt keine Frage, daß für die Bundesregierung Kinder Subjekte mit eigenen Rechten sind
({4})
und daß wir dem auch in der Gesetzgebung Rechnung tragen.
({5})
Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung den Ersten Deutschen Staatenbericht zur UN-Konvention im November vorigen Jahres mit gutem Erfolg - Frau Marx, Sie waren anwesend, Ihnen ist dieser Bericht bekannt, und Sie wissen also im einzelnen, was in der Vergangenheit alles geleistet worden ist - vor dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes vertreten. Der UN-Ausschuß ist nicht als ein Gremium bekannt, das ohne genaue Prüfung einem Land Anerkennendes sagt.
Wir werden auf diesem Weg fortfahren und die Konvention konsequent dazu nutzen, die Situation der Kinder in unserem Land weiter zu verbessern.
({6})
Wir werden beispielsweise nach erfolgreichem Abschluß der Kindschaftsrechtsreform prüfen, ob sich damit der entsprechende Vorbehalt ebenfalls erledigt hat.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen - weil Sie das in Ihrem Antrag so ausdrücklich anmahnen -, daß wir eine Kommission zur Erarbeitung des 10. Kinder- und Jugendberichts eingesetzt haben, die diesen Bericht noch in dieser Legislaturperiode vorlegen wird. Der Bericht wird dann auch eine ausführliche Stellungnahme der Bundesregierung enthalten. Der 10. Kinder- und Jugendbericht hat zum Schwerpunkt das Thema der Kinder in Deutschland, so daß letztendlich das, was Sie fordern, längst in Auftrag gegeben und in Arbeit ist.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig, daß es letztendlich darauf ankommt, daß wir eine kindgerechte Welt gestalten, in der die Verantwortung für Kinder, für den Schutz von Kindern nicht an irgendwelche Institutionen oder Experten abgeschoben, delegiert wird. Wir alle bleiben gefordert, uns persönlich für die Kinder einzusetzen und Unglück von ihnen abzuwenden. Wir stehen alle in der Verpflichtung, wenn es darum geht, Kinder stark zu machen.
Vielen Dank.
({7})
Kollegin Niehuis möchte eine Kurzintervention machen.
Sehr geehrte Frau Ministerin! Ich muß mich jetzt noch einmal melden, weil Sie gesagt haben, ich hätte Unterstellungen verbreitet. Das möchte ich von mir weisen.
Sie haben gesagt, die Bundesregierung will die Kinder als Rechtssubjekte anerkennen und schätzt die Kinderrechte. War es denn von mir wirklich eine Unterstellung zu sagen, daß es in der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht möglich war, die Kinderrechte in den Art. 6 des Grundgesetzes zu schreiben, weil die CDU/CSU nicht mitmachen wollte?
({0})
Sie haben einmal gesagt, es sei eine Unterstellung, wenn ich hier behaupte, daß die Bundesregierung beim Ausschuß für die Rechte der Kinder in Genf auch ermahnt wurde. Stimmt es nicht, daß der Ausschuß für die Rechte von Kindern gesagt hat: Mit Besorgnis nehme man zur Kenntnis, daß die Bundesregierung in programmatischer und gesetzgeberischer Hinsicht Kinderrechte eben nicht festschreibe? Stimmt das etwa nicht?
({1})
Sie haben über Medien und Gewalt gesprochen. Ich denke aber, viel wichtiger ist es, daß wir über gewaltfreie Erziehung sprechen. Stimmt es denn nicht, daß Sie es bis heute verweigern, folgenden Satz in das Bürgerliche Gesetzbuch zu schreiben: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen"? Bis heute verweigern Sie das.
({2})
Wenn ich Ihre Aussagen so interpretieren darf, daß Sie jetzt mit uns die Rechte der Kinder in die Verfassung aufnehmen und mit uns das Bürgerliche Gesetzbuch verändern wollen, dann nehme ich das gerne zur Kenntnis.
({3})
Frau Ministerin, möchten Sie antworten?
({0})
Ja.
Das Wort hat jetzt die Ministerin.
Auch ich halte es für notwendig, diese Diskussion in angemessener Weise zu führen. Jede Schärfe ist in der Tat nicht angemessen.
({0})
Frau Niehuis, es ist keine Frage, daß auch für ein Land wie Deutschland immer Handlungsbedarf bleibt. Sie haben zwei Punkte genannt, über die eine differenzierte Diskussion notwendig wäre.
({1})
Dazu hat man natürlich bei einem Zwischenruf keine Chance, wie Sie mir zugestehen werden.
({2})
Die von Ihnen vorgenommene Pauschalierung ist deshalb in der Tat zurückzuweisen, darf so nicht stehenbleiben.
({3})
Der UN-Ausschuß hat uns in der mündlichen Anhörung aufgezeigt, wo er noch Handlungsansätze sieht. Ganz überwiegend ist aber sehr wohl anerkannt worden, was in den zurückliegenden Jahren in Deutschland geleistet worden ist. Gerade der Vergleich zwischen der Situation von Kindern in Deutschland und in anderen Ländern spricht eine deutliche Sprache.
Frau Niehuis, man darf überdies nicht übersehen, daß für die Frage der Situation der Kinder in Deutschland nicht einfach nur das Rechtssystem entscheidend ist. Was im Ausschuß vor allem angesprochen wurde, ist die Frage des Klimas, das heißt, wie die Gesellschaft insgesamt Kinder aufnimmt. Sie wissen genausogut wie ich, daß eine Verbesserung über den gesetzlichen Weg allein nicht herstellbar ist.
Auch in der Verfassung hat das Kind als Subjekt seinen Platz. Wir haben darüber eine sehr ausführliche Debatte geführt, in der wir für unsere Entscheidung sehr gute Gründe genannt haben. Diese Diskussion müssen wir nicht wiederholen.
Insgesamt glaube ich letztendlich, daß wir in vielen Bereichen nicht so weit auseinander liegen, wie Sie es hier zum Ausdruck bringen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Weltkonferenz über die Menschenrechte in Wien im Jahre 1993 hat es meiner Meinung nach auf den Punkt gebracht. Da heißt es: Es muß der Grundsatz gelten: „first call for children" - Kinder zuerst. Es ist kein Zufall, daß auf den internationalen Konferenzen das Thema Menschenrechte immer öfter auf der Tagesordnung steht, und es ist auch kein Zufall, daß - wie in Peking - die Frauen und - wie in Stockholm - die Kinder im Mittelpunkt stehen.
Menschenrechtsverletzungen an Kindern haben sehr viele Formen: wenn Mädchen der schmerzhaften und entwürdigenden Praxis der Verstümmelung ihrer Genitalien unterworfen werden, wenn Kinder weltweit ihre Körper verkaufen müssen, damit ihre Familien überleben können, und wenn in einer wohlhabenden Gesellschaft wie der unseren Kinder zu Hause von sogenannten Vertrauenspersonen sexuell mißbraucht werden.
Unsere Gesellschaft tut sich immer noch sehr schwer, Kinder als eigenständige Persönlichkeiten ernst zu nehmen. Wie viele unserer Vorstellungen vom Kind sind immer noch aus der Sicht der Eltern und auf ihre Rechte auf das Kind fixiert? Wie lange haben wir Kinder zum Beispiel als sogenannte uneheliche Kinder über den Status ihrer Eltern definiert, ohne zu sehen, daß Ehelichkeit ein Merkmal von Eltern, aber keines von Kindern sein kann?
({0})
Dieser Staat tut sich mit der Anerkennung der UNKinderrechtskonvention schwer. Frau Niehuis ist schon darauf eingegangen. Ich möchte ein anderes Beispiel nennen: Unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge genießen in Deutschland keinen Abschiebeschutz. Das Clearing-Verfahren, das wunderbar funktioniert hat, ist eingestellt worden.
Anzeigen wie in einer Kölner Tageszeitung, „Bauarbeiter mit zirka 6jährigem Sohn zur tätigen Mithilfe am Objekt gesucht; Videoüberwachung gegeben; 15 000 DM Verhandlungsbasis ", finden Sie republikweit. Hier und anderswo werden Kinder verraten und verkauft. Weltweit prostituieren sich jährlich zwischen 100 Millionen und 150 Millionen Kinder unter 16 Jahren. Der Markt für diese Kinderprostitution boomt. Die Kunden kommen von überall her, auch aus der Bundesrepublik. Wir sind nicht zufällig auf der Weltfrauenkonferenz in Peking von den Frauen aus den armen Ländern angesprochen worden: „Das sind nicht einfach Männer. Ihr kennt sie; das sind eure Brüder, Väter und Schwäger, aber es passiert so wenig bei euch zu Hause dagegen."
Sprachlich sind wir nicht in der Lage, adäquate Ausdrücke für Mißhandlung und sexuelle Gewalt gegen Kinder zu finden. Ist sie weit weg von uns, nennen wir sie verharmlosend Sextourismus. Geschieht sie im familiären Umfeld der Kinder, sprechen wir von Mißbrauch, als gäbe es überhaupt einen irgendwie zu rechtfertigenden Gebrauch von Kindern.
({1})
Die UNICEF-Studie über Kinder im Krieg kommt zu der Schlußfolgerung, daß UN-Blauhelmsoldaten bestraft werden müssen, wenn sie Kinder mißbrauchen. Es scheint für diese Forderung Anlaß zu geben. Auch bundesdeutsche Soldaten waren im Rahmen der Peace-keeping-Mission der UN in Kambodscha. Ich kann deshalb nicht verstehen, warum ausgerechnet das eingeladene Verteidigungsministerium keinen Vertreter zu dem Nachbereitungstreffen von Frau Ministerin Nolte geschickt hat, auf dem über die Konsequenzen der Stockholmer Konferenz beraten wurde.
Der sexuelle Mißbrauch von Kindern ist ein weltweites Problem. Dies wurde uns durch die jüngsten Fälle und durch die Kinderpornographieanklagen der letzten Zeit in Belgien und hier in der Bundesrepublik ziemlich kraß vor Augen geführt. Inzwischen beraten alle im Hause vertretenen Parteien, was aus gesetzgeberischer Sicht verbessert werden kann. Für uns gehören an allererster Stelle der Opferschutz und die kindgerechte Vernehmung dazu, aber auch, daß der besonders schwere Mißbrauch in Zukunft als Verbrechen bestraft werden muß. Die Verbesserung strafrechtlicher Verfolgung von Tätern ist wichtig,
aber bei weitem nicht ausreichend, um Kinder wirksam zu schützen. Prävention von Gewalt muß einen viel größeren Stellenwert erhalten.
({2})
Wir dürfen als Gesellschaft Kinder nicht länger an den Rand drängen. Sie brauchen mehr Raum. Den Raum opfern wir dem Auto und dem Verkehr. Sie brauchen mehr Zeit. Wir verlängern die Arbeitszeiten immer mehr, so daß den Eltern Zeit für die Kinder genommen wird. Sie brauchen finanzielle Ressourcen. Wir müssen sie viel selbstverständlicher und direkter bei allen Entscheidungen beteiligen, die in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld für sie wichtig sind. Nur, wenn wir sie ernst nehmen, lernen sie auch, andere zu respektieren.
Zu der Achtung der Menschenwürde von Kindern gehört auch ihr Recht auf gewaltfreie Erziehung. Die Kollegin Niehuis ist darauf schon eingegangen. Das Prügeln von Kindern kann keine akzeptierte Erziehungsmaßnahme sein.
({3})
Ich verstehe nicht, warum die Bundesregierung bei der Reform des Kindschaftsrechts die gewaltfreie Erziehung nicht mit verankert hat.
Meine Damen und Herren, solange Diskriminierung und Ungleichheit weltweit an der Tagesordnung sind, solange Frauen und Mädchen geringer geachtet, schlechter ernährt und schlechter ausgebildet werden, mehr arbeiten müssen und dafür geringer entlohnt werden und solange sie Gewalt im eigenen Heim ausgesetzt sind, ist es zur Schaffung einer friedlichen, die Würde aller Menschen achtenden Welt noch ein sehr langer und beschwerlicher Weg. Wenn aber Familien immer größere Schwierigkeiten haben, ihre Existenz zu sichern, was praktisch oft heißt, daß Mütter keine Chancen haben, für sich und ihre Kinder zu sorgen, daß sie abhängig sind oder ohne Perspektive für sich und die Familie, dann ist der Boden für Gewalt bereitet, dann haben Vermarktung und Sexualität Chancen, dann trifft Demütigung schwerlich auf Grenzen, dann sind physischem und psychischem Elend Tür und Tor geöffnet. Da bleibt wenig Raum für die Menschenwürde. Das müssen wir ändern,
({4})
und zwar nicht, indem wir Sonntagsreden halten, sondern indem hier eine andere Politik gemacht wird, eine Politik, die der Wiener Konferenz gerecht wird, eine, bei der Kinder tatsächlich zuerst kommen.
Ich möchte noch kurz auf die Anträge eingehen. Wir hatten in der Nachfolge von Stockholm einen Antrag eingebracht, der die Konsequenzen aus dem Stockholmer Abkommen gezogen hat. Wir haben gefordert, daß Rechtshilfeabkommen geschlossen werden, um sogenannte Sextouristen besser verfolgen zu können und um die Beweissicherung vereinfachen zu können. Frau Kollegin Marx, Sie haben damals unseren Antrag ziemlich verrissen und gesagt, er sei nicht das Wahre. Den Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, hätte ich mir auch substantieller und etwas besser ausgestaltet gewünscht.
({5})
Ich denke, wir haben noch viele Gelegenheiten, das nachzuholen, und wir werden hier hoffentlich auch noch öfter die Gelegenheit haben, im Sinne der Kinder tätig zu werden.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Nolte, Sie haben Ihre Rede mit einem Zitat aus der bayerischen Verfassung begonnen. Die bayerische Verfassung enthält viele, auch richtige und gute Aussagen. Sie haben aber ein Wörtchen vergessen. Es wird dort von den „gesunden" Kindern gesprochen. Wir sind uns in der politischen Landschaft Bayerns einig, daß es hier - im Rahmen eines vorsichtigen Umgangs mit der Verfassung und mit wichtigen Änderungen - auf alle Fälle einer Korrektur bedarf. Denn alle Kinder sind kleine Menschen mit großen Rechten, und ihre Menschenwürde ist unantastbar.
({0})
Das haben wir schon so oft hier im Bundestag als etwas Selbstverständliches ausgesprochen. Dies geschieht ständig auch auf internationalen Konferenzen und Treffen.
Aber was passiert täglich?
({1})
Kinder, und zwar Mädchen wie Jungen, sind in der ganzen Welt Opfer sexuellen Mißbrauchs in unterschiedlichen Formen. Zwangsprostitution von Mädchen, Strichjungen, kinderpornographische Videos, Kinderhandel, sexueller Mißbrauch in der Familie sind alles leider keine außergewöhnlichen Phänomene. Eine Zahl aus Deutschland macht das noch einmal deutlich: 1995 sind in der polizeilichen Kriminalstatistik 16 000 Fälle sexuellen Mißbrauchs festgehalten. Hinter dieser Zahl verbergen sich furchtbare Schicksale von Kindern und Jugendlichen. Durch sexuellen Mißbrauch - häufig über Jahre hinweg, meistens von Familienangehörigen oder aus dem familiären Umfeld heraus begangen - sind Kinder psychisch extrem belastet, traumatisiert und eben nicht in der Lage, allein damit fertig zu werden.
Spektakuläre Prozesse und fürchterliche Ereignisse wie vor einigen Monaten in Bayern sensibilisieren die Öffentlichkeit immer wieder ganz besonders für Kindesmißhandlung und Kindesmißbrauch. Es ist schade, daß wir uns nicht ständig mit diesem meiner Meinung nach wirklich wesentlichen Gradmesser
des Zustandes einer humanitären Gesellschaft auseinandersetzen.
Als Reaktion wird häufig sofort eine Verschärfung der gegenwärtigen Rechtslage gefordert. Ich sage hier ganz deutlich: Auch diese fürchterlichen Vorfälle und Ereignisse eignen sich nicht für gesetzgeberischen Aktionismus.
({2})
Manches an Defiziten wird deutlich, zum Beispiel daß die Therapie während des Strafvollzugs gestärkt werden muß, daß externe Gutachter bei wichtigen Entscheidungen auch über die Entlassung hinzugezogen werden müssen, daß Defizite gerade auch in der Landespolitik bestehen; denn die Anzahl sozialtherapeutischer Plätze in Strafvollzugsanstalten ist viel zu gering.
Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Bei allen Sparbemühungen in Bund und Land, die wichtig sind, darf die Justiz nicht das falsche Opfer sein; denn schlanker Staat kann nicht schlanke Justiz heißen, wenn es zu Lasten des Schutzes von Kindern, gerade auch in Strafprozessen und Verfahren, geht.
({3})
Der notwendige Schutz der Allgemeinheit darf aber auch nicht die zweite Säule des Strafvollzuges, die Wiedereingliederung des Täters, verdrängen. Auch diesem humanitären Anspruch muß unsere Rechtsordnung gerecht werden. Deshalb begrüße ich, daß die Bundesregierung von der zwangsweisen chemischen Kastration nach anfänglicher Aufgeschlossenheit wohl wieder Abstand genommen hat.
So notwendig und wichtig das Strafrecht ist - das haben alle Vorrednerinnen und Vorredner gesagt -, so dürfen wir gerade diesen strafrechtlichen Schutz nicht überschätzen. Es ist kein Allheilmittel. Es greift erst, wenn es schon zu spät ist, wenn die Qual der Kinder, um deren Wohlergehen es uns geht, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wenn Täter bestraft werden, haben die Kinder bereits lange leiden müssen. Deshalb ist es so notwendig - ich unterstreiche das, was Sie gesagt haben, Frau Grießhaber -, daß sehr viel mehr Gewicht auf Prävention, auf Verhinderung von Kindesmißbrauch, auf Aufklärung und auf Information gelegt werden muß. Ich weiß, daß es eine Gratwanderung zwischen der wohlmeinenden Fürsorge, dem Interesse für andere und der Gefahr ist, Signale aufzugreifen, die von denjenigen falsch gewertet werden, die eigentlich nur etwas Positives tun wollen.
Lassen Sie mich einige Worte zu dem sagen, was schon in der letzten und auch in dieser Legislaturperiode in meinen Augen an Positivem zum Schutze der Kinder getan worden ist. Das ist natürlich die Kindschaftsrechtsreform, die uns jetzt in den Ausschüssen beschäftigt, bei der im Mittelpunkt steht, daß der Rechtsstatus der Eltern nicht ausschlaggebend für die Rechte der Kinder ist. Das heißt, eheliche und nichteheliche Kinder dürfen nicht unterschiedlich behandelt werden, nur weil ihre Eltern nicht verheiratet sind.
({4})
Die gestrige Anhörung im Rechtsausschuß hat gezeigt, daß wirklich die richtigen Weichenstellungen erfolgt sind. Man wird sich hoffentlich auch im Bundestag über nur noch eher kleine Korrekturen fraktionsübergreifend verständigen.
Ich sage deutlich, daß noch eine Lücke bei der Kindschaftsrechtsreform besteht - das ist schon von vielen angesprochen worden -: Wir müssen das Verbot von körperlicher Mißhandlung als unzulässigem Mittel der Erziehung in unser Bürgerliches Gesetzbuch aufnehmen.
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Wir waren schon einmal weiter. In der letzten Legislaturperiode gab es einen Gesetzentwurf. Er ist der Diskontinuität anheimgefallen.
Aber lassen Sie uns jetzt gemeinsam die Chance im Rahmen der Beratungen zur Kindschaftsrechtsreform nutzen, das zu leisten, was Kinderkommission und Kinderschutzbund parteiübergreifend schon geleistet haben. Dort hat man sich auf Formulierungen verständigt. Es darf doch nicht sein, daß wir jetzt nicht in der Lage sind, diese Lücke zu schließen, nur weil dem einen ein Wort nicht gefällt, das dem anderen unverzichtbar ist. Ich hoffe, daß uns diese Reform, weil es um Kinder geht, parteiübergreifend gelingen wird.
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Ich brauche nicht mehr aufzuzählen, was im Strafrecht von seiten der Bundesregierung an gesetzgeberischen Vorhaben wirklich verdienstvoll eingebracht und abgeschlossen worden ist. Aber wir müssen auch sehen, daß die nationalstaatlichen Bemühungen gerade auf Grund der modernen Informationstechnologien - ich denke an das Internet - an ihre Grenzen gelangen. Sie können mit dem Recht, das der nationale Gesetzgeber schafft, keine wirksamen Hürden gegen kinderpornographische Darstellungen und Einspeisungen aufbauen.
Deshalb, Frau Ministerin Nolte, haben Sie die Unterstützung, ich sage einmal ganz pathetisch: des ganzen Hauses, wenn Sie die Bemühungen forcieren, im Rahmen eines internationalen Übereinkommens, für das Sie schon Gespräche geführt haben, einen wirksameren Schutz zu erreichen. Er wird nicht hundertprozentig sein; aber er kann auf alle Fälle sehr viel mehr sein als das, was national überlegt und getan wird. Das soll man nicht sein lassen; aber es bringt nicht das, was auf diesem Feld wirklich wichtig ist.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Punkt aufgreifen, bei dem der nationale Gesetzgeber noch zu Verbesserungen kommen kann. Das ist die Stellung von Kindern, die Opfer sind, als Zeugen in Strafverfahren. Ich weiß gerade auf Grund meiner früheren Tätigkeit, daß man hier sehr sorgfältig abwägen muß zwischen einem stärkeren Schutz des Kindes einerseits und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz der Beweisaufnahme andererseits, der besagt, daß ein Angeklagter, der noch nicht als Täter überführt ist, im Prozeß seine Rechte wahrnehmen können muß. Aber die Beratungen der letzten Monate haben gezeigt, daß man hier sehr wohl Änderungen vornehmen kann, und zwar durch Einsatz der Videotechnik und auch durch sehr frühe, erste Vernehmungen von geschulten Fachleuten und Polizisten, die aufgezeichnet und dann im Prozeß eingespielt werden; denn die erste Vernehmung ist die authentischste und die wichtigste. Ich denke, daß wir die notwendigen gesetzgeberischen Änderungen zu diesem Punkt Anfang nächsten Jahres einleiten sollten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich gebe der Abgeordneten Rosel Neuhäuser das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD spricht ein Thema an, das in der Öffentlichkeit in erster Linie mit den dramatischen und tragischen Kindermorden in Belgien und Deutschland in Verbindung gebracht wird. Aber das Bild vom monsterhaften Triebtäter, der fremden Kindern auflauert, sie mißbraucht und ermordet, ist falsch, auch wenn es wahr ist.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Jeder dieser Einzelfälle von sexuellem Mißbrauch und Mord ist eine Tragödie ohnegleichen, und jeder Einzelfall ist ein Fall zuviel. Die Medien jedoch beschränken sich oftmals auf die sensationsträchtigen Darstellungen einiger weniger gestörter Männer, die mit der Allgemeinheit quasi nichts zu tun haben. Gleichzeitig lenken sie die Öffentlichkeit von dem ab, was eigentlich Gegenstand einer offenen gesellschaftlichen Diskussion sein müßte.
Lassen Sie mich mit ein paar Zahlen verdeutlichen, was ich meine: 1995 gab es sieben sogenannte Sexualmorde an Kindern; eine steigende Tendenz ist zur Zeit nicht zu erkennen. Anzeigen wegen sexuellen Mißbrauchs an Kindern gibt es jährlich in zirka 16 000 bis 17 000 Fällen. Die Dunkelziffer wird auf zirka 300 000 Fälle jährlich geschätzt. Diese Kinder leben in der Regel noch; aber ihr Leben ist häufig zerstört.
Um so wichtiger ist es, daß Ihr Antrag, der Antrag der SPD, von Anfang an keinen Zweifel daran läßt, daß es in der Hauptsache um Gewalt gegen Kinder im Nahbereich geht. Das hat die Kollegin Niehuis hier schon ganz deutlich dargelegt.
Die Täter wachsen in dieser Gesellschaft auf. Sie werden von ihr geprägt und leben mit uns. Sexualisierte Gewalt ist nicht das Problem einiger weniger gestörter Persönlichkeiten. Sie ist ein Produkt unserer Gesellschaft. Sie funktioniert übrigens nicht nur zwischen Erwachsenen und Kindern; dort aber wirkt sie besonders kraß. Es geht wohlgemerkt nicht um Sexualität. Es geht um Gewalt, die über Sexualität vermittelt wird.
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Wenn wir also von Machtmißbrauch innerhalb der familiären und geschlechtsspezifischen Hierarchien sprechen, nähern wir uns einer der Ursachen für sexuelle Gewalt gegen Kinder. Sie liegt in der Stellung von Kindern innerhalb dieser Gesellschaft begründet, in der Art und Weise, wie Kinder noch immer wahrgenommen werden, nämlich als letztlich unselbständige, weil quasi noch nicht fertige Menschen. Hier Abhilfe zu schaffen ist eine dringende Forderung, die aus der Unterzeichnung der UN-Kinderkonvention erwächst und die vor der laufenden Reform des Kindschaftsrechts erfüllt werden muß. Darum fordern wir über den SPD-Antrag hinaus eine generelle Verbesserung der Position von Kindern als Rechtssubjekte.
({1})
Das hat auch die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger in ihrem Beitrag deutlich gemacht.
Kinder haben Rechte, auch wenn das Gesetz sie ihnen noch nicht in vollem Umfang zugesteht. Sie haben vor allem ein Recht auf körperliche und emotionale Unversehrtheit. Das müssen sie wissen; das müssen sie lernen können. Kinder stark zu machen ist eine Forderung, die vielen Erwachsenen Unbehagen verursacht. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum das so ist?
Der vorliegende Antrag der SPD beschäftigt sich mit der Opferseite und stellt eine Reihe von Forderungen, die wir unterstützen. Das betrifft sowohl die Prävention mit dem speziellen Eingehen auf unterschiedliche Ausgangspositionen von Jungen und Mädchen als auch die Warnung vor einer Kriminalisierung der Kinder und die Forderung nach einer speziellen Betreuung im Sozial- und Gesundheitsbereich, im Bildungs- und auch im Erziehungswesen.
Der SPD-Antrag blendet jedoch die Täterseite aus. Trotzdem möchte ich diesen Aspekt noch ansprechen. Unter welchen Bedingungen werden diese Taten möglich? Auch hier muß bereits bei den Kindern angefangen werden. Gerade die Sozialisation von Jungen führt oft zu einer Abwehr von Gefühlen. Vor allem Jungen werden noch immer systematisch desensibilisiert. Sie müssen stark sein, dürfen keine Angst haben und keine Schwäche zeigen. Mitgefühl für andere wird ab- statt antrainiert. Wer seine eigene Angst nicht spürt, kann auch nicht mit seinen Opfern mitfühlen. Gewalt kann eigene Angst abwehRosel Neuhäuser
ren helfen. Genau das tun viele Menschen. Nur bleibt der Täter trotzdem der Täter. Er ist für seine Handlungen verantwortlich.
Sexueller Mißbrauch von Kindern muß geächtet werden. Gesellschaftliche Ächtung schließt Strafe ein. Wichtig ist, daß nicht die Erhöhung des Strafmaßes im Vordergrund steht. Wegsperren allein hilft nicht und ist letztlich auch eine Art der Tabuisierung. Statt dessen bedarf es der Veränderungen im Strafvollzug. Zum Beispiel über Therapieangebote muß eine spätere Reintegration in die Gesellschaft mit möglichst geringem Rückfallrisiko erreicht werden.
Ich frage mich allerdings, wie in diesem Zusammenhang das Urteil in Berlin gegen zwei Pornohersteller zu sehen ist. Meines Erachtens wurde zum einen mit der geringen Strafe und zum anderen mit der Begründung, es habe keine Gewalt vorgelegen, genau das Gegenteil von dem, was ich fordere und was auch Anliegen des SPD-Antrags ist, signalisiert: die Ächtung sexueller Gewalt gegen Kinder. Statt dessen wird der Mythos von Sexualität mit Kindern auf freiwilliger Basis unterstützt, als ob sexuelle Ausbeutung von Kindern keine Gewalt und kein Machtmißbrauch sei. Sexueller Mißbrauch von Kindern wird so verharmlost. Das darf nicht sein.
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Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Sonntagsreden und Krokodilstränen lösen keine Probleme. Der Schutz unserer Kinder und die Prävention, so wie sie angerissen wurde, sind nicht zum Nulltarif zu haben. Die Regierung hat mit ihrem Sparprogramm und vor allen Dingen mit dem gerade beschlossenen Haushalt für das Jahr 1997 die verkehrtesten Signale an dieser Stelle gesetzt, die nur denkbar sind.
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Es sind dieser Tage und auch heute wieder viele Versprechen, Pläne und Projekte im Gespräch, die ganz kritisch auf ihre finanzielle Absicherung hin zu hinterfragen sind, bevor überhaupt Optimismus aufkommen darf.
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Ich gebe der Abgeordneten Dorle Marx das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mitteilungen der „Deutschen Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft" vom Oktober 1996 beginnen mit den folgenden drei Sätzen - ich zitiere -:
Angesichts drängender wirtschaftlicher Probleme gerät oft in Vergessenheit, daß zur Zukunftssicherung einer Gesellschaft auch die Bedingungen gehören, die für das Aufwachsen von Kindern verantwortlich sind. Auf dem Hintergrund einer strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien besteht hier erheblicher Handlungsbedarf. Ähnlich einem Programm für Wachstum und Beschäftigung, ähnlich auch Programmen im ökologischen Bereich, brauchen wir eine die ganze Gesellschaft bewegende nationale Anstrengung für Kinder und Familien.
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In diesem Rahmen stellt die SPD-Fraktion ihren Antrag „Die Menschenwürde von Kindern achten - Sexuelle Gewalt ächten" .
Die CSU hat - es wurde schon darauf hingewiesen - die heutige Debatte zum Anlaß genommen, durch den Mund ihres rechtspolitischen Sprechers erneut auf die Forderungen zur Verschärfung des Strafrechts hinzuweisen. Hierzu gibt es auch Forderungen und Diskussionsbedarf in meiner Partei. Aber das Strafrecht für die Täter setzt doch in aller Regel erst dann ein, wenn das berühmte Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.
Wir befassen uns in unserem Antrag mit der gesellschaftlichen Prävention; denn was Eltern in der Folge von Morden und Entführungen in Belgien und Deutschland doch auch stark bewegt, ist die Frage: Können wir unser Kind noch allein zur Schule gehen lassen? Müssen wir - so fragen sich Kinder - nicht Angst haben, wenn wir draußen spielen gehen?
Die Menschenwürde von Kindern ist ebenso unantastbar wie die Erwachsener. Art. 1 des Grundgesetzes gilt von Geburt an. Wir haben in diesem Haus übrigens auch schon öfter darüber diskutiert, ob Grundrechte von Kindern schon vor der Geburt existieren. Erstaunlicherweise ist bei den geborenen Kindern immer recht wenig die Rede davon. Über die Menschenrechte von Kindern kann niemand frei verfügen, nicht der Staat, nicht die Politik und auch nicht die Eltern.
Inhalt der Stockholmer Weltkonferenz war die Benennung der Ursachen von sexueller Ausbeutung. Geringere Achtung für Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt, Umgang mit Sexualität als Gewalt- und Machtinstrument, wachsender Bedarf an vermeintlich nicht HIV-infizierten Sexsklaven, die immer noch vorhandene Bewertung von Mißbrauch als Kavaliersdelikt und - für die im Ausland von sogenannten Sextouristen begangenen Taten - eine geringere Hemmschwelle gegenüber der im Ausland begangenen Tat, Armut und Wohlstandsgefälle zwischen erster, zweiter und dritter Welt.
All diese Ursachen tragen dazu bei, daß die sexuelle Ausbeutung von Kindern nicht nur im Nahbereich der Familie und des sozialen Umfeldes nach wie vor eine sehr hohe Dunkelziffer hat. Sie ist leider auch im kommerziellen Bereich eine Branche mit erheblichen Wachstumsraten.
Durch die Berichterstattung über die DutrouxBande und den Mord in Bayern sind Fremdtäter und Sexualmörder in den Vordergrund der Diskussion gerückt - darauf wurde hingewiesen -, und das hat leider inzwischen auch befremdliche Auswirkungen gehabt.
So stellte letzte Woche der Vorsitzende Richter eines Berliner Landgerichts bei der Verurteilung zweier Täter in der mündlichen Begründung fest, die beiden Männer, die Jungen mißbraucht und davon Filme hergestellt hatten, seien „keine Monster". Er hielt das wohl für beruhigend. Das ist es aber nicht. Denn typischerweise sind die ganz überwiegende Mehrheit der Täter - das war auch ein Ergebnis eines eindrucksvollen Workshops der Konferenz in Stockholm, der sich mit der Persönlichkeit der Täter beschäftigte - gerade keine Monster. Wären sie Monster, würden Kinder vor ihnen davonlaufen. Weil die Täter aber oft im Nahbereich zu finden sind, sich Kinder mit Freundlichkeit, Geschenken und sonstigen Tricks gefügig machen, ist die Feststellung des Berliner Richters überhaupt kein Grund zur Entwarnung.
Die mündliche Urteilsbegründung war auch in weiteren Punkten mehr als beunruhigend. Zur Begründung, warum die Täter keine Monster seien, wurde nämlich gesagt, daß die Opfer bezahlt worden seien und gewußt hätten, worauf sie sich einließen. Außerdem hätten sich die an den Jungen begangenen sexuellen Handlungen in einem einigermaßen normalen Bereich bewegt und es seien keine direkten Schädigungen der Kinder nachweisbar. Damit sind wir bei einer Betrachtung, die die Opfer zu Mittätern macht und auch noch unterstellt, sexuelle Ausbeutung von Kindern gegen Bezahlung sei keine Form von Gewalt und bleibe, sofern keine besonderen Perversionen dabei zutage träten, auch ohne jede schädigenden Auswirkungen.
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Als wäre es denkbar, daß die Opfer - unter ihnen war übrigens ein neunjähriger Junge - sich tatsächlich aus eigener, freier Entscheidung verkaufen könnten.
Auch die im Berliner Fall benutzten Opfer benötigen Hilfe bei der Wahrung ihrer Menschenwürde und keinen Fußtritt, auch wenn es sogenannte Strichjungen gewesen sein mögen. In der Argumentation, die ich hier habe wiedergeben müssen, entsteht dagegen der Eindruck, wer sich Sex mit Kindern kaufe, sie also wie eine Ware behandele, verhalte sich vergleichsweise normal. Eine Rechtsordnung, die aber nur bei Sexualmorden an Kindern laut aufschreit, gibt eine Bankrotterklärung gegenüber der Wahrung von Kinderrechten ab.
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Kinder
- so heißt es in unserem Antrag sind in allen Bereichen als eigenständige Persönlichkeiten mit eigenständigen Rechten stärker als bisher zu achten und zu unterstützen ... Menschenwürde und kindliche Persönlichkeit müssen anerkannt und respektiert werden. Erst dann ist die Gesellschaft auch in der Lage, Verantwortung für ihre Kinder insgesamt zu übernehmen, deren Würde und Rechte anzuerkennen und zu verteidigen.
Die Urteilsbegründung von Berlin ist ein Beispiel dafür, daß hier noch sehr viel zu tun ist. Sexuelle Ausbeutung von Kindern ist niemals gerechtfertigt oder zu rechtfertigen. Sie ist in jedem Fall ein verabscheuungswürdiger Akt von Gewalt gegenüber einem Schwächeren, da es dabei ausschließlich um die Auslebung der eigenen Bedürfnisse des Täters geht. Das Kind wird zu einer Ware, das heißt zu einem Objekt erwachsener Bedürfnisse degradiert und damit in seiner Menschenwürde verachtet.
Gesellschaftliche Prävention bedeutet deshalb - darauf ist auch schon mehrfach hingewiesen worden -, die Objektstellung von Kindern in allen Bereichen zu bekämpfen. Die kindliche Würde darf auch nicht Marktmechanismen untergeordnet werden. Genau das passiert aber in vielen Bereichen unserer Gesellschaft - auch außerhalb des Bereichs des sexuellen Mißbrauchs -, etwa in der sogenannten LolitaWerbung oder der berühmt-berüchtigten „MiniPlayback-Show". Kinder - hier in der Mehrzahl Mädchen - werden in der Lolita-Werbung als Lockvögel für erwachsene Konsumenten mißbraucht; in der „Mini-Playback-Show" sollen sie für hohe Einschaltquoten eines überwiegend erwachsenen Publikums sorgen. In beiden Fällen wird Kindlichkeit in unerträglicher Weise kommerzialisiert.
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Das Unrechtsbewußtsein wird mit dem Argument „Was Spaß macht, ist gut" verdrängt. Der Spaß liegt hier aber nicht bei den Kindern, sondern bei den Erwachsenen.
Die Mißachtung kindlicher Würde findet sich auch immer wieder in den Argumenten gegen eine Einführung des Verbots der elterlichen Züchtigung. Ich will Ihnen das mit einer Frage verdeutlichen - ich bekomme auch Briefe, in denen steht, daß ein Klaps noch nie geschadet hat -: Wenn das so sein soll, warum gilt dies denn dann eigentlich nur im Verhältnis zu Kindern? Wenn das die prägnante Abkürzung des Verständlichmachens eines Fehlverhaltens sein soll, warum kürzen wir dann nicht auch politische Diskussionen oder Diskussionen am Arbeitsplatz auf diese Weise ab?
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Die Antwort ist ganz einfach: Unter Erwachsenen ist eine Ohrfeige ein unzulässiger Angriff auf die körperliche Integrität des Gegenübers. Deswegen bekommt Kanzleramtsminister Schmidbauer keine Ohrfeige, sondern eine Aktuelle Stunde.
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Dann kann und darf aber auch gegenüber Kindern nichts anderes gelten. Die Einfügung des Verbots elterlicher Züchtigung in das Bürgerliche Gesetzbuch von 1898 - in diesem Jahr wurde dieses Gesetzbuch verabschiedet - ist mehr als überfällig. Auch das ist Präventionsarbeit zur Verhinderung von Übergriffen auf Kinder.
In bezug auf die Umsetzung der Ergebnisse der Stockholmer Konferenz hat die Bundesrepublik internationale und nationale Verantwortung übernommen. Wo aber die Entwicklungshilfe und die Unterstützung von sozialen Organisationen systematisch beschnitten werden, wird der Aufruf zur Bekämpfung der Armut in der Dritten Welt zur Worthülse. In diesem Zusammenhang muß ich, Frau Ministerin Nolte, noch einmal auf Genf und die Anhörung der Bundesrepublik vor der UNO-Kinderrechtskommission zurückkommen. Dort wurde das Versprechen abgegeben, daß sich die Bundesregierung nach wie vor bemühe, 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Es war ja auch noch einmal ein ähnliches Versprechen des Bundeskanzlers höchstselbst in Rio abgegeben worden. Aber was ist denn daraus geworden?
Noch etwas hat in Genf eine Rolle gespielt. In dem Bericht der Kommission steht, daß dem Vorkommen von Kinderarmut in Deutschland mehr Beachtung geschenkt werden müsse. Aber auch hier sagen Sie, es gebe keine Armut, bevor Sie sich wirklich damit auseinandersetzen.
Zurück zum Bereich der sexuellen Ausbeutung. Wenn über eine Verschärfung des Strafrechts diskutiert wird, sich aber gleichzeitig Opfer, Familienangehörige, Nachbarn und Freunde trotz Verdachts vor einer Anzeige scheuen, läuft eine Strafrechtsverschärfung ins Leere. Wenn man in Veranstaltungen von Verbänden, von Organisationen, die Opfer betreuen, Berichte erhält, daß sie Schwierigkeiten haben, den Betroffenen zu raten, eine Anzeige zu erstatten, weil das daraus folgende Verfahren oft so entwürdigend ist, daß es den Opfern mehr schadet als nutzt, wie die dort Beschäftigten meinen, dann haben wir doch ein massives Problem.
In Stockholm hat sich auch die Bundesrepublik Deutschland - nicht nur irgendwelche Länder in der sogenannten Dritten Welt - verpflichtet, in einem nationalen Aktionsplan mit konkreten Zeitvorgaben Informations- und Aufklärungskampagnen zu verstärken. Der Verein „Zartbitter" in Köln bittet das Ministerium von Frau Ministerin Nolte um einen Zuschuß von nur 25 000 DM zur Realisierung von bereits entwickeltem und meiner Meinung nach sehr gutem Präventionsmaterial. Hier könnte man Butter bei die Fische geben, wie es so schön heißt. Darunter sind besondere Flugblätter für Jungen und Mädchen mit ganz praktischen, altersgerechten Hinweisen, daß und wie man sich gegen unangenehme körperliche Berührungen von Erwachsenen wehren kann und darf.
Ich stelle mir vor, daß eine Aufklärungs- und Informationskampagne zur Abwehr von sexueller Gewalt gegenüber Kindern in ähnlicher Größenordnung und Form wie die mit erheblichem Einsatz öffentlicher Mittel geförderte wichtige Anti-Aids-Kampagne der letzten Jahre ablaufen sollte. Wir Sozialdemokraten sagen jedenfalls: Unsere Kinder sind uns das wert.
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In der Folge der Stockholmer Konferenz ist die Nachfrage nach Aufklärungsmaterial und individueller Hilfestellung bei den Beratungsstellen sprunghaft angestiegen. Wer Hilfe sucht, muß sie orts- und zeitnah bekommen können. Das liegt nicht nur in kommunaler Verantwortung. Die Aufklärung und Wahrung von Kinderrechten geht uns alle etwas an.
Wir wollen deshalb, wie dies in unserem Antrag steht, von der Bundesregierung erfahren, wie sie die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes in vollem Umfang gewährleisten will, welche Konsequenzen sie aus dem Stockholmer Weltkongreß zieht und wie die Inhalte des nationalen Aktionsplanes aussehen und auch, in welchem Zeitraum die Bundesregierung diese umzusetzen gedenkt. Dabei erwarten wir nicht nur warme Worte, punktuelle Modellprojekte und den Verweis auf Länder und Kommunen, sondern ein umfassendes Schutzkonzept für unsere Kinder.
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Ich gebe der Abgeordneten Maria Eichhorn da., Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Keine Gewalt gegen Kinder" - dies ist das Thema einer Wanderausstellung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Vor zwei Wochen habe ich diese Ausstellung im bayerischen Pfaffenhofen eröffnet, und ich war überrascht, wie groß die Anteilnahme der Bevölkerung dort war. Frauen und Männer fragten, betroffen und aufgerüttelt durch den Fall Natalie und die Vorkommnisse in Belgien, was sie tun könnten, um solche Vorfälle vermeiden zu helfen, und gleichzeitig forderten sie härtere Maßnahmen von der Politik.
Ich habe großes Verständnis für die Sorgen der Mütter und Väter. Gerade dann, wenn man selbst zwei heranwachsende Kinder hat, kann man gut verstehen, daß sich Eltern Gedanken über die Sicherheit ihrer Kinder machen. Die Zahlen mißbrauchter und mißhandelter Kinder sind schon genannt worden. Die Opfer sind überwiegend Mädchen, die meisten zwischen 7 und 13 Jahren alt. Die Tatverdächtigen sind überwiegend Männer, meist zwischen 30 und 40 Jahren. Besonders erschreckend ist es, daß die Hälfte der Täter Bekannte des Opfers, rund 20 Prozent sogar Familienangehörige sind.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich die Opfer, die oft jahrelang oder ihr ganzes Leben mit körperlichen sowie seelischen Schäden kämpfen müssen. Das ist es, was uns besonders bewegt und zum Handeln veranlaßt.
Das Leid vieler Kinder gerät nie in die Schlagzeilen; die meisten Dramen spielen sich im verborgenen ab.
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Kindesmißhandlung wird nach außen und sexueller Mißbrauch sogar innerhalb von Familien geheimgehalten. Daß sich unauffällige Väter oder Onkel an ihren Töchtern und Nichten vergehen, ist schockierend. Alarmierend ist auch, daß etwa die Hälfte der mißbrauchten Kinder gleichzeitig noch geschlagen werden. Viele von ihnen müssen ohne liebevolle Zuwendung und Fürsorge aufwachsen.
Neben der Familie sind es Täter aus der Umgebung der Kinder, die die Vertrauensstellung zu den Heranwachsenden schamlos ausnutzen. Daher müssen wir sehr sensibel sein, wem wir unsere Kinder anvertrauen, und hellhörig werden, wenn sie sich ungewöhnlich verhalten. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder zu schützen.
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Der Ruf, strengere Strafen zu verhängen und vor allem im Strafvollzug die vielen Milderungen zurückzunehmen, ist zu Recht unüberhörbar. Wir müssen fragen, ob der jetzige Strafrahmen für den sexuellen Mißbrauch von Kindern ausreicht, ob eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, ohne die Gewißheit zu haben, daß keine Straftaten mehr begangen werden. Wir müssen fragen, ob Therapien derzeit in ausreichendem Maße durchgeführt werden oder ob Sexualstraftäter nicht auch nach einer vollen Verbüßung ihrer Strafe zu einer notwendigen weiteren Heilbehandlung verpflichtet werden sollten.
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Wir müssen fragen, ob es dem Schutz der Kinder entspricht, wenn verurteilte Sexualstraftäter nach der derzeitigen Gesetzeslage erst nach dem zweiten Rückfall in Sicherungsverwahrung genommen werden können.
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Und wir müssen uns auch fragen, wie wir verhindern können, daß Kinder in Strafverfahren oft erneut zu Opfern werden. Als Zeugen entwickelt sich für Kinder der Strafprozeß leicht zum Alptraum. Sie verstehen es nicht, warum sie all die schrecklichen Ereignisse, die sie vergessen möchten, immer wieder erzählen müssen: zuerst bei der Polizei, dann bei der Begutachtung, oft noch einmal im Ermittlungsverfahren und schließlich in der Gerichtsverhandlung.
Ich finde es unerträglich, von einem mißhandelten Kind zu verlangen, daß es sich immer wieder, über Monate und Jahre hinweg, mit der Vergangenheit beschäftigen und seine Aussage vor immer neuen Personen wiederholen muß. Die Kinder sollten nur einmal, höchstens zweimal befragt werden, nicht mehr in der Hauptverhandlung, sondern möglichst zu Beginn des Ermittlungsverfahrens.
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Durch den Einsatz von Videoaufnahmen kann die Belastung kindlicher und jugendlicher Opferzeugen deutlich verringert werden. Es muß möglich gemacht werden, daß die betroffenen Kinder nach ihrer Vernehmung die Geschehnisse ungestört verarbeiten können und nicht immer wieder alte Wunden aufgerissen werden.
Die CSU-Landesgruppe hat mit ihrer parlamentarischen Initiative konkrete Antworten auf diese Fragen gegeben. Sie lauten: Strafverschärfung, erweiterte Therapien und Verbesserung des Opferschutzes.
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Daß zwischen Horrorfilmen und Gewalttaten ein Zusammenhang bestehen kann, zeigt die Tat eines Passauer Jugendlichen in erschreckender Weise: Der 15jährige hatte nach dem Anschauen von Horrorfilmen seine Cousine und eine Nachbarin mit Axthieben schwer verletzt. Dieser Fall beweist, daß wir uns noch mehr als bisher um den Jugendschutz in den Medien kümmern müssen.
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Indizierte Filme müssen generell verboten werden. Sie haben auf dem Bildschirm nichts zu suchen, auch nicht nach 23 Uhr.
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Eine besonders extreme Form des sexuellen Mißbrauchs ist die Kinderpornographie. Mit den elektronischen Medien haben sich neue Möglichkeiten für die Täter eröffnet. Je perverser die Darstellung, desto mehr wird bezahlt, berichten die Fachleute.
Die Bilder aus dem Internet, die wir als Teilnehmer der Anhörung zum Thema „Jugendschutz und neue Medien" gezeigt bekamen, haben mich erschüttert. Ich habe mir nicht vorstellen können, daß es Menschen gibt, die sich an Bildern von mißbrauchten und mißhandelten Kindern ergötzen können. Das Internet darf nicht Tummelplatz für Anbieter von Gewaltdarstellungen, Pornographie und Darstellung mißbrauchter Kinder sein.
Wichtig ist deshalb die internationale Zusammenarbeit. Aber auch die Strafgesetzgebung und die Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes im nationalen Bereich müssen auf die neuen Medien wirksam ausgedehnt werden. Eine Möglichkeit dazu bietet sich im Multimediagesetz, das derzeit im Entwurf vorliegt und das wir ganz genau daraufhin überprüfen werden, ob es alle Bestimmungen, die wir für notwendig halten, enthält.
Es gehört aber auch dazu, daß die Ermittlungsbehörden direkten Zugang zu den Online-Diensten erhalten. Wir müssen die Anbieter selbst stärker in die Pflicht nehmen. Wer seiner Verantwortung nicht gerecht wird, muß gesellschaftlich geächtet werden.
Die Aufklärungsarbeit als Prävention muß intensiv fortgesetzt werden; das wurde heute schon mehrmals betont. Es ist für Pädagogen oft eine Gratwanderung einzugreifen, Anzeichen, die auf einen sexuellen Mißbrauch hinweisen oder auf Gewalteinwirkungen bei Kindern deuten, nachzugehen und zu melden. Wird von Erziehern ein Verdacht auf Mißbrauch erst einmal in Umlauf gesetzt, kann in dieser Familie viel kaputtgemacht werden, wenn dieser Verdacht unbegründet ist.
Es ist ganz wichtig, Pädagogen im Kindergarten und in der Schule für Anzeichen von Kindesmißhandlungen zu sensibilisieren, aber auch zu qualifizieren, damit sie ihrer besonderen Verantwortung in diesen Fällen gerecht werden können. Ich begrüße sehr, daß sich zum Beispiel die Lehrerfortbildung in Bayern mit diesem Thema in den nächsten Jahren auf allen Ebenen sehr intensiv beschäftigen wird.
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Wegschauen oder handeln? Das ist auch die Frage für Bekannte und Verwandte, wenn sie den Eindruck gewinnen, daß in einer Familie etwas nicht stimmt. Sinnvoll ist es sicher, den Verdacht mit einem Zweiten, der die Betroffenen kennt, zu besprechen, vielleicht den Lehrer oder die Kindergärtnerin oder auch das örtliche Jugendamt mit einzubeziehen. Daher ist es auch notwendig, daß die Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter mehr als bisher für diese Problematik geschult werden.
Jeder Erwachsene ist aufgefordert, sich schützend vor Kinder zu stellen und nicht feige wegzublicken. Wichtig ist aber auch, wie wir mit unseren Kindern umgehen und wie wir eine altersgerechte Sexualaufklärung vermitteln. Kinder brauchen Respekt und Achtung ihrer Würde. Sie müssen als selbständige Personen anerkannt werden. Kinder haben Anspruch auf Zuwendung und Liebe. Es ist auch unsere Aufgabe, sie zu mehr Selbstbewußtsein zu erziehen und sie stark zu machen.
Natalie hat die Menschen aufgerüttelt. Sie erwarten von der Politik, daß gehandelt wird. Ich freue mich, daß jetzt offensichtlich auch die Opposition - auch die Grünen - zu strafrechtlichen Änderungen bereit ist. Das war nicht immer so. Die Änderung des Strafrechts ist sicherlich nur ein Teil dessen, was zu tun ist. Natalie könnte heute noch leben, wenn ihr Mörder nicht vorzeitig entlassen worden wäre.
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Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Gerald Häfner.
Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir verbleiben leider nur noch wenige Minuten Redezeit, in denen es äußerst schwierig sein dürfte, diesem komplexen Thema angemessen gerecht zu werden.
Es gibt kaum ein schlimmeres Verbrechen als den sexuellen Mißbrauch von Kindern. Dieses Verbrechen wird an Abhängigen, an Schutzbefohlenen, an hilflosen Menschen begangen, die sich Erwachsenen im Vertrauen anschließen und dann solch schrecklichen Verbrechen ausgeliefert sind. Die Schäden, die sie dabei erleiden, halten meist ein Leben lang an.
Ich bin froh, daß jetzt in unserer Gesellschaft allmählich das unselige Tabu gebrochen und das verbreitete Problem des sexuellen Mißbrauches und der sexuellen Ausbeutung offen angesprochen wird.
Lange Zeit war es ein Tabu. Lange Zeit galt es mehr oder weniger als Privatangelegenheit, und leider Gottes - ich denke, auch darüber müssen wir sprechen - ist es doch vielfach immer noch so, daß das, was zum Beispiel einige Väter - meistens sind es Väter - ihren Kindern antun, den Müttern, den Nachbarn und manchmal sogar noch weiteren Personen keineswegs verborgen bleibt, diese aber trotzdem nicht eingreifen, wohl weil sie nicht den Mut haben, zu begreifen, daß hier ein Mensch zerstört wird, sondern weil sie sich einreden, das sei schließlich eine Privatangelegenheit, in die sie sich nicht einmischen wollen.
Natürlich ist mit dem Brechen eines Tabus zwangsläufig verbunden, daß dann von den einen oder anderen auch überzogen und übertrieben wird. Das hilft uns nicht weiter, vielmehr schadet es dem Anliegen. Aber auch das ist nur verständlich, wenn man sich das entsetzliche Leid anschaut, das durch tatsächlichen sexuellen Mißbrauch hervorgerufen wird.
In der politischen Diskussion sollten wir zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist der permanente sexuelle Mißbrauch hier im Lande in den Familien, manchmal auch in Schulen und anderswo. Und das andere ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Deutsche im Ausland. Ein florierender Zweig des Tourismus hat sich da entwickelt, hunderttausendfach im Jahr. In beiden Bereichen sind die bisher ergriffenen Maßnahmen eindeutig allzu gering.
Deshalb - liebe Frau Marx, lassen Sie mich Ihnen das sagen - genügt es meines Erachtens nicht, wie Sie das mit Ihrem Antrag tun, einen Bericht der Bundesregierung zu fordern.
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Ich unterstütze das, und ich bin froh, wenn die Bundesregierung berichtet. Aber wir sollten darauf nicht warten.
Wie Sie wissen, ist doch glücklicherweise bereits in allen Fraktionen etwas in Gang gekommen. Wir haben zum Beispiel schon vor Monaten einen umfangreichen Antrag vorgelegt.
Die vorliegenden Anträge zeigen: Es gibt viele Gemeinsamkeiten, wo wir meines Erachtens endlich zu gemeinsamen Entscheidungen kommen sollten. Das betrifft - eben ist es mehrfach angesprochen worden - beispielsweise die Stellung von kindlichen Opfern als Zeugen im Strafverfahren. Das Strafverfahren ist doch immer noch überhaupt nicht auf diese Problematik eingestellt. Die Stichworte sind genannt worden. So brauchen wir endlich zum Beispiel Opferanwälte oder Videovernehmungen, um den Kindern ein zweites Trauma durch den Prozeß, die Konfrontation mit dem Täter, zu ersparen.
Und ich freue mich - das will ich einmal ausdrücklich sagen -, daß auch die Koalitionsfraktionen, also CDU/CSU und F.D.P., bei dem anderen Punkt schon weiter sind, als lange Zeit zu befürchten stand und in diesem Fall auch weiter als der Antrag der SPD: In einem Antrag haben Sie bereits im vergangenen Jahr wie wir den Abschluß von RechtshilfeabkomGerald Häfner
men mit denjenigen Staaten gefordert, von denen wir wissen, daß es dort zu hunderttausendfachem sexuellem Mißbrauch kommt, und daß hierbei Deutsche in hohem Maße beteiligt sind.
Wir wissen, daß die Strafrechtsänderung 1993, wonach Deutsche sich seither auch nach hiesigem Recht strafbar machen, wenn sie im Ausland derartige Taten begehen, nicht viel geholfen hat.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Nur 15 Ermittlungsfälle und eine einzige Verurteilung zeigen, daß das Schwert stumpf ist. Ohne eine weitaus bessere Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Justiz- und insbesondere den Ermittlungsbehörden wird sich das nicht ändern.
Deshalb appelliere ich zum Schluß - ich muß die Rede leider hier schon schließen - ganz dringend an die Bundesregierung, diese Rechtshilfeabkommen endlich auszuhandeln und abzuschließen. Wir können da leider nichts tun; das kann nur die Bundesregierung machen. Aber ich denke, es entspricht inzwischen dem Willen des ganzen Hauses, daß hier endlich etwas geschieht.
Ich danke Ihnen.
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Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hildebrecht Braun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweieinhalb Monate ist es nun her, daß die kleine Natalie auf entsetzliche Weise ums Leben kam - zweieinhalb Monate, die ich noch einmal in Erinnerung rufen will.
Auf den schrecklichen Tod des Kindes folgte die Ausbeutung dieses scheußlichen Verbrechens durch eine sensationsgierige Presse. Selten habe ich eine so brutale Berichterstattung zur Trauer der Eltern und anderer Angehöriger erlebt. Die Gefühle fassungsloser Betroffener wurden unbarmherzig in Auflagensteigerung umgesetzt.
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Es folgten die Leserbriefserien mit dem erwarteten Tenor: Die Politiker, das heißt die Personen, von denen man am wenigsten hält, aber alles erwartet, sollen sofort Lösungen beschließen, die sexuelle Gewalt an Kindern verhindern.
Politiker wiederum ließen sich nicht lange bitten. Sofort begann der Kampf um den Platz in der ersten Reihe. So, als hätten sie es schon immer gewußt, lieferten Berufene und insbesondere viele Unberufene Konzepte ab, wie man den Gangstern endlich den Garaus machen könne. Nur wenige hielten inne und nahmen sich Zeit zum Nachdenken.
Welcher von den ach so geschmeidigen Politikern stellte eigentlich die Frage, was er selbst in der Vergangenheit zu tun unterlassen habe, und nicht, was der politische Gegner falsch gemacht habe? Nein, Politiker aller Schattierungen überboten sich in undurchdachten, oft unseriösen Konzepten.
Die öffentliche Diskussion konzentrierte sich fast ausschließlich auf Fragen des Strafrechts und des Strafprozeßrechts, auf Vorwürfe gegen angeblich inkompetente Gutachter und Richter. Besserwisser, die oft noch nie eine Justizvollzugsanstalt von innen gesehen hatten, spielten sich plötzlich als intime Kenner des Strafvollzugs auf. Ich wünschte mir, alle diese Schnellredner hätten erst die richtigen Fragen formuliert, statt Antworten am laufenden Band zu geben.
Haben denn Politiker, denen nichts besseres als der Ruf nach höheren Strafen oder sofortiger Sicherheitsverwahrung und ähnlichem einfiel, nicht zur Kenntnis genommen, daß mehr als 90 Prozent der Fälle von sexuellem Mißbrauch von Kindern in der eigenen Familie und im engsten Familienumfeld passieren, und zwar unbemerkt von der Öffentlichkeit, daß Väter und Mütter, Onkel und Tanten, Nachbarn die Täter sind und nicht etwa fremde Menschen?
Hat bisher einer ein Konzept vorgelegt, wie er den sexuellen Mißbrauch in der Familie bekämpfen will? Ist es denn weniger schlimm, wenn ein Vater seine Tochter vergewaltigt, als wenn das ein fremder Mensch tut? Müssen wir uns nicht fragen, wo und wie wir Schutzmechanismen schaffen können, damit Kinder in der eigenen Familie Schutz und nicht etwa sexuellen Terror erleben? Fehlt es bei Tätern im Kreis der Familie am Unrechtsbewußtsein oder vertrauen die Täter darauf, daß sie schon nicht erwischt werden, weil das kindliche Opfer aus Angst oder aus Scham nicht sprechen wird?
Was ist der kriminologische Hintergrund des sexuellen Mißbrauchs von Kindern? Hat Armut damit zu tun? Ist eine individuelle Veranlagung Voraussetzung, die in allen Schichten unseres Volkes zu finden ist?
Wie muß mit dem Umstand umgegangen werden, daß jugendliche Täter in diesem Bereich eine außergewöhnlich geringe Rückfallquote von 5 Prozent aufweisen, während die Quote bei erwachsenen Tätern außerordentlich hoch ist, nämlich dann, wenn sich die sexuelle Ausrichtung einer Person auf Sex mit Kindern konzentriert?
Natürlich werde ich die Diskussion zur nötigen Reform des Strafrechts und des Strafprozeßrechts mit Engagement führen. Noch mehr will ich aber gerade als Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages wissen: Was können wir tun, damit Sexualverbrechen gegen Kinder gar nicht erst vorkommen? Prävention ist viel wichtiger als Rache.
Natürlich ist die Verhinderung des Rückfalls eines Täters außerordentlich wichtig, ein Rückfall setzt aber immer eine Tat voraus. Die Frage ist daher: Wie
Hildebrecht Braun ({1})
können wir dazu beitragen, daß es gar nicht erst zu dieser ersten Tat kommt?
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Ich bin überzeugt, daß die Erforschung der wesentlichen Tatsachen zu Sexualverbrechen an Kindern noch ganz am Anfang steht. Resultiert sexuelle Gewalt gegen Kinder aus der krankhaften Veranlagung der Täter oder primär vor einem anderen Hintergrund? Welche Therapien gibt es mit welchen Erfolgsaussichten, wenn sich Pädophilie in Form von sexueller Aggression zeigt? Werden genügend Personen in diesen Bereichen ausgebildet, so daß wir in Zukunft wirklich qualifizierte Gutachter im Gericht und Therapeuten in den Vollzugsanstalten und außerhalb haben werden.
Wir sehen Fragen über Fragen, die vor den Antworten formuliert werden sollten.
Vielen Dank.
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Es spricht nun der Kollege Peter Altmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist nicht die erste Debatte und auch nicht der erste Entschließungsantrag, den wir heute zum Thema „sexueller Mißbrauch von Kindern" behandeln. Wir haben allein in der laufenden Wahlperiode bereits sechs Gesetzentwürfe und sieben Entschließungsanträge zu diesem Thema vorliegen.
Bei vielen Betroffenen verfestigt sich der Eindruck, daß zuviel geredet und zuwenig gehandelt wird und daß wir Steine statt Brot geben. Sie stellen uns immer häufiger die Frage: Was habt ihr mit euren Entschließungsanträgen eigentlich bewirkt?
Die betroffenen Eltern müssen in ihrem Leid und ihrer Not doch die Frage stellen, wie wir dazu kommen, dieses Leid und diese Not zum Anlaß nehmen, rechtspolitische Stellvertreterdebatten zu führen, die längst niemanden mehr interessieren und die niemand mehr versteht.
Meine Damen und Herren, es geht nicht in erster Linie um Gesetze und Paragraphen, sondern es geht um viel mehr, nämlich um die elementare Aufgabe des Staates, die Mitglieder der Gesellschaft wirksam vor gemeingefährlichen Straftätern zu schützen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um den Schutz der sexuellen Integrität von Kindern geht, weil Kinder zu diesem Schutz selber nicht imstande sind und weil sie, wie Frau Ministerin Nolte einleitend gesagt hat, das Wertvollste sind, was unsere Gesellschaft besitzt.
Wenn die staatliche Rechtspflege vor dieser Aufgabe dauerhaft versagt, dann wird das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat insgesamt erschüttert, wie das Beispiel Belgien nachhaltig zeigt.
Meine Damen und Herren, beim rechtlichen Umgang mit Gewalt gegen Kinder darf es keinen Unterschied geben, ob diese Gewalt hier im Inland oder im Ausland verübt wird. Die personale Integrität, die Menschenwürde eines Kindes in Afrika oder in Asien unterscheidet sich in nichts von der Menschenwürde und der personalen Integrität der Kinder hier bei uns.
({0})
Deshalb ist es ein unerträglicher Zustand, wenn auch nach jahrelangen Debatten auf europäischer und internationaler Ebene in Thailand noch immer Jahr für Jahr über 100 000 Kinder von Touristen aus westlichen Ländern sexuell mißbraucht werden. Es ist ein Skandal, wenn das Strafrechtsänderungsgesetz, das wir gemeinsam beschlossen haben und das die Verfolgung dieser Auslandsstraftaten sicherstellen und ermöglichen soll, bisher nur zu einer einzigen Verurteilung geführt hat. Wir können heute in der Zeitung lesen, daß in Iserlohn gegen einen Mann Anklage erhoben worden ist, der auf den Philippinen ein neunjähriges Mädchen viermal sexuell mißbraucht und zu Videoaufnahmen gezwungen hat.
Wir haben in der praktischen Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort auf informellem Wege sehr viel versucht. Wir sollten jetzt - hier appelliere ich auch an das Bundesjustizministerium - zur Lösung der praktischen Probleme, aber auch als Signal dafür, daß Kinder-Sextourismus kein Kavaliersdelikt ist, wirklich zu einem Rechtshilfeabkommen mit Thailand und den anderen betroffenen Ländern kommen.
({1})
Bei vielen, die nach Thailand und anderswohin fahren, wird dann auch die Hemmschwelle gegenüber sexueller Gewalt im Inland herabgesetzt. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir eine moralische Verpflichtung und eine politische Garantenpflicht gegenüber den Kindern in der Dritten Welt haben, wo ganze Generationen von Kindern und Jugendlichen irreversibel geschädigt werden.
Wir werden nie verhindern können, daß es zu Sexualstraftaten kommt. Wir werden auch Rückfälle nie ganz ausschließen können. Dies ist aber keine Entschuldigung für Untätigkeit und Nachlässigkeit.
Mich persönlich hat es sehr erschüttert, als sich bei einer Anhörung im Rechtsausschuß herausgestellt hat, daß die Bundesländer bis heute nicht imstande sind, uns konkrete Statistiken darüber zu geben, wie hoch die Rückfallquote bei den Sexualstraftätern eigentlich ist.
({2})
Meine Damen und Herren, wie sollen wir denn darüber diskutieren, wie man die Rückfallquote wirksam senken kann, wenn wir noch nicht einmal
ihre Höhe kennen und noch nicht einmal wissen, warum Menschen immer wieder rückfällig werden?
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Herr Kollege Altmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häfner?
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Altmaier, da ich bis vor kurzem jeden Satz Ihrer Rede ganz unterschreiben konnte, möchte ich Ihnen die kurze Frage stellen, ob Ihnen entgangen ist, daß es die von Ihnen gestellte Bundesregierung ist, die die vielen Entschließungen dieses Hauses endlich umzusetzen hätte und für die gilt, was Sie eben gesagt haben, nämlich: Es gibt keine Entschuldigung für Zögerlichkeit oder Untätigkeit. Darf ich Sie so verstehen, daß Sie gemeinsam mit dem Hause sozusagen die Regierung schütteln werden, nun endlich das umzusetzen, was hier zum Teil schon im vergangenen Jahr beschlossen worden ist?
({0})
Herr Kollege Häfner, ich finde es nicht angemessen, wenn Sie jetzt ein Schwarzer-Peter-Spiel veranstalten.
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Ich habe gerade ein Beispiel genannt, in dem die Bundesländer eklatant versagt haben, weil sie dieses Problem bis jetzt nicht aufgearbeitet haben. Ich habe nicht zwischen SPD- und CDU-regierten Bundesländern differenziert, weil ich meine, daß wir insgesamt gefordert sind, uns mit diesem Problem zu befassen.
({1})
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun?
Bitte schön.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß sich das Thema sexueller Mißbrauch von Kindern überhaupt nicht zu parteipolitischer Profilierung eignet?
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Sind Sie weiter mit mir der Meinung, daß eine ganze Reihe von Universitäten sehr wohl kriminologische Untersuchungen über die Rückfallquote bei Sexualtätern durchgeführt hat und daß es auch deren Aufgabe und nicht etwa die Aufgabe der Bundesregierung oder der Ministerien ist, solche Untersuchungen durchzuführen?
Herr Kollege Braun, ich stimme Ihnen in dem ersten wie auch in dem zweiten Punkt zu. Die Untersuchungen, die wir über die Rückfallhäufigkeit haben, belegen, daß die Rückfallquote in anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel in den Niederlanden, wesentlich niedriger ist als bei uns.
Deshalb müssen wir im Sinne der Vorschläge, die die Bayerische Staatsregierung unterbreitet hat, darüber nachdenken, wie wir diese Rückfallquote senken können. Das bezieht sich auf die Prognoseschwelle, auf die Prognosesicherheit und auch auf die Frage der Therapie. Ich meine, daß in dieser Situation, wo wir alles andere als eine parteipolitische Debatte brauchen können, die unsägliche Debatte darüber, ob Therapie oder Strafe angemessen ist, den Blick auf die eigentlichen Probleme verstellt. Es geht nicht um die scheinbare Alternative Therapie oder Strafe, es geht in diesem Zusammenhang um Therapie und Strafe.
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Therapie ist keine Privilegierung oder Luxusbehandlung der Täter, sondern sie erfolgt im Interesse der Gesellschaft und vor allen Dingen der potentiellen Opfer. Deshalb muß sie bereits einsetzen, bevor die Täter entlassen werden.
Aber Tatsache ist auch - das hat die Anhörung ergeben -: Wir verfügen überhaupt nicht über ausreichend qualifizierte Gutachter für die Prognoseentscheidung, und wir verfügen auch nicht über ausreichend qualifizierte Therapeuten. Es wird angesichts der Lage an den Universitäten viele Jahre dauern, bis wir dies nachholen können, bis wir die qualifizierten Fachkräfte bereitstellen können, die wir brauchen.
Aber das heißt nicht, daß wir die Länder aus ihrer Pflicht entlassen dürfen. Angesichts der Diskussionen über Justizentlastung, wo viele Länderfinanzminister der Versuchung nicht widerstehen können, die ohnehin schmalbrüstigen Justizhaushalte als Steinbrüche für Entlastungs- und Sparmaßnahmen zu mißbrauchen, müssen wir die Länder an ihre Verpflichtung erinnern, die Debatte in diesem Bereich endlich einmal aufzuarbeiten.
Ich will ein Wort sagen zur Diskussion über die Harmonisierung der Strafrahmen. Ich finde, daß diese Diskussion, wie sie in den letzten Wochen geführt worden ist, unverständlich und heuchlerisch geführt wurde. Wir waren uns, meine Damen und Herren, in diesem Haus über viele Jahre hinweg völlig einig, daß der Schutz der persönlichen Integrität in unserem Strafgesetzbuch, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, völlig unterbewertet ist im Verhältnis zu den Eigentumsdelikten.
Deshalb ist es zu begrüßen, wenn der Bundesminister der Justiz bereits im März einen Vorschlag vorgelegt hat, der hier auf Abhilfe zielt, indem der Schutz der persönlichen Integrität und auch der sexuellen Integrität von Kindern einen höheren Stellenwert erhält, als dies bislang der Fall ist.
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Wenn Harmonisierung immer nur bedeuten soll, daß Strafrahmen nach unten abgesenkt werden, dann ist das eine schleichende Entkriminalisierung, und die machen wir nicht mit.
Meine Damen und Herren, ich glaube persönlich, daß eine Erhöhung der Strafrahmen im Hinblick auf Spezialprävention, das heißt die Abschreckung des einzelnen Täters, nicht sehr viel bringen wird und daß sie wahrscheinlich auch keinen einzigen Rückfalltäter abhalten wird. Aber ich bin der Überzeugung, daß es sich hier um eine Frage der Strafgerechtigkeit handelt und um ein Signal, das wir in unsere Gesellschaft geben müssen.
Wir brauchen darüber hinaus konkrete Maßnahmen: international, auf europäischer Ebene - wo wir in den letzten Wochen sehr gut vorangekommen sind -, im nationalen Bereich und im Bereich der Bundesländer. Ich habe dazu bereits einiges gesagt.
Es geht um die zentrale Frage, was das Recht dazu beitragen kann, damit es zu der notwendigen Bewußtseinsbildung und zu dem notwendigen Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft kommt. Beide sind für einen besseren Schutz der Kinder unverzichtbar.
Aktionismus hilft in diesem Zusammenhang nicht weiter. Wir müssen durch Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit unseres Vorgehens ein Beispiel geben.
Ich will ganz offen sagen, meine Damen und Herren von der SPD: Wir haben am 26. September in diesem Haus über einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum Kindersextourismus im Ausland diskutiert. Dieser Antrag war sowohl von der Tatsachenaufbereitung wie von den Vorschlägen her hervorragend vorbereitet. Im Vergleich dazu ist Ihr Antrag, den wir heute diskutieren, sehr oberflächlich und nichtssagend. Sie haben es sich mit diesem Antrag sehr leicht gemacht.
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Ich meine, Sie werden auch nicht darum herumkommen, konkret zu sagen, was Sie wollen, welche Maßnahmen wir konkret ergreifen müssen, insgesamt, aber auch im Bereich des Strafgesetzbuches. Daran entscheidet sich die Glaubwürdigkeit unseres Vorgehens insgesamt.
Wir sind zu einem gemeinsamen Vorgehen im Interesse der betroffenen Kinder bereit.
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Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ulla Schmidt.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Altmaier, selbstverständlich werden wir ausführlich darüber diskutieren, was notwendig ist. Aber wir hatten diesen Antrag eingebracht, damit hier diskutiert wird, welche Konsequenzen die Regierung aus Stockholm ziehen will, wie also die Vorschläge der Bundesregierung für die nationale
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention aussehen.
Das muß hier beantragt werden, und Sie sind nicht einmal bereit, das hier heute zu verabschieden. Der Antrag hat drei Forderungen: Bericht der Bundesregierung, was sie national tun will, um die Rechte von Kindern in Deutschland zu schützen, Herr Kollege.
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Und das wird heute in die Ausschüsse verwiesen! Um nichts anderes geht es.
Weil es so ist, weil ich Ihre und die von der Bundesfrauenministerin geäußerte Auffassung teile, daß Kinder das kostbarste Gut sind, das wir in unserer Gesellschaft haben, deswegen ist es doch richtig, daß die Kollegin Niehuis zu Beginn ihrer Rede gesagt hat: Lassen Sie uns heute darüber diskutieren, daß wir den Blick auf die Kinder richten und nicht immer nur die Frage stellen, was wir juristisch daraus machen.
Selbstverständlich muß es juristische Konsequenzen geben. Selbstverständlich sind wir heute so weit, Frau Eichhorn, zu wissen, daß Pornographie mit Kindern ein Verbrechen ist. Das ist damals nicht in das Gesetz gekommen, obwohl wir es gefordert haben.
Aber es geht auch darum: Was passiert mit Kindern hier in unserer Gesellschaft, im ganz alltäglichen Bereich? Wenn es zu Gewaltübergriffen gegenüber Kindern kommt, wenn es zu Gewalt in Familien kommt, hat das Ursachen, und wir müssen uns heute hier darüber unterhalten, was kann gemacht werden.
Das hat auch nichts mit Schärfe zu tun, Frau Ministerin. Sie sagen, wenn wir den Blick auf die Kinder richten wollen, müssen wir eben eine vertiefte Diskussion führen, die differenziert sein muß. Ich frage Sie: Warum machen Sie das nicht? Warum machen Sie keine Vorschläge, was passieren soll?
Sie sagen, der Weltkongreß hat uns einen Handlungsbedarf aufgezeigt. Das ist richtig, aber - das muß ich einmal sagen, Frau Ministerin - er ist nicht beschränkt auf das, was Sie hier als Maßnahmen vorgeschlagen haben. Ich stimme mit Ihnen überein, daß wir im Multimediagesetz Regelungen brauchen, daß es gut ist, wenn wir eine Hotline im OnlineSystem haben. Aber ich würde mir auch wünschen, daß wir endlich einen bundeseinheitlichen Notruf für Kinder einrichten. Das sollten wir gemeinsam fordern.
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- Es betrifft nicht immer nur die Länder.
Es ist gut, wenn die bundesweite Dokumentationsstelle erhalten wird.
Eine Sekunde, bitte. Frau Ministerin, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Zwischenrufe von der RegierungsVizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
bank nicht gestattet sind. Ich bitte, sich daran zu halten.
Bitte, fahren Sie fort.
Auch engere Zusammenarbeit mit Strafbehörden ist wichtig, und im rechtlichen Raum müssen wir alles einrichten. Aber das ist mir zuwenig, Frau Ministerin, es ist mir einfach zuwenig.
Sie beklagen hier, daß die Hilferufe und die Signale der Kinder vielfach nicht gehört werden. Warum schlagen Sie nicht als nationales Vorhaben eine Initiative für ein flächendeckendes Netz von Hilfen für Opfer als gesamtgesellschaftliche Aufgabe vor,
({0})
als Aufgabe, die von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam zu lösen und auch zu finanzieren ist?
Das wären Vorschläge dazu, was wir national tun können. Sie gehen nicht darauf ein. Sie haben sich nicht dazu geäußert. Sie haben sich vor allen Dingen auch nicht zu der Frage nach dem Kreislauf der Gewalt geäußert, den Frau Niehuis sehr ausführlich beschrieben hat. Weil Sie nicht handeln und weil Sie darauf nicht eingehen, durchbrechen Sie diesen Kreislauf nicht.
Es hat nichts mit Schärfe zu tun, wenn ich einfach sagen muß: Ich glaube nicht, daß wir weiterkommen, wenn wir nur davon sprechen, daß wir betroffen sind, sondern wir müssen Vorschläge machen und handeln. Mich beschäftigt, was mit den Kindern passiert und wie wir damit umgehen, daß Kinder alltäglich in Familien Gewalt erfahren, und zwar viele Formen von Gewalt.
Die sexuelle Gewalt ist eine besondere Ausformung der Gewalt. Es gibt andere Formen der Gewalt, die seelische und die körperliche, und es ist immer noch so, daß in unserem Lande Gewalt auch als Mittel der Erziehung eingesetzt werden kann.
Können Sie mir, Frau Ministerin, einen einzigen Grund sagen, einen einzigen nur, warum wir in einem demokratischen Staat gehindert sind, einen Satz festzuschreiben, der lautet „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen" - als ein Signal, daß Gewalt in der Familie keine Privatangelegenheit ist?
({1})
Schließlich leben wir in einem Staat, in dem das Grundgesetz in Art. 1 vorschreibt, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Für mich ist die Würde des Menschen mit der körperlichen und seelischen Unversehrtheit von Menschen, also auch mit der von Kindern, verbunden, Frau Ministerin. Warum können wir dies nicht festschreiben? Warum äußern Sie sich nicht zu diesem Vorschlag?
Es kann nicht sein, daß es erlaubt sein muß, daß Eltern Kindern in der Öffentlichkeit eine Ohrfeige geben oder sie verprügeln. Wer hat überhaupt das
Recht - ob Eltern oder nicht -, andere Menschen in der Öffentlichkeit oder in der Familie zu schlagen? Frau Marx hat darauf hingewiesen: Auch wir schlagen uns nicht. Ich will Sie überzeugen, daß meine Argumente die besseren sind. So setzen wir uns auseinander. In einem demokratischen Staat müssen die Verhaltensregeln gelten, daß man argumentiert, Grenzen setzt und gewaltfrei erzieht. Das ist wirklich unabdingbar und uneingeschränkt notwendig.
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Frau Kollegin Grießhaber, Sie haben gesagt, man hätte in diesem Antrag darauf substantiell stärker eingehen sollen. Dies ist ausdrücklich nicht gemacht worden. Die Debatte hat gezeigt, daß es notwendig war, es so zu machen, daß in diesem Bundestag über viele Punkte diskutiert wird. Wir haben viele Entschließungsanträge - ich stimme mit diesen überein - zu der Frage vorgelegt: Was müssen wir weltweit tun, um Gewalt gegen Kinder zu unterbinden? Sie finden in mir immer eine Mitstreiterin für die Beantwortung der Frage: Wie können wir sexuelle Gewalt in den Ländern des Sextourismus unterbinden?
Es sollte eine Debatte geführt werden, die sich wirklich auf die hier angesprochenen Fragen konzentriert - Fragen von alltäglicher Gewalt in den Familien, die eine Gewalt gegen Frauen und Kinder darstellt -, und es sollte überlegt werden, was wir tun müssen, um diesen fatalen Kreislauf von Gewalt zu unterbinden und dafür zu sorgen, daß wir nicht nur die Opfer von morgen schützen, sondern auch verhindern, daß innerhalb dieses Kreislaufes neue Täter- und Mittäterschaften entstehen. Eine solche Diskussion wünsche ich mir.
Deshalb hätte ich es gerne gehabt, daß wir uns heute entscheiden, die Bundesregierung aufzufordern, uns vorzulegen, was sie auf nationaler Ebene zum Schutz der Kinder tun will und wie ihr Aktionsplan aussieht. Ich hätte mir gewünscht, daß wir uns darüber einigen und dafür gemeinsam in Bund, Ländern und Kommunen mit einer gemeinsamen Finanzierung hätten einsetzen können. Hier einen Schritt voranzukommen wäre wirklich wünschenswert gewesen.
Der Antrag reicht dafür aus, aber nicht einmal über die darin enthaltenen drei Forderungen wird hier abgestimmt.
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Nun spricht der Kollege Johannes Singhammer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Schmidt, Sie fragen danach, was denn getan worden sei. Ich darf jetzt noch einmal darauf verweisen, daß wir von seiten der CSU ein glasklares Zehn-PunkteProgramm vorgelegt haben. Darüber kann man diskutieren. Sie können aber nicht sagen, daß HandlunJohannes Singhammer
gen unterblieben seien. Mehr als diese genaue Vorlage kann man eigentlich kaum machen.
({0})
Ich finde es aber begrüßenswert - insofern gebe ich Ihnen recht -, daß wir diese Debatte über den Antrag „Die Menschenwürde von Kindern achten - Sexuelle Gewalt ächten" führen. Kein Ereignis hat die Menschen in den letzten Wochen und Monaten - vielleicht gerade auch diejenigen, die sonst politisch nicht so sehr mit eingebunden sind - so aufgewühlt wie die Entführung und Ermordung der zwei Mädchen in Belgien und der kleinen Natalie in Bayern. Aber auch unabhängig von diesen spektakulären Straftaten gibt die Entwicklung von Gewalt und sexuellem Mißbrauch gegenüber Kindern Anlaß zur Sorge. Darin waren wir uns bisher alle einig.
Aus der polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland ist von 1994 auf 1995 beispielsweise eine Zunahme der Delikte „Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger oder der Prostitution" um 19 Prozent zu entnehmen. Das betrifft nicht Thailand, sondern Deutschland! Gleichzeitig wurden im Zeitraum von 1990 bis 1994 9 000 Erwachsene wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern verurteilt. Es handelte sich also nicht nur um Verfahren, sondern um Verurteilungen. Das sind eben nicht nur 9 000 Täter, sondern das sind auch 9 000 Kinder als Opfer, die körperlich mißbraucht oder seelisch verstümmelt wurden. Das sind auch viele Tausend Eltern und Geschwister, die mit den Opfern leiden.
Mit Sorge beobachten wir das boomende Geschäft in der menschenverachtenden Wachstumsbranche Kindersex in Deutschland mit einem geschätzten Umsatz von derzeit 500 Millionen DM als eine besonders schlimme Dekadenzerscheinung. Dahinter wird eine besorgniserregende Entwicklung sichtbar, nämlich die Tendenz, daß Kinder zunehmend als Ware angesehen werden, quasi als verfügbarer Konsumartikel - quasi aus dem Supermarkt.
Was ist dagegen zu tun? Wo kann angesetzt werden? Zuallererst ist das Selbstverständliche zu tun: hinschauen statt wegschauen, auch von den politisch Verantwortlichen dort, wo sich etwa drogensüchtige Minderjährige zur Finanzierung ihrer Sucht vor aller Augen prostituieren. Die Sicherheitsbehörden der Länder brauchen keine neuen Gesetze, um etwa in Hamburg-St. Georg oder anderswo das erniedrigende Geschäft mit minderjährigen Drogenabhängigen zu unterbinden.
Prävention ist selbstverständlich notwendig; sie darf aber nicht dazu führen, daß auf notwendige Ergänzungen des Strafgesetzbuches mit dem klaren Ziel Kinderschutz vor Täterschutz verzichtet wird.
({1}) Deshalb haben wir unsere Vorschläge vorgelegt.
Vor allem geht es darum, Kinder vor rückfälligen Sexualstraftätern zu schützen. Bei den Eltern in Deutschland wächst zu Recht das Unverständnis, wenn Straftäter, die sich gegen Kinder vergangen haben, milde bestraft und vorzeitig auf freien Fuß gesetzt werden oder wenn ihnen falsches Verständnis entgegengebracht wird.
Vor wenigen Tagen verurteilte das Berliner Landgericht - dieses Urteil hat die Kollegin Marx ebenfalls angesprochen - erstmals deutsche Staatsangehörige, die in Thailand Kinder mißbrauchten, Kinderpornographie professionell herstellten und damit gute Geschäfte machten. So weit, so gut. Bestürzend ist aber, daß das Berliner Gericht den Verurteilten zugute hält, sie hätten es als Pädophile schwerer als ihre Mitmenschen, weil sie ihre Sexualität nicht ausleben könnten, und daß dann zugunsten der Täter angeführt wird, sie hätten die thailändischen Kinder „vergleichsweise schonend mißbraucht".
({2})
Unabhängig von diesem Urteil gilt generell: Wer den Blick bevorzugt auf den Täter richtet, seine Vorgeschichte und seine Biographie in den Vordergrund rückt und das Leben der geschädigten Kinder und das Mitleiden der Angehörigen vergißt, handelt inhuman, auch wenn er das Gegenteil verspricht.
({3})
Als nächstes sind die Kommunikationsnetze zu zerschlagen, mit denen Kinderpornographie verbreitet und Kinderprostitution angebahnt wird. Das heißt, beim Internet sind die technischen und rechtlichen Voraussetzungen insbesondere für die Polizei zu schaffen, damit sich für die Konsumenten von Kinderpornographie über die internationalen Datenautobahnen das Risiko erhöht, daß ihre Straftaten aufgedeckt werden. Dazu ist - das ist schon von Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, angesprochen worden - eine rasche Harmonisierung des internationalen Rechts nötig, auch wenn es schwierig ist, Wertvorstellungen von Menschen, die etwa auf der arabischen Halbinsel oder in Amsterdam leben, im grenzenlosen Internet auf einen Nenner zu bringen. Bei der scheußlichen Form des Mißbauchs von Kindern sollte eine Verständigung über alle Grenzen hinweg möglich sein. Der erste Schritt muß eine einheitliche europäische Regelung sein.
({4})
Wir brauchen darüber hinaus eine Verpflichtung der Online-Dienst-Anbieter, staatlichen Kontrollbehörden einen kostenfreien Zugang zu den Netzen zu gewähren. Wir brauchen eine Regelung, die den Produzenten von Kinderpornographie die Einlassung erschwert, es sei mit moderner Herstellungstechnik nur ein elektronisch zusammengesetztes, virtuelles, künstliches Bild erzeugt worden. Ansonsten können wir kaum jemanden verfolgen. Gleichzeitig gilt es die Möglichkeiten zu kappen, das Internet als anonymen elektronischen Kontakthof - quasi zurückgelehnt im Fernsehsessel in der Behaglichkeit des Wohnzimmers - zur Anbahnung von Kinderprostitution zu nutzen.
Kommerzielle Gesichtspunkte von Online-Betreibern oder der Vorwurf der Zensur verfangen in diesem Zusammenhang nicht: Wer im Internet Scheußlichkeiten und Perversitäten mit Kindern verbreitet, kann sich nicht auf Meinungsfreiheit berufen.
Entscheidend wird aber auch sein - das ist ganz wichtig -, daß ein Teil - ein Teil! - der Erwachsenen in unserem Lande wieder das richtige Verhältnis zu den Kindern findet. Kinder brauchen Respekt und Achtung ihrer besonderen Würde. Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen, die mit schulterklopfender Kumpelhaftigkeit als ebenbürtige Scheinpartner zu behandeln wären.
Es war eine schlimme Verirrung, die Gott sei Dank sofort wieder korrigiert wurde, als ein Beschluß der Landeskonferenz der Grünen in Nordrhein-Westfalen im März 1995 forderte, daß gewaltfreie Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen niemals Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sein dürfe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Gegenteil ist richtig.
({5})
- 1985. - Solche Pläne sollten die Schublade nicht verlassen. Sie dürften eigentlich gar nicht zu Papier gebracht werden.
Kinder haben Anspruch auf Zuwendung, Freundlichkeit, Liebe und Ernsthaftigkeit. Geben wir unseren Kindern vor allem den notwendigen Schutz, um wachsen zu können. Das ist auch in unserem Interesse, im Interesse der Erwachsenen, der Älteren.
Nach wie vor hat ein Appell Adolf Kolpings an die Erwachsenen Gültigkeit:
Was immer ihr den Kindern tut, tut ihr nicht vergebens, sondern für eure eigene Zukunft.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache. - Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/6054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der CDU/CSU hat wegen des plötzlichen Todes unseres guten Kollegen Dr. Karl Fell eine Unterbrechung der Sitzung um 30 Minuten beantragt. Die Sitzung wird um 14.50 Uhr von der Präsidentin fortgesetzt werden. Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Hiermit eröffne ich die Sitzung wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Mittag erhielten wir die Nachricht, daß unser langjähriger Kollege Dr. Karl Fell verstorben ist: jäh von seiner Familie mit sechs Kindern getrennt, mitten aus der Arbeit in Bonn herausgerissen, wenige Tage vor der Vollendung seines 60. Lebensjahres.
Karl Fell wurde am 16. Dezember 1936 in Erkelenz geboren. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaft an den Universitäten Köln, Freiburg und Bonn, wo er die beiden juristischen Staatsexamina ablegte und 1970 promovierte. Nach seinem Studium war er zunächst Richter in Nordrhein-Westfalen und übernahm dann ab 1972 eine Tätigkeit bei mehreren Bankverbänden und Banken.
Karl Fell ist 1964 der CDU beigetreten. Über 20 Jahre hat er als stellvertretender Kreisvorsitzender gewirkt. Sein kommunalpolitisches Engagement führte ihn über die Mitgliedschaft im Stadtrat in Wegberg zum Bürgermeisteramt dieser Stadt. Im Jahre 1970 wurde er in den Landtag von NordrheinWestfalen gewählt. Dort war er bis zum Jahre 1985 Mitglied.
1987 konnte Karl Fell den Wahlkreis Heinsberg direkt gewinnen. Er war Mitglied im Rechtsausschuß und stellvertretendes Mitglied im Ausschuß für Finanzen und im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie im Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er stellte seine Kenntnisse in den Dienst seines Abgeordnetenamtes. Er war Finanz- und Wirtschaftspolitiker, aber vor allem leidenschaftlicher Familienpolitiker.
Prägend für unseren verstorbenen Kollegen war sein starkes kirchliches Engagement. Er war Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und bis vor kurzem Präsident des Familienbundes der Deutschen Katholiken. Daneben war Karl Fell in einer Reihe von Ehrenämtern im Bistum Aachen tätig.
Karl Fell hat sich auf allen Ebenen seines beruflichen Wirkens für seine Mitmenschen eingesetzt. Wer ihn persönlich kannte, wußte, daß Fürsorge und Zuwendung für ihn keine leeren Worte waren. Als vorbildlicher Parlamentarier wird er uns stets in Erinnerung bleiben.
Wir gedenken seiner in Dankbarkeit und Anerkennung. Wir drücken gerade seiner Frau und seinen sechs Kindern unsere Anteilnahme und unsere Unterstützung aus.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren jetzt in der Tagesordnung fort. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Riegert, Wolfgang Börnsen ({0}), Heinz Dieter Eßmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Dr. Olaf Feldmann, Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Bedeutung ehrenamtlicher Tätigkeit für unsere Gesellschaft
- Drucksachen 13/2652, 13/5674 -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer ({1}), Dr. Antje Vollmer, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freiwilliges soziales Engagement fördern und zur Selbsttätigkeit ermutigen
- Druckache 13/3232 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Sportausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Zur Großen Anfrage liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Wir verfahren
so.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es fällt sehr schwer, jetzt zur normalen Debatte überzugehen. Aber diese Debatte könnte gerade auch zu Ehren unseres Kollegen Karl Fell stattfinden, der jahrzehntelang Verbands- und ehrenamtliche Tätigkeit geleistet hat.
Mehr als 10 Millionen Bürgerinnen und Bürger stärken unsere Demokratie durch ihr vorbildliches Engagement. Ihnen gelten unser besonderer Dank und unsere Anerkennung.
({0})
Ich freue mich, stellvertretend für die Millionen ehrenamtlich Tätigen auf der Tribüne des Deutschen Bundestages ehrenamtliche Helferinnen und Helfer begrüßen zu können. Ihnen gelten unser herzlicher Dank für ihre Tätigkeit und die Bitte, sich auch zukünftig wie bisher für ihre Mitmenschen einzusetzen.
({1})
Dennoch müssen wir feststellen: Vom Sportverein über Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Stiftungen bis hin zu den Parteien werden immer wieder Schwierigkeiten beklagt, kompetente und engagierte Mitglieder für eine ehrenamtliche Tätigkeit und die Übernahme von Verantwortung zu gewinnen.
Ein Arbeitskreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich ausschließlich des Themas Ehrenamt angenommen. In zahlreichen Gesprächen mit Experten und sieben Anhörungen wurden 60 Organisationen, Verbände und Vereine gehört, ihre Stellungnahmen eingeholt und die Problemfelder erörtert. Ein besonderes Interesse galt dabei den Bedingungen und Einstellungen der ehrenamtlich Tätigen vor Ort auf Orts- und Kreisebene. Die Probleme wurden von Fraktionskollegen und mir in Gesprächskreisen unmittelbar angesprochen. Die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen an die Bundesregierung zur Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements in unserer Gesellschaft, deren Antwort wir heute, am Internationalen Tag der Freiwilligen, debattieren, war Teil dieser Arbeit.
Als Ergebnis dieser vielfältigen Aktivitäten läßt sich festhalten: Erstens. Das ehrenamtliche Engagement unserer Bürgerinnen und Bürger hat nicht nachgelassen. Im Gegenteil: Es wollen sich immer mehr Menschen engagieren, vor allem jüngere, insbesondere in sozialen Tätigkeitsfeldern und anderen Strukturen.
Zweitens. Es trifft nicht zu, daß ehrenamtlich Tätige für ihr Engagement eine materielle Gegenleistung erwarten. Erwartet werden vielmehr eine breite, von der Allgemeinheit getragene öffentliche Anerkennung, eine Entrümpelung der Tätigkeitsbereiche von bürokratischen Vorschriften, entsprechende Rahmenbedingungen, eine klare Aufgabenbeschreibung und eine Kompetenzabgrenzung zwischen haupt- und ehrenamtlich Tätigen.
Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer begreifen ihre Tätigkeit für unser Gemeinwesen als einen Teil ihrer Lebensaufgabe. Sie wollen Freude am Ehrenamt. Sie sehen in ihm eine sinnvolle Bereicherung ihres Alltagslebens, ihrer Freizeit und ihrer persönlichen Weiterentwicklung. Aber sie prüfen heute kritischer als früher, ob sich ihr ehrenamtliches Engagement mit ihrer persönlichen Lebensgestaltung, mit ihrer Familie, mit der Schule, mit Ausbildung und Beruf vereinbaren läßt. Deshalb suchen sie überwiegend überschaubare, projektbezogene und ergebnisorientierte Einsatzmöglichkeiten - auch bezüglich der zeitlichen Disposition.
Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeinitiativen und Bürgerinitiativen bieten einen breiten Raum für bürgerschaftliches Engagement. Diese neuen Formen ehrenamtlichen Engagements entsprechen eher ihrem Bedürfnis nach mehr Freiraum und mehr Gestaltung, nach Selbstbestimmung und Entscheidungsfreudigkeit. Das Ehrenamt auf Lebenszeit ist weniger gefragt.
Das traditionelle Ehrenamt verliert an Zuspruch. Dies bedeutet: Es müssen sich nicht die Bürgerinnen und Bürger umstellen; gefordert sind Vereine, Verbände und Organisationen. Sie müssen sich den Veränderungen stellen und ihre Strukturen anpassen.
Ehrenamtliche Tätigkeitsfelder sind weitestgehend zu entbürokratisieren, von staatlicher Gängelung und verkrusteten Strukturen zu befreien. Wir müssen den Professionalisierungsprozeß behutsam zurückführen, um Kreativität und Entfaltungsmöglichkeiten für den einzelnen zu gewinnen.
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Meine Damen und Herren, die Bürger nehmen im Ehrenamt ihre Eigenverantwortung für unser GeKlaus Riegert
meinwesen wahr. Wer steuerliche Besserstellung, Erhöhung von Pauschalen, Anrechnung auf Renten, staatliche Finanzierung von Aus- und Fortbildung fordert, wer das Ehrenamt zum Ausfallbürgen oder als Ersatzvornahme für staatliche Leistungen herabstuft, der hat Bedeutung und Wert ehrenamtlicher Tätigkeit nicht begriffen. Das Ehrenamt ist freiwillig und unentgeltlich.
Die Koalitionsfraktionen tragen mit ihrem Antrag, den wir zur Abstimmung stellen, sowohl dem traditionellen Ehrenamt als auch den neuen Formen bürgerschaftlichen Engagements Rechnung. Aufgabe des Staates ist es, den für ehrenamtliche Tätigkeiten erforderlichen Handlungsrahmen zu gewähren, nicht aber, regulierend in dessen Ausgestaltung einzugreifen. Die Verantwortung für die Gestaltung liegt bei den Bürgerinnen und Bürgern. Demokratie lebt nur, wenn sie von ihren Bürgern bewußt gestaltet wird. Deshalb sind alle gefordert.
Der Familie kommt als Fundament unserer Gesellschaft eine besondere Bedeutung zu. In ihr werden persönliche Bindungen und Hilfen für den Nächsten am unmittelbarsten erfahren, Verständnis, Einsicht, Toleranz, Verantwortungsbewußtsein und Rücksichtnahme gelebt.
Die Schule muß ihren erzieherischen Auftrag umfassender verstehen und Jugendliche frühzeitig an eigenverantwortliches Handeln heranführen.
({3})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen im gegenseitigen Einvernehmen Lösungen anstreben, die nicht nur ehrenamtliches Engagement erleichtern, sondern positiv bewerten. Gesetzliche Regelungen zur Freistellung würden sich kontraproduktiv auswirken.
Gefordert sind die Medien, die Tätigkeit von nahezu 12 Millionen Ehrenamtlichen stärker als bisher in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu tragen. Ihnen kommt bei der Vermittlung von Werten eine hohe Verantwortung zu.
Die Bundesregierung sollte bei gesetzlichen Regelungen die ideellen und materiellen Auswirkungen auf die Bedingungen ehrenamtlicher Tätigkeiten stärker berücksichtigen. Sie sollte durch eine breit angelegte Kampagne, in die alle Gruppierungen unseres gesellschaftlichen Lebens einzubeziehen sind, das Bewußtsein für ehrenamtliches Engagement stärken. Und sie sollte prüfen, ob durch einen Tag des Ehrenamts die Verdienste bürgerschaftlichen Engagements in einem besonderen Rahmen gewürdigt werden könnten und dies zu einer Stärkung des Ehrenamts beitragen könnte.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke der Bundesregierung für die umfassende Antwort auf unsere Große Anfrage. Sie zeigt, daß ehrenamtliche Tätigkeit nicht in allen Facetten erfaßt werden kann, und macht deutlich: Mit Gesetzen, Verordnungen und Haushaltstiteln ist dem Ehrenamt wenig gedient.
({5})
Wir müssen umdenken zu mehr Eigenverantwortung und mehr Eigeninitiative. Jeder einzelne von uns, die Organisationen, die Verbände, die Vereine, die Parteien, die unterschiedlichen Gruppen und Initiativen sind gefordert, an einer neuen Kultur der ehrenamtlichen Tätigkeit aktiv mitzuarbeiten.
({6})
Nur wenn das weiterhin gelingt, lebt Demokratie.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Siegrun Klemmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 12 Millionen Bürgerinnen und Bürger leisten in Deutschland jährlich etwa 2,8 Milliarden Stunden ehrenamtliche Arbeit. Ohne diese gelebte aktive Solidarität hätten die Feuerwehr, die häusliche Krankenpflege, Selbsthilfegruppen, Wohlfahrts- und Jugendverbände, Sportvereine ein anderes Gesicht. Kurz: Ohne diesen tragenden Pfeiler der Sozialstaatlichkeit würde deren Gebäude mit Sicherheit wanken.
Der volkswirtschaftliche Wert der erbrachten Leistungen wird vom Statistischen Bundesamt auf fast 50 Milliarden DM jährlich taxiert. Wichtiger ist jedoch die Integrationsfunktion ehrenamtlicher Arbeit für eine lebendige und solidarische Demokratie. Für die Vermittlung zwischen Bürger und Staat spielen das Gestalten und das Lernen von sozialen Prozessen, die Artikulation von Defiziten und ihre Beseitigung eine wichtige Rolle; denn wer durch Engagement verändert, schwimmt gegen den Strom von Verdrossenheiten. Ehrenamtlichkeit ist sozusagen der Kitt einer funktionierenden Gesellschaft.
({0})
Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelten den ehrenamtlich Tätigen hier im Plenum und überall im Land nicht nur am heutigen Internationalen Tag des Ehrenamtes unser Dank und unsere Unterstützung.
Aufgabe der Politik ist es, das Ehrenamt zu fördern, Rahmenbedingungen zu verbessern und Zugangsbarrieren abzubauen. Bis hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unser Anliegen interfraktionell Konsens. Ab hier offenbart sich dann aber auch das Ende der Gemeinsamkeiten.
Gemessen an vorhandenen Potentialen, bleibt die deutsche Ehrenamtlichkeit weit zurück. Neben den zirka 16 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die sich sozial engagieren, wartet nach seriösen UmfraSiegrun Klemmer
gen eine stille Reserve in mindestens derselben Größe, die dazu bereit wäre, wenn die Bedingungen stimmten.
Auch im europäischen Vergleich macht Deutschland keine gute Figur. Nur in der krisengeschüttelten Slowakei ist der Anteil der Ehrenamtler niedriger. In den benachbarten Niederlanden liegt er bei 38 Prozent, im europäischen Schnitt bei 27 Prozent. Und um das an dieser Stelle auch noch zu sagen: Bis auf den Sport sind im deutschen Ehrenamt die Frauen in allen Bereichen stark überproportional tätig.
Die deutsche Situation liegt vor allem in einem Modernisierungsrückstand begründet, den die Bundesregierung während langer Jahre fahrlässig verschuldet hat. Jenseits ritueller Belobigungen braucht das Ehrenamt endlich auch die Anerkennung, die es verdient.
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Denn es ist nicht getan mit Zertifikaten, mit öffentlichen Kampagnen und Appellen an die Tarifpartner, eine betriebliche Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit anzustreben, wie es die Koalition in ihrem Antrag vorschlägt. Wie das in der Realität aussehen wird, kann man sich angesichts der Lehrstellenmisere, des Kahlschlags in vielen Bereichen lebhaft vorstellen. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Verlautbarungen der Regierung und ihrer Fraktionen eine ambivalente Botschaft, die lautet: Wir loben und anerkennen, aber es darf nichts kosten.
Vor genau einem Jahr hat Frau Ministerin Nolte diese Strategie auf den Punkt gebracht, und der Kollege Riegert hat das eben noch einmal wiederholt. Frau Nolte sieht die Gefahr, daß eine Diskussion, die sich einseitig auf den Bereich der finanziellen Anerkennung und Förderung konzentrieren würde, dem Ehrenamt und seinen Trägern mehr schaden als nützen würde. „Wir beobachten" - so sagte sie - „ohnehin eine Tendenz, die dem Staat immer mehr abverlangt und die Verantwortung des einzelnen und der freien Kräfte schmälert."
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Diese Aussage, Kolleginnen und Kollegen, dokumentiert wohl eher unfreiwillig, welchem Prinzip sie folgt. Das Ehrenamtsverständnis der Koalition entspricht einem Modell, in dem der einzelne, glücklich dem sanften Terror des Wohlfahrtsstaates entronnen, seine Geschicke wieder selbst in die Hand zu nehmen hat und die Schieflagen und Verwerfungen dieser Gesellschaft mit unentgeltlichem Einsatz zurück in die Angeln hebt.
Mit diesem theoretischen Winkelzug, meine Damen und Herren Kollegen von der Koalition, können Sie sich nicht aus der Sozialstaatlichkeitsverpflichtung davonstehlen. Die Stärkung des Ehrenamtes darf nicht der Logik folgen, damit die selbstverschuldete Krise der öffentlichen Haushalte zu umschiffen und den Bürgerinnen und Bürgern zuzumuten, die auf sie abgewälzten Lasten nun möglichst gemeinsam und damit schmerzfreier zu ertragen.
({3})
Es ist völlig undienlich, wenn einzelne Stimmen aus der Koalition noch eines draufsatteln wollen und ein soziales Pflichtjahr fordern. Ehrenamtliches Engagement darf nicht mißbraucht werden, um die chronische Malaise des ersten Arbeitsmarktes zu stabilisieren. Das Ziel muß lauten: Ehrenamtliches Engagement steht nicht in Rivalität zu entlohnten Beschäftigungsverhältnissen, sondern schafft zusätzliche öffentliche Güter dort, wo Markt und Staat versagen. Um es klar zu sagen: Die Forderungen der SPD nach Anerkennung zielen nicht auf einen monetären Transfer; wir wollen nicht das Prinzip der Unentgeltlichkeit antasten. Wir wollen vielmehr ehrenamtlich Tätige von ihren Aufwendungen entlasten, um damit das Ehrenamt zu ermöglichen.
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Welchen bestimmenden Faktoren ist das Ehrenamt unterworfen, und was sind die Folgerungen für uns?
So zutreffend die These der begleitenden Forschung ist, das Ehrenamt habe sich in den letzten Jahrzehnten aus seiner Milieubindung gelöst, so oberflächlich ist die oft im gleichen Atemzug genannte These, daß die Individualisierung in Deutschland zu einer Gesellschaft von egoistischen Autisten geführt hat, die sich im Kampf aller gegen alle verwirklichen. Die neuen sozialen Bewegungen, Selbsthilfegruppen und die neue Projektbezogenheit sozialer Arbeit sind das Ergebnis einer wirklich fundamentalen Umdeutung. Die religiös-karitative Fixierung auf Benachteiligte mitsamt ihrer tradierten Mildtätigkeit ist einem Ehrenamtsverständnis gewichen, das auch die aktive Gestaltung der eigenen Biographie des Ehrenamtlichen und damit selbstbezogene Bedürfnisse umfaßt. Unter den momentanen Rahmenbedingungen wird deren Artikulation allerdings erschwert.
Innerhalb der Vereine und Initiativen hat sich unter den Signets „non-profit-Organisationen" und „dritter Sektor" ein Geflecht von Verbänden etabliert, die in Größe und Professionalisierungsgrad privatwirtschaftlichen Unternehmungen nicht nachstehen. Der Grundsatz der Subsidiarität, der den Vorrang der freien Träger bedingt, hat dazu geführt, daß diese in vielen Feldern der sozialen Arbeit die öffentlichen Träger zurückgedrängt und ersetzt haben. Ohne eine angemessene Aus- und Fortbildung wird es für Ehrenamtliche zunehmend schwerer, dieses System zu durchschauen und einen angemessenen Platz darin zu finden. Darum unterstützen wir nachdrücklich das Bemühen der neuen Freiwilligenagenturen, gegenüber den Bürgern Transparenz zu schaffen, zu beraten und Schwellenängste abzubauen. Diese Agenturen sind per Definition nicht in der Lage, sich über Marktpreise oder Leistungsentgelte zu finanzieren. Sie müssen, seien sie einem
freien Träger angegliedert oder als gemeinnütziger Verein aktiv, öffentlich gefördert werden.
Immer mehr engagierte Menschen machen die Erfahrung, daß ihre Bereitschaft mit den härter gewordenen Anforderungen des Arbeitslebens kollidiert. Ehrenamtlich aufgewendete Zeit gerät in Zeiten eines verschärften beruflichen Wettbewerbs, wachsender Abstiegs- und Armutsrisiken immer häufiger in ein Kalkül, in dem sie gegenüber karriereorientierten Biographien als Verlust erscheint. Diese Ängste, die vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise sehr begründet und auch sehr real sind, müssen auf zwei Ebenen überwunden werden. Das gesellschaftliche Klima begegnet dem Ehrenamt häufig, als sei es ein Bote aus einer anderen Zeit. Es darf nicht so weit kommen, daß eine notwendige neue bundeseinheitliche gesetzliche Freistellungsregelung aus Angst vor versteckten innerbetrieblichen Sanktionen nicht in Anspruch genommen wird, wie wir dies beim Bildungsurlaub teilweise leider erleben.
Unmißverständlich muß Konsens sein, daß die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch unentgeltliche Arbeit eine sozial erwünschte Verhaltensweise ist und nicht eine schrullige Attitüde unbelehrbarer Sozialromantiker.
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Zum zweiten muß eine wirksame Entlastung von wirtschaftlichen Nachteilen erfolgen, die das Ehrenamt mit sich bringen kann. Es ist nicht einzusehen, warum die sogenannte Übungsleiterpauschale im Einkommensteuerrecht abgeschafft wird, statt endlich vom Sport auch auf alle anderen Bereiche der Ehrenamtlichkeit ausgedehnt zu werden.
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Für junge Ehrenamtliche, insbesondere Studenten, kann die Ausübung ihres Amtes Härten bedingen. Daher ist bei der Vergabe von Studienplätzen über die ZVS das Ehrenamt als zusätzlicher Grund für heimatnahe Zuweisung aufzunehmen; beim BAföG muß es Berücksichtigung bei der Förderhöchstdauer finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, lassen Sie es mich zum Schluß in Ihrer Terminologie formulieren: Die öffentliche Förderung des Ehrenamtes ist eine Aktie auf die Zukunft, die den Shareholder Value unseres Gemeinwesens erhöht und die auch zu guten Renditeerwartungen für die Anteilseigner berechtigen wird, und diese Anteilseigner sind in diesem Fall wir alle, ist die gesamte Gesellschaft. Darum bitten wir Sie: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu.
Ich danke Ihnen.
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Es spricht jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich der Vorrednerin und dem Vorredner anschließen und meine große Wertschätzung für die vielen Menschen, die sich - in welcher Form auch immer - ehrenamtlich und freiwillig bürgerschaftlich engagieren, aussprechen.
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Ohne sie wäre die Demokratie, ohne sie wäre der Sozialstaat nicht lebendig, ohne ihre Einmischung könnten wir nicht zusammenleben. Heute, am Internationalen Tag des Ehrenamts, werden ihnen allen die Ohren klingen vor lauter Lob, das über sie ausgeschüttet wird.
Natürlich könnte man sagen, es ist besser, es gibt einen Tag, an dem ihre Tätigkeit Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommt, als gar keinen. Aber wenn man zugleich im Alltag ständig mit lauten Klagen über den vermeintlichen Werteverfall, die Egoistengesellschaft und die zunehmende Kälte konfrontiert ist, dann muß das auch verbittern; denn es zeigt, daß zu viele in unserer Gesellschaft die verborgene Seite der Demokratie und des Sozialstaats überhaupt nicht wahrnehmen.
In einet Debatte um ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement spielt das Subsidiaritätsprinzip eine wichtige Rolle. Ich habe mich daher noch einmal bei einer der besten Quellen zur Interpretation dieses Prinzips vergewissert: Oswald von Nell-Breuning definiert es, unter Verweis auf die Enzyklika von Papst Pius XI. aus dem Jahre 1931, wo sich der Begriff zum ersten Mal findet, als die „Pflicht hilfreichen Beistands".
Das, was auf den ersten Blick wie eine unnötige Doppelung wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Zugang zum anspruchsvollen Charakter des Subsidiaritätsprinzips, denn es müssen immer zwei Fragen beantwortet werden: Ist der Beistand wirklich hilfreich, indem er nicht das erstickt, wozu die kleine Einheit auch ohne Hilfe in der Lage wäre? Und die zweite Frage ist: Welchen Beistand brauchen die Teile des Ganzen, damit sie in der Lage sind, das zu leisten, was sie aus eigener Kraft nicht schaffen können?
Das heißt, Subsidiarität ist eine höchst anspruchsvolle Richtschnur für Sozialpolitik. Mein Vorwurf an die Politik der Bundesregierung lautet, daß sie sich auf die „negative" Seite des Subsidiaritätsprinzips konzentriert, wie von Nell-Breuning es nennt. Das heißt, Sie nehmen nur die Handlungsanweisung, die verlangt, dem einzelnen bzw. der kleinen gesellschaftlichen Einheit die Aufgaben zuzuweisen, die von ihnen am besten bewältigt werden können.
Es ist ja auch wirklich so, daß persönliche Unterstützung, Dienste am Nächsten, die Organisation von Freizeit in eigener Initiative, von der Familie, von Verwandten, Freunden, in der Gemeinde am besten geleistet werden kann. Auf diese Weise wird unsere Gesellschaft zusammengefügt. Indem Individuen ihre Verantwortung wahrnehmen, werden wir zu einem Ganzen.
Andrea Fischer ({1})
Damit werden große Werte für die Gesellschaft erbracht, und es gibt auch Versuche, diese vielfältige Arbeit im Gegenwert Geld auszudrücken. Dann wird aber auch sehr schnell deutlich, daß es um so immense Werte geht, daß eine Bezahlung in vollem Umfang gar nicht möglich wäre. Das allein ist aber als Argument für das freiwillige Engagement und das Ehrenamt nicht ausreichend.
Ich will in einer Gesellschaft leben, in der Liebe, Freundschaft, Verantwortungsgefühl, Mitleid, Veränderungswillen und andere persönliche Motive die Menschen dazu bewegen, sich für andere einzusetzen.
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Nach meiner Beobachtung und auch nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die mir dazu bekannt sind, gibt es dieses persönliche Engagement millionenfach in unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung selbst hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage viele Belege zusammengetragen. Und auch die Pflegeversicherung zeigt uns, wie viele Menschen für andere einstehen. Denn daß 90 Prozent aller Antragsteller das Pflegegeld in Anspruch nehmen, heißt ja, daß die Pflege zu Hause von der Familie oder Freunden geleistet wird.
Deshalb ist mir völlig unverständlich, warum im Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen unterstellt wird, daß die „allgegenwärtige staatliche Daseinsvorsorge" die Menschen sich mehr als Empfänger und Nutzer staatlicher Leistungen denn als Geber und Gestalter des Gemeinwesens wahrnehmen ließe. Angesichts aller Befunde über ein in den vergangenen Jahrzehnten größer gewordenes freiwilliges Engagement, die ja auch in der Antwort der Bundesregierung präsentiert werden, kann solch eine Behauptung doch eigentlich nur noch Ideologie sein!
Die großen Institutionen des Sozialstaats sind für die Daseinsvorsorge da. Sie sichern Lebensrisiken ab, Dies kann in Selbsthilfe und Eigeninitiative nicht gleich gut geschehen. Kollektive soziale Sicherungssysteme sind eine Grundvoraussetzung für Demokratie und Beteiligung. Wer sich um seine eigene materielle Existenz sorgen muß, der kann sich nicht noch um andere kümmern und sich einmischen. Deshalb appelliere ich an Sie, aufzuhören, diesen Gegensatz zu konstruieren.
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Freiwilliges Bürgerengagement ist kein Ausfallbürge für den Sozialstaat! Die Selbsttätigkeit der Bürgerinnen und Bürger ist eine Ergänzung, kein Ersatz für öffentlich organisierte soziale Dienste. Aber diese Selbsttätigkeit entsteht nicht immer von allein. Sie ist voraussetzungsvoll und braucht Unterstützung.
Damit möchte ich noch einmal zurückkommen auf meine Kritik am Verständnis des Subsidiaritätsprinzips durch die Regierungsfraktionen. Sie interpretieren Subsidiarität als Freifahrtschein, dem Individuum, der Familie und der Gruppe Verantwortung zuzuweisen und damit die größeren Teile des Ganzen aus der Verpflichtung zu entlassen, die kleineren zu unterstützen. Aber genau das verlangt das Subsidiaritätsprinzip: daß die umfassenden Teile des Ganzen die kleineren stärken und ergänzen. So drückt es Oswald von Nell-Breuning aus. In der Politik sagen wir dazu: Wir müssen die „Rahmenbedingungen gestalten".
Soziales und gesellschaftliches Engagement will ermutigt und unterstützt, gefördert und gehegt werden. Die gesamte Debatte um das „Neue Ehrenamt" macht uns das besonders deutlich. Wir haben es mit großen Veränderungen in der Einstellung der Menschen gegenüber freiwilligem bürgerschaftlichen Engagement zu tun. Gerade auch die jungen Menschen möchten sich nicht mehr in einen starren Rahmen begeben müssen, der von ihnen vielleicht sogar noch ein weltanschauliches Bekenntnis verlangt. Die jungen, vor allem aber auch die berufstätigen Menschen suchen nach Mitmachmöglichkeiten, die nicht sofort ihre gesamte Freizeit auffressen. Man kann das organisieren: die vielfache Nachfrage nach freiwilligen Helferinnen und Helfern zusammenbringen mit dem sehr unterschiedlichen Angebot von Menschen, die zum Engagement bereit sind.
In Berlin macht dies der „Treffpunkt Hilfsbereitschaft" seit mehr als zehn Jahren erfolgreich vor. Von dort wird eindrücklich berichtet, wie es durch die richtige Ansprache und das richtige Angebot gelingen kann, auch uralte Muster ehrenamtlicher Tätigkeit zu durchbrechen, zum Beispiel Männer für soziale Arbeit zu gewinnen. Seit einem Jahr ist die Bremer Freiwilligenagentur erfolgreich, seit zwei Jahren die Dortmunder. Letztere war über einen Modellversuch des BMFSFJ finanziert; nach Auslaufen der Finanzierung ist der Fortbestand des Modells hochgradig unsicher.
Spricht man mit den Menschen, die diese Agenturen betreiben, ist man wirklich beeindruckt, mit wieviel Phantasie sie das Solidaritätspotential unserer Gesellschaft ausschöpfen, mit wieviel Phantasie sie sich auch um die Finanzierung ihrer Arbeit bemühen. Aber bei allem Bemühen um Social sponsoring, um Einnahmenerzielung durch Beratungsangebote ist ein Grundbestand an öffentlicher Förderung unerläßlich. Betrachtet man Aufwand und Wirkung, so wird deutlich, daß hier der Verweis auf leere öffentliche Kassen schnell zum Eigentor wird.
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Aber es geht um viel mehr als nur darum, durch die finanzielle Unterstützung von Knotenpunkten die solidarischen Netze tragfähig zu machen. Es geht auch noch um viel mehr als um die vielen Maßnahmen im Bereich der Förderung freiwilligen Engagements, die wir in unserem Antrag aufgezählt haben. Diesen Antrag möchten wir als Angebot an das gesamte Haus verstanden wissen, sich auch als Bundestag mit einer Politik der Stützung und Stärkung des freiwilligen Engagements zu beschäftigen. DesweAndrea Fischer
gen schlagen wir vor, daß wir die vielen offenen Fragen in einer öffentlichen Anhörung erörtern.
Aber jenseits der konkreten Maßnahmen geht es auch um ein neues Verständnis der Rolle, die ehrenamtlichen Tätigkeiten in unserer Gesellschaft zugewiesen wird. Zu lange schon erschöpft sich die eine Seite im folgenlosen Lob des Ehrenamts und die andere Seite in der düsteren Warnung, daß das Ehrenamt als Lückenbüßer des Sozialstaats herhalten müsse.
Zu lange hat die Gesellschaft freiwilliges Engagement als selbstverständlich hingenommen. Für alle Instanzen, die auf die Selbsttätigkeit der Menschen setzen - das sind die verschiedenen föderalen Ebenen des Staates, die sozialen Sicherungssysteme ebenso wie Verbände und Institutionen -, folgt eine große politische Verpflichtung aus der Nutzung der gesellschaftlichen Ressource Solidarität. Lassen Sie mich das abschließend an einigen Punkten deutlich machen:
Die Aufgabenteilung „Männer für den Sport und Frauen fürs Soziale" ist - auch wenn sie die ungleichen Geschlechterverhältnisse abbildet - kein Naturgesetz, ebensowenig wie die Verteilung von praktischer Tätigkeit für die Frauen und Besetzung von Führungsgremien durch Männer - ein Bild, von dem die meisten Wohlfahrtsverbände noch immer geprägt sind.
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Frauen sind zunehmend unzufrieden mit dieser Verteilung von Arbeit und Macht. Wer sie in Zukunft noch zum Mitmachen gewinnen will, wird veränderungsbereit sein müssen.
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Wer mündige Bürgerinnen und Bürger fordert beim Appel fürs Ehrenamt, der muß die so zum Mittun Gewonnenen auch ernst nehmen in ihrer Mündigkeit. Die professionellen Helfer müssen delegieren lernen und demokratische Mitsprache zulassen; die Institutionen müssen offen sein für die Beteiligung ihrer freiwilligen Helferinnen und Helfer; und die Politik muß auf allen Ebenen lernen, Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung systematisch vorzusehen. Wer das ernst nimmt, wird in vielen Fällen vor einer schwer erträglichen Herausforderung an gewohnte eigene Verhaltensweisen und Entscheidungsprozesse stehen. Aber billiger ist das bürgerschaftliche Engagement nicht zu haben!
Privates Engagement auf Grund von Verwandtschaft und Freundschaft stößt an Grenzen. Jede, die es aus eigenem Erleben kennt, weiß, was eine Jahre dauernde Pflege zu Hause den Pflegenden abverlangt. Wir haben noch viel zuwenig Phantasie entwickelt, wie angemessene Netze für die Pflegepersonen aussehen müssen, die sie durch Unterstützung vor Überforderung bewahren. Nicht nur für die Pflegesituation gilt: Die Zukunft liegt in einer neuen Verbindung von persönlichem Engagement und professioneller Unterstützung.
Diese Aufzählung ist längst nicht vollständig. Ich wollte damit nur darauf hinweisen, wie umfassend die Aufgaben sind, wenn wir gesellschaftliche Selbsttätigkeit fördern wollen.
Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement brauchen die öffentliche Anerkennung. Deshalb ist es gut, daß wir auch in Deutschland den Tag des Ehrenamts begehen. Es ist gut, daß der Bundespräsident und Frau Ministerin Nolte einige der Engagierten - stellvertretend für Millionen von ihnen - öffentlich geehrt haben. Aber die gesellschaftliche Einmischung ist nicht nur eine Frage der Ehre. Wer sich beteiligt, darf von der Gesellschaft auch Gegenleistungen verlangen.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Debatte um das Ehrenamt geht es auch um eine Diskussion über den Zustand unserer Gesellschaft, um das Verhältnis des Bürgers und der Bürgerin zum Staat, um Reformfähigkeit, um Reformbereitschaft des einzelnen in der Gesellschaft, aber auch der staatlichen Organisationen, und um die Rolle des Staates selbst. Aus diesen Gründen wurde von den Regierungskoalitionen die Große Anfrage gestellt.
Die Wertschätzung und die Anerkennung, die, wie ich glaube, alle Anwesenden in diesem Haus heute nicht nur empfinden, sondern auch - sofern sie Gelegenheit dazu haben - aussprechen, sind keine Pflichtübung, sondern ein ehrlicher Dank an alle - das sind inzwischen gut 12 Millionen -, die sich in Deutschland seit vielen Jahren ehrenamtlich einsetzen.
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Eine demokratische Gesellschaft lebt davon, daß sich ihre Bürgerinnen und Bürger für sie einsetzen, sie aktiv mitgestalten und dafür einen Teil ihrer freien Zeit aufwenden. Das trifft für alle Lebensbereiche und auch für alle Generationen zu.
Millionen Bürgerinnen und Bürger tun dies täglich und machen kein großes Aufheben davon. Das sind Menschen, die sich um die Pflege kranker oder älterer Bürger kümmern; das sind diejenigen, die sich im kulturellen und sozialen Bereich auch für unsere ausländischen Bürger einsetzen und Integrationshilfe leisten; das sind diejenigen, die Behinderte betreuen und dafür sorgen, daß diese ihre Persönlichkeit entfalten können als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.
Aber unter ehrenamtlicher Tätigkeit ist nicht nur der unentgeltliche Einsatz im sozial-karitativen Sinne zu verstehen, sondern jedes Engagement in
unserer Gesellschaft: in der Kultur, im wissenschaftlichen Bereich, im Naturschutz, natürlich auch in der Politik, im Sport und in vielen anderen Bereichen. Je nach Bereich besteht die finanzielle Anerkennung meistens entweder in einem Aufwendungsersatz oder eventuell in einer Erstattung der Auslagen.
Wenn wir uns mit dem Ehrenamt und seiner Rolle in unserer Gesellschaft beschäftigen, dann sollten wir ganz klar sagen: Ehrenamt ist nicht ein Nebenverdienst, ist nicht eine professionelle Tätigkeit, sondern von seinem Verständnis her die Bereitschaft des einzelnen, in die Gesellschaft, deren Bestandteil er ist, etwas einzubringen - neben dem, was er in Beruf und Familie einzubringen in der Lage ist. Deshalb bedeutet ehrenamtliche Arbeit Teilhabe, Mitgestaltung und auch Einfluß der Bürgerinnen und Bürger.
Ehrenamtliche Arbeit bedeutet aber auch gelebte Solidarität, verstanden als moralische Selbstverpflichtung auf gemeinsames Handeln. Daß sich die Zahl der Ehrenamtler in den letzten 30 Jahren verfünffacht hat und sich heute gut 12 Millionen Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich engagieren, ist nicht nur sehr erfreulich, sondern auch ein Zeichen dafür, daß - entgegen manchen Einschätzungen und Analysen - die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zum Engagement in Deutschland nicht nachläßt. Vielmehr verändert sie sich und hat andere Formen und andere Wege gefunden.
Aus unserer Verfassung - ich sage das ganz bewußt -, aus den Art. 20 und 28 des Grundgesetzes, leitet sich ein wesentliches Fundament unseres Staatswesens her: das Sozialstaatsprinzip. Daraus resultieren zwei Forderungen: zum einen adressiert an den einzelnen Bürger und zum anderen adressiert an den Staat.
Der einzelne ist aufgefordert, nicht nur für sich selber, sondern auch für seine Umgebung und seine Umwelt Verantwortung zu übernehmen und - auch das betone ich bewußt - natürlich nicht zuerst und in erster Linie Ansprüche an den Staat zu stellen. Gleichzeitig - das gehört genauso zum Sozialstaatsprinzip - kann und darf der Staat nicht aus seiner Verantwortung für sozial Schwächere in unserer Gesellschaft entlassen werden. Das möchte niemand, auch niemand aus der Regierungskoalition.
Freiheit ist ohne Verantwortung nicht denkbar. Eine liberale und offene Gesellschaft lebt davon, daß die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, in freier Entscheidung Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Verantwortungsgemeinschaften sind die Familie im weitesten Sinne, also die Ehe mit Kindern, genauso Alleinlebende mit Kindern; das sind die nichtehelichen Lebensgemeinschaften, gleichgeschlechtliche Partnerschaften genauso wie soziale Partnerschaften von Jung und Alt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kröning?
Bitte schön.
Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, wie vereinbaren sich Ihre Ausführungen zum Sozialstaatsprinzip, die Sie als Konsens in diesem Hause dargestellt haben, mit der Auffassung des Generalsekretärs Ihrer Partei, wonach die Tätigkeit der freien Wohlfahrtsverbände besser privatisiert würde, das heißt, daß Wohlfahrtsverbände aus dem Gefüge zwischen Staat und Markt verschwinden sollten, Wohlfahrtsverbände, die ein wesentlicher Platz ehrenamtlicher und freiwilliger Arbeit in unserer Gesellschaft sind?
Zum einen sagt niemand in der F.D.P., auch nicht der Generalsekretär, daß die Wohlfahrtsverbände „verschwinden sollten". Zum anderen haben sich Veränderungen in unserer Gesellschaft ergeben. Wie Wohlfahrtsverbände künftig ihre Aufgaben wahrnehmen, ob es in ihrem Bereich künftig nicht eine sehr viel stärkere Professionalisierung als bisher gibt, ob es noch die Betonung des Ehrenamtlichen in dem Umfang geben wird, wie es früher war, das sind Fragen, die man sich stellen muß. Deshalb habe ich ganz bewußt deutlich gemacht, daß Sozialstaatsprinzip nicht heißt, daß nichts verändert werden darf. Man muß sich ganz klar dazu bekennen, daß der Staat mit seinen handelnden Institutionen und Organisationen selbstverständlich auch künftig eine ganz wesentliche Verantwortung hat, die nicht durch anderes ersetzt werden kann.
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Liberales Gedankengut stützt sich auf das Leitbild des „Citoyen", der bewußt Verantwortung für die Gesellschaft übernimmt und um den Wert jedes einzelnen Menschen, auch des schwachen und weniger durchsetzungsstarken, weiß. Diese soziale Struktur einer Gesellschaft kann durch Überbeanspruchung und Vernachlässigung in gleicher Weise zugrunde gehen wie die natürliche Umwelt. Sie wird gepflegt, indem die einzelnen gegenüber der Gesellschaft Verantwortung empfinden, Dienste leisten und dadurch eine Atmosphäre entstehen lassen, in der die Erfüllung gewisser Aufgaben als selbstverständlich empfunden wird; so entsteht und erhält sich eine Bürgergesellschaft.
Die Bereitschaft, sich selbst zu organisieren, kann der Gesetzgeber nicht verordnen. Er kann nur Bedingungen schaffen und versuchen, damit Anreize zu geben und Bereitschaft zu fördern. In einem liberalen Verständnis muß der Staat alles daransetzen, die Handlungsfähigkeit der vom Engagement des einzelnen getragenen freiwilligen Initiative zu unterstützen. Dies soll als Gegenentwurf zu überbordender Bürokratie und Regelungsperfektionismus verstanden sein. Private Initiativen, die entstehen, müssen, soweit es geht, von sinnlosen Vorgaben, von zu vielen Regelungen, die Privatinitiativen im Keim ersticken, freigestellt werden.
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Vor diesem Hintergrund kommt ehrenamtlicher Tätigkeit als Ausdruck einer so verstandenen liberalen Gesellschaft ein hoher Stellenwert zu. Vor diesem
Hintergrund muß auch die Entwicklung beleuchtet werden, die erkennen läßt, daß das klassische ehrenamtliche Engagement abnimmt. Der Einsatz in Verbänden und Parteien, in Vereinen und Hilfsorganisationen geht zurück. Auch das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen schwindet eher. Bürgerinnen und Bürger gehen auf Distanz zu vorhandenen Strukturen und Organisationen. Obwohl sich Millionen von Menschen viele Stunden pro Woche freiwillig engagieren, beklagen die etablierten Organisationen den Rückgang des Ehrenamtes. Das scheint ein Widerspruch zu der grundsätzlich festzustellenden Bereitschaft weiter Teile der Bevölkerung zu sein, sich zu engagieren.
Richtig ist jedoch, daß neben die klassischen Formen des Ehrenamtes in den Verbänden neue Formen freiwilligen Engagements getreten sind.
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Diese neuen Formen korrespondieren mit der sich wandelnden Gesellschaft: Die Menschen wollen sich nicht mehr langfristig binden, sie wollen nicht eine weltanschauliche, religiöse oder ideologische Festlegung erfahren. Sie wollen den Inhalt, den Zeitpunkt und die Dauer ihres Einsatzes für die Gesellschaft selbst bestimmen. Sie wehren sich gegen die Vorgaben etablierter Organisationen und gegen verkrustete Strukturen. Sie wollen verantwortlich mitarbeiten und gestalten, aber sie wollen nicht bis zum letzten mitverplant werden. Sie wollen ihre beruflichen Erfahrungen nutzbringend anwenden oder auch ihre soziale Kompetenz zur Verfügung stellen und dann auch den Erfolg ihrer Arbeit sehen.
Dies gelingt bei konkreten, zeitlich begrenzten, projektbezogenen Aktionen sehr viel eher als bei einer langfristigen Mitarbeit in einem Verband oder Verein. Das ist bestimmt mit ein Grund, weshalb gerade Selbsthilfeinitiativen, Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen zunehmend an Attraktivität und Zulauf gewinnen. Das zeigt, der Inhalt ehrenamtlichen Engagements hat sich geändert.
Es ist gerade schon etwas zum Anteil der Frauen an den ehrenamtlichen Tätigkeiten gesagt worden. Es gibt nicht allzu viele Untersuchungen dazu, jedenfalls keine umfassenden statistischen. Ich will diese hier auch nicht einfordern, aber ich meine, daß eine Zahl aus der Untersuchung des Familienministeriums aus dem Jahre 1993 doch sehr bezeichnend ist: Im sozialen Bereich sind 75 Prozent aller ehrenamtlich Tätigen Frauen. In anderen Bereichen, zum Beispiel beim Sport - das wurde vorhin genannt -, sieht es etwas anders aus. Aber dies betrifft noch gewachsene und aus den früheren Zuständen in unserer Gesellschaft herrührende Aufgaben der Frauen, die wahrzunehmen sie bisher immer bereit waren.
Die Organisationen, Verbände und Vereine müssen sich auf ein geändertes Bewußtsein und auf eine andere Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich zu engagieren, einstellen. Sie müssen auch ihre Strukturen reformieren und ihre Einrichtungen umgestalten. Dies wird nicht ohne zusätzliche Professionalisierung gehen; das ist dann nicht das Ehrenamt, die ehrenamtliche Tätigkeit. Sie müssen das Verhältnis zwischen den hauptamtlichen und den ehrenamtlichen Mitarbeitern überdenken.
Die Veränderungen beim Ehrenamt erfordern natürlich auch Reaktionen in den Verwaltungen. Die Förderpraxis muß überdacht werden. Man muß andere Wege der Koordination und der Kommunikation finden. Ansprechpartner der Sozialverwaltungen sind künftig nicht in erster Linie Geschäftsführer oder Vorstände etablierter Organisationen, sondern die legitimierten Sprecher oder Vertreter von Adhoc-Gruppen, Selbsthilfegruppen oder Selbsthilfeinitiativen.
Hier bietet sich den Kommunen die Möglichkeit, die vielen kleinen Initiativen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzuführen, eine Koordinierungsfunktion zu übernehmen. Andere Formen der Kommunikation wie informelle Vernetzung, Runde Tische - und was sich sonst noch alles vor Ort tut - sind ein Zeichen für die Phantasie, bisher gewachsene Strukturen zu verlassen.
Ein Blick in andere Länder - dies ist von einer Vorrednerin schon gesagt worden - zeigt, daß sich dort manches anders entwickelt hat. In den Vereinigten Staaten ist nahezu jeder zweite in der einen oder anderen Form freiwillig tätig. Er genießt ein hohes Prestige, auch wenn seine ehrenamtliche Tätigkeit möglicherweise in keiner Beziehung zu seiner früher beruflich ausgeübten Tätigkeit steht. Aber diese Tätigkeit wird anerkannt, er genießt das Prestige, in einem anderen Lebensabschnitt in einer anderen Funktion freiwillig tätig zu sein. In Holland sind es 25 Prozent der Bevölkerung, die sich ehrenamtlich engagieren. Dort haben sich mittlerweile 120 Freiwilligenagenturen etabliert. Deshalb enthält auch der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen die Aufforderung an die Bundesregierung, zu sehen, wie sinnvoll die Förderung dieser Form der Vermittlung ehrenamtlichen Engagements ist. Wir haben dies als Prüfungsauftrag an die Regierung mit in den Antrag aufgenommen.
Wissenschaftliche Untersuchungen jüngsten Datums und die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage haben deutlich gemacht, daß Frühpensionäre, rüstige Senioren, Personen mit individueller, flexibler Arbeitszeitgestaltung oder arbeitslose Jugendliche bereit sind, sich - natürlich unterschiedlich stark - zu engagieren, wenn sie auf richtige Art und Weise angesprochen werden. Aber die Förderung dieses Engagements ist nicht dazu gedacht, um sich damit von Aufgaben, die teilweise klassische staatliche Aufgaben sind, zu entlasten oder sie abzuwälzen. Das würde dem ehrenamtlichen Engagement gerade nicht gerecht.
Ich glaube auch nicht, daß es sehr viel weiterhilft, zu versuchen, alles in ein zusätzliches Regelungskonzept zu zwängen. Ich glaube nicht, daß freiwilliges Engagement damit wirklich gefördert wird. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen sich - ein solcher Appell findet sich in unserem Antrag - gemeinsam darüber verständigen, wie freiwilliges Engagement im Rahmen des Arbeitslebens am besten gestaltet werden kann. Deshalb wollen wir keine festgeschriebenen bundeseinheitlichen Gesetze, die
keine Flexibilität ermöglichen. Die Arbeitgeber wissen, daß ihre Mitarbeiter, die sich freiwillig in einem Ehrenamt engagieren - das ist allseits bekannt -, eine positive berufliche Einstellung haben. Also besteht für die Arbeitgeber kein Grund, solche Mitarbeiter an die Seite zu drängen. Im Gegenteil: Arbeitgeber sollten auch unter diesem Aspekt alles tun, um das Ehrenamt von Arbeitnehmern zu fördern.
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Ein Schlußwort: Die Verpflichtung, in einer Gesellschaft auch für das Wohlergehen anderer mitverantwortlich zu sein, bedeutet keine Aufforderung zu heroischer Opferbereitschaft, sondern es geht ganz einfach um die Anerkennung der Tatsache, daß kein Mensch nur für sich leben kann, sondern für sein Wohlergehen auf andere angewiesen ist.
Vielen Dank.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, ehrenamtlich Arbeitende würden streiken. Ob Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Seniorinnen- und Seniorenvertretungen, Vereine, Kultureinrichtungen, Sportverbände, Kirchen, Parteien oder Justiz - sie alle sind auf Ehrenamtliche angewiesen und nehmen ihre Dienste gern in Anspruch.
Ehrenamtlich tätig zu sein, das heißt gesellschaftliches Engagement in den unterschiedlichsten Bereichen, das heißt Bereitschaft und Übernahme von Verantwortung. Ehrenamtlich tätig zu sein kann Befriedigung und Selbstwertgefühl verschaffen.
Heute, am „Tag des Ehrenamts", hagelt es mal wieder Sonntagsreden zur Hochschätzung ehrenamtlicher Tätigkeit. Für einen Moment erscheint der ansonsten graue Alltag unbezahlt geleisteter fürsorglicher Arbeit im Rampenlicht.
Auch die Bundesregierung bedient sich in der Antwort auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen zur „Bedeutung ehrenamtlicher Tätigkeit für unsere Gesellschaft" großer Worte, etwa wenn sie davon spricht, daß ehrenamtliche Tätigkeit „Ausdruck gelebter Solidarität" und der „Freiheitlichkeit unseres Gemeinwesens" sowie eine „Stütze des Sozialstaates " sei. In der Tat würde ohne ehrenamtliche Arbeit beispielsweise das gesamte System sozialer Dienste, die Versorgung von Hilfe- und Pflegebedürftigen zusammenbrechen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege spricht davon, daß 1,5 Millionen ehrenamtlicher Helferinnen eine Arbeitsleistung im Werte von 6,2 Milliarden DM erbringen, was der von 160 000 Vollbeschäftigten entspricht. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge geht davon aus, daß das Arbeitsvolumen ehrenamtlich Tätiger im sozialen Bereich durchschnittlich 20 Wochenstunden beträgt.
Ehrenamtliche Tätigkeit - und ich konzentriere mich heute ganz bewußt auf die im sozialen Bereich - ist sozusagen gesellschaftlich notwendige Arbeit zum Nulltarif.
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Die einseitige Zuweisung unbezahlter sozialer Arbeiten an Frauen gehört zu den Markenzeichen patriarchaler Gesellschaftsstrukturen.
Die Bundesregierung verweist zu Recht darauf, daß Frauen den größten Teil ehrenamtlicher Arbeit „vor Ort" leisten und vorwiegend im sozial-karitativen Bereich tätig sind, während Männer eher in Gremien und leitenden Ehrenämtern zu finden sind. Bezeichnenderweise ist der Frauenanteil dort besonders niedrig, wo die Aufgaben eng mit Leitungsfunktionen verbunden sind.
Die Bundesregierung sieht die „traditionelle Rollenzuweisung " als Ursache dafür, daß Frauen hauptsächlich in helfenden und dienenden Ehrenämtern tätig sind. Das stimmt zwar, aber ihre Politik baut noch immer darauf auf und zementiert sie. Frauen leisten 80 Prozent der ehrenamtlichen, unbezahlten sozialen Arbeit, während die gleiche Menge Männer Ehrenämter innehaben. Der Frauenanteil im Bereich der ehrenamtlichen Familien- und Altenhilfe beträgt nahezu 100 Prozent.
„Männer leiten - Frauen tragen die Kirche", lautet das Fazit einer Studie über ehrenamtliche Arbeit in der evangelischen Kirche in Bayern. Daraus ist übrigens auch zu erfahren, daß 50 Prozent der dort ehrenamtlich Tätigen kein eigenes Einkommen haben. Das finde ich schon alarmierend.
Ehrenamtlichkeit basiert auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit. Meiner Meinung nach ist die eigene wirtschaftliche Unabhängigkeit allerdings die beste Voraussetzung dafür, die Möglichkeit zu haben, sich frei für ein Ehrenamt zu entscheiden.
Leider sind bisher weder die Bedingungen, unter denen Frauen ehrenamtlich arbeiten, noch die Folgen, die sie durch ehrenamtliches Engagement zu tragen haben, angemessen betrachtet worden. Es sei „Pflicht des Staates" bzw. „gemeinschaftliche Aufgabe von Staat und Gesellschaft" - so die Bundesregierung -, „diese subsidiare Aufgabenwahrnehmung sich entfalten zu lassen". So weit, so gut. Aber wie sieht die Praxis aus? In diesem Zusammenhang ausgerechnet positiv auf die Regelung des § 20 SGB V zur Förderung von Selbsthilfegruppen und -kontaktstellen zu verweisen, halte ich nach Ihren Vorschlägen und Beschlüssen im Rahmen des „Sparpakets" für skandalös. Gerade die 2 Millionen in Selbsthilfegruppen organisierten Menschen haben in diesem Jahr schmerzlich erfahren, daß auch das, was sonnPetra Bläss
tags noch in Lobeshymnen hoch gekürt wird, montags schon dem Rotstift zum Opfer fallen kann.
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Zweifellos gewinnt die Attraktivität des Ehrenamtes mit der Aufwertung der geleisteten Arbeit. Gesellschaftliche Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit - sie kann sehr konkret aussehen. Die Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten nach Verbesserung der Rahmenbedingungen für das Ehrenamt konzentrieren sich jedenfalls immer wieder auf den Versicherungsschutz für ehrenamtlich Tätige, auf die Anerkennung erbrachter Leistungen in Form von rentenrechtlichen Anwartschaften, auf Bildungs- und Qualifikationsangebote sowie die Anerkennung der Qualifizierung als Bildungsurlaub, auf bundeseinheitliche Freistellungsregelungen, Steuerbefreiung für Aufwandsentschädigungen, steuerliche Absetzbarkeit der für die Ausbildung im sozialen Ehrenamt entstehenden Kosten sowie die Verankerung von Mitbestimmungsrechten ehrenamtlich Tätiger.
Meine Damen und Herren, wer sich immer noch wundert, warum in letzter Zeit das Ehrenamt so auffallend häufig zitiert wird, der oder dem empfehle ich die Lektüre des Leitartikels der FAZ von gestern:
... in Deutschland wie in den übrigen europäischen Ländern wird sich der längst überforderte Staat zurücknehmen, werden Privatinitiative und Selbstverantwortung größeres Gewicht erhalten müssen.
Auch die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort unmißverständlich auf den Zusammenhang zwischen der Zurücknahme sozialstaatlicher Leistungen und der Aufwertung des Ehrenamtes, wenn es heißt:
Angesichts neuer Herausforderungen ist unsere Gesellschaft in Zukunft mehr denn je auf die freiwillige und ehrenamtliche Mitarbeit ... angewiesen.
Oder:
Angesichts der Neuorganisation der kommunalen Haushalte findet die soziale Bewegung des Bürgerengagements neue Bedeutung.
Die derzeit und zukünftig vermehrt anfallende ehrenamtlich zu leistende soziale Arbeit steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der durch Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung geprägten Politik der Bundesregierung. Unbezahlt arbeitenden Frauen werden vermehrt Arbeiten aufgedrückt, die zuvor aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden.
Zu Recht verweist die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz auf die Gefahr, daß die weitere Ausweitung ehrenamtlicher Sozialarbeit zum Ersatz für bezahlte Arbeit werden soll. Damit aber wird das Ausmaß der Erwerbslosigkeit verschleiert, werden Frauen aus dem Arbeitsmarkt verdrängt, wird ihre Wiedereingliederung verhindert und werden Beschäftigungsgruppen segmentiert, und damit wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zementiert.
Ehrenamtliche Sozialarbeit wird Frauen immer dann als Ersatzarbeit angeboten, wenn ihre Arbeitskraft in bezahlter Erwerbsarbeit nicht gebraucht wird. Nicht selten werden vorher bezahlt geleisteten Arbeiten die Mittel im Zuge sozialstaatlicher Kürzungen wieder entzogen und wird die scheinbare Unbezahlbarkeit der Arbeit ideologisch aufgewertet.
Es ist schon bemerkenswert, in welchem Zusammenhang die Bundesregierung hier Klartext redet:
Die Wechselwirkung zwischen einem Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsfürsorge und dem ehrenamtlichen Engagement wird in Staaten, in denen freiwillige gemeinnützige Tätigkeit verbreitet ist, mit einer gewissen Besorgnis gesehen.
Man tut also so, als ob man damit gar nichts zu tun hätte. Und auf die Frage nach der Wertschöpfung der ehrenamtlichen Tätigkeit wird in bezug auf den Arbeitsschutz festgestellt:
Ohne das Engagement in den verschiedenen Gremien ... müßte diese Arbeit entlohnt oder durch Einstellung von Personal sichergestellt werden, was zu einer weiteren Belastung öffentlicher Haushalte führen würde.
Hört! Hört! kann man da nur sagen.
Das Ehrenamt ist kein Ersatz für die Erwerbsarbeit von Frauen, ist kein Mittel, um Lebensunterhalt zu verdienen und kann weder materiell noch ideell eine Alternative zur bezahlten Arbeit sein. Statt dessen müssen Konzepte entwickelt werden, wie die begrenzt vorhandene bezahlte Arbeit und die im Überfluß vorhandene unbezahlte Arbeit auf mehr Menschen beiderlei Geschlechts verteilt werden kann.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Professor Rita Süssmuth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist uns heute seit Jahren, wenn nicht überhaupt das erste Mal gelungen, uns seit 1985 in die Tradition anderer Länder, europäisch und international, einzufügen und diesen Tag - der im Englischen „the day of the volunteers", heißt Ehrenamtstag - in einer angemessenen Weise auch auf der Ebene Bonns zu gestalten.
Glauben Sie mir: Diejenigen der freiwilligen Helfer, die heute zu uns gekommen sind, sind nicht in erster Linie gekommen, um schöne Worte von uns zu hören. Wichtig ist ihnen - das ist heute in den Gesprächen deutlich geworden -, mit uns zu sprechen. Ich möchte diesen Aspekt an den Anfang stellen. Sie sind mitnichten gekommen, weil sie von uns heute erwarten, daß wir endlich die Geldströme fließen lassen, von denen die Rede ist. Ganz entscheidend ist vielmehr für sie: Wie nehmt ihr uns wahr? Was wißt ihr überhaupt von unserer Arbeit? Was wißt ihr von den Bereichen, in denen wir tätig sind? In welcher
Weise haben wir euch etwas zu sagen, also nicht nur wir als Politiker ihnen?
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Ich danke all denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die heute hier im Parlament Gespräche mit den Ehrenamtlichen führten. Ich danke auch unserem Bundespräsidenten dafür, daß er die neue Tradition begründet hat, mit den Ehrenamtlichen im Bundestag zusammenzukommen.
Während wir jetzt hier diskutieren, führt die neue Organisation, die UN-Gruppe der Freiwilligen, deren Sitz noch nicht lange in Bonn ist, im Wasserwerk ein Kolloquium zur Arbeit der Freiwilligen im internationalen Bereich durch.
Ich möchte uns bei allen Veränderungen des Ehrenamtes davor warnen, die religiös Gebundenen gegen die nicht religiös Gebundenen auszuspielen. Denn beide Gruppen haben ihren Stellenwert. Unabhängig von der Lage in Deutschland ist zu fragen: Was wäre denn in Afrika oder Südamerika ohne das Engagement der kirchlichen und der nicht kirchlichen Gruppen?
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Ich muß Ihnen sagen: Die katholischen Pfadfinder begeistern mich im Sommer genauso sehr wie die nicht katholischen. Von daher sollte uns dieser Aspekt nicht bedrücken. Es sind immer wieder Idealisten, die hinter dem Ehrenamt stehen und nicht fragen: Wie hoch ist mein Honorar, sondern fragen; Was kann ich tun?
In der Tat geht es hier nicht darum - das sage ich mit aller Deutlichkeit -, das Ehrenamt als einen Ersatz für den Sozialstaat, als Alibi oder - wie es im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen heißt - als „Ausfallbürge" herauszustellen. Das sind zwei Säulen. Wir sind uns zumindest darin einig, daß ein Sozialstaat nicht ohne das Engagement der Freiwilligen existieren kann, daß übrigens eine Demokratie nicht ohne die Initiative der Menschen existieren kann, die nicht warten, bis der Staat das richtet, was sie selber zu richten vermögen.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße?
Ja, bitte.
Frau Dr. Süssmuth, hier wird der Anschein erweckt, als ob es eine Barriere zwischen Bundestagsabgeordneten und ehrenamtlich Tätigen gäbe. Ich möchte Sie doch einmal fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß auch Bundestagsabgeordnete seit Jahren bzw. Jahrzehnten - auch wir alle, die wir hier sitzen - in zahlreichen Ehrenämtern zusätzlich
tätig sind. Vielleicht sollte man auch einmal ein Wort in dieser Hinsicht sagen.
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Ich halte Ihre Frage für berechtigt. Vor vier Wochen haben wir hier mit Frauen und Männern aus verschiedenen Initiativen und Verbänden Gespräche geführt. Just bei der Frage, was die Parlamentarier von ihrer Arbeit wüßten, haben wir geantwortet: Schauen Sie sich das Handbuch des Deutschen Bundestages an. Dann werden Sie feststellen, wie viele Abgeordnete neben ihrem Abgeordnetenamt in zahlreichen Ehrenämtern tätig sind. Sie haben dies ja soeben auch gehört, als ich von unserem verstorbenen Kollegen Karl Fell sprach. Das gilt für viele. Viele kommen sogar vom Ehrenamt zum politischen Engagement.
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Ich sagte gerade: Sozialstaat und Ehrenamt dürfen keine Gegensätze sein. Das, was Hauptamtliche und Ehrenamtliche leisten, sind jeweils andere Aktivitäten. Es geht darum, klarzustellen, daß das Ehrenamt nicht das leisten kann, was materielle Existenzsicherung ausmacht. Das Ehrenamt kann die hauptberuflichen Dienste nicht ersetzen. Aber wie sähe es in unseren Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und Alteneinrichtungen aus, wenn es nicht gleichzeitig neben den Hauptamtlichen viele Ehrenamtliche geben würde, die in diesen Einrichtungen unterschiedlichste Dienste versehen?
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Wir vergessen, daß wir in der Bundesrepublik einen sehr ausgeprägten Bereich von professionellen Kräften haben. Mitte der 60er Jahre gab es 69 000 Hauptamtliche in sozialen Diensten; zu Beginn der 80er Jahre waren es 654 000. Daran sehen Sie, wie die Zahl an Hauptamtlichen zugenommen hat. Allerdings gibt es seit Mitte der 70er Jahre, insbesondere seit den 80er Jahren, eine Veränderung in den hauptamtlichen und den ehrenamtlichen Tätigkeiten. Dabei ist ein Punkt entscheidend: Die Ehrenamtlichen möchten nicht sozusagen als das Fußvolk der Hauptamtlichen behandelt werden.
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Die ehrenamtlichen Helfer haben vielmehr den Anspruch, daß sie trotz unterschiedlicher Kompetenzen gleichberechtigt eingesetzt werden.
Für mich ist das Folgende wichtig: Eine Demokratie hat ihren Anspruch auf Freiheit verwirkt, wenn sie nicht in der Lage ist, Menschen mit Initiative hervorzubringen. Zum Ehrenamt in der Demokratie gehört ein Stück erfahrener und gelebter Solidarität. Die Rahmenbedingungen für das Ausüben von Solidarität können mit Gesetzen geschaffen werden,
aber die Umsetzung muß durch die Menschen selbst erfolgen.
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Gestern abend sagte mir der italienische Parlamentspräsident - Sie wissen, Italien hat eine große Tradition, was freiwillige Helfer angeht -, daß es nicht nur um die Kultur der Solidarität geht, sondern daß die Menschen ganz praktisch die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen erleben. Das ist das eine. Das andere ist: Warum interessiere ich mich als Parlamentarierin und als Bürgerin für diese ehrenamtlichen Initiativen? Ich tue dies, weil wir von diesen Initiativen mit Blick auf Innovationen eine Menge lernen können. Es geht nicht nur darum, zu helfen, sondern es geht auch darum, Neues zu entwickeln. Die ehrenamtlichen Initiativen sind sozusagen ein Sauerteig für Innovationen.
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Es gibt auch einen Punkt der Kritik. Es ist eine Binsenweisheit, daß wir Frauen überwiegend im Ehrenamt tätig sind.
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Wenn wir so viel politischen Einfluß hätten, wie wir ehrenamtliche Arbeit leisten, dann wäre es mit der Bundesrepublik zum besten bestellt.
({6}) Das ist aber noch längst nicht der Fall.
Wichtige Innovationen sind von den Frauen ausgegangen. Ich nenne zum Beispiel den Bereich des Gesundheitswesens. Die Frauen haben in Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen - unabhängig davon, ob es sich um Patienten mit Krebs, Multipler Sklerose, Morbus Crohn oder anderen chronischen Krankheiten handelte - sehr viel geleistet. Dennoch haben die Ärzte zunächst gefragt: Was wollen die Frauen mit dieser Arbeit erreichen? Sisyphus! Die haben doch keine Ahnung. - Inzwischen wissen die Ärzte, wie unentbehrlich die Frauen sind.
Ich denke, daß diese Arbeit ein unverzichtbarer Teil der Selbsthilfe ist und in unserem Reformwerk für das Gesundheitswesen beachtet werden muß. Es gibt Überflüssiges und Notwendiges,
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und wir müssen unterscheiden zwischen dem Überflüssigen und dem Notwendigen. Diese Selbsthilfegruppen haben einen entscheidenden Anteil an der Lebensqualität von chronisch Kranken, indem sich die Mitglieder dieser Gruppen untereinander helfen.
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Frau Präsidentin, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Haack.
Ja.
Frau Präsidentin, ich höre sehr gerne, wie Sie die Selbsthilfegruppen in den Vordergrund des ehrenamtlichen Engagements stellen. Da ich der Berichterstatter meiner Fraktion für Prävention und Rehabilitation bin, habe ich folgende Frage an Sie. Mit dem Strukturgesetz, das die Koalition für das Gesundheitswesen vorgelegt hat - NOG 1 und NOG 2 -, würden die finanziellen Grundlagen der Selbsthilfegruppen zerstört. Wie vereinbart sich dieser Entwurf der Koalition, der im Gesundheitsausschuß beraten wurde und der zu Demonstrationen am 3. Dezember geführt hat, mit dem, was Sie hier vortragen?
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Es gibt drei Bereiche: Wie sieht es künftig mit den Heil- und Hilfsmitteln aus? Wie sieht es mit der häuslichen Krankenpflege aus? Wie sieht es mit dem Bereich der Prävention aus? Hier ist manches Störfeuer am Werk. Man muß in der Tat unterscheiden zwischen dem, was weiterhin notwendig ist, und dem, was überflüssig ist. Ich füge hinzu: Die Krankenkassen haben sehr rasch gesagt, daß alles ersatzlos gestrichen werde. Damit haben sie die Menschen sehr verunsichert.
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Sie erinnern sich an die Schlagzeile „11,5 Milliarden weg". Trotzdem nehme ich Ihre Kritik ernst; denn auch wir als Abgeordnete haben gefragt: Wo wird es Härten geben, bei den Behinderten, bei den Logopäden oder bei der Hospizbewegung? Sie wissen sehr wohl, daß wir dabei sind, Mißverständnisse auszuräumen und Korrekturen, die wir für notwendig halten, durchzuführen. Ehrlicherweise muß aber auch gesagt werden: Nicht alles, was unter dem Stichwort der Prävention in den letzten Jahren von den Krankenkassen auf den Weg gebracht worden ist, war vernünftig. Es gab Vernünftiges und Unvernünftiges.
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Ich glaube, es gilt jetzt, zu erhalten, was vernünftig war.
Da mir die Zeit davongelaufen ist, möchte ich zum Schluß noch folgende Gedanken ausführen.
Ich war beim Stichwort Innovation. Das gilt für den Gesundheitsbereich, das gilt für die Kinderbetreuung. Da ist von den Frauen Entscheidendes auf den Weg gebracht worden. Das gilt für den Umweltbereich, für den Wohnbereich, auch für Teile der Arbeit von Initiativen. Ich möchte allerdings zum Umdenken der traditionellen Verbände auch sagen: Wenn wir heute hören, daß die Caritas - in der Diakonie ist es nicht anders - zehn Einrichtungen zur
Aus- und Weiterbildung der Ehrenamtlichen schafft, so hat auch dort ein Umdenken stattgefunden.
Ich wünschte mir, daß Menschen, die sich in unserer Gesellschaft ehrenamtlich betätigen, bei der Bewerbung keinen Malus haben, aus Angst davor, es könnte sich auf die Arbeitszeit auswirken. Umgekehrt muß das ein Bonus sein.
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Das gilt auch bei der Vergabe von Stipendien. Das gilt in den verschiedensten Bereichen. Bei uns wird das Ehrenamt eher versteckt, als daß es wirklich zum Vorteil gereicht.
In diesem Bereich müssen wir, was das Parlamentarische betrifft, auch einmal durchforsten, wo wir Barrieren abbauen müssen. Es kann nicht sein, daß diejenigen, die sich als Arbeitslose engagieren und die selbst etwas auf den Weg bringen, dies angerechnet bekommen und diejenigen, die nichts tun, die volle Höhe des Arbeitslosengeldes bekommen. Hier ist das AFG zu ändern. Da gebe ich schon denen recht, die sagen: Schaut euch an, wo ihr das Ehrenamt behindert, und beseitigt die Hindernisse.
Ich sage Ihnen: Eine Demokratie ist nur so viel wert, wie sie gelebt wird. Deswegen Dank auch an die Initiativgruppe, die zum Tag des Ehrenamtes einen Preis in Höhe von 40 000 DM ausgeschrieben hat, damit diejenigen, die sich engagieren, ins öffentliche Bewußtsein gelangen. Denn um die öffentliche Diskussion des Ehrenamtes ist es in der Bundesrepublik nicht zum besten bestellt.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Hagemann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir die ehrenamtliche Arbeit oder die Freiwilligenarbeit gerade in den Jugendverbänden weiterentwickeln wollen - wir sind uns alle darüber einig, daß wir das tun müssen -, dann darf das nicht nur in Sonntagsreden geschehen, wie heute am Internationalen Tag des Ehrenamtes, sondern dann müssen wir auch klare Perspektiven aufzeigen.
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Nach Aussagen der Regierung sind zirka 17 Prozent der Bevölkerung bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren, sich einzusetzen für andere Menschen. Aber - das müssen wir auch sehen, und das ist noch nicht zum Ausdruck gebracht worden - viele belächeln und bespötteln diese materiell wenig ergiebige Tätigkeit. Für das Ehrenamt bleibt bei vielen nur ein müdes Lächeln übrig. Das sollten wir auch einmal in die Diskussion einbringen.
Auffällig ist es schon, daß die Koalition das Thema Ehrenamt in der jetzt schwierigen Phase der Wirtschaft, der Massenarbeitslosigkeit und höchster Staatsverschuldung ganz vorne auf die Tagesordnung gesetzt hat. Ich hoffe nur, daß dieses wichtige gesellschaftspolitische Thema nicht nur instrumentalisiert werden soll.
Die ehrenamtliche Jugendarbeit in Verbänden und Vereinen - das ist jetzt mein Spezialthema - darf nicht nur ein Lückenbüßerthema sein, um fehlende öffentliche Leistungen auszugleichen. In einem Papier der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend heißt es - ich zitiere -:
Oft entsteht der Eindruck, als gewinne ehrenamtliche Tätigkeit erst in dem Maße an Bedeutung und Interesse, wenn die öffentlichen Haushalte in einen Engpaß geraten ... Ehrenamtliche Tätigkeit darf nicht als Alibi für das Nichthandeln der öffentlichen Hand herangezogen werden. Freiwillige Helfer müssen wissen, daß sie nicht als der „billige Jakob" der Sozial-, Jugend- und Familienpolitik mißbraucht werden.
Ich glaube, diesem Satz ist nichts hinzuzufügen. Ich stehe jedenfalls hinter ihm.
Nein, die Leistungen aus ehrenamtlicher Tätigkeit müssen die Qualität des Sozialstaates sichern und nicht seinem Abbau dienen. Das soziale Engagement der Mitarbeiter in der Jugendarbeit darf nicht den Abbau öffentlicher Leistungen nach sich ziehen. Wenn die Koalition jetzt die hundertprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für die in der Jugendarbeit oder in anderen Bereichen Tätigen aufgehoben hat, dann ist dies ein Tritt gegen das Schienbein all derer, die sich ehrenamtlich engagieren.
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In der Antwort der Regierung auf die Große Anfrage ist sehr beeindruckend aufgelistet und berechnet worden - wir haben es heute schon mehrfach gehört -, welche gesellschaftspolitisch wertvolle Arbeit von den Ehrenamtlichen erbracht wird; Leistungen, die der Staat oder die Allgemeinheit nicht finanzieren können. Deswegen muß der Staat ein Interesse daran haben - und entsprechende Konzepte entwikkeln -, daß diese Arbeit mehr Anerkennung und mehr Aufmerksamkeit findet. Die Verbände selbst - ich spreche hier von den Jugendverbänden -, aber auch wir in der Politik auf allen politischen Ebenen müssen neue Wege suchen, wie ehrenamtliche Jugendarbeit beispielsweise zukunftsfähig ist.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen sind keine konkreten Vorschläge enthalten. Die erkennbare Hauptlinie könnte man auch so interpretieren: Nur kosten darf es alles nichts. Wenn Sie, Frau Professor Dr. Süssmuth, eben von „Strömen von Geld" gesprochen haben, die gefordert werden, so ist auch das zurückzuweisen. Es müssen wenigstens die Kosten, die den Menschen entstehen, auch wieder ausgeglichen werden. Es geht nicht um Ströme von Geld oder um das, was hier schon erwähnt worden ist.
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Aber es geht auch nicht nur mit etwas Kosmetik, mit ein paar Orden, ein paar Urkunden oder ZertifiKlaus Hagemann
katen. Mit all diesen Dingen ist Anerkennung für das Ehrenamt nicht zu erreichen. Sicherlich ist es nicht falsch, wenn man das tut, ebenso wie eine bessere Medienarbeit. Da stimme ich Ihnen Herr Riegert, voll und ganz zu. Aber das genügt nicht. Die Politik auf allen Ebenen ist gefordert, für die ehrenamtliche Jugendarbeit die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen.
Dazu gehören eben auch hauptamtliche Kräfte. Es ist der falsche Ansatz, wenn im Antrag der Koalition die Rede davon ist, die Zahl der Hauptamtlichen zu reduzieren. Wir dürfen auch keinen Gegensatz zwischen hauptamtlich Tätigen und den vielen ehrenamtlich Tätigen herstellen. Wir müssen eine gemeinsame Linie entwickeln.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bedingungen für die Jugendarbeit sind heute oft schwierig geworden, so daß ohne Hauptamtliche vieles gar nicht mehr geregelt werden kann. Haben Sie sich schon einmal den Antragswirrwarr und die komplizierten Abrechnungsmodalitäten näher angeschaut, die notwendig sind, wenn Verbände Zuschüsse beantragen oder an Fördertöpfe der Europäischen Union heranwollen? Hier kommt man ohne die Hilfe der Hauptamtlichen gar nicht mehr aus.
Was nützen die schönsten Gesetzestexte im KJHG, was nützen die schönsten Aussagen über das Ehrenamt wie am heutigen Tag, wenn vor Ort die Rahmenbedingungen nicht mehr ausreichend sind, wenn in vielen Gemeinden die Infrastruktur für die praktische Jugendarbeit oder ehrenamtliche Arbeit allgemein abnimmt, wenn Jugendhäuser und Jugendtreffs, Sportplätze, Schwimmbäder, Kultureinrichtungen teilweise oder ganz geschlossen werden müssen, weil die Gemeindekassen eben leer sind, wenn Freizeiten, Veranstaltungen, Fortbildungsmaßnahmen oder ähnliches entfallen müssen oder eingeschränkt werden, weil die Anschubfinanzierung durch kommunale Zuschüsse nicht mehr möglich ist? Hinzu kommt, daß die Einnahmen der Kirchen, Vereine und Verbände deutlich nach unten gehen.
Dann schaffen Sie von der Koalition auch noch die Vermögensteuer ab.
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Es paßt nicht zusammen, wenn die Finanzen in den Gemeinden nicht mehr stimmen, weil die Einnahmeseite in den Gemeindekassen nicht mehr korrekt ist.
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Durch Ihre Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik sind die Gemeindekassen völlig ruiniert worden.
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- Gehen Sie in die Dörfer und Städte, und sehen Sie nach.
Viele Maßnahmen werden gestrichen oder eingeschränkt. Das wiederum fördert den Frust bei denen, die ehrenamtliche Jugendarbeit oder andere ehrenamtliche Arbeit erbringen wollen. Die Jugendverbände haben eine Reihe von Änderungs- und Verbesserungsvorschlägen vorgelegt, die es wert sind, darüber in der anstehenden Diskussion in den Ausschüssen nachzudenken.
Beim BAföG, bei der Studienplatzvergabe, beim Einsatz im Wehr- oder Zivildienst müssen die ehrenamtlich Tätigen besser gefördert und unterstützt werden. Diejenigen, die ehrenamtlich wirken, dürfen durch ihren Einsatz für die Allgemeinheit nicht noch Nachteile haben - ich habe das vorhin schon einmal angesprochen -, wenn sie schon bereit sind, ihre Freizeit und ihren Urlaub einzubringen. Deshalb muß man auch auf diesem Sektor über eine Art Aufwandsentschädigung nachdenken. Für den Vorschlag des Deutschen Bundesjugendrings, eine Jugendleiter-Card einzuführen, spricht schon einiges. Wir sollten diese Anregung auch weiter verfolgen.
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Schließlich klagen alle Verbände, daß es in den Schulen sowie bei den öffentlichen und privaten Arbeitgebern immer wieder Probleme mit den Anträgen auf Freistellung für ehrenamtliche Tätigkeit gibt. Hier gibt es unterschiedliche Landesregelungen. Auch die Jugendverbände sind mit den Arbeitgebern im Gespräch, Lösungen für eine bessere Regelung zu finden. Aber diese gelten immer nur im Einzelfall. Deshalb muß eine möglichst bundesweit gültige Regelung gefunden werden, die für alle die gleichen Voraussetzungen schafft.
Wenn die Arbeitgeber klagen, daß hier Verluste festzustellen sind, dann möchte ich mit dem Bundesverfassungsgericht, das 1983 dazu geurteilt hat, sagen,
daß ehrenamtliche Mitwirkung in der Jugendarbeit geeignet ist, Fähigkeiten des Arbeitnehmers zu entwickeln und zu fördern, die auch dem Arbeitgeber zugute kommen können.
Solche Fähigkeiten wie Eigeninitiative, Verantwortungsbereitschaft, Menschenführung und das Treffen von Entscheidungen sind auch für die Betriebe und die Arbeit in den Betrieben sicherlich von Vorteil.
Mit Professor Rauschenbach, einem Fachmann der Universität Dortmund, sehe ich die Zukunftsfähigkeit für das Ehrenamt in der Jugendarbeit: Wenn die Gesellschaft, der Staat und die Politik dies fördern, und zwar nicht nur mit guten Worten und einem warmen Händedruck, und wenn sich das Ehrenamt konsequent auf viele Schultern beiderlei Geschlechts und jedes Alters verteilt, dann hat das freiwillige soziale Engagement eine Chance, ein wichtiger Bestandteil des öffentlich-sozialen Lebens und einer neuen Kultur des Sozialen zu werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt Herr Kollege Börnsen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe sehr aufmerksam zugehört. Alle, die bisher gesprochen haben, sind nicht der Versuchung erlegen, eine Sonntagsrede zu halten. Im Gegenteil: Sie haben sich mit dem Thema angemessen und verantwortungsbewußt auseinandergesetzt. Das ist ein gutes Beispiel, das unsere Kollegen heute gegeben haben.
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„Schützen Sie das Ehrenamt vor dem Zugriff des Staates", schrieb mir der Vorsitzende der Versehrten- und Behinderten-Sportgemeinschaft Flensburg zum Thema Ehrenamt.
Es geht weder um Geld und Gut noch um Privilegien und Positionen. Nein, was uns fehlt, sind Verständnis und Vertrauen der Gesellschaft in unsere Tätigkeit, Anerkennung und Ansporn durch die Repräsentanten unseres Staates und eine faire Aufklärung über den Dienst, den wir für unsere Demokratie leisten.
So ist in dem Brief aus der Fördestadt zu lesen.
Die 17jährige Leiterin einer Jugend-RotkreuzGruppe brachte es auf den Punkt:
Ehrenamt? - Ein dickes Fragezeichen. - Mir geht es nicht um die Ehre. Um der Sache willen leiste ich meine Aufgabe, weil sie mir trotz aller Last Freude bereitet, Erfüllung vermittelt.
„Endlich kommt jemand auf den Einfall, beim Thema ,Ehrenamt' die Betroffenen nach ihrer Einschätzung zu fragen" , stand am Anfang eines Antwortbriefes eines Kreisjugendring-Vorsitzenden aus dem Norden Schleswig-Holsteins. Viel Amt, wenig Ehre - so lautete seine Situationsbeschreibung.
Bei langfristigen Bindungen - so sagt er weiter trifft die „Nullbock-Position" vieler Jugendlicher zu; aber kurzfristig bei einem Projekt dabei zu sein, da machen viele mit.
Gut 600 000 sind es, die in Deutschland Führungsfunktionen in traditionellen Jugendverbänden wahrnehmen. Auf 300 000 schätzt man die Zahl der jungen Generation, die sich in Freiwilligenzentren, Provjektgruppen und Bürgerinitiativen verschiedenster Art kurzfristig verantwortlich fühlen. Ihre Zahl steigt.
Das Lied von der Abkehr der Jugend von Staat und Gesellschaft singe ich nicht mit. Nein, die Bereitschaft zum Gemeindienst hat sich nicht geändert. Die Form der Mitwirkung ist eine andere geworden. Der beklagte Wertewandel hat nicht nur zu mehr Individualität, Pluralismus und Differenzierung geführt, sondern auch zu einer Renaissance von Gemeinschaftswerten.
Helfen und heilen zu wollen sind als eine Grundmotivation ebenso aktuell wie mittun, mitwerken, mitgestalten und mitändern zu wollen. Um es einfach zu sagen: Die Nächstenliebe ist geblieben. Pauschal die soziale Kälte zum Wesensmerkmal unserer Gesellschaft auszuweisen, ist falsch. Festzuhalten bleibt: Ehrenamtsdienst bleibt die Bereitschaft einer ganz großen und großartigen Minderheit von - das wurde jetzt festgestellt - 17 Prozent unserer Gesellschaft.
Richtig ist: Die Mitwirkung in den traditionellen Verbänden sinkt. Die Zahl der Kurzzeitaktivitäten aber steigt. Das ist keine Krise, aber Anlaß genug für eine Bestandsaufnahme.
Es ist schon richtig, daß die Anforderungen an die junge Generation in Schule, Freizeit und vielen anderen Bereichen gestiegen sind und auf Grund dessen die Mitwirkung eine andere geworden ist. Aber auch der Versuch vieler Verbände, sie in das Korsett von Verbandsstrukturen einzubinden, und die Anforderung, im Ehrenamt mehr Sachkompetenz zu zeigen, wirken hemmend, hindernd, destruktiv und demotivierend. Hinzu kommt das Regelungsbewußtsein in vielen Bereichen.
Ich habe zur Vorbereitung einer internationalen Jugendbegegnung insgesamt 30 Auflagen zu erfüllen.
So schrieb ein Jugendgruppenleiter.
Jede Maßnahme, von Verhandlungen mit der Jugendherberge über den Gesundheitscheck bis hin zum Zuschuß für sozial Schwache und die Reiseplanung, führt zu 3-4 weiteren Vorgängen.
Das heißt: Gut 100 Einzelmaßnahmen hat ein Jugendgruppenleiter zu vollziehen, bevor es tatsächlich zur Reisedurchführung kommt. Das ist ein Wust an Ballast, ein Wust an Bürokratie, es ist ein Paragraphendschungel. Dieser gehört durchforstet, damit die in der Jugendverbandsarbeit und in der Freiwilligenarbeit Tätigen dazu beitragen können, offener, freier und verantwortlicher zu arbeiten.
Ehrenämter, so stellt eine Studie der Kieler Landesregierung fest, sind ebenso Frauen- wie Männersache. Frauengeprägt sind die sozialen Dienste mit fast 75 Prozent; im Sport-, im Verbands- und im Politikbereich dominieren immer noch die Männer. Beides läßt sich neu mischen. Imponierend ist schon, daß sich nach der Studie in Schleswig-Holstein jeder Vierte in unserer Gesellschaft aktiv einbringt, ehrenamtlich arbeitet.
Die Kollegin Faße hat es gerade schon angesprochen: Wenn man auf das Thema Ehrenamt kommt, muß man auch zu den eigenen Kolleginnen und Kollegen Stellung nehmen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben sich wahrlich nicht zu verstecken, wenn es um das Thema Ehrenamt geht. Wenn man den Kürschner durchblättert, dann muß man feststellen, daß mehr als 600 von uns ein soziales, kulturelles, sportliches, verbands- oder politikbezogenes Ehrenamt leisten. In Anlehnung an einen bekannten Schlager oder Chanson könnte man sagen: Rita tut es, Rudolf tut es, Lisa tut es, Theo tut es, Rezzo tut es. Über 600 Abgeordnete tun es! Man kann von 3 bis 33 Mitwirkungen pro Parlamentarier ausgehen. Wenn man nur drei pro Parlamentarier nimmt, dann sind im Deutschen Bundestag über
Wolfgang Börnsen ({1})
2 000 ehrenamtliche Dienste zu verzeichnen. Immerhin, ein wenig können wir auf uns stolz sein!
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Ihre Redezeit ist vorbei, aber es besteht noch der Wunsch des Kollegen Kröning nach einer Zwischenfrage. Dann könnten Sie noch ein bißchen mehr sagen. - Bitte.
Herr Kollege Börnsen, Sie sind laut Handbuch des Bundestages Freizeitpädagoge und haben eben noch einmal die Rahmenbedingungen des Ehrenamtes angesprochen. Ich frage Sie, was Sie von der These der Freizeitwissenschaft halten, daß man in der Regel für die Ausübung eines Ehrenamtes Geld und Zeit braucht, und was Sie von dem Dilemma halten, in dem das Ehrenamt heute steht, daß nämlich bei vielen entweder die Zeit oder das Geld zur Ausübung eines Ehrenamtes fehlt.
Ich habe deutlich zu machen versucht, daß sich das Ehrenamt in einem Wandel befindet, daß wir durch die demographischen Verhältnisse, durch Internationalität, aber auch durch die völlig anderen Zeitkomponenten eine völlig neue Situation habe und daß sich junge Leute darauf einstellen. Das heißt, sie versuchen, Kurzzeitaktivitäten wahrzunehmen, weil sie die Einbringung von viel Zeit scheuen. Aber was sie erwarten und was sie wollen - das wird auch praktiziert, ich bin lange Zeit Vorsitzender eines Kreisjugendrings gewesen und komme aus der Praxis der ehrenamtlichen Jugendarbeit -, ist, daß ihr Aufwand ausgeglichen wird. Das wird heute von Kommunen, von Kreisen und Städten geleistet. Aber das ist auch alles, was sie fordern. Sie wollen keine Bezahlung. Das, was man vielen Jugendlichen Unterstellt, daß sie nur noch die Hand aufhalten, um gewissermaßen ihren Beitrag zur Gesellschaft dann auch honoriert zu bekommen, trifft einwandfrei nicht zu. Wir haben bei der jungen Generation einen großartigen Idealismus. Auch die Freizeitforschung - wenn Sie darauf abstellen - weist das nach.
Die Formen haben sich geändert, aber nicht die Einstellung. Sie ist wahrlich geblieben. Es täte uns allen gut, wenn wir versuchen würden, auf die neuen Formen, die neuen Wertvorstellungen einzugehen. Wir könnten dazu beitragen, zum Beispiel in einer nationalen Ehrenratskonferenz diese Problematik noch stärker in unserer Gesellschaft zu verdeutlichen. Damit könnten wir einen Ansporn geben, diese neue Einschätzung in der ehrenamtlichen Tätigkeit wahrzunehmen und umzusetzen.
Die Vorredner - das haben Sie gehört - haben sehr deutlich darauf aufmerksam gemacht, welche Möglichkeiten es darüber hinaus gibt, bei denen junge Leute sagen: Ja, das ist richtig. Vom Bonus beim Einsatz im zivilen Bereich, vom Bonus beim BAföG, vom Bonus bei der Studienplatzvergabe und in vielen anderen Bereichen sagen sie: Wenn wir uns schon engagieren, dann respektiert das auch durch eine bestimmte gesellschaftliche Leistung.
Herr Kollege Riegert möchte auch noch eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie die auch noch beantworten?
Gerne.
Kollege Börnsen, ich möchte natürlich nicht fragen, warum Sie den Vornamen Klaus nicht in Ihrer Aufzählung hatten, sondern ich möchte Sie fragen, wie Sie folgendes Zitat werten:
Die von Ehrenamtlichen geleisteten Einsatzstunden werden auf der Basis eines fiktiven Stundenlohnes in Milliarden DM umgerechnet, um den Wert der ehrenamtlichen Arbeit deutlich zu machen.
- Das ist ein Mißverständnis. Damit wird ehrenamtliche Arbeit ihres eigentlichen Wertes beraubt, denn das freiwillige Engagement im Dienst an der Gesellschaft - ob bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Sport, im Sozialen oder sonstwo - zieht seinen besonderen Wert daraus, daß es nicht nach der Bezahlung fragt. Gerade darin liegt nach herkömmlichem Sprachgebrauch die „Ehre". Wer das Ehrenamt in Geld mißt, leistet der Materialisierung in unserer Gesellschaft weiteren Vorschub. Dann darf es nicht wundern, wenn nur noch das etwas wert ist, was auch etwas kostet bzw. bezahlt wird.
Herr Kollege, Sie müßten eine Frage stellen.
Einen Satz noch.
Statt in Milliarden Mark sollten die Stunden ehrenamtlichen Einsatzes lieber in Milliarden Stunden Spaß, sozialen Lernens, Empfangen von Hilfe und menschlicher Zuwendung bei den Mitgliedern bzw. Betreuten umgerechnet werden.
Herr Kollege Börnsen, was halten Sie von diesem Zitat? Es ist im übrigen nicht von mir, sondern von der SPD-Sportdezernentin der Stadt Frankfurt, Frau Schenk.
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Lieber Klaus Riegert, ich halte es für notwendig, einmal deutlich zu machen, daß es Einverständnis quer durch alle Fraktionen darüber gibt, das Ehrenamt als unentgeltliche Leistung an unserem Gemeinwesen zu verstehen. Darin liegt auch der eigentliche Sinngehalt des Ehrenamtes, nämlich darin, daß man seinem Leben Sinn durch die Ausübung einer unentgeltlichen, gemeinwohlbezogenen Tätigkeit geben kann. In dieser Beziehung teile ich die Ansicht, die in dem Zitat geäußert wird. Ich denke auch, daß wir einer Diskussion, die darauf abzielt, alles materiell abzusichern und alles materiell zu betrachten, keinen Vorschub leisten sollten. In der heutigen Diskussion in diesem Haus haben fast alle Beiträge deutlich gemacht, daß wir das nicht wollen, daß wir vielmehr
Wolfgang Börnsen ({0})
wollen, daß der Idealismus gestützt, getragen, gefördert wird. Insofern bin ich für Ihre Frage dankbar. Beim nächsten Mal nehme ich Sie gern in die Liste mit auf und sage: Auch Klaus tut es.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Ingrid Holzhüter.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Wir führen heute sicherlich eine Debatte, die für viele Millionen Bürger draußen im Lande sehr wichtig ist. Das Ehrenamt und die Menschen, die sich auf ihre Weise darin engagieren, zu loben, das fällt uns sicher nicht schwer; denn unbestreitbar leisten die Ehrenamtlichen einen hervorragenden Beitrag für unseren Sozialstaat. Bei dieser Bundesregierung lernt man aber immer wieder, daß dann, wenn Sonntagsreden gehalten werden, in der Regel Gefahr im Verzug ist.
Herr Kollege Börnsen, ich empfinde manches, was hier gesagt wurde, schon als Sonntagsrede, weil ich weiß, daß an den Stammtischen und anderen Stellen ganz andere Aussagen zu diesem Thema gemacht werden und sehr wohl beklagt wird, daß manches anders sein könnte.
Es ist schon überraschend, daß die Union gerade jetzt die Ehrenamtlichen entdeckt, da sie eine große Steuerreform mit Blick auf den Wahlkampf 1998 vorbereitet.
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Sie wissen doch ganz genau, daß Sie diese Steuerreform gegenfinanzieren müssen. Auch Ihnen, Herr Westerwelle, dürfte das nicht unbekannt sein.
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Ich bin zwar nicht immer mit Ihnen einer Meinung, aber daß Sie rechnen können, unterstelle ich Ihnen zumindest.
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- Na, sehen Sie.
Verhält es sich nicht in Wahrheit so, daß Sie den Ehrenamtlichen deswegen heute und in vielen Veranstaltungen Ihrer Ortsvereine so huldigen, weil Sie in Wahrheit in Ihren Schubläden die Pläne zur vollständigen Streichung aller Steuervorteile für Ehrenamtliche schon längst fertig haben? Sie haben auf Ihrem Steuerkongreß nach der Sommerpause die Abschaffung der Teile des § 3 des Einkommensteuergesetzes beschlossen, die Ehrenamtliche in besonderem Maße betreffen. Ich denke, daß das besonders für die Ehrenamtlichen im Sport zutrifft, auch wenn Sie ihnen noch so eilfertig die Ehre geben. Es ist doch auch kein Zufall, daß Ihr Sportsprecher zum Beauftragten für das Ehrenamt gemacht wurde.
Der zweite Grund für Ihren plötzlichen Aktionismus in Sachen Ehrenamt ist doch wohl die Tatsache, daß man in einem Sozialstaat nicht ungestraft Vermögenswerte von unten nach oben verlagern kann, weil die Folgen Armut und soziale Kälte sind. Sie haben nicht nur die für die zunehmenden sozialen Probleme adäquaten Verhältnisse geschaffen; Sie haben auch ein Klima geschaffen, in dem das Allgemeinwohl und die aufopferungsvolle Tätigkeit anderer keine Konjunktur mehr haben. Hier nehme ich, Herr Riegert und Herr Börnsen, anscheinend eine andere Realität als Sie wahr. Sie haben mit Ihrem Motto „Wenn jeder an sich selber denkt, ist an alle gedacht" der Sozialarbeit keinen Dienst erwiesen.
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Wenn man in einer Gesellschaft Kürzungen bei den sozialen Elementen vornimmt, dann muß man natürlich gerade die volkswirtschaftlichen Leistungen der Ehrenamtlichen, die sie kostenlos erbringen, weiter ausbauen. Meine Kollegin Klemmer hat schon Zahlen genannt. Sie haben durchaus erkannt, daß die von Ihnen gestrichenen Sozialleistungen nun doch notwendig sind, und hoffen, daß diese Lücke von den Ehrenamtlichen geschlossen wird.
Sie haben aber auch erkannt, daß es mehr und mehr Bürger gibt, die sich aus dem Bereich sozialer ehrenamtlicher Tätigkeit zurückziehen. Das Engagement für die Gesellschaft geht in vielen Teilen zurück. Das ist ein klares Ergebnis Ihrer Politik des kontinuierlichen Sozialabbaus, und ich denke, man muß sich, wenn man regelmäßig alle sozial Bedürftigen als Faulenzer und Drückeberger beschimpft, nicht wundern, daß die Bereitschaft in der Gesellschaft, sich für ebendiese zu engagieren, zurückgeht.
Meine Damen und Herren, Sie treffen mit Ihren Plänen zur Steuerreform vor allem die Ehrenamtlichen im Sport. Die Übungsleiter erhalten eine eher symbolische Entschädigung durch einen Steuerfreibetrag - keine Geldströme, liebe Frau Süssmuth und lieber Herr Riegert; Sie wissen es besser.
In der „Stuttgarter Zeitung" vom 15. Oktober 1996 wird geschrieben:
Wer aus Spargründen an der Entschädigung der Übungsleiter rüttelt, ist ein Totengräber des Sports.
Ich kann mich dem nur anschließen.
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Ich will Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie nicht wissen, was Sie tun. Sie wissen es sehr wohl, und Sie wissen auch, daß die Übungsleiter ebenso wie der Sport insgesamt, der nicht nur Kinder- und Jugendarbeit, sondern auch Gesundheitsvorsorge und Sozialarbeit leistet, einen bedeutenden Beitrag für das Allgemeinwohl erbringen. Gerade in unserer bewegungsarmen modernen Gesellschaft sind Angebote für körperliche Aktivitäten und die regelmäßige und sinnvolle körperliche Betätigung besonders wichtig.
Die Forschung hat belegt, daß der Sport bei der Wahrnehmung der Auseinandersetzung von MenIngrid Holzhüter
schen mit Problemen in einer Industriegesellschaft unentbehrlich ist. Die Motive im Sport sind ein konkretes Abbild der Probleme der Lebensführung großer Bevölkerungsgruppen. Man geht in den Sportverein, weil man bestimmte Defizite in seinem Leben und in seinem Umfeld entdeckt, sei es an körperlicher Betätigung, sei es an zwischenmenschlicher Ansprache. Die ehrenamtlich Tätigen sind insofern auch im Sport Sozialarbeiter.
Auch die individuelle Gesundheitsvorsorge zeigt sich altersübergreifend als ein Motiv der Menschen, in Sportvereine zu gehen. Ich denke, daß der Begriff des Allgemeinwohls in der gesellschaftlichen Leistung des Sportes ganz besonders zutage tritt. Daher ist es besonders schmerzhaft, daß gerade diese Bundesregierung, die hier vollmundig die Ehrenamtlichen lobt, genau dieser Tätigkeit in der Gesundheitsvorsorge den Boden entzogen hat.
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Durch Ihre Streichung der Förderung des Gesundheitssports aus dem Sozialgesetzbuch V entziehen Sie den Sportvereinen und den dortigen Ehrenamtlichen eine wichtige Grundlage.
Eine andere Seite der Medaille: Sportvereine sind mit ihren zahlreichen Mitgliedern im Vergleich zu anderen Organisationen - Kirchen, Gewerkschaften und auch Parteien - eine sehr erfolgreiche Großorganisation. Es wäre nicht denkbar gewesen, einen solchen Erfolg zu haben, wenn nicht in den Sportverbänden ein ganz besonders enger Bezug zu den Lebensproblemen der Menschen hergestellt worden wäre. Das gilt für gefährdete Kinder und Jugendliche, für Behinderte, Aussiedler und Senioren, die in diesen Sportvereinen eine volle Integration erfahren. Die Akzeptanz der Sportvereine in der Bevölkerung weist diesen Organisationen einen ganz besonderen Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung seitens der Bevölkerung zu.
Ich denke, es war der Präsident des Deutschen Sportbundes, Manfred von Richthofen, der vor zwei Jahren bei seinen Antrittsbesuchen sehr deutlich diese Probleme des Ehrenamtes an die erste Stelle gerückt hat. Ich bin fest überzeugt, daß es ohne ihn diese Debatte heute in diesem Ausmaß nicht gegeben hätte.
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Die Ehrenamtlichen wissen, welchen Wert ihre Arbeit hat; wir brauchen ihnen das sicherlich nicht dauernd zu sagen. Sie erwarten aber von uns, daß wir diesen Wert anerkennen, und zwar nicht nur in Sonntagsreden.
Meine Damen, meine Herren, die Übungsleiterinnen und Übungsleiter in den Sportverbänden erfüllen die fachlichen, und man kann auch sagen pädagogischen Voraussetzungen, um die eben beschriebenen Sozialleistungen für unser Allgemeinwohl zu erbringen. Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten sich hier auch öffentlich und ausreichend dazu bekennen.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wenigen Menschen ein Amt und vielen ein Ehrenamt - das kann hier nicht das Motto sein. Der Staat kann seine gesellschaftliche Verpflichtung nicht nur an Ehrenamtliche delegieren. Wir haben schon von Frauen gehört, von denen man per se verlangt, daß sie sich in der Familie um Kranke, um Behinderte, um Kinder, um all das kümmern, was man nach außen nicht so gerne zeigt. Angesichts der ganzen Diskussion kann ich nur das wiederholen, was sich schon in den letzten Jahren immer wieder dargestellt hat: den Männern das Amt, den Frauen das Ehrenamt.
Weil hier darauf hingewiesen wurde, daß es so viele Politiker gebe, die in ihrer Vita die Ehrenamtlichkeit herausstreichen, möchte ich sagen: Es gibt ja auch viele Ämter, die sich sehr gut machen, wenn man sie in Wahlkämpfen vorstellen kann.
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Aber Ehrenämter betreffen ganz alleine den einzelnen.
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Diejenigen, die damit im stillen Kämmerlein sitzen, wird man sicherlich nicht in dieser Liste finden.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ilse Falk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ließe sich manches darauf sagen. Ich finde es unfair, was hier unterstellt wird. Im übrigen wünschte ich mir, manche der Vorrednerinnen hätte unseren sehr guten Entschließungsantrag dazu gründlicher gelesen; darin finden sich viele Antworten auf das, was Sie beklagen oder beanstanden.
({0})
Angesichts solcher Vorwürfe wie „Ehrenamt gleich Lückenbüßer des Sozialstaats" und „Ehrenamt als Alibi" oder ganz ironischer Sätze wie den der Kollegin Klemmer, „Der Bürger ist glücklich, dem Sozialstaat entronnen zu sein und nun seine Geschicke wieder selbst in die Hand nehmen zu können", ist es schon reizvoll, sich in dieser Debatte mit dem Zusammenhang zwischen staatlichen Leistungen und der wachsenden Abhängigkeit des einzelnen vom Staat oder generell dem Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung auseinanderzusetzen.
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Dafür reicht meine Zeit leider nicht. Ich will mich nämlich gerne noch einmal mit neuen, praxisnahen Formen ehrenamtlichen Engagements befassen. Es ist heute schon vielfach die Rede davon gewesen, daß nicht die Bereitschaft zur Übernahme eines Ehrenamts nachgelassen hat, sondern Ehrenamt in anderen Formen wahrgenommen wird. Aber es ist denIlse Falk
noch zu fragen: Was läßt Menschen trotzdem das Ehrenamt nachfragen?
Eine Antwort findet sich vielleicht in folgendem: Vielen Berufsbildern und Arbeitsplätzen fehlen heute Identifikation und Humanität. So entsteht der Wunsch nach unverkrampften, authentischen Kontakten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, wie viele Menschen in Einzelhaushalten leben. In manchen Städten sind es bis zu 50 Prozent aller Haushalte. In dieser Anonymität der Großstädte erscheint es besonders interessant, lebendige Kontakte und menschliche Nähe zu finden. Freiwillige suchen Chancen zum Aufbau solcher Beziehungen. Sie suchen nach Orientierung und Selbsterprobung in bestimmten Lebensbereichen. Ihr Bedürfnis geht dabei weit über Selbstverwirklichung hinaus.
Hier nun bieten sich die sogenannten Freiwilligenagenturen als Ergänzung traditionellen Ehrenamtes an. Sie sind gleichzeitig ein neuer Weg; ich glaube, diesbezüglich finden wir Konsens zwischen allen. Freiwilligenagenturen bzw. Freiwilligenbüros gibt es in vielen europäischen Ländern. Es gibt sie weltweit, und es gibt sie - endlich - vielfach auch bei uns. Was ist nun das Neue an diesen Büros, bzw. was macht das „Volunteering", wie es international heißt, aus?
Ganz allgemein gesagt geht es hier um die Regelung von Angebot und Nachfrage des ehrenamtlichen Engagements bzw. einer Hilfe, die nachgefragt wird. Man muß nicht Mitglied in einer Organisation, einem Verein oder Verband werden, sondern kann einfach in ein solches Büro gehen und sich nach Möglichkeiten erkundigen, wie und wo man sich persönlich freiwillig engagieren kann. Man kann aus einem Angebot auswählen. In einem Beratungsgespräch kann man klären, zu welcher Leistung man bereit wäre, wieviel Zeit man einbringen möchte, für wen man gerne etwas tun möchte, und vielleicht auch neue Ideen entwickeln, was einem Spaß machen würde.
Gleichzeitig kann man erfahren, an welchen Stellen Hilfe gewünscht wird. In der Regel handelt es sich um Projektengagement und eben nicht um die Langzeitbindung, die so viele scheuen. Das Büro hilft und begleitet bei der Bewältigung übernommener Aufgaben und macht so erste Erfahrungen überhaupt möglich. Freiwilligenbüros sind also keine Konkurrenz für das traditionelle Ehrenamt, sondern eine notwendige Ergänzung.
Was ist von unserer Seite aus zu tun, damit solche Freiwilligenagenturen dauerhaft Bestand haben können? Ich denke, es ist in erster Linie wichtig, solchen Büros strukturelle Förderungen mit Sach- und Personalmitteln zukommen zu lassen. Dadurch kann mit einem relativ geringen Mitteleinsatz ein hoher volkswirtschaftlicher Nutzen erzielt werden. Auch das darf nicht unterschätzt werden. Wer eine solche Finanzierung kritisch sieht - was auch vorkommt -, sollte nicht vergessen: Auch Vereine und Verbände arbeiten mit bezahlten hauptamtlichen Kräften.
Bestimmt ist es dabei wichtig, daß man eindeutige Verträge abschließt, daß qualitätssichernde Managementkontrolle stattfindet und daß es fachliche Begleitung gibt. Alles das sind Voraussetzungen zur verantwortlichen Mittelverwendung und ebenso natürlich auch zur Sicherung der ehrenamtlichen Motivation.
In anderen Ländern hat man mit Volunteering bereits sehr positive Erfahrungen gemacht. Überall wird es als ein persönlicher Beitrag zur sozialen, kulturellen, umweltbezogenen und wirtschaftlichen Entwicklung in einer sich verändernden Welt empfunden. Hierbei sollten wir noch viel stärker voneinander lernen. Es gilt, Erfahrungen, die gemacht werden, zu vernetzen und davon zu profitieren.
Wir sollten uns damit befassen, wie wir zur Förderung der Solidarität zwischen Menschen und zwischen Nationen den Zugang zum Volunteer-Engagement auch international besser vernetzen können. Auch das würde ganz sicher den Bedürfnissen gerade junger Menschen entsprechen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt ehrenamtlichen Engagements nennen. In der Regel gehen wir davon aus, daß ehrenamtlich tätige Menschen ihr Ehrenamt auf der Grundlage eines gesicherten Einkommens ausüben. Ehrenamt muß aber auch für Menschen möglich sein, die über kein eigenes Einkommen verfügen. Hierfür sollte es Angebote des Staates geben, die eine Grundsicherung - nicht mehr und auch nur zeitlich begrenzt - beinhalten.
Ich weiß, daß es da zu Überschneidungen kommen kann, weil es sich nicht immer nur noch um die rein ehrenamtliche, das heißt unentgeltlich geleistete Arbeit handelt. Aber das sollte uns nicht daran hindern, auch an dieser Stelle etwas zu schaffen; denn gerade die Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind und häufig in Resignation verfallen, müssen die Chance haben, zu erfahren, daß sie gebraucht werden, daß sie nicht überflüssig sind. Es ist wichtig für ihr Selbstwertgefühl, und es ist ganz entscheidend für ihre Würde als Mensch.
Bereits vorhandene Angebote wie freiwilliges soziales Jahr oder freiwilliges ökologisches Jahr könnten beispielsweise um ein sogenanntes soziales Bürgerjahr oder ähnliches ergänzt werden. Es könnte ein Angebot nicht nur für Arbeitslose, sondern auch für die Menschen sein, die freiwillig ein Jahr in den Dienst der Gemeinschaft stellen wollen oder die Orientierung suchen.
Wir sollten auch in diesem Zusammenhang eine Regelung überdenken, die hier schon angesprochen wurde und die in unserer Gesetzgebung zu finden ist: Ehrenamtliches Engagement, das wöchentlich mehr als 18 Stunden in Anspruch nimmt, gilt nach derzeitiger Gesetzeslage für unvereinbar mit dem Bezug von Arbeitslosengeld. Bei der dazu notwendigen Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes wird es auf sorgfältige Ausformulierungen ankommen, damit befürchteter Mißbrauch verhindert wird. Dieses Problem sollte aber überwindbar sein und uns nicht daran hindern, tatsächlich Wege aufzuzeigen.
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Meine Damen und Herren, das Thema Ehrenamt ist spannend. Es ist geeignet, viele Menschen anzustecken. Geben wir ihm gemeinsam ein sicheres Fundament. Es wird unserer Gesellschaft und vielen einzelnen Menschen guttun.
({3})
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Bundesministerin Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bei allen Differenzen, die es in der heutigen Debatte gegeben haben mag, wurde doch sehr deutlich, daß über alle Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit darin besteht, daß unsere Demokratie vom Mitdenken und Mittun seiner Bürgerinnen und Bürger lebt, daß das freiwillige Engagement für die Gesellschaft mit zu den Grundsäulen unseres solidarischen Gemeinwesens zählt.
Ich bin den Koalitionsfraktionen für diese Große Anfrage sehr dankbar, weil sie damit dokumentieren, daß sie das ehrenamtliche Engagement in besonderer Weise würdigen und anerkennen und einmal ins öffentliche Bewußtsein bringen möchten. Das finde ich sehr angemessen und begrüße ich ausdrücklich.
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Ich war sehr überrascht von der beachtlichen Zahl und vor allen Dingen von der Vielfalt des freiwilligen Engagements, das wir bei den Recherchen für die Beantwortung der Großen Anfrage zutage gefördert haben. Die Zahl - 17 Prozent der Bevölkerung; fast 12 Millionen Menschen - ist mehrfach genannt worden. Eine ganze Reihe von Organisationen haben uns das eindrucksvoll bestätigt und dies mit ihren Angaben untermauert.
Dabei ist wieder ganz deutlich geworden, daß gerade im sozial-karitativen Bereich, wie schon gesagt wurde, die Frauen in besonderer Weise aktiv sind. Ich finde, das verdient, noch einmal besonders hervorgehoben zu werden. Ich wünschte mir, sie wären dann genauso sehr in der vordersten Reihe, wenn es um die Ehre und den Einfluß geht.
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Bei allen Ergebnissen, die unsere Recherchen brachten, stellte sich heraus, daß wir noch relativ wenig über die Strukturen, über die Vielfalt und die Veränderungen im Bereich ehrenamtlichen Engagements wissen, was mich veranlaßt, dazu eine Untersuchung in Auftrag zu geben.
Wir erleben eine Ambivalenz: Gerade die klassischen Träger der ehrenamtlichen Arbeit, Verbände und Vereine, klagen über ein zurückgehendes Engagement. Das mag für diese Bereiche sogar durchaus zutreffen. Es hat Gründe, die hier schon beschrieben worden sind: Wir haben es mit Individualisierungsund Pluralisierungsprozessen in der Gesellschaft zu tun. Die Bereitschaft, sich langfristig an etwas zu binden, geht zurück. Gleichzeitig ist die Auswahl vielfältiger geworden. Man folgt nicht mehr so selbstverständlich den Traditionen der Eltern und Großeltern.
Es hat sich sicherlich auch etwas in der Motivation verändert. Es steht nicht mehr unbedingt Altruismus oder Pflichtgefühl im Vordergrund. Vielmehr wird gefragt: Was bringt mir das? Nicht im materiellen Sinne - das ist richtig gesagt worden -, sondern: Was bringt mir das als Person? Es muß mir auch Spaß machen. - Dazu sage ich: Das finde ich vollkommen legitim.
Wir müssen aufpassen, daß wir daraus keinen Widerspruch konstruieren: freiwilliges Engagement, Hilfe für andere auf der einen Seite und Spaß haben, Selbstverwirklichung auf der anderen Seite. Vielmehr gehört beides zusammen: Gerade indem ich mich für andere einbringe und mich engagiere, tue ich auch etwas für meine Person, erlebe ich Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. Wenn wir mit diesem Ansatz an die Sache herangehen, werden wir wieder sehr viel mehr Bereitschaft gerade bei jungen Leuten wecken und darauf neugierig machen können, sich einzubringen und mit anzupacken.
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Daß das so ist, zeigen mir die neuen Formen von ehrenamtlichem Engagement, die auch schon angesprochen worden sind. Ich denke an die Bürgerinitiativen; ich denke gerade auch an die Selbsthilfeinitiativen, deren Engagement ich sehr stark unterstütze. Für den Aufbau von Selbsthilfe in den neuen Bundesländern habe ich sehr viel getan. Ich freue mich sehr, daß die Kontaktstellen für die Selbsthilfe, die wir in den neuen Bundesländern initiiert haben, nach Ablauf der Förderung durch den Bund fast vollständig eine Anschlußfinanzierung erhalten. Ich halte es für ein gutes Ergebnis, daß Langfristigkeit gesichert worden ist.
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Der geänderten Einstellung müssen allerdings alle Beteiligten Rechnung tragen. Das bedeutet in erster Linie eine Anfrage an die Verbände. Ich kann nur unterstreichen, was zur Qualifizierung ausgeführt wurde, die natürlich zur Steigerung der Attraktivität des Ehrenamtes beiträgt. Ich werde deshalb 1997 in der Schriftenreihe „QS" meines Hauses eine Ausgabe ausschließlich zur Qualifizierung von Vorstandsmitgliedern, also von Ehrenamtlichen, herausgeben. Gerade für das Verhältnis von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen spielt die Qualifizierung eine große Rolle; denn leider ist dieses Verhältnis nicht immer ganz spannungsfrei.
Es muß akzeptiert werden, daß Ehrenamtliche heute nicht mehr rund um die Uhr zur Verfügung stehen und ein unerschöpfliches Zeitbudget zur Verfügung haben, sondern nur begrenzte Zeit einbringen können. Gleichermaßen müssen die Verbände - da gebe ich Ihnen recht, Herr Hagemann - ihren Mitgliedern eine Kostenerstattung ermöglichen. Aber das kann kein anonymer Topf in irgendeinem öffentlichen Haushalt sein.
Der Staat ist dort in der Pflicht, wo es um Rahmenbedingungen und darum geht, Menschen zur Mitarbeit anzuregen. Ich denke, die Bundesregierung leistet dazu einen erheblichen Beitrag, und zwar nicht nur in sporadischen Modellprojekten, Frau Fischer, wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren. Gerade mit dem, was wir über den Kinder- und Jugendplan, über den Bundesaltenplan, über die Förderung von Frauen-, Familien- und Wohlfahrtsverbänden leisten, erbringen wir eine Unterstützung der Infrastruktur für ehrenamtliches Engagement, das auf Dauer angelegt ist.
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Ich beobachte mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung, die sich im Bereich der Freiwilligenzentren, Agenturen und Ehrenamtsbörsen abzeichnet. Ich halte das in der Tat für einen durchaus interessanten Ansatz. Deshalb habe ich mir in Bremen die dortige Agentur angeschaut. Dabei ist mir deutlich geworden, daß in diesem Bereich überall Profis benötigt werden. Es müssen hochqualifizierte Leute sein, die dort arbeiten, damit die Sache funktioniert.
Ich bin gern bereit, zu prüfen, inwieweit wir solche Projekte anstoßen können. Ich glaube, daß das, was wir mit den Seniorenbüros gemacht haben, genau in diese Richtung geht. Auch sie sind eine Art der Vermittlungsagenturen, in denen man ehrenamtliches Engagement nachfragen kann und in denen deren Vermittlung in die Hand genommen wird.
Daß das gut funktioniert, wird dadurch belegt, daß über das Modellprogramm hinaus neben den 43 Standorten - das ist sehr flächendeckend - jetzt bereits 50 weitere Seniorenbüros außerhalb des Bundesmodellprogramms existieren, die von Kommunen und Trägern finanziert werden. Auch das finde ich beachtlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, gerade junge Menschen fragen nach: Welchen Stellenwert nehme ich in dieser Gesellschaft ein? Werde ich gebraucht? Ich sage: Wir müssen Jugendliche fördern - das ist richtig -, aber wir müssen sie auch fordern. Sie brauchen Bewährungsfelder. Dabei müssen sie merken, daß sie in ihrer Tätigkeit gebraucht werden, sie müssen Akzeptanz erfahren und einen unmittelbaren Bezug zu der Aktivität erhalten, in die sie eingespannt werden.
Das beste Beispiel dafür sind in meinen Augen die freiwilligen Jahre, die gesetzlich fixiert sind: das freiwillige soziale und das freiwillige ökologische Jahr. Ich bedaure, daß wir es noch nicht geschafft haben, der Nachfrage eine ausreichende Zahl von Angeboten gegenüberzustellen.
Aber trotz der engen Haushaltsspielräume, denen nicht nur der Bund, sondern auch die Länder, die an der Finanzierung ebenfalls beteiligt sind, ausgesetzt sind, hat sich das Angebot beim freiwilligen sozialen Jahr in den letzten drei Jahren um 22 Prozent verbessert. Beim freiwilligen ökologischen Jahr hat sich das Angebot sogar fast verdreifacht. Ich halte es für sehr wichtig - und das ist mein Ziel -, hier weiterzumachen.
Es ist bereits richtig gesagt worden: Wir müssen bürokratische Hemmnisse abbauen. Deshalb habe ich große Sympathie für das, was im Antrag der Koalitionsfraktionen dazu formuliert worden ist. Genau aus diesem Grund hat unser Haus die Initiative „Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe" gestartet. Damit fördern wir Projekte, die eine Art Selbstevaluation betreiben und fragen: Wo können wir Strukturen effizienter gestalten? Wo können wir Verwaltungsverfahren vereinfachen und Bürokratie abbauen?
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischer?
Ich kann gar nicht umhin.
Frau Ministerin, ich möchte auf das freiwillige soziale und das freiwillige ökologische Jahr zurückkommen. In der Regierungserklärung vom Januar 1991 hat die Bundesregierung angekündigt, sie wolle ein Freiwilligengesetz schaffen, um auch die Bedingungen für den Einsatz von ausländischen Jugendlichen in der Bundesrepublik bzw. von deutschen Jugendlichen im Ausland zu schaffen. Können Sie mich, abgesehen von einem Bedauern darüber, daß Sie in dieser Sache noch nicht weitergekommen sind, über eine positive Entwicklung aufklären?
Gerade weil uns das ein Anliegen ist, wir aber darauf angewiesen sind, daß in den europäischen Mitgliedstaaten die Bedingungen dafür stimmen und sie unsere Form der freiwilligen Jahre akzeptieren, haben wir das im Rat zur Sprache gebracht sowie Möglichkeiten dafür geschaffen, daß wir einen Entschließungsantrag zu freiwilligen Diensten innerhalb der Europäischen Union verabschieden konnten.
Darüber hinaus soll ein Teil des Programms „Jugend für Europa III", das zu Beginn des Jahres 1995 verabschiedet worden ist, dafür verwendet werden, solche freiwilligen Dienste in Europa zu ermöglichen und zu fördern. Das gilt zwar nur für einen begrenzten Teil, aber damit wird eine Förderung mit all ihren Möglichkeiten ausprobiert. Das heißt, wir sind sukzessiv auf erfolgreichem Weg, wir brauchen aber unsere Partner dafür.
Ich weiß sehr wohl - das ist auch seitens der Opposition deutlich geworden -: In der Öffentlichkeit spielen natürlich die Forderungen eine große Rolle, bei denen es um das Materielle, um eine finanzielle Aufwertung geht. Wenn dies diskutiert wird, gilt es aufzupassen, daß wir bei dieser Diskussion der Natur des Ehrenamts gerecht werden. Bei Fragen wie Absi13128
cherung in der Rente sehe ich nur die Möglichkeit über eine freiwillige Rentenversicherung. Dabei sollten sich die Verbände sehr wohl fragen: Können wir das nicht auch für unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter verwirklichen? Darüber hinaus - das muß man offen bekennen -- sehe ich keine Lösung.
Auch bei der steuerlichen Absetzbarkeit wird sicherlich mehr gefordert, als derzeit leistbar ist. Nur, gestatten Sie mir den Hinweis darauf, daß die Förderung von Gemeinnützigkeit auch Förderung von Ehrenamt ist, selbst wenn das nicht dem einzelnen Ehrenamtlichen unmittelbar zugute kommt.
Viel entscheidender ist, daß die ehrenamtliche Arbeit in unserer Gesellschaft eine größere Anerkennung und öffentliche Aufmerksamkeit findet.
({0})
- Sie brauchen gar nicht darüber zu lachen. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.
({1})
Ich werbe ausdrücklich dafür, daß Arbeitgeber die in ehrenamtlichem Engagement hinzugewonnene Qualifikation und das hinzugewonnene Wissen bei Einstellungen oder auch bei Auszeichnungen und Beförderungen mit berücksichtigen.
({2})
Ich bin mir darüber im klaren, daß das sicherlich nicht gesetzlich regelbar ist, ebenso wie ich ein bundeseinheitliches Freistellungsgesetz nicht für opportun oder sinnvoll halte. Denn wenn gesetzliche Regelungen letztendlich zum Einstellungshindernis für Ehrenamtliche werden, dann haben wir den Ehrenamtlichen einen Bärendienst erwiesen. Das sollten wir lieber lassen.
({3})
Vielmehr ist an dieser Stelle ein eigenverantwortliches Handeln von Personalchefs gefordert. Dabei meine ich den öffentlichen Dienst genauso wie die private Wirtschaft. Ich finde, auch hier kann man die eigenverantwortlich Handelnden nicht aus der Pflicht entlassen.
Vor allem muß es uns aber gelingen, dieses Engagement auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft stärker anzuerkennen und zu würdigen. Ehrenamtliches Engagement muß sich nicht verstecken, sondern gehört in das Scheinwerferlicht der Medien. Alle Medien machen sich verdient, wenn sie das auch außerhalb des 5. Dezembers beherzigen und berücksichtigen.
({4})
Wir brauchen Anlässe, um das Ehrenamt in der Öffentlichkeit stärker zu würdigen. Ich finde schon, daß auch Ordensverleihungen und Auszeichnungen dazu geeignet sind.
({5})
Die Bundesregierung will den 5. Dezember künftig als „Tag der Freiwilligen" für entsprechende Initiativen nutzen. Ich hoffe, daß Länder und Kommunen und selbst Verbände sowie Vereine mitziehen.
Das, was wir im Bundestag gut zwei Stunden lang auch für die Öffentlichkeit dargestellt haben, ist ein guter Auftakt dafür. Ich wünsche, daß das von uns auch weiterhin in dieser Weise gepflegt wird.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/6386. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3232 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD soll dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a bis h sowie Zusatzpunkt 2 auf:
16. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes
- Drucksache 13/5739 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. August 1994 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam über den Luftverkehr
- Drucksache 13/6167 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({1}) Finanzausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. November 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der ReVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
gierung der Republik Usbekistan über den Luftverkehr
- Drucksache 13/6168 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({2}) Finanzausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 24. Juni 1994 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits
- Drucksache 13/6201 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({3})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 23. Januar 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und dem Schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura, über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen
- Drucksache 13/6202 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4}) Rechtsausschuß
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({5}), Gila Altmann ({6}), Helmut Wilhelm ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für fairen Trassenzugang und marktfähige Trassenentgelte sorgen
- Drucksache 13/6145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({8}) Haushaltsausschuß
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorsorgeprinzip in der Fischerei verankern
- Drucksache 13/6057 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({9})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Frankfurt am Main, ehemals US-genutztes IG Farben Hochhausgelände ({10})
- Drucksache 13/6183 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
ZP2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({11})
- Drucksache 13/6362 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({12})
Innenausschuß
Sportausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die
Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer, Amke Dietert-Scheuer, Cem Özdemir und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktive Außenpolitik der Bundesregierung zum Schutz der Menschenrechte in der Türkei
- Drucksache 13/6419 zu erweitern. Sind Sie mit dieser Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Der Antrag soll ohne Aussprache dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie auch mit der Überweisung einverstanden? - Das ist ebenfalls der Fall. Dann ist auch das so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 17a bis 17j sowie dem Zusatzpunkt 3. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 17 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Sicherheitsanforderungen an Produkte und zum Schutz der CE-Kennzeichnung ({13})
- Drucksache 13/3130 - ({14})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({15})
- Drucksache 13/6203 Berichterstattung: Abgeordneter Jürgen Türk
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen fast des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 17 b:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 8. September 1976 über die Ausstellung mehrsprachiger Auszüge aus Personenstandsbüchern
- Drucksache 13/4995 - ({16})
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({17})
- Drucksache 13/6144 Berichterstattung:
Abgeordnete Meinrad Belle
Dorle Marx Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/6144, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist somit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
({18})
Tagesordnungspunkt 17 c:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Zusammenschluß der deutschen Autobahn A 6 und der tschechischen Autobahn D 5 an der gemeinsamen Staatsgrenze durch Errichtung einer Grenzbrücke
- Drucksache 13/5049 - ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({1})
- Drucksache 13/6190 - Berichterstattung: Abgeordneter Peter Letzgus
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/6190, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17 d:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 11. Dezember 1995 zur Änderung des Abkommens vom 31. Oktober 1975 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Volksrepublik China über den Zivilen Luftverkehr
- Drucksache 13/5291 - ({2})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({3})
- Drucksache 13/6191 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Jung ({4})
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/6191, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zollverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 13/5737 - ({5})
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({6})
- Drucksache 13/6401 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Dr. Dieter Schulte ({7})
Wir kommen zu Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung einstimmig angenommen worden ist.
Wir treten in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in dritter Lesung einstimmig angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17 f:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
- Drucksache 13/6326 Wer für die Beschlußempfehlung zu Sammelübersicht 160 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Sammelübersicht 160 mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17 g:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 161 zu Petitionen - Drucksache 13/6327 Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung zur Sammelübersicht 161? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß diese Sammelübersicht mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17 h:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 163 zu Petitionen
- Drucksache 13/6329 Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung zur Sammelübersicht 163? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17i:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 164 zu Petitionen - Drucksache 13/6330 Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 17j:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 165 zu Petitionen - Drucksache 13/6331 Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Sammelübersicht mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Zusatzpunkt 3:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes - RpflAnpG
- Drucksache 13/6039 - ({13})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({14})
- Drucksache 13/6408 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Dietrich Mahlo Dr. Michael Luther
Hans-Joachim Hacker
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Damit treten wir in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({15}) zu der Verordnung der Bundesregierung
- Drucksachen 13/6053, 13/6091 Nr. 2.4 Zweite Verordnung zur Änderung der Konzernabschlußefreiungsverordnung
- Drucksache 13/6409 zu erweitern, was immer das sein möge.
({16})
Über die Vorlage soll jetzt gleich ohne Debatte abgestimmt werden. Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Damit kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Plänen der Landesregierung Schleswig-Holstein, in einem Modellversuch sogenannte weiche Drogen in Apotheken verkaufen zu lassen
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Jürgen Koppelin das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach einer Entscheidung der rot-grünen schleswig-holsteinischen Landesregierung ist geplant, zukünftig den Verkauf von Haschisch und Marihuana in Apotheken zu ermöglichen.
({0})
Dabei wird umgesetzt, was die rot-grüne Koalition in Schleswig-Holstein in ihr Koalitionspapier geschrieben hat, nämlich, Ziel der Drogenpolitik sei „der verantwortungsvolle Umgang mit Genußmitteln".
({1})
Es ist schon eine merkwürdige Begründung der schleswig-holsteinischen Landesregierung, wenn sie erklärt, zukünftig sollten weiche Drogen in Apotheken verkauft werden,
({2})
um junge Menschen vor Sucht, Abhängigkeit und Kriminalisierung zu bewahren.
Frau Landesministerin Moser, ich freue mich, daß Sie hier sind. Sie werden sich, wenn Sie nachher reden, in Ihrer Begründung nicht auf Urteile des Bundesverfassungsgerichtes berufen können. Ihre Argumentation ist nämlich völlig falsch.
({3})
Wir sagen: Wer zukünftig weiche Drogen in Apotheken verkaufen will, der sorgt dafür, daß die allgemeine Akzeptanz für weiche Drogen weiter steigt.
({4})
Wer will in Kampagnen noch erklären, daß Drogenkonsum schädlich ist, wenn diese Drogen gleichzeitig in jeder Apotheke in Schleswig-Holstein mit staatlicher Genehmigung gekauft werden können?
({5})
Die rot-grüne Koalition von Schleswig-Holstein will weiche Drogen legal verkaufen lassen.
({6})
Da ist es natürlich nur konsequent, daß die gleiche rot-grüne Landesregierung diese weichen Drogen auch legal beschaffen muß. Mit anderen Worten - das ist in Schleswig-Holstein geplant -: Sie selber wird diese weichen Drogen anbauen.
({7})
Das schleswig-holsteinische Projekt hat nicht zum Ziel, die Trennung der Märkte für harte und weiche illegale Drogen zu erreichen. Das Ziel ist vielmehr einzig und allein die Verwirklichung des Koalitionsvertrages, nämlich das, was ich soeben zitiert habe: „verantwortlicher Umgang mit Genußmitteln".
Wie will man den Bürgern eigentlich erklären, daß die schleswig-holsteinische Landesregierung in eigenen Gewächshäusern Hanf zur Haschischproduktion anbauen darf, während jeder andere dafür gesetzlich belangt wird?
({8})
Oder ganz einfach gesagt: Nach dem roten Libanesen und dem schwarzen Afghanen nun der rot-grüne Schleswig-Holsteiner. Das ist die Botschaft aus Schleswig-Holstein.
({9})
Vielleicht noch mit dem Gütesiegel der schleswigholsteinischen Landwirtschaftskammer versehen: „Hergestellt und geprüft in Schleswig-Holstein" - unter der Leitung von Heide Simonis.
Ohne ein Konzept zur Drogenbekämpfung zu haben, ist in Schleswig-Holstein die Entscheidung zum Verkauf weicher Drogen in Apotheken getroffen worden. Frau Ministerin Moser, wir wollen deswegen wissen, wie zum Beispiel der Innenminister des Landes die Polizeibeamten in Schleswig-Holstein darauf vorbereitet, den Versuch konzeptionell zu begleiten. Wir wollen wissen, wie der Landesjustizminister die Justiz des Landes darauf vorbereitet, den Versuch
Jürgen Koppeln
konzeptionell bei der Aburteilung und Verfolgung von Straftaten in diesem Bereich zu begleiten.
({10})
Darauf hat es bisher keine Antworten gegeben.
Ich meine, eine Entscheidung in der Drogenpolitik kann ein Bundesland nicht allein treffen. Eine Zusammenarbeit der Bundesländer gemeinsam mit der Bundesregierung ist nötig, nichts anderes.
({11})
Ich kann die Sorgen verstehen, die zum Beispiel aus Dänemark von sehr akzeptablen Politikern kommen, die befürchten, daß Schleswig-Holstein zur Anlaufstelle für dänische Drogenkonsumenten werden könnte. Frau Ministerin Moser sagt: Bei uns ist das Zeug sowieso an jeder Ecke zu kaufen. Das ist nicht mein Problem. - Das können ja wohl keine Argumente sein.
({12})
Neuen Wegen in der Drogenpolitik steht die F.D.P. aufgeschlossen gegenüber. Dabei lassen wir uns von zwei Grundsätzen leiten:
Erstens. Therapie hat,, Vorrang vor Bestrafung.
Zweitens. Potentielle Erstkonsumenten müssen vor dem Drogenkonsum geschützt und bewahrt werden.
({13})
Die Botschaft aus Schleswig-Holstein lautet dagegen: Jeder ab 16 Jahren kann weiche Drogen bekommen, wenn er sie haben will. Das, so meinen wir, darf nicht sein. Das ist der falsche Weg. Wir erwarten vom Berliner Institut für Arzneimittel und Medizinprodukte, daß der Verkauf von weichen Drogen in Apotheken untersagt wird.
({14})
Das Signal aus Schleswig-Holstein an die Öffentlichkeit ist katastrophal. Es wird der Anschein erweckt, Drogenkonsum werde nicht mehr geächtet, sondern geradezu erlaubt. Wir fordern die Verantwortlichen in der Bundesregierung auf, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den schleswig-holsteinischen Modellversuch zu stoppen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nun gebe ich als Mitglied des Bundesrates der Ministerin des Landes Schleswig-Holstein für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Heide Moser, das Wort.
Ministerin Heide Moser ({0}) ({1}):
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie debattieren heute in einer Aktuellen Stunde in FünfMinuten-Beiträgen über ein Thema, mit dem sich die schleswig-holsteinische Landesregierung und die Gesundheitsministerkonferenz seit zwei Jahren, also lange vor Rot-Grün in Schleswig-Holstein,
({3})
unter Hinzuziehung vieler Experten und unter freundlich zustimmender Begleitung der F.D.P.-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag beschäftigt.
({4})
Lassen Sie mich in den zur Verfügung stehenden wenigen Minuten versuchen, sachlich unsere Ziele und Ausgangspunkte darzulegen. Ausgangspunkte des geplanten Modellversuchs zur Trennung der Märkte von weichen und harten Drogen sind erstens die Realität, zweitens wissenschaftliche Erkenntnisse von Medizinern, Pharmakologen, Kriminologen und Sozialwissenschaftlern sowie drittens - dies beides bündelnd - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 1994.
({5})
Ad 1. Lassen Sie mich zur Realitätseinschätzung einen Jungpolitiker der Unionsparteien und Polizeibeamten zitieren:
({6})
„Die Drogenpolitik in Deutschland ist gescheitert."
({7})
Frau Ministerin, eine Sekunde.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, den Ausführungen des Mitglieds eines anderen Verfassungsorgans in Ruhe zuzuhören.
({0})
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
) Ich bitte um etwas Zurückhaltung. Gelegenheit, untereinander zu streiten, gibt es noch genug. Bitte, halten wir uns an die Ordnung des Hauses!
Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Ministerin Heide Moser ({1}): Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
„Die Drogenpolitik in Deutschland ist gescheitert", so der Vorsitzende der Jungen Union im schleswigholsteinischen Glückstadt.
({2})
„40 Jahre Verbotspolitik haben zu keinem Ergebnis geführt, außer zu einer Blockade in den Köpfen der Menschen. Alle Parteien müssen umdenken." Ich weiß aus Briefen, daß dieser junge Polizeibeamte auch in seiner Partei nicht alleine steht.
({3})
Die Epidemiologie des Drogenmißbrauchs, wenn Sie sie denn kennen, und die Zahlen über die Drogenkriminalität, wie sie die Bundesregierung jährlich vorlegt, belegen genau diese Einschätzung. Die Zahl der Erstkonsumenten harter Drogen sinkt nicht, wie zum Beispiel in den Niederlanden, sie steigt. Mit ihr steigen das gesundheitliche und soziale Elend und die Beschaffungskriminalität.
Bis zu vier Millionen - so lauten die Schätzungen - vor allem junge Menschen erreichen wir mit unserem Totalverbot von Cannabis überhaupt nicht. Prohibition ist nicht gleich Prävention.
({4})
Wir setzen diese jungen Leute den Gefahren eines kriminogenen Umfeldes dadurch aus, weil die Märkte und die Konsumentengruppen nicht ausreichend getrennt sind.
({5})
Gerade das Totalverbot kann Cannabis zur Einstiegsdroge machen, nicht seine stoffliche Wirkung.
({6})
Es fällt mir nichts dem Parlament Würdiges zu den Äußerungen des Kollegen Kanther ein, der sagt: Die jungen Leute gehen doch gar nicht zum Dealer; sie kriegen es von einem Freund. Woher, bitte, hat es der Freund?
({7})
Ad 2. In bezug auf Cannabis ist das bisherige Umfeld des Konsums gefährlicher als der Konsum an sich. Ich verweise dazu auf die umfangreiche Literatur, die das Bundesverfassungsgericht herangezogen hat, auf den Bericht der 68. Gesundheitsministerkonferenz und auf das pharmakologische Gutachten der Universität Kiel, das die Landesregierung in Auftrag gegeben hat.
({8})
Ad 3. Urteil des Bundesverfassungsgerichts. All dieses wissend und die Realität sehend, hat das höchste deutsche Gericht den Gesetzgeber aufgefordert, zu prüfen, wie sich die Lage entwickelt hat, und insbesondere einzuschätzen, ob und inwieweit die Freigabe von Cannabis zu einer Trennung der Drogenmärkte führen und damit zur Eindämmung des Betäubungsmittelkonsums insgesamt beitragen kann oder ob nur das strafbewehrte Vorgehen gegen den Drogenmarkt insgesamt und gegen die ihn bestimmende organisierte Kriminalität hinreichenden Erfolg verspricht. Just dieses tun wir. Wir erfüllen diese Prüfaufforderung des Bundesverfassungsgerichts.
({9})
Nach geltendem Recht ist der einzige Weg für die Überprüfung, daß wir nach § 3 Betäubungsmittelgesetz einen Modellversuch beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte beantragen. Dazu, Herr Koppelin
({10})
- warten Sie noch eine Sekunde ab -,
({11})
wird auch der Antrag gehören, Cannabis legal zu beschaffen bzw. anzubauen, aber nicht in staatlicher Regie.
Die Bundesregierung sollte uns dankbar sein, daß wir ihr diese schwierige Arbeit, an die sie sich nicht herantraut, abnehmen.
({12})
Lassen Sie mich zum Schluß unsere beiden Hauptziele noch einmal nennen: Erstens. Die Erprobung von Wegen zur Trennung der Märkte von weichen und harten Drogen zum Schutz von Gelegenheitskonsumenten und zur besseren Prävention von Drogenmißbrauch und -sucht.
Zweitens. Mehr Glaubwürdigkeit in der Prävention gerade gegenüber Jugendlichen. Denn, meine Damen und Herren, wer nicht die Sucht bekämpft, sondern nur einzelne Drogen, einzelne Suchtstoffe, und andere nicht, der ist unglaubwürdig.
({13})
Wer das totale Verkehrsverbot von Cannabis nicht
nachvollziehbar begründen kann, weil er für Zigaretten und Alkohol trotz gleicher bzw. größerer GefährMinisterin Heide Moser ({14})
lichkeit Werbung zuläßt, ist unglaubwürdig, und er ist nicht konsequent in der Bekämpfung der Suchtgefahr.
({15})
Und, meine Damen und Herren, wer mit betonierter Starrköpfigkeit Antworten auf diese und andere Fragen in der Drogenpolitik verweigert, der redet von Prävention wie ein Blinder von der Farbe oder, um beim Thema zu bleiben, wie ein Schwerstideologieabhängiger mit totalem Realitätsverlust.
Schönen Dank.
({16})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hubert Hüppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber wäre es mir ja gewesen, Frau Moser hätte heute einmal über neue Modelle zur Prävention oder zur Therapie gesprochen.
({0})
Aber das, was Sie gesagt haben, verstärkt noch den Eindruck, daß es Ihnen gar nicht mehr um Hilfe für die Leute geht, sondern nur noch darum, in dieser Gesellschaft eine weitere Droge kulturell zu etablieren. Das ist die Tatsache.
({1})
Meine Damen und Herren, ich finde es schon unehrlich, so zu tun, als wolle man einen wissenschaftlichen Versuch durchführen, und gleichzeitig auf dem SPD-Parteitag zu fordern, daß man die Freigabe sowieso will, und zwar nicht nur die von Haschisch, sondern auch die kontrollierte Abgabe von Heroin und anderen harten Stoffen. Dann sagen Sie doch, was Sie wollen, und seien Sie nicht so unehrlich, meine Damen und Herren!
({2})
- Nein, ich lüge nicht. Lesen Sie die Ziffer 192 Ihres Leitantrages, meine Damen und Herren, dann werden Sie das verstehen.
Einen Augenblick, Herr Kollege. Ich darf einmal unterbrechen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wenn der Lärmpegel so hoch wird, daß man hier oben überhaupt nicht mehr verstehen kann, was der Redner sagt - Sie können es ja dann auch nicht mehr verstehen -, dann nehme ich mir die Freiheit, die Redezeit zu verlängern.
({0})
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Bitte, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Meine Damen und Herren, wenn Sie so etwas auch noch auf einem Jugendparteitag beschließen, finde ich das noch unverantwortlicher.
Herr Singer, Sie sind doch suchtpolitischer Sprecher. Sie haben sich doch schon häufig hier zu den Gefahren von Cannabis geäußert. Seien Sie einmal ehrlich, und stellen Sie sich gegen diese SPD-Ministerin! Folgen Sie Herrn Glogowski, dem Innenminister von Niedersachsen, der gesagt hat, er würde einen solchen Weg niemals mitgehen und er würde dies gegenüber den Jugendlichen für unverantwortlich halten. Ich kann diese Meinung nur teilen.
({0})
Damit das klar ist: Cannabis ist nicht risikolos, und es ist schon gar nicht risikolos für 16jährige.
({1})
- Natürlich, Alkohol auch nicht. Aber Sie können doch nicht auf der einen Seite sagen, Sie seien gegen legale Drogen und wir hätten bei den legalen Drogen versagt, und auf der anderen Seite wollen Sie eine weitere Droge legalisieren. Das ist doch der falsche Weg. Da müßten wir die anderen angehen. Das wäre der richtige Weg.
({2})
Meine Damen und Herren, Cannabiskonsum kann neben Rauschzuständen Lethargie, Angstgefühle, Realitätsverlust und Depressionen hervorrufen. Das sagt das Gutachten, das Sie selbst vorgelegt haben. Lesen Sie es im Gutachten der Kieler Universität nach!
Es ist natürlich gerade für junge Menschen, für 16jährige - auch denen wollen Sie diesen Stoff geben - um so gefährlicher, weil nämlich diese jungen Menschen in einer Orientierungsphase sind, ihren Beruf suchen, erstmals Partnerschaften eingehen. Diesen Menschen dann eine Droge in die Hand zu geben ist um so unverantwortlicher.
({3})
Ich muß wirklich fragen - wo Sie doch gegen Alkohol sind und auf die Gefahren des Alkohols aufmerksam machen; ich teile vollkommen Ihre Meinung -: Reicht es denn nicht, daß schon bei den Verkehrsunfällen so viele Menschen durch Alkohol umkommen? Muß denn noch eine weitere Droge wie Cannabis hinzukommen, die in diesem Zusammenhang mindestens genauso gefährlich ist? Das müssen Sie sich fragen lassen.
({4})
Es geht Ihnen doch gar nicht um die Trennung der Märkte. Sie wissen doch, daß die Märkte schon heute getrennt sind. Glauben Sie denn wirklich, daß der 16jährige in die Apotheke geht und sich registrieren läßt, wenn Sie sagen, daß Sie einen höheren Preis für diesen Stoff in den Apotheken nehmen wollen? Das alles fehlt in Ihrem Antrag.
Es ist schon interessant, wenn Sie hier mit Zahlen argumentieren; denn in dem Gutachten von Professor Raschke, das Sie selber in Auftrag gegeben haben, steht, daß sie überhaupt noch keine Aussagekraft über den Cannabis-Konsum in Schleswig-Holstein hätten. Wie wollen Sie denn dann ein Ergebnis herbeiführen?
Was Sie letztendlich wollen, ist die Freigabe einer weiteren Droge. Frau Moser, Sie haben im „Hamburger Abendblatt" gesagt, Sie wollten die Angst vor dieser Droge nehmen, aber das sei ein längerer Weg. Ich kann Ihnen für die Regierungskoalition nur sagen: Diesen Weg werden wir nicht mitgehen.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe dem Abgeordneten Rezzo Schlauch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der heutigen Aktuellen Stunde fragte man sich schon, was die F.D.P. reitet, zum wiederholten Male eine durchsichtige Vorführnummer auf rechtsstaatlichem Parkett zu versuchen. Wollen Sie denn von Ihren peinlichen steuerpolitischen Flops Ihrer Fraktion ablenken?
({0})
Oder wollen Sie sich, Herr Westerwelle, nahtlos in die Front des erfolglosen Antidrogenkriegers Kanther und des eifernden Drogenmissionars Sauer einreihen? Oder wollen Sie zur Freude Ihres Rechtsaußenparteifreundes Stahl die F.D.P. von den letzten Resten liberaler Rechtsstaatspartei in die rechte Staatspartei überführen?
({1})
Oder, Herr Westerwelle, handeln Sie einfach nach dem Motto: Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er auf das Eis? Denn daß es Ihnen zu wohl ist, zeigt sich daran, daß Ihr Parteifreund in Schleswig-Holstein, Herr Kubicki,
({2})
der schließlich Protagonist der Legalize-Bewegung der 70er Jahre war, im schleswig-holsteinischen Landtag den Antrag nicht in der Sache, sondern lediglich in der Begründung kritisiert hat.
({3})
Dabei kann in der Tat der Modellversuch des Bundesverfassungsgerichts für sich in Anspruch nehmen - ich zitiere -: „Der Gesetzgeber wird einzuschätzen haben, ob und inwieweit die Freigabe von Cannabis zu einer Trennung der Drogenmärkte führt." Ich frage Sie: Wie soll denn der Gesetzgeber diese Einschätzung leisten, ohne jemals Erfahrungen mit einer legalen Abgabe von Cannabis sammeln zu können?
({4})
Deshalb hat das Betäubungsmittelgesetz in § 3 diese Möglichkeit aufgetan.
Es liegt sehr wohl, Herr Kollege Westerwelle
({5})
- aber Ihr Kollege -, im öffentlichen Interesse, endlich zu verhindern, daß Jugendliche, die Haschisch ausprobieren, in die Hände der Drogendealer fallen und auf Kokain und Heroin umsteigen. Oder finden Sie, daß es mehr im öffentlichen Interesse liegt, wenn statt dessen 30 000 Jugendliche pro Jahr wegen Besitz von ein paar Gramm Haschisch strafrechtlich verfolgt, davon 8 000 verurteilt werden und dadurch erhebliche Schwierigkeiten in ihrem sozialen Alltag bekommen?
({6})
Die vielen „Freunde", die der Herr Innenminister und auch die Frau Gesundheitsministerin zitiert haben - es sind zirka 4 bis 6 Millionen Haschischkonsumenten in der Bundesrepublik -, müssen ja ihren Stoff irgendwoher bekommen. Die Frage ist, ob sie ihn von den Dealern oder von der Apotheke oder einer Drogerie bekommen.
({7})
Das Bundesverfassungsgericht ist da weit realistischer als Sie. Es stellt fest, ein gelegentliches Umsteigen liege nicht an einer Rauschgewöhnung, sondern vielmehr an der Einheitlichkeit des Drogenmarktes; denn der Cannabis-Raucher bezieht das Haschisch in der Regel von Dealern, die auch mit harten Drogen handeln. Hieran hat sich dank einer bornierten Drogenpolitik der CDU/CSU bis zum heutigen Tage nichts geändert. Offensichtlich reihen Sie von der F.D.P. sich jetzt ein.
({8})
Drogenpolitiker - dazu gehören jetzt auch Sie, Herr Koppelin und Herr Westerwelle -,
({9})
die neue Erkenntnisse ablehnen oder gar nicht gewinnen wollen, kapitulieren vor der Drogensucht und vor der Mafia und begünstigen sie.
Keiner von uns will die Risiken des Drogenkonsums verharmlosen. Wenn aber die Volksdroge Alkohol, die übrigens in zunehmendem Maße auch wieder von Jugendlichen konsumiert wird, wie das MaxPlanck-Institut feststellt, weiterhin konsumiert werden kann, während die andere Droge ins Gefängnis führt, dann ist das nicht glaubwürdig. Vor diesem Hintergrund kann man auch keine glaubwürdige Prävention betreiben.
({10})
Deshalb mein Appell an Sie - wenn Sie noch reden, Herr Westerwelle, dann gehe ich davon aus, daß Sie dazu noch etwas sagen -: Torpedieren Sie nicht den Versuch in Schleswig-Holstein! Wenn auch Sie interessiert sind, Drogenabhängigkeit einzudämmen und Süchtigen zu helfen,
({11})
dann machen Sie Vorschläge, den Versuch zu optimieren und nicht zu diskreditieren.
({12})
Ich gebe der Abgeordneten Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Koppelin, wenn es hier nicht tatsächlich um ein ernstes Problem ginge, von dem viele Jugendliche betroffen sind, könnte man einfach sagen: Das, was Sie hier abgeliefert haben, war absolut billig.
({0})
Worum geht es Ihnen denn? Wollen Sie auf das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Druck ausüben, um das Modellprojekt zu verhindern? Man hätte noch die Hoffnung haben können, Sie wollten liberale Stimmen innerhalb der F.D.P. unterstützen. Aber das haben Sie hier ad absurdum geführt.
Die Aktuelle Stunde kann bei weitem nicht eine notwendige Fortführung der Drogendebatte ersetzen. Wenn Herr Bundesinnenminister Kanther im Vorfeld der heutigen Aktuellen Stunde davon gesprochen hat, daß das eine ganz schlimme Sache, eine ganz falsche Politik und eine wirkliche Sünde gegen die Jugend sei,
({1})
dann muß ich Frau Moser wirklich recht geben: Das, was hier läuft, ist eine Denunziation der drogenpolitischen Diskussion, nicht mehr und nicht weniger.
({2})
Sie verhindern genau damit, daß diese Debatte wirklich entemotionalisiert und entideologisiert wird. Jugendgefährdend ist nicht der Konsum von Drogen, von Cannabis und Marihuana, sondern jugendgefährdend ist die Kriminalisierung.
({3})
Wenn Sie noch ein bißchen Realitätssinn hätten, wüßten Sie das und würden das hier auch so zur Sprache bringen.
({4})
Es ist schon zu weit nach 12 Uhr, um die Drogendebatte so zu führen. Hanf als Rohstoff, Hanf als medizinisches Heil- und Schmerzmittel, Hanf auch als Grundlage für Rauschmittel, das sollte auf wissenschaftlicher Grundlage diskutiert werden. Das, was an wissenschaftlichen Untersuchungen dazu vorliegt, müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir haben unter anderem eine Kleine Anfrage dazu gestellt. Es gibt Untersuchungen. Aber man hat das Gefühl, daß Sie nicht einmal mehr dazu in der Lage sind, diese zu lesen.
Sie verbauen mit der heutigen Diskussion die derzeit einzige legale Möglichkeit, durch die Trennung des Marktes für harte und weiche Drogen in einem Modellprojekt neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das ist nicht einfach ein rot-grüner Modellversuch - es ist lächerlich, was Sie hier vorgebracht haben -, sondern das ist die Umsetzung einer Empfehlung der Bundesgesundheitsministerkonferenz. Ich frage mich wirklich, wo wir hier sind.
({5})
- Natürlich stimmt das.
Ich möchte aus diesem Grunde unseren Respekt für Frau Moser ausdrücken, daß sie das in die Hand genommen hat und nun auch umsetzen will.
({6})
Was bringt der Vorschlag einer Abgabe in Apotheken: Kontrollierte Qualität, eine getrennte Abgabe von harten und weichen Drogen, ein geprüfter Wirkstoffgehalt, die Abgabe erfolgt nicht an Minderjährige
({7})
und in kleinen Mengen nur zum Eigengebrauch.
Die Trennung der Märkte für harte und weiche Drogen könnte ein Schritt sein,
({8})
um auch in Deutschland nachzuweisen, daß die Erfahrungen aus anderen Ländern recht geben. Ich verweise hier auf die Schweiz.
Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem indirekt zu diesem Modellversuch Stellung genommen. Da Sie dies wieder nicht zur Kenntnis nehmen wollten, zitiere ich aus dem Urteil:
Nur 2,5 Prozent der Haschischkonsumenten gebrauchen auch andere unter das Betäubungsmittelgesetz fallende Drogen.
Das heißt: Zum sogenannten von Ihnen heraufbeschworenen Umsteigeeffekt stellte das Karlsruher Gericht fest, daß die Einheitlichkeit des Marktes für Heroin und Cannabis die Ursache dafür ist. Das ist die Folge einer Politik, die eine undifferenzierte Verurteilung dieser Drogen vornimmt.
Wir haben hier schon mehrmals Anträge zur Drogenpolitik eingebracht.
({9})
Darüber hinausgehend fordern wir - ich möchte betonen, was in dem Modellversuch angestrebt wird - die Legalisierung des Anbaus von Cannabis-Pflanzen und des Gebrauchs von Cannabis-Produkten. Wir haben aber auch ein Abgabeverbot an Jugendliche unter 16 Jahren als Auflage. Weiter fordern wir Aufklärung, damit Menschen wissen, womit sie umgehen. Da reicht nicht ein Aufdruck wie zum Beispiel bei den Zigarettenschachteln: „Rauchen ist schädlich für Ihre Gesundheit" .
Wir fordern auch ein absolutes Werbeverbot für alle Rauschmittel. Hier in diesem Hause - ich glaube, es war vor vier Jahren - hat Frau Bergmann-Pohl dies extra noch einmal betont. Sie sind ja für die Werbung; dafür sind Sie auch auf europäischer Ebene eingetreten. Das ist die Doppelzüngigkeit Ihrer Politik. Das ist wirklich heuchlerisch.
({10})
Wenn das, was zum Beispiel Herr Hüppe und Herr Koppelin hier verkündet haben, wirklich ernst gemeint war, dann müßte morgen eigentlich ein Antrag oder ein Gesetzesentwurf für das Werbeverbot und für einen anderen Umgang mit Alkohol, Zigaretten und Tabletten auf dem Tisch sein. Solange Sie nicht irgend etwas in dieser Richtung unternommen haben und sich jeglicher sachlichen Diskussion in Richtung Drogenpolitik verwehren, ist das, was Sie machen, unglaubwürdig. Das gefährdet tatsächlich durch eine weitere Kriminalisierung die Jugend.
({11})
Ich bedanke mich.
({12})
Nun spricht der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Moser, ich komme Ihrer Aufforderung gerne nach und versuche, ganz sachlich auf die Argumente einzugehen, die Sie hier vorgetragen haben.
Zunächst einmal möchte ich die Notwendigkeit für den Bedarf eines solchen Modellversuchs in der Bundesrepublik Deutschland bestreiten; denn diesen Modellversuch gibt es, wie Sie wissen, in großem Umfang seit Jahr und Tag in den Niederlanden.
({0})
Auch das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich die Aufforderung an uns gerichtet - ich zitiere wörtlich -, „Erfahrungen des Auslandes zu beobachten und zu überprüfen" . Das können Sie dort in Hülle und Fülle tun. Ich weiß auch, daß Sie schon dort waren.
Als Resümee der Zustände in Holland möchte ich die „Neue Zürcher Zeitung" vom 27. November zitieren. Die „Neue Zürcher Zeitung" ist bekanntermaßen sehr experimentierfreudig. Sie begleitet zustimmend die Versuche in der Schweiz. Dort steht:
Auch in den Niederlanden selbst hat der Ärger der Bevölkerung über die Belästigung durch abhängige Junkies ... zuweilen den Siedepunkt erreicht.
({1})
Es ist auch bekannt, Herr Schlauch, daß beispielsweise die Niederländer jetzt, weil sich eklatante Mißstände bei ihren Abgabestellen, den Coffee-Shops, eingestellt haben, 800 dieser Coffee-Shops schließen wollen. Zugleich wurde die Menge von 30 Gramm auf 5 Gramm reduziert. Und Sie sind heute mit Ihrer Praxis in Schleswig-Holstein bei 30 Gramm.
Meine Damen und Herren, ich frage mich also: Was soll denn ein Modellversuch, wenn wir diesen gigantischen Modellversuch Niederlande seit Jahr und Tag haben und dort die Folgen beobachten und einschätzen können?
({2})
Zweitens. Auch die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Ich darf hier einmal den Leiter der Hauptstelle für Suchtgefahren in Hamm, Herrn Hüllinghorst, zitieren. Er ist ein unverdächtiger Zeuge.
({3})
Er sagt - er belegt dies mit Statistiken -: In den Niederlanden ist die Zahl der Abhängigen nach Einführung der Coffee-Shops deutlich angestiegen. Er
nennt dazu Zahlen -- ich vergleiche dies mit Deutschland -: In den Niederlanden gelten 4,4 Prozent der Bevölkerung als Haschischkonsumenten, in Deutschland 2,6 Prozent. In den Niederlanden sind 4 Prozent der Konsumenten von Haschisch auffällig und haben starke Probleme damit, in Deutschland 2,5 Prozent.
Meine Damen und Herren, wie kommt man als Gesundheitsministerin angesichts dieser eindeutigen Bilanz eigentlich auf die Idee, das sogenannte holländische Modell oder die dort gemachten schlechten Erfahrungen auf ein deutsches Bundesland übertragen zu wollen? Das kann ich mir bis heute real jedenfalls nicht erklären.
({4})
Meine Damen und Herren, im übrigen muß ich eines noch sagen: Sie riskieren natürlich auch - das wird sich so sicher wie das Amen in der Kirche einstellen -, daß Schleswig-Holstein dann in Konkurrenz zu den Niederlanden tritt und einen Drogentourismus aus aller Herren Länder erleben wird, der sich gewaschen hat.
({5})
Meine Damen und Herren, das Generalproblem der Niederländer ist ja dieser Drogentourismus. Was bringt Sie eigentlich zu der Annahme, Frau Moser, daß die Leute nicht nach Schleswig-Holstein fahren werden, um dort ihr Haschisch zu holen? Sie sind ja sogar bereit, im Einzelfall eine größere Menge abzugeben als die Niederländer. Sie sprechen von mindestens 10 Gramm, in den Niederlanden sind es 5 Gramm.
Ich kann nur feststellen, meine Damen und Herren: Was hier beabsichtigt ist, ist abenteuerlich, aus meiner Sicht sogar verantwortungslos.
({6})
Im übrigen muß ich noch auf eines hinweisen - auch das ist eigentlich unstreitig, und da reicht die bloße Lebenserfahrung -: Wenn Sie die Verfügbarkeit solcher Substanzen erhöhen, dann steigt erstens die Zahl der Konsumenten. Das zeigt das Beispiel der Niederlande.
({7})
Zweitens können Sie Jugendliche und Kinder, die Sie schützen wollen, wie Sie immer wieder beteuern, effektiv nicht mehr schützen.
({8})
Das sehen Sie bei den anderen Sucht- und Genußstoffen, wie Alkohol und Nikotin. Die Motivation, aus dieser Sucht auszusteigen, machen Sie denen, die betroffen sind, ungeheuer schwer.
Schließlich vernichten Sie noch jegliche Glaubwürdigkeit von Prävention. Das ist das Ergebnis dessen, was Sie uns da zumuten wollen.
({9})
Eines fällt mir immer wieder auf. Ich glaube, Sie haben sich unter den Gesundheitsministern kürzlich auf den Beschluß geeinigt, daß Zigarettenautomaten auf Schulwegen abgehängt werden sollen, weil man davon ausgeht, daß die Kinder verführt werden könnten. Aber wenn ich das Verbot der Abgabe von Haschisch aufhebe, soll plötzlich dieser Automatismus nicht entstehen, da soll die Zahl der Konsumenten nicht steigen. Sie müssen die Schlüssigkeit Ihrer Argumente einmal überprüfen.
({10})
Einen Satz noch zur Trennung der Märkte: Auch das funktioniert eben nicht; auch das hat das niederländische Experiment gezeigt. Es ist einfach so, daß derjenige, der harte Drogen loswerden will, der Szene der weichen Drogen hinterherläuft, weil er zu Recht dort seine potentiellen Kunden vermutet.
Meine Damen und Herren, Sie werden bei den weichen Drogen immer erleben - egal, wo sie ausgegeben werden: in den Apotheken, in den CoffeeShops oder wo auch immer -, daß entweder drinnen, wenn es unkorrekt gehandhabt wird, oder vor den Toren dieser Abgabestellen diejenigen lauern, die harte Drogen loswerden wollen, weil sie natürlich wissen, daß jemand, der mit Haschisch hantiert, eine Affinität zu erkennen gegeben hat, die dann von jenen ausgenutzt wird, die harte Drogen anbieten. Auch dieses Argument erweist sich deshalb bei näherem Hinsehen als nicht zutreffend.
Ich bitte Sie herzlich, diesen Spuk im Interesse der Jugendlichen, die hinterher davon miserabel betroffen sein werden, schnellstens zu beenden.
({11})
Ich gebe dem Abgeordneten Professor Jürgen Meyer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt Debatten, die der Sache dienen, der engagierten Auseinandersetzung um Konzepte zur Lösung wichtiger Probleme. Und es gibt leider auch Debatten, die um kleinen parteipolitischen Vorteils willen dazu dienen, Personen anzuprangern und zu verunglimpfen. Nachdem ich einige der im vorhinein verteilten FünfMinuten-Manuskripte gelesen und die Reden insbesondere der Kollegen Hüppe und Koppelin gehört habe, muß ich sagen, daß das heute eine Debatte von der zweiten Sorte ist.
({0})
Dr. Jürgen Meyer ({1})
Sie, Herr Kollege Sauer von der CDU/CSU-Fraktion, verbreiten noch etwas unverblümter und ungeschickter als vorhin der Kollege Lintner wissentlich die Unwahrheit in mehrfacher Hinsicht.
({2})
Erstens behaupten Sie, die SPD beginne eine Werbekampagne für den Drogenkonsum.
({3})
Dabei verschweigen Sie, daß Sie selbst - auch Sie, Herr Sauer - der gesetzlichen Regelung zugestimmt haben, auf der der Modellversuch beruhen soll. Ich spreche von § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes,
({4})
dessen Neufassung im Juni 1994 auch Sie persönlich zugestimmt haben.
({5}) Darin heißt es - ich zitiere -:
Eine Erlaubnis für die in Anlage I bezeichneten Betäubungsmittel kann das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen.
Ich weise Sie darauf hin, daß in Anlage I ausdrücklich Marihuana und Cannabisharz genannt sind.
Herr Kollege Sauer, weil Sie in Ihrer Pressemitteilung verlangen, daß der Antrag, der übrigens noch gar nicht gestellt ist und den Sie gar nicht kennen können, bitte schön abgelehnt werden sollte, fordere ich Sie auf: Machen Sie sich erst einmal rechtskundig. Es gibt eine verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die besagt, daß das Ergebnis eines Modellversuchs nicht in der Weise vorweggenommen werden kann, daß man wegen eines unterstellten Ergebnisses einen Versuch überhaupt ablehnen dürfe. Das tatsächliche Ergebnis kennen Sie nicht und wir nicht. Also halten Sie sich an das Gesetz, das Sie selber hier mit verabschiedet haben.
({6})
Sie verschweigen zweitens, daß sich Ihre Kampagne in Wahrheit nicht gegen den Antrag auf Erlaubnis eines Modellversuches richtet, sondern wieder einmal - das wurde vorhin schon angesprochen - gegen das Bundesverfassungsgericht, dessen Rechtsprechung Ihnen offenbar zunehmend ein Dorn im Auge ist.
Weil der Kollege Lintner eben aus der Entscheidung dieses Gerichts falsch zitiert hat, will ich den betreffenden Satz noch einmal zitieren, damit Sie die Möglichkeit bekommen, mitzudenken:
Angesichts der dargestellten offenen kriminalpolitischen und wissenschaftlichen Diskussion über die von Cannabiskonsum ausgehenden Gefahren und den richtigen Weg ihrer Bekämpfung hat der Gesetzgeber die Auswirkungen des geltenden Rechts unter Einschluß der Erfahrungen des Auslands zu beobachten und zu überprüfen.
({7})
Herr Kollege Lintner, Sie haben behauptet, es seien lediglich die Erfahrungen des Auslands zu prüfen. „Unter Einschluß" heißt aber, bitte schön, auch, daß wir die eigenen Erfahrungen zu überprüfen haben.
({8})
Im übrigen, Herr Kollege Lintner, ist es doch völlig abwegig, wenn Sie die Gefahren des Drogentourismus angesichts eines Modellversuchs beschwören, der die Abgabe in Apotheken nur an Personen, die in der betreffenden Gemeinde von Schleswig-Holstein wohnen, vorsieht. Sie sagen auch in diesem Punkt die Unwahrheit.
({9})
Schließlich ist es abwegig, die Abgabe von Zigaretten an Automaten mit der Haschischabgabe in Apotheken zu vergleichen. Das versteht doch jeder vernünftige Mensch auf den ersten Blick.
Drittens. Sie, Herr Sauer, und Sie, Herr Kollege Hüppe, verbreiten wahrheitswidrig die Behauptung, der SPD-Jugendparteitag habe sich in der vergangenen Woche für die Legalisierung von Cannabisprodukten ausgesprochen. Ich zitiere, damit Sie einmal den Wortlaut kennenlernen:
Nicht Strafe, sondern Vorsorge gegen gesundheitliche Schäden, die Förderung eines verantwortlichen Umgangs mit allen Drogen und differenzierte Angebote der Hilfe und Beratung für diejenigen, die solche benötigen, müssen im Vordergrund stehen.
Wenn Sie sprachliche Äußerungen überhaupt aufnehmen wollen, dann müssen Sie doch verstehen, daß dann, wenn Prävention im Vordergrund steht, kein völliger Verzicht auf Repression, also strafrechtliche Maßnahmen, befürwortet worden ist. Ich bitte Sie, sich das zu überlegen und mit uns gemeinsam für Prävention und auch für Aufklärung über den Gebrauch legaler Drogen einzutreten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen; die Redezeit ist abgelaufen.
Das sind Bestandteile einer Drogenpolitik, die wir oft erläutert haben. Wir brauchen aber neue Erkenntnisse; sie sind bitter nötig. Denn daß Ihre Politik, die einseitig auf Repression setzt, gescheitert ist, das ist die gemeinDr. Jürgen Meyer ({0})
same Überzeugung der meisten Fachleute und der SPD.
Ik h danke Ihnen.
({1})
Ich gebe nun das Wort der Abgeordneten Anneliese Augustin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in den Deutschen Bundestag eingezogen bin, habe ich 25. Jahre in meinem Heimatort Kassel eine eigene Apotheke geführt, und ich fand es immer gut, kranken Menschen helfen zu können. Um so erschrockener, um nicht zu sagen entsetzt bin ich über diesen Vorschlag aus Kiel, in einem Modellversuch Cannabis über die Apotheke verkaufen zu lassen.
({0})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, in der Apotheke werden aus guten Gründen weder Alkohol noch Nikotin verkauft,
({1})
und ich bin daher entsetzt über den Vorschlag der Kieler Gesundheitsministerin Moser, bei vermeintlich weichen Drogen den Dealer durch den Apotheker ersetzen zu wollen. Dies ist nicht nur die katastrophale Fortsetzung eines juristischen Irrtums mit politischen Mitteln. Für mich als Apothekerin ist es schlicht eine Zumutung und mit meinem Berufsethos absolut nicht vereinbar,
({2})
wenn Apotheker demnächst ein Haschischpfeifchen über den Tresen schieben.
Diese „weiche Welle" aus Kiel ist nicht nur eine falsche und schädliche Welle, sondern schlicht die Kapitulation vor der Sucht. Doch Sucht beseitigt man nicht dadurch, daß man sie politisch salonfähig macht. Gerade darin liegt eine der großen Gefahren dieses Versuchs.
({3})
Ich bin überzeugt davon, daß der Verkauf von Cannabis in einer Apotheke und damit die Nähe zu Heil- und Arzneimitteln die Hemmschwelle zum Konsum weiter senken würde.
({4})
Der Drogenkonsum bekäme das Mäntelchen der
Harmlosigkeit umgehängt, und die Akzeptanz
würde noch vergrößert. Aber Droge bleibt Droge! Jeder Verharmlosung muß von Anfang an ein Riegel vorgeschoben werden.
({5})
Erlauben Sie gerade mir als Pharmazeutin in diesem Kontext noch den Hinweis, daß es wirklich dummes Geschwätz und Humbug ist, von „harmlosen Cannabispräparaten" zu reden. Auch der Gesundheitsministerin in Kiel möchte ich bezüglich der Cannabisprodukte raten: „Zu Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker".
({6})
Es ist doch kein Zufall, daß bei uns im medizinischen Bereich Cannabis überhaupt nie angewandt wird.
({7})
In meiner Praktikantenzeit hat man Cannabis noch gegen Hühneraugen verwendet, aber auch das ist aus gutem Grund Gott sei Dank heute verboten.
({8})
- Herr Präsident, habe ich das Wort?
({9})
Und es darf doch auch nicht wahr sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß politische Gruppierungen und Personen, die sonst hypersensibel auf Nebenwirkungen bei Arzneimitteln reagieren
({10})
und ganz schnell mit der Forderung nach Entzug der Zulassung und Rücknahme vom Markt dabei sind, bei Cannabisprodukten mit einer Handbewegung locker alle Risiken und Gefahren vom Tisch wischen.
({11})
Ich würde jedenfalls gern einmal einen Beipackzettel aus dem Hause Moser für einen Joint sehen.
({12})
Hoffentlich führt Frau Moser darin dann auch wahrheitsgemäß aus, daß ein Joint sieben- bis zehnmal so stark kanzerogen, also krebserregend wirkt wie eine einzige Zigarette.
({13})
Das Ansehen und die Seriösität eines ganzen Berufsstandes soll hier mißbraucht werden. Ich verAnneliese Augustin
wahre mich als Apothekerin und als Abgeordnete gegen diesen Mißbrauch und hoffe, daß das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Berlin den Kieler Modellversuch stoppt, wenn er denn beantragt wird. Es wäre unverantwortlich, diesen Irrweg weiterzugehen.
({14})
Nun gebe ich der Abgeordneten Antje-Marie Steen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Drogenpolitik der Bundesregierung ist gescheitert; daher auch Ihr Geschrei hier.
({0})
Diese Feststellung meiner Fraktion wird Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht überraschen, da wir unsere Kritik an Ihrer repressiven und nur auf polizeiliche Verfolgung der Betroffenen setzenden Politik
({1})
immer wieder geäußert haben.
Sie verweigern den Schwerstabhängigen nötige medizinische Maßnahmen.
({2})
Sie verweigern die Einrichtung von Gesundheitsräumen zur sozialen und psychosozialen Stabilisierung, und Sie verweigern sich einer Vereinfachung von Substitution.
Ich kann Ihnen ankündigen: Wir werden sehr genau beobachten, ob die Zusage von Herrn Minister Seehofer, im Haushalt 1997 bei Prävention und Aufklärung keine Mittelkürzung vorzunehmen, auch durchgehalten wird. Das werden wir sehr genau beobachten.
({3})
Damit nicht erst Abhängigkeit entsteht und der Teufelkreis „Drogenkonsum, Kriminalisierung, Gefängnis, HIV- oder Hepatitisinfektion, soziale und gesundheitliche Verelendung bis zum Tod" einsetzt, gilt es, Strategien in der Prävention zu entwickeln, die zumindest Cannabis-Konsumenten aus der Illegalität herausholen oder verhindern, daß sie Kontakt mit sogenannten harten Drogen bekommen.
({4})
Mit dem Modellversuch, den die Landesregierung Schleswig-Holstein mit dem Ziel der Trennung der Märkte unternimmt,
({5})
folgt sie, Herr Koppelin, auch den Empfehlungen internationaler Wissenschaftler und Experten,
({6})
die auf Grund von Vergleichen und Erfahrungen zu diesem Weg raten.
({7})
Auch der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Herr Viktor Weber, zum Beispiel hält diesen Versuch für akzeptabel, um Hinweise darauf zu erhalten, ob die kontrollierte Abgabe den illegalen Dealermarkt austrocknen kann. Sie haben nicht einmal einen Gesetzentwurf erarbeitet, der eine Abschöpfung der Dealermärkte zuließe.
({8})
Sie müssen sich hier nicht aus dem Fenster lehnen.
({9})
- Ich würde an Ihrer Stelle erst einmal abwarten und Luft holen, ehe Sie sich weiter erregen.
Auch Ihr Kollege Kubicki,
({10})
der hier schon mehrmals zitiert worden ist - ein erstaunliches Zitat hat der Kollege Schlauch hier schon vorgebracht -, hat unterstrichen, daß die Drogenpolitik der Landesregierung von ihm gewollt ist. Er hat sogar geäußert - laut Originalprotokoll aus dem Schleswig-Holsteinischen Landtag -: Wir haben die SPD da hintragen müssen, damit sie das macht.
({11})
- Herr Koppelin, echauffieren Sie sich doch nicht so. Das ist doch alles schädlich.
({12})
- Herr Koppelin, was hat Ihre Fraktion eigentlich geritten, diese Aktuelle Stunde zu beantragen?
({13})
Ich darf Ihnen noch ein Zitat Ihres Kollegen Kubicki vorhalten. Dieser Herr hat gesagt - ich muß das so akzeptieren; denn auch das ist aus einem Protokoll des Schleswig-Holsteinischen Landtages -:
Ich möchte ... meiner Wut Ausdruck verleihen,
daß es sich dieses Hohe Haus anmaßt - das sage
ich jetzt ausdrücklich so deutlich -, diffizile ProAntje-Marie Steen
bleme wie die der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, der Haushaltskrisen oder auch so diffizile Probleme wie das der Bekämpfung der Drogensucht und der Drogenmafia in Aktuellen Stunden abzuhandeln.
Und Sie machen das hier!
({14})
Ich darf Herrn Kubicki - Mitglied der F.D.P.-Landtagsfraktion ({15})
weiter zitieren:
Wer glaubt, daß diese Probleme in Fünf-MinutenBeiträgen erfaßt werden können, tut sich selbst, tut aber auch der Bevölkerung dieses Landes keinen Gefallen.
({16})
Das gilt sowohl für die Sozialdemokraten - diese Kritik nehme ich hin als auch für die Union dieses Hauses.
Von der haben wir heute etwas ganz anderes gehört.
({17})
Vielleicht handelt es sich auch um die von Ihnen, Herr Koppelin, immer wieder ins Spiel gebrachte Selbstdarstellung, die Sie bewogen hat, diese Aktuelle Stunde zu beantragen. Ich denke, Sie wollten Ihren Funktionen als Sprecher zu vielen Themen auch noch die des drogenpolitischen Sprechers anhängen. Das sei Ihnen genehmigt; vielleicht ist es ja gelungen.
({18})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie können noch so intensiv und lauthals Ihre Forderung nach einer drogenfreien Gesellschaft erheben - es wird sie nicht geben. Im Gegenteil. Neue sogenannte Leistungsdrogen wie Ecstasy erobern den Markt,
({19})
erschließen neue Zielgruppen, verheißen den Dealern große Gewinne. An dieser traurigen Bilanz beteiligt sich die Bundesregierung in wirklich zunehmendem Maße.
Ohne Initiativen wie die des Kieler Kabinetts beruht die Politik doch mehr oder weniger auf Vermutungen und ungeprüften Argumenten, die bisher oft zu verhängnisvollen Einschätzungen geführt haben.
Daß in Kiel endlich gehandelt wird, begrüßen wir von der SPD sehr.
({20})
Sie hingegen haben schon im Vorfeld erklärt - vor allen Dingen Sie, Herr Sauer -, daß das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hoffentlich keine Genehmigung erteilen wird.
({21})
Dazu kann ich nur sagen: Ich hoffe, daß Sie nicht versuchen, hier Steine in den Weg zu legen. Sehen Sie das Elend derjenigen, die es trifft.
({22})
Geben Sie Ihre Blockadehaltung endlich auf!
({23})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
Ich will zunächst einmal das aufgreifen, was Sie, Frau Moser, hier am Anfang der Debatte angeführt haben. Ich möchte Ihnen sagen: Ich finde, es ist schon ein starkes Stück, daß Sie, wenn Sie vom Landesvorsitzenden der schleswig-holsteinischen F.D.P.
({1})
eine entsprechende Kritik an einem Vorhaben erfahren, das Sie selbst zu verantworten haben,
({2})
anschließend glauben, Sie könnten die F.D.P. von Schleswig-Holstein hier als Kronzeugin für Ihren Unsinn bemühen. Das ist nicht in Ordnung.
({3})
Das zweite, was ich Ihnen sagen möchte, ist: Ich bin nachdrücklich der Auffassung, daß wir selbstverständlich auch in der Drogenpolitik neue Wege gehen müssen.
({4})
Wir sind als F.D.P. - ich hätte mir als Opposition, nur theoretisch, an Ihrer Stelle einfach mal die Mühe gemacht, mich auch mal mit der Beschlußlage der Parteien auseinanderzusetzen - in der Tat der Auffassung, daß die derzeitige Drogenpolitik korrigiert werden muß.
({5})
Das gilt übrigens für die Frage von weichen Drogen, und das - ({6})
- Entschuldigen Sie bitte, Sie haben eben differenzierte Positionen eingeklagt. Jetzt bekommen Sie sie. Also beklagen Sie sich nicht in dieser Form!
({7})
In der Drogenpolitik sind sowohl in der Frage der weichen Drogen als auch in der Frage der harten Drogen neue Wege notwendig. Das, worüber wir uns hier streiten, ist ein konkretes Vorhaben, ist ein konkreter Vorschlag,
({8})
nämlich der, daß Drogen künftig in Apotheken, wo den Menschen eigentlich Heilmittel gegeben werden sollten, veräußert werden.
({9})
Ich stelle mir die umgekehrte Diskussion vor. Wenn irgend jemand in Deutschland die Forderung aufgestellt hätte, Zigaretten, Schnaps und Whisky demnächst in Apotheken zu veräußern, wären Sie zu Recht auf die Barrikaden gegangen. Es ist die pure Ideologie, die Sie dazu veranlaßt hat, hier einen solchen Vorschlag zu machen.
({10})
Die Zigarettenautomaten wollen Sie abhängen und demnächst vielleicht die Schilder aufhängen: Hier gibt es keine Zigaretten mehr; wenden Sie sich an Ihre Apotheke. Was ist das für eine Formulierung, was für eine Politik, die Sie tatsächlich beabsichtigen?
({11})
Dieses Vorhaben liegt auch auf der Linie Ihrer bisherigen Politik. Es ist nicht nur so, daß Sie die weichen Drogen, Cannabisprodukte, verharmlosen; son-dem es ist auch so, daß beispielsweise Ihre grüne Kollegin Frau Knoche noch in diesem Jahr die Legalisierung, die Freigabe und die Tolerierung von Ecstasy, einer der gefährlichsten neuen Modedrogen, gefordert hat. Wer so mit den Menschen, vor allem den jungen, umgeht, der hat keine Ahnung davon, was in diesem Lande hilft und was schadet.
({12})
Elf Tote hat es durch diese Modedroge bereits gegeben. Sie setzen sich mit der Schickeria-Mentalität der APO-Opas darüber hinweg; das ist bemerkenswert.
({13})
Es hat wirklich große Freude gemacht, zu beobachten, wie sich Rezzo Schlauch hierhinstellt und redet, wobei in jedem seiner Sätze das Motto mitschwingt - übrigens auch in Ihren Zwischenrufen -: Freunde, mir hat es doch auch nicht geschadet. - Das ist die Mentalität, die Sie hier verbreiten - nach dem Motto: Es ist noch immer gutgegangen, jedenfalls bei uns. Das läßt diejenigen außer Betracht, die zu schwach waren und auf der Strecke blieben. Das ist die Sauerei, die Sie hier betreiben.
({14})
Ich möchte Ihnen übrigens ausdrücklich sagen,
({15})
daß es ein Fehler ist, daß wir immer noch den Mißbrauch legaler Drogen einschließlich des Alkohols hier verharmlosen.
({16})
- Jetzt mach dir mal nicht in die Hose, jetzt hör hier wirklich mal auf!
({17})
Herr Abgeordneter Joseph Fischer, ich nehme es nicht hin, daß dem Redner die Möglichkeit genommen wird, sich hier überhaupt verständlich zu machen.
({0})
Ich bitte auch Sie, sich an die Disziplin zu halten, die hier erforderlich ist.
({1})
Ich verlängere sonst die Redezeit; ich habe das vorhin schon einmal gesagt. Ich nehme das nicht mehr hin!
({2})
Ich mache darauf aufmerksam, daß der Mißbrauch legaler Drogen meiner Meinung nach in Deutschland nach wie vor verharmlost wird. Es ist ein Fehler, daß von illegalen Drogen abhängige Menschen undifferenziert kriminalisiert werden. Aber zwischen dem EntkriminaliDr. Guido Westerwelle
sieren von weichen Drogen und dem Legalisieren von weichen Drogen ist ein großer Unterschied: Der Unterschied, der sich im Gesetz in dem Prinzip „Therapie vor Strafe" ausdrückt. Das müssen wir angehen. Wir müssen dafür sorgen, daß Therapieplätze tatsächlich vorhanden sind.
({0})
Wir müssen dafür sorgen, daß legale Drogen tatsächlich auch in ihrer Gefährlichkeit gesehen werden.
({1})
Aber es kann absolut nicht in Betracht kommen, daß man glaubt, nur weil es den Mißbrauch von legalen Drogen gibt, müsse man den Mißbrauch von bisher illegalen Drogen legalisieren. Das ist in meinen Augen unvernünftig, meine Damen und Herren.
({2})
Ich möchte zum Schluß noch auf eine Sache hinweisen, die mir ebenso wichtig ist.
({3})
Statt daß wir hier über Modellversuche in dieser
Form, also mit der Abgabe in Apotheken, reden, sollten wir lieber über das Verfassungsgerichtsurteil und die Frage reden, was eine geringe Menge ist. Wir sollten darüber reden, ob es eigentlich vernünftig ist, daß wir derartige Unterschiede hinsichtlich der tolerierten Mengen in den Bundesländern haben, ob es klug ist, daß einige Länder die geringe Menge mit 5 Gramm, andere sie mit 30 Gramm einsortieren. Das ist der Auftrag des Verfassungsgerichts gewesen.
({4})
- Weisen Sie nicht auf diese Seite; denn es sind Länder wie Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hessen, die eine Einigung unmöglich machen.
({5})
Sie sind dabei, etwas, was als schick gilt, zu akzeptieren, anstatt den Leuten zu helfen und dazu beizutragen, jungen Menschen klarzumachen, daß es niemals gut ist, wenn man Drogen nimmt, daß es nicht gut ist, illegale Drogen zu nehmen, und daß es nicht gut ist, legale Drogen zu nehmen. Wir sollten davor warnen, sie aber nicht quasi als Heilmittel in Apotheken wohlfeil anbieten.
({6})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Rolf Olderog.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Kollege Helmut Lamp hat mir eine Geschichte über das alte schleswig-holsteinische Dorf Fockbek bei Rendsburg erzählt. Die alten Fockbeker wollten einen Aal durch Ersäufen vernichten. Sie warfen ihn in einen Bach.
Die damaligen Fockbeker Dorfältesten müssen Vorväter der schleswig-holsteinischen Sozialdemokraten gewesen sein.
({0})
Denn man kann sich über den Vorschlag der rot-grünen Landesregierung zur Bekämpfung der Drogensucht nur wundern. Ausgerechnet die Apotheken - es ist wiederholt dargelegt worden - sollen gezwungen werden, solche Produkte zu verkaufen.
({1})
Aber wer den Koalitionsvertrag zur Bildung der rot-grünen Landesregierung kennt, weiß, daß es ja gar nicht um ein Pilotprojekt geht, sondern daß sie längst die Überzeugung gewonnen hat, den „verantwortungsvollen Umgang mit Genußmitteln", wie es dort heißt, zu ermöglichen und freizugeben. Herr Neskovic, jener ominöse und spektakuläre Lübecker Richter, läßt grüßen.
Meine Damen und Herren, reden Sie doch einmal mit den Leuten in Schleswig-Holstein! Die Leute fassen sich an den Kopf.
({2})
Die Apotheker in Schleswig-Holstein und bundesweit protestieren empört. Nicht einmal die zumeist regierungsfreundliche Presse in Schleswig-Holstein weiß diesem Projekt gute Seiten abzugewinnen. Auf Bundesebene hagelt es weit und breit Vorwürfe und gibt es eine Welle von Kritik, Ablehnung und totalem Unverständnis.
Ich frage mich wirklich, was die Gesundheitsministerin motiviert hat, neben den Suchtmitteln Alkohol und Nikotin jetzt noch ein weiteres Suchtmittel freigeben zu wollen.
({3})
Reden Sie also einmal mit den Leuten in Schleswig-Holstein, lesen Sie das „Fehmarnsche Tageblatt", Frau Steen,
({4})
dort sind Leute befragt worden. Reden Sie einmal mit
den Leuten, und Sie werden feststellen, daß die
Erfahrungen mit den holländischen Coffee-shops
längst im Volk verbreitet sind. Das war nämlich eine falsche Entwicklung, sie waren ein Mißerfolg. Es ist doch erwiesen, daß diese Coffee-shops geradezu magisch die Dealer harter Drogen anziehen. Eine Studie des Bundeskriminalamtes weist nach, daß sich im Umfeld dieser Coffee-shops Prostitution und Gewalt konzentrieren. Das ist die Realität; nehmen Sie diese Realität bitte zur Kenntnis.
({5})
Aber nicht genug der Absurdität und des Staunens über die rot-grüne Landesregierung in Kiel: Um die Realisierung ihres langgehegten Wunsches auch gründlich abzusichern, hat sie in aller Stille sorgfältige Vorbereitungen getroffen. Die Landesregierung scheint wirklich von allen guten Geistern verlassen zu sein. Sie wollte tatsächlich selbst ein Staatsunternehmen gründen, um die landwirtschaftliche Produktion, die chemische Aufbereitung und den Absatz und Handel mit Haschisch und Marihuana zu bewerkstelligen.
({6})
Wie gründlich die Landesregierung bei dieser offensichtlichen Herzensangelegenheit - so muß man es schon sagen - zur Tat schreitet, enthüllen jetzt bekanntgewordene Details:
({7})
Schon seit längerer Zeit war eine interministerielle Arbeitsgruppe für das Projekt eingesetzt worden. Ergebnis: Die Leitung des Produktionsunternehmens sollte entweder ein Chemiker im Staatsdienst oder ein staatliches Institut übernehmen. Hochkarätige Professoren hatten bereits in ausführlichen Expertisen errechnet und durchgeplant, wie die Investitionen im Detail aussehen sollten: für das Gewächshaus, für die Halle, für die Verarbeitungsräume und dergleichen
({8})
und für die Struktur und Besoldung des 17köpfigen Personalkörpers.
({9})
Für das Pilotprojekt sollten zunächst 34 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden.
({10})
Aber ohne marktwirtschaftlichen Sinn ist auch die Landesregierung nicht; schließlich soll man in dieser schwierigen Zeit parteipolitisches Profil gewinnen, möglichst ohne selbst Geld auszugeben. Die Preise sollten daher so festgesetzt werden, daß auch noch ein Überschuß in Höhe von 4 Millionen DM erwirtschaftet werden sollte.
Das Projekt sollte ein wahrhaft musterhaftes Aushängeschild für rot-grün werden. Nach dem Abzug
einiger Bundeswehreinheiten sollte es ein Konversionsprojekt
({11})
und natürlich auch ein ökologischer Modellfall werden. So soll zum Beispiel das von der Kriminalpolizei des Landes bei der Kriminalitätsverfolgung sichergestellte Haschisch dem Unternehmen zum Recycling zugeführt werden.
({12})
Bis in die feinsten Einzelheiten wurde alles festgelegt.
({13})
So sollten die produzierten Haschisch- und Marihuana-Produkte in ansprechenden marktgängigen Einwegverpackungen angeboten werden, bei Zigaretten unter Angabe des präzisen Nikotin- und Teergehalts. Unklar bleibt nur, ob zur Krönung des Designs auch noch das Landeswappen Schleswig-Holsteins mit den beiden Löwen eingeprägt werden sollte.
Was so grotesk und aberwitzig erscheint, kann nicht ernst genug genommen werden.
Herr Kollege Olderog, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Herr Präsident, ich bemühe mich, zum Schluß zu kommen.
Die Landesregierung brachte ihr Projekt just zu dem Zeitpunkt unters Volk,
({0})
als das Landeskriminalamt die aktuelle Drogenbilanz vorlegte. Das war eine erschütternde Bilanz für Schleswig-Holstein: 29 Drogentote, acht mehr als im Vorjahr. Das ist ein Plus von 38 Prozent im ersten Halbjahr, ({1})
Herr Kollege Olderog, ich muß Sie wirklich bitten, zum Abschluß zu kommen.
- Anstieg der Drogenkriminalität um 45 Prozent und Zunahme der Zahl der Haschisch-Konsumenten um 27 Prozent.
Meine Damen und Herren, es gibt nur eines: Das Projekt gehört auf der Stelle gestoppt und mit Stumpf und Stiel eingestampft.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kieler Landesregierung hat entgegen ihren ausführlichen Ankündigungen in den Medien bisher keine Erlaubnis zum Verkauf von Cannabis im Rahmen eines Modellversuchs beantragt.
({0})
Die Pressestelle der Landesregierung hat aber wissen lassen, daß die Details
({1})
- vielleicht hören wir uns gegenseitig zu, das wäre ganz nett - des Modellversuchs erst noch erarbeitet werden müssen.
Meine Damen und Herren, ich halte es für einen drogenpolitischen Husarenritt, daß eine Landesregierung mit dem Plan eines Modellversuchs für den Verkauf von Haschisch an die Öffentlichkeit tritt, ohne zuvor ausreichend geprüft zu haben, ob der Plan rechtlich und fachlich überhaupt eine Aussicht auf Verwirklichung hat.
({2})
Für die Bundesregierung kann ich dazu heute sagen, daß über einen Modellversuch - wie immer er aussehen wird - das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach Recht und Gesetz entscheiden wird, sobald ein entsprechender Antrag vorliegt.
({3})
Das Betäubungsmittelgesetz setzt dem allerdings sehr enge Grenzen, Herr Kirschner, über die sich die Kieler Landesregierung offenbar überhaupt nicht im klaren ist. Eine Erlaubnis für den Verkehr mit den zum Mißbrauch geeigneten Cannabisprodukten kann das Bundesinstitut nämlich nur ausnahmsweise und nur zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen.
({4})
- Sie halten es für im öffentlichen Interesse liegend, daß wir Drogenabhängige weiterhin drogenabhängig halten? Das scheint Ihre Politik zu sein.
({5})
Frau Staatssekretärin, würden Sie bitte einen Augenblick warten. Ich kann das Vorgehen auf der Bundesratsbank nicht akzeptieren. Entweder hören Sie der Debatte zu,
oder Sie führen Privatgespräche. Ich bitte wirklich, die Ordnung des Hauses einzuhalten.
({0})
- Ich kann nicht erkennen, daß sich auf der Regierungsbank etwas ähnliches abspielt.
Frau Staatssekretärin, fahren Sie fort.
Danke schön, Herr Präsident. Ich bin Ihnen für diese Unterbrechung sehr dankbar, weil ich eigentlich gedacht habe, daß Frau Moser hier ist, um die Argumente zu hören, die wir austauschen.
Meine Damen und Herren, eine Erlaubniserteilung ist darüber hinaus ausdrücklich verboten, wenn sie den Mißbrauch von Betäubungsmitteln oder das Entstehen oder das Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit fördert. Ich kann aus der Ankündigung Schleswig-Holsteins nicht erkennen, daß dem Mißbrauch vorgebeugt werden soll.
Meine Damen und Herren, der eigentliche Skandal ist die Ankündigung eines offenbar völlig unausgegorenen Modellversuchs und die damit verbundene Verharmlosung von illegalen Rauschmitteln wie Haschisch. Herr Meyer, es stimmt eben nicht: Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt solche Modellversuche ab. Sie scheinen sich aber über solche Meinungen hinwegzusetzen.
({0})
Ein schlimmer Vorgang ist auch die Täuschung der Öffentlichkeit über das Suchtpotential und die Gesundheitsrisiken dieser Cannabisprodukte durch eine dem Gesundheitsschutz der Bürger, insbesondere der Jugend, verpflichtete Landesregierung.
({1})
Welcher Jugendliche wird sich eigentlich noch vom Haschischkonsum abhalten lassen, wenn eine Gesundheitsministerin den Verkauf von Haschisch in Apotheken in die Diskussion bringt, um gerade dadurch - ich zitiere aus der Kieler Presseerklärung - „junge Menschen vor Sucht, Abhängigkeit und Kriminalisierung zu bewahren"?
Meine Damen und Herren, allein mit einer solchen Ankündigung und Begründung durch eine Gesundheitsministerin werden Jahre mühevoller Präventionsarbeit gegen den Drogenmißbrauch mit einem Schlag kaputtgemacht, selbst wenn ein Modellversuch nie beantragt werden sollte.
({2})
Die Bundesregierung wird in dieser Situation das ihr mögliche tun, um den damit angerichteten Schaden zu begrenzen.
({3})
Deshalb appelliere ich an Sie alle: Geben Sie - das finde ich so erstaunlich, Frau Steen, Sie haben sich heute total vom gemeinsamen nationalen Drogenbekämpfungsplan verabschiedet; denn das Wort Prävention ist bei Ihnen gar nicht mehr richtig vorgekommen ({4})
dem gemeinsamen Drogenbekämpfungsplan eine Chance. Treten Sie bitte mit uns dafür ein, daß der durch das Betäubungsmittelgesetz gewährleistete Schutz der Jugend vor Drogenmißbrauch und Drogensucht nicht preisgegeben wird!
Cannabisprodukte sind nach dem Gesetz und den internationalen Suchtstoffübereinkommen in der ganzen Welt illegale Drogen, weil ihr nichtmedizinischer Konsum nachweislich vor allem bei Dauerkonsumenten erhebliche Gesundheitsrisiken mit sich bringt.
Wenn Sie von der SPD das Bundesverfassungsgericht für sich vereinnahmen wollen, und zwar fälschlicherweise,
({5})
dann will ich Ihnen sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, daß Cannabisprodukte gesundheitsschädlich sind.
({6})
Solche gesundheitsschädlichen Produkte dürfen nicht zugelassen und nicht legalisiert werden, weil wir mit diesem Standpunkt auch mit dem Grundgesetz übereinstimmen.
({7})
- Die Aufgeregtheit der SPD zeigt eigentlich, daß Sie sich mit Ihrem eigenen Versuch doch nicht richtig identifizieren können und offensichtlich Probleme haben mit der Erklärung dieses Versuches.
({8})
Ich glaube, daß die Gesundheitsministerin Frau Moser hier auch nicht sehr überzeugend dargebracht hat, warum sie diesen Modellversuch eigentlich machen will. Ich kann nicht erkennen, daß man damit unsere Jugend schützt, sondern ich glaube langsam, daß wir unsere Jugend vor einer rot-grünen Gesundheitspolitik schützen müssen, meine Damen und Herren.
({9})
Meine verehrten Kollegen, ich frage mich nur, wenn so viele von Ihnen reden wollen, warum wir dann eine Aktuelle Stunde machen und nicht eine normale Debatte.
({0})
Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Peter Basten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn es in der aufgewühlten Stimmung nicht ganz einfach ist, ein paar sachliche Bemerkungen zu machen, so will ich das gleichwohl versuchen und auch an das anknüpfen, was Sie, Kollege Meyer, gesagt haben.
Die Landesregierung von Schleswig-Holstein kann sich bei ihrem geplanten Modellversuch nicht auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. März 1994 berufen.
({0})
- Nein, der Beschluß eröffnet an keiner einzigen Stelle dafür einen Weg.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich vielmehr skeptisch zu der Frage geäußert, ob durch die Freigabe von Cannabisprodukten eine Trennung der Drogenmärkte herbeizuführen sei. Sie müssen die beiden einschlägigen Stellen in diesen Entscheidungsgründen zitieren; nicht nur die, die hinten stehen, die Sie immer zitieren, die Sie als Ihre Legitimation heranziehen, sondern auch die, die im 90. Band auf Seite 183 abgedruckt sind.
Ich habe in Vorbereitung auf diese Debatte den Beschluß noch einmal gelesen. Da sieht das ganz anders aus. Da werden höchste Zweifel angemeldet. Angesichts der internationalen Rechtslage, die nach Auffassung des Gerichts verstärkt auf strafrechtliche Sanktionen abhebt, und auch der Gesamtentwicklung, mit der man es zu tun hat, hat das Bundesverfassungsgericht ganz speziell an dieser Stelle Zweifel angemeldet, ob die Freigabe von Cannabisprodukten zu einer Trennung der Drogenmärkte führen würde und ob das sinnvoll wäre.
Im übrigen hat das Gericht für die Entscheidung darüber ausdrücklich dem Gesetzgeber und nicht einer Landesregierung die Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative zugewiesen. Es ist vor dem Hintergrund dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sowie nach dem Wortlaut und der Ratio des § 3 Betäubungsmittelgesetz mehr als fraglich, ob dieser Versuch der Landesregierung von SchlesFranz Peter Basten
wig-Holstein überhaupt von dieser Vorschrift gedeckt ist.
({1})
Denn es liegt nicht im öffentlichen Interesse, wenn die Landesregierung mit ihrem Plan verfolgt, daß am Ende die Legalisierung der sogenannten weichen Drogen steht.
Die Zielverfolgung, die weichen Drogen aus dem strafrechtlichen Sanktionskatalog, den der Staat aufgestellt hat, herauszunehmen - wofür einiges spricht, wenn man sich die Begleitumstände des ganzen Versuchs zu Gemüte führt -, ist nicht von § 3 Betäubungsmittelgesetz gedeckt. Darüber müssen wir uns völlig klar sein. Da müssen Sie sich schon um eine andere Rechtsgrundlage bemühen. Jedenfalls diese zieht mit der Zielsetzung, die Sie haben, auf keinen Fall.
({2})
- Nein, hören Sie mal! Wenn ich sehe, mit welchen Gründen sich die Landesregierung auf diese Experimentierklausel - sage ich einmal - beruft, indem sie immer wieder den Vergleich mit Alkohol und Nikotin heranzieht, indem darauf hingewiesen wird, daß renommierte Wissenschaftler festgestellt hätten, daß die gesundheitlichen Schäden, die durch Cannabismißbrauch entstehen, geringer seien als die Folgen intensiven Alkohol- und Nikotingenusses, dann sage ich: Sie wollen damit doch erreichen, daß man dieselbe Bewertung im Hinblick auf die Sozialadäquanz, wie sie in der Gesellschaft für Nikotin und Alkohol gilt, für die weichen Drogen gelten lassen soll. Wenn dies das Ziel ist, das Sie damit verfolgen, ist es nicht von § 3 des Betäubungsmittelgesetzes gedeckt.
({3})
Das ist eine ganz klare, juristisch einwandfreie Bewertung. Deswegen müssen Sie sich gut überlegen, ob Sie rechtlich richtig liegen.
({4})
Da meine Redezeit abläuft, sage ich nur noch: Schauen Sie nicht nur nach Holland, schauen Sie auch nach Schweden. Schweden hat mit weichen Drogen üble Erfahrungen gemacht, diese Fehlentwicklungen dann bitter bereut und dafür hart bezahlt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Initiative des Landes Schleswig-Holstein wird scheitern, vor allem zum Nachteil junger Menschen, die über diesen Versuch zusätzlich an Drogen gekommen sind.
Glaubt denn ein Mensch - lassen Sie mich das noch sagen -, man könne den Handel mit Drogen auf Dauer erfolgreich kriminalisieren, verfolgen und eliminieren, wenn man gleichzeitig das Handelsgut legalisiert? Das wird nicht zusammengehen.
Weshalb ziehen Sie die Grenzen zwischen Cannabisprodukten und anderen Drogen? Auch Kokain macht körperlich nicht abhängig. Alsbald wird dieses Kriterium dazu herhalten müssen, auch Kokain zu legalisieren. Dann folgen andere Drogen nach anderen Kriterien.
Das Projekt des Landes Schleswig-Holstein ist nicht der Aufbruch in eine Welt mit weniger Drogen, sondern der Abmarsch in die Drogenkatastrophe. Das ist die Folge dieses Vorhabens.
({5})
Herr Basten, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Noch ein Satz. Wir geben weltweit Millionenbeträge für den Kampf gegen Drogen aus. Die Länder haben sich Gesetze gegeben, die höchste Strafen für Drogendelikte androhen. Wir machen teure Kampagnen mit bekannten Persönlichkeiten, die Leitbilder sind, unter dem Motto „Keine Macht den Drogen! "
Herr Kollege, bitte schließen Sie Ihre Rede ab!
Wir können auch den Kokabauern in Bolivien nicht zumuten, daß sie ihre Kokafelder abbrennen, wenn gleichzeitig in Deutschland die Drogen in den Apotheken gekauft werden können.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Johannes Singer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt geht alles durcheinander. Da werden die Kokasträucher in Bolivien mit Cannabis in einen Topf geworfen. Da wird so getan, als ob das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einen noch gar nicht vorliegenden Antrag von Schleswig-Holstein bereits genehmigt hätte. Nur dann könnten die Gefahren ja auftreten, von denen Sie sprechen.
Wir führen hier doch eine Geisterdiskussion.
({0})
Sie sagen selber: Der Antrag liegt noch gar nicht vor. Das heißt, Sie kennen auch den Inhalt und die rechtliche Begründung des Antrags nicht. Was machen Sie eigentlich, wenn das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte diesen Antrag genehmigt? Eine Bundesbehörde! Wie stehen Sie dann da!
({1})
Frau Bergmann-Pohl sagte dankenswerterweise und völlig korrekt: Dieses Institut wird nach Recht
und Gesetz und nicht nach irgendwelchen politischen Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden.
({2})
- Herr Geis, wenn das so sicher ist, dann hätte für diese Aktuelle Stunde überhaupt kein Anlaß bestanden und für Ihre Aufregung schon gar nicht.
({3})
Sie hätten die Ablehnung des Antrags der schleswigholsteinischen Landesregierung in aller Ruhe abwarten können und dann vielleicht „ätsch!" oder sonst etwas gesagt, und die Sache wäre damit beerdigt worden.
({4})
Meine Damen und Herren, es soll ja Abgeordnete im Deutschen Bundestag geben, die keine Probleme mit Alkohol haben - nur ohne.
({5})
Wir beklagen von allen Seiten des Hauses immer wieder die hohe Zahl der Drogentoten, von denen jeder einzelne einer zuviel ist - 1 500, 1 600, die Zahl steigt wieder an. Aber wir erwähnen nie, daß wir jedes Jahr 40 000 Alkoholtote haben, daß wir in unserem Land zweieinhalb Millionen behandlungsbedürftige Alkoholiker haben.
Wenn wir über Sucht reden, sollten wir doch gerade die Sachverständigen heranziehen, Herr Sauer, auf die Sie sich zu Recht berufen, nämlich Professor Reuband aus Dresden oder Dr. Bühringer vom Institut für Therapieforschung in München, die uns sagen: Es ist völlig verfehlt, bei der Diskussion über das Suchtproblem einzelne Stoffe herauszugreifen und dann in eifernder Savonarola-Manier darüber herzufallen. Wir alle wissen, daß es in sämtlichen Parteien höchst unterschiedliche Ansätze, Überzeugungen und Vorschläge gibt. Die Oberbürgermeisterin von Frankfurt, die der CDU angehörende Frau Petra Roth, befürwortet die Einrichtung und Aufrechterhaltung von Fixer-Stuben.
({6})
Wir sprechen heute von „Gesundheitsräumen". - Auch das wird von Ihnen, Herr Hüppe, verteufelt.
Ich erwähne dieses Beispiel nur, um klarzumachen, daß nicht nur die F.D.P. des Landes Schleswig-Holstein hinter dem Antrag von Frau Moser steht, sondern die hamburgische F.D.P. zum Beispiel auch den Heroinantrag der Landesregierung Hamburg unterstützt.
({7})
- Es ist gut, daß Sie das einräumen - um so besser.
Mir geht es ja nur darum, klarzumachen, daß es überall unterschiedliche Positionen zu diesem Thema gibt und daß ein Königsweg, wie man dem Drogenproblem zu Leibe rücken könnte, einfach nicht vorhanden ist.
Mir wäre schon sehr daran gelegen, daß wir uns nicht hinstellen und wie die geschätzte Apothekerin Augustin die Problematik der Medikamentenabhängigkeit völlig ausklammern,
({8})
die eine große Rolle spielt, und so tun, als ob Apotheken bisher nur Dinge verkauft haben, die ausschließlich heilen. Auch dort gehen durchaus nicht unproblematische Substanzen über die Theke. Auch Medikamentenabhängigkeit gehört zur Suchtproblematik. Mir wäre daran gelegen, die Verfügbarkeit von allen suchterzeugenden Stoffen einzuschränken. Dazu müssen wir uns aber eine Gesamtschau angewöhnen und vor allem abgewöhnen, nur einzelne Stoffe herauszugreifen und zu verteufeln.
Herr Präsident, mir ist bewußt, daß meine Redezeit abgelaufen ist. Aber ich habe ja noch einmal fünf Minuten. Da werde ich Weiteres ausführen.
Für den Augenblick erst einmal danke schön.
({9})
Ich gebe dem Abgeordneten Roland Sauer das Wort.
({0})
- Das ist eine konsequente Linie. Ich trete für einen Nichtraucherschutz ein und gebe auf der anderen Seite Haschisch nicht frei.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf für meine Fraktion abschließend zusammenfassen: Wir werden die Fehler anderer Länder, wie zum Beispiel der Schweden und der Niederländer, hier in Deutschland nicht wiederholen. Nehmen Sie sich doch einmal ein Beispiel - vor allem Sie von den Sozialdemokraten - an Ihren sozialdemokratischen Freunden in Schweden. Die haben das alles schon ausprobiert, was Sie jetzt haben wollen. Die haben das Ruder radikal herumgeworfen. Dort gibt es ein „Haschisch-Buch". Dieses Buch wird jeder Familie zugestellt. Darin wird vor den großen Gefährdungen durch Haschisch gewarnt. Machen Sie doch dieses Beispiel nach.
Nun zur Frau Moser. Sie tut so, als ob unsere Drogenpolitik gescheitert sei. Die Fakten in der EU, Frau Moser, sprechen eine andere Sprache. Wir haben, gemessen an der Gesamtbevölkerung, den drittniedrigsten Anteil an Drogenabhängigen. Wir liegen in unseren Zahlen weit unterhalb der vermeintlichen Drogenreformstaaten wie die Niederlande und die Schweiz.
({0}) Dies müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Roland Sauer ({1})
Frau Steen, unterstellen Sie uns doch nicht zum wiederholten Mal, wir würden nur eine rein repressive Drogenpolitik machen.
({2})
Minister Seehofer hat Ihnen in der letzten Haushaltsdebatte gesagt, daß wir als Bund in den letzten zehn Jahren 340 Millionen DM für Prävention und Modellprogramme ausgegeben haben - als Bund, wobei wir letztlich gar keine Kompetenz haben, Drogenpolitik zu betreiben. Da können Sie doch uns nicht unterstellen, wir würden nur eine repressive Drogenpolitik machen. Dies haut nicht hin.
({3})
Apotheken verkaufen Arznei- und Heilmittel, die der Gesundheit dienen sollen. Sie wollen den Kranken helfen, wie es die Kollegin Augustin gesagt hat. Dazu gehören nicht gesundheitsschädigende Drogen. Durch den Verkauf von Haschisch in Apotheken wird diese Droge, die eine Schlüsseldroge bzw. Umstiegsdroge ist, bewußt verharmlost und der jungen Generation die Ungefährlichkeit dieser Droge - das ist das Verantwortungslose - suggeriert.
({4})
Dabei führt Haschisch - das wissen Sie ganz genau; Sie übersehen das aber - bei Langzeitkonsum zu Hirnschädigungen und schweren Schäden des zentralen Nervensystems, um nur einmal die wichtigsten Risiken zu nennen.
({5})
Ich habe Ihnen schon in der letzten Debatte gesagt: Lesen Sie einmal die Stellungnahme von Professor Kovar, dem Pharmakologen an der Universität Tübingen, durch, der das Bundesverfassungsgericht bei dessen Urteilsbegründung begleitet und über die Schäden und Risiken des Haschischkonsums ausführlich berichtet hat.
Von der Frau Ministerin Moser aus Schleswig-Holstein - ich möchte fast sagen: von der Hasch-Ministerin Moser ({6})
wird der blauäugige Versuch unternommen, eine Trennung von weichen und harten Drogen zu erreichen.
({7})
Eine Sekunde. Nur gemach, einen Augenblick. - Bitte, Herr Abgeordneter, sprechen Sie weiter.
Dies wird genauso wenig wie in Amsterdam gelingen. Dort sind um die Coffee-Shops die großen Hauptumschlagplätze für harte Drogen entstanden. Wollen Sie, daß in unmittelbarer Nachbarschaft unserer
Apotheken die Hauptumschlagplätze für Drogen entstehen? Wir wollen dies nicht; die Apotheker und 72 Prozent der deutschen Bevölkerung wollen dies ebenfalls nicht.
({0})
Sie haben einen Gesichtspunkt völlig übersehen: Eine Freigabe weicher Drogen würde zu einer dramatischen Verkehrsgefährdung durch unter Haschisch stehende Straßenverkehrsteilnehmer führen. Wir haben heute schon jährlich über 400 Tote und über 4 000 Verletzte, die von unter Haschisch stehenden Verkehrsteilnehmern verursacht wurden. Unter Berücksichtigung der Dunkelziffer - sie liegt bei über 40 Prozent - liegen diese Zahlen wesentlich höher.
Durch diese Verharmlosungsdiskussion, die Sie ausgelöst haben, drängt die Hasch-Mafia verstärkt auf den deutschen Markt.
({1})
Dies zeigen die deutlich angestiegenen Mengen an sichergestelltem Haschisch.
({2})
Durch diesen wahnwitzigen Plan, Haschisch in der Apotheke verkaufen zu lassen, laufen wir Gefahr
({3})
- Sie können noch so laut schreien; ich habe das Mikrophon, damit kann ich lauter sprechen -, zu einem zweiten Drogen-Mekka in Europa, neben den Niederlanden, zu werden. Wenn der Staat zum Dealer wird, werden alle Bemühungen um Prävention, junge Menschen zu einem drogenfreien Leben zu führen, konterkariert und unglaubwürdig.
({4})
Der Mißbrauch von Alkohol, Nikotin und Medikamenten ist schon schlimm genug und bringt viel Leid in unsere Familien.
({5})
Wollen wir trotzdem einen weiteren Suchtstoff legalisieren, damit die Hemmschwelle herabsetzen und die Verfügbarkeit von gefährlichen Drogen erhöhen? Dies kann man nicht verantworten.
Herr Kollege Sauer, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Noch einen Satz; ich bin ja sehr gestört worden.
Durch die Abgabe von Haschisch in der Apotheke würde der Markt für Jugendliche noch weiter geöffnet werden. Wer kontrolliert denn den Verkauf in der Apotheke?
({0})
Herr Kollege Sauer, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Einen letzten Satz.
({0})
Wie soll die Mengenbegrenzung erfolgen, wenn der Konsument von Apotheke zu Apotheke geht und dann Haschisch auf Schulhöfen, in Diskotheken und Jugendtreffs verkauft?
Herzlichen Dank.
({1})
Meine Kollegen, wenn Sie sich den Verlauf dieser Aktuellen Stunde einmal auf dem Band anhören würden, wären Sie mit sich selbst denkbar unzufrieden. Es hat keinen Sinn, eine Debatte zu beginnen, wenn keiner dem anderen zuhört.
({0})
Es sind die Emotionen von allen Seiten in einer nicht vertretbaren Weise geschürt worden. Das hat keinen Sinn.
Herr Kollege Sauer, ich habe vorhin das Haus gebeten, den Mitgliedern des anderen Verfassungsorgans mit der entsprechenden Höflichkeit zu begegnen. Sie haben die Ministerin für Arbeit, Soziales, Jugend und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein als „Hasch-Ministerin" bezeichnet. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf.
({1})
- Herr Kollege Sauer, ich erteile Ihnen dafür einen zweiten Ordnungsruf.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Singer das Wort.
({2})
Es ist richtig: Ich habe schon geredet. Aber ich habe angekündigt, daß ich wiederkomme.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es geahnt, daß auf das Beispiel Niederlande ständig Bezug genommen wird.
({1})
- Auch auf Schweden will ich gerne eingehen, Herr Geis, aber lassen Sie mich zunächst bei den Niederlanden verweilen.
({2})
Die Niederlande haben im Sommer dieses Jahres an ihrer Drogenpolitik einige Korrekturen vorgenommen. Ich finde, das verdient Beifall, Anerkennung und Interesse. Man sollte keine Behauptungen über die niederländische Drogenpolitik aufstellen, die mit den tatsächlichen Verhältnissen nun wirklich nichts zu tun haben.
Ich zitiere hier noch einmal Professor Reuband, weil Sie sich so gerne auf ihn berufen. Professor Reuband hat ja die Auswirkungen der niederländischen und der deutschen Drogenpolitik miteinander verglichen - eine wissenschaftlich exakte, ausgezeichnete Arbeit - und festgestellt, daß trotz der sehr andersgearteten niederländischen Politik die Zahl der Erstkonsumenten dort, bezogen auf die jeweiligen Bevölkerungsgruppen in den Niederlanden, nicht höher ist als bei uns und daß die Zahl der Drogentoten nicht höher ist als bei uns.
({3})
Er hat festgestellt, daß in den Niederlanden natürlich eine Szene existiert, in der mit harten Drogen gehandelt wird, die aber keineswegs dramatischer, bedrohlicher oder schlimmer ist als in vielen deutschen Großstädten. Es ist doch nicht so, daß wir mit unserer repressiven Drogenpolitik die Szenen in Hamburg, in Köln, in München oder in Stuttgart wirksam bekämpft und beseitigt hätten. Einigermaßen erfolgreich war bisher nur Frankfurt. Dort ist mit dem scharf gefahrenen Methadonprogramm und mit den Gesundheitsräumen im Unterschied zu allen anderen deutschen Großstädten erreicht worden, daß die Zahl der Drogentoten signifikant zurückgegangen ist.
Es gibt also Möglichkeiten, Erfolge zu erzielen. Man sollte diese nicht dauernd verteufeln.
({4})
- Schweden hat bei den weichen Drogen eine Abkehr von einem mehr oder weniger völlig freigegebenen Markt vollzogen und gesagt: Das war ein Fehler. Aber diesen völlig freigegebenen Markt will hier doch keiner. Immer wieder, solange ich mich mit Drogenpolitik befasse, wird dieser Popanz der Freigabe oder der Legalisierung in den Raum gestellt. Ich sage Ihnen noch einmal in aller Deutlichkeit: Zu einer Freigabe oder Legalisierung kann es nur kommen, wenn das Betäubungsmittelgesetz mit der Mehrheit des Deutschen Bundestages geändert wird. Solange das nicht der Fall ist, braucht man sich über
eine Legalisierung oder eine Freigabe überhaupt nicht zu unterhalten.
({5})
Es liegt doch da gar nichts vor.
({6})
Was ist das für eine Anmaßung von Ihnen, Ihre Beurteilung an die Stelle des dafür zuständigen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zu stellen!
({7})
Wenn Sie rechtsstaatliche Anforderungen ernst nehmen, überlassen Sie die Entscheidung der dafür zuständigen Stelle; versuchen Sie nicht, besserwisserisch und beckmesserisch Ihre Beurteilung an die Stelle der Beurteilung durch das Institut zu setzen.
({8})
Wir haben ein klares Verfahren. Wenn Sie recht hätten, bedürfte es Ihrer Aufregung nicht. Dann könnten Sie die Entscheidung dieses Bundesinstituts in aller Ruhe abwarten. Dann sehen wir einmal, was dabei herauskommt, und brauchen uns hier nicht zu echauffieren. Für diese Art der Diskussion ist der Bundestag der völlig falsche Ort.
({9})
Ich sage Ihnen also noch einmal: Es handelt sich um einen Versuch, der auch von anderen Gesundheitspolitikern durchaus skeptisch beurteilt wird. Er ist rechtlich zulässig. Bei der festgefahrenen Politik der Bundesregierung bin ich froh, wenn Bewegung entsteht, wenn neue Wege ausprobiert werden und man sich neue Gedanken macht. Einfach so weiterzumachen wie bisher kann bei dem jetzigen Zustand der Drogenpolitik in unserem Lande nicht richtig sein.
Wenn Sie von der Erleichterung der Verfügbarkeit Iron Haschisch reden: Wir haben über 2,5 Millionen regelmäßige und gelegentliche Konsumenten von Haschisch. Ihre Politik hat diese hohe Zahl nicht verhindert.
({10})
Wenn Sie einen Jugendlichen heute fragen: An jeder Straßenecke kriegt er für ein paar Mark fünfzig seine Ration. Das, was Sie gemacht haben, hat überhaupt nicht gehollen.
Also: Kommen Sie aus den Schützengräben heraus, machen Sie sich neue Gedanken, und versuchen
Sie nicht immer nur, das zu wiederholen, was ich seit sechs Jahren bis zum Erbrechen von Ihnen höre!
({11})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatzpunkt 5 auf:
6. Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerald Häfner, Volker Beck ({0}), Kerstin Müller ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Film
- Drucksache 13/5285 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Innenausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikation
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerald Häfner, Volker Beck ({3}), Kerstin Müller ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherung der Pressefreiheit und des Zeugnisverweigerungsrechts der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk, Film
- Drucksache 13/6382 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({5})
Innenausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Gerald Häfner.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den fatalen Eindruck, daß die Gewaltenteilung in unserem Land mehr und mehr nur auf dem Papier steht. Die Kontrolle der Bundesregierung durch das Parlament läuft häufig ins Leere, weil die Mehrheit dieses Hauses sich nicht mehr als unabhängige Abgeordnete, nicht mehr als Teil eines Organs begreift, das die Regierung kontrollieren sollte, sondern brav und artig Spalier steht, um der Regierung bei jeder noch so falschen Entscheidung Hosianna zu singen und die Schleppe nachzutragen. Das ist eine falsche Auffassung von Parlamentarismus.
Je weniger aber die Kontrolle der Gewalten untereinander funktioniert, desto wichtiger wird die sogenannte „vierte Gewalt", die Presse. Die Presse hat ein Wächteramt in unserem Lande, dessen Bedeutung oft unterschätzt wird. Eine freie und unabhänGerald Häfner
gige Presse ist eine tragende Säule und Lebensvoraussetzung jeder funktionierenden Demokratie.
Um dieses Wächteramt wahrnehmen zu können, braucht die Presse Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung und Schutz vor diese Freiheit beeinträchtigenden Eingriffen des Staates. Aus diesem Grund sieht das Gesetz zum Schutz des Redaktionsgeheimnisses ein Zeugnisverweigerungsrecht für Pressemitarbeiter sowie einen Beschlagnahmeschutz für deren Material, also Fotos, Akten, Notizen usw., vor. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dieses „Zeugnisverweigerungsrecht der Presseangehörigen" sogar ausdrücklich für erforderlich, „um die Institution der freien Presse" zu sichern.
Jahrelang ging das gut. Dann aber, begünstigt durch eine meines Erachtens fatale - weil völlig realitätsfremde - Entscheidung, wonach das Zeugnisverweigerungsrecht nur das von anderen, also Informanten, zugetragene Material, nicht aber das selbstrecherchierte Material schütze, ist dieser Damm gebrochen. Seitdem gibt es kein Halten mehr. Alle paar Wochen hören und lesen wir von Durchsuchungs-
und Beschlagnahmeaktionen der Ermittlungsbehörden in Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehredaktionen.
Sie kennen die Fälle. Zum Beispiel wurden kürzlich, weil dort aus einem Bericht des Rechnungshof es zitiert worden war, fast alle Fernseh- und Zeitungsredaktionen der Hansestadt Bremen vom Staatsanwalt besucht. Durchsuchungsmaßnahmen fanden statt; die Redaktionsräume wurden auf den Kopf gestellt.
Oder: In meiner Heimatstadt München gab es vergangenes Jahr eine Durchsuchungsaktion bei der „Abendzeitung". Gesucht wurde ein Foto von sieben jungen Menschen, die ein Jahr vorher in der Fußgängerzone im Weihnachtsgeschäft spektakulär gegen den Kauf von Pelzerzeugnissen demonstriert hatten. Ihnen wurde eine unangemeldete Demonstration vorgeworfen. Diese Kleinigkeit war der Anlaß für eine Durchsuchungsaktion in den Redaktionsräumen der „Abendzeitung".
Ich könnte viele andere solche Beispiele erzählen. Nicht nur bei „taz", „Spiegel" und „Focus" wurde durchsucht, sondern auch bei ARD und ZDF und vielen anderen Redaktionen. Dies ist in meinen Augen ein untragbarer Zustand. Wir wissen, daß Journalisten auf diese Weise ungewollt zu Hilfsorganen der Staatsanwaltschaft werden. Damit wird die Unabhängigkeit der Presse massiv gefährdet.
Es sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock, daß es so nicht bleiben kann. Ich frage mich, warum dieser Zustand jetzt schon bald zehn Jahre andauert. Vor acht Jahren habe ich zum erstenmal in diesem Hause einen Gesetzentwurf vorgelegt, aber nichts ist seitdem passiert, obwohl alle Fachleute auf Tagungen, die hierzu in den letzten Jahren stattgefunden haben, immer die gleichen Zustände beklagt und die Notwendigkeit einer Veränderung unausgesetzt bekräftigt haben.
Deshalb haben wir jetzt also erneut einen Entwurf vorgelegt. Wir wissen uns dabei in den darin vorgeschlagenen Änderungen mit fast allen Journalistinnen und Journalisten und deren Organisationen in diesem Land einig.
Erstens fordern wir, daß der vollständig weltfremde Trennungsstrich zwischen selbstrecherchiertem und zugetragenem Material endlich fällt. Kein Journalist führt, wenn er an irgendeiner Story ermittelt oder schreibt, hierüber zwei jeweils getrennte Madden, Notizbücher, Aktenschränke und Schubladen, sondern das selbstrecherchierte und das zugetragene Material mischen sich grundsätzlich ineinander. Das Perfide ist dabei ja, daß genau deshalb heute mit dem Argument, man suche nur das selbstrecherchierte Material, immer alle Unterlagen beschlagnahmt werden, daß alle Computerdisketten, ganze Festplatten, Akten usw. mitgenommen werden. Damit hat man dann natürlich auch Zugriff auf das gesamte Material. Auf diese Weise läuft das Zeugnisverweigerungsrecht ins Leere.
Wir fordern deshalb zweitens die Ausweitung des geltenden Beschlagnahmeverbotes. Wir möchten eine Grenze nur da ziehen - denn eine Grenze muß sein -, wo die betroffenen Journalistinnen und Journalisten selbst unter einem dringenden Tatverdacht, unter dem Verdacht der Teilnahme an einschlägig strafbaren Handlungen oder unter dem Verdacht der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei stehen. Ansonsten aber gilt das Beschlagnahmeverbot.
Wir wollen darüber hinaus den Schutz des Zeugnisverweigerungsrechtes nicht nur auf diejenigen Menschen ausdehnen, die berufsmäßig journalistisch arbeiten, sondern auch auf die, die das nebenberuflich tun. Es kann nicht darum gehen, ob mit Journalistentätigkeit der Broterwerb gesichert wird, sondern es geht darum, ob überhaupt eine journalistische Tätigkeit ausgeübt wird. Wir wissen, daß viele Autorinnen und Autoren, viele Journalistinnen und Journalisten nebenberuflich und nicht hauptberuflich tätig sind.
Herr Kollege Häfner, Ihre Zeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Präsident, ich schließe mit dem Appell an alle Fraktionen dieses Hauses - mit einigen, Herrn Stadler, Herrn Eylmann und anderen, habe ich in letzter Zeit in diesem Hause schon durchaus ermutigende Gespräche führen können -, bei der Klärung dieses Problems, das nun seit fast zehn Jahren schon auf eine Lösung wartet, endlich zusammenzuarbeiten und zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgeschlagen, den wir für eine gute Grundlage halten. Wir hoffen nun auf Bewegung auch in den anderen Fraktionen.
Ich bedanke mich.
({0})
Ich gebe dem Abgeordneten Horst Eylmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach geltendem Recht erstrekken sich Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot nicht auf das sogenannte selbstrecherchierte Material der Medien, zum Beispiel nicht auf ein Foto, das ein Bildjournalist selbst geschossen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat die Trennung zwischen dem Informantenschutz und dem selbstrecherchierten Material in seinem Beschluß vom 1. Oktober 1987 mit der Begründung für verfassungsgemäß erklärt, die Vertraulichkeit journalistischer Arbeit könne nicht ohne jede Einschränkung umfassend gewährleistet sein. Die Erfordernisse der Gewähr rechtsstaatlich geordneter Rechtspflege müßten beachtet werden.
({0})
Infolgedessen bedürfe es einer sorgfältigen Abwägung, ob und inwieweit die Erfüllung der publizistischen Aufgaben einen Vorrang der Presse- und Rundfunkfreiheit erfordere oder ob diese Freiheit ihrerseits an den Interessen der Rechtspflege ihre Grenzen zu finden habe. Jedenfalls sei die vom Gesetzgeber im geltenden Recht getroffene Abwägung nicht zu beanstanden.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht allerdings auch darauf hingewiesen, daß sich eine Begrenzung des Aussagezwangs und der Beschlagnahme nicht nur aus der Strafprozeßordnung, sondern auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unmittelbar aus Art. 5 des Grundgesetzes ergeben könne, wenn nämlich in besonders gelagerten Fällen nach einer Abwägung der widerstreitenden Interessen dem Geheimhaltungsinteresse der Presse gegenüber den Erfordernissen der Strafrechtspflege der Vorrang gebühre. In dem damals entschiedenen Fall mußte diese Abwägung schon wegen der Schwere der Delikte zugunsten der Strafrechtspflege ausfallen. Es ging nämlich um ein Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs und Totschlags.
Nun findet sich in den Gründen des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses die Feststellung, es seien keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die Strafverfolgungsbehörden unter den Voraussetzungen des geltenden Rechts in exzessiver Weise von ihren Befugnissen Gebrauch machten. Ich bin nicht sicher, ob sich das heute noch so völlig ohne Einschränkung sagen läßt; denn es gibt eine Reihe von Fällen aus den letzten Jahren, bei denen mir eine Verletztung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeben oder zumindest nahezuliegen scheint.
({1})
Das größte Aufsehen erregte eine Beschlagnahmeaktion in Bremen, die dort am 7. August stattfand. Es ging um ein Strafverfahren gegen Unbekannt wegen Verletzung eines Dienstgeheimnisses. Derartige Beschlagnahmen hat es auch in Ermittlungsverfahren wegen Hausfriedensbruchs gegeben.
Herr Häfner hat auch über die von Komik nicht freie Geschichte berichtet, daß die Redaktionsräume der Münchner „Abendzeitung" im Mai 1995 untersucht worden sind, weil man hoffte, dort Photos von sieben Damen zu finden, die im Dezember des Vorjahres aus Protest gegen die Pelzmode 30 Sekunden lang nackt über den Münchener Marienplatz gehuscht waren. Eine Genehmigung für diese Aktion soll erforderlich gewesen, aber nicht erteilt worden sein.
Meine Damen und Herren, ich hatte kürzlich Gelegenheit, die Bremer Beschlagnahmeaktion mit dem Bremer Bürgermeister Scherf, der in Personalunion auch Justizsenator ist, zu erörtern. Es ist ja schon etwas verwunderlich, wenn auf der einen Seite der Bundesrat, insbesondere die A-Länder, darauf drängt, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Strafprozeßordnung zu verankern, die Justizminister der Länder aber offensichtlich nicht in der Lage sind, der von ihnen geleiteten Staatsanwaltschaft die Beachtung dieses Grundsatzes nahezubringen.
({2})
Es ist weithin üblich, der Staatsanwaltschaft Richtlinien darüber an die Hand zu geben, bis zu welcher Wertmenge gestohlenen Guts Ladendiebstähle zu verfolgen sind oder welche Drogenmenge man bei sich haben muß, um ein Strafverfahren zu riskieren. Aber für den sensiblen Bereich der Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Pressefreiheit gab es seinerzeit in Bremen derartige Richtlinien nicht. Ich vermute einmal: In den meisten Bundesländern fehlen sie.
Nicht nur hier zeigt sich, daß die Länder nicht selten vorschnell beim Bund gesetzgeberische Aktivitäten anmahnen, ohne vorher die ihnen zur Verfügung stehenden administrativen Maßnahmen genutzt zu haben.
({3})
Besonders unbefriedigend ist - das darf ich erwähnen -, daß diese Beschlagnahmebeschlüsse in der Rechtsmittelinstanz nicht aufgehoben werden können. Zwar gibt es grundsätzlich die Möglichkeit einer Beschwerde. Sie ist aber nicht mehr zulässig, wenn die Durchsuchung vollzogen und abgeschlossen ist. So war es auch in Bremen. Das Bremer Landgericht mußte die Beschwerde als unzulässig verwerfen, hat allerdings freundlicherweise in den Gründen dargelegt, weshalb nach seiner Meinung die Durchsuchung wohl nicht in Ordnung gewesen sei.
Staatsanwaltschaften und Gerichte haben also offenbar Schwierigkeiten, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz umzugehen. So ganz einfach ist er ja auch nicht. Richtig angewandt bedeutet er nicht mehr, als daß man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen darf. Zuweilen wird er auch überdehnt. Das Bundesverfassungsgericht hat schon aus diesem Grundsatz hergeleitet, daß Markus Wolf nicht verurteilt werden darf. Ich stehe noch immer einigermaßen ratlos vor dieser Begründung.
Jedenfalls hat aber wohl der Deutsche Journalistenverband mit seiner Vermutung recht, der bloße Wortlaut einer strafprozessualen Regelung verleite Gerichte wie Strafverfolgungsorgane immer wieder dazu, die Verhältnismäßigkeitsprüfung entweder gar nicht oder nur unzureichend vorzunehmen. Das legt nun die Überlegung nahe, ob wir nicht in der StPO eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vornehmen sollten.
({4})
Es gibt verschiedene Vorschläge, wie das geschehen könnte. Welcher der beste ist, werden wir überlegen müssen. Heute läßt sich nur feststellen, daß der von den Grünen vorgeschlagene Weg falsch ist.
({5})
Die Schwierigkeiten liegen darin, bei einer Neuregelung des Zeugnisverweigerungsrechts eine Abwägung zwischen zwei divergierenden Verfassungszielen vorzunehmen: zwischen dem Schutz der Pressefreiheit auf der einen Seite und den aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Erfordernissen einer effektiven Strafverfolgung und eines geordneten strafprozessualen Verfahrens auf der anderen Seite. Diese beiden Prinzipien müssen wir zu einer praktischen Konkordanz führen.
Diesem Problem geht man aus dem Weg, wenn man, wie die Grünen, dem einen Prinzip, nämlich der Pressefreiheit, schlechthin den Vorrang einräumt.
({6})
- Herr Häfner, wenn Ihr Gesetzentwurf realisiert würde, hätte er zur Folge, daß zum Beispiel auch dann ein Photo nicht beschlagnahmt werden dürfte, wenn mit seiner Hilfe ein Mord aufgeklärt werden könnte.
({7})
So ist es, und das geht nicht. Das scheint mir sogar verfassungswidrig zu sein. - Schütteln Sie nicht den Kopf! Wir werden uns im Rechtsausschuß darüber unterhalten, und Sie werden das einräumen müssen.
Ein weiteres Bedenken richtet sich dagegen - Sie wissen, daß das auch Bedenken der Journalisten sind -, daß Sie das Zeugnisverweigerungsrecht nicht auf die Berufsjournalisten beschränken wollen, sondern auf alle erstrecken wollen, die auch nur gelegentlich an der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken usw. mitwirken oder in der Vergangenheit mitgewirkt haben.
Ein Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer hat kürzlich einen Entwurf zur Neuregelung der Zeugnisverweigerungsrechte vorgelegt. Es sollte Ihnen, den Bündnisgrünen, zu denken geben, daß auch darin kein allgemeines Zeugnisverweigerungsrecht für selbstrecherchiertes Material vorgeschlagen wird. Die Strafrechtslehrer weisen darauf hin, daß man sonst auch für Abgeordnete ein solches schrankenloses allgemeines Zeugnisverweigerungsrecht einführen
müßte, denn sie nähmen eine vergleichbare Kontrollfunktion wahr.
Also, wir werden das alles sichten müssen und versuchen müssen, hier eine praktikable Lösung zu finden.
Zusammenfassend kann ich zum Gesetzentwurf der Bündnisgrünen nur sagen: Diagnose einigermaßen richtig, Rezeptur völlig falsch. Wir werden jetzt selbst überlegen müssen, was zu tun ist.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen es, daß 18 Monate nach dem Bundesrat nunmehr auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf zum Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Film vorgelegt hat. Durch diese Initiative könnte zusätzliches Interesse an der notwendigen öffentlichen Diskussion geweckt werden.
Wir werden beide Entwürfe in den bevorstehenden Beratungen im Rechtsausschuß sehr sorgfältig zu prüfen haben. Dabei kann ich schon jetzt ankündigen, daß wir die sehr komplexe Problematik zum Gegenstand einer Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuß machen werden.
Von kleineren Unterschieden abgesehen, stimmen beide Gesetzentwürfe in einer grundsätzlichen Forderung überein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber natürlich.
Herr Kollege Häfner, bitte.
Herr Professor Meyer, da Sie sagten, Sie begrüßten es, daß 18 Monate nach dem Bundesrat auch die Grünen einen Gesetzentwurf einbrächten, frage ich: Ist Ihnen unbekannt, daß der Gesetzentwurf der Grünen in seinem Kern aus dem Jahre 1988 stammt und daß auch der Gesetzentwurf des Bundesrates bereits die dritte Legislaturperiode in diesem Hause auf dem Tisch liegt und Ihre Fraktion es aus unerfindlichen Gründen bis heute nicht für sinnvoll gehalten hat, sich dieses Themas anzunehmen? Wir haben immer auf Sie gewartet und dann irgendwann gesagt: Gut, dann müssen wir die Debatte eröffnen.
({0})
Das ist doch das Problem: daß der eigene Länderentwurf von der SPD-Fraktion nicht getragen wird und deswegen hier nie eingebracht wurde.
Die Frage, bitte!
Ist das so, oder irre ich, und wenn ich irre, woran liegt es, daß Sie zehn Jahre lang nicht tätig geworden sind?
({0})
Herr Kollege Häfner, mir ist sehr wohl bekannt, daß es zwei Gesetzentwürfe gibt. Ich freue mich, daß wir uns jetzt im Rechtsausschuß mit diesen Gesetzentwürfen befassen müssen. Frühere Aktivitäten, auch eigene, die etwa acht Jahre zurückliegen, werde ich Ihnen nachher aufzählen. Aber ich werde Sie wahrscheinlich enttäuschen, wenn ich sage: Wir haben deshalb keinen eigenen SPD-Entwurf einzubringen brauchen, weil wir den Bundesratsentwurf, der, wie Sie nachvollziehen können, mit Positionen der SPD eng verbunden sein dürfte, als geeignete Diskussionsgrundlage behandeln.
({0})
Wenn Sie gestatten, will ich das jetzt auch begründen.
Von kleineren Unterschieden abgesehen, stimmen beide Gesetzentwürfe in einer grundsätzlichen Forderung überein. Danach soll der bisher schon geltende Schutz des Redaktionsgeheimnisses, der sowohl die Anonymität der Informationsquellen durch Quellenschutz als auch den Schutz der Vertraulichkeit gemachter Mitteilungen durch Inhaltsschutz für anvertrautes Material gewährleistet, grundsätzlich auch auf selbstrecherchiertes Material erstreckt werden. Dabei geht es zum Beispiel um den Schutz von Filmmaterial, das ohne Zusammenwirken mit den gefilmten Personen gewonnen worden ist. Ich erinnere an den bekannten Brokdorf-Fall von. 1986, in dem Aufnahmen des ZDF von einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk Brokdorf beschlagnahmt worden waren, nachdem es bei der Demonstration zu schweren Ausschreitungen mit zahlreichen Straftaten gekommen war.
Der Unterschied zwischen beiden Entwürfen besteht darin, daß die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eine deutlich weitere Geltung des Zeugnisverweigerungsrechts und des daraus abgeleiteten Beschlagnahmeverbotes bei selbstrecherchiertem Material vorsieht. Als Ausnahme ist nur vorgesehen, daß der betreffende Journalist dringend tatverdächtig ist, sich an den von der Recherche erfaßten Straftaten selbst beteiligt zu haben, oder daß der Verdacht besteht, daß er sich der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei schuldig gemacht hat.
Der Bundesrat trägt in seinem Entwurf der offensichtlichen verfassungsrechtlichen Konfliktlage besser Rechnung. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß es etwa bei der Beschlagnahme oder Nichtbeschlagnahme selbstrecherchierten Materials um die Abwägung zwischen zwei hohen Verfassungsrechtsgütern geht. Für die Nichtbeschlagnahme und ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht kann die Rundfunk- und Pressefreiheit sprechen, die bekanntlich konstitutives Element einer freiheitlichen Demokratie ist. Für die gegenteilige Entscheidung kann die rechtsstaatliche Pflicht des Staates zur Aufklärung von Straftaten sprechen; die Effektivität der Strafrechtspflege ist bekanntlich wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit. Letztlich handelt es sich um das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat.
Da wir beide Entwürfe gründlich beraten und die Argumente der bevorstehenden Sachverständigenanhörung, zu der selbstverständlich auch die Vertreter von Presse, Radio und Fernsehen zu laden sein werden, sorgfältig werden wägen müssen, kann ich heute nur eine erste und sehr vorläufige Stellungnahme abgeben. Es wird Sie nicht überraschen - ich sagte das vorhin schon auf die Frage des Kollegen Häfner -, daß diese Stellungnahme dahin geht, den bereits vor 18 Monaten vorgelegten Entwurf des Bundesrates vorrangig zur Grundlage der Gesetzesberatungen zu machen.
Daß der Bundesrat den gebotenen Abwägungsprozeß, dessen Ziel praktische Konkordanz sein muß, seriöser vornimmt, ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß der Vorsitzende der ARD und der Intendant des ZDF dem Entwurf grundsätzlich zugestimmt haben. Ich zitiere aus dem Schreiben von Professor Stolte und Professor Scharf an den Rechtsausschuß und die Fraktionen des Deutschen Bundestages:
Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates trägt den Bedenken der Rundfunkanstalten gegenüber der bisherigen Rechtslage durch die normative Erstreckung des Zeugnisverweigerungsrechts und des Beschlagnahmeverbots auf selbst erarbeitetes Material von Redaktionen im wesentlichen Rechnung.
Eine ähnliche Stellungnahme hat kürzlich der Deutsche Journalistenverband in einem Schreiben an den Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Rudolf Scharping, abgegeben. Allerdings werden dabei sehr beachtenswerte Änderungsvorschläge gemacht, mit denen wir uns intensiv werden befassen müssen. So ist es aus meiner Sicht offensichtlich überzeugend, daß die vom Bundesrat vorgeschlagene Ausnahme vom Schutz selbstrecherchierten Materials für den Fall, daß Gegenstand der Ermittlung eine Straftat ist, wegen der eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist, wenig Sinn macht.
({1})
Welcher Richter oder Staatsanwalt soll eigentlich eine zuverlässige Prognose über die zu erwartende Strafe abgeben können, wenn das Ermittlungsverfahren erst am Anfang steht und über die Beschlagnahme oder Nichtbeschlagnahme von journalistischem Material zu entscheiden ist?
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Dr. Jürgen Meyer ({3})
Die Straferwartung könnte sich auch auf Vorgänge beziehen, die mit dem recherchierten Vorgang überhaupt nichts zu tun haben, beispielsweise auf frühere Taten der Person, die im Mittelpunkt der Recherche steht.
Ich halte es auch für überlegenswert, einen Grundsatz ins Gesetz zu schreiben, der vom Bundesgerichtshof zum Beispiel in seiner bekannten Entscheidung vom 20. November 1989 zum IRA-Fall bestätigt worden ist. Danach muß das Problem der Trennbarkeit von anvertrautem und selbstrecherchiertem Material sehr genau beachtet werden. Es kann beispielsweise nicht aufzuklären sein, ob Filmmaterial dem Journalisten übergeben wurde oder von ihm selbst aufgenommen worden ist. In einem solchen Fall gilt bekanntlich der Grundsatz: Im Zweifel für die Pressefreiheit.
Schließlich werden wir uns mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob hinsichtlich der Tat, die Gegenstand von strafrechtlichen Ermittlungen ist, dringender oder lediglich einfacher Tatverdacht vorliegen muß, ob also die hohe Wahrscheinlichkeit oder lediglich die Möglichkeit der Tatbegehung festzustellen ist, um eine Ausnahme von der Beschlagnahmefreiheit selbstrecherchierten Materials und ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht zu begründen. Das sind nur einige der Fragen, die auf der Grundlage des Bundesratsentwurfes sorgfältig zu prüfen sein werden.
Daß der heute eingebrachte Entwurf von Bündnis 90/ Die Grünen weniger überzeugend ist, läßt sich sehr einfach begründen. Der Entwurf läßt Ausnahmen von der Beschlagnahmefreiheit selbstrecherchierten Materials nur zu, wenn sich der Journalist selbst strafbar gemacht haben könnte, etwa durch Beteiligung an der Straftat, die Gegenstand der Recherche ist.
Wie wollen Sie eigentlich begründen, daß das rechtsstaatliche Gebot einer effektiven Strafrechtspflege auch dann zurückzutreten hat, wenn sich die Recherche auf schwerste Verbrechen bezieht? - Ich nenne aus dem Katalog des Bundesratsentwurfes nur Mord, Totschlag, Völkermord, besonders schwere Fälle des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, sexuellen Mißbrauch von Kindern mit Todesfolge und Menschenhandel - bekanntlich ein typisches Delikt der organisierten Kriminalität. Der Vorschlag, auch in derartigen Fällen die Redaktionsräume zu einem gewissermaßen strafverfolgungsfreien Raum zu machen, kann kaum überzeugen. Bekanntlich sind auch Arzt- oder Anwaltspraxen keineswegs vor dem Zugriff der Staatsanwaltschaft absolut geschützte Oasen. Bei schwersten Verbrechen muß das Gebot der effektiven Strafrechtspflege, also die Verteidigung des Rechtsstaates, Vorrang haben.
In ihrer ablehnenden Stellungnahme zum Entwurf des Bundesrates stützt sich die Bundesregierung auf ein durch das Bundesministerium der Justiz beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg eingeholtes rechtsvergleichendes Gutachten. Da dieses Gutachten vor achteinhalb Jahren, also vor meiner Wahl in den Deutschen Bundestag, unter meiner Leitung entstanden ist und der rechtsvergleichende Querschnitt und die rechtspolitischen Empfehlungen, auf die sich die Bundesregierung stützt, von mir verfaßt worden sind, gestatten Sie mir bitte noch eine kurze Anmerkung. Dabei beziehe ich mich auf das Gutachten in der Fassung, wie sie in der Festschrift für Tröndle veröffentlicht worden ist.
Wir haben damals geprüft, wie der Brokdorf-Fall, also die Beschlagnahme von Filmaufnahmen über eine Demonstration mit schweren Ausschreitungen, in anderen vergleichbaren demokratischen Rechtsstaaten entschieden worden wäre. Westeuropäische Vergleichsländer waren England, Frankreich, die Niederlande, Österreich, Schweden und die Schweiz. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß in keinem der untersuchten westeuropäischen Länder die zuständigen Gerichte den Brokdorf-Fall anders entschieden hätten als das Bundesverfassungsgericht, das die Beschlagnahme der nichtveröffentlichten Filmaufzeichnungen bekanntlich als verfassungsgemäß bewertet hat. In den USA, die wir in das Gutachten einbezogen haben, wäre der Fall übrigens auch nicht so eindeutig anders entschieden worden, wie das in der Literatur gelegentlich behauptet wird.
In den aus rechtsvergleichender Sicht entwickelten rechtspolitischen Empfehlungen findet sich dann ein abschließender Hinweis, der nach Auffassung der Bundesregierung ausweislich der Stellungnahme zum Bundesratsentwurf nach wie vor aktuell ist. Ich hatte dort 'ausgeführt:
Die geltende gesetzliche Regelung kann durchaus im Einzelfall unbefriedigend sein. Derartige Einzelfälle entziehen sich aber einer generellen Regelung, die der Pressefreiheit und den Interessen der Strafverfolgung gleichermaßen gerecht wird. Die Lösung kann nur in der unmittelbaren Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf besonders gelagerte Fälle liegen.
Genau darum aber geht es inzwischen immer mehr. In den fast neun Jahren seit Erstattung des Gutachtens ist uns kein einziger Fall bekannt geworden, in dem der Schutz selbstrecherchierten Materials unmittelbar auf Art. 5 Grundgesetz gestützt worden wäre. Das uns vom Deutschen Journalistenverband übermittelte Fallmaterial, auf das auch die Kollegen Häfner und Eylmann hingewiesen haben, macht im Gegenteil deutlich, daß viele Staatsanwaltschaften dazu neigen, bei selbstrecherchiertem Material schematisch Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmefreiheit zu verneinen.
Die Hoffnung auf eine der Pressefreiheit Rechnung tragenden Kasuistik der Praxis hat sich also leider nicht erfüllt. Offenbar geht die Praxis davon aus, daß die gebotene Abwägung zwischen Pressefreiheit und rechtsstaatlicher Effektivität der Strafrechtspflege vom Gesetzgeber, also von uns, vorzunehmen ist. Dieser schwierigen Aufgabe müssen wir uns nunmehr stellen.
Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf mahnt verdienstvollerweise an, daß sich das Parlament dieser Verpflichtung nicht entziehen darf.
Dr. Jürgen Meyer ({4})
Der Entwurf des Bundesrates und die dazu bereits vorliegenden Verbesserungsvorschläge sind eine gute Grundlage für die bevorstehenden Gesetzesberatungen.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den sehr klugen Ausführungen des Herrn Kollegen Eylmann und des Herrn Kollegen Professor Meyer will ich für die F.D.P. nur noch ein paar Gesichtspunkte anfügen. Es reicht nämlich nicht aus, die Pressefreiheit nur rechtstheoretisch in der Verfassung zu schützen. Es kommt eben immer auf die Verfassungswirklichkeiten an. Der Informantenschutz zählt eben zu dem Kernbereich der Pressefreiheit, die in Art. 5 unseres Grundgesetzes geschützt ist.
Die Versuche, über immer neue Wege und Rechtskonstruktionen diesen Informantenschutz zu umgehen, ist daher eine verfassungspolitisch höchst gefährliche Entwicklung. Es gab eine ganze Reihe von Vorfällen - die Sie beide auch zu Recht aufgeführt haben -, die uns dazu veranlassen müssen, über eine Rechtsänderung nachzudenken. So wurden am 20. August 1996 mehrere Redaktionsräume der Bremer Medien von der Staatanwaltschaft durchsucht. Die Bremer Medien hatten zuvor einem Mitarbeiter der Senatsverwaltung vorgeworfen, öffentliche Steuergelder unsachgemäß eingesetzt zu haben. Das explizite Ziel der Durchsuchung sollte nun das Auffinden der Quellen und die Identifikation des Informanten der Medien sein.
Dieser jüngste Bremer Vorfall - ich habe selbst mit dem Herrn Bürgermeister, der in Personalunion auch noch Justizsenator ist, einen intensiven Briefwechsel dazu gehabt, in dem eine meines Erachtens kaum überzeugende Begründung vorgebracht worden ist - steht in einer Reihe von vergleichbaren Vorgängen. Ich will es hier offen sagen: Vom geänderten saarländischen Presserecht über die Überwachung von Journalisten der Redaktionen „Focus" und „ZDF Frontal" durch die Frankfurter Staatsanwaltschaft bis hin zu der Durchsuchung der Bremer Redaktionen ist ein stetiges Aufweichen bislang anerkannter Rechtsgrundsätze erkennbar.
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Man sollte hier zumindest feststellen, daß es in diesem Fall auch einen intensiven Schriftwechsel mit Herrn von Plottnitz gegeben hat, der sich ebenfalls wachsweich zu den Vorgängen eingelassen hat. Das ist bemerkenswert.
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Deswegen stellt sich mittlerweile die Frage, ob das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten neu definiert, erweitert werden muß. Denn wenn juristische Kunstgriffe und die Außerachtlassung der Verhältnismäßigkeit bei Durchsuchungsaktionen den Kernbereich der Pressefreiheit tangieren, dann muß die
Rechtslage so geändert werden, daß sie nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Geist unserer Verfassung wieder gerecht wird.
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Das von den Journalisten selbst recherchierte Material sollte unseres Erachtens ebenso unter den Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts gestellt werden, wie dies bei anderen Berufsgeheimnisträgern der Fall ist. Es darf eben nicht nur das geschützt sein, was Dritte einem Journalisten mitgeteilt haben, sondern auch das muß geschützt sein, was der Journalist auf Grund eigener Recherchen herausgefunden hat. Journalisten sind nicht die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft.
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Es ist im übrigen in der Beschlagnahmepraxis nahezu unmöglich, das mitgeteilte vom selbst recherchierten Material zu unterscheiden. Der Fall in der Redaktion „Focus", bei dem die gesamte Festplatte des Computers eines Redakteurs kopiert und beschlagnahmt wurde, zeigt, daß eine solche Abgrenzung in der Regel in der Praxis scheitern wird.
Es gilt außerdem, das Zeugnisverweigerungsrecht bei modernen Ermittlungsmethoden - wie zum Beispiel der Telefonüberwachung von Handies - auszuweiten und erneut zu diskutieren. Das gilt nicht nur für den betroffenen Personenkreis der Journalisten, sondern - das sage ich als Anwalt - auch für die betroffenen Rechtsanwälte, wie der Fall Jürgen Schneider gezeigt hat. Denn wenn Sie einen Journalisten - und die Anwälte - durch eine lückenlose Observation, durch eine Überprüfung der Handy-Gespräche und der Kreditkartenabbuchungen total beobachten können, dann hat der Journalist gar nicht mehr die Chance, mit seinen Informanten Kontakt aufzunehmen, ohne daß er Gefahr läuft, diesen zu enttarnen. Deswegen haben wir auch im Bereich des Fernmeldeanlagengesetzes notwendige Änderungen zu prüfen, die in den Vorlagen noch gar nicht berücksichtigt sind.
Ich will zu den vorliegenden Gesetzentwürfen nur kurz noch sagen, daß der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in meinen Augen ausgesprochen oberflächlich gestrickt ist und nicht in Betracht kommen kann, weil er jede Abwägungsentscheidung mit dem notwendigen Ziel der Verbrechensbekämpfung unmöglich macht, also exakt das, was Professor Meyer vorgetragen hat.
Ich will zum zweiten sagen: Beim Entwurf des Bundesrates werden wir darüber reden müssen, ob es klug ist, einen eigenen Katalog aufzunehmen, oder ob man nicht beispielsweise auf bestehende Katalogstraftaten, wie wir sie aus § 138 StGB kennen, Rückgriff nehmen sollte.
Unter allen Umständen aber ist es zu begrüßen, daß sich der Bundesrat und auch der Deutsche Bundestag in den Ausschüssen mit diesem Thema zu befassen haben. Ich denke, wir werden das tun - ob im
Wege des Verhältnismäßigkeitsprinzips oder im Wege einer eindeutigen Rechtsänderung, wird die Ausschußberatung zeigen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt, PDS.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS hält die Verstärkung des Zeugnisverweigerungsrechtes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Presse, Rundfunk und Film, so wie sie im Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen wird, ebenfalls für dringend notwendig. Die geltenden Regelungen in der Strafprozeßordnung reichen aus unserer Sicht nicht aus. Es wird Zeit, daß der Gesetzgeber auf der Basis des Entwurfes des Bundesrates, der bekanntlich seit November 1994 vorliegt, aktiv wird und geeignete Regelungen schafft.
In den letzten Jahren gab es gehäuft überfallartige polizeiliche Aktionen auf Redaktionen, Journalisten und Fotografen. Die Durchsuchungen von Bremer Fernseh- und Zeitungsredaktionen und Journalistenwohnungen im August dieses Jahres waren nur einer dieser spektakulären Fälle.
Besonders beliebt ist die Beschlagnahme von Foto- und Filmmaterial von Kundgebungen und Demonstrationen, um es zu Zwecken der Strafverfolgung zu verwenden. Man gewinnt den Eindruck, daß der Staatsanwaltschaft und der Polizei einige nicht ganz klare Regelungen in der Strafprozeßordnung gerade recht sind, um die Rechtswidrigkeit von Eingriffen in die Arbeit der Medien zuzudecken.
Das Redaktionsgeheimnis muß insgesamt geschützt werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um mitgeteiltes oder selbst recherchiertes Material handelt. Es darf kein Unterschied gemacht werden, ob Journalisten und Fotografen berufsmäßig oder nur gelegentlich tätig sind.
Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film sind in Art. 5 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich gewährleistet. Mit diesem Grundrecht wird, wie wir wissen, von den Medien öfter Mißbrauch getrieben. Einige Mitglieder der PDS können zweifelsfrei ein Lied davon singen. Sie gewinnen zwar einen Prozeß nach dem anderen,
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aber gewisse Presseorgane hören nicht auf, auflagensteigernde Schlagzeilen zu produzieren, Schlagzeilen, die an der Wahrheit - gelinde gesagt - haarscharf vorbeirauschen.
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Das ist allerdings nur eine Frage der Moral.
Hier geht es jedoch um etwas völlig anderes: Redaktionen, Journalisten und Fotografen müssen davor geschützt werden, daß sie von Untersuchungsorganen als unfreiwillige Helfershelfer zum Einsammeln von Beweismitteln ausgenutzt werden, indem ihnen das Zeugnisverweigerungsrecht beschnitten wird. Das beeinträchtigt nicht zuletzt das Verhältnis zwischen den Medien und der Öffentlichkeit. Es gefährdet zweifelsfrei die Journalisten und ihre Arbeit. Wenn Demonstranten damit rechnen müssen, daß Fotos oder Filmausschnitte von ihnen bei der Polizei landen, hegen sie natürlich nicht unbedingt Sympathie für diese Fotografen oder diese Filmer.
Wir verkennen nicht die Notwendigkeit einer geordneten Rechtspflege - gerade aus unserer Vergangenheit heraus, Herr Dr. Kansy -, wozu auch die Verfolgung von Straftaten gehört. Journalisten sollten allerdings nicht zu Bütteln von Polizei und Staatsanwaltschaft degradiert werden. Sie sollten über Vorgänge berichten und sich Informationen dazu beschaffen können, ohne befürchten zu müssen, daß die Redaktionen durchsucht, Informationen beschlagnahmt und die Mitarbeiter zu Zeugenaussagen letztendlich gezwungen werden können.
Danke.
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Das Wort hat der Bundesminister Professor Dr. Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Grünen verfolgt ein Ziel, das wir alle unterstützen: die Presse besser vor Übergriffen zu schützen. In der Sache gibt es also überhaupt keinen Streit.
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Es muß allerdings die Frage erlaubt sein, ob der vorgelegte Gesetzentwurf nicht über das Ziel hinausschießt. Das haben Sie ja auch schon in allen Beiträgen bisher gehört, Herr Kollege Häfner.
Der Entwurf geht davon aus, das Zeugnisverweigerungsrecht und das daran anknüpfende Beschlagnahmeverbot auf selbst recherchiertes Material auszudehnen. Auch dieser Ansatz ist natürlich bedenkenswert. Aber ich frage: Wenn ein Journalist einer Einbrecherbande, einem Drogenkartell oder einem Waffenschieberring auf die Spur kommt, soll das Material auch dann vor Zugriff geschützt sein? Die schwierige Güterabwägung zwischen einem verstärkten Schutz der Freiheit der Presse auf der einen Seite und der Verfolgung schwerster Straftaten auf der anderen Seite möchte ich gründlicher sichergestellt wissen.
Mit der gegenwärtigen Rechtslage lassen sich differenzierte Ergebnisse erzielen; Sie haben das hinreichend dargelegt, Herr Meyer. Selbst wenn es in Einzelfällen nicht wunschgemäß ausgeht, ist es jedenfalls nicht eine Frage der schlechten Rechtslage, sondern möglicherweise eine Frage nicht verfassungsBundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
bewußter Anwendung von Gesetzen. Aber immerhin lassen sich mit der geltenden Rechtslage die von der Verfassung verlangten Antworten finden. Deswegen muß man zunächst, bis wir mit der auch vom Bundesminister der Justiz befürworteten Novelle fertig sind, mit dem geltenden Recht auskommen.
Es gibt aber auch besonders schwierige Fälle. Uns allen steht natürlich das Beispiel vor Augen, bei dem die Staatsanwaltschaft Redaktionsräume nach einem verwaltungsinternen Bericht durchsucht hat. Dabei wurde der Informant innerhalb der Verwaltung ermittelt. Das ist für Journalisten im Hinblick auf den Quellenschutz verständlicherweise ein ganz problematischer Fall. Die Sorgen der Journalisten, vor allem das hohe Gut der Pressefreiheit geben Veranlassung, über das Erfordernis einer Rechtsänderung nachzudenken.
Der Gesetzentwurf der Grünen bringt aber sicher nicht die angemessene Lösung. Was ist - ich stelle nur wieder Fragen -, wenn etwa Einsatzpläne der GSG 9 bei Flugzeugentführungen oder vertrauliche Patientendaten in der Zeitung stehen? Was ist, wenn Presseorganen Informationen über die Verbreitung kinderpornographischer Schriften, nationalsozialistischer Propaganda oder gar über ein bevorstehendes Attentat vorliegen? Soll auch dann die Freiheit der Presse in jedem Fall vorgehen?
Diese Fragen bedürfen einer vertieften Prüfung, die sich nicht auf das hier behandelte Thema beschränken darf. Da nehme ich ausdrücklich Bezug auf meinen Fraktionskollegen Westerwelle.
Es sind auch weitere Fragen zu klären, beispielsweise folgende: Ist nicht auch bei der Telefonüberwachung zeugnisverweigerungsberechtigter Personen ein Beweisverwertungsverbot angezeigt? Besteht nicht auch bei anderen besonders sensiblen Ermittlungsmaßnahmen, wie etwa dem Einsatz technischer Mittel oder verdeckter Ermittler, Handlungsbedarf?
Auf der 67. Justizministerkonferenz vor wenigen Monaten haben wir uns mit dem Gegenstand beschäftigt. Der Strafrechtsausschuß der JuMiKo wurde beauftragt, unter Mitwirkung auch des Bundesjustizministeriums mögliche Rechtsänderungen zu prüfen. Dieser Ausschuß wird einen Bericht vorlegen, auf dessen Grundlage wir über mögliche Lösungen entscheiden werden.
Für die Zwischenzeit ist das geltende und vom Bundesverfassungsgericht im Oktober 1987 bestätigte Gesetzesrecht nach meiner Einschätzung ausreichend. Einseitigkeit jedenfalls hilft nicht weiter.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/5285 und 13/6382 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Regelung des Rechts der Raumordnung ({0})
- Drucksache 13/6392 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1})
Sportausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Städtebaulicher Bericht 19% Nachhaltige Stadtentwicklung - Drucksache 13/5490 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({2})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({3})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die erzielten Ergebnisse und den Stand der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumordnung innerhalb der Europäischen Union
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Europa 2000+
Europäische Zusammenarbeit bei der Raumentwicklung
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumordnung entlang der deutsch-polnischen Grenze
- Drucksachen 13/1078, 13/1233 Nr. 1.5, 13/3577, 13/3182 Nr. 2.4, 13/2685, 13/2973 Nr. 5, 13/5947 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Wilhelm Pesch Hans-Werner Bertl
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({4}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Regionalisierung raumwirksamer Bundesmittel
- Drucksachen 13/2941, 13/3179 Nr. 1, 13/5948 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Wilhelm Pesch Walter Schöler
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Wilhelm ({5}), Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein soziales und ökologisches Städtebau- und Raumordnungsrecht
- Drucksache 13/6384 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({6})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Klaus Töpfer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr darüber, daß wir heute die Gelegenheit haben, die Neufassung des Baugesetzbuches, der Baunutzungsverordnung und des Raumordnungsgesetzes in erster Lesung zu erörtern. Ich glaube, daß diese Veränderungen aus verschiedenen Gründen von sehr großer Bedeutung sind.
Wirtschaftlich, sozial und gleichzeitig ökologisch befriedigende Wohnverhältnisse mit ausgewogenen Bewohnerstrukturen in lebenswerten Städten und Gemeinden sind wichtige Voraussetzungen für sozialen Frieden und das Kernstück dessen, was wir etwa seit dem Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro als eine nachhaltige Entwicklung bezeichnen, eine Entwicklung, zu der wir uns alle verpflichtet haben.
Die zweite Konferenz der Vereinten Nationen über menschliche Siedlungen - als Habitat II gut bekannt -, in diesem Jahr im Juni in Istanbul durchgeführt, hat eine eigene Agenda durch Leitlinien für eine nachhaltige Entwicklung auf städtischer und räumlicher Ebene weiter konkretisiert.
Wir wissen alle nur zu gut, daß dort, wo das nicht gelingt, die Konsequenzen sehr dramatisch und weitreichend sind. Soziale Segregation, Gewaltbereitschaft, Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, Armut und Jugendarbeitslosigkeit, all das wird sehr schnell zu einem äußerst schwer zu durchbrechenden Teufelskreis. Die Folgen sind für die gesellschaftliche Stabilität außerordentlich negativ.
Es geht uns also darum, daß wir das nicht nur in Rio und Istanbul gefordert haben, sondern daß wir das jetzt auch wirklich gestalten. Wir möchten dabei, ebenso wie im Vorbereitungs- und Durchführungsprozeß von Habitat II, auch die Voraussetzungen schaffen, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in den engagierten Verbänden und die Kommunen einzubinden. Es soll eine breite Diskussion über diese Überlegungen durchgeführt werden. Ich möchte das Haus und darüber hinaus alle einladen, dieses aufzugreifen.
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Das ist die Gesamtbetrachtung, global verankert, wenn Sie so wollen. Wir müssen die gesteckten Ziele nun auch umsetzen. Aber Baurecht und räumliche Planungspolitik sind auch ganz unmittelbar nationale Standortpolitik. Das ist etwas für die unmittelbare Entwicklung in unserem Lande. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert stehen Bund und Länder in der gemeinsamen Verpflichtung, die räumlichen Planungen in die Lage zu versetzen, auf die ständig wachsenden Anforderungen und die erheblichen Veränderungen in diesen sich immer globaler darstellenden Entscheidungsabläufen flexibel zu reagieren. Der Standort Deutschland verlangt zügige und überschaubare Planungsverfahren.
Ich darf darauf hinweisen, daß der städtebauliche Bericht „Nachhaltige Stadtentwicklung" die Städtebaupolitik der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung umfassend unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit darstellt.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um allen, dem Hohen Haus und auch meinen Vorgängern, dafür zu gratulieren, daß die Städtebauförderung, die dieses Jahr 25 Jahre alt wird, so erfolgreich dazu beigetragen hat, daß unsere Städte eine sehr gute Perspektive gewonnen haben. Auch viele Kommunalpolitiker haben daran mitgewirkt.
({1})
Man sollte das immer wieder erwähnen; das ist eine wirkliche Erfolgsstory, die geschrieben worden ist.
Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit, mit dem Kollegen Ravens, der in der damaligen Zeit als Staatssekretär tätig war, anläßlich dieses Silberjubiläums eine kleine Veranstaltung zu gestalten. Ich glaube, wir sehen, daß sich diese Erfolgsstory jetzt wieder bewährt.
({2})
- Damals war er noch Parlamentarischer Staatssekretär.
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- Da war er auch gut, ich sage es ihm weiter.
Sie bewährt sich jetzt wieder, wo wir sehen, daß die Mittel schwerpunktmäßig in den neuen Bundesländern eingesetzt werden müssen. Wenn man sieht, welche großen Aufgaben wir in den Innenstädten der neuen Bundesländer haben, dann ist es unumgänglich notwendig, jetzt zu handeln.
Lassen Sie mich sagen: Ich bin froh und dankbar darüber, daß die UNESCO Potsdam und das Weltkulturerbe nicht auf die - wenn Sie so wollen - rote Liste gesetzt hat.
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Vielmehr ist es uns gelungen, dies in gemeinsamer Arbeit zu verhindern. Das sollten wir auch weiterführen. Das gehört ebenfalls zur Frage nachhaltiger Stadt- und Raumentwicklung.
({5})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hinzufügen: Wir können dieses sicherlich in sich schon sehr breite Werk nicht isoliert betrachten. Deswegen wünsche ich eine weitere intensive Diskussion auch des von uns jetzt vorgelegten Wohnungsgesetzbuches. Wir wollen alles daransetzen, um gemischte Wohnstrukturen zu erhalten und um die Wohnungspolitik in den Dienst der Stadtentwicklungspolitik zu stellen. Das alles muß sich wechselseitig befruchten.
({6})
Es kann nicht isoliert betrachtet werden. Deswegen möchte ich diese Interdependenz auf jeden Fall berücksichtigt wissen.
Die Bundesregierung will mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung diese Anforderungen miteinander verbinden. Dies ist für eine effiziente, zukunftsfähige und nachhaltige Entwicklung unabdingbar. Ich weiß natürlich, daß wir hier nur Rahmen setzen können. Andere im kommunalen Bereich und auf der Länderebene müssen und werden sie sicherlich ausfüllen.
Eines der wichtigsten Anliegen der Bundesregierung ist dabei die Stärkung der Planungshoheit der Kommunen und die Stärkung der Regionen. Durch die Änderung des Baugesetzbuchs wird ein einheitliches und vereinfachtes Städtebaurecht geschaffen. Sonderregelungen für die neuen Bundesländer entfallen, so wie bei der Verabschiedung des Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes 1993 bereits gefordert. Ich glaube, wir sollten deswegen alles daransetzen, diese Novellierung so frühzeitig fertigzustellen, daß das Gesetz nicht nur zum 1. Januar 1998 in Kraft tritt, sondern daß auch die, die es anwenden müssen, Zeit haben, sich darauf vernünftig vorzubereiten.
({7})
Wir sollten es schon mit einem guten Vorlauf verwirklichen. Es ist fast eine Servicenotwendigkeit für die Kollegen in den Ländern und Gemeinden.
Wir wollen die Stärkung der Planungshoheit, wie etwa die Abschaffung der Anzeige- und Genehmigungspflicht für Bebauungspläne, um nur eines anzusprechen. Da wir in der guten Lage sind, bereits die erste Lesung im Bundesrat zu kennen und zu wissen, welche Diskussion kommen wird, sehen wir, daß das, was wir ganz selbstverständlich als Erleichterung und Respekt vor der Planungshoheit der Gemeinde gesehen haben, dort ein bißchen anders beurteilt wird. Es wird also noch viel Gelegenheit zur Diskussion und zur Weiterentwicklung geben.
({8})
- Es ist allein deswegen schon vernünftig, weil wir es vorgelegt haben, Herr Kollege Willner. Das kann ich nur mit großem Nachdruck unterstreichen.
Ich glaube, daß wir, wo immer möglich, den Abbau von Vorschriften voranbringen sollten. Ich nenne nur die Teilungsgenehmigung: 200 000 Genehmigungsverfahren in Deutschland entfallen pro Jahr. Es muß einfach gefragt werden, ob alles mit dieser Bürokratie versehen werden kann. Deswegen liegt auch hier, glaube ich, ein vernünftiger Beitrag zur Vereinfachung und zur Verschlankung.
Die Fortentwicklung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung ist ein Eckpunkt dessen, was wir vorlegen. Sie bedeutet einen wichtigen Fortschritt für die städtebauliche Planung. Erst die Integration der Eingriffsregelung in das Baugesetzbuch macht deutlich, daß im städtebaulichen Planungsrecht die Kompensation der Eingriffe in Natur und Landschaft ein elementarer Bestandteil der städtebaulichen Planung ist.
({9})
Alle laufenden Diskussionen darüber sollten uns klarmachen: Wir wollen Naturschutz sichern, aber wir müssen auch darauf achten, daß das Ziele wie eine Verdichtung im städtischen Bereich nicht verhindert. Deswegen ist eine Verbreiterung der Ausgleichsmöglichkeiten in den Bereichen der Flächennutzungs- und Regionalplanung ein Gewinn für Naturschutz sowie ein Gewinn für städtische und urbane Strukturen.
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Das steht dahinter, und da möchten wir gerne weiter vorankommen, bis hin zum Ökokonto, zu Anrechenbarkeiten von Leistungen, die richtigerweise ohne Verbindung zu einem bestimmten Eingriffstatbestand schon einmal geschaffen worden sind.
Ein weiterer wichtiger Punkt des Gesetzentwurfes ist, den Strukturwandel in der Landwirtschaft positiv zu begleiten. Hier geht es vor allem um die Weiterentwicklung des § 35, und zwar, immer in Kenntnis der Spannung zwischen der Sicherung der Freiflächen und der Nutzung vorhandener Baustrukturen. Wenn wir vorschlagen, daß wir auch im Bereich einer entsprechenden gewerblichen Nutzung vorhandene Bausubstanz weiterentwickeln, dann ist das ein wichtiger Beitrag für den Strukturwandel in der Landwirtschaft, ohne daß wir damit der Zersiedelung der Landwirtschaft irgendwo Vorschub leisten. Dieser § 35 ist und bleibt die wichtigste naturschutzrechtliche Regelung in dem ganzen Bereich. Deswegen kann er nicht zur Disposition gestellt werden, muß aber den Strukturwandel wirklich optimal beBundesminister Dr. Klaus Töpfer
gleiten können. Das ist der Spannungsrahmen, der uns sehr bewußt ist.
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Meine Damen und Herren, ganz sicherlich wichtig ist die Wiederbelebung unserer Innenstädte und Stadtteilzentren, die Stärkung ihrer urbanen Funktion und ihrer Anziehungskraft. Es ist wie überall, auch in der Natur: Monostrukturen, monofunktionale Gebiete haben diese Qualität eben nicht. Sie lassen kaum eine Änderung im Sinne von mehr Vielfalt, Belebung und Attraktivität zu. Dies bedeutet, daß städtebauliche Planung und städtebauliche Strukturen auf Dauer flexibel und anpassungsfähig sein müssen.
Dies gilt nebenbei auch insoweit, als wir die Teilhabe der Bürger an den kommunalen Planungsprozessen attraktiv machen müssen. Nur ein Paragraph sichert noch nicht die Partizipation, sondern nur die unmittelbare Verbindung mit den örtlichen Bereichen.
Deswegen auch unsere Vorstellung, daß wir die Baunutzungsverordnung mit Blick auf diese Flexibilität weiterentwickeln müssen. Es geht mir nicht um eine umfassende Neugestaltung. Vieles in der Baunutzungsverordnung hat sich sicherlich bewährt und bestätigt. Aber wir müssen die Möglichkeit schaffen, flexibler auf die unterschiedlichen urbanen Anforderungen zu reagieren.
Ein Wort zum Raumordnungsgesetz. Dazu allein wäre es notwendig, hier noch einmal zehn Minuten Redezeit zu investieren, Herr Präsident. Aber ich weiß, man unterschätzt immer das, was man am Anfang gemacht hat. Doch wir haben ja noch viel Gelegenheit, das in den Ausschüssen, in Anhörungen zu erörtern.
Ich finde es schon gut, daß wir nun zum ersten Mal wirklich an eine grundsätzliche Reform und Überarbeitung des Raumordnungsgesetzes herangehen.
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Ich weiß noch sehr gut - zumal ich mich auf dem Gebiet auch wissenschaftlich betätigt habe -, daß solche Persönlichkeiten wie Werner Ernst und andere das Raumordnungsgesetz als ein Markenzeichen in Deutschland entwickelt haben. Es ist jetzt an der Zeit zu fragen: Wie kriegen wir es wirklich in eine moderne, dann auch die regionale Entwicklung stimulierende Form?
Für mich steht dabei an oberster Stelle die Stärkung der Region. Wir müssen alles daransetzen, die Region zu stärken, länderübergreifend, Ländergrenzen überschreitend.
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Dies ist der einzige wichtige Punkt; denn uns sollte an anderer Stelle nicht der Vorwurf treffen, wir würden das hohe Gut der kommunalen Selbstverwaltung unter dem Stichpunkt der Kirchturmpolitik einordnen. Wir brauchen die Stärkung der Regionen. Das ist für meine Begriffe unsere Zielsetzung bei dieser insgesamt ja auch sehr positiv aufgenommenen Novelle des Raumordnungsgesetzes.
Insgesamt, meine Damen und Herren, eine wichtige Rechtsmaterie, eine Materie, die auch wiederum ein Stück deutsche Einheit bringt. Was wir im Maßnahmengesetz eingeleitet haben, jetzt in Dauergesetz dort zu überführen, wo es sich bewährt hat, ist eine hervorragende Sache. Ich freue mich auf eine sehr konstruktive Diskussion mit Ihnen allen in den Ausschüssen. Ich hoffe, daß wir am Ende zu einem sehr guten Gesetz kommen können.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
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Das Wort hat der Kollege Walter Schöler, SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesbauminister hat im Hinblick auf die Lebensverhältnisse, die Wohnverhältnisse und auf den Standort Deutschland ein vereinfachtes und übersichtlicher gestaltetes Recht der Bauleitplanung angekündigt. Wegen der zum 31. Dezember 1997 befristeten Regelungen des Maßnahmengeseztes wird das auch ein einheitliches Recht sein. Der große Wurf, Herr Minister, scheint Ihnen dabei noch nicht gelungen zu sein. Aber ich habe den Eindruck, Sie haben das in Ihrem Redebeitrag auch schon eingeräumt. Dazu ist das Parlament durch die späte Vorlage wieder einmal unter großen Zeitdruck gesetzt worden, wenn wir das Bundesgesetzblatt im Juli nächsten Jahres erreichen wollen.
Die SPD-Fraktion will die Novellierung dennoch dazu nutzen, eine Reihe von Grundsätzen fortzuentwickeln und festzuschreiben, die von der Bundesregierung unter dem Deckmantel von Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung ausgehebelt werden sollen.
Die Stärkung der kommunalen Planungshoheit halten wir für unverzichtbar. Die Gesetzesänderung darf nicht dazu dienen, den Gemeinderäten mehr Fesseln als bisher anlegen zu wollen. Begehrlichkeiten von Investoren, die verstärkt Einfluß auf Planungen nehmen wollen, ist zu begegnen. Hier gibt es im Regierungsentwurf deutliche Defizite.
Ein weiterer Grundsatz ist die Beteiligung aller Einwohner und Bürger an Planungsverfahren. Wir werden hierbei keinerlei Einschränkungen hinnehmen. Die Beteiligung kann zu größerer Identifikation der Einwohner mit ihren Gemeinden führen. Sinnvolle Änderungen dürfen nicht zu einem Abbau demokratischer Beteiligungsrechte führen, wie dies in der Vergangenheit zum Beispiel beim Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz zu beobachten war.
Wir halten es für wichtig, Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung zum Schutz der Menschen und der Umwelt deutlicher zu formulieren und in die Grundsätze der Bauleitplanung aufzunehmen. Hierzu gehören der Bodenschutz, unter anderem mit wirkungsvollen Maßnahmen gegen Zersiedelung und Flächenverbrauch, der Klimaschutz und die Flächenausweisung für Anlagen zur Entwicklung und Nutzung regenerativer Energiequellen.
Die Regierung beabsichtigt die Integration der planungsrelevanten Vorschriften aus dem Naturschutzgesetz in das Baugesetzbuch. Dies wird sicherlich eine wesentliche Frage unserer Auseinandersetzungen sein, zumal es hier unterschiedliche Positionen gibt. Ich räume ein, daß der Klärungsprozeß in unserer Fraktion dazu noch nicht abgeschlossen ist. Aber dafür haben wir das Beratungsverfahren mit den Anhörungen auch noch vor uns.
Die Bundesländer haben sich gegen diese Integration des Baurechtskompromisses ausgesprochen, unter anderem auch deshalb, weil sie dies aus verwaltungs- und vollzugstechnischen Gründen für problematisch halten. Zugleich weist der Bundesrat aber auch darauf hin, daß die umweltschützenden Belange in die Abwägung einzubeziehen und mit dem ihnen im jeweiligen Fall zukommenden Gewicht auch zu bewerten sind.
Der im Regierungsentwurf zu § 1 a Baugesetzbuch enthaltene Titel „Umweltschützende Maßgaben für die Abwägung" - er soll wohl geändert werden - könnte den Eindruck zwingend zugemessener Vorgaben erwecken. Wir fordern eine Stärkung des Umwelt- und Naturschutzes in der Bauleitplanung und eine seinem Stellenwert entsprechende Abwägung bei den Planungsverfahren.
Das Verursacherprinzip muß im Baurecht stärker zur Geltung kommen. Die Festsetzung und Durchführung von Ausgleichsmaßnahmen, bezogen auf das reine Plangebiet, ist dabei häufig problematisch. Insoweit macht es durchaus einen Sinn, den Handlungsradius zu erweitern und Ausgleichsmaßnahmen auch außerhalb eines Plangebietes festlegen zu können. Aber hierfür müssen Grenzen gezogen werden, wenn der Ausgleich noch wirkungsvoll sein soll.
Als grundlegende Norm für den Erhalt von Umwelt und Natur - dieses Bekenntnis zumindest ist wohl bei Ihnen, Herr Minister, und bei uns Sozialdemokraten das gleiche - gilt uns Sozialdemokraten der § 35 Baugesetzbuch, der den Außenbereich schützen soll. Aber gerade für Baumaßnahmen im Außenbereich sind die Begehrlichkeiten sehr groß. Dem Strukturwandel in der Landwirtschaft ist Rechnung zu tragen. Das bedeutet jedoch nicht, vor der Agrarfront zu kapitulieren.
Die Weiternutzung erhaltenswerter Bausubstanz ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist eben eine Zersiedelung und damit eine Beeinträchtigung, deren Folgen darüber hinaus von der Allgemeinheit zu tragen sind, wenn es sich um die Erschließung, die Versorgung und Entsorgung handelt oder wenn es meinetwegen um den Schulbusverkehr geht. Alles das verursacht Kosten, die die Kommunen zu tragen haben.
Hier meine ich, Herr Minister, der Regierungsentwurf leistet dem Vorschub, wenn neben einer begrenzten wohnlichen Nutzung, über die wir sicherlich reden können, durch vielfältige gewerbliche Nutzungen weitere Maßnahmen im Außenbereich zugelassen werden sollen. Wir kennen schon viele illegale Maßnahmen, die uns zu denken geben müssen. Wenn wir dem einmal Tür und Tor öffnen, machen wir den ersten Schritt dazu, den § 35 Baugesetzbuch insgesamt in Frage zu stellen.
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Gewerbebetriebe gehören grundsätzlich in Gewerbegebiete, wo sie auch Entwicklungsperspektiven haben. Wir wollen den Schutz des Außenbereichs sichern und die Privilegierungstatbestände für ein Bauen im Außenbereich restriktiv gehandhabt wissen.
Gleiches gilt auch für die Zulassung von Verbrauchermärkten auf der grünen Wiese, die unsere Innenstädte veröden lassen und die Existenz des Fachhandels gefährden. Dem muß, soweit es baurechtlich machbar ist, ein Riegel vorgeschoben werden. Auch dies ist aktive Städtebauförderung.
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Der Regierungsentwurf sieht den Verzicht auf Genehmigungs- und Anzeigeverfahren für alle Bebauungspläne vor, die aus dem Flächennutzungsplan entwickelt sind. Es stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich zu einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und einer Verfahrensbeschleunigung beiträgt. Wichtiger ist eine Rechtssicherheit sowohl für die Planungsbehörden als auch für die Erschließungsträger, Investoren und „Häuslebauer", die auf die Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplanes nämlich vertrauen müssen. Bei Beibehaltung des Anzeigeverfahrens sollte allerdings eine Beschleunigung erwirkt werden, die durch eine verkürzte Frist gegenüber dem bisherigen Recht erreicht werden könnte. Es ist im weiteren Beratungsverfahren zu prüfen, ob dieser Weg nicht besser ist als der gänzliche Verzicht.
Auch der Wegfall der Teilungsgenehmigung beim Grundstücksverkehr bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Die rund 200 000 Genehmigungen pro Jahr, die der Minister soeben erwähnte, nehmen bei der behördlichen Bearbeitung nur eine marginale Rolle ein, wie man bei den Behörden erfährt. Bei der Teilungsgenehmigung wird aber häufig zugleich über die Bebauungsmöglichkeit des einzelnen Grundstücks entschieden.
Herr Kollege Schöler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Peters?
Ja, bitte.
Herr Kollege Schöler, Sie haben das soeben sehr gut ausgeführt. Nun möchte ich aber doch einmal wissen, wie Sie sich die Weiterentwicklung der Einzelgehöfte - ich habe Sie so verstanden, daß Sie dort keine Gewerbebetriebe einrichten wollen - vorstellen, wenn eine landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr möglich ist. Sollen diese Gehöfte verfallen, und sollen die Landwirte, die dort bisher Landwirtschaft betrieben haben, ihren Besitz verlieren? Ich hätte ganz gerne dazu einmal Ihre Vorstellungen gehört.
Frau Kollegin Peters, ich habe soeben schon eingeräumt, daß man über eine begrenzte bauliche Nutzung durchaus sprechen kann. Diese gibt es auch schon teilweise und macht bei erhaltenswerten Hofanlagen auch Sinn. Wenn Sie bei der Anhörung und der gemeinsamen Sitzung des Bauausschusses mit dem Bauausschuß des Deutschen Städtetages zugegen waren, dann haben Sie viele Sorgen und Bedenken zu dieser Zersiedlung und zu verschiedenen Nutzungen gehört. Wir haben immer wieder festgestellt: Es gibt schon heute eine Vielzahl illegaler Nutzungen. Dazu habe ich Beispiele aus meiner Stadt vorgetragen, wo sogar der Fraktionsvorsitzende einer Partei - er gehört nicht meiner an - sein Gehöft umgewandelt hat.
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- Nein, ich wollte ihn nicht nennen. Er gehört auch nicht der F.D.P. und den Grünen an.
({1})
Dieser ist also hingegangen und hat aus dem Betriebsvermögen eine Gewerbeanlage mit vielfältigen, nicht einmal angemeldeten Gewerbebetrieben gemacht. Das fiel erst auf, als in der dortigen Autolackiererei die ersten Autos brannten und die Feuerwehr kommen mußte. Solche Dinge wollen wir wirklich nicht haben.
Frau Kollegin, es gibt sicherlich auch positive Beispiele, wie man Gehöfte nutzen kann. Nur, ich bleibe dabei: Gewerbebetriebe gehören in Gewerbegebiete. Das macht auch für die Zukunft dieser Betriebe einen Sinn.
Ich räume durchaus ein: Es gibt viele Unternehmen, die beim Start zunächst einmal nicht in der Lage sind, hohe Bauaufwendungen oder Pachten aufzubringen, und dann gerne in solche Gehöfte gehen. Das darf nicht sein. Da muß sich die kommunale Wirtschaftsförderung sicherlich mehr einfallen lassen.
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Es wird - das habe ich soeben schon gesagt - bei der Teilungsgenehmigung häufig auch über Bebauungsmöglichkeiten einzelner Grundstücke entschieden. Sie liegt also im Interesse der Grundstückserwerber und künftigen Bauinteressenten, ist also auch eine Art Bürgerberatung und - im übertragenen Sinn - sogar Verbraucherschutz. Beim Wegfall würde das Instrumentarium der Bauvoranfrage sicherlich weit mehr als bisher Anwendung finden und dann die angestrebte Ersparnis beim Verwaltungs- und Zeitaufwand wieder aufheben.
Wir fordern im Zuge der Novelle ein sozialeres Bodenrecht, beispielsweise durch die Stärkung eines allgemeinen kommunalen Vorkaufrechts, allerdings zu realen Werten. Kommerzinteressen müssen stets hinter dem Planungsrecht zurückstehen. Nur so kommen wir dann wieder zu bezahlbarem Bauland.
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Das ist eine Voraussetzung für kostensparendes Bauen und für die Steigerung der Eigentumsquote, die wir alle anstreben.
Für eine konsequente Bodenpolitik ist unserer Meinung nach der Planungswertausgleich unverzichtbar. Vor einigen Tagen fand die Feier aus Anlaß des 50. Jahrestages der bayerischen Verfassung statt. In dieser Verfassung steht:
Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- und Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.
Hätten sich die Bayern an diese Verfassung gehalten, dann gäbe es dort nicht so viele Spekulationen!
Wir sehen nicht ein, daß die Gemeinden per Satzungsbeschluß Grundstückseigentümer eines begrenzten Gebietes durch enorme Wertsteigerungen begünstigen und daß als Dank dafür die Schaffung zusätzlicher Infrastruktureinrichtungen zu Lasten der Bürger geht. Abschöpfungsmöglichkeiten haben wir bereits bei Bodenordnungsverfahren, Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen und beim städtebaulichen Vertrag. Wir erreichen aber damit nicht alle Grundstücke eines Gebietes. Wir wollen eine Beteiligung aller Eigentümer, deren Grundstücke eine Wertsteigerung erfahren, an den Kosten infrastruktureller Einrichtungen.
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- Dazu werde ich Ihnen bei den Ausschußberatungen ein paar Vorschläge machen.
Der Planungswertausgleich, Herr Kollege Braun, ist nichts anderes als die spiegelbildliche Antwort auf die Entschädigung, die die Kommunen dann zu leisten haben, wenn sie Grundstücke herabzonen oder Baumöglichkeiten nehmen. Wer diese Wertverluste zu entschädigen hat, muß auch das Recht haben, Wertgewinne, die er bewirkt, zumindest teilweise übernehmen zu können. Hierzu fehlt Ihnen offensichtlich noch der Mut.
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Das gleiche gilt für die Möglichkeit der Umwandlung von Mietwohnraum in Eigentumswohnungen. Bei einem erhöhten Wohnraumbedarf gehört dies ins Wohnrecht. Wir müssen den Druck von dem Wohnungsmarkt und damit von den Mietern nehmen, der in Ballungsgebieten und je nach Region noch sehr stark ist. Aber, Herr Braun, wie bei der Zerschlagung eines sozialen Mietrechts hat sich die F.D.P. als Partei der Besserverdienenden in dieser Frage in der Koalition wahrscheinlich wieder durchgesetzt. Ich bedaure das sehr. Wir sollten über diese Frage noch einmal nachdenken.
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Ich will wegen der Kürze der Zeit nicht noch auf die Novellierung der Baunutzungsverordnung eingeWalter Schöler
hen. Hierzu gibt es umfangreiche Stellungnahmen von Bundesrat und kommunalen Spitzenverbänden.
Das neue Raumordnungsgesetz - da gebe ich Herrn Minister Töpfer recht - hätte es wirklich verdient, sich mit ihm länger auseinanderzusetzen. Aber auch dafür ist uns die Zeit nicht gegeben. Es hat auf jeden Fall den veränderten Verhältnissen, hervorgerufen durch die deutsche Einheit und durch die Entwicklung der Europäischen Union, Rechnung zu tragen. Das Raumordnungsgesetz muß mehr auf die Bezüge zwischen Ballungsgebieten und dem Umland eingehen. In diesem Bereich gibt es bereits eine regionale Zusammenarbeit auf freiwilliger Basis. Diese sollten wir fördern. Reformbedarf ergibt sich einerseits auf Grund der Bevölkerungsabwanderung aus den Großstädten und aus den östlichen Bundesländern; andererseits ist auf Grund der Prognosen zur steigenden Bevölkerungsentwicklung Handlungsbedarf gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Entwurf des BauROG ist noch mit erheblichen Mängeln behaftet. Er bedarf in vielen Punkten einer Nachbesserung. Die SPD-Fraktion ist zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit. Wir haben Ihnen dazu heute eine Reihe von Eckpunkten dargestellt.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was als großer Wurf angekündigt war, ging leider ein bißchen daneben. In altbewährter Ideologie hat sich die Bundesregierung wieder einmal darauf beschränkt, Umweltstandards und demokratische Rechte abzubauen.
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Alle befristeten Regelungen, seinerzeit dem gläubigen Volk als vorübergehende Einschränkung verkauft, wurden als Dauerrecht verewigt. Damit wird ein stetig wachsender Flächenverbrauch mit irreversiblen ökologischen Schäden zementiert.
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Bürger, Natur und Landschaft werden dem freien Spiel der ökonomischen Kräfte überlassen. Sinnvolle Planung kann so nicht stattfinden.
Wir kritisieren am Regierungsentwurf insbesondere: Die Politik resigniert vor wachsenden Flächenansprüchen, statt Instrumente zur Begrenzung des Flächenverbrauchs bereitzustellen. Nach wie vor setzt die Bundesregierung auf eine Politik der forcierten Baulandausweisung ohne Rücksicht auf eine ausgewogene, nachhaltige Raumnutzung. Sie tut dies in der Förderpolitik ebenso wie mit den Beschleunigungsgesetzen und jetzt mit dem eingebrachten Entwurf eines Bau- und Raumordnungsrechts.
Unsere Gesellschaft nutzt den Boden, als wäre er unbegrenzt verfügbar. Dabei werden täglich in Deutschland 80 bis 100 Hektar Freifläche verbaut. Die theoretische Gleichberechtigung der räumlichen, ökologischen, sozialen und ökonomischen Leitvorstellungen schlägt sich nicht in der räumlichen Entwicklung nieder. Vielmehr dominieren die ökonomischen Ansprüche auf Kosten insbesondere der ökologischen Erfordernisse. Dieses Verständnis der Raumplanung führt zu einer massiven, einseitigen Raumbelastung auf Kosten von Natur und Landschaft, Boden, Wasser, Luft und Klima.
Die zunehmende Zersiedelung unserer Landschaft soll noch durch weitere Privilegierungen von Außenbereichsvorhaben beschleunigt werden.
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Der umfangreiche Privilegierungskatalog des Baugesetzbuch-Maßnahmengesetzes soll ins Dauerrecht überführt werden, obwohl dies in den letzten Jahren bereits zu einem unkontrollierbaren Zersiedlungsprozeß geführt hat.
Der Regierungsentwurf packt hingegen zahlreiche Problemfelder der Stadt-, Siedlungs- und Raumentwicklung überhaupt nicht an, so den Vorrang für die Nutzung von Brachen und den Vorrang für die Ausbildung von Siedlungsschwerpunkten an Haltestellen des Schienenverkehrs. Zur Förderung der Nutzungsmischung macht der Entwurf mit der Abschaffung der Kategorie des reinen Wohngebietes nur einen zaghaften Anfang. Der Regierungsentwurf packt das Problem der überhöhten Bodenpreise in den Ballungsräumen nicht an. Die Fehlsteuerungen der Raumnutzungen können nicht nur durch Planung bewältigt werden. Genauso wichtig ist es, die ökonomischen Impulse zu einer im volkswirtschaftlichen und ökologischen Sinne optimalen Bodennutzung zu lenken. Dazu wären Änderungen im Bewertungsrecht und die Einführung eines Planungswertausgleichs erforderlich.
Der Regierungsentwurf nimmt solche Impulse der seit langem geführten Bodenrechtsdebatte leider nicht auf. Er baut die Verpflichtung zu einem naturschutzrechtlichen Ausgleich weiter ab, die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung wird komplett in die planerische Abwägung nach BauGB eingestellt. Auch Vorhaben im unbeplanten Innenbereich sind nicht mehr als Eingriff zu bewerten.
Der Regierungsentwurf ist von einer konzeptionslosen Deregulierung gekennzeichnet, durch den Abbau von Bürgerbeteiligungen, durch die Einschränkung von Einspruchsrechten und -fristen zugunsten der Bürger gegen Bebauungspläne und den Abbau von Anzeigepflichten der Gemeinde gegenüber der Rechtsaufsichtsbehörde. Er setzt damit auf der Ebene des kommunalen Planungsrechts die Linie fort, die bereits in den früheren Gesetzen zur Verfahrensbeschleunigung und in den Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung zum Ausdruck kamen. Dabei werden wohl Beschleunigungen nicht eintreten.
Eine in Auftrag des Bundesbauministeriums erstellte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß
Helmut Wilhelm ({3})
sich für die Mehrzahl der Gemeinden keine nennenswerten Zeitgewinne ergeben haben. Die Gutachter empfehlen daher der Bundesregierung wegen der überragenden Bedeutung der Bürgerbeteiligung für die Qualität und Akzeptanz der Bauleitpläne einerseits und wegen der relativ bescheidenen Auswirkungen andererseits, an den derzeitigen Regelungen festzuhalten.
Ebensowenig wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Bundesraumordnungsgesetz dem Anspruch auf eine ausgewogene Raumentwicklung gerecht. Insbesondere fehlt in dem Entwurf weiterhin die effiziente Stärkung und Begünstigung ökologischer Belange. Entsprechende Ansätze sind zaghaft und halbherzig. § 15 ROG des jetzigen Entwurfs sieht noch nicht einmal mehr zwingend die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung vor.
Die Zukunftsaufgaben der Städtebau- und Raumordnungspolitik müssen daher heißen: Revitalisierung der Innenstädte, Flächenrecycling und Brachennutzung, vor allem zur Flächenbereitstellung für Wohnungsbau sowie für kleine und mittelständische Unternehmen, behutsame Weiterentwicklung und Verdichtung des Bestands in vertretbarem Ausmaß, Stärkung von Innenstädten und Stadtteilzentren und städtebauliche Nutzungsmischungen.
Wir Grüne wollen ein soziales und ökologisches Bodennutzungs- und Raumordnungsrecht. Wir fordern daher: Umwelt- und Stadtplanung gehören zusammen, ökologische Belange sind auf allen Planungsebenen festzuschreiben. Die Priorität für die Bebauung von Lücken und Brachen ist sicherzustellen. Neues Bauland sollen Gemeinden in der Regel nur dann ausweisen, wenn sie den Nachweis erbracht haben, daß sie gleichzeitig Brachen und Lükken nutzen. Die Bildung von Siedlungsschwerpunkten ist notwendig, öffentliche Verkehrserschließung hat Vorrang. Auf allen Planungsebenen ist sicherzustellen, daß beplante Gebiete an den öffentlichen Verkehr, vornehmlich den Schienenverkehr, angeschlossen werden. Der Schutz des Außenbereichs muß wieder durchgesetzt werden. Die Übernahme weiterer Privilegierungen in das Dauerrecht ist daher strikt abzulehnen. Der naturschutzrechtliche Eingriff muß abschließend im Naturschutzgesetz geregelt werden. Dort sind die kompetenteren Behörden: die Naturschutzbehörden.
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Die Einführung eines Planungswertausgleichs ist durchzusetzen. Die Eigentümer realisieren einen Wertzuwachs, der nicht nur durch ihre Leistung, sondern auch durch öffentliche Leistungen zustande kommt. Dieses Rechtsinstrument ist nicht neu. Wir kennen es seit langem im Sanierungs- und Entwicklungsgebiet.
Verfahrensbeschleunigungen lassen sich nicht nur durch den Abbau von Planungsqualität und die Preisgabe grundlegender Umweltziele erreichen. Die Verwaltung muß ressortübergreifende Teamarbeit lernen und flexible Planungselemente einsetzen. Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die vor
Ort wohnen und Planungen oft sehr konkret bewerten können, ist eine Unterstützung für den Planungsprozeß.
Achten Sie bitte auf die Zeit!
Ja.
Die Anzeigepflicht für Bebauungspläne ist beizubehalten. Die Mitwirkung der höheren Verwaltungsbehörde, die Gemeinden auch berät, war in der Vergangenheit von wesentlicher Bedeutung für die rechtliche Bestandskraft der Planungen.
Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist im Raumordnungsverfahren
Herr Kollege, Sie dürfen nicht nur „ja" sagen.
- ich komme zum Ende, ja
Das ist schön. Sie müssen zum Ende kommen.
- beizuhalten, um unausgleichbare Umweltbeeinträchtigungen bereits frühzeitig auszuschließen.
Wegen der ausgeführten sachlichen Mängel des Regierungsentwurfes haben wir den Antrag „Für ein soziales und ökologisches Städtebau- und Raumordnungsrecht" eingebracht, um im Rahmen des zukünftigen Gesetzgebungsverfahrens doch noch Korrekturen durchzuführen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bauplanungsrecht und das Raumordnungsrecht laufend zu verbessern und gleichzeitig zu vereinfachen ist eine der Hauptaufgaben unseres Ausschusses. In der vergangenen Legislaturperiode wurde eine ganze Reihe von Gesetzen zum Bauplanungsrecht erlassen, die neue Gestaltungsmöglichkeiten für Kommunen und Investoren schufen.
Nun ist bei meinen Vorrednern immer wieder die Rede von Bodenwertausgleich gewesen, der unbedingt kommen müsse. Ich gehe davon aus, daß den werten Kollegen nicht entgangen ist, daß wir seit dem 1. Juli 1990 bei städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen den Kommunen ausdrücklich die Möglichkeit gegeben haben, Grund und Boden zum Zeitwert, nämlich als Grünland, zu erwerben, dann selbst die Entwicklungsmaßnahme durchzuführen und danach sicherlich mit großem Gewinn die WohHildebrecht Braun ({0})
nungen zu veräußern. Aber kaum eine Kommune macht davon Gebrauch. Warum? Weil sie plötzlich gemerkt haben, daß dorther keineswegs Golddukaten rollen. Vielmehr ist es mit einem gewaltigen Risiko verbunden, zunächst einmal hohe Investitionen zu tätigen und zu hoffen, daß dann tatsächlich ein so viel höherer Preis für die dann entwickelten Gebiete zu erzielen ist.
Oder denken Sie doch zum Beispiel an den städtebaulichen Vertrag, der seit einiger Zeit geltendes Recht ist! Hier können wir längst vermeintliche oder erhoffte Gewinne dadurch abschöpfen, daß die Kommune dann Baurecht gewährt, wenn sich der Bauträger, der Investor, verpflichtet, zugleich bestimmte Aufgaben zu erfüllen.
({1})
Herr Kollege Braun - Hildebrecht Braun ({0}) ({1}): Warum dann also immer noch der Ruf nach dem Bodenwertausgleich, der doch eigentlich mehr ein Erinnerungsposten aus den frühen 70er Jahren ist? Oder liege ich hier so falsch, lieber Kollege Schöler?
Herr Kollege Braun, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte.
Herr Kollege Braun, wenn Sie einräumen, daß es über die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme, die man nicht für alle Gebiete festlegen kann, oder über den städtebaulichen Vertrag, den man mit Sicherheit nicht zwangsmäßig mit allen in einem Gebiet betroffenen Eigentümern abschließen kann, schon Wertabschöpfungen gibt: Warum sperren Sie sich dann zum Beispiel gegen einen Planungswertausgleich als ergänzendes Instrumentarium der Abschöpfung? Auch im Umlegungsverfahren gibt es diese Abschöpfung bereits.
Herr Schöler, seien Sie bitte so nett und bleiben Sie stehen, damit mir die Zeit nicht entgeht. Ich habe nämlich bereits vorhin bei Ihrem Beitrag den Versuch gemacht, durch eine unselbständige Zwischenfrage von Ihnen zu erfahren, wie Sie sich diesen Planungswertausgleich in der Praxis vorstellen. Wollen Sie ihn auch dann haben, wenn ein Grundstück über lange Zeit unbenutzt bleibt, so daß jemand zahlen muß, ohne überhaupt einen Wertgewinn abzuschöpfen, oder wollen Sie ihn erst in dem Moment, wo das Grundstück veräußert wird oder wo es bebaut wird? Welche Vorstellungen haben Sie dazu?
Im Grunde müßte ich Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten. Aber ich fürchte, daß wir dann
Probleme mit unserem Präsidenten bekommen. Deswegen wird das Zwiegespräch in dieser Form jetzt nicht geführt werden können. Aber ich gehe sehr gerne darauf ein, wenn Sie mir die Gelegenheit geben, mit mir darüber - sei es im Ausschuß oder in anderer Form wieder hier - zu sprechen.
({0})
Wenn Sie wieder einmal hier Redner sind, dann lassen Sie mich diese Frage stellen. Dann kommen wir beide möglicherweise zu der Erkenntnis, die wir voneinander zu erlangen trachten.
({1})
Die verschiedenen Instrumente, die jetzt geschaffen wurden, zu integrieren, heißt: Wir wollen sie leichter zugänglich und leichter lesbar machen. Bei dem Stichwort lesbar möchte ich kurz verweilen. Wir wollen eigentlich Gesetze machen, die für jeden verständigen Leser auch verstehbar sind. Dieses Ziel zu formulieren ist natürlich einfach; aber wie wir wissen, ist die Umsetzung doch recht schwierig. So ist nicht nur unser Mietrecht ein Anwaltsarbeitsbeschaffungsprogramm, sondern auch das Baugesetzbuch ist nur sehr schwer zu lesen.
Ich will hierzu ein Beispiel bringen. In § 42 Abs. 7 in Verbindung mit Abs. 2 des Baugesetzbuches ist eine Regelung versteckt, die, wenn sie denn bekannt würde, einen Aufstand unter den Grundeigentümern in Deutschland zur Folge hätte. Die Bestimmung besagt nämlich, daß ein Grundeigner, auf dessen Grundstück Baurecht entweder über § 34 des Baugesetzbuches oder durch Bebauungsplan entstanden ist, dieses Baurecht verliert, wenn er es nicht binnen eines Zeitraums von sieben Jahren nutzt und die Gemeinde auf die Idee kommt, dieses Baurecht wieder zu entziehen.
Das ist eine Geschichte, die in der Tat atemberaubend ist. Ich habe nicht nur von der Sache her große Bedenken gegen diese Regelung, sondern ich fürchte auch, daß sie mit dem Grundgesetz nicht in Übereinstimmung steht. Aber sie ist auch so schwer lesbar, daß jemand, der sich wirklich einmal die Mühe macht, das Baugesetzbuch durchzulesen, zum Beispiel als Abendlektüre, wohl kaum zu der Erkenntnis kommen würde, daß ihm Derartiges droht.
Aber das kann natürlich leicht sein. Er mag vielleicht das Grundstück im Moment noch nicht bebauen können, weil er das nötige Geld nicht hat. Dann kommt nach sieben Jahren und zwei Wochen der Nachbar und sieht, daß sich irgendwo auf diesem Grundstück ein interessantes Pflänzchen eingefunden hat. Er sagt das der Gemeinde, die daraufhin sagt: „Dieses Grundstück muß natürlich unter Naturschutz gestellt werden." Dann wird es durch einen Beschluß der Gemeinde entsprechend umgestuft, und Naturschutz wird festgehalten. Damit ist das Grundstück für die Nutzung weg. Dieses Grundstück mag, wenn es ausreichend groß war, wenn es beispielsweise ein Baurecht für zwei Wohnhäuser mit zusammen 800 Quadratmetern Wohnfläche gab, ohne weiteres mit 1 Million DM belastet worden sein.
Hildebrecht Braun ({2})
Dieses Grundstück ist dann plötzlich nichts mehr wert, sondern nur noch ein Kostenfaktor.
Kann so etwas wirklich in Ordnung gehen? Ich habe da meine Zweifel. In jedem Fall müßte eine so gravierende Bestimmung, die in die Rechte der Eigentümer eingreift, auch für den, der das Gesetz liest, erkennbar sein.
Ich möchte eine andere Bestimmung des Baugesetzbuches ansprechen, die mir noch einigermaßen Mühe macht: die Erhaltungssatzung nach § 172 des Baugesetzbuches. Diese Satzung, die so einen wunderschönen Namen hat - es soll etwas erhalten werden -, klingt sehr positiv. Diese Erhaltungssatzung ist in drei Städten, nämlich München, Nürnberg und Wiesbaden, extensiv angewendet worden. Dort, wo sie in einem Teil einer Stadt realisiert wurde, wollen die Bürger in den anderen Stadtteilen sie natürlich auch haben, weil sie glauben: Da gibt es etwas Schönes.
So ist München schon fast flächendeckend mit Erhaltungssatzungen überzogen. Die Bürger glauben: Wenn eine Erhaltungssatzung beschlossen ist, dann gibt es keine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen mehr, und dann gibt es keine Mieterhöhungen mehr. Das ist völlig falsch. Diese beiden Dinge gibt es nach wie vor. Was aber sehr wohl durch die Stadt sichergestellt ist, ist erstens ein Vorkaufsrecht für die Stadt, von dem manchmal unter abstrusen Bedingungen - ich könnte Beispiele aus München nennen - Gebrauch gemacht wird. Zweitens wird ein Hebel gegen Modernisierung eingeführt, ein Modernisierungsverhinderer. Denen, die modernisieren wollen, werden Daumenschrauben angelegt.
Das kann so nicht richtig sein, zumindest aus unserer Sicht nicht, die wir Modernisierung grundsätzlich positiv sehen. Wir wollen die Innenstädte erhalten. Das bedeutet, daß wir Altbausubstanz modernisieren müssen und den jeweiligen Standard der jeweiligen Zeit anpassen. Das wird aber in diesen Städten oft dadurch verhindert, daß geradezu abenteuerliche Bedingungen an die Genehmigung einer noch so kleinen Modernisierung gestellt werden.
Das sind Dinge, über die wir werden sprechen müssen und die, jedenfalls aus meiner Sicht, sehr kritisch gesehen werden müssen.
Ich würde gerne auch zum Raumordnungsgesetz einiges sagen; aber dazu fehlt mir die Zeit. Daher nur noch eine Anmerkung zur Baunutzungsverordnung: Es ist für mich nicht geklärt, ob wir die Baunutzungsverordnung im BauROG nebenbei mit ändern sollen. Angesichts der Tatsache, daß wir bereits fünf verschiedene Fassungen der Baunutzungsverordnung mitschleppen - mit der jeweils neuen Fassung konnte man nicht die Wirkung der alten abschaffen -, würde eine Novellierung bedeuten, daß wir noch eine sechste Baunutzungsverordnung in die Praxis einführten. Das bedeutete eine gewaltige Belastung für die Bauämter.
Auf der anderen Seite sind einige Veränderungen im Grunde wirklich erwünscht. Ich halte zum Beispiel das reine Wohngebiet nicht mehr für eine der
Zeit angemessene Einstufung eines Teils des Gebiets der Kommunen.
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Ich bin mit den anderen der Meinung, daß wir im Kerngebiet eine Wohnnutzung zulassen sollten. Vielleicht läßt sich das über § 31 des Baugesetzbuchs machen, der uns in Zukunft Ausnahmen ermöglicht. Diese lassen es akzeptabler erscheinen, weiter mit der bisherigen Fassung der Baunutzungsverordnung zu leben. Wir werden bald sehen, ob wir hier eine Änderung vornehmen. Das wird sich sicherlich in den nächsten Wochen herausstellen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Warnick, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine dpa-Meldung von gestern abend begann mit folgendem Satz:
Berlin wird bis zum Jahr 2010 etwa 300 000 Einwohner an Brandenburg verlieren, die sich dort ihren Traum vom Wohnen im Grünen erfüllen wollen.
Ich finde, daß diese Meldung für die gegenwärtige Entwicklung symptomatisch ist.
Wir haben in der Bundesrepublik einen wachsenden Wohnflächenverbrauch, eine zunehmende Bodenversiegelung und eine drastische Zunahme des Pkw-Verkehrs. Daraus resultierende Umweltbelastungen sind Folgen einer falschen lSiedungs-, Verkehrs- und Steuerpolitik sowie einer wirkungslosen bzw. halbherzigen Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik. Von einer nachhaltigen Entwicklung im ursprünglichen Sinne - um dieses unbestimmte Schlagwort zu gebrauchen - kann in unserem Land keine Rede sein.
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Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Gutachten zur gegenwärtigen Situation. Selbst die Berichte der Bundesregierung, sowohl der für die Habitat-Konferenz als auch der heute vorliegende Bericht zur nachhaltigen Stadtentwicklung, treffen insgesamt realistische Einschätzungen. Nur die Schlußfolgerungen, die die Regierung daraus zieht, sind eine einzige Katastrophe.
Dieser Bericht macht, wenn auch nur unvollkommen, deutlich, daß im Vollzug der deutschen Einheit in Ostdeutschland das genaue Gegenteil von nachhaltiger Entwicklung eingetreten ist - es sei denn, man rechnet sich die Zerstörung der ostdeutschen Industrie und die dadurch verringerten Emissionen als Erfolg an.
({1})
Tatsache ist, daß gigantische Großmärkte und Logistikzentren im Umkreis der Großstädte und entlang der Autobahnen dazu geführt haben, daß die Innenstädte zunehmend veröden, von der Zerstörung der kulturellen Infrastruktur und der Versorgungseinrichtungen auf dem Lande gar nicht zu reden.
Mit dem Fördergebietsgesetz und anderen phantastischen Abschreibungs- und Steuersparmodellen, die gießkannenartig an Besserverdienende verteilt werden, haben Sie maßgeblichen Anteil an den zu Hunderten in Ostdeutschland auf der grünen Wiese gebauten Betonburgen. Die Schäden sind inzwischen zum großen Teil nicht mehr reparabel.
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Auch die Neuregelung der Eigenheimzulagen ist zwar unbestreitbar besser als der unsägliche § 10e des Einkommensteuergesetzes. In bezug auf nachhaltige Stadtentwicklung
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ist sie aber eindeutig ein Schuß in den Ofen, weil damit die Zersiedlung gefördert wird. Wie wäre es denn mit der Schlußfolgerung, diese Zulagen ohne Einschränkungen auch für den genossenschaftlichen Wohnungsbau oder für Modernisierung zu gewähren?
Anstatt den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland mit ihrem wahrlich problematischen Erbe die Chance zu geben,
({4})
ihre Kräfte auf eine ökologische Sanierung der Wohnungen und Wohnumfelder zu konzentrieren,
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zwingen Sie ihnen sowie den darin lebenden Menschen eine wohnungspolitisch unsinnige Zwangsprivatisierung auf und lassen die Unternehmen mit zahlreichen ungeklärten Vermögensfragen im Regen stehen.
Fazit: Das einzige, was an Ihrer Politik nachhaltig ist, sind die auf die künftigen Generationen zukommenden Altlasten.
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Meine Damen und Herren, Grund und Boden sind nicht vermehrbar. Auf kaum einem anderen Gebiet sind die Interessenwidersprüche so scharf ausgeprägt wie die zwischen Eigentümerinnen und Eigentümern von Boden und Nutzerinnen und Nutzern bzw. denen, die für die Verwirklichung ihres Rechtes auf Wohnung oder ihres Traumes vom eigenen Heim Bauland brauchen. In diesem Spannungsverhältnis
diskutieren wir heute das Baurecht sowie das Raumordnungsrecht.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Privater Immobilienbesitz ist und bleibt auch nach unserer Auffassung geschützt. Aber in Art. 14 des Grundgesetzes steht:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Dies erfordert auch, eine spekulative Verwertung von Grund und Boden durch einschneidende Maßnahmen zu unterbinden.
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Weiterhin ist erforderlich, statt infolge einer katastrophalen Haushaltspolitik der Bundesregierung die Städte und Gemeinden zu zwingen, kommunales Bauland zu verscherbeln, alles dafür zu tun, damit kommunales Bodeneigentum erhalten, ausgeweitet und als zweckgebundenes Bauland unter Nutzung von Erbpachtmodellen für Wohnungsbau und Gemeinbedarfseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden kann.
Zur Verbilligung und Verstetigung des Wohnungsbaus ist öffentliches Bauland auszuweisen. Vorhandene boden- und baurechtliche Instrumentarien sind mit einem neuen Baugesetzbuch zu stärken und konsequent anzuwenden. Der notwendige Neubau muß vor allem im Innenbereich durch Nutzung von Brachen und behutsame Nachverdichtungen an Stelle extensiver Stadterweiterungen erfolgen.
Eine umweltverträgliche Baupolitik kann aber nur durch ein konsequentes Umsteuern vom Neubau auf den Umbau vorhandener Flächen erreicht werden. Damit sind Maßnahmen zur Verkehrsvermeidung zu verbinden. Das heißt Stadt der kurzen Wege, autofreie bzw. autoarme Wohngebiete, Förderung und Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs sowie durchgängige Radwegenetze.
Mit der Einführung einer Baulandsteuer und eines zonierten Satzungsrechts kann der Hortung von baureifem Land wirkungsvoll begegnet werden. Wertsteigerungsgewinne, die ohne besonderen Arbeits-
bzw. Kapitalaufwand der Eigentümerinnen und Eigentümer entstehen, zum Beispiel infolge staatlicher Baulandplanung, sowie Spekulationsgewinne durch das Zurückhalten von baureifen Grundstücken sind abzuschöpfen bzw. hoch zu besteuern.
Der Antrag der Bündnisgrünen - er liegt erst seit gestern vor - enthält meines Erachtens nach einem ersten Lesen zahlreiche Vorschläge, Kritiken und Einschätzungen zur gegenwärtigen Situation und zum vorliegenden Regierungsentwurf, die die PDS teilt und unterstützen wird.
Das Ziel der Regierung, Gesetze und Verordnungen zum Baurecht sowie zur Raumordnung in einem Gesetz zusammenzufassen, ist begrüßenswert.
Zum Schluß: Die Vorschläge zu inhaltlichen Veränderungen werden aber den Anforderungen an eine
zukunftsfähige Entwicklung nicht gerecht. Deswegen teilen wir die Forderung der Bündnisgrünen an die Regierung, ihren Entwurf zurückzuziehen und zu überarbeiten.
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Das Wort hat der Kollege Peter Götz, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Nach einigen der letzten Debattenbeiträge habe ich den Eindruck, wir leben in unterschiedlichen Welten.
Worum geht es bei diesem wichtigen Gesetz, über das wir heute sprechen? Es geht darum, die erfolgreiche Bilanz der Wohnungspolitik der letzten Jahre auch im Planungsrecht weiterzuentwickeln. Es geht auch darum, im Bau- und Planungsrecht die Voraussetzungen für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung zu schaffen. Es geht ferner darum, durch zügige und überschaubare Planungsverfahren Deutschland auch in diesem Bereich fit für die Zukunft zu machen.
({0})
Wir wollen das Recht der Bauleitplanung und der Raumordnung durch einheitliche Verfahren und Instrumente übersichtlicher und einfacher gestalten. Wir wollen auch die Gestaltungsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden erweitern und damit die kommunale Selbstverwaltung stärken. Wir wollen ferner ab 1998 ein einheitliches Planungsrecht für ganz Deutschland. Ich sage dies bewußt auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern.
({1})
Mit einem Satz gesagt: Wir wollen Vereinfachungen und Verfahrensbeschleunigung zugunsten von Bürgern, Bauherren und Verwaltung.
Die Bundesregierung hat, Herr Kollege Schöler, mit dem bereits seit August dieses Jahres vorliegenden Gesetzentwurf eine ausgezeichnete Basis für eine gute und sachliche Beratung gelegt. Dafür danken wir Ihnen, Herr Minister Töpfer, und allen, die daran mitgewirkt haben, sehr herzlich.
({2})
Wir diskutieren zur Zeit und in den nächsten Monaten eine Reihe von Gesetzen, die den Wohnungsbau betreffen. Ich nenne die Reform des sozialen Wohnungsbaus, die Weiterentwicklung des Wohngeldes und die Vereinfachung des Mietrechts. Wir beschäftigen uns mit der schwierigen Lage der Bauwirtschaft wegen zurückgehender Bauinvestitionen, und wir beraten über unterschiedliche Förderprogramme - alles wichtige Themen für die Zukunft der Wohnungswirtschaft.
Aber noch wichtiger ist, daß die Städte und Gemeinden offensiv Bauland ausweisen.
({3})
Der Schlüssel zu einem ausgewogenen Grundstücksmarkt liegt in den Händen der Städte und Gemeinden.
({4})
Wenn die Gemeinden ausreichend Bauland anbieten, gestalten sie damit unmittelbar den Grundstückspreis. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir ein einfaches, überschaubares und praktisches Planungsrecht. Deshalb ist es unser Anliegen, mit der Novellierung des Baugesetzbuches staatliche Reglementierungen abzubauen und den Gemeinden mehr Verantwortung zu übertragen. Die Abschaffung der Anzeige- und Genehmigungspflicht bei aus dem Flächennutzungsplan entwickelten Bebauungsplänen, Herr Kollege Schöler, ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie kommunale Verantwortung und kommunale Planungshoheit gestärkt werden können.
Dieser Grundgedanke der Subsidiarität und Eigenverantwortung der Städte und Gemeinden zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesetz.
({5})
- Einverstanden.
So sollen nun die bewährten Instrumente des städtebaulichen Vertrages und des Vorhaben- und Erschließungsplanes nach einer positiv abgeschlossenen Testphase ins Dauerrecht übernommen werden. Durch den städtebaulichen Vertrag kann sich, wie wir wissen, ein Wohnungsbauträger gegenüber der Gemeinde verpflichten, nicht nur den Erschließungsaufwand voll zu tragen, sondern auch soziale Folgeeinrichtungen wie Kindergärten oder Kinderspielplätze zu finanzieren. Durch Privatinitiative und privates Kapital sowie Know-how von Privaten können Gemeinden bei der Erfüllung städtebaulicher Aufgaben stark entlastet werden. Ich erinnere mich noch gut an meine Zeit als Bürgermeister, als wir bei den Beratungen des kommunalen Haushaltsplans Jahr für Jahr manche Baulanderschließung vor uns hergeschoben haben, und zwar mangels finanzieller Masse in der Stadtkasse.
({6})
Die angebotenen Möglichkeiten stellen so eine echte Chance für die Gemeinden dar, notwendiges Bauland zur Entlastung des Wohnungsmarktes nicht nur zu planen, sondern geplantes Bauland, ohne den angespannten kommunalen Haushalt strapazieren zu müssen, auch baureif werden zu lassen. Deshalb sollten wir alle gemeinsam die kommunalpolitisch Verantwortlichen bitten, die vom Gesetzgeber angebotenen flexiblen Instrumente in die Hand zu nehmen und sie zu nutzen.
({7})
Wir können dann problemlos darauf verzichten, den von Nordrhein-Westfalen ausgegrabenen und nun von der SPD, aber auch von den Grünen erneut in die Diskussion gebrachten alten Ladenhüter der Planwertabschöpfung zu diskutieren. Planwertabschöpfung ist antiquiert und durch die vorhandenen modernen Möglichkeiten wie den städtebaulichen Vertrag weit überholt. Das Thema Wertabschöpfung gehört, ohne daß es angetastet worden ist, wieder in die Mottenkiste.
({8})
Im Gegensatz zu Ihnen von der Opposition will unsere Fraktion keine zusätzliche Bürokratie und keine weiteren Abgaben, die Bauherren und Bürger belasten. Der Bundesrat hat das übrigens erkannt und deshalb den Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen abgelehnt. Insofern bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, diese preistreibenden, unpraktikablen und ineffizienten Überlegungen wieder dort einzugraben, wo Sie sie ausgegraben haben. Eine Diskussion darüber verunsichert nur und führt zu Attentismus in den Städten und Gemeinden. Kooperation und Konsens mit Grundstückseigentümern sind viel besser als Konfrontation.
Durch die Übernahme der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelungen ins Baugesetzbuch schaffen wir ganzheitlichen Städtebau unter Beibehaltung berechtigter Ziele des Naturschutzes und sichern somit auch die Grundlagen für eine nachhaltige Siedlungspolitik. Dies entspricht den Beschlüssen der UN-
Weltsiedlungskonferenz Habitat II von Istanbul, auf
die Herr Minister Töpfer zu Recht am Anfang seiner Rede besonders eingegangen ist.
Auch dadurch, daß Eingriffe bereits auf der Ebene des Flächennutzungsplanes ausgeglichen werden können, wird der Naturschutz im gesamten Gemeindegebiet gestärkt. Die preistreibende Wirkung der jetzigen engen Ausgleichsregelung wird überwunden; flächen- und kostensparendes Bauen wird vereinfacht. Die rechtlich umstrittene Kunstfigur des zweigeteilten Bebauungsplanes wird so entbehrlich.
Wir haben doch heute das Problem, daß Unsicherheiten vieler Gemeinden bei der Handhabung der Eingriffsregelung nach § 8 a des Bundesnaturschutzgesetzes oft zu Lähmung und Zurückhaltung bei der Ausweisung von Bauland für den Wohnungsbau führten. Die Konsequenzen sind uns bekannt: teure Grundstücke, steigende Herstellungskosten und damit steigende Mieten. Insofern sind die geplanten Änderungen eine Kostensenkungsinitiative für Baulandpreise.
Unser Ziel muß es sein, ökologische und ökonomische Anforderungen miteinander zu verbinden. Der im Gesetz vorgesehene Abbau von Vorschriften, Vereinfachungen und Verfahrensbeschleunigungen ist zwingend notwendig, um auf ständig wachsende Anforderungen flexibel reagieren zu können. Wir brauchen in Deutschland zügige und überschaubare Planverfahren. Insofern ist dieses Gesetz auch ein
wichtiger Beitrag für mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätze in Deutschland.
({9})
Herr Kollege Götz, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?
Gern.
Herr Kollege Götz, Sie haben jetzt mehrfach zur offensiven und ausreichenden Baulandausweisung aufgerufen. Können Sie mir erklären, wie das mit dem ebenso von Ihnen genannten Ziel einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung wirklich vereinbar ist?
Meiner Meinung nach halten Sie hier eine Predigt für die weitere Zersiedelung unserer schon übermäßig zersiedelten Landschaft. Insofern möchte ich wissen, wie Sie diese beiden Ziele miteinander vereinbaren wollen.
({0})
Diese Frage beantworte ich Ihnen sehr gern, Frau Kollegin. Ich bin der Auffassung, daß wir eine offensive Baulandausweisung nicht auf der grünen Wiese vollziehen müssen. Ich habe nicht von der grünen Wiese gesprochen, sondern ich bin der Meinung, daß wir eine offensive Baulandausweisung sehr wohl auch innerstädtisch vollziehen können. Wir haben innerstädtisch ungeheure Brachen; wir haben Industriebrachen.
({0})
Ich kann Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen, wo eine Industriebrache allein dadurch lahmgelegt wird, daß die Stadt mit dem Thema § 8 a des Bundesnaturschutzgesetzes nicht zu Rande kommt. Seit Jahren wird eine vorhandene Gewerbebrache allein durch mit der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung zusammenhängenden Fragen in ihrer Weiterentwicklung blockiert. Deshalb ist mein Ansatz: Mehr Bauland heißt nicht mehr Bauland auf der grünen Wiese, sondern mehr Bauland in den Innenstädten: auf Brachen, Industriebrachen, Bahnbrachen, Konversionsbrachen. Es gibt genug Möglichkeiten; dem Phantasiereichtum der Städteplaner sind hier keine Grenzen gesetzt.
Herr Kollege Götz, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Braun?
Aber gern, Herr Kollege Braun.
({0})
- Das weiß man nie.
Herr Kollege Götz, wenn Sie wie offensichtlich wir alle ebenfalls innerstädtisch mehr baurechtliche Genehmigungen haben wollen, dann werden Sie sicherlich auch dem Konzept zustimmen, demzufolge wir um die Bahnhöfe von Massenverkehrsmitteln herum eine Verdichtung haben wollen. Bisher läßt sich diese nach § 34 des Baugesetzbuches wohl nicht erzielen, sondern wir brauchen jeweils einen Bebauungsplan mit dem gesamten Verfahren dafür.
Die Frage, Herr Kollege!
Ich darf Sie fragen: Sehen Sie Möglichkeiten, schon mit dem geltenden Recht ohne ein Bebauungsplanverfahren zu dieser baulichen Verdichtung in den genannten Bereichen zu kommen, oder würden Sie mir, falls Sie diese Möglichkeit nicht sehen, zustimmen, daß wir gegebenenfalls noch darüber nachdenken sollten, ob wir im Zuge der Novelle des Baugesetzbuches hierfür eine vereinfachte Form, wie wir an diesen Stellen zu mehr baurechtlichen Genehmigungen kommen können, finden sollten?
Vielen Dank. - Ich meine, nachdenken ist nie verkehrt.
({0})
Ich denke, daß die Möglichkeit der Anhörung sicherlich zusätzlich eine Reihe von Anregungen bringen wird. Ich persönlich bin der Überzeugung, daß wir heute schon eine ganze Reihe von Instrumenten haben, auch innerhalb bebauter Ortsteile, also gemäß § 34, zu Verdichtungen zu kommen.
Das eigentliche politische Ziel dieses Gesetzes ist es, Verfahren zu vereinfachen, damit wir Bebauungspläne auch vereinfacht realisieren können, damit wir keine Genehmigungen mehr für Bebauungspläne in der Innenstadt brauchen, wenn sie aus der Konzeption des Flächennutzungsplanes entwickelt sind. So gibt es eine Reihe von Instrumenten, die zur Beschleunigung beitragen, und auch eine Reihe von Instrumenten, die zur Verdichtung beitragen können.
Wir brauchen, wenn wir über nachhaltige Stadtentwicklungspolitik diskutieren, auch den Mut zu mehr Verdichtung in den Innenstädten und sollten alle Möglichkeiten dafür nutzen.
({1})
Meine Damen und Herren, die letzte Zwischenfrage war eigentlich am Ende meines Beitrages gestellt geworden.
Ich lade Sie alle sehr herzlich dazu ein, konstruktiv bei der Beratung über die Novelle des Bau- und Planungsrechtes, des Raumordnungsrechtes mitzuwirken. Es gibt sicherlich im Laufe der nächsten Wochen und Monate genug Diskussionsstoff.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich in meinem Beitrag auf den städtebaulichen Bericht zur nachhaltigen Stadtentwicklung beziehen.
„Nachhaltigkeit" wird je nach Standpunkt unterschiedlich interpretiert. Wahrscheinlich hat der Streit über die wahre Auslegung schon begonnen. Ich halte das Wort trotzdem für außerordentlich geeignet, weil außerhalb des akademischen Streites jeder instinktiv weiß, worum es geht. Wir sollten uns aber davor hüten, ihn zu einem werbeträchtigen Modebegriff zu machen und ihn damit zu entwerten. Diesen Weg ist leider der Begriff „umweltfreundlich" gegangen. Mittlerweile wird jedes Gift zumindest umweltfreundlich verpackt.
Uns liegt ein gelungener Bericht vor. Ich gebe hiermit meinen Dank an die Autoren weiter. Er ist fachlich fundiert, trotzdem angenehm verständlich und weist eine breite Palette konkreter Handlungsfelder auf.
({0})
Wer jetzt befürchtet, die Bundesregierung würde sich in ihrem Handeln von guten Berichten und logischen Argumenten leiten lassen, kann sich beruhigt wieder zurücklehnen.
({1})
Das ist nicht zu befürchten. Vielmehr werden wir in Kürze erleben, daß die Beerdigungsvorbereitungen für die Schlußfolgerungen dieses Berichtes in vollem Gange sind. Wir werden auch erleben, daß die Beerdigungen immer kärglicher und ärmlicher werden, dafür die Beerdigungsreden immer blumiger.
({2})
Am Ende wird man uns folgendes erzählen: Variante eins: Von „Beerdigung" kann keine Rede sein. Das Konzept für eine nachhaltige Stadtentwicklung lebt. Dies habe man ausschließlich dem Bundesbauminister zu verdanken. Es stehe aber natürlich um die Gesundheit nicht gut, weil der Bundesrat unter Rädelsführerschaft der A-Länder für die Behandlung kein Blut mehr spenden wolle.
Variante zwei: Das Konzept für die nachhaltige Stadtentwicklung lebt. Dies habe man ausschließlich dem Bundesbauminister zu verdanken. Man habe aber wegen des Bundesrates - siehe Variante eins - diverse Amputationen vornehmen müssen. Es sei aber doch immer noch besser, ein einzelnes Bein und einen einzelnen Arm am Leben zu halten, als gar nichts zu tun. Arm und Bein gehe es recht gut, sie würden besonders gut auf die Behandlung mit dem CO2-Minderungsprogramm und der Wärmeschutzverordnung ansprechen.
Dann werden wir noch etwas erleben: Das Konzept für eine nachhaltige Stadtentwicklung wird immer
lebendiger, vollständiger und gesünder, je größer der geographische Abstand zwischen Handeln und Reden ist - Rio und Istanbul lassen grüßen.
({3})
Sie haben natürlich recht: Die Patientin „nachhaltige Stadtentwicklung" ist nicht tot; die nachhaltige Stadtentwicklung lebt. Aber sie lebt nicht wegen der Politik der Bundesregierung, sondern trotz der Politik der Bundesregierung.
({4})
Die Qualitäts- und Entwicklungsziele einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Stadtentwicklung lassen sich in drei Leitgedanken zusammenfassen:
Erstens: Alle Handlungen, ökologische, ökonomische und soziale, sind so aufeinander abzustimmen, daß zukünftigen Generationen gute Lebensbedingungen offengehalten werden.
Zweitens. Wirtschaftliche, gesellschaftlich-soziale und ökologische Ziele folgen dem Leitgedanken der Ausgewogenheit, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern.
Drittens. Der Übergang von einer nicht nachhaltigen zu einer nachhaltigen Entwicklung darf sich nicht in Absichtserklärungen verlieren, sondern bedarf eines konkreten Zeithorizonts und klarer Handlungsprioritäten.
({5})
Dieser letzte Punkt ist für eine Umsetzung, die ohne Akzeptanz der Bevölkerung nicht erfolgreich sein wird, sicherlich der wichtigste. Man könnte fast geneigt sein, zu sagen: Diese Bundesregierung hat schon so viel gegen die Akzeptanz der Bevölkerung durchgesetzt; warum ist sie hier eigentlich so inkonsequent? Ich glaube, wir brauchen die Akzeptanz. Sie wird nur zu erreichen sein, wenn man die unausweichlichen Konflikte benennt und austrägt.
Dazu muß man sich endlich auch einmal in den Konflikt mit den Ressourcenverschwendern begeben. Das bezieht sich sowohl auf die stofflichen Ressourcenverschwender als auch auf die, die menschliche Ressourcen zerstören und menschliche Solidarität lächerlich machen.
({6})
Deshalb sollten die Bundesregierung und besonders der Bundesbauminister genau überlegen, ob ohne ökologische Steuerreform, ohne finanzielles Bekenntnis für den Vorrang umweltverträglicher Mobilität, ohne sozialen Wohnungsbau, ohne Erhöhung der Städtebaufördermittel und des Wohngeldes sowie vor allem ohne Konzept für den sozialen Frieden in den Städten eine nachhaltige Stadtentwicklung zu machen ist. Man schaut im Ausland genau auf uns. Der Bauminister hat Erwartungen erweckt, und wir
dürfen mit Recht erwarten, daß dem Parlament mehr als schöne Worte vorgesetzt wird.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hans-Wilhelm Pesch, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich ausschließlich mit der Raumordnung befassen,
({0})
die, was die Darstellung nach außen angeht, seit vielen Jahren ohnehin etwas zu kurz kommt.
Es ist zu begrüßen, daß im Raumordnungsgesetz die rahmensetzenden Kompetenzen des Bundes erweitert werden sollen. Die Durchführung raumordnerischer Maßnahmen fällt größtenteils in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Von daher hatte der Bund im Raumordnungsgesetz bisher nur einen sehr weitgefaßten Rahmen gesetzt. Die Erfahrungen mit dem Raumordnungsgesetz der letzten 30 Jahre haben jedoch gezeigt, daß der Bund nun endlich engere Rahmenkompetenzen setzen muß.
Weiter ist zu begrüßen, daß länderübergreifende Leitvorstellungen nunmehr bundesweit gefaßt werden sollen. Unbeschadet der Zuständigkeit der Länder kann der zuständige Bundesminister als Raumordnungsminister - natürlich in Zusammenarbeit mit den Ländern - Leitbilder der räumlichen Entwicklung rahmensetzend erarbeiten. Möglicherweise hilft dies auch langfristig bei Bemühungen um vergleichbare Definitionen von Ballungsräumen, zentralen Orten und ähnlichem. Ich sage das als NordrheinWestfale.
In § 2 des Raumordnungsgesetzes wird davon ausgegangen, daß in ganz Deutschland eine ausgewogene und dezentrale Siedlungsstruktur vorherrscht. Mehrere größere Bevölkerungsschwerpunkte und die Städte mit über 500 000 und über 100 000 Einwohnern seien gleichmäßig über das ganze Bundesgebiet verteilt. Ich möchte hier feststellen, daß allein in Nordrhein-Westfalen 42 Prozent der Städte mit über 500 000 Einwohnern und 36 Prozent der Städte mit über 100 000 Einwohnern liegen. Wir werden uns in den nächsten Monaten sicherlich noch darüber zu unterhalten haben, wie diese Verteilung in Zukunft zu berücksichtigen ist.
Hervorzuheben ist, daß die Region als räumliche Handlungsebene gestärkt werden soll. Der Versuch des Raumordnungsgesetzes, regelnd in das nach wie vor ungeklärte Verhältnis zwischen Regionalplanung als Landesaufgabe und regionaler Entwicklungsplanung auf kommunaler Ebene einzugreifen, ist positiv zu bewerten.
({1})
Allerdings bedarf es sicherlich einer größeren Vereinheitlichung der sich mittlerweile in zahlreichen Bundesländern unterschiedlich ausprägenden regionalen Entwicklungsplanung und deren Verhältnis zur Regionalplanung der Länder.
In diesem Sinne begrüße ich auch die Option einer gemeinsamen Flächennutzungsplanung als möglichen Ersatz für eine Regionalplanung. Ich stelle aber fest, daß auch an dieser Stelle offenbleibt, wie sich das Verhältnis zur regionalen Entwicklungsplanung darstellt, da sich eine erweiterte regionale Entwicklungsplanung durch ihre in der Regel stärkere Umsetzungsmöglichkeit besser eignen würde als eine Regionalplanung der Länder.
({2})
Das brächte eine deutliche Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung.
Auch Gebietsausweisungen übergeordneter Planungen, die im Einzelfall der kommunalen Planungshoheit konkurrierend gegenüberstehen, sind im Entwurf angesprochen. Auch hierbei ist Konsens auf kommunaler und regionaler Ebene notwendig.
({3})
Ich darf festhalten, daß im demnächst bundesweit gültigen neuen Raumordnungsgesetz die Sicherung des Freiraums betont wird. Statt mit ständiger Inanspruchnahme von Freiraum für Siedlungszwecke Bodenverschwendung zu betreiben, hat die Wiedernutzung brachgefallener Siedlungsflächen Vorrang vor ungezügeltem Verbrauch von Freiflächen.
({4})
Bei allen Fragen zur Stärkung der regionalen Ebene ist die Bedeutung der grenzüberschreitenden Regionen im heutigen Europa - und dabei nicht nur innerhalb der EU - zu beachten. Ich verweise hierzu auf unsere Beschlußempfehlung vom 4. November zum Dokument „Europa 2000 und europäische Zusammenarbeit bei der Raumentwicklung", in dem auf die notwendige Zusammenarbeit von Bund und Ländern mit den Nachbarstaaten ausdrücklich eingegangen wird.
Es ist Fakt, daß die Gemeinschaft durch ihre Politik Entwicklungen von Städten und Regionen immer mehr beeinflußt. Hier müssen die Mitgliedstaaten miteinander - die Betonung liegt auf „miteinander" -, ohne eigenstaatliche Verantwortlichkeiten zu verlagern oder zu schmälern, ein europäisches Raumordnungskonzept entwickeln.
({5})
Dafür bilden die Leitlinien in „Europa 2000" eine tragfähige Grundlage.
Förderprogramme sowie Strukturfonds der Gemeinschaft müssen auf ihre raumordnerische Tauglichkeit hin geprüft werden. Hier brauchen wir mehr Transparenz in der gesamten Fördergebietskulisse der EU.
Des weiteren gilt es, den Raumordnungsministern der Mitgliedstaaten den Rücken zu stärken, indem sie bei Entscheidungen über raumwirksame Politiken im Rat zumindest gehört werden. Dazu gehört auch die Gründung einer entsprechenden Ratsgruppe. Raumordnungspolitik in Europa muß ihren informellen Charakter endlich ablegen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kann eine europäische Raumordnungspolitik dazu beitragen, daß das Zusammenwachsen der EU durch die Wirtschafts- und Währungsunion beschleunigt und der soziale Zusammenhalt gefördert wird.
Gerade für die Bundesrepublik in ihrer besonderen geographischen Lage ist es von herausragender Bedeutung, auch mit den Nicht-EU-Mitgliedstaaten grenzüberschreitende Raumordnungspolitik voranzubringen. Mit unserem Nachbarland Polen scheint dies beispielhaft zu gelingen.
Ich verweise darauf, daß es in Grenznähe bereits zahlreiche interkommunale Planungsaktivitäten gibt. Hier möchte ich im Raumordnungsgesetz mehr die Möglichkeit sehen, das grenzüberschreitende Abstimmungs- und Beteiligungsverfahren zu vereinfachen. Insbesondere die Umsetzung der zwischenstaatlichen Raumordnung in praktisches Handeln ist nach wie vor von einer überhöhten Regelungsdichte und unklaren Kompetenzverteilung geprägt. Da müßte man sich allerdings stärker auf die Seite einer möglichen dezentralen Planung stellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Raumordnungsgesetz ist somit im Hinblick auf die europäische Raumordnungspolitik von sehr großer Bedeutung. Eine allein nationale Raumordnungspolitik ist heute nicht mehr möglich.
Ich wünsche dem weiteren Verfahren einen zügigen und vor allem erfolgreichen Verlauf.
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hans-Werner Bertl, SPD.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich auch auf die Berichte und insbesondere auf die Beschlußempfehlung zu „Europa 2000" beziehen. Es ist sicherlich ein Verdienst des Fachausschusses, daß die europäische Dimension der Raumordnung hier angesprochen wird.
In der Europäischen Union wird die Raumordnungspolitik in ihrer Bedeutung und in ihren Auswirkungen auf die zukünftige Gestaltung Europas zunehmend erkannt. Ich denke hier nur an schon begonnene Diskussionen um die Neugestaltung der europäischen Strukturfonds, die 1999 neu definiert werden müssen und für raumordnerische Zielbeschreibungen unabdingbare Voraussetzungen sind.
Festzuhalten ist aber: Es gibt zur Zeit trotz aller Erkenntnis und anerkannter Notwendigkeit überhaupt keine europäische Raumordnungspolitik. Kollisionen im System der Subsidiarität und bei uns die berechtigte Interessenlage der Bundesländer sind zwangsläufig. So darf es nicht wundem, wenn bei allem Wissen um die Notwendigkeit einer abgestimmten europäischen Raumordnungspolitik diese zur Zeit aus einer Bündelung der einzelnen Fachpolitiken besteht. Über die damit verbundenen Probleme einer an den notwendigen Zielen abzustimmenden Verfahrensweise brauche ich hier nicht zu sprechen. Der Aufwand ist wohl für jeden von uns ahnbar, der sich mit Städtebau oder Raumordnung beschäftigt.
Man muß noch eines sagen: Die Treffen der Raumordnungsminister haben informellen Charakter. Was das bedeutet, wissen Europakundige. Da gibt es keine verbindliche Tagesordnung, da gibt es keine Beschlußkompetenz, und der Gedankenaustausch hat in seiner formalen Konsequenz letztendlich die Qualität eines Klassentreffens.
Es wäre logisch - aber das ist jetzt ein Blick sehr weit in die Zukunft -, die Raumordnungspolitik innerhalb der Europäischen Union im Vertrag zu verankern, dem Raumordnungsausschuß mindestens den Status eines beratenden Ausschusses zu geben und so die Kompetenz und Position der Raumordnungsminister innerhalb der Europäischen Union zu stärken. Das ist eben schon gesagt worden.
({0})
Ich sage aber ganz deutlich: So weit sind wir nicht. Ich glaube aber, die vorliegende Beschlußempfehlung, die im Fachausschuß einstimmig beschlossen wurde, geht einen richtigen Schritt in Richtung einer verbindlicheren Zielformulierung europäischer Raumordnungspolitik.
Wir wollen die Position der Raumordnung - unter Beachtung der Subsidiarität - stärken. Fakt ist: In der raumordnerischen Zustandsbeschreibung und den daraus zu entwickelnden Zielbestimmungen dokumentieren sich die verschiedenen raumordnerischen Ziele und Vorstellungen der europäischen Mitgliedstaaten und bei uns noch die der Bundesländer bis hin zu regionalen Gebietskörperschaften. Das ist nicht falsch, klar wird aber: Hier muß besser koordiniert und abgestimmt werden.
Ein Europa, daß die Bürgerinnen und Bürger bejahen und akzeptieren, setzt klare Ziele und vor allem transparente Maßnahmen voraus. Ein Europa der Regionen setzt in der Festlegung raumordnerischer Politik ein Stück grenzüberschreitendes Denken - auch innerhalb unserer föderalen Strukturen -voraus.
Wie wir uns in der Systematik und in einer verbesserten Transparenz den nächsten Bericht „Europa 2000+" wünschen, haben wir im vorliegenden Antrag dargelegt, in dem wir ausführen, welche Bereiche für uns inhaltlich noch gestaltet werden müssen.
In der Festlegung raumordnerischer Ziele, die heute nicht Gegenstand unserer Beratungen sind, wird es in diesem Hause mit Sicherheit Kontroversen
geben. Ich glaube aber, daß in der grundsätzlichen Zielbeschreibung, nämlich einer ausgewogenen räumlichen Entwicklung, dem gleichen Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu den sich entwickelnden Netzen und der Bewahrung und Schaffung eines Freiraumsystems zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen innerhalb der Europäischen Union, hier im Hause Übereinstimmung herstellbar ist.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu den Berichten der Bundesregierung über die Ergebnisse der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumordnung, zu Europa 2000 + sowie zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumordnung entlang der deutsch-polnischen Grenze. Das ist die Drucksache 13/5947. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen worden.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zum Bericht zur Regionalisierung raumwirksamer Bundesmittel ab. Das ist die Drucksache 13/ 5948. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit dem Abstimmungsverhältnis wie vorher angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6392, 13/5490 und 13/6384 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zu einem sozialen und ökologischen Städtebau- und Raumordnungsrecht auf Drucksache 13/6384 soll zusätzlich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von § 152 des Bundessozialhilfegesetzes
- Drucksache 13/6089 - ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
- Drucksache 13/5426 - ({1})
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 13/6390 Berichterstattung: Abgeordneter Ulf Fink
Ich eröffne die Aussprache und teile dem Hause mit, daß folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben: für die CDU/CSU Ulf Fink, für das Bündnis 90/Die Grünen Andrea Fischer ({3}), für die F.D.P. Uwe Lühr, für die PDS Heidemarie Lüth, für die Bundesregierung Dr. Sabine Bergmann-Pohl. *) Die SPD verzichtet auf einen Redner.
Ich gehe davon aus, daß Sie damit einverstanden sind. - Ich schließe die Aussprache.
Die Kollegin Petra Bläss gibt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der PDS zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf Drucksache 13/5426. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/6390 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/5426 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, Drucksache 13/6089. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/6390 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei einer Enthaltung aus der Gruppe der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen, die Abstimmungsverhältnisse sind wie zuvor.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes
- Drucksache 13/5494 - ({4})
*) Anlage 4 im Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5})
- Drucksache 13/6407 Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Gilges
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/die Grünen vor.
Interfraktionell ist für die Aussprache eine halbe Stunde vereinbart. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute in zweiter und dritter Lesung das Zweite Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzes. Diese Änderungen sind notwendig, um die Jugendarbeitsschutzrichtlinie der EU in nationales Recht umzusetzen. Das ist keine Revolution, sondern es sind Anpassungen.
Wir haben Jugendarbeitsschutz schon seit 1976. Dieses Gesetz hat sich bei uns bewährt. Es erfüllt die EU-Mindestnormen bereits weitgehend. Das ist nicht verwunderlich; denn die Regelungen des deutschen Jugendarbeitsschutzes sind in weiten Teilen Grundlage der EU-Richtlinie gewesen.
Die vorgesehenen Änderungen sind erstens Verbesserungen, was grundsätzlich das Verbot der Kinderarbeit angeht.
({0})
- Es stimmt schon, Herr Rixe. Hören Sie zu! Vielleicht kriegen wir es heute noch hin.
Zweitens sind es Anpassungen der Regelungen an die Realität; wir können lebensnäher gestalten. Auch das ist eine Verbesserung.
Es ist drittens ein Stück weit auch eine Reform, indem wir nämlich die Erwachsenenausbildung stärker in die betriebliche Berufsausbildung eingliedern.
({1})
Zu den Verbesserungen nur stichwortartig: Das Alter für das grundsätzliche Verbot der Kinderarbeit wird vom 14. auf das 15. Lebensjahr heraufgesetzt. - Herr Rixe stimmt zu, toll.
Was an Kinderarbeit ausnahmsweise zulässig ist, wird auf zwei Stunden täglich und zehn Stunden wöchentlich begrenzt. Das ist ebenfalls eine Verbesserung. Auch da, Herr Rixe, können Sie zustimmen.
Eine Beschäftigung von Kindern ab dem 13. Lebensjahr wird nur für leichte und für Kinder geeignete Arbeiten zugelassen. Auch das ist eine Verbesserung. Wir haben während der Beratungen den Streit gehabt, wie wir das Ganze über Verordnungen regeln können. Wir haben uns dazu entschlossen, im Gesetzgebungsverfahren eine Regelung vorzunehmen, die der Bundesregierung eine Muß-Vorschrift
für die Verordnung auferlegt. Insofern ist das ein Stück weit Bewegung hin auf den Bundesrat, der sich ebenfalls mit dem Gesetz noch beschäftigen muß.
Was diesen Bereich angeht, ist es wichtig, festzuhalten, daß gegenwärtig, wenn man so etwas in einem Kinderschutzbericht beschreiben würde, bestimmte Dinge, die eigentlich gesellschaftlich akzeptiert sind, als illegal bezeichnet werden müssen.
Sie wissen, Zeitungsaustragen ist erlaubt, Zettel verteilen nicht. Sie wissen, bei der Ernte darf man helfen, bei Reinigungsarbeiten nicht. Beim Sport darf man helfen, bei Botengängen und beim Babysitten zur Zeit nicht. Das entspricht nicht der Realität, wie wir sie vorfinden. Hier wollen wir das ein bißchen anpassen. Ich glaube, daß wir mit der Verordnung dieses Problem in den Griff bekommen.
Was den Bußgeldrahmen angeht, so stellt auch das eine Verbesserung dar. Der Bußgeldrahmen wird für Verstöße gegen das Verbot der Kinderarbeit von 20 000 auf 30 000 DM angehoben.
Ich finde, daß diese Verbesserungen und die Anpassungen an die Realität notwendig sind. Wir müssen uns ja fragen, was wir mit diesem Gesetz bewirken wollen. Wenn wir in der Realität wollen, daß wirklich krasse Fälle sehr deutlich mit Bußgeld belegt werden, dann müssen wir auch eine glaubhafte Trennung vornehmen zwischen dem, was gesellschaftlich akzeptiert und vom Gesetz abgedeckt ist, und andererseits dem, wo wir sagen müssen, daß das unter das Verbot der Kinderarbeit fällt. Das muß dann notfalls auch mit Bußgeld belegt werden. Eine solche Trennung macht uns glaubwürdiger. Ich glaube, daß wir hier gemeinsam mit den Fraktionen auf einem richtigen Weg sind.
Ich will mich noch ein wenig dem Teil zuwenden, den ich als Reform bezeichnet habe, weil er strittig ist. Er war zwischendurch mal nicht mehr ganz so strittig - wir wollen das einmal festhalten -; wir waren unter den Sozialpolitikern in der Nähe eines wirklich tragbaren Kompromisses; wir hatten ihn eigentlich. Aber dann haben die Bildungspolitiker der SPD diesen Kompromiß zunächst einmal in der Fraktion der SPD gestoppt. Deshalb müssen wir heute strittig abstimmen.
Wir sollten aber versuchen, dem Bundesrat das so vorzulegen, das er zustimmen kann; denn auch die Länder müßten ein Interesse daran haben. Überall fehlen dort Ausbildungsplätze, weil man nicht bereit ist, an bestimmten Stellen Ausbildungsplatzhemmnisse wirklich wegzuräumen.
({2})
Sie werden doch sicherlich auch vor Ort, meine Damen und Herren von der SPD, in Gesprächen gerade mit Handwerkern die Erfahrung gemacht haben,
({3})
daß die Ihnen sagen: Ich würde ja gerne mehr ausbilden, aber ich sehe die eigentlich gar nicht mehr im Betrieb und sehe nicht ein, warum ich das mache.
({4})
Ich habe das, Herr Rixe, wirklich sehr häufig vor Ort gehört und finde das, was wir hier machen, völlig in Ordnung.
Damit klar ist, worüber wir reden, müssen wir deutlich sagen: Das sind Auszubildende, Berufsschulpflichtige, die über 18, das heißt volljährig sind. Wir reden über Volljährige, über Erwachsene. 72 Prozent derjenigen, die in der beruflichen Bildung sind, sind volljährig und damit erwachsen. Wir haben nach den gegenwärtigen Regelungen des Jugendarbeitsschutzes die Volljährigen unter den Schutz des Jugendarbeitsschutzgesetzes gestellt.
Da, finde ich, paßt einiges nicht zusammen, Herr Rixe. Wenn in Niedersachsen das Wahlalter bei den Kommunalwahlen auf 16 Jahre reduziert wird - das heißt, bei der Teilnahme an demokratischen Rechten werden Jugendliche wie Erwachsene behandelt ({5})
- da sagen Sie „richtig" -, dann frage ich mich doch, warum das in der beruflichen Bildung ganz anders ist. Da soll Erwachsenen, die in der Ausbildung sind, der Jugendlichenstatus über das 18. Jahr hinaus verlängert werden. Das ist doch nicht einzusehen. Einerseits Verkürzung, wenn es um demokratische Rechte geht, aber wenn man die Pflicht hat, in der beruflichen Ausbildung auch nach der Berufsschule in den Betrieb zu gehen, dann tun sie so, als seien die jugendlich. Das paßt doch hinten und vorne nicht zusammen.
Selbst in der beruflichen Bildung - Herr Rixe, das müssen Sie doch auch wissen - gibt es diesen Widerspruch: Vormittags in der Berufsschule können sich volljährige Auszubildende, also die Erwachsenen, entschuldigen, wenn sie krank sind; sie sind dann erwachsen. Sobald sie aber die Schule verlassen, sobald sie aus der Tür heraus sind, werden sie wie Jugendliche behandelt, weil man sagt, die dürfen dann aus Schutzgründen, weil sie Jugendliche sind, nicht mehr in den Betrieb. Das paßt alles nicht zusammen.
Das wollen wir regeln, meine Damen und Herren von der SPD. Dieses Ausbildungsplatzhemmnis, das hier in diesem Paragraphen enthalten ist, muß weg.
({6})
Wir müssen jedes Stück, das wir gesetzlich regeln können, wirklich nutzen, um hier Hilfestellung zu leisten. Ich glaube, das ist hier notwendig.
Wir haben - ich will das zum Schluß sagen - für den Bundesrat eine Brücke gebaut. Die Beschäftigung vor neun Uhr ist aus dem Gesetzgebungsverfahren herausgenommen worden. Das ist von uns so gewollt.
({7})
- Wenn gerade Sie im beruflichen Bereich dazugelernt hätten, dann hätten wir vielleicht eine Lösung
gefunden. Sie, Herr Rixe, haben die mit Ihren Kollegen aus dem Bildungsausschuß kaputtgemacht. Wir könnten das heute gemeinschaftlich regeln, wenn Sie sagen könnten, das geht in die richtige Richtung. - Das muß in Richtung Bundesrat gesagt werden.
Wir wollen die Rückkehr der erwachsenen Auszubildenden nach der Berufsschule in den Betrieb. Wir wollen damit die duale Ausbildung stärken.
Wir haben in Richtung Bundesrat auch gesagt: Laßt uns gemeinsam die Aufforderung an die Länder geben, ihren Beitrag zu leisten, damit die Schulzeiten besser organisiert werden und wir ein Miteinander in der dualen Ausbildung - Berufsschule und Ausbildung im Betrieb - hinbekommen.
Ich habe die Hoffnung, daß der Bundesrat auf Grund der Tatsache, daß wir jetzt auf ihn zugehen, ein wenig mehr die Möglichkeit hat, auch auf uns zuzugehen, damit wir dieses Problem gemeinsam lösen und realitätsnäher werden.
({8})
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Konrad Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin gefragt worden, ob ich meine Rede zu Protokoll geben könnte. Da ich sie nicht schriftlich fixiert hatte, ging das nicht so einfach. Aber ich bin eigentlich froh, daß diese Debatte hier stattfindet. Es würde mir heute abend etwas fehlen, wenn diese Debatte nicht wäre.
({0})
Ich will mit der Feststellung beginnen, daß wir weder in der zweiten noch in der dritten Lesung diesem Jugendarbeitsschutzgesetz zustimmen werden. Wir begründen das folgendermaßen.
Erstens. Es ist keine korrekte Umsetzung der EG- Richtlinie, Herr Meckelburg. Das stimmt schlicht und einfach nicht. Denn in der EG-Richtlinie steht: kein Unterschied zwischen der Tätigkeit von Kindern in der Landwirtschaft und in sonstigen Arbeitsbereichen.
Das wird aber in unserem Jugendschutzgesetz weiter aufrechterhalten. Das heißt, die Kinder unter 15 Jahren können in der Landwirtschaft 15 Stunden pro Woche arbeiten. Das ist positiv gegenüber der alten Regelung, die 21 Stunden vorsah. Es ist aber negativ, weil es fünf Stunden pro Woche mehr sind als bei Kindern, die in anderen Tätigkeiten arbeiten dürfen. Es ist also ein Drittel mehr. Ich glaube, das ist in keiner Weise gerechtfertigt.
({1})
Die zweite Begründung ist die Einführung der 6 in Ihrem Gesetzentwurf, die eigentlich mit der Umsetzung der Richtlinie überhaupt nichts zu tun hat. Sie findet auf Drängen des Wirtschaftsministers und des Bildungsministers statt, hat also nichts mit
Jugendarbeitssschutz zu tun. Diese Nummer sollte so, wie sie drinsteht, total gestrichen werden.
Wir haben dazu einen gemeinsamen Antrag mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestellt. Ich gehe davon aus, daß wir eine Mehrheit haben. Sollten wir sie nicht haben, werden wir in zweiter und dritter Lesung bei unserem Nein bleiben.
Es ist schon etwas komisch gewesen. Ich kann keinen Fortschritt darin sehen, daß man einen Erwachsenen, der in der Ausbildung ist, vor der Berufsschule wie nach der Berufsschule wieder an seinen Arbeitsplatz zurückholen will. Ich weiß nicht, welcher Sinn darin liegt.
Sie schaffen damit ungleiches Recht für Auszubildende, die in einem Betriebsteil sind. Der eine muß nachmittags, weil er über 18 Jahre ist, unter Umständen wieder zur Arbeitsstätte zurück, wenn der Arbeitgeber es will, während der andere das nicht muß.
Das führt dazu, daß unter Umständen mehr Auszubildende eingestellt werden, die über 18 Jahre sind. Das bedeutet, daß die Zahl der Auszubildenden, die unter 18 sind und sowieso schon objektiv Schwierigkeiten haben, noch geringer wird.
({2})
Diese Logik kann von uns nicht mitgetragen werden. Wegen dieses zweierlei Rechts lehnen wir das ab.
({3})
Zusätzlich kommt noch als Begründung: Unsere Bildungspolitiker haben angeführt, daß das Risiko besteht, daß mit der Nummer 6 im Entwurf des Jugendarbeitsschutzgesetzes, wie er jetzt vorliegt, der § 9 dann bis auf die Nummer 1 von Abs. 1 für Jugendliche über 18 Jahre, also für junge Erwachsene, keine Anwendung mehr findet.
Das könnte dazu führen - so sagen unsere Bildungspolitiker -, daß unter Umständen die Berufsschulzeit nicht mehr als Arbeitszeit angerechnet werden kann und es für die Berufsschulzeit kein Entgelt mehr geben könnte.
Ich will dazu folgendes feststellen: Das ist nicht meine Interpretation der gesetzlichen Wirklichkeit.
({4})
Für den jungen Erwachsenen, der in Ausbildung ist, gilt vielmehr - Kollege Rixe,
({5})
du bist Handwerksmeister, ich nur Geselle; du verstehst ja mehr davon als ich; deswegen bin ich ja nur Geselle und du Meister -:
({6})
Erstens. Für die Ausbildung gelten die Ausbildungsverordnungen der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern. In diesen Ausbildungsverordnungen, die du, Günter, als Handwerksmeister mit beschlossen hast, steht auch etwas über
Arbeitszeitregelungen, über das duale System - die Berufsschule und den Betrieb - und über die Entgeltzahlung, wie du weißt. Die gilt also auch für den jun-. gen Erwachsenen, wenn er in Ausbildung ist.
({7})
Zweitens steht in § 7 des Berufsbildungsgesetzes - ich gebe das jetzt einmal zu Protokoll, damit die Konservativen das nachher nicht so interpretieren wie unsere Bildungspolitiker -,
({8})
daß der Arbeitgeber den Auszubildenden für die Berufsschulzeit im arbeitsrechtlichen Sinne freizustellen hat. Darüber gibt es höchstrichterliche Entscheidungen. Freistellung von der Arbeitszeit bedeutet trotzdem Arbeitszeit. Das heißt, in der Berufsschule verbrachte Zeiten sind und bleiben Arbeitszeit.
({9})
Drittens will ich noch einmal deutlich machen, daß bei alledem auch für den Erwachsenen in Ausbildung der Tarifvertrag gilt, der Arbeits- und Betriebszeiten, Entgeltforderungen usw. regelt. Der Tarifvertrag geht, weil er immer die besten Lösungen hat, über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus. Die gesetzlichen Bestimmungen stehen hinter dem Tarifvertrag.
Diese Auseinandersetzung haben wir ja jetzt bei der Lohnfortzahlung. Hier sind wir der Meinung, daß das Gesetz keine Bedeutung hat, wenn der Tarifvertrag noch gilt. Also steht der Tarifvertrag über den gesetzlichen Bestimmungen. Auch hier sind also alle Fragen geklärt.
Damit darüber bei den Konservativen kein Mißverständnis besteht, kläre ich Sie hiermit auf, daß das so, wie das befürchtet wird, nicht eintreten kann.
({10})
Es bleibt für den jungen Erwachsenen die Frage der Wegezeit von der Berufsschule zum Arbeitsplatz strittig. Ist das Arbeitszeit oder nicht? Ich würde das nach wie vor so interpretieren, daß diese Wegezeit, wenn sie unmittelbar angeordnet wird, sogar Arbeitszeit ist. Ich gebe aber zu, daß das strittig ist. Unter Umständen werden wir das durch höchstrichterliche Entscheidung klären lassen. Damit werden sich dann die Arbeitsgerichte beschäftigen müssen.
Ich will als letztes etwas zum Bereich der Kinderarbeit sagen. Herr Meckelburg, es gibt im Bereich des Verbots von Kinderarbeit die grundlegende Veränderung, daß wir bis jetzt drei Ausnahmebestimmungen im Gesetz fixiert haben.
({11})
- Herr Meckelburg, die fallen jetzt weg.
Es kann positiv sein, wenn sich das Gesetz in Zukunft an die Lebenswirklichkeit unserer Gesellschaft anpaßt, das heißt, wenn die Verordnung so gestaltet wird, daß sie auch die Lebenswirklichkeit einfängt.
Schlimm wäre es, wenn es über solch eine Verordnung zu zusätzlicher Kinderarbeit kommen würde, das heißt, wenn der jetzt sehr eingegrenzte Bereich dazu führen würde, daß über solch einen Verordnungsweg diese Begrenzung auf viele Hunderte oder Tausende Kinder ausgedehnt würde. Das heißt, daß dann noch mehr Kinder arbeiteten, als es schon jetzt der Fall ist. Wenn dies über eine solche Verordnung möglich wäre, wäre dies eine schlimme Entwicklung.
Herr Meckelburg, es ist auch genau zu definieren, was eigentlich „leicht" und was „geeignet" heißt. Es kann ohne weiteres sein, daß das, was leicht ist, noch lange nicht für Kinder geeignet ist. Das heißt, man muß genau hinschauen.
Ich gehe davon aus, daß die Länder, insbesondere die SPD-regierten Länder, angesichts ihrer Verantwortung in der Lage sind, allen Möglichkeiten, die die Bundesregierung wahrnehmen könnte, um der Kinderarbeit freien Raum zu geben, einen Riegel vorzuschieben. Deswegen haben wir gefordert, daß eine Rechtsverordnung aufgestellt werden muß. Im Gesetzentwurf heißt es: Es hat eine Rechtsverordnung zu geben. Ich gehe davon aus - ich sage das auch für das Protokoll -: Bevor diese Rechtsverordnung nicht in Kraft tritt, gilt das bestehende Gesetz. Das heißt, es gibt bis zum Inkrafttreten der Rechtsverordnung keinen rechtsfreien Raum für Kinderarbeit in unserer Republik. Das möchte ich hier deutlich sagen.
Ich komme zum letzten Punkt. Der Gesetzentwurf gefällt uns in der vorliegenden Form nicht, aber wir können das Gesetz leider nicht verhindern. Wir beurteilen die Tatsache positiv, daß das Alter für die Kinderarbeit von 14 auf 15 Jahre angehoben wird. Das ist ohne Zweifel ein positiver Schritt. Ich persönlich wäre glücklich, in einer Gesellschaft leben zu können, in der es überhaupt keine Kinderarbeit gibt und in der sie generell verboten ist.
({12})
Dies entspricht leider nicht der Wirklichkeit in unserer Gesellschaft.
Wir sollten alles dafür tun, daß Kinderarbeit in unserer Gesellschaft auf ein Minimum beschränkt wird. Nach meiner Meinung bewirkt Kinderarbeit nämlich immer gesundheitliche und in vielen Fällen auch geistige Schäden.
({13})
Ich gebe der Abgeordneten Annelie Buntenbach das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesen Änderungen zum Jugendarbeitsschutzgesetz soll die EU-Richtlinie zum Verbot von Kinderarbeit in nationales Recht umgesetzt werden. Dieses Anliegen begrüßen wir als Bündnis 90/Die Grünen im Grundsatz natürlich ebenso wie die anderen Mitglieder dieses Hauses.
Annelle Buntenbach
An zwei Punkten haben wir Einwände gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgebracht. In beiden Fragen haben sich die Ausschußberatungen in eine vernünftige Richtung bewegt, aber leider nicht genug.
({0})
Erster Punkt: Die Ausnahmeregelung für Kinder ab 13 Jahren. Ich persönlich sehe nach wie vor keinen Grund, warum Kinder schon in diesem Alter reguläre Erwerbsarbeitsverhältnisse haben sollten.
({1})
Diese billige Kinderarbeit wird - das wurde in der Anhörung noch einmal deutlich - von ganzen Branchen wie Zeitungsverlagen - oder präziser gesagt: deren Vertriebssystem - fest einkalkuliert.
Wenn der Gesetzgeber solche Ausnahmen unterhalb der normalen Altersgrenze von 15 Jahren überhaupt zuläßt, dann muß zumindest eindeutig definiert sein, welche Arbeit ab 13 Jahren schon zulässig ist. Ein wirkliches positives Ergebnis der Ausschußberatungen ist, daß es auf jeden Fall eine Verordnung geben wird, die bundeseinheitlich regelt, welche Arbeiten leicht und für Kinder geeignet sind.
Unser zweiter gravierender Einwand konnte leider im Verlauf der Beratungen nicht ausgeräumt werden. Er bezieht sich auf die Beeinträchtigung der Ausbildungsqualität durch die unsinnige Zusatzbelastung von Auszubildenden, wie sie die Streichung des § 9 Abs. 4 mit sich bringt. Danach sollten 18jährige künftig verpflichtet werden, vor und nach dem Berufsschulunterricht noch an demselben Tag im Betrieb zu arbeiten; vor der Schule: das ist im Ausschuß glücklicherweise fallengelassen worden; nach der Schule: daran hat die Regierungskoalition leider festgehalten. Das ist zum Beispiel für die Auszubildenden im Handel, die nach der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten inzwischen flexibel bis abends 20 Uhr zur Verfügung stehen müssen,
,({2})
eine echte Zumutung.
({3})
- Für die HBV-Jugendvertretung ist das kein blödes Argument. Ich glaube, daß sie im Interesse der Auszubildenden durchaus richtig liegt.
({4})
Inzwischen sind fast zwei Drittel aller Auszubildenden 18 Jahre und älter, erst recht natürlich in dem Jahr vor dem Abschluß. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, nehmen in Kauf, daß die Auszubildenden kurz vor und kurz nach ihrem 18. Geburtstag unterschiedlich behandelt werden.
({5})
- Wissen Sie: Wenn Sie sich klarmachen, daß in der letzten Klasse, gerade vor den Prüfungen, viele Jugendliche das 18. Lebensjahr überschritten haben, dann müssen Sie zugeben, daß dies eine Ungleichbehandlung ist, die überhaupt nicht zu rechtfertigen ist. Die einen - die übermüdet sind - haben weniger und die anderen haben mehr Zeit, ihre Prüfung vorzubereiten.
({6})
Wenn Sie den Blockunterricht betrachten, ist völlig klar - so argumentiert schon der Bundesrat völlig zu Recht -, daß die 18jährigen weniger Chancen haben und gegenüber ihren Mitschülern und Mitschülerinnen unter 18 Jahren benachteiligt sind. Es kann doch aber nicht angehen, übermüdete Auszubildende in den Klassen sitzen zu haben.
({7})
Sie unterstellen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, daß mehr Ausbildungsplätze entstehen würden, wenn die Auszubildenden öfter als bisher als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen müssen.
({8})
- Bei der Anhörung konnte niemand diese vage Hoffnung, die weniger in Fakten als in Ideologie gründet, auch nur beziffern. Frau Babel, das haben Sie doch selbst gehört.
Schon jetzt findet Ausbildung zu 40 Prozent im Handwerk statt. Ich glaube, daß wir diese Betriebe, die ihre Verantwortung in der Ausbildung ernst nehmen, in der Tat entlasten sollten, und zwar mit einer solidarischen Ausbildungsplatzumlage, die diejenigen Betriebe in die Pflicht nimmt, die sich der Ausbildungsaufgabe entziehen.
({9})
Damit ist mehr erreicht als mit übermüdeten Auszubildenden.
({10})
Annelle Buntenbach
Langfristig - das wissen wir doch alle - ist die Qualität der Ausbildung entscheidend. Und die ist mit Sicherheit besser, wenn Sie unserem Änderungsantrag zustimmen.
({11})
Jetzt gebe ich der Abgeordneten Dr. Gisela Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das neue Jugendarbeitsschutzgesetz ist eigentlich nur eine biedere und einfache Anpassung an die EG-Richtlinie.
({0})
Ich hatte es in erster Lesung für ein vergleichbar konfliktarmes Gesetz gehalten und war verwundert über die lebhafte und kontroverse Debatte. Wir haben uns in manchen Punkten in unserer Argumentation wirklich in gewisse Höhen geschwungen, Herr Gilges. Jetzt sprechen wir darüber in zweiter und dritter Lesung.
Das Gesetz ist ja in Anhörungen und in Vorgesprächen und in Verhandlungen - auch mit der SPD - hin- und hergewendet und an einigen Punkten verändert worden. Nur, kontrovers ist es geblieben. In letzter Minute sprang die SPD vom gefundenen Kompromiß wieder ab. Das sollen die Bildungspolitiker der SPD gewesen sein, die sich übergangen gefühlt und zur Ablehnung gedrängt haben. Es ist nun die Aufgabe dieser Debatte, die Konfliktlinien einmal nachzuzeichnen.
({1})
Ich finde, Herr Gilges, Sie hatten eine schwere Aufgabe, die Sie gut gelöst haben. Sie haben ja versucht, diese aufgebrochenen Konflikte ein bißchen zu übertünchen. Das muß man zu so später Stunde anerkennen.
({2})
Im Gesetz steht, daß künftig erwachsene Lehrlinge - das sind die, die über 18 sind - mehr im Betrieb sein sollen. Sie müssen, wenn der Berufsschulunterricht beendet ist, also zum Beispiel am Nachmittag, noch einmal in dem Betrieb erscheinen, also ihre praktische Ausbildung fortsetzen.
({3})
Ich verstehe es überhaupt nicht: Wir sind doch stolz auf eine duale Ausbildung. Das bedeutet eigentlich, daß das Arbeiten in einem Betrieb, der praktische Teil, der Erfahrungsteil, um den uns in der Welt eigentlich alle beneiden, auch Ausbildung ist.
({4})
Wenn ich sage, ihr kommt wieder in den Betrieb, so heißt das: Ihr setzt eure Ausbildung fort. Wer jetzt behauptet, das sei eine Überforderung der Jugend, der tritt offensichtlich für eine verminderte Ausbildung von Jugendlichen ein.
Ich will die anderen Punkte auch noch nennen,
Einen Moment bitte, Frau Kollegin.
- aber jedenfalls aus bildungspolitischer Sicht ist es überhaupt nicht zu rechtfertigen. - Herr Präsident?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rixe?
Nein, ich lasse sie nicht zu; denn ich sage: Wir wollten eine Kurzrunde machen. - Nun gut, Sie kommen dann nachher sowieso mit der Intervention.
({0})
Meine Damen und Herren, die Anhörung hat ergeben, daß es Bedenken gibt.
({1})
Herr Kollege Rixe, bitte!
Diesen Anwurf habe ich auch gehört, und jetzt können wir vielleicht fortfahren.
In der Innungsversammlung werden Sie wahrscheinlich auch nicht so dazwischenrufen.
({0})
In der Anhörung hat es also Bedenken dagegen gegeben, daß die Lehrlinge vor Beginn der Berufsschule schon im Betrieb arbeiten müssen. Es ist darauf hingewiesen worden - jetzt kommen wir wieder mit der Ermüdung -, daß sie, wenn sie im Handwerksbetrieb und gerade in der Bäckerei schon um 4 Uhr erscheinen müssen, tatsächlich müde sind, wenn sie in der Berufsschule sind.
Ich habe von diesen Argumenten, ehrlich gesagt, auch nicht so schrecklich viel gehalten. Ein Bäcker hat einen anderen Lebensrhythmus. Das muß man auch einmal anerkennen. Aber da mir gesagt worden ist, die SPD sei unter der Bedingung bereit, mitzumachen, daß die betriebliche Ausbildung vor Beginn der Berufsschule ausgeschlossen wird, habe ich meine Bedenken fallengelassen und gesagt: Gut, dann wollen wir auf diesen Wunsch auch eingehen. - Es ist immer falsch, auf Wünsche der SPD einzugehen, wie ich merke. Nachher waren Sie gar nicht mehr bei der Stange.
Der Sinn der Vorschrift ist, daß die Ausbildung gestärkt wird. Aber Sinn ist es auch, daß wir Wünschen gerade aus den Handwerksbetrieben nachkommen, daß der Lehrling für den Betrieb mehr da ist. Es wird uns der Satz gesagt - Sie können ihn nicht widerlegen -: Der Lehrling ist heute der teuerste Arbeitnehmer.
({0})
Das Verhältnis zwischen Entgelt und Leistung stimmt nicht.
({1})
Deswegen ist es richtig, wenn wir die gesetzlichen Regelungen verändern und wenn wir von seiten der Politik die Rahmenbedingungen verbessern.
({2})
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß Ihnen nur eine Ausbildungsabgabe am Herzen liegt. Darüber haben wir ja in der Haushaltsdebatte ausgiebig geredet.
({3})
- Die Ausbildung liegt Ihnen gerade nicht am Herzen,
({4})
jedenfalls nicht bei den Effekten Ihrer Vorstellungen. Denn das, was Sie erreichen mit Ihrer behütenden Politik der ermüdeten Lehrlinge,
({5})
die aber alle mit 16 Jahren Sie wählen sollen, weil sie so müde sind,
({6})
wird nicht dazu führen, daß wir diese elende Debatte und diese jährlichen Werbeaktionen für Ausbildungsplätze erfolgreich bestreiten. Denn die Betriebe sind es leid, daß sie auf der einen Seite immer
verschärfte Bedingungen vorfinden und sich auf der anderen Seite den Wünschen der Politik beugen sollen, mehr auszubilden, als sie eigentlich für richtig halten.
({7})
Ich halte diese Neuregelung für gerecht. Ich halte nichts davon, zu sagen, daß wir erwachsene Auszubildende schlechter behandeln. Ich finde im Gegenteil eine Ungleichbehandlung von Erwachsenen vor, die als normale Mitarbeiter im Betrieb sind. Die verstehen doch die Welt nicht mehr, warum wir unsere Schutzgesetze auf die Erwachsenen, die in der Ausbildung sind, ausdehnen.
Wenn Sie das weiterdenken, was Sie hier im Kopf haben, nämlich die betrieblichen und tariflichen Arbeitszeiten als Grundmuster für die Ausbildung abzuschaffen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Gute Nacht, Deutschland.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Die F.D.P. stimmt dem Gesetz im übrigen zu.
({9})
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Gilges, wenn ich es ganz ehrlich sagen darf: Mir hätte heute abend nichts gefehlt, wenn diese Debatte nicht stattgefunden hätte.
({0})
- Das ist wahr. Manche hier haben ja wirklich besonders abartige Gelüste.
({1})
Die Anpassung des Jugendarbeitsschutzgesetzes an die entsprechende EU-Richtlinie ist im vorliegenden Gesetzentwurf nur sehr bedingt gelungen. Mehrere Sachverständige haben bereits in der Anhörung darauf hingewiesen, daß die Anpassung an bestehende EU-Vorgaben nicht dazu führen darf, daß für Jugendliche günstigere Vorschriften in den Mitgliedstaaten nach unten nivelliert werden. Ihr Gesetzentwurf tut aber genau das. Die Regelungen im Jugendarbeitsschutzgesetz werden nach unten nivelliert. Darauf hat Sie vor allen Dingen der Bundesjugendring schon in der Anhörung hingewiesen.
Unsere Kritik richtet sich vor allen Dingen auf zwei Punkte, die hier schon erwähnt worden sind und Gegenstand der Debatte waren.
Zum ersten will Ihr Gesetzentwurf die Regelung beseitigen, nach der eine Beschäftigung mit leichten, für Kinder geeigneten Arbeiten nur in der Landwirtschaft, beim Zeitungsaustragen und bei Handreichungen im Sport zugelassen ist. Das waren bisher Ausnahmeregelungen für Kinder ab 13 Jahren. Jetzt wollen Sie diese Ausnahmeregelungen sozusagen verallgemeinern. Künftig soll generell die Möglichkeit zur Beschäftigung von Kindern ab 13 Jahren bestehen - regelmäßig und zwei bis drei Stunden pro Tag. Die IG Medien nannte das die Legalisierung der Kinderarbeit.
Kinder müssen aber vor Ausbeutung, Gefährdungen aller Art und vor allen Dingen vor Gesundheitsschäden so umfassend wie möglich geschützt werden.
({2})
Die sogenannten „leichten und für Kinder geeigneten" Tätigkeiten führen - auch das war Gegenstand der Anhörung - zu weitverbreiteten gesundheitlichen Belastungen von Kindern. Wenn es in Zukunft leichter wird, Kinder unter 14 Jahren zu beschäftigen, dann sinkt damit die Hemmschwelle zur Kinderarbeit. Das können wir doch alle nicht wollen.
Der zweite Punkt, den wir in diesem Zusammenhang kritisieren, ist die Absicht, die Schutzbestienmung für berufsschulpflichtige Jugendliche über 18 Jahren aufzuheben - nach Einschätzung des DGB die gravierendste Verschlechterung dieses Gesetzentwurfes. Dieser Einschätzung kann ich nur zustimmen. Denn über 18jährige müssen künftig an allen Berufsschulnachmittagen im Betrieb erscheinen und auch zu Zeiten des Blockunterrichts noch arbeiten.
({3})
- Ich finde, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. An Ihren Zwischenrufen merkt man natürlich, daß Sie nicht in der Lage sind, die Dinge auseinanderzuhalten. Das würde ich Ihnen aber sehr empfehlen.
Die über 18jährigen kommen damit an die Grenze bisher üblicher Arbeitszeiten. Ich finde, daß ihnen das einfach nicht zumutbar ist.
({4})
- Ich komme nicht aus der DDR, aber Sie können mir das sicherlich erklären. - Ich habe das duale System in der Bundesrepublik erlebt
({5})
und weiß, was es heißt, wenn diese Änderung hier vorgenommen wird.
({6})
- Das ist sicherlich Ihre hochbegründete Meinung, Herr Grund; sie ist immer so qualifiziert, wie sie jetzt wieder zum Vorschein kommt.
({7})
Wir finden, daß es einige sinnvolle Veränderungen in diesem Gesetzentwurf gibt. Wir finden sie nicht ausreichend. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen und den Änderungsanträgen zustimmen.
({8})
- Das beeindruckt mich überhaupt nicht. Danke schön.
({9})
Ich gebe der Parlamentarischen Staatssekretärin Cornelia Yzer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgt man die Beiträge der Opposition in der heutigen Debatte, dann könnte man fast den Eindruck haben, bei der Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes gehe es um eine Verschlechterung der Ausbildung.
({0})
Das Gegenteil ist der Fall. Wir diskutieren über ein Mehr an Ausbildung im Rahmen der dualen Berufsausbildung.
({1})
Denn beides, die Ausbildung im Betrieb und in der Berufsschule, ist Ausbildungszeit. Auch wenn mancher im Saal das in Abrede stellen will: Die Ausbildung der Lehrlinge
({2})
im Betrieb ist eben gerade nicht geringwertiger als die Ausbildung in der Berufsschule.
({3})
Wir müssen endlich von der Schieflage wegkommen, daß der Auszubildende immer weniger Lehrzeit im Betrieb verbringt. Denn Kern- und Erfolgsrezept der dualen Berufsausbildung ist nun einmal die praktische Ausbildung im Betrieb, und sie muß auch in ausreichendem Umfang stattfinden.
({4})
Wieso sehen sich eigentlich viele Betriebe außerstande, die Inhalte der Ausbildungsordnungen mit der erforderlichen Qualität im Betrieb zu vermitteln? Das liegt auch an den immer enger gewordenen Zeiträumen.
Es muß auch zu denken geben, wenn der DIHT uns in dieser Woche auf Kammerumfragen aufmerksam macht, in denen Betriebe die Reduzierung der betrieblichen Ausbildungszeit als wesentlichen Grund für mangelnde Ausbildungsbereitschaft nennen.
({5})
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gilges?
Aber gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Kollegin, es gehört für mich als Vorsitzenden eines Gewerkschaftsverbandes zu meinen Dienstobliegenheiten, mich mit Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern, Innungen usw. zu beschäftigen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß sich die ausbildenden Betriebe generell nicht über die betriebliche Ausbildung beschweren, sondern daß ihre Beschwerde in Richtung der Berufsschulen geht?
({0})
Die Betriebe sagen generell: Wir haben nicht genug Qualität an den Berufsschulen.
({1})
Herr Kollege Gilges, stellen Sie bitte Ihre Frage.
Wenn die Bundesregierung wirklich etwas ändern will, dann sollten Sie einmal Druck machen. Wo machen Sie diesen Druck auf die Landesministerien, die für die Berufsschulen und deren Qualität zuständig sind?
({0})
Herr Kollege Gilges, würden Sie uns das Vergnügen machen, nun Ihre Frage zu stellen?
({0})
Herr Präsident, ich habe das zweimal versucht.
Ich habe gesagt, daß ich von der Bundesregierung hören möchte - und die Kollegin dort vorn vertritt ja die Bundesregierung -,
Bitte stellen Sie Ihre Frage!
- welches Engagement die Bundesregierung an den Tag gelegt hat, welche Möglichkeiten sie wahrgenommen hat, die Landeskultusminister, die Landesregierungen zu zwingen, zu bitten oder weiß der Himmel was, damit sie diesen Teil des dualen Systems, nämlich die Berufsschule, verbessern und auf die Qualität bringen, die die Betriebe erwarten und verlangen.
({0})
Herr Präsident, mit Ihrem Einverständnis setzen wir dahinter ein Fragezeichen. Dann ist es eine Frage. Ich beantworte dies nämlich sehr gern.
Das Bundesbildungsministerium hat gerade in den letzten Wochen die Länder massiv aufgefordert, den Berufsschulunterricht zu verbessern und die Organisation des Berufsschulunterrichts so zu verändern, daß mehr Ausbildungszeit in den Betrieben zur Verfügung steht. Wir haben deutlich gemacht, daß durch eine Neuorganisation der Berufsschule, des Angebots in den Berufsschulen der einzelne Auszubildende bis zu 30 Tage mehr pro Jahr im Betrieb verbringen kann.
Es gibt inzwischen einige Länder, die hier Reformen vorgenommen haben. Wir meinen aber, daß diese noch nicht ausreichen.
({0})
Deshalb haben wir diese Forderung mit wachsender Massivität geltend gemacht - übrigens zum Unmut vieler SPD-Politiker, die sehr schnell gesagt haben, der Bund sei gar nicht dafür zuständig, an die Länder zu appellieren;
({1})
das sei Ländersache; der Bund solle sich aus diesen Fragen heraushalten. - Wir haben das in den letzten Wochen nicht getan und werden das auch in Zukunft nicht tun.
({2})
Da ich Ihre Frage, die sehr umfassend war, gerne weiter beantworten möchte, Herr Kollege, will ich - ({3})
Ja, ich bitte darum.
({0})
Aber, Herr Präsident, das gehört noch zur Beantwortung der Frage.
Herr Kollege, Sie sagten, Sie haben als Gewerkschaftsvertreter von Amts wegen viel Kontakt zu Kammern und Innungen. Das Vergnügen habe auch ich, allerdings aus einem anderen Amt heraus. Da wird mir in der Tat immer wieder gesagt, der Berufsschulunterricht sei dringend verbesserungsbedürftig; hier sind die Länder in der Pflicht. Vor allen Dingen aber - ich wiederhole dies - sehen es die Betriebe nicht mehr ein, daß die praktische Ausbildung auf der Strecke bleibt, weil der Auszubildende zu selten im Betrieb ist und zuviel Zeit in der Berufsschule verbringt
({0})
oder durch Freistellungsregelungen von der Arbeit im Betrieb befreit ist. - Deshalb wollen wir das ändern. Wir müssen es auch ändern, gerade mit Blick auf die Lehrstellensituation.
Hinsichtlich der Lehrstellensituation ist festzustellen: Wir haben in diesem Jahr einen großen gemeinsamen Erfolg von Wirtschaft und Politik gehabt, indem wir erneut bundesweit rechnerisch einen Ausgleich am Lehrstellenmarkt erreicht haben. Der genaue Überblick wird uns in wenigen Tagen vorliegen, wenn in den Kammern die registrierten neuen Ausbildungsverträge gezählt sind.
Dieses Ergebnis ist erfreulich, kann uns aber nicht zufriedenstellen; denn das Ausbildungsplatzangebot ist regional nicht ausgewogen. Grundsätzlich gilt: Je kleiner das Angebot, um so geringer die Auswahlmöglichkeiten für die Jugendlichen. Zudem müssen wir für 1997 und die Jahre danach unsere Anstrengungen für ein ausreichendes betriebliches Lehrstellenangebot weiter verstärken; denn die Nachfrage nach Lehrstellen wird in den nächsten Jahren kontinuierlich in jährlichen Raten von 1 bis 2 Prozent anziehen und Mitte des nächsten Jahrzehnts mit über 700 000 Nachfragern ihren Höhepunkt erreichen.
Daraus resultiert für mich die politische Pflicht, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß sie das betriebliche Ausbildungsplatzangebot wachsen lassen. Das Nachfrageproblem ist nämlich lösbar. Ich erinnere daran, daß Mitte der 80er Jahre die Wirtschaft allein in den alten Ländern bei einer geringeren Beschäftigtenzahl über 720 000 neue Lehrstellen angeboten und besetzt hat. Es muß inzwischen einiges im argen liegen, wenn diese Motivation nicht mehr da ist. Deshalb müssen wir die Motivation für Ausbildung stärken. Die Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, die jetzt vorliegt, ist Teil eines Maßnahmenpaketes zur Steigerung der Ausbildungsbereitschaft in den Betrieben.
({1})
Zum anderen leuchtet die hier geltende Rechtslage aber auch deshalb nicht ein, weil hier erwachsene Auszubildende wie Minderjährige behandelt werden. Das ist nicht einzusehen; denn Erwachsene sollten auch wie Erwachsene behandelt werden, und sie werden durch § 7 des Berufsbildungsgesetzes auch hinreichend geschützt.
({2})
Überhaupt nicht verstehen kann ich das allgemeine Wehgeschrei der SPD, das alles sei unzumutbar. Wieso eigentlich unzumutbar? Fast alle Landesschulgesetze sehen einen Berufsschulunterricht von mindestens 12 Wochenstunden vor. Die KMK hat einen entsprechenden Beschluß gefaßt. Wird der Berufsschulunterricht von 12 Wochenstunden an zwei Tagen mit je sechs Unterrichtsstunden erteilt, dann ist es auch heute schon möglich, den Auszubildenden einmal pro Woche an einem Tag nach dem Berufsschulunterricht zu beschäftigen. Wieso kann man diese Beschäftigungsmöglichkeit für erwachsene Auszubildende nicht auf beide Berufsschultage ausdehnen? Warum ist die Beschäftigung an einem Tag hinnehmbar, am anderen aber unzumutbar?
Experten differenzieren so nicht, und es ist ja mehr als ein Gerücht, daß sich die Experten der SPD im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zunächst auch konstruktiv und pragmatisch bewegt haben und dem Vorschlag der Koalition zustimmen wollten, aber dann wurden sie von der Fraktion der SPD zurückgepfiffen. Ich finde es schon bedauerlich, daß hier letztendlich eine Verweigerungshaltung, die in der SPD-Fraktion üblich ist, zu Lasten von Jugendlichen umgesetzt wird.
({3})
Sie brauchen keine Jugendparteitage zu veranstalten, wenn Sie bei der ersten Gelegenheit im Plenum parteipolitisches Taktieren vor Zukunftschancen von Jugendlichen stellen.
({4})
Zukunftschancen für Jugendliche heißt, Ausbildungsplätze zu schaffen. Dafür setzen wir hier auch durch diese Änderung des Gesetzes den Rahmen.
({5})
Ich schließe die Aussprache. Mir liegt eine persönliche Erklärung des Kollegen Ernst Hinsken zur Abstimmung vor, die ich zu Protokoll nehme. *) Ich nehme an, daß Sie damit einverstanden sind.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, Drucksache 13/5494 und Drucksache 13/6407 Buchstabe a.
*) Anlage 3
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem. Änderungsantrag auf Drucksache 13/6414 zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen ist.
Wir treten ein in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/6407 die Annahme einer Entschließung. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Lörcher, Christel Hanewinckel, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gewalt gegen Ältere - Prävention und Intervention
- Drucksache 13/5627 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Christa Nickels, Elisabeth Altmann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Maßnahmen zum Schutz älterer Menschen gegen Gewalt in der Familie
- Drucksache 13/5453 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuß
Es sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen Diemers, Reinhardt, Fuhrmann, Schewe-Gerigk, Peters, Lüth, Lörcher und der Parlamentarischen Staatssekretärin Dempwolf zu Protokoll gegeben worden. *)
Ich stelle fest, daß weitere Wortmeldungen nicht vorliegen. Die Aussprache ist damit geschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/5627 und 13/5453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung 1996 - Drucksache 13/4554 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Ich stelle fest, daß die Reden der Kolleginnen und Kollegen Hollerith, Bulmahn, Seidenthal, Weis, Probst, Laermann, Bierstedt, Lenzer und der Parlamentarischen Staatssekretärin Yzer zu Protokoll gegeben worden sind. **)
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/4554 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6388 federführend an den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 und Zusatzpunkt 7 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Gysi, Heinrich Graf von Einsiedel, Hanns-Peter Hartmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Eine Welt ohne Atomwaffen - Drucksache 13/5987 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4}) Verteidigungsausschuß
*) Anlage 5 im Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll **) Anlage 6 im Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Konvention zur Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen
- Drucksache 13/6383 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({5}) Verteidigungsausschuß
Ich stelle fest, daß dazu die Reden der Kollegen Dr. Friedbert Pflüger, Gernot Erler, Angelika Beer, Günther Nolting, Manfred Müller und des Staatsministers Helmut Schäfer zu Protokoll gegeben worden sind. *) Ich nehme an, daß auch damit Einverständnis besteht.
*) Anlage 7 im Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/ 5987 und 13/6383 an die in der Tagesordnung auf geführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Dezember 1996, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.