Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine Damen und Herren. Die Sitzung ist eröffnet.
Wir kommen noch einmal zu dem bereits gestern behandelten Thema „Lage in Tschetschenien" zurück. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um den von allen Fraktionen eingebrachten Antrag zur Lage in Tschetschenien auf Drucksache 13/263 zu erweitern.
Ich gehe davon aus, Sie sind damit einverstanden.
Ich rufe die Zusatzpunkte 2 bis 4 und 12 auf. Beratung des Antrags der PDS
Krieg in Tschetschenien
- Drucksache 13/172 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Lage in Tschetschenien
- Drucksache 13/228 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Beendigung des Krieges in Tschetschenien
- Drucksache 13/239 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Lage in Tschetschenien - Drucksache 13/263 Das Wort zur Abgabe einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung hat Frau Lederer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Erklärung zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zum Krieg in Tschetschenien abgeben. Wir haben an zwei Stellen des interfraktionellen Antrags Bedenken.
Erstens betrifft das die Frage der in diesem Antrag erwähnten territorialen Integrität der Russischen Föderation. Wir halten es für zumindest noch nicht völlig geklärt, ob Tschetschenien nach wie vor Bestandteil der Russischen Föderation ist oder nicht. Dafür spricht auch, daß gegenwärtig das Auswärtige Amt ein völkerrechtliches Gutachten erstellen läßt, um sich selber Klarheit zu verschaffen.
Zweitens halten wir es für unangebracht, wenn nicht sogar für provokativ, im Zusammenhang mit dem Krieg in Tschetschenien ausgerechnet die Partnerschaft Rußlands mit der NATO anzusprechen.
Drittens bedeutet diese Erklärung, daß der Krieg in Tschetschenien vom Deutschen Bundestag eindeutig verurteilt wird. Damit das vom gesamten Deutschen Bundestag geschieht, werden wir trotz der genannten Bedenken dem interfraktionellen Antrag zustimmen und unseren eigenen Antrag zurückziehen.
Hiervon lassen wir uns auch nicht abhalten, nachdem wieder einmal auf kleinkarierte Weise die PDS sowohl von der Beratung über diesen Antrag als auch von dessen Einreichung ausgegrenzt wurde. Wir werden dem Antrag zustimmen, unseren Antrag zurückziehen und weiterhin dafür kämpfen, daß in solchen zentralen Fragen wirklich über alle Fraktions- und Gruppengrenzen hinweg ein einmütiges Votum zustande kommt.
Ich danke.
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Herr Irmer, bitte.
Frau Präsidentin! Ich möchte die Kollegin beruhigen. Die Formulierung, die hier gefunden worden ist, ist so zurückhaltend und vorsichtig, wie es nur geht, und stellt allen völkerrechtlichen Problemen, die geklärt werden müßten und könnten, keinerlei Hindernisse in den Weg. Es heißt hier: die „territoriale Integrität in dem von der russischen Verfassung vorgegebenen Rahmen und unter Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte, der KSZE-Prinzipien und anderer Regeln, zu deren Einhaltung sie sich bindend verpflichtet hat, zu wahren".
Ich lege Wert auf die Feststellung, daß wir uns nicht leichtfertig über völkerrechtliche Probleme, die existieren mögen, hinwegsetzen. Das durfte hier nicht unwidersprochen bleiben. Im übrigen stelle ich fest, daß der Antrag nicht dadurch entwertet wird, daß auch die PDS ihm zuzustimmen wünscht.
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Wir kommen nun zur Abstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. haben zwischenzeitlich einen gemeinsamen Antrag auf Drucksache 13/263 eingebracht.
Wir stimmen zuerst über diesen Antrag ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Antrag einstimmig angenommen ist.
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Die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 13/228 und der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/239 sowie der Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/245 sollen für erledigt erklärt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich gehe davon aus.
Der Antrag der PDS auf Drucksache 13/172 wurde zurückgezogen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Zweite Beschlußempfehlung und Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode
- Drucksache 13/229 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({1}) Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Wir können entsprechend verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gerhard Scheu.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder ist im Laufe seines Lebens Verbraucher von Arzneimitteln. Leben und Gesundheit der einzelnen und des Volkes hängen davon ab.
Was erwarten die Verbraucher, was erwarten Sie und Ihre Familien von einem Arzneimittel? Sie erwarten und dürfen erwarten, daß alle an seiner Entwicklung, Erforschung, Herstellung, Prüfung, Überwachung und Verordnung Beteiligten - Produzenten, Ärzte, Apotheker, staatliche Arzneimittelbehörden, Wissenschaftler - die ihnen mögliche, die größtmögliche Sorgfalt walten lassen, um nur unbedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen.
Unbedenklichkeit ist der Schlüsselbegriff des Arzneimittelgesetzes 1976. Bedenkliche Arzneimittel, die nicht dem jeweils neuesten Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, sind nicht akzeptabel. Sie unterliegen einem gesetzlichen Verkehrsverbot. Dieses strafbewehrte Verbot richtet sich an alle, die es angeht, in erster Linie an die Produzenten und die therapierenden Ärzte, in subsidiärer Weise auch an die staatliche Kontrolle.
Unbedenklichkeit heißt: Der Patient soll das Mittel ohne Bedenken wegen nicht vertretbarer Risiken akzeptieren können. Auf Dauer ist das nur möglich bei Vertrauen. Absolute Sicherheit kann es zwar nicht geben, aber bei fast keinem anderen Produkt sind wir auf Vertrauen in die Verläßlichkeit der Leistungen des Fachmannes so angewiesen wie beim Arzneimittel.
Die historisch beispiellosen Leistungen der Medizin und der pharmazeutischen Wissenschaft und Industrie wären nicht an den Mann zu bringen, wenn sie nicht überwiegend vertrauensvoll angenommen würden. Dieser besonderen Verantwortung für die Allgemeinheit sind sich Ärzte und pharmazeutische Industrie bewußt. Arztethik und Pharmaethik, die vielfältigen Kodizes und Selbstverpflichtungen der pharmazeutischen Industrie dürfen nicht nur papierenes Regelwerk sein, sie müssen gelebt und praktiziert werden. Das Wohl der Patienten hat unbedingten Vorrang. Im Zweifel haben dahinter alle übrigen Erwägungen zurückzutreten. Freiheit und Verantwortung, höchstmögliche Sorgfalt und Vertrauen bedingen einander.
Der Fall Contergan war ein Fall zutiefst gestörten Vertrauens. Das Erschrecken darüber bewirkte das Gelöbnis: Contergan darf sich nicht wiederholen. Nicht erst der wissenschaftlich definitiv gesicherte Beweis einer Gefahr, bereits der begründete Verdacht ist hinreichend und verpflichtet zur gefahrabwendenden Reaktion.
Eine Ungewißheit, die noch nicht wissenschaftlich aufgeklärt ist, die aber nicht von der Hand zu weisen ist, bewirkt im Zweifel ein nicht mehr vertretbares Risiko. Ansonsten verstummten die letzten Zweifel erst, wenn Friedhofsruhe eingekehrt ist.
Der Contergan-Beschluß des Landgerichts Aachen vom 18. Dezember 1970 hat die Maßstäbe gesetzt, wie sich ein ordentlicher und gewissenhafter Arzneimittelhersteller, das Arzneimittelgesetz 1976 hat bestimmt, wie sich die staatliche präventive Kontrolle zu bemühen hat. Der Beschluß ist auch heute noch Pflichtlektüre. Der Preis des jeweils erst wieder Erlernens ist der Tod.
Mit dem Arzneimittelgesetz 1976 wollte der Gesetzgeber zugleich die Rechtsstellung der trotz aller höchstmöglichen Sorgfalt dennoch durch Arzneimittel Geschädigten verbessern. Die Beweisnot der Patienten im Arzt- und Arzneimittelhaftungsprozeß ist gerichtsnotorisch. Wer ernsthaft irreversibel an seiner Gesundheit geschädigt ist, befindet sich in struktureller Unterlegenheit. Die Verarbeitung des Schicksalsschlags verzehrt die Energien, die für Prozesse durch alle Instanzen mit der bekannten Sachverständigenproblematik erforderlich wären.
Deshalb wollte das AMG 1976 mit individueller Gefährdungshaftung und versicherungsrechtlicher Lösung den Geschädigten nicht auf Kulanz verweisen, sondern ihm gesicherte Rechtspositionen gewährleisten. Strittig war die versicherungsrechtliche Lösung von Anfang an. Die Regierungskoalition wollte ursprünglich ein anderes Modell. Die damalige Minderheit wandte ein - ich zitiere -, ihr Modell würde „eher zu einer schnellen und großzügigen Ersatzleistung" führen, als dies durch „die Versicherungswirtschaft, die bei größeren Schäden eine spürGerhard Scheu
bare Verminderung ihrer Gewinnspanne zu befürchten habe", möglich sei. So steht es in Drucksache 7/5091, S. 11.
Hohe Prämieneinnahmen, hohe steuerfreie Rückstellungen und hohe Zinserträge in zig Millionen Höhe per anno, ohne daß dem seit nunmehr 17 Jahren nennenswerte Entschädigungsleistungen gegenüberstehen, das wollte aber auch die Gesetzgebungsmehrheit gewißlich nicht.
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Contergan sollte sich nicht wiederholen, aber es hat sich wiederholt. Fast 1 400 Bluterkranke wurden durch Arzneimittel, durch die Blutprodukte Faktor VIII und Faktor IX, mit dem Erreger von Aids todbringend infiziert, Ehefrauen und Kinder angesteckt, und eine noch nicht bekannte Zahl in gleicher, wenn nicht höherer Größenordnung von Krankenhauspatienten erhielten das Virus per Bluttransfusion oder per Faktor-IX-PPSB vermittelt.
Jeder dieser Fälle ist vor dem Angesicht der infausten Prognose eine Tragödie für Familien und Angehörige. Es hätte jeden, auch Ihre Frau bei der Geburt von Tochter und Sohn, treffen können. Vielleicht hätte man auch Ihnen ohne Anerkennung irgendeiner Rechtspflicht gegen Abfindungsverzicht angeboten, mit im Durchschnitt 60 000 DM einschließlich Beerdigungskosten sei die Sache „großzügig" bereinigt.
Es hat, meine Damen und Herren, im Laufe unserer Untersuchungen Augenblicke gegeben, die Beherrschung erforderten. „Das Unrecht, das einem einzelnen widerfährt, ist eine Bedrohung für alle. " Es war der Franzose Charles de Montesquieu, der das gesagt hat, und es war François Mitterrand, der Präsident der Französischen Republik, der für den Bluterskandal um ein „Pardon der Nation" gebeten hat.
Meine Damen und Herren, auch in Deutschland ist Unrecht geschehen - Unrecht, gemessen an den objektiven Maßstäben der zivil- und amtshaftungsrechtlich gebotenen höchstmöglichen Sorgfalt und am Prinzip: im Zweifel für die Sicherheit.
War die Gefahr - und ab wann - erkennbar, war sie - und ab wann mit welchen Mitteln - vermeidbar? Diese Fragestellung hat die Arbeit des 3. Untersuchungsausschusses bestimmt. Unser einmütiges Ergebnis: Rund 60 v. H. der Fälle waren vermeidbar, die anderen liegen außerhalb des Zeitraumes, für den auch bei Anlegung strengster Maßstäbe Verschulden postuliert werden kann.
In dieser zeitlichen Schranke liegt zugleich die gesamte haftungsschadensrechtliche Problematik: Die Hämophilie-A-Geschädigten können kaum nachweisen - was sie nach derzeitigem Haftungsrecht aber müßten -, daß sie nicht schon vorher infiziert waren. Nur Hämophilie-B- und Krankenhauspatienten, die das andere Mittel, PPSB, erhielten, sowie die sekundär infizierten Ehepartnerinnen wären prozessual in einer etwas günstigeren Situation. Allerdings hätten auch sie, weil oft nicht hinreichend von Ärzten dokumentiert worden ist, Schwierigkeiten, den schädigenden Hersteller zu benennen.
Was zu welchem Zeitpunkt erkennbar war, haben wir nicht aus der Überlegenheit des heutigen Wissensstandes, sondern aus einer ungewöhnlich gründlichen Analyse des Wissens der Zeit geschöpft. Wir haben Hunderte von Publikationen ausgewertet, interne Dokumente eingesehen und die Manuskripte von Referaten auf wissenschaftlichen Kongressen nachgelesen, worunter ich z. B. nur erwähne: Cold Spring Harbor, Meeting on Human T-Cell Leukemia/Lymphonia Viruses am 15. September 1983 oder New York Academy of Science, Conference on Acquired Immune Deficiency Syndrom im November 1983.
Den Schlußpunkt setzten wir mit - in dieser Form erst- und einmalig - einer Einvernahme renommierter Wissenschaftler vom Fach als sachverständiger Zeugen: Dr. Don Francis, USA, seinerzeit bei der CDC, Professor Dr. Abraham Karpas, Universität Cambridge, Professor Dr. Jean-Claude Chermann, seinerzeit beim Institut Pasteur, Frau Professor Dr. Helga Rübsamen-Waigmann, Deutschland, sowie dann des Attorney of Law Charles R. Kozak, USA, als eines ungewöhnlich informierten Rechtsanwalts als Zeugen.
Ich bin für die Auswahl der Experten von interessierter Seite kritisiert worden. Das Prinzip aber war einfach und richtig: aus jedem der Länder den Fachmann, der zu den ersten gehörte oder der der erste war, der das Problem richtig analysiert hat und der dem Sinn der Wissenschaftsfreiheit, also der umfassenden Ermöglichung von Erkenntnis, für sich dadurch Rechnung trägt, daß er zwischen der Ungebundenheit der Erkenntnis und dem Erkenntnisziel der Wahrheit einen untrennbaren Zusammenhang herstellt. Experten, die morgen erklären können, warum heute nicht eintraf, was sie gestern voraussagten, hätten der Wahrheitsfindung schwerlich gedient.
Das Ergebnis und unsere Schlußfolgerungen zur Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit der mit Blutprodukten assoziierten Aidsgefahren haben wir lange diskutiert und schließlich einstimmig festgestellt. Im einzelnen bitte ich dies dem Bericht zu entnehmen, wobei ich die Entkräftung z. B. der sogenannten Antigenüberladungsthese oder der These des massenhaften Blutertodes als Folge nicht ausreichend verfügbarer inaktivierbarer Produkte besonders erwähnen möchte.
Ebenso einmütig waren unsere Feststellungen zum Zurückbleiben der staatlichen Aufsicht - im übrigen aller Ebenen - hinter den Anforderungen. Auch wenn das vormalige Bundesgesundheitsamt nur subsidiär und in zweiter Linie verantwortlich ist - ab bestimmten Zeitpunkten waren seine Entscheidungen oder Nichtentscheidungen in einer Weise unvertretbar, die amtshaftungsrechtliche Verantwortlichkeiten begründen muß.
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Die mit importierten Blutprodukten oder Plasmen assoziierten lebensbedrohlichen Hepatitisgefahren waren z. B. lange erkannt und hätten nicht mehr toleriert werden dürfen, sobald Techniken zu ihrer Vermeidung möglich waren. Der Einwand, der deutsche Hersteller Behring allein hätte den deutschen Bedarf nicht decken können, ist rechtlich unerheblich.
Wenn nicht mit eigenentwickelter Technik dazu in der Lage, so hätten die anderen Unternehmen eben Lizenzen nehmen müssen, anstatt weiter vermeidbar viruskontaminierte Produkte in den Verkehr zu bringen.
Ein Herstellervertreter hat mir gesagt, an Lizenzerwerb habe man nicht gedacht. Meine Antwort: Würden Sie den Hersteller Ihres Privatkraftwagens für exkulpiert halten, der Ihnen mitteilt, er sei technisch leider noch nicht so weit wie sein Konkurrent, der sich seine Erfindung habe patentrechtlich schützen lassen, und er bitte um Verständnis, daß bis auf weiteres in fünf bis zehn von hundert Fällen seine Bremstechnik noch versagen könne? „Das Problem sei bekannt, man arbeite aber daran und sei zuversichtlich, es alsbald in den Griff zu bekommen. " ({2})
Von Rechts wegen müßte der TÜV die Zulassung widerrufen. Für Arzneimittel gilt, wenn der Stand der Technik fortschreitet, nichts anderes.
Meine Damen und Herren, der Preis des Lernens ist der Tod. Contergan und Bluter-Aids zwingen den Arzneimittelgesetzgeber, diesmal und nunmehr wirklich Konsequenzen zu ziehen. Wir brauchen ein verbessertes und greifendes Drug monitoring. Ein Arzneimittelgesetz, das der Bundesoberbehörde nicht einmal den Rechtsanspruch auf Einsicht in Krankenunterlagen zur Beobachtung und Verfolgung von Nebenwirkungen gibt, was sich beim nachgerade berüchtigten ersten deutschen Bluterfall verhängnisvoll ausgewirkt hat, kann schwerlich greifen. Das Meldeverhalten der Ärzte und Krankenanstalten ist zu oft mangelhaft bis ungenügend, obwohl berufsrechtliche Verpflichtungen bestehen. Das Wissen darum, was geschieht, ist aber die erste Voraussetzung für Erkenntnisgewinn und konsequentes Handeln.
Das Haftungsrecht und die Beweislastverteilungen bedürfen der Korrektur. Bei Massenschäden mit langen Entwicklungszeiten versagen die traditionellen Regeln des zivilen Deliktrechts, wie sie z. B. in § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB festgelegt sind. Dieses Gesetz geht davon aus, daß ein Geschädigter mehreren möglichen Schädigern gegenübersteht. Bei Massenschäden finden Sie jedoch sowohl auf der Schädigerseite als auch auf der Geschädigtenseite mehrere Personen. Daraus resultiert, daß entgegen dem Leitbild des Gesetzes nicht jeder der möglichen Täter den Gesamtschaden aller Geschädigten verursacht haben kann. Eine Klageabweisung nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip aber wäre eine ungerechte Privilegierung der Hersteller, deren Schadensverursachung auf jeden Fall feststeht. Die Lösung dieser Gruppenschäden könnte darin bestehen, daß man die Geschädigten und die Schädiger zu einer Gruppe zusammenfaßt, also in modifizierter Form insoweit Überlegungen des Jahres 1976 wieder aufgreift.
In großem zeitlichen Abstand sich ereignende Schadensfälle allerdings erschweren die Gruppenbildung. Für sie müßte man die Verursachungswahrscheinlichkeit als Haftungsgrund ausreichen lassen.
Nicht einfach ist die Frage eines Schmerzensgeldes. Hierfür muß grundsätzlich zurechenbares Verschulden vorausgesetzt bleiben. Aber ebenso zwingend erscheint mir, für schwerste und irreversible Arzneimittelschäden einen materiellen Opferausgleich sui generis anzuerkennen.
Meine Damen und Herren, wir können das Gesetz novellieren und Behörden umgestalten. Der Erfolg hängt letztlich aber nicht weniger davon ab, daß an der Spitze der Ämter Persönlichkeiten mit Charakterstärke und gesundem Menschenverstand stehen müssen. Unser Vertrauen in die Institution ist über-, unser Setzen auf die Kraft der Persönlichkeit scheint mir unterentwickelt.
Das Arzneimittelgesetz von 1976 hat seine erste wirkliche Bewährungsprobe hinsichtlich eines gegenüber der Contergan-Katastrophe verbesserten Patientenschutzes wohl doch nicht bestanden. Für die durch Blut und Blutprodukte infizierten Hämophilie- und Krankenhauspatienten muß daher erneut eine sozialstaatliche Ausgleichsregelung unter Beteiligung der Versicherungswirtschaft, des Bundes und der Länder geschaffen werden.
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Die Mittel dafür sind auch bei der Versicherungswirtschaft vorhanden. Eine Regelung auch unter ihrer Inanspruchnahme ist weniger eine Frage rechtstechnischer Details und rechtsdogmatischer Gesichtspunkte.
Ich bin überzeugt, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts die sozialstaatliche Kompetenz und Pflicht des Bundesgesetzgebers nicht bestreiten würden, die Geschädigten und ihre Familien nicht rechtlos gestellt zu lassen und wenigstens einen der Erwähnung werten sozialen Ausgleich zu gewährleisten. Entscheidend ist, ob und daß der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung den Willen haben, das Gesetz der Gerechtigkeit dienen zu lassen.
Unsere Entscheidung als Abgeordnete wird das Gemeinwesen sicher nicht aufwühlen. Die aidsinfizierten Patienten sind keine Gruppe, die zu republikerschütterndem Protest in der Lage wäre. Viele versterben Woche für Woche, ohne daß sie ein Wort des offiziellen Bedauerns vernommen hätten.
Aber der Wille und die Entschlossenheit des Deutschen Bundestages, für die von dieser Tragödie betroffene hilflose Gruppe von Mitbürgern mitten unter uns einen angemessenen Opferausgleich zu schaffen, entscheidet doch auch über das Gesicht unseres Gemeinwesens und darüber, ob wir zu wirklichem Mitleiden fähig sind.
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Ich appelliere an uns, meine Damen und Herren Abgeordnete: Lassen wir durch das zu schaffende Gesetz unsere Herzen sprechen. Sie sagen uns, was richtig ist. Das Herz trifft die Entscheidung, das Gehirn liefert die Argumente.
Herzlichen Dank.
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Als nächste spricht die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihnen liegt der 672 Seiten umfassende Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses der 12. Legislaturperiode vor. Nach etwa einem Jahr intensiver Tätigkeit und umfangreicher Ermittlungen kommt er zu Feststellungen, die zu der Aussage berechtigen, daß bezüglich der HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte von der zweiten Arzneimittelkatastrophe seit Contergan zu sprechen ist. Es ist unsere Verpflichtung, aus dieser Feststellung die notwendigen gesetzgeberischen Konsequenzen zu ziehen.
Meine Redezeit ist zu kurz, um den Bericht in allen Einzelheiten darzustellen. Seine Lektüre kann ich Ihnen daher nicht ersparen.
Ich nehme diese Gelegenheit wahr, um zunächst einmal Dank zu sagen. Zu danken ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats und aller Fraktionen, die in unermüdlichem Einsatz, oft bis an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit gehend, die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses vorbereitet, organisiert und unterstützt haben.
({0})
Ohne sie hätten wir das Arbeitsergebnis in der kurzen Zeit nicht vorlegen können.
Mein Dank gilt auch den Kollegen aller Fraktionen, die unsere mühevolle und sehr langwierige Untersuchungsarbeit - es gab Zeugenbefragungen bis zu 18 Stunden am Tag - in einer harmonischen Atmosphäre in stets sachlicher und fairer Auseinandersetzung durchgeführt haben. Auf diese Art und Weise konnten fast stets einhellige Entscheidungen getroffen werden. Für mich war das eine neue, gute und wertvolle Erfahrung, zeigt sie doch, wie befriedigend politische Tätigkeit sein kann.
({1})
Dabei hat sicher auch eine Rolle gespielt, daß das sehr sensible Thema des Untersuchungsauftrages nicht geeignet war, im Wahlkampf ausgeschlachtet zu werden.
Besonderer Dank gilt dem Vorsitzenden, Herrn Kollegen Scheu.
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Oft habe ich ihn wegen des großen Fachwissens und seines nie endenden Engagements im Interesse der Opfer bewundert, nie beneidet. Die verantwortungsvolle Aufgabe, in der uns zur Verfügung stehenden Zeit fundierte Feststellungen zu treffen und brauchbare Ergebnisse zu erzielen, war keineswegs immer leicht. Steine wurden uns dabei besonders von den pharmazeutischen Herstellern in den Weg gelegt, die geforderte Auskünfte verweigerten und angeforderte Unterlagen nicht vorgelegt haben.
Das Schicksal der Opfer dieser Katastrophe, die ohne Vorwarnung über diese Menschen hereinbrach, deren großes Leid uns in mehreren Stunden der
Anhörung offengelegt wurde, hat uns selbst tief erschüttert. Als Außenstehende kann man nur schwer nachvollziehen, welches unendliche Leid die Empfänger von HIV-infizierten Blutprodukten und ihre Familien ertragen mußten und noch zu ertragen haben.
Über 600 der HIV-infizierten Hämophilen in Deutschland sind bereits gestorben. Allein im vergangenen Jahr waren es über 80 Tote. Leider werden es auch in Zukunft nicht weniger sein, die an den Folgen der HIV-Infektion sterben.
Das ist eine der entsetzlichen Tatsachen, denen wir uns stellen müssen. Mit Bestürzung denke ich jedoch auch an den Augenblick, als wir feststellen mußten, daß bei rechtzeitigem und verantwortungsvollem Handeln aller Beteiligten vieles hätte verhindert werden können. Der überwiegende Teil aller HIV-Infektionen durch kontaminierte Gerinnungspräparate hätte vermieden werden können. Es gab Menschen, die frühzeitig ihre warnende Stimme erhoben haben. Ich denke an Journalisten wie z. B. Herbert Stelz, Irene Meichsner oder Egmont Koch oder an engagierte Medizinerinnen wie Frau Prof. L'age-Stehr oder Frau Prof. Helm, deren Warnungen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Auch ihnen ist für ihren Einsatz in dieser Sache zu danken.
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Nach den nun vorliegenden Feststellungen führt kein Weg daran vorbei, daß sich Staat, Pharmaindustrie, Blutspendedienste und Ärzte zu ihrer Mitverantwortung am Schicksal vieler durch Blut und Blutprodukte HIV-Infizierter eindeutig bekennen. Es ist daher anzuerkennen, daß Sie, Herr Gesundheitsminister Seehofer, bereits öffentlich - in einer Sendung vom „Report" in der vergangenen Woche - erklärt haben, Sie stehen zu dieser Haftung des Staates.
So war es auch eines der Hauptziele unserer Untersuchungsarbeit, die haftungsrechtliche Situation der Betroffenen sowie ihre wirtschaftliche und soziale Absicherung zu untersuchen. Zu klären war auch, auf welche Weise den infizierten Personen und ihren Angehörigen schnell und angemessen geholfen werden kann, und zwar unabhängig von einer Rechtspflicht - unabhängig von einer Rechtspflicht deshalb, weil wir davon ausgehen, daß abgesehen von dem allgemein festgestellten Fehlverhalten bei allen Verantwortlichen im Einzelfall der Beweis der anspruchsbegründenden Kausalität und des Verschuldens für den Geschädigten ein nicht selten unlösbares Problem sein kann. Gerade aber die Verschuldenshaftung ist Voraussetzung für die Zuerkennung immaterieller Schadensersatzansprüche - sprich: Schmerzensgeld -, Ansprüche, die von den Versicherern in der Vergangenheit stets unter Hinweis auf fehlendes schuldhaftes Verhalten abgelehnt wurden.
Der Untersuchungsausschuß spricht sich deshalb für eine sozialstaatliche Entschädigungslösung für alle Betroffenen aus, insbesondere auch, weil vielen Opfern die gerichtliche Durchsetzung ihrer Ansprüche schon aus zeitlichen Gründen nicht mehr zugemutet werden kann.
Angesichts der Tatsache, daß eine HIV-Infektion nach wie vor keine Heilungschancen hat und früher oder später der tödliche Ausgang dieser Krankheit
gewiß ist, darf bei einer Entschädigungslösung nicht auf Zeit gespielt werden. Eine schnelle und angemessene finanzielle Hilfe kann zwar das geschehene Unrecht nicht wiedergutmachen, kann aber helfen, die Situation der Betroffenen zu erleichtern und zu verbessern, und kann insbesondere die Angehörigen absichern.
So geht auch mein dringender Appell an die Damen und Herren der Koalition: Unterstützen Sie insoweit den vorliegenden Entschließungsantrag der SPD- Fraktion! Setzen Sie ein Zeichen, auf das die Opfer schon lange warten, und geben Sie eine schnelle und optimale Hilfe, die meines Erachtens niemals gerecht sein kann, aber angemessen sein muß.
Das darf auch keine Frage des fehlenden Geldes sein. Es gibt z. B. den Pharmapool, der auf Grund einer gesetzlichen Regelung Rückstellungen für derartige Großrisiken zu bilden hat. Die Zinsbeträge sind beträchtlich. Die angesammelten Summen sind steuerfrei gestellt.
Mit diesem Problem hat sich der Untersuchungsausschuß eingehend befaßt. Es war jedoch nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, inwieweit hier Mißbrauch vorliegt. Aber diese Prüfung wird noch erfolgen müssen.
Wir glaubten alle, daß der Contergan-Fall uns gewarnt habe, und der Gesetzgeber hat auch seinerzeit das Arzneimittelrecht entsprechend geändert. Aber die dramatische Entwicklung der HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte hat uns eines Besseren belehrt. Wir haben mit Bitterkeit zur Kenntnis nehmen müssen, daß das Arzneimittelrecht nicht ausgereicht hat, um diese Katastrophe abzuwenden. Es gilt, das AMG diesen Erkenntnissen anzupassen, damit künftige Gefahren möglichst ausgeschlossen werden.
Der Schlußbericht gibt hierzu genügend Hinweise und Empfehlungen an den Gesetzgeber, von denen ich nur einige kurz erwähnen möchte: Schaffung eines Spezialgesetzes für biologische Produkte und Organe - als erste Stufe ein Transfusionsgesetz -; Festlegung einer chargenbezogenen Dokumentationspflicht; Ausgleichung der Strukturdefizite im Meldesystem und im Risikomanagement. Und: Wir empfehlen eine nationale Eigenversorgung mit Blutplasma.
Ob wir allerdings für die Zukunft ähnliche gesundheitliche Katastrophen vermeiden können, wage ich angesichts der jüngsten Lockerung bisheriger Handelsbeschränkungen hinsichtlich der Exporte britischen Rindfleisches zu bezweifeln. Nach wie vor ist das Forschungsdefizit über BSE - Rinderwahnsinn - erschreckend groß, und gesicherte Erkenntnisse über die Möglichkeit einer Übertragung vom Tier auf den Menschen liegen nicht vor. Noch vor nicht allzulanger Zeit hat Gesundheitsminister Seehofer die Gefahr durch BSE mit der dramatischen Entwicklung von Aids verglichen. Nun sollen offensichtlich wirtschaftliche Interessen dem vorbeugenden Gesundheitsschutz vorgehen. Das kann und darf nicht sein.
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Der Kampf zwischen Mensch und Viren als Seuchenerregern ist nach wie vor unentschieden. Wir glaubten, die großen Seuchen der vergangenen Jahrhunderte wie Pocken, Pest und Cholera dank des Fortschritts der Medizin besiegt zu haben. Es kamen neue hinzu wie Polio und HIV in diesem Jahrhundert. Neue unbekannte Gefahren lauern bereits im Dunkeln, wenn wir an Ebola- oder Marburg-Virus denken.
Die Ermittlungen des 3. Untersuchungsausschusses, wie sie in diesem Schlußbericht niedergelegt sind, zeigen deutlich, wie erschreckend leichtfertig der Mensch mit diesen tödlichen Gefahren für seine Gesundheit und sein Leben manchmal umgeht. Dies ist besonders häufig der Fall, wenn wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen.
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Seien wir in Zukunft wachsam. Ziehen wir die Konsequenzen aus diesem Abschlußbericht. Bemühen wir uns, das Leben und die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger besser zu schützen.
Ich danke Ihnen.
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Als nächster spricht der Kollege Volker Beck.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aids-Pharma-Skandal ist einer der dramatischsten medizinischen und vor allem pharmazeutischen Katastrophen unseres Jahrhunderts - die größte Arzneimittelkatastrophe seit Contergan. Er ist ein Lehrbeispiel für Verantwortungslosigkeit bei den Unternehmen und Komplizenschaft der Behörden. Der wirklich verdienstvolle Bericht stellt hierzu fest: Ein „schuldhaftes Verhalten" aller Beteiligten war ursächlich für einen Großteil der HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte.
Spätestens seit Anfang 1983 war die Gefährdung der Gesundheit und des Lebens vermeidbar. Spätestens seit 1984 wurde in hepatitissicheren Präparaten auch der HI-Virus abgetötet. Bereits 1976 gab es erste virussichere PPSB-Präparate.
Aus pharmapolitischen Überlegungen ließen die zuständigen Behörden wider besseres Wissen die Firmen dennoch weiter mit dem Leben von Blutern und Transfusionsempfängern Russisches Roulett spielen. Wen auch immer die Kugel traf - die Industrie war der Gewinner.
Dieser Pharmaskandal wirft eine ganze Reihe von Fragen auf - nach rechtlicher und politischer Verantwortung, nach juristischen und ethischen Grundlagen unseres Gesundheitswesens, nach dem Geschäft mit dem Blut. Der Untersuchungsbericht benennt an vielen Punkten Fahrlässigkeit und krasses Fehlverhalten der Behörden. Die Konsequenzen hieraus werden wir in den Ausschüssen zu diskutieren haben.
Im Vordergrund jeder politischen Diskussion muß aber heute eindeutig die Entschädigung der Opfer stehen. Über Jahre hinweg hat man die Verantwortung wie auf einem Verschiebebahnhof hin- und hergeschoben und die Opfer auf den Rechtsweg
Volker Beck ({0})
verwiesen. Die Betroffenen blieben hierbei auf der Strecke, ihre Ansprüche kamen dabei unter die Räder. Deshalb wollen wir Sie mit allem Nachdruck zur Eile drängen; denn für die Entschädigung der Opfer haben wir keine Zeit mehr. Hier müssen Sie heute handeln, Herr Minister Seehofer.
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Mehr als 600 der HIV-infizierten Hämophilen in Deutschland sind bereits gestorben, allein im vergangenen Jahr mehr als 80 Betroffene. Jede Woche sterben Hämophile an den Folgen der HIV-Infektion. Für sie kommt eine Entschädigungsregelung ohnehin schon zu spät. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßen daher, daß der Bundesgesundheitsminister die Verantwortung der Bundesregierung bejaht. Zumindest haben Sie dies gegenüber „Report Baden-Baden" angekündigt. Wie man hört, haben Sie inzwischen aber schon kalte Füße bekommen. Für politische Kapriolen und Gezerre ist dieses Thema aber wirklich zu ernst.
Die Interessensgemeinschaft Hämophiler und die Deutsche Hämophiliegesellschaft haben uns diese Woche ermahnt, heute Klarheit zu schaffen: Wann können die HIV-infizierten Bluter - ich ergänze: wann können die durch Bluttransfusionen infizierten Menschen - endlich mit einer Entschädigung rechnen? Ich glaube, die Betroffenen haben Anspruch auf eine eindeutige Aussage von Ihnen, Herr Minister, hier und heute.
({2})
Wir appellieren an Sie, Herr Seehofer: Schaffen Sie unverzüglich alle juristischen und haushaltsrechtlichen Voraussetzungen, damit der Bund in finanzielle Vorleistung zur Abdeckung des vollen Ausgleichs aller Ansprüche der Betroffenen treten kann. Hierbei müssen auch die mittelbar durch Blut und Blutprodukte Infizierten, also die HIV-infizierten Kinder, Lebenspartner und Sexualpartner der Pharmaopfer, in die Entschädigung mit einbezogen werden.
({3})
In diesem Sinne wird meine Kollegin Monika Knoche für unsere Fraktion auch in den Ausschußberatungen auf eine schnelle Lösung dieser Frage dringen.
Wie sehr es brennt, möchte ich Ihnen an einem Beispiel erläutern. Erst gestern rief mich die Betreuerin eines jungen Mannes aus Baden-Württemberg an. Dieser wurde 1984 bei einer Bluttransfusion infiziert. Inzwischen ist bei ihm das Vollbild Aids ausgebrochen. Er ist Vater eines zweijährigen Kindes. Sein Antrag auf materielle Soforthilfe wurde abgelehnt, da er eine Antragsfrist versäumt hatte. Die Familie muß jetzt demnächst von Sozialhilfe leben. Das kann doch nicht angehen! Mit bürokratischen Antragsfristen und juristischen Spitzfindigkeiten muß hier endlich Schluß sein.
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Lassen Sie uns die unverzügliche Ermöglichung der Vorleistungen trennen von den politischen Streitereien über die Frage, wie und von welcher Seite die Entschädigungsleistungen hinterher gezahlt werden müssen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen Versicherungswirtschaft und Pharmaindustrie hierbei nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Wir fordern die Bundesregierung auf, Versicherer und Pharmaindustrie unter Druck zu setzen, damit sie ihren Verpflichtungen endlich nachkommen.
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1976 hatte der Gesetzgeber, u. a. als Reaktion auf die Contergankatastrophe, das Arzneimittelgesetz geändert und die Gefährdungshaftung eingeführt. Um das Risiko bei eventuellen Großschadensereignissen für einzelne Unternehmen zu begrenzen, bildeten etwa 120 Versicherer der Pharmafirmen den sogenannten Pharmapool. Jetzt, bei seiner ersten Bewährungsprobe, versuchen Versicherer und Pharmafirmen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Inzwischen wurden Rückstellungen von fast 1 Milliarde DM gebildet, ein Drittel durch Steuerersparnisse und Zinseinnahmen. Man sitzt auf diesem Geld, und die Betroffenen bekommen allenfalls ein Almosen. Statt daß die im Einzelfall vorgesehenen Zahlungen von bis zu 500 000 DM pro Geschädigten geleistet würden, wurden die Opfer der Pharma-Aids-Katastrophe Ende der 80er Jahre mit gerade einmal 65 000 DM abgespeist.
Wenn angesichts dieser Summen und der Gefährdungshaftung im Arzneimittelgesetz die Opfer immer noch weitgehend leer ausgehen, stellt sich doch die Frage, wozu man solche Pools hat, wenn sie im Ernstfall nicht zur Verfügung stehen. Bei allem Fehlverhalten staatlicher Behörden, insbesondere des Bundesgesundheitsamtes, bleibt doch festzuhalten: Die Pharmafirmen haben sich im Zweifelsfall für den Profit, gegen Verantwortung und gegen die Sicherheit der Patienten entschieden. Sie müssen daher auch die überwiegende Last der Entschädigungen tragen.
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Die rechtlichen Auseinandersetzungen darf man dabei aber nicht länger den Betroffenen aufladen. Dies zu erreichen ist durch die Abtretung der Ansprüche in Verbindung mit der Vorleistung des vollen Ausgleichs auch leicht möglich.
Die Pharmaindustrie scheut sich bislang vor einer Schuldanerkenntnis, weil die internationalen Unternehmen fürchten müssen, daß dies in den USA bei ihren Tochter- oder Muttergesellschaften zu ungleich höheren Regreßforderungen führen würde. Wie am Anfang des Skandals gibt es eine pharmapolitische Komplizenschaft zwischen Industrie und Gesundheitsbehörden.
Meine Damen und Herren, die sozialstaatliche Verantwortung gegenüber den Opfern des AidsPharma-Skandals scheint in diesem Fall von allen Seiten des Hauses bejaht zu werden. Die Deutsche Aids-Stiftung „Positiv leben" und die Aids-Hilfen haben mit Recht eine sozialstaatliche Fürsorge für alle Aidsopfer angemahnt. Es darf nie wieder das böse
Volker Beck ({7})
Wort von den unschuldigen und den schuldigen Opfern die Runde machen.
({8})
Unsere Solidarität und Fürsorge muß allen Opfern von Aids gleichermaßen gelten. Wir brauchen eine finanzielle Unterstützung aller Betroffenen in materiellen Notlagen. Aids ist oftmals auch in Deutschland ein Synonym für Armut. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind nicht auf so junge Kranke eingerichtet, und die Pflegeversicherung berücksichtigt die Besonderheiten dieser Krankheit nicht. Durch eine Nachbesserung der Pflegeversicherung muß das Pflegerisiko bei Aids endlich voll abgedeckt werden. Wir müssen die Aids-Stiftung besser ausstatten, um das Armutsrisiko Aids bis zur Einführung einer sozialen Grundsicherung, wie wir sie fordern, abzuwenden.
Versäumnisse bei der Aufklärung und auch die inhumane Drogenpolitik der Bundesregierung sind die Ursachen von Infektionen bis zum heutigen Tage. Wir dürfen auch in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, durch Aufklärung neue Infektionen zu vermeiden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die finanzielle Absicherung der Arbeit der Deutschen Aids-Hilfe. Wer im Aids-Etat streicht, wie diese Bundesregierung, lädt neue Schuld auf seine Schultern.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Als nächster der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vor uns liegende Abschlußbericht widerlegt in eindrucksvoller Weise die gängige Kritik an der Effektivität der Arbeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. In weniger als einem Jahr intensiver Aufklärungsbemühungen durch die Beiziehung umfangreichen Aktenmaterials und die Anhörung einer Vielzahl von Zeugen und Sachverständigen wird dem Deutschen Bundestag nunmehr ein umfassender Bericht vorgelegt. Dessen Ergebnis ist erschütternd.
Eine große Zahl von HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte in der ersten Hälfte der 80er Jahre hätte sicherlich vermieden werden können. Den Infizierten gilt daher unser aufrichtiges Mitgefühl.
Gestatten Sie, daß ich dem Vorsitzenden und allen Mitgliedern dieses Untersuchungsausschusses sowie den Mitarbeitern danke, auch und besonders unseren Kollegen Dr. Menzel und Professor Schnittler. Der Bericht belegt, meine Damen und Herren, daß sich der Ausschuß sehr bemüht hat, nicht das Geschehen der Vergangenheit am heutigen Wissen zu messen - dies ein häufiger Vorwurf. Die „Chronologie der wichtigsten Ereignisse" und die „Chronologie der öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Publikationen zu AIDS von 1980 bis 1985" waren und sind dabei sehr hilfreich.
Anfang der 70er Jahre begann die Therapie der Patienten mit Faktor-VIII-Hochkonzentraten, eine
Behandlung, die den Patienten als Hochdosierungs-
und vorbeugende Therapie eine bis dahin nicht gekannte Hilfe brachte, die allerdings mit einem hohen Hepatitisrisiko behaftet war. Die Bemühungen der Arzneimittelhersteller, dieses hohe Risiko zu senken, führten 1978 im Rahmen einer klinischen Studie zur erstmaligen Anwendung des hitzesterilisierten Produkts der Firma Behring. Dieses Präparat wurde 1981 durch das BGA - mit der Auflage, wegen befürchteter Nebenwirkungen nach zwei Jahren einen klinischen Erfahrungsbericht vorzulegen - als hepatitissicher zugelassen.
Meine Damen und Herren, jetzt kommt Aids hinzu: Im Dezember 1982 erfolgte im „Bundesgesundheitsblatt" die erste Information durch das BGA über den aktuellen Sachstand im Hinblick auf den unbekannten Krankheitserreger als Ursache des tödlich verlaufenden Immundefektes. Es wird ausgeführt, daß als wahrscheinliche Ursache ein unbekanntes infektiöses Agens in Betracht kommt, das ähnlich wie der Hepatitis-B-Virus übertragen wird, und daß die Empfänger von Faktor-VIII-Konzentraten zu den Risikogruppen gehören.
Vergeblich sucht man in der Chronologie die nun zu erwartende Mitteilung, daß von diesem Zeitpunkt an die Hersteller durch deutliche Warnsignale auf den Faktor-VIII-Präparaten auf das neue Risiko hinweisen. Vergeblich sucht man im Jahre 1983 eine entsprechende Auflage durch das BGA. Vergeblich sucht man, meine Damen und Herren, Reaktionen der Länder, die für die Nachmarktkontrolle verantwortlich sind. Für die Pflicht auf eine Gefahr hinzuweisen, ist aber nicht das sichere Wissen erforderlich; sie besteht auch bei einem wissenschaftlich begründeten Verdacht.
Gewiß ist in diesem Zusammenhang schnell der Vorwurf der unverantwortlichen Hysterie zu hören. Auch wenn man den Konflikt des Arztes anerkennt, daß die Therapie durch eine eventuelle Verängstigung des Patienten gefährdet wird, muß der eigenverantwortlichen Entscheidung des Patienten immer Vorrang eingeräumt werden.
({0})
Dies gilt in besonderer Art und Weise bei den Hämophilen; es muß aber auch für die zukünftige Situation gelten.
An der Vielzahl der vom Untersuchungsausschuß festgestellten Defizite hat ein weiteres besonders erschreckt. So hat die Auswertung der Akten der Zeugenvernehmungen ergeben, daß weder durch das BGA noch durch das BMG jemals ermittelt worden ist, wie häufig, bei welchem Personenkreis und in welchen Gebieten PPSB im nichthämophilen Bereich zur Anwendung gekommen ist. PPSB-Präparate werden in der Herz- und Unfallchirurgie sowie in anderen Bereichen eingesetzt. Der Ausschuß kann hier nur mit Schätzungen arbeiten und stellt fest, daß allein im Jahre 1983 5 000- bis 10 000mal PPSB-Präparate an Personen außerhalb der Hämophilie verabreicht wurden.
Vor diesem Hintergrund erschüttert die Aussage einer mit der Aidsproblematik engagiert befaßten
Virologin im BGA, daß sie nach der Meldung des ersten PPSB-Falles über die Dimension dieses Problemes sehr aufgeregt gewesen sei; denn es war nicht bekannt, daß solche Präparate auch an Nichtbluter abgegeben wurden. Auch andere Verantwortliche des öffentlichen Gesundheitswesens gaben bei den Zeugenvernehmungen an, daß sie über die Anwendungsbereiche von Blut und Blutpräparaten außerhalb der Hämophiliebehandlung nicht informiert waren. Dies bleibt für mich nicht nachvollziehbar; das sage ich sehr deutlich.
Im Zusammenhang mit diesen Fallgruppen kommt der Untersuchungsausschuß zu dem beunruhigenden Ergebnis, daß das BGA ab Jahreswende 1982/83 nicht mit entsprechenden Schutzmaßnahmen reagierte. Nicht zuletzt sei das BGA seitens der Pharmaindustrie auf die Gefahren hingewiesen worden; erschwerend komme hinzu, daß für PPSB bereits seit 1976 ein inaktiviertes Produkt zur Verfügung steht. Das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen in diesem Bereich verstoße somit in hohem Maße gegen die erforderliche Sorgfalt.
Ein weiteres Kapitel ist die haftungsrechtliche Sicherung der Betroffenen. Die Pharmaversicherung hat Ende der 80er Jahre Schadenersatzleistungen erbracht und den Geschädigten materielle Aufwendungen ersetzt. Aber die Abfindungssummen bewegten sich im Durchschnitt bei 65 000 DM. Daß die Höhe der Abfindungen heute als unbefriedigend empfunden wird, liegt dabei - das möchte ich betonen - nicht an Mängeln des Haftungsrechts, sondern an der Erkenntnis, daß Verschulden nicht mehr auszuschließen ist. Es ist, meine Damen und Herren, das Verdienst des Untersuchungsausschusses, daß dies eindeutig herausgearbeitet wurde.
({1})
Ich halte es für notwendig, dem Eindruck entgegenzutreten, daß es in der Arzneimittelhaftung Schmerzensgeld nicht gäbe. Selbstverständlich hat ein geschädigter Patient Schmerzensgeldansprüche gegen den Arzneimittelhersteller oder den behandelnden Arzt. Hier greifen auch heute bereits Beweiserleichterungen. Auch deliktische Staatshaftung führt zu Schmerzensgeldansprüchen. Die Haftungsregelung des AMG kann nicht deshalb in Bausch und Bogen verdammt werden, weil die in § 84 AMG verankerte Gefährdungshaftung nicht mit einem Schmerzensgeldausgleich verbunden ist. Dies entspricht den heutigen Regelungen in unserem Rechtssystem. Der Fortschritt bei der Schaffung des AMG war doch, daß überhaupt der Tatbestand einer Gefährdungshaftung dem bestehenden Deliktsrecht hinzugefügt wurde und damit eine niedrigere Eintrittsschwelle als vorher zu einem materiellen Schadensausgleich führte. Was als Haftungserleichterung für den geschädigten Anspruchsteller gedacht ist, soll sich in fataler Weise als Bumerang erweisen? Hiermit kann man sich nicht zufriedengeben. Mir drängt sich vielmehr der Eindruck auf: Nicht das Rechtssystem hat versagt, sondern die schonungslose frühzeitige Tatsachenfeststellung, die vorhandene Haftungstatbestände ausfüllen muß.
In diesem Zusammenhang sind die Feststellungen des Ausschusses zu den Schwierigkeiten, Gutachter in Prozessen zu finden, alarmierend. Ich sehe hier auch eine problematische Wechselwirkung zwischen BGA und Pharmaindustrie, Kontrolleur und Kontrollierten. Nicht beanstandete Praktiken nach einer einmal getroffenen Risikoabwägung, die nunmehr anders zu bewerten ist, haben dazu beigetragen, daß eine vorurteilsfreie Klärung erst jetzt erfolgt ist.
Der Untersuchungsausschuß hat vor dem Hintergrund, daß ein Verschulden nicht auszuschließen ist und damit Schmerzensgeldansprüche begründbar sind, Alternativen zu weitergehenden Entschädigungen aufgezeigt, die nunmehr dem Gesundheitsausschuß - federführend - und dem Rechtsausschuß und dem Haushaltsausschuß - mitberatend - überwiesen werden sollen. Dies darf nicht als Verzögerungstaktik empfunden werden. Ich spreche hier die Betroffenen an. Zu Zeitverzögerungen darf dies nicht führen. Wir müssen endlich den Betroffenen helfen.
({2})
Ich bin froh, daß der Gesundheitsminister dies schon sehr deutlich gesagt hat. Ich persönlich kann es nicht mehr verkraften, daß von den betroffenen 1 377 Personen schon 451 gestorben sind, ohne daß wir hier im Parlament oder die Bundesregierung etwas unternommen haben.
Laßt uns gemeinsam dieses Problem bald lösen! Wir sind es den Betroffenen unbedingt schuldig.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 3. Untersuchungsausschuß hat seinen Auftrag in überzeugender Weise erfüllt. Nach einem Jahr intensiver Arbeit ist das vorgelegte Ergebnis eindeutig und zugleich erschütternd. Es bestätigt mit bisher nicht erreichter Ausführlichkeit und Beweiskraft, was Kritiker schon seit langem gesagt haben.
Spätestens seit dem Jahr 1983 gab es den wissenschaftlich massiv begründeten Verdacht einer Infektionsgefährdung der Bluter durch den bis dahin noch unbekannten, aber bereits postulierten Erreger der neuen tödlichen Immunschwächekrankheit Aids. Über die Hälfte der eingetretenen HIV-Infizierungen durch Blut und Blutprodukte hätte durch rechtzeitiges entschlossenes und vorrangig an den Sicherheitsinteressen der Patienten orientiertes Handeln vermieden werden können. Lebenswichtige Maßnahmen der notwendigen Risikoabwehr wurden, gemessen an der damaligen Erkenntnisentwicklung, oft um Jahre zu spät wirksam. Anderen elementaren Sicherheitserfordernissen im Umgang mit Blut und Blutprodukten - beispielsweise durch staatliche Chargenprüfung, sorgfältige Chargendokumentation, ein exaktes Meldeverfahren oder notwendige Auflagenerteilungen durch die Behörden - ist erst in jüngster Zeit durch entsprechende Gesetze und Verordnungen Rechnung getragen worden. Grundlegende Schlußfolgerungen wie ein Programm zur nationalen Selbstversorgung
mit Blut und Blutprodukten, die bereits zu Anfang der 80er Jahre anstanden, sind auch gegenwärtig noch nicht verwirklicht und werden erst jetzt angegangen.
Bis heute nicht bereinigt ist das, was man gewissermaßen den Skandal innerhalb des Skandals nennen muß. Trotz der fünften Novelle im Jahre 1994 ist das Arzneimittelgesetz noch immer nicht in erforderlicher Weise verbessert. Noch immer reicht vor allem das Haftungsrecht als gesetzliche Grundlage für angemessene Entschädigungsleistungen für die Opfer von Arzneimittelkatastrophen nicht im geringsten aus.
Noch deutlicher sichtbar geworden als bisher sind durch den vorliegenden Abschlußbericht allerdings Pharmahersteller, denen trotz des vorhandenen Wissens um das Risiko jahrelang ein ungestörtes profitbringendes Geschäft mit dem Blut wichtiger war als die Sicherheit und das Leben der Patienten und die auch einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß wichtige Auskünfte verweigern; Rückversicherer der Pharmaindustrie, die kaltschnäuzig den Opfern eine angemessene Entschädigung verweigern und die bis heute nicht bereit sind, ihren gewinnträchtigen Pharmapool, der eigens für solche Großrisiken eingerichtet wurde, im Interesse einer sinnvollen Fondslösung für die Opfer zu öffnen; Ärzte, die unter Rahmenbedingungen tätig sind, bei denen ihre fachlichen Entscheidungen nicht allein medizinisch und ausschließlich vom Patienteninteresse her begründet sind, sondern auch von handfesten materiellen Erwägungen getragen sein können.
({0})
Ins Licht der Öffentlichkeit getreten sind aber auch Verantwortliche in den obersten Gesundheitsbehörden, die in pflicht- und sorgfaltswidriger Weise dringend gebotene Maßnahmen der Gefahrenabwehr verzögerten oder ganz unterließen, dafür aber bestrebt waren, kritische Fachleute in den eigenen Reihen kaltzustellen und mundtot zu machen. Und nicht zuletzt sehen wir eine Regierung, die fast ein Jahrzehnt lang das große Kartell der Vertuscher und Verschweiger zumindest gewähren ließ, die dem Parlament noch im Jahre 1992 einen unwahren Bericht übermittelte und die sich angesichts der bisher größten Arzneimittelkatastrophe erst auf hartnäckigen Druck der Opposition und einer aufgeschreckten Öffentlichkeit ihrer Verantwortung gestellt hat. So haben sich schließlich eine Vielzahl von sich gegenseitig überschneidenden bzw. verstärkenden Mängeln und Versäumnissen zu einem Gesamtversagen des Systems verdichtet.
Im übrigen - auch ein solches Einzelproblem wäre in diesem Zusammenhang einer Überlegung wert - scheint sich inzwischen speziell die jahrzehntelange Vernachlässigung eines leistungsfähigen öffentlichen Gesundheitsdienstes zu rächen. Die große Tradition epidemiologischen und insbesondere auch infektionsepidemiologischen Denkens und Handelns, die es in Deutschland einmal gab, ist inzwischen nahezu erloschen. Eine Beweisführung, die sich - in Anführungsstrichen - lediglich auf epidemiologische Daten stützt, hat, wie man gerade auch am vorliegenden Beispiel sehen kann, mittlerweile wenig Chancen, ernsthaft beachtet zu werden.
Meine Damen und Herren, Woche für Woche sterben weitere Bluter. Die erste Anfrage der SPD- Fraktion im Deutschen Bundestag zu dieser Thematik stammt vom Sommer 1992; die erste Anhörung des Gesundheitsausschusses war im Februar 1993. In Kürze werden also weitere drei Jahre ins Land gegangen sein, wenn es nicht rasch zu einer akzeptablen Entschädigungsregelung für die Opfer kommt. Schon die nächste Zeit muß also zeigen, ob die Tätigkeit des Ausschusses wenigstens jetzt auf den notwendigen politischen Willen trifft, seine Erkenntnisse und Empfehlungen konsequent umzusetzen. Zu wünschen ist, daß nunmehr das Parlament als Ganzes jene Einmütigkeit an den Tag legt, mit der der Ausschuß gearbeitet hat. Nach wie vor gilt also: Wer den Opfern wirklich helfen will, muß sofort damit beginnen. Nur daran kann verantwortliches Handeln gemessen werden. Deshalb unterstützen wir den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion. Auch ich hoffe - wie mein Vorredner -, daß wir sehr schnell in den entsprechenden Ausschüssen Entscheidungen treffen, damit den Opfern geholfen werden kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lohmann ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich Frau Brandt-Elsweier und Herrn Dr. Thomae selbstverständlich in dem ausdrücklichen Dank für die Arbeit anschließen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und des Ausschusses, alle Abgeordneten des Ausschusses und insbesondere der Vorsitzende, man kann sagen: rund um die Uhr und tatsächlich bis an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit geleistet haben.
({0})
Meine Damen und Herren, unser Ausschuß hatte sich mit einem Sachverhalt zu befassen, der bei uns allen zunächst Bestürzung und anschließend Empörung ausgelöst hat. Wir alle hätten uns sicher gewünscht, unsere politische Arbeit tun zu können, ohne mit dem schlimmen Schicksal konfrontiert zu werden, das Menschen zugefügt worden ist, weil von Beteiligten nicht sorgfältig und nicht rechtzeitig gehandelt worden ist. Die Tragweite, die diese Ereignisse für die betroffenen Bluter und ihre Angehörigen hatten und haben, kann man sich allenfalls vorstellen. Viele derjenigen, die heute hier auf der Besuchertribüne anwesend sind, wissen das aber mit Sicherheit besser als wir.
Es dürfte nach aller Lebenserfahrung leider richtig sein, daß derjenige, der mit einem derartigen Schicksal persönlich konfrontiert wird, mit diesem schockierenden Faktum letztlich allein fertigwerden muß.
Wolfgang Friedrich Lohmann ({1})
Auch aus diesem Grunde habe ich meine Zweifel, ob eine Entschuldigung des Deutschen Bundestages, wie von Ihnen, Herr Kollege Schmidbauer, gefordert, dem Ernst der Sachlage wirklich gerecht würde. Es ist nun einmal so: Vermeintlich große Gesten gehören schnell der Vergangenheit an und tragen zur Lösung der anstehenden Probleme hier und jetzt und bald nichts bei. Aber ich gebe zu: Über derartige Dinge kann man mit gutem Grund unterschiedlicher Meinung sein.
Gerade vor diesem Hintergrund bin ich heute mehr denn je überzeugt davon, daß politischer Streit und ideologische Polemik, wie sie bei der Rede von Herrn Beck vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute deutlich geworden sind, der Thematik keinesfalls angemessen sind. Er war allerdings an der Arbeit des Untersuchungsausschusses - ich habe ja eben von der Belastung gesprochen, die diese Arbeit mit sich gebracht hat - nicht beteiligt. Auch die in den Ausschuß entsandten Kolleginnen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben in der Regel durch Abwesenheit geglänzt.
Ich möchte deshalb grundsätzlich sagen, daß die Beratungen im Gesundheitsausschuß möglichst frei von Polemik und Ideologie geführt werden sollten, weil das den Betroffenen am ehesten helfen wird.
({2})
Der von der Fraktion der SPD, Herr Schmidbauer, eingebrachte Antrag wird meines Erachtens diesem Maßstab leider nicht voll gerecht. Die CDU/CSU- Fraktion hat ja von Anfang an gesagt, daß der Ausschußbericht, seine Empfehlungen und auch Ihr Sondervotum Gegenstand der Diskussion im Gesundheitsausschuß sein müssen. Dort muß seriös und sachlich fundiert beraten werden. Ich bedaure es deswegen ausdrücklich, daß wir uns hier und heute Ihrem Antrag nicht anschließen können, weil Sie in einer Art vorauseilendem Gehorsam diesen Antrag zu früh eingebracht haben.
Ich möchte für unsere Fraktion noch einmal betonen, daß wir nicht nachlassen werden, uns um die Lösung der anstehenden Fragen zu bemühen, und daß der Ausschußbericht und seine Empfehlungen Basis für unsere Arbeit sind, die das Ziel verfolgt, schnell weiterzukommen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran, daß auf unsere Initiative und gegen Ihren Widerstand, meine Damen und Herren von der SPD, der Untersuchungsausschuß überhaupt erst eingesetzt worden ist.
({3})
Ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, daß der von Ihnen, Herr Kollege Kirschner, der Sie gerade dazwischenrufen, vorgeschlagene Weg, nämlich die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission, bei weitem nicht so effizient gewesen wäre wie der von uns vorgeschlagene und durchgesetzte Untersuchungsausschuß.
({4})
Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie weit die Expertenkommission heute wäre und wie wir alle gemeinsam, unterstellt, sie wäre wirklich bis heute ebenfalls zu einem Ergebnis gekommen, möglicherweise mit einem solchen Ergebnis umgegangen wären. Deswegen ist der Weg, den wir beschritten haben, nach meiner Auffassung richtiger.
({5})
Auf unsere Initiative und ebenfalls gegen Ihren Widerstand, Herr Kollege Kirschner, wurde das Bundesgesundheitsamt aufgelöst und in überschaubare, effiziente Institute neu gegliedert. Auf unsere Initiative, meine sehr verehrten Damen und Herren, wurde in der 5. Novelle zum Arzneimittelgesetz die Sicherheit von Blut und Blutprodukten bereits jetzt deutlich verbessert. Es ist ebenfalls auf unsere Initiative und auf die des Herrn Ministers zurückzuführen, daß bereits bei den Haushaltsberatungen 1994 die Soforthilfe für die HIV-infizierten Bluter installiert werden konnte, um die teilweise tatsächlich unerträgliche Situation der Betroffenen zu lindern.
({6})
Ich gehe auch davon aus, daß bereits während der laufenden Haushaltsberatungen dieses Jahres die noch offene Frage der sogenannten Stichtagsregelung einer zufriedenstellenden Lösung zugeführt werden kann.
Die Regierungsfraktionen und die von ihr getragene Bundesregierung werden diesen Weg gemeinsam fortsetzen. Unser Ziel ist dabei ein dreifaches: Die Sicherheit von Blut und Blutprodukten wird weiter kontinuierlich verbessert, für die Betroffenen wird über die Soforthilfe hinaus eine angemessene Entschädigungsregelung erarbeitet, und die als unzureichend erkannte Arzneimittelhaftung wird deutlich ergänzt und ausgeweitet. Ich bitte Sie deshalb sehr, meine sehr verehrten Damen und Herren der anderen Fraktionen, gemeinsam mit uns diese Ziele anzusteuern.
({7}) - Dazu komme ich gleich.
Der dringende Handlungsbedarf insbesondere im Hinblick auf das zweite Ziel, nämlich die Frage einer angemessenen Entschädigung für die Betroffenen, muß von uns allen anerkannt werden. Es muß fundiert diskutiert werden. Wir wollen doch nicht mit dem Untersuchungsausschußergebnis, auf dessen Basis wir alle gemeinsam stehen, die Beratungen im Gesundheitsausschuß vorwegnehmen. Ich meine schon, daß der Weg, der jetzt angestrebt wird, der richtige ist.
Meine Damen und Herren, der Ausschußvorsitzende hat juristisch tiefgründig und fundiert vieles gesagt, was nicht wiederholt werden muß. Trotzdem meine ich, noch ein paar Bemerkungen zum Ablauf machen zu sollen.
Bereits zu Beginn des Untersuchungszeitraumes, also ab dem 1. Oktober 1980, hätte - wir wissen das - schon wegen der Gefahr einer tödlich endenden
Wolfgang Friedrich Lohmann ({8})
transfusionsbedingten Hepatitis nur noch inaktiviertes PPSB zur Anwendung gelangen dürfen. Fast alle HIV-Infektionen hätten - das allerdings wußten wir erst später - durch den Einsatz von PPSB vermieden werden können.
Zu dem in der Hämophilie-Behandlung bei weitem am häufigsten angewandten Gerinnungsfaktorkonzentrat Faktor VIII stellte der Ausschuß fest, daß spätestens im Laufe der ersten Jahreshälfte 1983 hinreichende Erfahrungen mit einem virusinaktivierten Konzentrat sowie ausreichende Erkenntnisse über Ursache und Übertragbarkeit von Aids durch Blut und Blutprodukte vorlagen. Zu dieser Zeit war aber leider ein großer Teil der Hämophilen bereits infiziert.
Es war und ist zunächst Aufgabe der Industrie und der Ärzte, auf die Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Aidsgefahr zu reagieren. Daß Industrie und Ärzte über entsprechende Kenntnisse verfügten, ist uns angesichts der Zusammenarbeit der Beteiligten auf internationaler Ebene, beispielsweise der Industrie, u. a. durch die Beiziehung von Materialien aus den USA, inzwischen zur Gewißheit geworden.
Allerdings können und dürfen wir trotz grundsätzlicher Eigenverantwortlichkeit von Industrie und Ärzten nicht übersehen, daß das Bundesgesundheitsamt notwendige Maßnahmen zum Schutz der Patienten vor HIV-verunreinigten Blutprodukten nicht zeitgerecht und nicht im erforderlichen Umfang angeordnet hat. Dazu wäre es eindeutig verpflichtet gewesen.
Die Verantwortlichkeit der Länder haben wir auf Grund der verfassungsrechtlichen Grenzen eines Untersuchungsorgans des Bundestages nicht im einzelnen untersuchen können. Gleichwohl bin ich davon überzeugt, daß auch die Länder in der Verantwortung stehen. Insofern hat der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Hämophiler doch recht, wenn er in einem offenen Brief, der vorgestern in den „Aachener Nachrichten" veröffentlicht wurde, den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, auffordert - ich zitiere -, „ entsprechend auf seinen Landesgesundheitsminister Franz Müntefering ({9}) einzuwirken". In dem Artikel heißt es weiter:
Der habe erneut in der Öffentlichkeit erklärt, er halte wenig von der Staatshaftung gegenüber den Opfern der Transfusionsmedizin, weil damit zwei Klassen von Kranken entstünden.
Herr Breuer schreibt in seinem Brief:
Diese Ansicht ist ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die im Vertrauen auf unser Gesundheitssystem todkrank gemacht wurden oder bereits verstorben sind.
Recht hat er, meine Damen und Herren.
({10})
Wir sind uns alle darüber einig, daß aus diesen erdrückenden Tatsachen die gebotenen Konsequenzen gezogen werden müssen. Wir werden das Thema Arzneimittelsicherheit konsequent weiterverfolgen. Wir müssen jetzt aber zuallererst dafür sorgen, daß als Konsequenz aus den aufgedeckten Versäumnissen eine angemessene Entschädigung für die Betroffenen
gefunden und durchgesetzt wird. Dazu ist schon viel gesagt worden.
Wir setzen zuerst auf eine freiwillige Beteiligung der Betroffenen. Aber wir fordern die Bundesregierung, wie auch im Ausschußbericht gesagt, prinzipiell auf, alle Möglichkeiten für den Fall auszuschöpfen, daß als freiwillige Lösung ein solcher Fonds für alle Beteiligten nicht zustande kommt. Für diesen Fall muß mit gesetzgeberischen Maßnahmen gehandelt werden.
Ich danke Ihnen allen, daß Sie mitgeholfen haben.
({11})
Das Wort hat der Kollege Horst Schmidbauer ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 2 000 Menschen zahlen für diesen Medizinskandal mit ihrem Leben. Seit zehn Jahren warten sie auf Gerechtigkeit. Seit zehn Jahren warten sie auf eine gerechte Entschädigung. Seit zehn Jahren warten sie auf eine Entschuldigung. Es wäre gut, wenn sich wenigstens das Parlament bei den Opfern entschuldigte. Weder die Hersteller noch der Bundespräsident, noch der Bundeskanzler waren bislang für eine solche Geste zu haben. Ich frage mich: Ist eine solche Geste, wie sie der französische Staatspräsident vollzog, nicht auch bei uns angebracht?
Die Frage ist: Wie war es möglich, daß über einen Medizinskandal dieser Dimension so lange nicht gesprochen wurde? Wie war es möglich, daß ein Interessenkartell aus Herstellern, Ärzten und Behörden den Skandal zehn Jahre lang unter der Decke halten konnte? Wie war es möglich, daß eine unfreiwillige Solidarität zwischen Opfern und Tätern half, diese Katastrophe zu verdrängen? Wie war es möglich, daß ein Komplott von Pharmaunternehmen ohne Rücksicht auf menschliche Verluste Schutzmaßnahmen für die Patienten unterließ? Wie war es möglich, daß für die große Gruppe der PPSB-Patienten Abwehrmaßnahmen unterblieben? Wie war es möglich, daß in Deutschland nicht getestete und nicht inaktivierte Präparate nicht zurückgerufen wurden?
Ehrlich gesagt, uns ging es wie Ihnen: Wir hielten dies alles zunächst für übertrieben. Doch je mehr Beweise wir erhoben, desto größer wurde die Gewißheit: Das Unglaubliche, das Unvorstellbare, das Undenkbare ist die Wahrheit - das Unglaubliche, weil die Verantwortlichen zehn Jahre lang dies als eine schicksalhafte Naturkatastrophe darstellen konnten; das Unvorstellbare, weil die Aids-Infizierten lange stumm blieben aus Scham, aus Angst vor Stigmatisierung; das Undenkbare, weil die Täter schon früh erkannten, daß die Angst der Opfer ihr bester Verbündeter war.
Die Frage nach Verantwortung und Schuld hat der Untersuchungsausschuß gestellt und beantwortet. Antwort geben die Feststellungen im Schlußbericht. Sie belegen das Versagen sämtlicher auf die Arzneimittelsicherheit verpflichteter Akteure.
Horst Schmidbauer ({0})
Erstens. Oktober 1980: Nicht virusinaktivierte Faktor-IX- und PPSB-Präparate hätten nicht mehr verkauft werden dürfen.
Zweitens. Jahreswechsel 1982/83: Alle Hersteller hätten inaktivierte Faktor-VIII-Produkte im Angebot haben müssen. Alle Hersteller und Ärzte wären zur ausdrücklichen Warnung vor dem Aids-Risiko verpflichtet gewesen.
Drittens. Herbst 1983: Nicht inaktivierte FaktorVIII-Präparate hätten zurückgerufen werden müssen.
Viertens. August 1984: Mit dem wissenschaftlichen Beweis der Ursächlichkeit des Virus für Aids sind Entschuldigungen ausgeschlossen.
Das Schreckliche an der Katastrophe ist: Sie war vermeidbar, weil sie erkennbar war. 60 % aller Infektionen waren vermeidbar. Mindestens 800 Menschenleben hätten gerettet werden können. Es war keine unabwendbare Naturkatastrophe, die über uns hereinbrach, sondern eine unheilvolle Mischung aus wirtschaftlichen Interessen und indirekter Korrumpiertheit, fehlender Kontrolle und lascher Handhabung bestehender Gesetze, falschen Risikoabwägungen und unterlassenen Maßnahmen, im Zweifel gegen die Patienten, im Zweifel gegen die Arzneimittelsicherheit; statt dessen Vertuschungen sowie fehlender Mut zur Wahrheit, zur Verantwortung bei fast allen Beteiligten, die damit zu Passivtätern geworden sind.
Der Untersuchungsausschuß hat die Verantwortlichen klar genannt, voran die Hersteller.
Wie war es denn um die Verantwortung der Hersteller bestellt? „Unsere Gerinnungspräparate sind sicher", erklärten sie 1982, obwohl die epidemiologischen Daten der USA schon das genaue Gegenteil signalisierten.
Ende 1982 schrieb Ed Cutter, Firmengründer und Berater der Bayer-AG-Tochter Cutter, an die Geschäftsführung: „Wir sollten alle eine Aidswarnung in unsere Packungsbeilage aufnehmen." Falls es später zu einem Rechtsstreit käme, wäre es gut, „wenn wir dann unsere Sorgfalt demonstrieren" könnten.
Seine Empfehlung wurde nicht befolgt, obwohl bei der Bayer-Tochter der Zusammenhang zwischen Blut und Aids intern schon längst klar war. Das belegt ein firmeninternes Aidsszenario. Im August 1983 entwarf die Bayer-Tochter eine grausige Prognose: Im ungünstigsten Fall sei mit 2 000 aidskranken Blutern allein in den USA zu rechnen. Die Folge sei eine „gigantische Epidemie" , so schrieben sie, zumal infizierte Bluter wiederum ihre Frauen und Kinder infizieren würden.
Das als vertraulich eingestufte Aidsplanspiel blieb unter Verschluß. Die Marketingabteilung setzte sich gegen die Wissenschaftler der Firma durch. Umsatz und Marktanteile kamen vor Sicherheit. Intern wußte man Bescheid, nach außen aber tönte man weiter: Es gebe keinerlei Beweise, sondern lediglich unbewiesene Vermutungen.
In der nächsten Stufe hieß es, es gebe zwar „begrenzte Hinweise" auf den Infektionsweg Blut, aber nur „minimale Beweise". Danach hieß es, es gebe
keine gesicherten Fälle. Die ganz Klugen konnten sich hinterher damit rechtfertigen, daß sie sagten: „Wir haben nicht behauptet, es gebe keine Ansteckungsgefahr. Man kann uns nicht vorwerfen, etwas Falsches gesagt zu haben."
Die Taktik der Hersteller ging auf. Sie spielten auf Zeit, um Sicherheitsmaßnahmen zu verzögern. Sie spielten auf Zeit, um Kosten zu sparen, und zwar auf Kosten der Patienten.
Belgien: 10 Millionen Einwohner, 35 HIV-infizierte Bluter. Norwegen: 8 Millionen Einwohner, 17 Infizierte. Der Westen der Bundesrepublik: 60 Millionen Einwohner, 1 500 infizierte Bluter. Was ist das für ein Unterschied! Das haben wir uns auch gefragt.
Des Rätsels Lösung: Norwegen und Belgien setzten frühzeitig auf Spenderauswahl. Norwegen und Belgien setzten auf Eigenversorgung mit Plasma. Die Bundesrepublik dagegen ignorierte seit 1980 Empfehlungen und Warnungen des Europarats, kaufte Jahr für Jahr 1 Million Liter Plasma aus dem Ausland, fast alles aus den USA. Statt Spenderauswahl Einkauf in Risikogebieten der USA, Gefängnisinsassen inklusive.
Herr Minister, die nationale Eigenversorgung mit Plasma ist gefragt. Herr Seehofer, schaffen Sie als Gesundheitsminister die nationale Eigenversorgung mit Plasma! Das ist der entscheidende Punkt für die Sicherheit der Zukunft. Dazu brauchen wir aber kein Modell à la USA, wo Plasmazapfen ein Geschäft ist. Dafür brauchen wir erst recht keine Plasmapheresestationen im Bahnhofsmilieu der Großstädte.
({1})
Schade ist nur, daß sich das Deutsche Rote Kreuz nicht als natürlicher Partner anbietet. Die Reputation dieser Organisation hat im Blut-Aids-Skandal schweren Schaden genommen.
({2})
Zu sehr war sie selbst in den Skandal verwickelt, zu sehr war sie bemüht, Hersteller von Arzneimitteln aus Blut zu werden. Zu sehr setzte sie Profit vor Sicherheit. Zu sehr war sie Bremser und Verhinderer bei der Sicherheit von Blut und Plasma.
Wir vertrauen in Zukunft auf die Solidarität der Menschen. Wenn der Staat dafür sorgt, daß kein Geschäft mehr mit Blut gemacht werden kann, werden die Menschen bereit sein, mit ihrer unentgeltlichen Spende ihren Beitrag zur Sicherheit zu leisten.
({3})
Die deutsche Industrie meint bis heute, man könne alles verarbeiten, es komme nur auf die Inaktivierung, also die Nachbearbeitung, an. Was dann passieren kann, zeigt der Fall bei Biotest. Durch die berühmtberüchtigte Charge 160 10 89 der Firma Biotest wurden 1990 mindestens 13 Menschen infiziert.
({4})
Das Unternehmen fand keine Erklärung für die Verseuchung seines Präparates. Man sprach von
Horst Schmidbauer ({5})
„möglicher Sabotage", weil „die Branche schmutzig" sei und nicht einmal auszuschließen sei, daß jemand „die Charge versaut" haben könnte, so der Pressesprecher.
Die Wahrheit war viel banaler und zynischer zugleich. Das hat der Untersuchungsausschuß nachgewiesen. Ursache für diese vermeidbare Katastrophe waren zwei Beutel mit Plasma von US-Spendern, die auf Grund der diagnostischen Lücke erst nachträglich als HIV-infiziert entdeckt wurden.
Zu diesem Zeitpunkt funktionierte das Warnsystem. Die Warnung kam sogar so frühzeitig, daß nicht einmal der ganze Pharmapool hätte vernichtet werden müssen. Lediglich zwei Beutel dieser Spenden hätte man aussortieren müssen. Das unterblieb. Die Firma verstieß gegen das Arzneimittelgesetz und verarbeitete die Spenden trotz der Warnung. Nach Aussage der Firma ist das Ignorieren solcher Lookback-Meldungen gängige Praxis in der Branche.
Es ist allerhöchste Zeit, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Es sind vertrauensbildende Maßnahmen gefragt. Es muß doch nicht noch mehr an Beweisen geliefert werden. Es muß doch nicht noch mehr in der Vergangenheit gebohrt werden. Mein Appell an Sie, an die Vertreter der Hersteller: Machen Sie mit uns einen Schlußstrich! Gehen Sie nach vorn, damit Vertrauen wiederhergestellt werden kann! Bekennen Sie sich zu den Fehlern der Vergangenheit! Treiben Sie nicht länger Ihre Politik auf dem Rücken der Opfer! Zeigen Sie Verantwortung, und beteiligen Sie sich am Entschädigungsfonds!
({6})
So wie die Hersteller ihre Opfer im Regen stehenlassen, so lassen die Versicherer ihre Kundschaft, die Pharmaindustrie, im Regen stehen. Die Versicherer bleiben auf einem prallen Geldsack sitzen, dem sogenannten Pharmapool. Das Arzneimittelgesetz hat versagt, denn mit der Schaffung des Pharmapools nach der Contergan-Katastrophe sollte verhindert werden, daß sich die rechtliche Situation und die schäbige Behandlung von Opfern nicht wiederholen. Deshalb wurde für die Abdeckung von Großrisiken der Pool gebildet.
Es zeigt sich jetzt: Mit dem Pool wird nicht geholfen; mit dem Pool werden Geschäfte gemacht. Gesamtprämieneinnahmen: 644 Millionen DM. Gezahlt für HIV- Schadensfälle: insgesamt 52 Millionen DM aus dem Pool. Rücklagen aus zu 75 % steuerfrei gestellten Überschüssen: 400 Millionen DM. Zinsen allein aus dieser Rückstellung: jährlich 30 Millionen DM, so viel wie die jährlichen Prämien der Pharmaindustrie.
Die Versicherer konnten das Mißbrauchsverfahren des Kartellamtes anhalten, und zwar mit der Begründung, diese Schatztruhe werde für die Entschädigung der HIV-Infizierten gebraucht. Gezahlt haben sie nicht. Sie konnten dem Bundeskanzler mitteilen, daß sie noch mit offenen Schadensersatzforderungen aus dem Blut-Aids-Skandal von mehreren hundert Millionen DM rechnen. Gezahlt haben sie nicht.
Mein Appell an Sie, meine Damen und Herren von der Versicherungswirtschaft: Kommen Sie doch Ihren Verpflichtungen endlich nach! Stellen Sie dem Entschädigungsfonds die Hunderte von Millionen DM zur Verfügung, die Sie für eine solche Katastrophe zurückgelegt haben, und zwar sofort! Zeigen Sie, daß Sie die Steuervorteile nicht zu Unrecht erhalten haben!
({7})
Gesunde Geschäfte gab es nicht nur für die Hersteller und Versicherer. Gesunde Geschäfte machten auch die Ärzte und Behandlungszentren, die die Bluter behandelten. Der Schlußbericht zeigt, wie die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Herstellern und den Anwendern mit den Erfordernissen der Arzneimittelsicherheit kollidierten. Finanzielle Zuwendungen sorgten für eine indirekte Korrumpiertheit.
Fast alle deutschen Behandlungseinrichtungen erhielten von den Herstellern Zuwendungen in Form von Rückvergütungen, Bonuszahlungen, Naturalrabatten und Sachzuwendungen oder sonstigen Vergütungen wie Drittmittel und Bezahlung von Stellen, Dienstreisen, Zuschüsse, Spenden usw. usf.
Die lange praktizierte einheitliche Preisgestaltung des Anbieterkartells ging zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Kartellamt leitete ein Verfahren ein. Die seit Jahrhunderten bewährte Trennung zwischen Einkauf und ärztlicher Therapieentscheidung wurde durchbrochen durch den Direkteinkauf unter Umgehung der Apothekenpflicht.
Das Geschäft wurde durch die einzigartige Hochdosierungstherapie, besonders in Bonn, zusätzlich angeheizt. Gesund machte die Therapie vor allem das Geschäft. Es bleibt unerklärlich, warum in Deutschland ein Bluter mit durchschnittlich 200 000 Einheiten im Jahr behandelt werden muß, während man in anderen Ländern mit einem Drittel davon auskommt.
Mein Appell an die Ärzte, an die Behandlungszentren und an ihre Träger, die Bundesländer: Überwinden Sie Ihre Sprachlosigkeit! Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung! Leisten auch Sie Ihren Beitrag zum Entschädigungsfonds!
({8})
Und welche Rolle spielten die Gesundheitsbehörden? Die Rolle des Bundesgesundheitsamtes war schwer durchschaubar, für viele Ministerinnen und Minister überhaupt nicht. Auch Sie, Herr Minister Seehofer, brauchten ein ganzes Jahr, um durchzublikken. Es ehrt Sie aber, daß Sie dann nicht vor den notwendigen personellen Konsequenzen im Bundesgesundheitsamt und im Ministerium zurückgewichen sind.
Das Risikomanagement des BGA hat auf der ganzen Linie versagt. Entscheidungen kamen zu spät oder fielen im Zweifel gegen Sicherheit und Patientenschutz. Auf Grund der schwerwiegenden Fehleinschätzungen und Versäumnisse sind die Gesundheitsbehörden neben den Herstellern und den Anwendern mitverantwortlich für die Katastrophe.
Horst Schmidbauer ({9})
Auf Grund der schweren Amtspflichtverletzungen sind die Voraussetzungen für die Staatshaftung gegeben. Sie, Herr Minister, haben die Feststellungen des Ausschusses und die Staatshaftung akzeptiert. Dafür gebühren Ihnen Respekt und Anerkennung.
({10})
Mein Appell an Sie, Herr Seehofer: Sorgen Sie mit uns dafür, daß wir im Bundeshaushalt 1995 die Bundesmittel für den Entschädigungsfonds einstellen!
Fast wöchentlich werden weitere Opfer des Skandals entdeckt: Vor kurzem war es ein junger Mann, der 1984 nach einem schweren Verkehrsunfall mit Transfusionen und PPSB behandelt wurde. 1987 hat er seine jetzige Frau kennengelernt und geheiratet. Das gemeinsame Kind ist heute zwei Jahre alt. Man stellte erst 1994 nicht nur fest, daß PPSB die Infektionsursache war, sondern auch, daß Frau und Kind inzwischen ebenfalls infiziert sind. Der Komplex PPSB wurde so zum Skandal im Skandal.
Patienten mit Blutungen nach Marcumarbehandlungen, Unfallverletzte auf Intensivstationen, junge Mütter mit Blutungen während der Geburt - sie alle bekamen in diesem kritischen Zeitfenster das Gerinnungspräparat PPSB, das ebenso verseucht war wie die Präparate für die Bluter.
Das besonders Tragische daran: Viele von ihnen sind infiziert und wissen es bis heute noch nicht. In ihrer Unwissenheit übertragen sie weiter das Virus auf ihre Partner oder Kinder.
Woher sollten es die Menschen denn auch wissen? Von den Ärzten sind sie nicht informiert worden, und der Einsatz von PPSB ist in den Krankenakten nicht oder nur sehr ungenügend dokumentiert worden. Es gibt bis heute keine verläßlichen Zahlen über den Verbrauch von PPSB, weil sich die Pharmaindustrie weigert, und deshalb auch keine verläßliche Zahl über die Dimension der Opfer.
Auch Sie, Herr Minister, haben außer einem wirkungslosen Appell an Kliniken und Ärzte bislang nichts aktiv zur Aufhellung dieser Grauzone beitragen können.
({11})
Jede Woche neue Betroffene!
Mein letzter Appell an Sie, Herr Minister - und nun hoffentlich wirklich zum allerletzten Mal -: Öffnen Sie für die Menschen, die PPSB-Opfer sind, die Soforthilfe! Es gibt keinen Grund für die willkürlich gesetzte Ausschlußfrist 30. Oktober 1993.
({12})
Es gibt keine Gründe, weder fachliche noch finanzielle, z. B. diesen jungen Mann und seine Familie aus dieser Soforthilfe auszuschließen.
Meine Damen und Herren, die Opfer müssen endlich Genugtuung erfahren, materiell und ideell. Fast 700 Bluter sind schon tot; 80 von ihnen sind allein im vergangenen Jahr gestorben; jede Woche stirbt ein weiteres Opfer.
Wenn die Hilfe die Menschen überhaupt noch erreichen soll, muß die Entschädigungsregelung jetzt kommen, in den nächsten Monaten. Wir dürfen nicht länger warten. Die betroffenen Menschen können nicht länger warten. Wir machen uns sonst mitschuldig, wenn wir jetzt nicht endlich konsequent handeln.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat Herr Bundesminister Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Untersuchungsausschuß, über dessen Ergebnisse wir heute reden, ist 1993 auf meinen Vorschlag hin gebildet worden. Die Einrichtung des Ausschusses war damals hochumstritten. Viele, auch die parlamentarische Opposition, haben mir damals unterstellt, die Einrichtung des Untersuchungsausschusses würde nur der Vertuschung und Zeitverzögerung dienen.
Ich habe damals die Bitte auf Einrichtung des Ausschusses damit begründet, daß der Ausschuß weitergehende Möglichkeiten der Beweiserhebung habe als die Regierung und daß eine Wahrheitsfindung über die letzten 10, 15 Jahre nur durch einen Untersuchungsausschuß mit weitergehenden rechtlichen Möglichkeiten, als sie der Administration zur Verfügung stehen, möglich ist. Ich glaube, nach der Vorlage des Berichts des Ausschusses kann heute niemand mehr an der Richtigkeit dieses Vorgehens zweifeln. Ich wiederhole auch hier: Die Bewertungen und Schlußfolgerungen des Untersuchungsausschusses werden von mir geteilt und akzeptiert.
Die Erkenntnisse des Berichts - alle Beiträge haben es gezeigt - sind nicht leicht zu ertragen. Trotzdem müssen wir uns ihnen stellen: für die Betroffenen, weil sie mehr Klarheit über die Vorgänge bekommen, die ihr Leben und ihre Lebensperspektive so entscheidend verändert haben, und weil sie auch sehen, daß die Gesellschaft und das deutsche Parlament an der Aufklärung interessiert sind und an ihrem Schicksal Anteil nehmen. Die Erkenntnisse sind aber auch für diejenigen wichtig, die heute und in Zukunft Verantwortung tragen. Wir mußten deshalb sorgfältig untersuchen, wie es zu den damaligen Fehleinschätzungen gekommen ist. Ich stimme allen zu, die sagen: Wir müssen für die Zukunft daraus noch mehr Konsequenzen ziehen, als ohnehin innerhalb der letzten zwölf Monate bereits geschehen.
Der Ausschuß hat nach intensiver und detaillierter Aufarbeitung des nationalen und auch internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes das Ergebnis formuliert, daß seit 1980 HIV-Infektionen durch PPSB und seit Anfang 1983 HIV-Infektionen durch Faktor-VIII-Produkte hätten verhindert werden können, wenn die möglichen Sicherheitsmaßnahmen als geboten erkannt und auch ergriffen worden wären. Der Bericht des Untersuchungsausschusses macht deutlich, daß alle Beteiligten in der Pflicht sind, den
Betroffenen schnell und unkompliziert zu einer angemessenen Entschädigung zu verhelfen.
Ich möchte keinen Fehler von Behörden bagatellisieren, aber gleichwohl an dieser Stelle noch einmal an das damalige wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Umfeld erinnern, in dem auch Behörden Entscheidungen fällen mußten. Damals, über weite Strecken der 80er Jahre, wurde Aids als Krankheit, die auch andere als Homosexuelle oder Drogensüchtige hätte betreffen können, nicht wahrgenommen. Konsequenterweise wurde jeder, der an Aids erkrankte, automatisch diesen Bevölkerungsgruppen zugeordnet. Sprüche wie „Aids bekommt man nicht, Aids holt man sich" habe ich noch gut im Ohr.
Die Gefahr, die von Aids für andere Bevölkerungsgruppen ausging, wurde von der Wissenschaft, aber auch von der Politik verharmlost. Man glaubte, damit die Betroffenen, z. B. die Empfänger von Blut und Blutprodukten, und ihre Familien vor Ausgrenzung schützen zu können. Ich erinnere, daß in der Aids-Enquetekommission des Deutschen Bundestages die Thematik der HIV-Infektion bei Blutern überhaupt nicht erst behandelt wurde. Dieses Verhalten verhinderte aber auch, daß Aids in der Bevölkerung als Krankheit akzeptiert wurde. An diese Umstände muß man erinnern dürfen, wenn man die Entscheidungen und das Verhalten in den 80er Jahren heute gerecht bewerten will - ich sage es noch einmal -, ohne irgendeinen Fehler bagatellisieren zu wollen.
Es steht fest, daß der Wissensstand - jedenfalls bei der pharmazeutischen Industrie und den HämophilieBehandlern - spätestens Mitte 1983 so war, daß sie das Behandlungskonzept für die Hämophilie-Patienten grundsätzlich hätten in Frage stellen müssen, um der Gefährdungssituation Rechnung zu tragen.
Der Untersuchungsausschuß hat unter Verwendung umfangreicher Unterlagen die Situation in den USA in den Jahren 1982 bis 1984 sorgfältig aufgearbeitet. Der vorliegende Bericht beschreibt sehr ausführlich die damaligen Diskussionen mit den eindringlichen Warnungen des Centers for Disease Control vor dem todbringenden Virus in dem sonst lebensrettenden Faktor VIII und die fürchterlichen Szenarien der Firma Cutter zur Gefährdung der Patienten durch verseuchte Gerinnungspräparate. Jedem in der Bundesrepublik Deutschland, der mit Blut und Blutprodukten unmittelbar zu tun hatte, mußte klar sein, daß diese Beschreibungen auch auf die deutsche Situation zutrafen, da ja 90 % der Faktor-VIII-Präparate aus den USA stammten.
Um so unverständlicher sind die Schwierigkeiten, die dem Bundesgesundheitsamt bei der Aufklärung der ersten deutschen Aidsfälle bei Blutern von den Behandlern gemacht wurden. Dadurch wurden notwendige Sicherheitsmaßnahmen für die Patienten verzögert und Infektionen möglich.
Je tiefer man in das Geschehen einsteigt, um so unverständlicher wird das Verhalten der Beteiligten. Immer drängender wird die Frage: War dies alles bei der gebotenen Sorgfalt tatsächlich unvermeidbar? - Hier gibt der Bericht des Untersuchungsausschusses eine klare Antwort. Er zeigt, daß vor allem das
Verhalten der pharmazeutischen Industrie und der Behandler neben dem zögerlichen Verhalten der Behörden zur Katastrophe geführt hat.
Meine Damen und Herren, das Schicksal der Betroffenen und ihrer Angehörigen geht mir tief zu Herzen. Ich habe mit vielen von ihnen sehr zu Herzen gehende Gespräche geführt. Es hat bei allen, die für die Versorgung und Therapie mit Blut und Blutprodukten Verantwortung getragen haben und tragen, Versäumnisse gegeben: bei der pharmazeutischen Industrie, bei behandelnden Ärzten und Krankenhäusern, bei Blutspendediensten und bei Wissenschaftlern. Auch den Bundesbehörden sind Fehleinschätzungen unterlaufen. Hier hätte rascher und energischer gehandelt werden müssen; dann wäre möglicherweise vielen - wenn auch nicht allen - Infizierten ihr schweres Schicksal erspart geblieben.
Meine Damen und Herren, verehrte Betroffene und Familien, für die Fehleinschätzungen der Bundesbehörden möchte ich die Betroffenen im Namen der Bundesregierung um Verzeihung bitten.
({0})
Ihr Leid kann nicht wiedergutgemacht werden. Aber Sie dürfen sich darauf verlassen, daß ich mich mit aller Kraft dafür einsetzen werde, daß den Betroffenen zumindest da geholfen wird, wo wir Hilfe leisten können: bei der Sorge um die Absicherung der eigenen Zukunft, bei der Sorge um den Unterhalt der nächsten Angehörigen. Schließlich müssen wir alles tun, damit sich eine derartige Katastrophe nicht wiederholen kann.
Der Untersuchungsausschuß hat klar herausgearbeitet, daß viele der Betroffenen einen Schmerzensgeldanspruch haben. Die Verantwortlichen dürfen sich deshalb nicht mit dem Hinweis auf den Rechtsweg aus der Verantwortung stehlen.
({1})
Mein Einsatz zielt auch darauf, so schnell wie möglich eine Entschädigungslösung zu finden. Der Untersuchungsausschuß hat hierzu drei Alternativen aufgezeigt und dabei insbesondere das Modell einer freiwilligen Fondslösung favorisiert. Nach diesem Modell sollen Pharmaindustrie, Bund, Länder und Ärzte durch freiwillige Beiträge eine angemessene Ausgleichsleistung ermöglichen. Die ersten Gespräche sind geführt.
Meine Damen und Herren, ich möchte das hohe Maß an Konsens, an dem ich großes Interesse habe, auch in den nächsten Wochen nicht stören. Aber ich muß Ihnen leider sagen, daß sich die Gespräche äußerst schwierig gestalten. Ich muß hinzufügen, daß die Gespräche - jedenfalls die mit den alten Bundesländern, die ein ganz erhebliches Maß an Mitverantwortung tragen - mich betroffen gemacht haben. Mit Ausnahme von Sachsen, Bayern und MecklenburgVorpommern ist die Bereitschaft zum Konsens bis zur Stunde außerordentlich schwach ausgeprägt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die Beauftragten der Länder mit Wissen ihrer eigenen Ministerpräsidenten gestern bei mir im Hause so eingelassen haben, wie sie es getan haben. Wenn ein Land wie
Mecklenburg-Vorpommern einer Beteiligung an einer großen Entschädigungslösung aufgeschlossener gegenübersteht als der Großteil der alten Bundesländer, obwohl die alten Bundesländer in den 80er Jahren hier Verantwortung hatten und MecklenburgVorpommern nicht, ist dies eigentlich ein Vorgang, der mehr als betroffen macht, meine Damen und Herren.
({2})
Ich bitte alle - Herr Kollege Beck, das gilt auch für Sie -, auf ihre politischen Freunde in den Ländern einzuwirken, damit die Worte der Betroffenheit und der Hilfsbereitschaft, die hier geäußert wurden, nicht blanke Rhetorik bleiben, sondern innerhalb der eigenen politischen Gruppierungen zu Konsequenzen führen.
({3})
Ich möchte noch ein Wort zum Zeithorizont und zum Zeitablauf sagen. Meine Damen und Herren, es wird mit mir nicht möglich sein, die Gespräche in die Länge zu ziehen und bis zum Herbst oder gar bis Ende des Jahres zu diskutieren.
({4})
Ich möchte auch nicht die Zeit in Anspruch nehmen, die uns der Untersuchungsausschuß für die Findung einer Fondslösung zur Verfügung stellt: ein halbes Jahr. Ich sage zu, daß wir Ende März in den zuständigen Gremien die endgültigen Lösungen, die Entscheidungen vortragen werden.
({5})
Innerhalb des ersten Vierteljahres muß hier Klarheit herrschen. Sonst ist der Verdacht begründet, man möchte mit Zeitablauf ein Problem lösen.
Für die unmittelbar Betroffenen habe ich im letzten Jahr mit Ihrer Unterstützung den Fonds „Humanitäre Soforthilfe" eingerichtet, der eine erste wichtige Hilfe ist, bis eine Entschädigungslösung gefunden ist. An diesem Fonds beteiligen sich schon jetzt Länder und Industrie. Auch hier möchte ich sagen: nicht alle Länder. Ich fordere Länder, Industrie, Versicherer und Ärzte auf, ihren Beitrag zu einer umfangreichen Entschädigung zu leisten. Ich werde mich auch, Herr Schmidbauer, vorher für eine Öffnung des Fonds einsetzen. Auch hier sind die Gespräche mit dem Bundesfinanzminister aufgenommen, wie es der Untersuchungsausschuß wünscht. Im übrigen gilt: Der Bund verzichtet auf die Einrede der Verjährung gegenüber Klagewilligen bis zum 31. Dezember 1995, um die Betroffenen nicht unter Prozeßdruck zu setzen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich kann heute - ungeachtet des soeben skizzierten Zeithorizonts und meines Engagements - nicht fest versprechen, daß wir zu einer Lösung kommen, die alle Erwartungen erfüllt. Weil wir heute noch nicht wissen, ob wir mit allen vom Untersuchungsausschuß angesprochenen Gruppen zufriedenstellende Lösungen erreichen, können wir derzeit auch keine Empfehlungen für laufende oder
beabsichtigte Prozesse geben. Denn käme es nicht zu einer Lösung, würde uns mit Recht der Vorwurf gemacht, man hätte mit Hinweis auf mögliche Lösungen Menschen von einer Prozeßführung abgehalten. Dies ist ein Schwebezustand, der vorübergehend unvermeidlich ist; das hat nichts mit einer Doppelstrategie des Bundesgesundheitsministers zu tun.
Herr Präsident, ich bitte darum, daß ich wegen der Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit des Themas trotz der fortgeschrittenen Zeit auf den Aspekt der Arzneimittelsicherheit und des Arzneimittelhaftungsrechts hinweisen darf. Ich möchte einige persönliche Auffassungen wiedergeben. Ich glaube, daß wir gut beraten sind, schon zu einem frühen Zeitpunkt keine doppelzüngigen Einlassungen zuzulassen.
Bei der Arzneimittelsicherheit haben wir in dem vergangenen Jahr schon viel erreicht. Ich bedanke mich noch einmal bei Ihnen für die 5. AMG-Novelle und erinnere an den Maßnahmenkatalog, den eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe im Frühjahr letzten Jahres bereits erstellt hat.
Ich nenne ferner beispielhaft: die Einführung der staatlichen Chargenprüfung für Blutzubereitungen durch Verordnung; die Anordnung der Quarantänelagerung für nicht inaktivierte, aber lagerfähige Blutzubereitungen; die Überprüfung des Therapiestandards und der Indikationsstellung bei der Verwendung von Blut und Blutprodukten durch die Bundesärztekammer, die zu einem massiven Rückgang des Blutverbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland geführt hat.
Ein Schwerpunkt der weiteren Maßnahmen wird die Sicherstellung der Eigenversorgung mit Blutprodukten sein. Bei Frischblut haben wir die Eigenversorgung erreicht, im Bereich der Blutplasmaprodukte aber noch nicht. Deshalb habe ich ein Modellprogramm zum Aufbau von Plasmapheresestationen aufgelegt. Damit wird nun endlich die Lösung eines Problems vorangetrieben, das bereits seit 20 Jahren - Herr Schmidbauer, Sie haben recht - diskutiert wird. Jetzt sind alle Beteiligten - auch die Länder und die Blutspendedienste, die eigentlich dafür zuständig sind - aufgerufen, möglichst bald eine ausreichende Zahl von Einrichtungen in der Plasmapherese aufzubauen.
Die vielfältigen Maßnahmen zur Selbstversorgung werden in einem nationalen Programm zusammengefaßt. Ich bleibe bei dem politischen Ziel, daß wir bis spätestens Ende dieses Jahrhunderts die vollständige Eigenversorgung in der Bundesrepublik Deutschland erreichen sollten.
Wir müssen auch aus den Entscheidungsabläufen in den 70er und 80er Jahren lernen. Wir brauchen mutige Entscheidungen der zuständigen Mitarbeiter. Dafür brauchen wir sachgerechte Entscheidungsstrukturen in den Behörden.
Die Auflösung des Bundesgesundheitsamtes und die Einrichtung selbständiger Bundesinstitute waren der erste notwendige Schritt. Dabei können wir aber nicht stehenbleiben. Meine Damen und Herren, ich bitte auch Sie, mich zu unterstützen. Wir müssen kürzere Entscheidungswege und ein strafferes Ver790
waltungsverfahren in den jetzt neu eingerichteten Bundesinstituten durchsetzen.
({7})
Deshalb werden wir auch dabeibleiben, die Binnenstruktur der Bundesinstitute ständig zu überprüfen und zu ändern.
Weiterhin ist nicht hinnehmbar, wenn notwendige Sicherheitsentscheidungen durch Mißbrauch von Rechtsbehelfen hinausgezögert werden - ein großes Problem bei der Arzneimittelsicherheit.
Diese Maßnahmen beseitigen aber nicht das Dilemma der Arzneimittelzulassung, daß nämlich die Abwägung zwischen Nutzen und Risiko auch in Konflikt mit den Erwartungen und Hoffnungen von Patienten geraten kann. Dennoch bin ich der Meinung, daß vor solchen Patienteninteressen wie auch vor den Interessen der Wirtschaft und der Wirtschaftlichkeit die Arzneimittelsicherheit Vorrang haben muß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt an dieser Stelle anmerken: Vieles, was in den 80er Jahren geschehen ist, ist auch darauf zurückzuführen, daß aus der Novellierung des Arzneimittelrechts Mitte der 70er Jahre - nach der Contergan-Katastrophe - keine oder nur unzureichende Konsequenzen gezogen wurden.
({8})
Das lag daran, daß zwischen der Katastrophe und der rechtlichen Konsequenz daraus eine zu lange Zeit lag.
Meine Damen und Herren, wir laufen auch im Moment Gefahr, Fehler zu machen. Deshalb steht jeder einzelne, auch hier im Parlament, in der Pflicht, immer wieder zu überprüfen, ob die eigenen Positionen, die oft mit Betroffenheit geäußert werden, diesen genannten Grundsätzen der Verantwortung gerecht werden. Es genügt nicht, meine Damen und Herren - und ich sage dies aus gutem Grunde -, sich zwar rhetorisch zu bekennen, aber politisch die Betroffenen mit ihrem Schicksal alleine zu lassen.
({9})
Das gilt auch für Änderungen des Arzneimittelrechts bis hin zum Haftungsrecht. Meine Damen und Herren, hier sind die entscheidenden Fehler vor über 20 Jahren gemacht worden, weil durch entsprechenden Zeitablauf die Betroffenheit nicht mehr in dem Maße - zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung -vorhanden war. Deshalb bleibe ich dabei: Wir müssen auch die Konsequenzen aus dem Arzneimittelhaftungsrecht ziehen. Es ist eine unwürdige Situation, die heute gegeben ist, daß zwar ein Haftungsrecht besteht, aber viele Geschädigte über dieses Haftungsrecht keine Befriedigung und keine Genugtuung erreichen können, meine Damen und Herren, weil sie vorher versterben. Deshalb müssen wir aus dieser HIV-Katastrophe bei Blut und Blutprodukten Konsequenzen ziehen. Die 5. AMG-Novelle, die bereits verabschiedet worden ist, ist dafür noch nicht ausreichend.
Ich habe bereits angekündigt, daß wir beim Arzneimittelhaftungsrecht handeln müssen. Innerhalb der Bundesregierung haben wir eine interministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt, die derzeit dabei ist, die offenen Fragen zu klären. Ich will sie, weil mir das so wichtig ist, hier noch einmal stichpunktartig nennen: Es geht zum ersten um die Erleichterung des Beweises im Bereich der Produkthaftung. Der strenge, oft unerfüllbare Nachweis der Kausalität durch den Geschädigten darf nicht bestehenbleiben. Zum zweiten geht es um die Einrichtung eines Entschädigungsfonds zur Entschädigung in solchen Fällen, in denen die Ursache des Schadens bei Gabe mehrerer Produkte nicht nachgewiesen werden kann.
Und schließlich, meine Damen und Herren, müssen wir an die Verankerung des Schmerzensgeldanspruches im Rahmen der Arzneimittelgefährdungshaftung ernsthaft herangehen. Ich weiß, wie schwierig das ist und welche Folgewirkungen das für die anderen Rechtsbereiche hat. Aber dieser Deutsche Bundestag und die Bundesregierung müssen ernsthaft bereit sein, diese Dinge zu prüfen und, wenn immer möglich, ins Arzneimittelrecht zu implantieren.
({10})
- Ich sage das aus gutem Grunde so vorsichtig. Denn dies wird ungeheuer schwierig, und wer den Rednern heute zugehört hat, weiß, warum es ungeheuer schwierig wird.
Ich erwarte, daß die interministerielle Arbeitsgruppe in den nächsten Wochen die offenen Fragen geklärt haben wird. Wir werden, sobald die Ergebnisse vorliegen, Vorschläge zur Änderung des Arzneimittelhaftungsrechtes machen.
Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich dem Untersuchungsausschuß und seinen Mitarbeitern, die an der Aufarbeitung dieses schwierigen und sensiblen Themas mitgearbeitet haben, herzlich danken, insbesondere, ohne deshalb irgend jemanden hintanzustellen, dem Vorsitzenden Gerhard Scheu. Gerade bei diesen Fragen kam es entscheidend auf einen kreativen und innovativen Vorsitzenden an.
({11})
Ich weiß, daß das Engagement bei vielen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses oft bis zur Grenze des physisch und psychisch Leistbaren ging. Ich denke, man kann ohne Übertreibung sagen: Sie haben in einer Ausnahmesituation eine hervorragende Arbeit geleistet. Für die Betroffenen war es sicher eine Genugtuung, daß in diesem Untersuchungsausschuß die Suche nach der Wahrheit vor der parteipolitischen Profilierung stand. Ich bedanke mich dafür.
({12})
Das Wort wird nicht weiter gewünscht. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P., Drucksache 13/229. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei zwei Enthaltungen einstimmig angenommen.
Damit ist die zweite Beschlußempfehlung und der Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit überwiesen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage außerdem dem Rechtsausschuß und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der SPD, Drucksache 13/244, zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 und Zusatzpunkt 9 auf:
11. Beratung des Schlußberichts der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" zum Thema Mehr Zukunft für die Erde - Nachhaltige Energiepolitik für dauerhaften Klimaschutz - Drucksache 12/8600 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
ZP9 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Klimaschutz - Erste Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention vom 28. März bis 7. April 1995 sowie Umsetzung des
nationalen CO2-Minderungsprogramms - Drucksache 13/232 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuß
Zum Schlußbericht der Enquete-Kommission liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist der Kollege Dr. Lippold, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind mit der Arbeit der Enquete-Kommission nach ausgesprochen intensiver Arbeit, nach weit über 100 Arbeitssitzungen, Anhörungen von Sachverständigen, Einbeziehung von Sachverständigen, Veranstaltung von Anhörungen auf der Basis wissenschaftlicher Vorlagen, zu einem Abschluß gekommen. Ich glaube, wir haben eine fundierte Arbeit vorlegen können.
Mein primäres Anliegen ist deshalb heute zunächst einmal, allen Mitgliedern der Kommission für diesen ungeheuren Arbeitseinsatz zu danken, insbesondere auch den Mitarbeitern der Enquete-Kommission, die eine unermüdliche Arbeit geleistet haben. Ich glaube, das kann ein Außenstehender kaum ermessen.
({0})
Lassen Sie mich, meine sehr geehrten Damen und Herren, kurz resümierend vorweg einiges festhalten. Der erste Sachverhalt ist: Die Arbeiten der EnqueteKommission haben bestätigt, daß der wissenschaftliche Sachstand zur Klimaproblematik, zur Treibhauskatastrophe so gesichert ist, daß deutlich wird, daß dringender Handlungsbedarf besteht und weiterer Aufschub nicht möglich ist.
({1})
Dies richtet sich an die nationale Ebene, dies richtet sich an die europäische Ebene, dies richtet sich an die internationale Ebene. Ich will einmal ganz deutlich machen: Nur auf der Ebene der Bundesrepublik zu handeln wäre kein Beitrag zur Problemlösung. Wir brauchen den Fortschritt beim globalen Handeln in der Klimaproblematik und bei der Energieeinsparung.
({2})
Das heißt, daß wir hier den Zusammenhalt sowohl der Staaten der nördlichen Hemisphäre als auch der Staaten der südlichen Hemisphäre brauchen. Wir können nicht nur auf die Staaten des Nordens abstellen, sondern wir müssen - mit differenzierter Verantwortung - auch die Staaten der südlichen Hemisphäre mit einbeziehen, weil es anders nicht geht. Wer diese Verklammerung außer acht läßt, wird die Problemlösung nicht erreichen.
Lassen Sie mich ein Zweites sagen: Wir haben auf der deutschen Ebene Ansätze, die international ihresgleichen suchen. Dies ist der Ausgangspunkt für die weitere Arbeit, für die die Koalitionsfraktionen wie die Bundesregierung zusagen werden, weiterhin die gleiche Rolle zu spielen wie in der Vergangenheit. Ich halte es für sehr wichtig, noch einmal daran zu erinnern, daß wir im internationalen Vergleich eine ganz deutliche Vorreiterrolle haben.
({3})
Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal sagen, daß es wenig hilfreich ist, wenn führende Politiker dieses Landes heute morgen in Pressekonfe792 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode
Dr. Klaus W. Lippold ({4})
renzen bestimmte Dinge verkündet haben, aber hinterher im Plenum nicht vertreten sind.
({5})
- Sie, ja. Deshalb, Frau Fuchs, will ich auch lobend den Unterschied zwischen Ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden und Ihnen hervorheben,
({6})
der ganz offensichtlich vor dem Bundestag nichts sagen will, aber in einer Pressekonferenz Akzente setzt und kritisiert, statt sich hier selbst der Diskussion zu stellen.
({7})
Wenn er draußen schon kritisiert, dann kann er auch hierhin kommen und kritisieren und sich der Diskussion stellen.
({8})
Es ist, Frau Fuchs, doch ganz einfach:
({9})
Die Auseinandersetzung sollte primär die Auseinandersetzung des Deutschen Bundestages sein. Der hat man sich zu stellen und nicht auszuweichen.
({10})
Ich sage ganz deutlich: Wenn man das parteipolitisch herunterbricht, um für eine kurzfristige Pressemitteilung Gehör zu finden, dann ist das meines Erachtens nicht die ordentliche Art der Behandlung.
({11})
- Sie hat heute morgen keine Pressekonferenz gegeben; sie arbeitet an dem Problem. Es ist wichtig, daß gehandelt und nicht nur geredet wird. Dafür danke ich Frau Merkel, die in der Vorbereitung der Vertragsstaatenkonferenz eine ganz hervorragende Leistung erbringt.
({12})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wilhelm Schmidt ({0})?
Im Moment nicht.
({0})
- Sie wissen doch, daß ich Zwischenfragen grundsätzlich zulasse. Nur im Moment nicht.
Ich will in diesem Zusammenhang auch ganz deutlich sagen, daß der Antrag der Koalitionsfraktionen zur Vertragsstaatenfolgekonferenz vorliegt. Mir wäre lieb, ich hätte diesbezüglich auch einen Antrag von der Sozialdemokratischen Partei und nicht nur diese Presseerklärung, die ich mir heute morgen mühsam besorgen mußte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will deutlich machen, daß wir über die nationale Ebene
hinaus auf der europäischen Ebene handeln müssen. Ich bin nicht sehr glücklich darüber, daß die Zielsetzung der geplanten CO2-/Energiesteuer auf europäischer Ebene in dem Sinne umformuliert wurde, preisliche Anreize in einer Reihe verschiedener Steuern, aber nicht in einer einheitlichen Steuer zusammengefaßt, zu schaffen. Wir aber werden diesen Weg, den die EU jetzt gewiesen hat, nutzen, um in dieser Weise einen Fortschritt erreichen zu können.
Darüber hinaus müssen wir natürlich auf der Vertragsstaatenfolgekonferenz mit den anderen Staaten dieser Erde vor allen Dingen zu Ergebnissen kommen, die deutlich machen, daß innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens konkrete Reduktionsverpflichtungen eingegangen werden. Dies gilt insbesondere für die Staaten der nördlichen Hemisphäre. Über die anderen Probleme - dies muß eingebunden sein - werden wir noch reden müssen. In erster Linie aber geht es um die Reduktionsverpflichtungen der Annex-1-Staaten.
Wir müssen auch den Kontakt zu den anderen großen Blöcken, zu APEC und zu NAFTA, suchen, um mit diesen Staaten ähnlich wie in der EU zu einem Programm zu kommen, das auf Umwelt- und Klimaschutz abstellt. Die EU hat es nach langen Jahren geschafft, der Umweltschutzproblematik einen deutlich höheren Rang einzuräumen, als das noch zu Beginn der Europäischen Gemeinschaft der Fall gewesen ist. Die Entwicklung in der Europäischen Union geht in die richtige Richtung. Wenn ich sage, daß wir uns über die Schnelligkeit andere Vorstellungen machen; wird dies sicherlich die Zustimmung aller Beteiligten finden.
Das, was die EU geleistet hat, muß aber nach meinem Dafürhalten auch in den anderen großen Wirtschaftsblöcken initiiert werden. Obwohl, wie bei der letzten APEC-Konferenz deutlich geworden ist, ausschließlich auf wirtschaftliches Wachstum abgestellt wird - wofür ich vor dem Hintergrund des Lebensstandards in den Ländern der Dritten Welt ausgesprochenes Verständnis habe -, muß dennoch versucht werden, sicherzustellen, daß das Ziel „ökologischer Schutz " auch eine Zielsetzung dieser Staatengemeinschaften wird, so daß wir in der sinnvollen Verbindung von Ökologie und Ökonomie weltweit zu Problemlösungen kommen.
Im Rahmen des kurzen Vorspanns möchte ich zusätzlich darauf hinweisen, daß wir bei allen Anstrengungen in der Bundesrepublik, die ich nicht wiederholen will, insbesondere folgende Akzente setzen müssen.
Erstens: Energieeinsparung im Altbaubestand; ein ganz wesentlicher Punkt. Hier muß nach wie vor ein Energieeinsparförderungsprogramm die Zielsetzung sein, an dem wir arbeiten.
({1})
Zweitens: Reduktion der Verkehrsemissionen. Bei der Reduktion der Verkehrsemissionen ist wichtig, daß insbesondere im Pkw-Bereich Erfolge erzielt werden. Hier müssen die dringend notwendigen Selbstverpflichtungen eingegangen werden. Wir sagen noch einmal ganz deutlich: Das marktwirtschaftDr. Klaus W. Lippold ({2})
liche Instrument der Selbstverpflichtung „Fünfliterauto bis 2005" ist hervorragend. Wenn es nicht erreicht werden würde, würde auch die Unionsfraktion den ordnungsrechtlichen Weg beschreiten wollen. Wie ich sehe, sind die Zeichen für eine solche Selbstverpflichtung günstig. Wenn wir wie auch in vergangenen Zeiten jetzt Selbstverpflichtungen in dieser Form bekommen könnten, dann hätten wir einen ganz entscheidenden Schritt getan.
Ich bin zufrieden, daß wir in der Verkehrspolitik die Rolle der Bahn gestützt haben und auch weiter stützen werden. Erstmals ist ein Haushaltsplan vorgelegt worden, in dem die Ausgaben für die Bahn die Ausgaben für die Straße übersteigen. Ich will dabei deutlich machen, daß auch die Ausgaben für die Straße durchaus CO2-mindernd sein können, nämlich in den Fällen, in denen es um die Beseitigung von Engpässen geht und Stauemissionen zurückgeführt werden können. Einseitige Betrachtungen bieten sich auch in diesem Zusammenhang nicht an.
({3})
- Herr Rochlitz, ich lasse jetzt gerne eine Zwischenfrage zu.
({4})
- Wenn der Präsident mich fragt, würde ich, bevor ich den nächsten Akzent setze, die Frage positiv beantworten.
({5})
Der Präsident ist durch das Zeichen gefragt. Sind Sie bereit?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Lippold, könnten Sie mir einmal erklären, wieso die Frau Ministerin nicht anwesend ist? Sind Sie mit mir der gleichen Meinung, daß ihre Nichtanwesenheit uns letztendlich entweder Desinteresse an diesem Thema oder Mißachtung des Parlaments oder gar Mißachtung der Enquete-Kommission vermittelt?
Ich darf ganz deutlich machen, Herr Rochlitz, daß erstens das Haus bestens vertreten ist und daß sich die Ministerin zweitens gerade in der derzeitigen Situation darum bemüht, zu weiteren Fortschritten beim Klimaschutz zu kommen. Ich glaube, daß das ein ganz hervorragender Ansatz ist. Da ist es manchmal wichtig, wenn sie die Dinge selbst in die Hand nimmt. Ich halte das für richtig. Insofern, Herr Rochlitz, sollten Sie ein solches positives Tun gemeinsam mit mir stützen. Meine Kritik zielte darauf ab, daß andere Zeit für Pressekonferenzen, aber nicht für die Sitzungen im
Parlament haben. Auf diesen Unterschied lege ich Wert.
({0})
Herr Kollege Rochlitz will eine weitere Frage stellen. Sind Sie bereit, auch die zu beantworten?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Lippold, können Sie uns erläutern, welche weiteren Fortschritte das sein sollen, an denen Frau Merkel im Moment arbeitet? Es wäre für uns wirklich hochinteressant, das zu wissen.
({0})
Sie arbeitet daran, die Vorbereitungen für die internationale Konferenz weiter voranzutreiben, denn die Termine sind dringlich. Sie hat sich seit geraumer Zeit vorgenommen, Ihrem Programm den letzten Schliff zu geben.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der internationale Aspekt muß in einem solchen Programm genauso berücksichtigt werden. Es ist wichtig, daß wir das Konzept der „joint implementation" oder des gemeinsamen Handelns verfolgen und daß, auch wenn bislang keine konkreten weltweiten Vereinbarungen vorliegen, die Bundesregierung in bilateralen Gesprächen und Verhandlungen Partner findet, mit denen wir über die gemeinschaftliche Verringerung von Emissionen reden können. Diese gemeinschaftliche Verringerung von Emissionen ist ein weiterer Faktor, um zur Problemlösung beizutragen.
Lassen Sie mich darüber hinaus aber eines sagen. Ihre Kritik zielt immer darauf, es sei zuwenig getan worden. Den gewaltigsten Beitrag zur Spurengasreduktion im Klimabereich hat diese Bundesregierung durch den blitzartigen Ausstieg aus der FCKW- Produktion erbracht. Er ist durch diese Bundesregierung herbeigeführt worden.
({1})
Allein durch diesen Schritt, Herr Rochlitz, sind weltweit 10 % der FCKW-Emissionen reduziert worden. Das ist ein ganz ungeheurer Anteil. Wenn alle anderen Staaten vergleichbar viel erbracht hätten, dann wären wir bei der Lösung der Klimaschutzproblematik erheblich weiter.
({2})
Wärmeschutzverordnung, Heizungsanlagenverordnung, die Fülle der Maßnahmen, die wir zur Reduzierung der Emissionen und insbesondere zur Energieeinsparung in den neuen Bundesländern getroffen haben - Maßnahmen, die jetzt greifen; es sind ja nachhaltige Maßnahmen, die wir auch einmal zur Kenntnis nehmen müssen -, die Neuorientierung
Dr. Klaus W. Lippold ({3})
der Energieversorgung in den neuen Bundesländern und gleichzeitig eine Neukonzeption der Energiepolitik im westlichen Landesteil - das alles sind Ansatzpunkte, von denen ich meine, daß sie sich durchaus sehen lassen können. Wenn wir sie um die Punkte erweitern, zu denen ich gerade gesprochen habe, ist das sicherlich ein Ansatz, mit dem man sich in der Welt sehen lassen kann.
Bezüglich der Vertragsstaatenfolgekonferenz bin ich schließlich noch der Meinung, daß bedacht werden muß, die Beteiligung auch der Parlamentarier an der Vertragsstaatenfolgekonferenz in einer sinnvollen Art und Weise vorzusehen. Bislang reden alle nur von Regierung und Nichtregierungsorganisationen. Ich finde, dieses Haus sollte deutlich machen, daß es seine aktive - ich will sagen: seine führende - Rolle in dieser Frage auch in Zukunft spielen und sich deshalb an dieser Konferenz beteiligt sehen will.
({4})
Auch hier gibt es Initiativen. Ich meine, daß dies ein guter Ansatzpunkt ist.
Im übrigen würde ich mich freuen, wenn wir uns mit Blick auf die Vertragsstaatenfolgekonferenz - wir können unseren Antrag, der vorliegt, nehmen; wir können Ihre Anträge einbeziehen - auf eine gemeinsame Stoßrichtung einigen könnten, weil dies die Chancen sicherlich verbessern würde, deutlich zu machen, wie ernst dieses Land es meint, so daß man auch andere finden kann, die in dieser Frage mitziehen; denn wir benötigen deren Mitziehen, um zur Problemlösung zu gelangen.
Darüber hinaus muß Erhebliches geleistet werden zum Schutz der Wälder - auch dies ist eine Klimaproblematik -, nicht nur zum Schutz der tropischen Regenwälder, sondern auch zum Schutz der Wälder der nördlichen Hemisphäre. Auch hierzu hat die Enquete-Kommission entsprechende Vorschläge unterbreitet.
Auch im Bereich der Landwirtschaft muß es zu weiteren Emissionsreduktionen kommen. Wir brauchen, auf die Welt als Ganze bezogen, Fortschritte in der Agroforstwirtschaft, die uns eine Reihe von Emissionsminderungen bei gleichzeitiger Verbesserung der Welternährungslage ermöglichen.
Dies alles sind Punkte, von denen ich meine, daß sie über alle Parteigrenzen hinweg genügend Ansätze für ein gemeinschaftliches Handeln geben. Die Vertragsstaatenfolgekonferenz in Berlin ist eine Chance. Wir wollen sie mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen nutzen. Ich lade alle ein, sich daran zu beteiligen.
({5})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Will jemand eine Frage stellen?
({0})
Nein.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir alle in diesem Haus sind gemeinsam der Auffassung, daß die zuständigen Ministerinnen und Minister im Plenum vertreten sein sollten, wenn Themen, die in ihr Ressort fallen, abgehandelt werden. Frau Ministerin Merkel hat im Moment in der Tat, wie dem Präsidium mitgeteilt wurde, einen wichtigen, die Klimapolitik betreffenden Termin, wird aber, sobald dieser Termin beendet ist, noch zu dieser Debatte kommen. Das wollte ich nur zur Erklärung mitteilen.
Ich erteile jetzt als nächster der Kollegin Monika Ganseforth das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich freue mich sehr, daß sich unser Fraktionsvorsitzender hinter die Klimaschutzpolitik stellt und daß wir als Ergebnis unserer Diskussionen einen Antrag für ein Klimaschutzprogramm vorgelegt haben, der heute morgen der Presse vorgestellt worden ist. Wir diskutieren aber jetzt hier den Schlußbericht der Enquete-Kommission. Die Fraktionsführung ist durch Anke Fuchs und andere Kolleginnen und Kollegen hervorragend vertreten. Ich freue mich darüber.
({0})
Bedauerlich finde ich, daß die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag in bezug auf das Thema, das wir heute diskutieren, nichts vorgesehen hat.
({1})
Es kommt nämlich darauf an, was konkret aus dem gemacht wird, was die Enquete-Kommission vorgelegt hat. Wir sind also in der Vorhand und hoffen auf eine Zusammenarbeit dabei.
({2})
Wir haben in unserer Gesellschaft lange Zeit geglaubt, daß menschliches Handeln begrenzt ist durch die Erschöpfung der Rohstoffe, z. B. der Metalle, von Kohle, Öl, Gas, Uran usw. Wir haben aber festgestellt, daß das nicht der Engpaß unseres Handelns ist, sondern daß der Deponieraum begrenzt ist, daß also das Ende der Kette Schwierigkeiten macht oder, wie wir es genannt haben, die Senken begrenzt sind. Wir können nicht beliebig verschmutztes und vergiftetes Abwasser in die Flüsse, in die Seen und in die Meere leiten; wir können nicht alle Bergwerke und alle Vertiefungen unseres Planeten mit Abfall ausfüllen. Wir ersticken an der Abfallawine.
Auch bei der Atomenergie zeigt sich, daß nicht nur die Gefährlichkeit ihrer Nutzung ein Problem ist, sondern daß infolge des Endlagerproblems die Nutzung beendet werden muß, weil es weltweit keine Endlagerstätte für den strahlenden Müll gibt.
Aber die größten Probleme bereitet, daß wir seit Jahrzehnten die Atmosphäre als Müllkippe verwendet haben, daß wir Abgase, Treibhausgase, Gifte in die Atmosphäre entlassen und daß diese sich dort anreichern.
In der Enquete-Kommission des 11. Bundestages „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" und der des 12. Bundestages „Schutz der Erdatmosphäre" haben wir uns mit der Verschmutzung der AtmoMonika Ganseforth
sphäre beschäftigt und haben ermittelt, welches die Ursachen sind, welche Auswirkungen das haben wird, welche Gegenmaßnahmen nötig sind und schließlich welche Gegenmaßnahmen zu ergreifen sind. Am Anfang lief das noch sehr einvernehmlich; gegen Ende, als es um die konkreten Maßnahmen ging, wurde es schwieriger.
Ergebnis dieser gesamten Arbeit ist, daß wir uns mit einem sehr großen Risiko konfrontiert sehen. Die wissenschaftlichen Ergebnisse haben erhärtet: Wir haben in das Ökosystem und in das Klimasystem erheblich eingegriffen. Je mehr wir um diese Dramatik wissen und je mehr wir wissen, daß gegengehandelt werden muß, desto deutlicher zeigte sich auch, wo die Schwierigkeiten liegen. Es gibt dafür mehrere Gründe. Einer ist, daß die Treibhausgase eine sehr lange Lebensdauer haben. Sie reicht von etwa zehn Jahren bei Methan bis zu 200 Jahren beim Distickstoffoxid. Das heißt, was wir heute machen oder unterlassen, trifft mit voller Wucht erst die nachfolgenden Generationen.
({3})
Eine Politik, die auf kurzfristige Erfolge aus ist, wie es die Politik dieser Regierung ist, kann diesen Problemen nicht gerecht werden. Wir müssen heute in Verantwortung für die kommenden Generationen handeln.
({4})
Die zweite Schwierigkeit ist die, daß es sich um globale Probleme handelt, d. h. daß die Emissionsquelle und die Auswirkungen auseinanderfallen. Herr Lippold hat in seiner Rede aufgezeigt, wozu das führt, nämlich daß jeder sagt: Wenn nur wir es machen, nützt es nichts; es müssen alle machen. Mit dieser Argumentation schlagen wir uns nun schon seit Jahren herum, und keiner fängt wirklich an.
({5})
Ich kenne kaum ein Gebiet, wo die Leute so höflich sind. Jeder sagt: Nach Ihnen, gehen Sie voran.
({6}) Auch in Ihrem Antrag steht heute wieder:
schrittweise Internalisierung der externen Effekte der Energieversorgung und dabei die Einführung einer mindestens EU-weiten und aufkommensneutralen CO2-/Energiesteuer.
Was soll „mindestens EU-weiten" heißen? Das heißt doch: weiterhin auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, es sei denn, wir fangen an und tun uns mit einigen fortschrittlichen Ländern zusammen, anstatt sie im Gegenteil zurückzupfeifen - wie es passiert ist -, um auch den letzten noch mitzunehmen.
Das dritte Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist, daß nicht alle Facetten dieser Problematik bekannt sind. Es gibt immer wieder Interessenten, die sich hinter dem noch bestehenden Forschungsbedarf verstecken. Es ist richtig, wir wissen nicht, wie die Auswirkungen in allen geographischen Bereichen
sein werden, und wir wissen nicht bis zum letzten, wie sich z. B. Wolken und Aerosole auf die Klimaveränderungen auswirken. Aber wir wissen genug, um sagen zu können: Wir haben in unser Klimasystem, in dieses empfindliche System, massiv eingegriffen, und wir müssen handeln, auch wenn wir nicht das letzte wissen. Die Hoffnung, daß man selber, daß unser Land auf der Gewinnerseite sein könnte, ist politisch sträflich und riskant. Es darf kein Land, keine Industrie und kein Ressort als Ausrede anführen, daß es noch Forschungsbedarf gibt und noch nicht alles bekannt ist.
({7})
Schließlich haben wir ein großes Risiko - das ist meiner Meinung nach das größte -: Ökosysteme reagieren auf Belastungen nicht linear. Sie können bis zu einem gewissen Grad Belastungen und Streß ausgleichen, und dann brechen sie zusammen und kippen um. Wir haben das beim Waldsterben erlebt. Das ist auch die Ursache bei dem plötzlichen Ozonabbau, der jetzt erstmals aufgetreten ist und jährlich in zunehmender Größe über der Antarktis zu beobachten ist. Wir wissen nicht, was bei dem sensiblen und komplizierten Klimasystem passiert, welche Auswirkungen das z. B. auf den Golfstrom hat und welche plötzlichen Änderungen und Risiken zu erwarten sind.
Es ist völlig klar: Wir müssen die Anreicherung von Treibhausgasen zurückdrängen und begrenzen. Das betrifft ganz besonders die Industrieländer. Wir stellen zwar nur ein Viertel der Bevölkerung, aber sind für 80 % der Emissionen und der Übernutzung verantwortlich. Also müssen wir handeln. Wir müssen auch handeln, weil wir das Geld und das Know-how haben und die Entwicklungsländer nicht.
({8})
Viele sagen: Die Bevölkerungsentwicklung in den Ländern der Dritten Welt ist ein Problem. Aber dieses Argument lenkt von der eigentlichen Problematik ab. Beides gehört zusammen: Unsere Übernutzung der Rohstoffe muß zurückgedrängt werden, und die Bevölkerungsentwicklung muß eingedämmt werden. Jeder muß bei sich anfangen.
Wenn wir heute nach siebenjähriger Arbeit der Enquetekommission Bilanz ziehen, dann können wir feststellen: Wir haben Erfolge und Mißerfolge zu verzeichnen. Die Erfolge waren immer da am größten, wo wir uns entgegengekommen sind und wo es uns gelungen ist, Kompromisse zu schließen und gemeinsam etwas vorzuschlagen.
Herr Lippold hat den FCKW-Ausstieg angesprochen. Der Bericht zu den ozonabbauenden Stoffen ist nach mühsamen Kompromissen einstimmig von allen Seiten des Hauses verabschiedet worden. Das ist meiner Meinung nach die Ursache dafür, daß es gelungen ist, den Ausstieg sowohl im Hinblick auf die Produktion als auch die Anwendung durchzusetzen. Dies ist nicht allein ein Erfolg der Regierung; in der Öffentlichkeit war deutlich: Das Parlament will einstimmig und geschlossen aus der Produktion dieser
Stoffe heraus. Das ist meiner Meinung nach der Grund für den Erfolg.
({9})
Ich hoffe, daß wir einen ähnlichen Erfolg auch im Bereich Landwirtschaft und Wälder haben. Auch der Bericht auf diesem Gebiet ist einstimmig mit weitreichenden Empfehlungen und Maßnahmen verabschiedet worden. Die Umsetzung steht noch aus.
Große Auseinandersetzungen haben wir beim Verkehrsbereich gehabt. Wir haben zwar in unserem Bericht umfängliche Untersuchungen über Mobilität, Verkehrsentstehung, mögliche Gegenmaßnahmen zur Vermeidung, Verkehrsverlagerung, zur besseren Abwicklung und Technik des Verkehrs aufgelistet, die Handlungsempfehlungen gehen jedoch weit auseinander. Das ist bei diesem schwierigen Thema bedauerlich. Was hätte es für ein Gewicht, wenn aus Klimasicht im Verkehrsbereich einstimmige Empfehlungen gegeben worden wären? Ich meine, das war der Auftrag des Bundestages an die Enquete-Kommission.
({10})
Ich hatte allerdings den Eindruck, daß es einen unausgesprochenen und nicht offenliegenden Auftrag an die Koalitionsseite und an den Vorsitzenden sowohl im Verkehrsbereich als auch im Energiebereich gab, nämlich möglichst zu verhindern, daß Empfehlungen gemacht werden, die über das WeiterSo der Regierung und das Regierungshandeln hinausgehen.
({11})
Daran gemessen sind die beiden Berichte erfolgreich gewesen. Am Auftrag der Enquete-Kommission und am Umfang des Themas, meine ich, wäre viel zu bemängeln. Der Schlußbericht, den wir heute debattieren, geht auf zehn Anhörungen und eine Vielzahl vertiefender Studien zur Energiepolitik zurück. Er bietet alle Ansätze, um bei einer entsprechenden Politik die Energiewende endlich einzuleiten. Er listet die bisher bekannten Energiewandlungs- und Nutzungsformen auf und stellt die umfänglichen Potentiale für eine effiziente und rationelle Energienutzung vom Kraftwerk bis zum Haushaltsgerät dar.
Wir haben erfahren, daß der Energienutzungsgrad weltweit und auch bei uns nur zwischen 10 und 20 liegt. Das heißt, daß 80 bis 90 % der eingesetzten Primärenergie verlorengeht. Es wäre eine hervorragende Aufgabe für Wissenschaft und Technik, diese Potentiale zu nutzen und zu einer rationelleren Energienutzung zu kommen, um Energieverschwendung und ineffiziente Verwendung der Energie zu vermeiden. Wir sollten nicht darüber diskutieren: „Was müssen wir am Anfang hineingeben?", sondern wir sollten fragen: Wie kommen wir am Ende zu der besten Dienstleistung?
({12})
Darüber haben wir in dem Bericht viel gesagt. Wir haben viel über den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien gesagt. Wir haben viel über die Hemmnisse, die einer klimaverträglichen Energiepolitik entgegenstehen, und über Instrumente zu ihrer Überwindung auf nationaler und internationaler Ebene gesagt.
Es ist jedoch nicht gelungen, aus dieser Fundgrube von Materialien konsistente Handlungsempfehlungen zu bündeln. Acht Kapitel tragen wir gemeinsam; das ist die Basis. Wir tragen allerdings nicht gemeinsam - das ist sehr bedauerlich - die Handlungsempfehlungen. Es wäre gerade jetzt, da die Energiekonsensgespräche beginnen, hervorragend gewesen, wenn aus der Sicht des Klimaschutzes heraus sachlich orientiert Empfehlungen gegeben worden wären, die in den Mittelpunkt nicht die Frage nach der Alternative Atomenergie oder Kohle stellen, sondern die Frage nach der Energiewende, nach dem Einstieg in die Solarenergie, nach einer rationellen Energieverwendung.
({13})
Es wäre hervorragend gewesen, wenn wir etwas gesagt hätten zu den Mengengerüsten von Kohle, Öl und Gas, zur Kraft-Wärme-Koppelung und zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Es wäre hervorragend gewesen, wenn es uns gelungen wäre, das hier im Hause einstimmig aus sachlicher Orientierung heraus zu formulieren.
Wir waren schon sehr weit in bezug auf diese Punkte, aber zum Schluß hat die Koalition der Mut verlassen. Wegen der Widersprüche in den eigenen Reihen haben Sie von der Koalition nicht die Kraft zum Kompromiß gehabt.
Die Handlungsempfehlungen in Kapitel 9 enthalten die Empfehlungen der Koalition. Darüber hinaus gibt es in Kapitel 10 überarbeitete Handlungsempfehlungen, in die eingearbeitet ist, inwieweit wir uns schon entgegengekommen waren. Sie machen die Kompromißlinie deutlich. Es wäre besser gewesen, man hätte das in stärkerem Ausmaß zusammengefaßt.
Natürlich gibt es auch gravierende Unterschiede. Dabei will ich nicht nur die Atomenergie ansprechen. Wir bezweifeln, daß Ihre Ansicht richtig ist, daß allein oder zumindest in erster Linie die Marktkräfte den Klimaschutz voranbringen. Wir glauben, daß das nicht ausreicht, sondern daß zusätzlich das Ordnungsrecht und Gebote eine Rolle spielen müssen. Oder man müßte mit den Energiepreisen in einem Ausmaß zugreifen, das für die Bürger und Bürgerinnen sowie für die Wirtschaft nicht tragbar wäre. Wir plädieren für einen Politikmix und nicht für die alleinige Berücksichtigung der Marktkräfte.
({14})
Wir glauben auch nicht, daß man die Klimakatastrophe als externen Effekt verharmlosend in einer ansonsten an der Marktwirtschaft orientierten Energiepolitik in den Griff bekommen kann. Das ist nur eine Oberflächendiagnose, welche die notwendige tiefgreifende Therapie verhindert. Wir brauchen den zielgruppen- und sektorspezifischen Abbau von Hemmnissen, die enorm sind. Es gibt enorme wirtMonika Ganseforth
schaftliche Hemmnisse. Sie haben in dieser Beziehung wenig getan.
Es wäre so dringend gewesen, die Wärmenutzungsverordnung zu verabschieden. Das haben Sie hier im Plenum selbst so oft gesagt. Wann kommt sie endlich?
({15})
30 % des CO2-Potentials könnten damit bewegt werden. Wir brauchen wieder das Primat der Politik und nicht die Trippelschritte, die Sie hier erwähnt haben. Die Wärmeschutzverordnung bewirkt ja nur bei Neubauten etwas, hat aber keine Auswirkungen auf den vorhandenen Gebäudebestand. Da nützt es auch nichts, wenn Sie in Ihrem Antrag formulieren, es müsse im Hinblick auf den Gebäudebestand etwas getan werden. Dazu muß man Geld in die Hand nehmen; anders wird das nichts. Davon habe ich bei Ihnen nichts gesehen.
Lassen Sie mich zum Schluß - ich hätte noch mehr zu sagen, aber es kommen ja auch noch andere Redner und Rednerinnen; was man in vier Jahren erarbeitet hat, kann man nicht in zehn oder 15 Minuten ausführen - allen danken, die an dieser umfangreichen Arbeit mitgewirkt haben, allen voran den wissenschaftlichen und sonstigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Kommissionsbüro, die mit Engagement und über das normale Maß hinaus belastet gearbeitet haben.
Ich danke aber auch den Wissenschaftlern, die - der eine mehr, der andere weniger - ihr Wissen und ihr Engagement mit eingebracht haben. Ich glaube, sie haben auch das eine oder andere gelernt, und sie haben sich zum Teil auch bewegt. Ich danke ebenso den Kollegen und Kolleginnen
Wir haben, glaube ich, ein gutes Werk vorgelegt, jedenfalls was die Analyse anlangt. Alles liegt auf dem Tisch, wir wissen nun alles. Jetzt kommt es darauf an, dies umzusetzen.
Schönen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg: Wir bitten zusätzlich um die Überweisung an den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus, weil unserer Meinung nach die Arbeit dieses Ausschusses mit dem hier behandelten Thema im Zusammenhang steht.
Heute beschäftigen wir uns also wieder einmal mit dem, was getan werden müßte. Aber ich gestehe: Mir fehlt der rechte Glaube an diese Bundesregierung, daß den eindrücklichen Mahnungen der EnqueteKommission wirklich Taten folgen.
Der Bericht der Enquete-Kommission formuliert sehr vorsichtig, weil parteiübergreifend:
Angesichts der tiefen Rezession in der Bundesrepublik Deutschland verlor der Klimaschutz an politischer Priorität, so daß auf Bundesebene nicht alle im Regierungsprogramm angekündigten Klimaschutzmaßnahmen realisiert wurden.
Die Enquete-Kommission war aus meiner Sicht eine erfolgreiche Kommission, aber in den letzten vier Jahren hatte sie vor allem Alibifunktion. Das ist die Schuld der Bundesregierung.
({0})
Das unentwegte Gerede über das, was eigentlich passieren müßte, ohne daß wirklich etwas geschieht, stumpft ab. Wenn die Menschen in Zukunft auf die heutige Zeit zurückblicken, werden sie uns daran messen, was getan wurde, und nicht daran, ob Freitag mittag vor leeren Bänken zum x-ten Mal das gesagt wird, was eigentlich getan werden müßte.
({1})
Seit langem kennen die Menschen in diesem Lande die Gefahren des Treibhauseffekts. Doch ihre Bereitschaft, etwas dagegen zu tun, wird durch die permanente Erfahrung, daß es sich nicht in politisches Handeln der Verantwortlichen umsetzt, entmutigt. Ihr Wissen erschlägt sie, wenn es nicht in produktive Energie umgewandelt wird.
Um damit fertig zu werden, bleibt nur die Verdrängung. Das schlechte Gewissen lebt weiter und zerstört die Moral dieser Gesellschaft.
Es müßte in uns brennen, diese große Herausforderung anzunehmen. Dann könnten wir auch diejenigen, die zögern, überzeugen und mitreißen.
Herr Kohl als Bundeskanzler, Frau Merkel und Herr Rexrodt als Minister bzw. Ministerin haben, als sie vereidigt wurden, u. a. folgende Worte geschworen:
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden ... und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.
Sie haben nicht geschworen, daß sie nur die Interessen der CDU/CSU und der F.D.P. vertreten werden. Die Bundesregierung soll dem ganzen Volke dienen. Das ist die Kernaussage, an die ich diese Regierung anscheinend erinnern muß.
({2})
Es wäre in der Tat Zeit für einen Energiekonsens, für einen Konsens, der die Bereitschaft aller mobilisiert, die große Herausforderung des Klimaschutzes anzunehmen. Wenn wir das Ziel, 25 bis 30 % der CO2-Emission zu reduzieren, bis zum Jahre 2005 noch erreichen wollen, müssen jetzt die gesellschaftlichen Kräfte gebündelt werden. Zehn Jahre für einen solchen Umbruch sind für eine Industriegesellschaft dieser Größenordnung nicht viel.
Aber nein, die Chance zu einem Energiekonsens zu kommen, wird leichtfertig verspielt. Die Energieversorgungsunternehmen haben wiederholt erklärt, daß sie nur noch in Atomkraft investieren, wenn breite
gesellschaftliche Unterstützung vorhanden ist. Sie ist es nicht. Das ist die Basis für die Einigung.
({3})
- Ja, die Mehrheiten in der Bevölkerung sind, trotz aller Kampagnen der Atomlobby, eindeutig für den Atomausstieg.
({4})
Die Gewerkschaften sind eindeutig dafür, die Umweltverbände sind eindeutig dafür, die Energieversorgungsunternehmen sind inzwischen zumindest nicht dagegen.
({5})
Ich kenne wirklich niemanden außer der Bundesregierung, der noch für Atomkraft ist.
({6})
Die Bundesregierung zerschlägt diese Chance leichtfertig. Warum - da kann ich nur spekulieren. Denn das ist vernünftigen Sachüberlegungen nicht mehr zugänglich. Vielleicht empfinden Sie den Atomausstieg als persönliche politische Niederlage. Das liegt dann aber an Ihnen, weil Sie sich immer wieder für Sachen aus dem Fenster hängen, die gar keiner mehr will.
Wenn Frau Merkel meint, daß ein Atomausstieg aus Gründen des Klimaschutzes nicht zu verantworten sei, dann sei ihr gesagt: Wir sind hier nicht in Troja. Das Pferd, das Sie uns unterjubeln wollen, ist ein alter Klappergaul. Die Pest ist keine überzeugende Alternative zur Cholera.
Unsere Forderung lautet: Sofortausstieg. Wir sind der festen Überzeugung, daß er notwendig und auch machbar ist. Viele von uns kämpfen seit 20 Jahren gegen die Atomkraft. Ein Ausstieg gehört deshalb zu unserem politischen Lebenswerk. Das ist mit uns nicht verhandelbar.
Wir sind bereit, Kompromisse einzugehen, um dem Ziel wenigstens etwas näherzukommen und das Patt in der Gesellschaft in dieser Frage zu überwinden. Selbstverständlich, das füge ich hinzu, könnte eine neue politische Generation z. B. mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat neu über die Frage der Atomkraft entscheiden.
Ich fordere die Bundesregierung auf: Handeln Sie als Regierung und nicht als CDU/CSU und F.D.P.! Es ist im Interesse der gesamten Gesellschaft, daß wir zu einem Energiekonsens kommen, der auch noch hält, wenn Sie nicht mehr an der Regierung sind.
({7})
Sie stehen allein mit Ihren Parteipositionen, auf Teufel komm raus für die Atomkraft zu kämpfen. Geben Sie endlich Ihre Blockadepolitik auf, und vertreten Sie die Interessen des gesamten Volkes!
({8})
Ich möchte aber auch noch ein warnendes Wort an Herrn Schröder richten. Das Thema ist zu ernst, um es im privaten Machtkampf um die Führung der SPD zu mißbrauchen. Klären Sie Ihren Strauß mit Herrn Scharping auf der Ebene, auf die es gehört, innerhalb Ihrer Partei!
Das Thema ist auch zu ernst, um damit die große Koalition zu puschen. Eine großkoalitionäre Einigung wäre kein tragfähiger und belastbarer Konsens.
Sehr verehrte Damen und Herren, auch die Frage der Kohlesubventionierung bedarf nach dem Urteil des Verfassungsgerichts einer Lösung. Das Thema gehört eigentlich nicht in die Konsensgespräche, da es schon zu verbindlichen Absprachen und Zusagen gekommen ist. Wenn man diese Frage dennoch einbezieht, um das Paket in seiner Gesamtheit zu debattieren, darf es deshalb nicht als Erpressungsmaterial - Atomkraft gegen Kohle - verwendet werden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind für den Ausstieg aus der Kohlesubventionierung innerhalb von 15 Jahren. Wir lehnen es ab, mit staatlichen Geldern eine Branche am Leben zu erhalten, die keine Zukunft hat. Zudem verläuft die Fortsetzung der bisherigen Kohlepolitik den Klimazielen diametral entgegen.
Da man aber aus sozialen Gründen nicht von einem Tag auf den anderen aus der Kohle aussteigen kann, sind wir ausdrücklich dafür, daß die gegebenen Versprechungen auch eingehalten werden. Die Mittel dafür müssen wie andere Subventionen auch aus dem allgemeinen Haushaltstopf kommen. Wer dies nicht unterstützt, stößt die Kumpel in das soziale Abseits.
Wenn nun in der Diskussion ist, für die Finanzierung der Kohle eine Energiesteuer einzuführen, so stimmen wir dem ausdrücklich zu. Die Einführung einer Energiesteuer auch im nationalen Alleingang ist ein Kernstück einer ökologischen Steuerreform. Das war und ist die zentrale Forderung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
({9})
Eine kleine Nebenbemerkung. Für mich ist es doch erstaunlich, wie diejenigen, die bisher lauthals gerufen haben, es ginge nicht im nationalen Alleingang, auf einmal den Weg für die Kohle freimachen. Das ist nur ein weiteres Indiz dafür, daß sie den Klimaschutz nie ernsthaft zu ihrer Angelegenheit gemacht haben.
({10})
Die Einführung einer Energiesteuer würde helfen, die Lücken im Haushalt für die Kohlesubventionierung zu füllen. Zudem könnte eine Summe von ca. 1 Milliarde DM für die Förderung von erneuerbaren Energieträgern sofort bereitgestellt werden. Diese Mittel könnten schrittweise mit dem Abbau der Subventionen für die Kohle aufgestockt werden.
Aber Sinn und Zweck einer Energiesteuer ist nicht die Kohlesubvention.
({11})
Es ist ein anderer, nämlich, den ökologischen Umbau der Gesellschaft zu fördern. Aber hier halte ich es mit Konrad Adenauer:
Wenn ich von jemandem ein Butterbrot haben will und er mir eine Schnitte trockenes Brot bietet, nehme ich die trockene Scheibe; die Butter hole ich mir später.
Meine Damen und Herren, vor uns liegt die Klimakonferenz in Berlin. Der internationale Klimaschutzprozeß stagniert leider. Die Bundesregierung trägt einen großen Teil der Mitverantwortung dafür. Sie haben sich vor den Augen der Welt als Umweltmusterknabe vorgestellt und damit Erwartungen geweckt, die nicht eingelöst wurden. Der anfängliche internationale Enthusiasmus über die Vorreiterrolle ist deshalb der Ernüchterung gewichen. Die Angeberei ohne Konsequenzen demontiert die Dynamik des internationalen Klimaschutzprozesses.
Die bislang erzielten sogenannten Erfolge beim Klimaschutz in der Bundesrepublik sind ausschließlich auf das historische Ereignis der Wiedervereinigung und die ungewollte Deindustrialisierung in Ostdeutschland zurückzuführen.
({12})
Bis heute existiert kein schlüssiges Klimaschutzprogramm mit umsetzbaren Maßnahmen und einer gesicherten Finanzierung, das dem selbst gesetzten Ziel annähernd gerecht würde. Von der Bundesregierung werden außerdem insbesondere in der Wirtschafts-, Energie- und Verkehrspolitik Fakten geschaffen, die nach der Beendigung der Rezession wieder steigende Emissionen erwarten lassen. Dazu gehört u. a. das größte Straßenbauprogramm in der Geschichte der BRD.
Es ist zu erwarten, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung schon sehr bald öffentlich einen Offenbarungseid leisten muß, daß sie das selbst gesteckte Klimaschutzziel nicht erreichen kann. Quasi als Rettungsanker sucht die Regierung statt dessen in ihrem Antrag ihr Heil in der gemeinsamen Umsetzung, der „joint implementation".
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwarten zunächst eine effektive Klimaschutzpolitik im eigenen Land. Ohne konkrete Eigenverpflichtung kommt die „joint implementation" einer Abwälzung der klimapolitischen Verantwortung der Bundesregierung auf die Entwicklungsländer gleich.
({13})
Dabei sind Investitionen und Technologietransfer in die Entwicklungsländer eine wichtige Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit, zu der sich die Industrieländer auf der Rio-Konferenz sowieso verpflichtet haben. Die Verrechnung mit eigenen Emissionsreduzierungen bedeutet jedoch einen für uns nicht hinnehmbaren Ablaßhandel mit den entwicklungspolitischen Leistungen.
({14})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern die Bundesregierung auf: Unterschreiben Sie den Protokollentwurf der kleinen Inselstaaten! Verpflichten Sie Deutschland auch international verbindlich auf eine 20prozentige Reduzierung der CO2-Emissionen! Zeigen Sie
noch vor der Konferenz, daß Sie zu einer ernsthaften Klimaschutzpolitik im Lande endlich bereit sind!
({15})
Bekunden Sie eindeutig Ihren Willen, in die ökologische Steuerreform einzusteigen!
({16})
Beschließen Sie ein Programm, das endlich die erneuerbaren Energieträger fördert und ihnen zum Marktdurchbruch verhilft! Legen Sie einen Maßnahmekatalog vor, wie die Effizienzrevolution gefördert werden kann! Angesichts der prognostizierten Verkehrsentwicklung müssen Sie über das Fünfliterauto hinaus, das sowieso kommen wird, schon etwas mehr bieten.
Absoluten Vorrang muß die Vermeidung von Verkehr haben. Wir erwarten von Ihnen eine eindeutige Verlagerung der Mittel des Bundesverkehrswegeplans von der Straße auf die Schiene.
({17})
Ein Tempolimit könnte schnell und unbürokratisch Ihre Bereitschaft, in den Klimaschutz einzusteigen, beweisen. Unternehmen Sie schnelle Schritte, um den rasant wachsenden Flugverkehr zu begrenzen, und setzen Sie sich endlich für eine ökologische Landwirtschaft und eine klimaverträgliche Tierhaltung ein!
({18})
Wenn wir jetzt schon eine neue Hauptstadt in Berlin bauen, dann laßt uns doch mit umweltverträglichen Baustoffen und einer klimaverträglichen Energieversorgung bauen, um dann eine wirkliche Vorbildstadt entstehen zu lassen!
({19})
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" ist aus meiner Sicht eine großartige Leistung. Ich möchte zunächst einmal allen Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgearbeitet haben, für diese Arbeit herzlich Dank sagen. Daß ich heute hier spreche, rührt daher, daß die beiden Kollegen, die für unsere Fraktion in dieser Enquete-Kommission waren, Herr Grüner und Frau Sehn, diesem Parlament heute leider nicht mehr angehören.
({0})
Ich kann nur sagen, daß das, was alle Kollegen da geleistet haben, eine ganz hervorragende Arbeit war.
({1})
Ich denke, daß der Bericht den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfaßt. Er stellt auch fundierte Forderungen für eine wirksame Klimaschutzpolitik auf.
Frau Professor Ganseforth, Sie haben gesagt, daß es beim Kapitel Energie und Verkehr keinen Konsens gab. Ich bedauere es sehr, daß es diesen Konsens nicht gab. Denn ich denke, dadurch, daß Sie sich von der SPD diesem Konsens verweigert haben,
({2})
hat der Bericht in der Tat an Schlagkraft verloren.
Lassen Sie mich das an zwei Beispielen klarmachen: Sie fordern in der Enquete-Kommission - Sie wissen wirklich nicht, was Sie wollen; Sie müssen sich das einmal anschauen ({3})
ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in der Stadt. Jetzt in Ihrem Klimaantrag soll das Tempolimit nur europaweit eingeführt werden. Das ist also ein Eiertanz.
({4})
Das zweite Beispiel ist die Mineralölsteuer. In der Enquete-Kommission fordern Sie eine jährliche Erhöhung von 7 % auf zehn Jahre. Im Klimaantrag sollen jetzt die Mindestsätze in der EU angehoben werden. Für diese Anhebung der Mindestsätze ist die F.D.P. schon lange. Immerhin sind Sie offensichtlich lernfähig. Das gibt mir die Hoffnung, daß wir vielleicht doch noch zu einem gemeinsamen Antrag kommen können.
({5})
In den Energiekonsensverhandlungen des letzten Jahres trat Herr Schröder für die SPD auf; dann haben Sie ihn im Regen stehenlassen.
({6})
So können Sie meines Erachtens keine Politik machen; da verliert man jede Glaubwürdigkeit.
Die F.D.P. weiß, was sie will.
({7})
Deshalb unterstützen wir auch den Antrag zur Klimakonferenz in Berlin. Die F.D.P. will eine wirksame Klimaschutzpolitik, und zwar international, in Europa wie auch national.
({8})
Wir wollen international wirksame Verpflichtungen zur Reduzierung der Treibhausgase. Die in Rio vereinbarte Stabilisierung der CO2-Emissionen auf dem Stand von 1990 reicht bei weitem nicht. Ich denke, da sind wir uns einig. Wenigstens muß die Stabilsierung der Emissionen über das Jahr 2000 hinaus gelten. Wir unterstützen deshalb die Forderung der Inselstaaten,
bis 2010 die Emissionen um 15 bis 20 % zu reduzieren.
({9})
Und, Frau Kollegin Hustedt, wir unterstützen auch die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung.
({10})
Ich kann nur sagen: Bestrafen Sie nicht die Bundesregierung dafür, daß sich Herr Gore in den USA nicht durchsetzen kann, und machen Sie bitte nicht Frau Merkel für die Politik in Großbritannien verantwortlich! Die Zeiten des deutschen Imperialismus sind vorbei.
({11})
Wer deutschen Umweltimperialismus will, der schadet unseren Zielen.
({12})
Das gilt ganz besonders für die GRÜNEN. - Herr Fischer, ich freue mich, daß Sie jetzt gehen. Dann muß ich mich hier nicht ständig darüber ärgern, daß Sie sich nicht trauen, Zwischenfragen zu stellen, und immer nur dazwischenrufen.
({13})
Der Beitrag der GRÜNEN zur Vorbereitung der Klimakonferenz besteht in einer Großen Anfrage. Ich finde das sehr originell. Sie blockieren damit die Bundesregierung in der Zeit der Vorbereitungen und wichtigen Vorverhandlungen. Außerdem erwecken Sie den Eindruck, Deutschland müsse nur mehr Einsatz zeigen, und schon würden die widerstrebenden Staaten folgen. Sie wollen Großmachtpolitik betreiben, und Sie würden damit einen Scherbenhaufen anrichten.
Die F.D.P. will Erfolge auch in Europa. Die F.D.P. setzt weiter auf eine CO2/Energiesteuer. Die Verhandlungslage ist schwierig. Aber nur wer kämpft, hat Chancen zu gewinnen. Die F.D.P. will dabei aber auch die Abgabenlast senken. Wir haben das oft genug gesagt. Die direkten Steuern, wie z. B. Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer, müssen mindestens im gleichen Umfang parallel gesenkt werden. Die F.D.P. will die Industrie nicht vertreiben. Wir wollen sie erneuern. Wir wollen Innovationen und eben nicht noch mehr Arbeitslosigkeit.
({14})
Die F.D.P. setzt auf Freiwilligkeit statt auf Zwang. Das EG-Öko-Audit ist ein Durchbruch für den freiwilligen Umweltschutz. Auch der Enquete-Bericht betont, daß hierdurch die Energieeffizienz gesteigert wird. Es werden Konzepte zur Abwärmenutzung erstellt. Energieintensive Produktionsprozesse werden optimiert werden. Das Umsetzungsgesetz muß daher - das richtet sich jetzt an die Bundesregierung - aus unserer Sicht noch im März in den Bundestag kommen.
Die F.D.P. setzt auf Deregulierung statt auf Dirigismus. Staatliche Überwachungsmechanismen, Nachweisverfahren und Bilanzen müssen abgebaut werden, wo das Öko-Audit sie erübrigt. Wir wollen mehr Umweltschutz und nicht mehr Umweltschutzbürokratie.
({15})
Wir setzen auf Innovationen auch in der Energietechnik. Wir müssen unser hohes technologisches Potential beim Einsatz der regenerativen Energien und auch bei der Energieeinsparung nutzen. Der dynamische Ausbau der Windenergie ist ein positives Beispiel. Die Forderung einiger Umweltverbände nach dem Ausstieg aus der Windenergie lehnen wir ab.
Wir fordern von den Kommunen allerdings eine vernünftige Bauleitplanung. Ungeordnete Entwicklungen und Nutzungskonflikte können und müssen durch vorausschauende Planung vermieden werden. Auch hinsichtlich der Wasserkraft bitte ich die Naturschutzverbände um eine sachgerechte Abwägung von Vor- und Nachteilen.
Regenerative Energien müssen in ihrer ganzen Bandbreite angewandt werden. Anstatt Stroh unterzupflügen oder abzuflammen, kann es in Strohheizkraftwerken genutzt werden. In Thüringen kann eine solche Anlage besichtigt werden. In waldreichen Gebieten kann Schwach- und Restholz in Holzkraftwerken verbrannt werden. Das ist in Baden-Württemberg zu besichtigen. Aus Gülle beispielsweise kann Biogas für Gaskesselanlagen und für Blockheizkraftwerke gewonnen werden. Die Kommunen spielen hier eine zentrale Rolle. Sie müssen in Zukunft mit ihren Bebauungsplänen auf eine dezentrale und regenerative Energieversorgung setzen. Wir brauchen dabei sicherlich noch eine breite Bewußtseinsänderung. Aber ich denke, daß dieser Enquete-Bericht dazu beitragen wird.
Wir stehen hier allerdings erst am Anfang. Ich denke aber, daß Energie-Agenturen wertvolle Hilfe für den Einsatz solcher Technologien leisten können. Die F.D.P. fordert einen massiven Ausbau der Beratung. Das ist aber nicht nur Aufgabe des Staates. Vor allem die Energieversorger sind hier mit gefordert - aber bitte nicht mit einer Tendenzberatung auf der alten Schiene. Die Energie-Agentur in Niedersachsen wie auch die Energieversorgung Schwaben sind ermutigende Beispiele.
Wir fordern die Elektrizitätsversorgungsunternehmen auf, sich in diesen Bereichen stärker zu engagieren. In den letztlich gescheiterten Energiekonsensgesprächen haben sie einen dreistelligen Millionenbetrag für regenerative Energien und für Energieeinsparung in Aussicht gestellt. Die F.D.P. wird sie in der nächsten Runde beim Wort nehmen.
Im Klimaschutz sind die Überschüsse, jedenfalls die der Energiewirtschaft, besser angelegt als beim Aufkaufen von mittelständischen Entsorgungsbetrieben.
({16})
Hätte die SPD sich dem Energiekonsens nicht verweigert, so wären wir heute sicherlich weiter. Das war ihr Beitrag zum Klimaschutz.
Die F.D.P. plädiert für die zügige Wiederaufnahme der Energiekonsensgespräche. Unser Ziel ist ein gesunder Energiemix für eine effiziente und umweltschonende Energieversorgung.
({17})
Dazu gehören auch der zügige Ausbau regenerativer Energien und der rationelle und sparsame Energieeinsatz auf allen Ebenen der Energieversorgung.
({18})
Die GRÜNEN schließen sich mit ihren Maximalpositionen selbst von der Suche nach gesellschaftlichem Konsens aus. Sie behaupten in Ihrem Wahlprogramm - das ist hier heute wiederholt worden -, die Stillegung aller deutschen Kernkraftwerke sei innerhalb von höchstens ein bis zwei Jahren rechtlich, technisch und wirtschaftlich möglich. So blauäugig kann man einfach nicht sein. Mit dieser Forderung verschaffen Sie sich das Alibi, um sich die Weste sauber zu halten. Sie wollen zuschauen und kritisieren; aber an Veränderungen mitarbeiten wollen Sie nicht.
({19})
Gute Politik setzt nicht auf den Staat allein, sondern auf die Mitwirkung aller Beteiligten. Die SPD hat das leider nicht begriffen.
({20})
Ihr angekündigtes Super-Investitionsprogramm ist ein Beispiel für schlechte Politik: mehr Steuern abkassieren und mehr Geld verteilen.
Hören Sie auf Herrn Schröder!, kann ich nur sagen. Er ist der beste Kritiker der SPD. Er sagte in seiner Rede beim Parlamentarischen Abend der Niedersächsischen Energie-Agentur am 10. Januar dieses Jahres zu Ihrem Programm:
5 oder 10 Milliarden DM pro Jahr ab sofort für Energiesparen/regenerative Energien sind in der aktuellen Finanzlage schlicht nicht zeitgemäß.
Das stimmt. Er sagte ferner:
So viel Staatshilfe läßt sich schlicht nicht ausgeben, weil die Projekte, die Infrastruktur etc., eben alles erst aufgebaut werden muß.
({21})
Auch das stimmt.
Er sagt schließlich, es komme nicht auf einen bestimmten Einsparwert an, z. B. im Jahre 2005. Ziel müsse sein, daß Energiesparen/regenerative Energien ein stabiler, wachsender und zunehmend sich selbst tragender Prozeß wird. Auch das stimmt.
({22})
Das Politikverständnis der SPD ist schlicht und falsch: Sie messen die Qualität der Politik - auch die der Umweltpolitik - an der Höhe der Staatsausgaben. Je mehr, desto besser. Das ist der falsche Weg. So treiben Sie die Staatsverschuldung oder die Steuerlast hoch. Eine sich selbst tragende Erneuerung schaffen Sie damit jedenfalls nicht.
({23})
Die F.D.P. setzt auf Kooperation. Wirksame Klimaschutzpolitik lebt vom Zusammenwirken aller Beteiligten und eben nicht von Staatsknete. Die Elektrizitätsversorgungsunternehmen müssen sich stärker in der Beratung engagieren, sie müssen Hilfestellung für den Einsatz neuer Technologien geben. Die Kommunen müssen den Einsatz regenerativer Energien fördern, statt ihn zu hemmen.
({24})
Bebauungspläne, Gestaltungssatzungen oder Denkmalschutzvorgaben dürfen den Einsatz von Sonnenkollektoren nicht mehr verbieten oder behindern. Die Landwirtschaft muß das Energiepotential ihrer Biomasse sinnvoll einsetzen. Im Haushalt muß Energiesparen wieder in sein. Dazu gehört auch eine Energieverbrauchskennzeichnung der Haushaltsgeräte. Die Enquete-Kommission fordert die Umsetzung der entsprechenden EG-Richtlinie.
({25})
- Entschuldigung, ich habe gerade nur zitiert, was die Enquete-Kommission an der Stelle fordert.
({26})
Das ist im übrigen auch mit Ihren Stimmen beschlossen worden.
Finanzielle Unterstützung ist aber an einer Stelle unumgänglich: Die große Aufgabe, nämlich die Wärmeverluste im Gebäudebestand zu verringern, werden wir ohne Zuschüsse oder steuerliche Anreize nicht bewältigen.
({27})
Die Enquete-Kommission weist darauf hin. Hier wende ich mich auch an die Finanz- und Haushaltspolitiker meiner Fraktion. Hierüber müssen wir weiter nachdenken. Wärmeschutz und bessere Heiztechnik können nämlich enorme Einsparungen -
Frau Kollegin, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen? - Ein Zwischenruf ist ja etwas völlig Normales. Aber wir werden gelegentlich im Protokoll eine zweite Spalte brauchen: in der linken der Redebeitrag, in der rechten der Fischersche Kommentar.
({0})
Vielleicht können wir das ein bißchen reduzieren. Bitte, Frau Kollegin, fahren Sie fort.
Das war bei den letzten zwei Reden auch schon so, Herr Präsident.
Wärmeschutz und bessere Heiztechnik können enorme Einsparungen bringen, 100 Millionen Tonnen CO2-Emissionen jährlich. Das entspricht einer Minderung von etwa 10 % der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland. Wir können nicht in der Industrie das letzte Prozent herausholen und gleichzeitig riesige Einsparpotentiale in anderen Bereichen ungenutzt lassen.
Damit ist auch der Verkehr angesprochen. Ca. 20 % der CO2-Emissionen stammen aus dem Verkehr. Die F.D.P. unterstützt die Empfehlung der Enquete-Kommission, Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen um 30 % zu senken.
({0})
Hier sind die Automobilhersteller in der Bringschuld. Wer heute noch Kleinwagen mit einem Durchschnittsverbrauch von sieben bis acht Litern auf den Markt bringt, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
({1})
Die F.D.P. unterstützt die Bundesregierung, die in Brüssel auf ein Konzept zur Senkung des Durchschnittsverbrauchs drängt. Die F.D.P. hält wie auch die Enquete-Kommission die Mineralölsteuer für das geeignete ökologische Lenkungsinstrument. Ein erster Schritt wäre die Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer. Leider haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung auf eine Kfz-Abgas-Steuer geeinigt. Ich bleibe allerdings bei meiner Meinung, daß das lediglich die Bürokratie hochtreibt.
({2})
Deswegen denke ich, wir sollten uns hierüber noch einmal unterhalten.
({3})
Die F.D.P. will aber nicht die Steuerbelastung erhöhen. Ich komme damit auf dieses Thema zurück. Wir wollen die Mehreinnahmen an anderer Stelle zurückgeben. Das unterscheidet uns von der SPD und noch mehr von den GRÜNEN.
({4})
Man will offensichtlich nur abkassieren, ausgeben, umverteilen. Ich darf nochmals auf die GRÜNEN eingehen. Sie fordern in ihrem Wahlprogramm eine Mineralölsteuer von 5 DM, Schwerverkehrsabgaben und Nahverkehrsabgaben. Wie wir gehört haben, muß zusätzlich das Ordnungsrecht bleiben. Dazu kommt das Tempolimit 100/80/30. Dazukommen sollen absolute Fahrverbote bei Ozonwerten von 110 Mikrogramm.
({5})
Ich kann nur sagen: Das ist eine Holzhammerpolitik. Damit erreichen Sie nur eines: Sie verschärfen den Konflikt zwischen Umweltschutz und sozialer Sicherheit. Sie riskieren damit die Akzeptanz der Bevölkerung für den Umweltschutz.
({6})
Sie bauen Widerstände auf, anstatt den breiten gesellschaftlichen Konsens für einen wirksamen Umweltschutz zu schaffen.
({7})
Die F.D.P. wird jedenfalls weiter für eine Umweltpolitik eintreten, die wirksam ist, weil sie auch die Freiheit bewahrt. Ich hoffe sehr, daß wir im Umweltausschuß bei der Diskussion vielleicht doch zu einem gemeinsamen Antrag kommen. Man kann es einmal versuchen, auch wenn beim Kapitel über Umwelt und Verkehr dieser Versuch bei der Enquete-Kommission gescheitert ist. Aber, wie gesagt, insbesondere die SPD hat an einigen Stellen offensichtlich dazugelernt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Rolf Köhne ({0}).
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimatische Veränderungen stellen uns vor neue Herausforderungen. Frau Professor Ganseforth hat das eindrucksvoll dargelegt.
Die allgemeinen wissenschaftlich-technischen Lösungsansätze sind bekannt und lassen sich ziemlich einfach darlegen: Wir müssen schnellstmöglich auf die Energieerzeugung durch Verbrennung fossiler Energieträger verzichten; wir dürfen unseren Energiebedarf nur aus regenerierbaren Quellen decken; wir müssen die Energie-Effizienz erhöhen, und wir müssen uns darauf einstellen, daß alle Menschen zusammen mit der gesamten übrigen Natur nur die Energie umsetzen dürfen, die uns die Sonne täglich liefert. Daß dabei gleiches Recht für alle gelten muß, und das weltweit, ergibt sich meiner Meinung nach aus den allgemeinen Menschenrechten.
Damit das alles passiert, haben wir den freien Markt. Morgen bekommen wir ein anderes Märchen.
Die klimatischen Veränderungen zwingen uns nämlich, mit bisherigen Formen des Wirtschaftens Schluß zu machen. Karl Marx stellte fest, daß die kapitalistische Produktionsweise den Produktionsprozeß entwickelt, indem sie seine Grundlagen, die Natur und den Arbeiter, untergräbt.
({0})
- Ja, ja. Dazu komme ich auch noch.
Ersteres zeigt sich deutlich: nicht nur in den klimatischen Problemen, über die wir heute diskutieren, sondern auch in den vielen anderen Umweltproblemen, unter denen wir leiden. Letzteres zeigt sich in der
Massenarbeitslosigkeit, die hier indirekt auch Thema ist und mitgedacht werden muß.
Für diese systemimmanenten Defekte der kapitalistischen Produktionsweise gibt es zwei Gründe: Das eine ist das für die Preisbildung relevante Wertgesetz. Das andere ist der systemimmanente Zwang zur Kapitalverwertung.
Durch das Wertgesetz spiegeln sich in den durchschnittlichen Preisen, die am Markt erzielt werden, nur die Produktionskosten, also im wesentlichen nur die Arbeitszeit, wider. Die Natur, die aber ebenso wie die Arbeitskraft ein Produktionsfaktor ist, wird weder auf der Eingangs- noch auf der Ausgangsseite des Produktionsprozesses berücksichtigt. Naturreichtümer und Rohstoffe sind umsonst. In ihren Preis geht nur die Arbeitszeit ein, die zu ihrer Gewinnung benötigt wird. Abgase können allemal in die prinzipiell nicht privatisierbare Atmosphäre abgegeben werden.
Dieser Defekt kapitalistischer Produktion, der sich allerdings leider auch im Staatssozialismus zeigte, wird zunehmend auch von den Anhängern anderer wirtschaftstheoretischer Ansätze anerkannt. Das Stichwort dazu ist die Diskussion um die Erfassung sogenannter externer Kosten, die ja auch im Bericht der Enquete-Kommission einen gewissen Raum eingenommen haben.
Zu welchen menschenverachtenden Absurditäten es dann dabei allerdings kommt, zeigt die Diskussion um monetäre Ersatzwerte für ein Menschenleben. So heißt es in einem speziellen Votum der Koalitionsvertreter auf Seite 332 des Berichtes:
Es ist nicht einzusehen, warum der monetäre Ersatzwert für ein Menschenleben „aus ethischen Gründen" nicht abgezinst werden darf, wenn dies für alle anderen Faktoren gestattet ist.
Meine Damen und Herren, man muß sich darüber klarwerden, daß diese Welt komplex ist und daß daher nicht alles durch die bornierte Rationalität des Geldes erfaßt werden kann. Eine objektive Internalisierung externer Effekte scheitert nicht nur auf Grund von Wissensmängeln, sondern weil sich bestimmte Erscheinungen im Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur prinzipiell einer Bewertung in Mark und Pfennig entziehen.
Wenn wir uns dennoch mit Vorschlägen zu einer ökologischen Steuerreform anfreunden können, dann deshalb, weil dies ein erster Schritt sein kann, über diese bornierte Rationalität des Geldes hinauszukommen.
Die Gesellschaft muß sich politisch-demokratisch darüber verständigen können, was und wie sie produziert. Die in dem Bericht der Enquete-Kommission von Professor Voß geäußerte Kritik, daß eine ökologische Steuerreform zu einer schleichenden Transformation der kapitalistischen Marktwirtschaft führt, sehen wir da eher als Hoffnungsschimmer.
({1})
- Ja.
Der zweite systemimmanente Defekt der kapitalistischen Produktionsweise ist ihr Zwang zur Kapitalver804
wertung. Richtig, das gehört zusammen. Aus Geld muß beständig mehr Geld werden. Dies führt zwanghaft zu steigendem Wirtschaftswachstum und Naturzerstörung. Dabei wird völlig unzutreffend Wirtschaftswachstum mit steigendem Wohlstand verwechselt. Wohlstand definiert sich nicht allein über den Konsum. Zum Wohlstand gehören auch disponible Zeit für Kultur und Muße sowie der Genuß der Schönheit der Natur. Umweltzerstörung ist deshalb auch ein Wohlstandsverlust und ein Verlust an Lebensqualität.
Der Zwang zur Kapitalverwertung führt zu einem immer schnelleren moralischen Verschleiß von Produkten, weil es etwas Neueres und Moderneres gibt. Wir brauchen aber dringend eine Abkehr von dieser „Wegwerfgesellschaft". Produkte müssen langlebiger werden. Auch dadurch kann Energie gespart werden.
Wir lassen uns viel zu sehr von der bornierten Rationalität des Geldes blenden und übersehen dabei die Realität. Investieren heißt letztendlich, den Teil des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, der über die Reproduktion des bestehenden Zustandes hinaus zur Verfügung steht, zur Gestaltung der Zukunft zu nutzen. In der Logik der kapitalistischen Produktionsweise heißt dies aber stets Ausweitung oder Rationalisierung der Produktion. Beides führt aber zunehmend zu Problemen: steigende Naturzerstörung und steigende Arbeitslosigkeit.
({2})
- Das werde ich nicht frei zitieren.
({3})
- Ja, das möchte ich jetzt hören - als Zwischenruf, bitte.
({4})
- Gut, gut.
Ich bin aber kein Scholastiker.
({5})
Auf diese Weise läßt sich der Wohlstand nicht mehr steigern. Wir brauchen vielmehr Investitionen völlig anderer Art: Wir müssen in die Natur investieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Wir müssen in die Gesellschaft, in mehr Bildung und Kultur investieren, um unsere Kooperationsfähigkeit untereinander zu steigern. Auch so können wir die Produktivität der Gesellschaft erhöhen. Und wir müssen vor allen Dingen auch in die Überwindung des Nord-SüdGefälles investieren; denn durch unsere Ausbeutung der unterentwickelten Regionen erzeugen wir das dortige Umweltdumping und andere Probleme.
Doch genau hier stößt das auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende Wirtschaftssystem
an seine Grenzen. Solche Investitionen lassen sich nicht privatisieren. Die bornierte Rationalität des Geldes verhindert wirklich rationales Verhalten. Es ist deshalb völlig verfehlt, wenn die Koalitionsmehrheit in ihren Handlungsempfehlungen zum Klimaschutz „primär auf die Nutzung von Marktkräften" setzt.
({6})
Angesichts des Zustandes in der Energiewirtschaft klingt dies ohnehin wie blanker Hohn. Markt hat es hier noch nie gegeben. Hier beherrschen im wesentlichen vier Energiekonzerne das Feld. Immer noch gilt das monopolitische Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1935, das ihre Profite und ihre Monopolstellung absichert. Wir halten nach wie vor eine Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft für eine Grundvoraussetzung umweltverträglicher Energieerzeugung.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Paziorek ({0}).
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beobachtungen innerhalb der letzten 50 Jahre weisen auf eine beginnende Umstellung des globalen Klimas hin. Auch wenn diese Aussage vereinzelt kritisiert wird, besteht in der internationalen Wissenschaft doch weitgehend Einigkeit über diese trendmäßige Entwicklung. Die Anzeichen einer vom Menschen verursachten Klimaänderung sind eindeutig erkennbar.
Die immer noch bestehenden Wissenslücken zum anthropogenen Treibhauseffekt - das soll zur Klarstellung gesagt werden - lassen zur Zeit noch keine Aussagen über die zukünftige Entwicklung des Klimas mit regionalen Auswirkungen zu. Hinsichtlich des globalen Trends besteht in der Wissenschaft weitgehend Einvernehmen. Somit sind wir in der Kommission davon ausgegangen, daß das generelle Wissen um die durch menschliche Aktivitäten verursachten Klimaveränderungen einen so hohen Grad an Gewißheit erreicht hat, daß politische Maßnahmen zur Vorsorge auf Grund von Wissenslücken nicht mehr unterlassen werden dürfen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich dem Vorsitzenden unserer Kommission, Herrn Dr. Lippold, für seinen Einsatz danken, der sich immer erfolgreich bemüht hat, die Arbeit der EnqueteKommission kräftig nach vorne zu bringen.
({0})
Deshalb, Frau Ganseforth, habe ich kein Verständnis
dafür gehabt, daß Sie den Kleinkrieg der letzten
Sitzungen auch hier im Plenum noch fortsetzen wollDr. Peter Paziorek
ten. Herzlichen Dank, Dr. Lippold, für Ihr Engagement in dieser Kommission.
({1})
Die wichtigsten Ursachen für den menschlich bedingten Treibhauseffekt sind die weltweiten Emissionen des Energiebereiches - unter Einschluß des Verkehrs -, der Landwirtschaft, die Brandrodung im tropischen Regenwald, aber auch die Vernichtung und Schädigung der Wälder in der nördlichen Hemisphäre. Das größte Handlungsfeld für Reformen zum Schutz unseres Klimas stellt somit der Energiebereich dar.
Aber, meine Damen und Herren, zukunftsorientierte Energiepolitik bedeutet heute nicht nur die Sicherung der Energieversorgung. Energiepolitik muß heute sowohl zur Energieversorgung als auch zur Schonung der natürlichen Ressourcen und des Klimas beitragen. Somit müssen auf der Suche nach einer umweltschonenden, zukunftsorientierten und wettbewerbsfähigen Energieversorgung Antworten gefunden werden auf die Fragen der Sicherung des Standortes Deutschland, der vollständigen energie- und wirtschaftspolitischen Integration der neuen Bundesländer, der Herstellung des Europäischen Binnenmarktes, der globalen Entwicklung - nicht zuletzt auf Grund der Notwendigkeiten einer aktiven Klimavorsorge.
Der Größe dieser Aufgabe wird die Haltung der Opposition, insbesondere der Fraktion der Grünen, nach dem Motto locker vom Hocker irgend etwas zu fordern, einfach nicht gerecht. Die Querverbindungen zu den anderen Bereichen sind leider auch heute in den Redebeiträgen durch die Opposition nicht entsprechend gewürdigt worden. Man muß sich einmal vorstellen: Die geplante nationale CO2-Reduktion erfordert allein in Deutschland eine Senkung des Einsatzes fossiler Energieträger in der Größenordnung von 110 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten. Hierfür stehen derzeit nur die beiden Strategien Energieeinsparung einerseits und Energieträgersubstitution andererseits zur Verfügung. Dies kann nur in einem gleitenden Umsteuern erfolgen. Alles andere hätte wirtschaftlich katastrophale, negative Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ich bitte, das auch hier zu berücksichtigen.
Dabei müssen natürlich auch längerfristig die erneuerbaren Energien eine größere Rolle spielen. Neben Wasser- und Windkraft muß alles dafür getan werden, daß auch neue Formen der Energiegewinnung wie die der Stromgewinnung auf der Basis von Photovoltaik und Wasserstoff sowie Biomasse und Erdwärme als neuen Energieträgern genutzt werden können.
Eine langfristig angelegte Förderung von Forschung und Entwicklung dieser Energien ist unverzichtbar und bedeutet nicht nur einen Beitrag zum Klimaschutz, sondern auch einen Schritt in Richtung neuer Technologien, die den Standort Deutschland für zukünftige Industrien sichern. Diese Finanzmittel, die hierfür benötigt werden, müssen aber erst noch erwirtschaftet werden. Volkswirtschaftlich ist dabei der Ausstiegskurs der Opposition in Sachen Kernenergie kontraproduktiv. Somit werden wir auch auf die Kernenergie nicht verzichten können.
({2})
Für die Mehrheit der Opposition steht fest, daß jedes Bemühen um eine nachhaltige CO2-Reduktion aus heutiger Sicht nicht zum Erfolg führt, wenn die Kernenergie nicht weiterhin einen substantiellen Beitrag zur Stromerzeugung im Rahmen eines sinnvollen Energieträgermixes leistet; denn in Deutschland wird im Augenblick durch die Kernenergie tatsächlich ein CO2-Ausstoß von ca. 150 Millionen Tonnen pro Jahr verhindert.
Weil das so ist, werden wir dem Antrag der Opposition, der heute als Entschließungsantrag von seiten der SPD eingebracht wurde, nicht zustimmen können, weil er undifferenziert einen Ausstieg aus der Atomenergie fordert. Ein vollkommener Rückzug aus der Kernenergie führt nicht nur zu erheblichen Defiziten in der Energieversorgung, sondern höchstwahrscheinlich zu einem erhöhten Import von Atomstrom aus anderen europäischen Staaten oder billiger CO2haltiger Importkohle. Dies kann in keinem Fall der Sinn einer nachhaltigen zukunftsweisenden Klimaschutzpolitik sein.
({3})
Herr Kollege Paziorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?
Ja.
Ist Ihnen erstens bekannt, daß, wenn man den gesamten Brennstoffkreislauf eines Atomkraftwerks untersucht, also vom Uranabbau bis hin zur Verkehrsentwicklung und den Emissionen, die beim Betrieb entstehen, ein AKW im gesamten Brennstoffkreislauf mehr CO2 emittiert als z. B. ein Gaskraftwerk mit Kraft-WärmeKopplung?
Meine zweite Frage: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß wir, wenn wir die Milliardensummen, die wir in Atomkraft investiert haben - meines Wissens sind es bisher über 30 Milliarden DM -, in andere Energieträger und Energieeinsparmaßnahmen gesteckt hätten, dann ein Vielfaches an CO2-Emissionen jetzt schon hätten erreicht haben können?
Zu der ersten Zwischenfrage kann ich sagen: Es gibt natürlich zu allen möglichen Thesen, auch aus Ihrem Bereich, inzwischen Untersuchungen. Sie sind nicht Mitglied der Enquete-Kommission gewesen. In den letzten Sitzungen haben die Diskussionen natürlich gezeigt, daß bei diesen Untersuchungen in vielen Bereichen nur der politische Wille und der bloße Glaube Grundlage für die Diktion waren und daß sich das bei einer kritischen Diskussion dieser einzelnen Untersuchungen leider nicht erfolgreich durchsetzen könnte. Deshalb muß ich sagen, die Untersuchungen, die Sie anführen, haben uns nicht überzeugen können.
Über die zweite Angelegenheit, Frau Kollegin Hustedt, kann man trefflich spekulieren: Was wäre gewesen, wenn eventuell vor 20 oder 30 Jahren die Schwerpunkte anders gesetzt worden wären? Darüber will ich mit Ihnen heute gar nicht streiten; das können wir vielleicht an anderer Stelle, z. B. im Ausschuß, tun.
Entscheidend ist für mich, daß wir Vorgaben z. B. im Bereich der Kernenergie aus den 70er Jahren haben, weshalb wir uns heute fragen müssen: Was nützt es, wenn wir vor dem Hintergrund der Tatsachen, die Sie gerade geschildert haben, nämlich der getätigten Investitionen, Ihren kurzfristigen Ausstiegskurs fahren? Ich frage mich: Ist es, wenn Entscheidungen so gefallen sind, richtig, zu sagen, man müsse kurzfristig aussteigen, und gar nicht zu berücksichtigen, welche volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Schäden dann auftauchten?
Ich will Sie einmal fragen: Wo wollen Sie überhaupt die Mittel hernehmen, die die Unternehmen brauchen - wir wollen sie gemeinsam zwingen, mehr im Bereich der erneuerbaren und regenerativen Energien zu tun -, wenn Sie sowohl betriebswirtschaftlich als auch volkswirtschaftlich einen Crashkurs fahren?
Mein Kurs wäre nur dann nicht vertretbar, wenn die Kernenergie in Deutschland sicherheitspolitisch nicht akzeptabel wäre. Da aber besteht der gewaltige Unterschied zwischen uns. Deshalb halte ich es für nicht sinnvoll, Ihren Kurs zu fahren. Ich bin dafür, daß wir unsere Kernenergiepolitik in Deutschland in verantwortbarem Maße fortsetzen.
Herr Dr. Paziorek, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?
Ja.
Bitte.
Erstens. Ist Ihnen bekannt, daß die Energieversorgungsunternehmen auf Grund ihrer Monopolstellung diejenigen Betriebe sind, die die höchste Rendite abwerfen? Bei normalen großen Betrieben beträgt der Gewinn ungefähr 3 %, während die Energieversorgungsunternehmen 16 % Gewinn einfahren und sozusagen im Geld schwimmen. Sie reden von den armen Energieversorgungsunternehmen; das sehe ich überhaupt nicht so.
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, wieviel die Energieversorgungsunternehmen durch Ihre Investitionspleiten bei Atomkraft verspekuliert haben, weil die Bevölkerung ihre Projekte bis aufs äußerste bekämpft hat - Stichworte Wackersdorf und Hanau?
Frau Hustedt, wir haben in der letzten Legislaturperiode die Diskussion um das sogenannte Stromeinspeisungsgesetz geführt. Ich will für diese Koalition ganz klar positiv darstellen, daß wir den Energieversorgungsunternehmen durch gesetzliche Maßnahmen aufgegeben haben, im Bereich der Windenergie neue Schritte in Deutschland zu unternehmen. Wir haben die Windenergie durch unsere finanziellen Vorgaben im Stromeinspeisungsgesetz betriebswirtschaftlich attraktiv und lukrativ gestaltet. Das hat zur Konsequenz, daß die Energieversorgungsunternehmen, die nicht an der Nordseeküste angesiedelt sind, mit dem Stromeinspeisungsgesetz keine Probleme haben, daß aber gerade die Unternehmen, denen an der Nordseeküste viel Windenergie angeboten wurde, betriebswirtschaftliche Probleme haben.
Da wir die Unterlagen vorliegen haben, kann ich sagen: Ihre pauschale Aussage nach dem Motto „Die schwimmen ja im Geld" ist leider wieder so undifferenziert, wie ich es Ihnen in der umweltpolitischen Diskussion schon mehrfach vorhalten mußte. Wir können uns gemeinsam darüber unterhalten, auch jetzt bei dem Umsteuern in der Klimaschutz- und Energiepolitik, was wir tun können, damit auch die Energieversorgungsunternehmen ihre Aufgaben, z. B. als Energiedienstleistungsunternehmen, stärker wahrnehmen. Dies sollte auch Energieberatung umfassen; denn der Stromverkauf alleine kann in der Tat nicht das große Ziel dieser Unternehmen sein. Dies sollte aber bitte so erfolgen, daß das Ganze betriebswirtschaftlich sinnvoll ist, damit wir den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht gefährden.
Wenn wir einen solchen mittleren Kurs fahren könnten, würden wir in vielen Fragen sicherlich Einvernehmen erzielen. Leider ist das bei Ihrem knallharten Ablehnungskurs nicht der Fall.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?
Ja.
Herr Kollege, Sie sprechen davon, daß Sie die Unternehmen zwingen wollen, mehr für die erneuerbaren Energien zu tun. Wie wollen Sie das machen?
Herr Kollege Kubatschka, zunächst einmal muß ich klarstellen, daß wir heute über den Bericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" und die Einbringung der Entschließungsanträge, die konkrete politische Forderungen beinhalten, diskutieren. Dies soll noch nicht dazu führen, daß wir alle konkreten Stufen und Maßnahmen jetzt hier im Plenum besprechen. Der Beratungsgang ist dergestalt, daß wir schon am nächsten Mittwoch im Umweltausschuß anfangen werden, über die einzelnen Maßnahmen zu reden. Im Anschluß an diesen Beratungsprozeß werden wir hier, im Plenum, über die Maßnahmen diskutieren, die Sie ganz konkret für den Bereich der erneuerbaren Energien ansprechen.
Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, daß wir im Bereich der Energiesteuer einen Lösungsweg finden, so daß es sinnvoll wird, im Bereich der erneuerbaren Energien zu investieren, und daß durch eine solche Förderpolitik, die auf Anreize setzt, deutlich wird, daß auch erneuerbare Energien in Deutschland tatsächlich eine Chance bekommen werden. Das werden wir konkret im Bereich der Energiesteuer diskutieren müssen. Da sehe ich einen Ansatzpunkt, Ihre Frage in konkrete Politik umsetzen zu können.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir an dieser Stelle noch einmal nahtlos unterstreichen können, daß die Energiepreise deutlicher als bisher auch ökologisch begründet werden müssen. Aber wir werden dies nicht nur auf nationaler Ebene tun können. Jeder nachhaltige Beitrag zur Bekämpfung des Treibhauseffektes kann nur auf internationaler Ebene geleistet werden. Deshalb werden wir uns auch weiterhin für eine europaweite Einführung einer Energie-/CO2-Steuer aussprechen.
Noch einiges zur Landwirtschaftspolitik. Nach Ansicht der Mehrheit der Kommission ist die EG- Agrarreform aus Sicht des Klimaschutzes ein Schritt in die richtige Richtung. Wie stark dieser Schritt ausgefallen ist, wird in fünf Jahren zu bilanzieren sein. Dann werden wir entscheiden können, welche weiteren Maßnahmen notwendig sein werden. Doch eines ist schon jetzt klar: Wenn die Rückführung der Überschußproduktion über das bei der Agrarreform vorgesehene Maß hinausgehen soll, dann muß auch auf der Ebene der EU zugunsten der heimischen Landwirtschaft ein weitergehender finanzieller Anreiz als bisher zugunsten der heimischen Landwirtschaft geschaffen werden. Nicht nur der Bund, sondern auch die Bundesländer sollten überprüfen, welche Förderprogramme für die Landwirtschaft z. B. zur Verringerung der Gülleüberschüsse geschaffen werden können. Erst wenn deutlich wird, daß ein solches Förderprogramm als Anreizprogramm keine ausreichende Wirkung zeigt, sollten wir über die Einführung von neuen Umweltsteuern oder Abgaben im Bereich der Landwirtschaft nachdenken, aber bitte nicht vorher. Der Vorschlag der SPD, die rechtlichen Vorgaben zu Lasten der heimischen Landwirtschaft ohne finanzielle Entschädigung zu verschärfen, führt letztlich in die Sackgasse.
Die Enquete-Kommission hat sich in ihrer Arbeit neben den Sektoren Energie, Landwirtschaft und Wälder auch intensiv mit dem Verkehrsbereich als größtem Einzelemittenten von klimarelevanten Spurengasen auseinandergesetzt. Die Mehrheit der Kommission hat sich eindeutig gegen ein Tempolimit, aber für die Verringerung des Treibstoffverbrauchs und der CO2-Emissionen von Kraftfahrzeugen ausgesprochen. Wir fordern die Kraftfahrzeughersteller auf, eine entsprechende Selbstverpflichtung abzugeben, wobei ein solches Selbstverpflichtungssystem europaweit gelten muß, damit auch Importeure von Kraftfahrzeugen einbezogen werden. Sollte die Selbstverpflichtung als wirtschaftliches Optimierungsinstrument nicht greifen, sind unverzüglich ordnungsrechtliche Maßnahmen vorzusehen.
Um dieser Selbstverpflichtung auch von der Nachfrageseite her zum Erfolg zu verhelfen, fordert die Kommission stetige maßvolle und jährliche Anhebungen der Treibstoffpreise, verteilt über einen längeren Zeitraum. Die Anhebung soll aber nicht sofort, sondern erst nach einem längeren Zeitraum von Freijahren erfolgen, denn der Bürger muß sich auf eine solche Erhöhung einstellen können. Wir wollen keine Erhöhung der Steuerlastquote. Vielmehr muß dem Bürger die Möglichkeit eingeräumt werden, auf verbrauchsärmere Kraftfahrzeuge umzusteigen.
Daß dabei der Schienenverkehr eine größere Bedeutung in der Verkehrspolitik erhalten muß, ist völlig unstrittig. Aber hier sind die Weichen in der Verkehrspolitik ebenfalls richtig gestellt.
Nach Ansicht unserer Fraktion geht aus dem Bericht eindeutig die Notwendigkeit zum sofortigen Handeln hervor. Aber die Politik allein kann nicht alles bewirken. Verhaltensänderungen in der Gesellschaft, getragen von einem breiten Teil der Bevölkerung, müssen hinzukommen. Für alles aber gilt: Je eher gehandelt wird, desto weniger werden zukünftige Generationen belastet.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat Kollegin Dr. Liesel Hartenstein ({0}).
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Enquete-Kommission hat in zwei Legislaturperioden seit 1987 zweifellos nicht nur fleißig, sondern auch erfolgreich gearbeitet. Ich möchte dies auch meinerseits ausdrücklich betonen und denke, daß dies kein ungebührliches Eigenlob ist.
({0})
Auf der Positivseite ist auch zu verbuchen, daß über weite Strecken Konsens erreicht werden konnte, Konsens in der Ursachenanalyse, Konsens in der Einschätzung der kommenden Entwicklung und in der absoluten Notwendigkeit einer raschen, wirkungsvollen national en und internationalen Gefahrenabwehr.
Heute aber stellt sich die Frage: Was haben wir denn aus unserem umfangreichen Wissen eigentlich gemacht? Haben wir den Fundus der wissenschaftlichen Daten, den Fundus des geschaffenen breiten öffentlichen Bewußtseins genutzt, um konkrete Veränderungen wirklich durchzuführen? Haben wir wenigstens das riesige Spektrum der schon vorhandenen technischen Instrumente eingesetzt, um Gefahren zu vermindern? Ich stelle fest: Wir wissen fast alles, aber wir tun fast nichts. Gerade diese Bundesregierung tut fast nichts.
({1})
Dies ist ein Trauerspiel. Nach Umfragen fühlen sich 40 % der Menschen durch die Umweltzerstörung bedroht; interessanterweise haben nur 25 % der Menschen Angst vor der Kriminalität. Auch das sollte man sich einmal vor Augen führen.
Es war übrigens nicht der geringste Erfolg der ersten Enquete-Kommission, daß die Bundesregierung bereits im November 1990 den Beschluß gefaßt hat, bis zum Jahre 2005 eine CO2-Reduktion um 25 bis 30 % in Deutschland zu realisieren. Dafür gab es Beifall von allen Seiten, Beifall auch von uns. Natürlich war mit diesem Beifall die Hoffnung verbunden, daß jetzt kräftig ans Werk gegangen würde. Aber wer diese Hoffnung hegte, hat eine bittere Enttäuschung erleben müssen. Noch in seiner Regierungserklärung im Mai 1992 hat der Bundeskanzler kurz vor seinem
Abflug nach Rio bekräftigt: „Damit haben wir als erstes großes Industrieland die Verminderung der Treibhausgase aktiv in Angriff genommen." Und Selbstverständlich hat sich der deutsche Regierungschef auf dem Erdgipfel für die Vorreiterrolle der Bundesrepublik gebührend feiern lassen. Nur, inzwischen sind die großen Hoffnungen zerstoben; inzwischen hat Deutschland seine Vorreiterrolle längst eingebüßt. Den Worten sind keine Taten gefolgt, und das ist zu beklagen.
({2})
Diese unerfreuliche Tatsache, meine Damen und Herren von der Koalition, wird auch nicht durch das widerlegt, was Sie heute alles aufgezählt haben. Das steht nämlich alles schon in den regierungsamtlichen Berichten. In langatmigen Aufzählungen ist dort zu lesen, was alles gemacht worden sei, von der Novellierung der Kleinfeuerungsanlagenverordnung bis zur Verpackungsverordnung -({3})
alles wird peinlich genau aufgelistet,
({4})
was irgendwie nach Fortschritt beim Klimaschutz aussehen könnte. Wissen Sie, was der erste Vorsitzende der Enquete-Kommission dazu sagen würde? Er würde sagen: Peanuts, meine Freunde.
({5})
Harter Tatbestand ist demgegenüber: Die klimaschädlichen CO2-Emissionen haben in den alten Bundesländern nicht abgenommen, sondern zugenommen. Es nützt ja gar nichts, immer wieder zu beschwören, daß sie doch, auf Gesamtdeutschland bezogen, um 15 % abgenommen hätten. Denn dahinter steckt ein ganz übler, schlitzohriger Rechentrick. In den neuen Ländern hat sich der CO2-Ausstoß in der Tat fast um die Hälfte reduziert, aber leider größtenteils wegen des Zusammenbruchs der ostdeutschen Industrie und nicht wegen der umweltpolitischen Großtaten dieser Bundesregierung.
({6})
Harter Tatbestand ist ferner: Im Jahre 1993 - bitte hören Sie gut zu - hat der Energieverbrauch im Verkehrsbereich erstmalig den gesamten Energieverbrauch der deutschen Industrie übertroffen, und zwar mit 88,5 Millionen Tonnen gegenüber 82,6 Millionen Tonnen Steinkohleneinheiten. Das sollten Sie sich, Frau Homburger, bitte schön einmal zu Gemüte führen. Hier wird schlagartig deutlich, wo der stärkste Handlungsbedarf besteht. Hier wird ebenfalls schlagartig deutlich, warum exakt in diesem Bereich, nämlich beim motorisierten Straßenverkehr, die heftigsten Auseinandersetzungen in der Kommission tobten und warum es hier eben zu keinem Konsens bei den Handlungsempfehlungen kommen konnte. Denn die
technischen Verbesserungen allein - sie sind ja die Lieblingskinder der Koalition, wie auch die freiwilligen Selbstverpflichtungen -, etwa Senkung der Abgasgrenzwerte, intelligente Verkehrsleitsysteme, Senkung des Kraftstoffverbrauchs - das alles ist richtig; es sind auch Forderungen von uns -, genügen eben nicht.
({7})
Solange man sich nicht an Strukturveränderungen heranwagt, liebe Frau Homburger, solange das ökologische Monstrum des Bundesverkehrswegeplans nicht auf den Prüfstand gestellt wird
({8})
und solange kein Umschalten von einer expansiven Autobahnpolitik zu einer konsequenten Schienenpolitik erfolgt, so lange werden Auto und Lkw Klimakiller erster Ordnung bleiben. Und Waldkiller übrigens obendrein.
Meine Damen und Herren, es hat sich gezeigt, daß die Koalition an den entscheidenden Punkten immer zurückschreckt. Sie hat keinen Mut zu einem Vorwärtskonzept. Gerade die F.D.P. hat am allermeisten blockiert. Sie sind die Bremser und nicht wir.
({9})
„Klimaschutz als kluge Industriepolitik", meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Überschrift aus dem Minderheitenvotum der SPD im Schlußbericht der Enquete-Kommission. Wir meinen in der Tat, daß in einem breiten Bündel von Maßnahmen, die dem Klimaschutz dienen, gleichzeitig neue industriepolitische Optionen stekken. Klimaschutz ist kluge Industriepolitik, weil er zu Innovationen geradezu zwingt, weil er neue Arbeitsplätze schafft und weil er Zukunftsmärkte erschließt, national und mittelfristig auch international. Das sollten Sie bitte einmal zur Kenntnis nehmen.
({10})
Meine Damen und Herren, zum Klimaschutz gehört auch der Schutz der Wälder, und zwar nicht nur der tropischen Wälder, wie die erste Enquete-Kommission gemeint hat, sondern auch der Wälder in den nördlichen Regionen und in den gemäßigten Zonen. Die Wälder sind nach den Ozeanen die größte und wichtigste CO2-Senke der Erde und damit unverzichtbar für die Stabilität des weltweiten Klimas. Deswegen mahne ich hier für die Enquete-Kommission zum wiederholten Male eine Internationale Waldkonvention an. Sie haben es versäumt, die entsprechenden Vorarbeiten zu machen. Diese Waldkonvention muß verbindliche Regelungen sowohl für den Waldschutz als auch für eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder umfassen, und sie muß Nord und Süd gleichermaßen verpflichten und darf nicht einseitig die Tropenwaldländer zu Sündenböcken stempeln.
({11})
Meine Damen und Herren, Ende März beginnt in Berlin die erste Vertragsstaatenkonferenz im sogenannten Rio-Nachfolgeprozeß. Ziel war die Verabschiedung eines verbindlichen Berliner Protokolls mit festen Reduktionsraten und festen Zeitzielen. Leider muß ich sagen, daß die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat, und leider muß ich auch hinzufügen, daß Frau Bundesministerin Merkel schon jetzt durch ihre Erklärung vom 1. Dezember 1994 vor dem Nationalen Komitee für nachhaltige Entwicklung die Flinte ins Korn geworfen hat. Das war nicht hilfreich, Frau Merkel.
({12})
Die Bundesregierung geht mit leeren Händen nach Berlin; das ist nicht entschuldbar.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Berlin könnte ein Riesenschritt in die Zukunft werden, in eine Überlebenszukunft für den Planeten. Statt dessen droht es ein Riesenflop zu werden. Das darf nicht passieren.
({14})
Wir fordern, Frau Ministerin Merkel, daß auch die Bundesrepublik den Protokollentwurf der AOSIS, der 40 kleinen Inselstaaten, unterstützt,
({15})
die energisch eine 20prozentige CO2-Reduktion bis zum Jahre 2005 fordern. Dem Vernehmen nach war der dänische Umweltminister bereit, im EU-Umweltministerrat diese AOSIS-Initiative zu unterstützen. Aber ausgerechnet die deutsche Bundesregierung, die jà die Ratspräsidentschaft innehatte, hat sich als Bremser betätigt. Ich finde, das ist ein Skandal.
({16})
Mit dieser Verzögerungstaktik werden Deutschland und die Industrieländer ihrer Verantwortung nicht gerecht. Aber die Zeit drängt.
Ihre auch, Frau Kollegin.
Ich sehe es, Herr Präsident. Ich werde mich beeilen und zum Schluß kommen.
Wir müssen handeln. Die Industrieländer müssen vorangehen, weil sie die Hauptverursacher der Klimakatastrophe sind und weil sie auch das technische Know-how haben, um als erste etwas zu tun.
Wir haben noch eine Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Mut und die Kraft aufbringen, umzusteuern und Abschied zu nehmen von ressourcenverschwendenden und umweltzerstörenden Strukturen und von der Trägheit. Das betrifft nicht nur das Produzieren, sondern auch unsere Art des Konsumierend. Nutzen wir diese Chance! Die Vorarbeiten von seiten der Enquete-Kommission sind gemacht. Wir legen sie dem Plenum des Bundestages vor. Jetzt
muß politisch gehandelt werden - hier sind Sie am Zuge -, und zwar nicht erst übermorgen, sondern möglichst schon heute.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von den Notwendigkeiten und Schwierigkeiten einer nachhaltigen Energiepolitik bei uns und in anderen Industrienationen war in dieser Debatte schon viel die Rede. Gestatten Sie mir, daß ich das Hauptaugenmerk meiner Ausführungen mit einigen Gedanken auf die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten richte. Es sind die Menschen in den Entwicklungsländern.
Die dort lebenden 75 % der Weltbevölkerung sind zwar zur Zeit gerade einmal zu 20 % am Ausstoß der CO2-Emissionen beteiligt, doch 90 % des Emissionszuwachses entfallen auf die Dritte Welt. Schon in 15 Jahren werden, falls alles so weiterläuft wie bisher, 50 % der energiebedingten CO2-Emissionen aus den Entwicklungsländern kommen. Woher sollen wir das Recht nehmen, den Milliarden Menschen in China, Indien, Brasilien oder Nigeria zu verbieten, unseren energie- und ausstoßwütigen Konsum- und Produktionsweisen nachzueifern?
Nicht zuletzt die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" zeigen, daß ein solcher Entwicklungsweg für uns alle, auch für die Entwicklungsländer, katastrophale Folgen hätte. Einige Staaten wie Samoa oder Bangladesch würden vielleicht sogar aufhören zu existieren. Somit hängt unsere gemeinsame Zukunft in Nord und Süd entscheidend davon ab, ob wir gemeinsam nachhaltige und umweltschonende Wachstumsstrategien gerade auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer finden und durchsetzen.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich finde es bezeichnend, daß bei einer solchen Sachlage in Ihrem Antrag nicht ein einziges Mal die Wörter „Entwicklungsland", „Entwicklungspolitik" oder „Dritte Welt" auftauchen; das ist für mich ziemlich kurzsichtig.
({0})
- Doch, doch.
({1})
- Doch.
({2})
- Gut, zeigen Sie mir das nachher. Meine Redezeit läuft.
Ich habe Ihren Antrag zweimal durchgelesen und habe dabei gedacht: Das darf doch nicht wahr sein. Frau Adler spricht nach mir; sie kann mich korrigie810
ren. Breiten Raum nimmt die Entwicklungspolitik auf jeden Fall nicht ein. Das finde ich traurig.
Die Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung hat 1992 klare und detaillierte Strategien und Handlungsoptionen aufgezeigt. Die Vertreter der Bundesregierung haben dabei maßgeblich immer wieder dazu beigetragen, daß Nord und Süd nicht auseinanderbrachen. Die Bundesregierung hatte in der Folgezeit zusammen mit Frankreich für die Einrichtung der Globalen Umweltfazilität als wichtiges Finanzierungsinstrument der Agenda 21 gesorgt. Damit beläuft sich der deutsche Beitrag für die nächsten drei Jahre auf immerhin fast 400 Millionen DM und geht dabei weit über unsere normalen Verpflichtungen hinaus.
Deutschland ist mittlerweile der größte bilaterale Geber im Bereich der Tropenwalderhaltung. Unter den Entwicklungsministern Warnke, Klein und Spranger stieg der Anteil der Umweltprojekte in der Entwicklungszusammenarbeit mittlerweile auf über ein Viertel an und soll 1995 ca. 30 % erreichen.
Erinnert sei auch an die Energiesonderprogramme. Frau Hartenstein, diese Dinge sind bekannt; sie kennen auch Sie. Es schadet nichts, wenn man mit der Kritik an den fehlenden Programmen nicht übertreibt. Das, was ich hier gesagt habe, haben auch Sie immer wieder anerkannt.
({3})
Auch im Antrag der GRÜNEN steht, daß wir in der Entwicklungszusammenarbeit an Umweltprojekten nichts getan haben. Das weise ich als unqualifiziert und unsachlich zurück
({4})
und verweise dabei auf die Diskussion von gestern.
({5})
Es gibt allerdings auch in der Entwicklungspolitik gerade im Energiebereich noch Punkte, an denen wir gemeinsam arbeiten müssen. Gerade hier ist die Chance für die Entwicklungsländer, Fehlentwicklungen der Industrieländer zu vermeiden, besonders groß. Dies gilt auch für den Einsatz erneuerbarer Energien wie Wind, Sonne und Wasserkraft.
Eine der Voraussetzungen ist, daß die Industrieländer die Entwicklungsländer verstärkt bei der Umorientierung in Richtung auf eine ressourcenschonende Energiepolitik mit Know-how und Kapital unterstützen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, hochverschuldeten Niedrigeinkommensländern Forderungen zugunsten einer umweltschonenden Energiepolitik zu erlassen.
Wichtig ist ferner, daß wir den Entwicklungsländern helfen, speziell auf das jeweilige Land abgestimmte Energiegesamtkonzepte zu erstellen und dabei auch die Möglichkeiten für den Aufbau dezentral angelegter Energieversorgungsstrukturen und für den Einsatz erneuerbarer Energietechnologien auszuschöpfen.
Wir müssen gegenüber den Entwicklungsländern aber auch dafür eintreten, daß sie in ihrer Energiepolitik künftig falsche Preissignale vermeiden oder zurücknehmen, die nur dazu führen, daß aus politischen Gründen umweltschädliche Energien am Markt gehalten und ressourcenschonende Energien ferngehalten werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolf?
Bitte.
Werter Kollege, Sie haben darauf hingewiesen, daß Fehlentwicklungen in der Dritten Welt vermieden werden sollten und daß die Industriestaaten dabei in besonderem Maße behilflich sein sollten. Erstens. Ist Ihnen bekannt, daß momentan die Politik der deutschen Autokonzerne in China - in Schanghai, Kanton und Peking - darauf hinausläuft, den Fahrradfahrern die Benutzung einzelner Straßen zu verbieten, die Fahrradfahrer von den Straßen wegzubringen und die Städte mit ihren Autos zu füllen?
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, daß die Autos, die von VW und Daimler-Benz in dieser Region gebaut werden bzw. gebaut werden sollen, alle Pkws ohne Katalysator sind?
Drittens. Ist Ihnen bekannt, daß, wenn China und Indien auch nur die Pkw-Dichte der ehemaligen DDR, die ja bekanntlich schrecklich untermotorisiert war, erreichen würden, sich die Zahl der Pkws weltweit auf 800 Millionen verdoppeln müßte, wodurch der Planet Erde völlig umkippen müßte?
Glauben Sie nicht, daß hier das Sprichwort gilt: Ein jeder kehre vor seiner eigenen Tür? Meinen Sie nicht, daß wir hier, in unserem Land, anfangen müßten?
Das in Ihren Fragen Angesprochene ist mir teilweise bekannt. Das mit den Fahrradregelungen, die angeblich deutsche Konzerne in China durchgesetzt haben, scheint mir doch sehr schräg zu sein. Im übrigen muß ich im Zusammenhang mit der Katalysatorfrage darauf hinweisen, daß es ja wohl Aufgabe der Volksrepublik China wäre, die entsprechende Vorschrift nicht nur für deutsche Autos, sondern für den gesamten Automarkt in ihrem Land zu erlassen. Wir und die Bundesregierung können ja nichts dafür, wenn die Chinesen bei ihrer Autopolitik den Katalysator vergessen.
Es ist vollkommen unbestritten - darauf komme ich in meinen weiteren Ausführungen noch zu sprechen -, daß beiderseits Verpflichtungen bestehen. Ich habe gerade in entwicklungspolitischen Diskussionen den Eindruck, daß wir auf der einen Seite nur dem Norden und auf der anderen Seite nur dem Süden die Schuld geben. Ich glaube, das ist gerade in der entwicklungspolitischen Situation eine ziemliche Crux, die wir gemeinsam beseitigen könnten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Eid?
Jawohl.
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben richtigerweise gefordert, daß den ärmsten, den am meisten verschuldeten Ländern die Schulden erlassen werden. Sie haben diesen Schuldenerlaß aber an die Bedingung geknüpft, daß die dabei eingesparten Gelder in dem jeweiligen Land in den Umweltschutz fließen.
Können Sie mir an Hand einiger Beispiele sagen, auf welchen Gebieten und inwieweit diese ärmsten Länder als Verursacher von Umweltverschmutzung angesehen werden können, wo denn diese Länder ihre Umwelt verschmutzen? Es gibt dort keine Industrie, keine Produktion, fast keine Autos. Wo verschmutzen diese Länder ihre Umwelt?
Frau Kollegin, ich möchte Ihnen zur Interpretation meiner Aussagen empfehlen, den Begriff Umwelt nicht so eng zu betrachten, wie Sie es getan haben. Wir haben auch in unserer Fraktion immer wieder die Frage gestellt, wie die allerärmsten Länder eine Politik betreiben können, die die verbleibenden Wälder - z. B. der Sahelzone - rettet. Das ist für mich auch eine ganz entscheidende Umweltfrage. Dasselbe gilt für den Gewässerschutz. Auch in den allerärmsten Ländern gibt es oft sehr große Städte mit einer Umweltsituation, die wirklich haarsträubend und lebensgefährlich ist.
Es gibt genügend Gelegenheit, mit den „ debtfor-nature-Swaps " oder ähnlichen Instrumenten wenigstens ein bißchen Abhilfe zu schaffen. Diese Projekte machen wir auch. Unsere Fraktion hat ganz konkrete Dinge für die anstehenden Schuldenregelungen z. B. in Vietnam und Honduras vorgeschlagen.
Ein weiterer entscheidender Punkt, bei dem wir stärker Hilfe leisten könnten, ist der Aufbau einheimischer Produktions-, Verteiler-und Wartungskapazitäten für ressourcensparende Energietechnologien in der Dritten Welt. Wir haben immer wieder festgestellt: Ausschlaggebend für eine größere Akzeptanz neuer, sparsamer Energietechnologien in der breiten Bevölkerung der Dritten Welt ist, daß sie - wenngleich mit unserer Hilfe - im Land produziert und vermarktet und nicht aus dem Norden importiert werden.
Unsere Hoffnungsträger sind dabei die Frauen, die für die Energieversorgung im Haushalt zuständig sind und ohne deren Engagement viele Projekte zugunsten eneuerbarer Energien scheitern müssen.
Unabdingbar für einen spürbaren Erfolg ist schließlich, daß die deutschen Bemühungen um eine umweltschonendere Energiepolitik gegenüber der Dritten Welt auch von anderen Gebernationen und -institutionen unterstützt werden. Das gilt für die Europäische Union ebenso wie für die Weltbank und die zersplitterten UNO-Organisationen, die sich mit Umwelt- und Energiepolitik befassen. Ich darf an dieser Stelle an unsere entsprechenden Anträge in diesem Hohen Hause erinnern.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Anmerkung zur Kritik der Opposition an dem Konzept der gemeinsamen Umsetzung - „joint implementation" - machen. Ich halte es schon für ideologisch kleinkariert, wenn man alle derartigen Überlegungen als quasi unmoralisch zurückweist.
Entscheidend muß doch, und zwar für uns alle, die globale Nettobilanz bei der Verminderung der Umwelt- und Klimazerstörung sein. Wenn z. B. aus rein technischen Gründen derselbe finanzielle Aufwand eines deutschen Unternehmens im Ausland wesentlich mehr Effekt bringt als im Inland, ist der Vorwurf des Sich-Freikaufens wirklich plumpe Ideologie.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, zweieinhalb Jahre nach dem Startschuß in Rio de Janeiro kommt der Rio-Prozeß nur mühsam voran. Trotz einiger völkerrechtlicher und organisatorischer Fortschritte sind die Industrie- und Entwicklungsländer miteinander und untereinander zerstritten. Es wird mehr gepokert als verhandelt.
Die eigentlich Betroffenen sitzen an keinem Verhandlungstisch, weil sie noch Kinder oder noch gar nicht geboren sind. Wir sollten dennoch den Glauben an die Vernunft und das Verantwortungsgefühl der Politiker weltweit auch in der Frage der Klimavorsorge nicht verlieren.
Wir sollten unverdrossen und beharrlich auch die Entwicklungsländer in jeder Konferenz, in jeder Regierungsverhandlung auf ihre ökologische Mitverantwortung hinweisen, und zwar auch auf ihre Mitverantwortung gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung. Wir müssen auf die Änderungen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen auch in den Entwicklungsländern drängen, auf Umweltbewahrung, Armutsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit.
Umgekehrt müssen wir als Industrieländer auch unsere Rahmenbedingungen für eine bessere Entwicklung in der Dritten Welt - Stichwort Protektionismus - ändern und unsere Hilfen für die Entwicklungsländer koordinieren, erhöhen und verbessern. Das gilt vor allem für die Schlüsselbereiche Umwelt und Energie, Armutsbekämpfung, Bildung und Ausbildung.
Wir müssen hier im Norden unsere umweltpolitischen Hausaufgaben machen. Nichts ist doch in der Politik überzeugender als das gute Beispiel. Je glaubwürdiger wir auch vor und während des Weltklimagipfels heuer in Berlin darlegen können, wie ernst wir es mit dem Klimaschutz und der Bewahrung der Schöpfung im eigenen Lande nehmen, desto größer wird auch die Verantwortung sein,
({0})
die die Entwicklungsländer oder unsere östlichen Nachbarn für die Zukunft unserer einen und lebenswerten Erde zu übernehmen bereit sind.
Ich bin überzeugt, daß unsere Ministerin Angela Merkel in Berlin beweisen wird, daß wir es mit dem Klimaschutz auch in Deutschland ernst meinen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Adler ({0}).
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den Kartoffeln eines Hektars Land können elf Menschen mit genügend Eiweiß und 17 Menschen mit ausreichenden Kalorien versorgt werden.
({0})
Dagegen kann man mit der Viehzucht vergleichsweise nur zweieinhalb Menschen proteinbezogen und zwei Menschen mit genügend Kalorien ernähren.
In den Entwicklungsländern verdrängt die Viehwirtschaft heute die Produktion von Grundnahrungsmitteln. So wurde in Mexiko innerhalb von 15 Jahren die Anbaufläche für Bohnen, Mais und Weizen um 2 Millionen ha eingeschränkt, aber die Fläche für den Viehfutteranbau um 1 Million ha ausgeweitet. Der Viehbestand stieg in dieser Zeit von 3,9 Millionen auf 6,4 Millionen Stück. Die Methangasemissionen z. B. sind die entsprechende Folge. Als Folge der Erhöhung des Viehbestandes muß der Nahrungsmittelbedarf der Bevölkerung zunehmend mit Importen gedeckt werden.
Was nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dies mit der Arbeit der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" und ihrem Bericht zu tun? Der Arbeitsauftrag hatte auch die Landwirtschaft einbezogen. Da aber viele Probleme mit ihrer Fragestellung nicht mehr nur national beschaut werden dürfen, haben wir nicht nur den europäischen Markt der Europäischen Union betrachtet, sondern auch die Länder des Südens.
Abhängigkeiten in neuer Dimension sind entstanden: der Raubbau an der Natur, Schuldenproblematik, die zu Agrarprodukten führt, die die Degradation der Böden zur Folge haben. Die Verkettungen ließen sich beliebig fortsetzen. Zur Verdeutlichung aber noch einmal: Immer mehr Agrarflächen werden in den Entwicklungsländern für die Produktion von devisenbringenden Agrargütern wie Kaffee, Soja, Maniok und anderen gebraucht. Das heißt, um die Schuldzinsen und Tilgungsraten bezahlen zu können, muß Hartgeld erwirtschaftet werden. Diese Flächen werden aber oft Kleinbauern entzogen, so daß Großgrundbesitzer und der Staat Nutznießer dieser Entwicklung sind.
Die Terms of trade wiederum benachteiligen die Agrarländer des Südens. Um einen modernen Traktor in den Industrieländern kaufen zu können, müssen immer mehr Bananen und sonstige Substitute abgegeben werden. Der Süden hat somit mehrfach das Nachsehen.
Was aber hat das mit dem Klima zu tun? Die UNEP hat ermittelt, daß auf ca. 2 Milliarden ha der Boden bereits degradiert ist, ja daß sich Wüste gebildet hat. Das sind von ca. 13 Milliarden ha weltweiter eisfreier Landfläche 17 %. Und dieser Prozeß schreitet mächtig voran.
Die Frage, die sich nun anschließt, lautet: Wird die Erde in Zukunft alle Menschen ernähren können?
Vordergründig sind genügend Nahrungsmittel vorhanden. Nur die Verteilung stimmt nicht. Die Länder im Norden haben mit Überschüssen zu kämpfen, während im Süden durch strukturelle Fehler Hunger und Armut herrschen. Muß nicht deshalb aus Verantwortung der Norden für den Süden mitproduzieren, und zwar in einer Art und Weise, daß durch eine Intensivlandwirtschaft dann wieder Schäden in Natur und Umwelt auftreten? Ein Teufelskreis für beide, für den Norden und den Süden?
Das muß nicht sein. Eine vernünftige, umweltverträgliche Art zu wirtschaften hilft beiden. Der Anteil der Landwirtschaft an den Schadstoffemissionen von 15 % - national und weltweit - könnte eingedämmt werden. Es müßten nicht 987 Millionen t CO2 aus Brandrodung oder 2 Milliarden t CO2 aus Savannenbränden in die Atmosphäre entweichen.
Die Technikgläubigkeit ist in diesen Tagen durch das schwere Erdbeben in Japan erschüttert worden. Man kann nicht auf Dauer gegen die Natur handeln und glauben, die Technik und moderne Technologien wie Bio- und Gentechnik würden die Fehlentwicklungen schon korrigieren.
({1})
Diese Rechnung geht nicht auf. Wir sollten endlich bereit sein, politische Kurskorrekturen vorzunehmen. Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission bieten gute Vorschläge. Die Fachausschüsse müssen und können nun beweisen, daß sie begriffen haben, was auf dem Spiel steht. Kurzatmige und halbherzige Lösungen können wir nicht mehr hinnehmen.
Wir können es uns nicht mehr erlauben, daß Getreide als Futter für das Vieh der Reichen mißbraucht wird. Es ist als Grundnahrungsmittel für die Armen zu wichtig. So muß man wissen, daß eine Kalorie des Getreides im Brot in eine Kalorie verwandelt wird. Geht diese Kalorie des Getreides durch den Tiermagen, dann benötigt man sieben pflanzliche Kalorien, um eine tierische Kalorie - Fleisch, Eier, Milch - zu erzeugen.
Bei der Schweinefleischproduktion ergibt sich ein Verhältnis von 3 : 1, bei Rindfleisch sogar von 10 :1. In den Ländern des Nordens, also bei uns, könnten Flächen für das Futtergetreide vermehrt ausgewiesen werden. Damit könnte man die Überschüsse in den Griff bekommen. In den Ländern des Südens wären dann Flächen für die Grundnahrungsmittel frei.
Die erwartete Klimaänderung wird die Natur drastisch treffen. Die Länder des Südens werden stärker benachteiligt sein. Wir im Norden werden ebenfalls betroffen sein, aber nicht so gravierend.
Das enthebt uns aber nicht des verantwortlichen Handelns zur Verhinderung von Schadstoffen. Die Bundesregierung muß sich deshalb fragen lassen, was sie bislang getan hat und heute tut, um im eigenen Land und in der Europäischen Gemeinschaft verantwortungsbewußt zu handeln.
Die derzeitige Agrarpolitik ist nicht dazu angetan. Die verschiedenen Interessen prallen hart aufeinander. Nur wenn es gar nicht mehr geht, kommt es zu
kleineren Kurskorrekturen wie bei der letzten Agrarreform in der EU.
In der Entwicklungspolitik ist es nicht viel anders, versuchen doch deutsche Agrarchemieunternehmen, ihre Absatzrückgänge z. B. durch den Absatz von Pflanzengiften und mineralischem Dünger im Ausland auszugleichen.
Positive Ansätze gab es mit der Waldkonvention von Rio und der Einrichtung des GEF, wenngleich dessen finanzielle Ausstattung ungenügend ist.
Die Bewährungsprobe beginnt. Die Fachausschüsse haben nun Gelegenheit, die Handlungsempfehlungen vor dem Hintergrund der Analysen und Forschungsberichte zu bewerten. Die zweite Vertragsstaatenkonferenz steht ebenfalls in der Verpflichtung. Es gibt noch eine Chance; nutzen wir sie im Interesse von uns allen!
({2})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeit der EnqueteKommission in der 11. und 12. Legislaturperiode zum Klimaschutz hat das Problembewußtsein national und international beträchtlich sensibilisiert. Ich möchte an dieser Stelle all denen, die in dieser Kommission mitgearbeitet haben, ganz herzlich danken.
({0})
Ich glaube, es ist jetzt deutlich geworden: Die globale Dimension des Problems liegt klar auf dem Tisch. Der mitarbeitende Wissenschaftler Graßl hat uns auch ganz deutlich gesagt: Die Bringeschuld der Wissenschaft ist erfüllt. Wir können uns als Politiker nicht mehr herausreden. Oft wird den Wissenschaftlern vorgeworfen, daß sie sich keine Zeit nehmen, ihre Erkenntnisse so zu vermitteln, daß wir die notwendigen politischen Folgerungen ziehen können. In diesem Falle ist das deutlich geschehen.
({1})
Die politischen Vorgaben sind klar, und ich möchte deutlich sagen: Die Ergebnisse dieser Enquete-Kommission fließen direkt und, wenn ich es mit anderen politischen Bereichen vergleiche, relativ unmittelbar in unser Handeln ein.
Deshalb möchte ich sagen, daß die Bundesregierung deutlich mit Beschlüssen reagiert hat: 25 bis 30 % CO2-Minderung, gemessen an dem Niveau von 1987, ist ein ehrgeiziges, aber machbares Ziel, und wir stehen zu diesem Ziel.
({2})
Dies heißt in der Tat, daß wir Schritt für Schritt klare Maßnahmen ergreifen müssen, die alle Bereiche der Politik und unseres Lebens betreffen. Dazu gehört Energiesparen, dazu gehört die Entwicklung regenerativer Energien, dazu gehört ein Umdenken im Verkehrsbereich.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, mir bleibt es schon ein Rätsel, wenn Sie ausgerechnet im Zusammenhang mit der Diskussion über die Klimafrage immerwährend den Antrag wiederholen, daß man nun am besten unmittelbar aus der Kernenergie aussteigen müßte.
({3})
- „Gerade deshalb" ist in diesem Zusammenhang eine völlig unlogische Verknüpfung. Ich rede ja nicht über Ihre allgemeine Forderung. Aber daß Sie dies als Bestandteil des Planes, die CO2-Emissionen zu reduzieren, hier wieder aufführen, bleibt mir schleierhaft. Das bedeutet erst einmal einen Anstieg von 10 % bei den CO2-Emissionen.
({4})
- Natürlich ist es so. Das Energiesparen kommt trotzdem. Aber es ist so, daß im letzten Jahr z. B. 150 Millionen t CO2 mehr ausgestoßen worden wären, wenn die Kernkraftwerke durch Kraftwerke mit fossilen Energieträgern ersetzt worden wären.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?
Ich gestatte eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller,
Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, daß alle weltweiten Energieszenarien, selbst die, die eine Verzwölffachung beim Bau von Atomkraftwerken vorsehen, das globale CO2- Problem nicht lösen und daß einzig die beiden weltweiten Szenarien, die den Ausstieg vorsehen und damit sozusagen die wirtschaftlichen Kräfte voll auf die Energieeinsparung und die Solarenergie setzen, das Problem lösen können?
Herr Müller, zumindest teile ich das, was Sie sagen, nicht, und zwar weil ich glaube, daß in diesen Szenarien Äpfel mit Birnen verglichen werden.
({0})
Ich habe über eine Situation gesprochen, wie wir sie bei uns vorfinden. Mir ist bekannt, daß man das CO2-Problem durch Kernenergie allein nicht löst. Kein Mensch sagt bei uns, daß wir allein Kernenergie zur Energieerzeugung verwenden wollen. Ich frage nur - das war meine einzige Frage; ich wollte meine Rede jetzt nicht auf die Kernenergie konzentrieren -, warum man ausgerechnet im Zusammenhang mit CO2-Emissionen den Ausstieg aus der Kernenergie fordert.
({1})
Hier sehe ich keinen logischen Zusammenhang; das
muß ich einfach so sagen. Ich glaube auch nicht, daß
Sie mich in den nächsten zwei Minuten umstimmen
können. Daß die Szenarien einmal Kernenergie beinhalten und einmal nicht, hängt sicherlich daran, daß sie von verschiedenen Gruppen gemacht wurden, von denen die eine Gruppe die Kernenergie an sich nicht will. Aber ich glaube, wir können das dann anderweitig einmal vertiefen.
Gestatten Sie eine weitere Frage von Herrn Müller?
Eine Nachfrage noch.
Teilen Sie die Position Ihres heutigen Kollegen, des früheren Vorsitzenden der Enquete-Kommission, der gesagt hat, daß die entscheidende Problematik beim Klimaschutz nicht dieser unsinnige Streit ist, ob man auf die Atomenergie setzen oder zubauen soll, sondern daß die wirklich entscheidende Frage ist, ob wir die Kräfte für die Energieeinsparung mobilisieren oder nicht?
Richtig, Herr Müller! Deshalb bin ich so erschüttert. Ich teile diese Position ausdrücklich. Daß Sie es nicht lassen konnten, in Ihren Antrag wiederum diese alten Grabenkämpfe mit aufzunehmen, genau das ist mein Punkt.
({0})
Ich teile diese Auffassung von Herrn Lippold ausdrücklich.
({1})
- Von Herrn Schmidbauer, gut. Aber das ist ja eine gute Folge von Vorsitzenden. Entschuldigung, daß ich mich in der Legislaturperiode und in der Zeitfolge geirrt habe.
Nun hat es heute zu der Thematik eine Presseerklärung des SPD-Vorsitzenden gegeben, zu der ich leider sagen muß, daß sie aus einer Reihe von Allgemeinplätzen und einer Unwahrheit besteht.
({2})
Zu den Allgemeinplätzen möchte ich nicht weiter Stellung nehmen. Ich möchte mich aber zu der Unwahrheit äußern.
Es wird hier behauptet, daß ich einräumen würde, daß mittelfristig die CO2-Emissionen, für die Deutschland verantwortlich ist, auf heutigem Niveau bleiben oder sogar steigen. Ich möchte hier ganz deutlich sagen: Ich habe dies nicht eingeräumt, sondern ich habe eine andere Sache zu bedenken gegeben, auf die ich sofort komme. Ich bitte wirklich ganz dringend die Umweltpolitiker der SPD-Fraktion, die heute mehr oder weniger da sind - im Gegensatz zu anderen , daß sie weitersagen, daß dies nicht meine Haltung ist, sondern daß ich lediglich davor gewarnt habe, das ehrgeizige Ziel der CO2-Reduktion auf die leichte Schulter zu nehmen, und gesagt habe, daß zwischen den Jahren 1995 und 2005 das Einschwenken auf die richtigen Kurvenverläufe notwendig ist.
Dazu muß man zwei Dinge sagen. Erstens kann man nicht sagen, daß sich die CO2-Emissionen de facto überhaupt nicht reduziert haben. Das ist unwahr. Sie haben sich in den neuen Bundesländern durch verschiedene Ereignisse gravierend reduziert. Diese Ereignisse werden wir in der Folge bis zum Jahre 2005 nicht mehr haben; aber daß wir sie hatten, ist erfreulich. Auch daß dabei eine Reduktion von CO2- Emissionen herausgekommen ist, ist für mich in weiten Teilen erfreulich, weil nämlich in der DDR an Energie gequast und verschwendet wurde, was das Zeug hielt.
({3})
Deshalb ist ein wesentlicher Teil der Einsparung darauf zurückzuführen.
Zweitens ist ein Teil der Einsparung darauf zurückzuführen, daß viele Menschen es vorgezogen haben, in die alten Bundesländer zu gehen. Das wiederum hat - neben anderem - dazu geführt, daß die Bevölkerungszahl in der alten Bundesrepublik gestiegen ist. Sie müssen zugeben, daß die spezifische CO2-Emission auch in den alten Bundesländern in den letzten Jahren gesunken ist. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir uns ernsthaft über diese Dinge unterhalten.
({4})
Nun möchte ich meinem Kommentar zu der Scharpingschen Presseerklärung nur noch eines hinzufügen: Wenn hier davon die Rede ist, daß die Chancen für den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht erkannt werden und der ökologische Umbau nicht genutzt wird, dann kann ich nur sagen: Auch Ihnen sollte doch bekannt sein, daß wir mit 21 % Anteil an der Umwelttechnologie durchaus einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet haben, daß natürlich Umweltschutz heute ein Arbeitsmarktfaktor ist und daß wir das weiterbetreiben wollen, daß wir die Exportchancen nutzen wollen, daß wir ein Umwelttechnologiezentrum in Leipzig gründen werden
({5})
und daß wir hier einen ganz wichtigen Punkt sehen.
({6})
Sagen Sie das bitte Ihrem Vorsitzenden, wenn er das noch nicht wissen sollte.
Nun bereiten wir - hier wird gesagt, das tun wir ungenügend - die Klimakonferenz in Berlin vor. Ich muß Ihnen sagen, daß wir dies mit allen personellen und sonstigen Kräften, die wir haben, intensivst tun. Der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. zeigt hier heute doch noch einmal, daß die Vorbereitung dieser Konferenz für uns ein Schwerpunkt im ersten Halbjahr ist.
Wir werden im Hinblick auf diese Konferenz auf drei Ebenen intensiv weiterarbeiten. Die erste Ebene bilden die internationalen Verpflichtungen, die internationalen Rahmenbedingungen auf dieser Konferenz.
Die Bundesregierung ist nach wie vor der Meinung, daß die Konvention durch ein Klimaprotokoll ergänzt werden muß. Wir sehen aber zur Zeit, daß es zur
Unterzeichnung eines solchen Protokolls auf der Vertragsstaatenkonferenz in Berlin nach menschlichem Ermessen nicht kommen wird. Das ist nicht die Schuld der Bundesregierung - das muß man ganz deutlich sagen
({7})
- aber Sie können doch nicht einfach „doch" sagen -, sondern das ist die Lage, die wir vorfinden. Ich möchte Ihnen dazu gern sagen, daß wir alles tun werden, um ein klares und deutliches Mandat für Verhandlungen zu erreichen, daß wir dazu auf europäischer Ebene Vorbereitungen getroffen haben, daß dies aber nur dann etwas nützt, wenn 80 Länder - und dazu gehören die Annex-I-Länder, das wissen Sie besser als ich, und vor allen Dingen die OECD-Länder - davon überzeugt werden, unserer Richtung zu folgen.
({8})
Außenpolitik vollzieht sich noch immer so, daß alle Länder mit gleicher Stimme sprechen und daß nicht einer sagen kann, was er für die anderen für richtig hält.
Ich bitte Sie herzlich, bei allen Gesprächen - z. B. bei den Republikanern oder den Demokraten in den Vereinigten Staaten - dafür zu werben, daß das, was einmal gedacht war, auch Realität wird. Ich werde dies tun und werde dies mit allen möglichen Mitteln versuchen.
({9})
Die Souveränität der einzelnen Staaten aber können und wollen wir nicht antasten.
({10}) - Reden wir dann auch über uns.
({11})
Aber wenn wir über die Klimakonferenz - -({12})
- Sie werden mir doch, wenn ich hier 13 Minuten Redezeit habe, gestatten, daß ich zwei Minuten darauf verwende zu sagen, wie die allgemeine Lage in der Vorbereitung einer UN-Konferenz ist.
({13})
Das ist eine UN-Konferenz und keine nationale Konferenz zur CO2-Minderung. Das muß ich Ihnen sagen.
Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Hartenstein?
Ja.
Bitte.
Frau Ministerin, würden Sie wenigstens einräumen, daß die Vorbereitungen, die durch Ihren Vorgänger getroffen worden
sind, schlicht und einfach nicht zum Ziele geführt haben? Es bestand das ehrgeizige Ziel, einen Protokollentwurf vorzulegen. Ist er von der Bundesregierung beschlossen worden oder nicht? Meines Wissens ist er wegen des Widerstands von Wirtschaftsminister und Verkehrsminister nicht beschlossen worden.
Wie beurteilen Sie das, was Bundesumweltminister Töpfer damals letztlich als Restposten vorlegen konnte, nämlich dieses sogenannte Elemente-Papier vom 29. September 1994 - wirklich ein dürftiges Elaborat -, das für die Bundesrepublik Deutschland aus unserer Sicht ja kein Ausweis einer fortschrittlichen Klimapolitik sein könnte?
Frau Hartenstein, ich fange mit Ihrer letzten Frage an. Ich wäre glücklich und fröhlich, wenn dieses Elemente-Papier der Bundesregierung, das verabschiedet wurde, das Elemente-Papier wäre, mit dem wir in Berlin die Konferenz beenden.
({0})
Wenn Sie mir auf diesem Weg auch nur ein Schrittchen helfen oder mir gute Tips geben, wie ich das schaffen kann, dann wären wir meiner Meinung nach einen Riesenschritt vorangekommen.
({1})
Leider kann ich aber nicht erkennen, daß dies der Fall ist.
Was die Vorbereitungen von Herrn Töpfer anbelangt, möchte ich Ihnen nur an Hand eines Beispieles sagen, daß sie hervorragend waren. Als ich meine erste Sitzung als Präsidentin des Rates der Umweltminister in Brüssel hatte, konnten wir ein Papier zur CO2-Minderung unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verabschieden, das zum ersten Mal deutlich ausgedrückt hat: Nach dem Jahr 2000 - um diese Zeit geht es ja - soll es eine gleichbleibende oder reduzierte CO2-Emission in der Europäischen Union geben. Das ist ein Riesenerfolg. Wir sind froh, daß wir dies erreicht haben, weil wir nun wenigstens die Chance haben, als Europäische Union mit einem Mandat in diese Konferenz hineinzugehen.
Was den Ablauf von internationalen Konferenzen anbelangt: Da hat es sich immer gut gemacht - ich glaube, das können Ihnen die Außenpolitiker Ihrer Fraktion bestätigen -, daß man nicht nach dem Motto „Ich bin der Klassenbeste" vorrennt, sondern versucht, in einer gemeinschaftlichen Aktion Schritt für Schritt voranzukommen. Ich jedenfalls werde diese Haltung von meinem Vorgänger übernehmen.
({2})
Um auch noch auf das Nationale zu kommen: Wir müssen in unserer Betrachtung natürlich weitere Schritte gehen. Der interministerielle Arbeitskreis hat Maßnahmen aufgezählt. Sie nennen das so einfach ein Elaborat, eine unendliche Aufzählung von irgendwel816
chen Maßnahmen. Es ist nun einmal so, daß sich die Dinge aus vielen verschiedenen Teilen unseres Lebens zusammensetzen. Das wissen Sie auch. Ich bin versucht, etwas scherzhaft zu sagen: Kleinvieh macht auch Mist. Es ist eben so, daß auch verschiedene kleine Änderungen unserer Lebensgewohnheiten etwas beitragen können.
Frau Hartenstein, Sie nehmen den Verkehrswegeplan und sagen, dies sei das letzte, was uns auf diesem Wege hilft. Es ist zum erstenmal so gewesen, daß der Bundesverkehrswegeplan mehr Investitionen im Bereich der Bahn beinhaltet hat als im Bereich der Straße. Das ist eine Umkehr. Wenn Sie dann noch zu kritisieren haben, sage ich nur: Die Maßnahmen des Bundesverkehrswegeplans mußten immer wieder im Bundesrat bestätigt werden. Dort gab es Zustimmung. Diese Zustimmung können wir dort zur Zeit bekanntlich nicht alleine organisieren.
({3})
Also diskutieren Sie das noch einmal mit Ihren Länderpolitikern. Die haben da ihre eigene Meinung.
Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wolf?
Ja, dies ist dann die letzte.
Ich bedanke mich bei der Frau Ministerin und dem Präsidenten, daß ich als letzter eine Zwischenfrage stellen darf.
Sie sagen, daß im Bereich der Verkehrspolitik Signale in die richtige Richtung gesetzt worden seien. Ist Ihnen nicht bekannt, daß gerade im Verkehrsbereich die Signale in die entgegengesetzte Richtung gehen, daß z. B. der heutigen „Süddeutschen Zeitung" zu entnehmen ist, daß die Autopreise gesenkt werden sollen, daß die Deutsche Bahn AG das Tramper-Ticket jetzt abschaffen wird - das ist vielleicht für die jungen Leute auf der Tribüne wichtig - und daß in diesem Jahr zum erstenmal die Gesamttonnage auf der Deutschen Bahn AG mit 70 Milliarden Tonnenkilometern unter dem liegt, was vor acht Jahren die Deutsche Reichsbahn und die Deutsche Bundesbahn zusammen hatten, was einen historischen Tiefstand der gesamten Bahn in Deutschland bedeutet: insgesamt die Hälfte von dem, was vor sieben Jahren erreicht worden ist? Wie soll das als Signal in die richtige Richtung ausgelegt werden?
({0})
Herr Kollege, ich habe darüber gesprochen, daß wir Maßnahmen in die richtige Richtung eingeleitet haben. Dazu gehören z. B. die Modernisierung des Streckennetzes und der Ausbau der Strecken der Bahn - inzwischen: der Bahn AG. Natürlich ist die Zahl, die Sie nennen, keine erfreuliche Zahl. Deshalb muß die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn gestärkt werden. Ich vermute einmal, Sie haben der Privatisierung nicht zugestimmt. Wir haben die Privatisierung der Bahn deshalb so vorangetrieben, um sie endlich zu einem wettbewerbsfähigen Träger zu machen
({0})
und nicht durch jährliche Staatszuschüsse in einem Zustand zu behalten, der für die Kunden immer unattraktiver wird. Wir können das jedoch nicht befehlen. Unser Ansatz ist vielmehr, daß wir mit marktwirtschaftlichen Mechanismen versuchen, die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken. Von daher ist der Bundesverkehrswegeplan aus meiner Sicht richtig.
({1})
Abschließend möchte ich sagen: Für mich sind in der 13. Legislaturperiode weitere Maßnahmen zur Umwelt- und Energiepolitik von ganz entscheidender Wichtigkeit. Als erstes müssen wir uns einig werden, wie die Zukunft der Energiepolitik aussehen soll. Als zweites müssen wir die Ziele aus der Koalitionsvereinbarung umsetzen. Ich nenne als Stichwort das Auto, das nur noch fünf Liter je hundert Kilometer brauchen darf. Sie haben das in Ihrem Antrag aufgenommen.
({2})
Das freut mich. Man soll die Gemeinsamkeiten ja loben.
({3})
- Sicherlich: mindestens. Wir sind technologie- und forschungsfreundlich und werden deshalb alle Möglichkeiten unterstützen, damit dies noch weiter unterboten wird.
Des weiteren brauchen wir Förderungen bei der energetischen Sanierung im Gebäudebestand. Ich halte das nach wie vor für wichtig. Auch wenn es hier Widerstände gibt, müssen wir das ins Auge fassen.
Ich denke, wir müssen bei der Düngeverordnung etwas machen, ebenso bei Energieverbrauchskennzeichnungen. Wir müssen vor allen Dingen auch im europäischen Rahmen an den Grundlagen für eine CO2-/Energiesteuer weiterarbeiten.
({4})
Aber auch hier zeigt sich, daß es nicht so einfach ist, alle Länder gleichzeitig von einer solchen Maßnahme zu überzeugen. Sie werden im Sinne der Pressekonferenz Ihres Vorsitzenden sicherlich mit mir einig sein, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland dann am besten erhalten wird, wenn wir uns europaweit, wo wir die Wirtschaftsunion haben, gemeinsam auf vernünftige Maßnahmen konzentrieren.
({5})
Deshalb werde ich weiterarbeiten, um eine solche CO2-/Energiesteuer vernünftig einzuführen. Ich bitte dabei um Ihre Unterstützung.
Bundesministerin Dr. Angela Merkel Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Horst Kubatschka.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" des 12. Deutschen Bundestages hat ihre Aufgabe nur teilweise gelöst. Gute Noten verdienen wir dort, wo es uns geglückt ist, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Kein gemeinsames Ergebnis bedeutet eine schlechte Note. Der fehlende Konsens mindert das Ergebnis der langjährigen Beratungen - sieben Jahre - ganz eindeutig.
Kein Konsens war möglich bei den Empfehlungen für den Energieteil und den Verkehrsteil, als es galt, meine Damen und Herren, an Besitzstände zu gehen, sie in Frage zu stellen und Neuland zu betreten.
({0})
Herr Lippold, jetzt noch ein persönliches Wort an Sie, das nicht in meinem Manuskript steht: Ihr Verhalten heute hat mir eigentlich bewiesen, daß Ihre öfter stattfindenden parteipolitischen Ausrutscher die Arbeit der Klima-Enquete nicht gefördert haben. Ich sage das hier ganz vorsichtig. Ich glaube, da hätten wir manches - ({1})
- Frau Kollegin, Sie waren nicht dabei. Sie können das nicht beurteilen. Ich habe das ganz vorsichtig gesagt - bloß zum Nachdenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich mit dem Energieteil des Abschlußberichts auseinandersetzen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten versuchten bis zum Schluß, eine gemeinsame Empfehlung für diesen wichtigen Teil zu erreichen. Wir haben es wirklich offengelassen. Es gab keine Möglichkeit, zu einem Konsens zu kommen. Das war leider nicht möglich, weil die Koalitionsfraktionen keine gemeinsamen Empfehlungen wollten.
Dies lag vermutlich an den verschiedenen Auffassungen über die Arbeit der Kommission. Wir wollten Empfehlungen geben, die weit in die Zukunft weisen. Visionen waren gefragt - Lösungen, Denkanstöße, die über den Tag hinaus, ja in das nächste Jahrtausend weisen.
({2})
Die Koalitionsfraktionen schienen eher an einen kurzfristigen Wahlkampf zu denken.
Meine Damen und Herren, die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern von der Koalitionsseite wies Licht und Schatten auf. Bei der Analyse waren wir uns alle einig. Wir waren uns auch einig beim Beschreiben der grundlegenden Zielsetzungen einer deutschen Klimaschutzpolitik.
Als es dann aber zu den Empfehlungen - sozusagen zum Eingemachten - kam, war das Verhalten einiger Wissenschaftler für mich enttäuschend. Sie wurden in die Pflicht der Koalition genommen; übrigens in einem Ausmaß, wie ich mir das als Abgeordneter nicht gefallen lassen würde.
({3})
Die gemeinsamen Beratungsergebnisse, der Konsens, der teilweise erreicht wurde, aber auch mancher Kompromiß galten nicht mehr viel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Wissenschaftler leben in Abhängigkeiten. Diese Abhängigkeiten lösen sich anscheinend erst auf, wenn man sein aktives Arbeitsleben abgeschlossen hat und über 80 Jahre alt wird. Danken möchte ich deshalb Herrn Professor Michaelis, der sich bei den Empfehlungen der Minderheitenvoten der Stimme enthalten hat.
Heute wurde ja schon mancher Dank abgestattet. Ich möchte an dieser Stelle den Naturschutzverbänden dafür danken, daß sie uns zugearbeitet und uns auch geistig herausgefordert haben. Ich glaube, das sollte hier auch einmal gesagt werden.
({4})
Kurz möchte ich mich mit der Kernenergie auseinandersetzen. Hier war ja schon die Rede davon. Für die Kernenergielobby ist der Treibhauseffekt ein Hoffnungszeichen. Sie hofft, daß die Angst vor der Klimakatastrophe größer wird als die Angst vor einem neuen Tschernobyl.
So deutlich ist das zwar im Endbericht nicht gesagt worden, aber immerhin heißt es - ich zitiere -:
Mit dem gegenwärtigen Beitrag der Kernenergie zur Stromerzeugung ist ihr Treibhausminderungspotential noch nicht erschöpft, wie ein Blick nach Frankreich zeigt.
Das heißt: Die Koalitionsfraktionen setzen auf Kernenergie zur Überwindung des Treibhauseffektes.
Dazu aber einige ernüchternde Zahlen: Die weltweit betriebenen 422 Kernkraftwerke erzeugen ca. 5 % des Primärenergiebedarfs - fünf lumpige Prozent. Selbst im atomenergiefreundlichen Frankreich, einem Paradies für die Atomlobby, werden nur 13 % der Primärenergie durch die Kernenergie erzeugt.
({5})
- Nein, man darf nicht nur vom Strom reden, sondern muß schon von der Primärenergie ausgehen.
Wollen Sie das Modell Frankreich weltweit als Lösungsmöglichkeit empfehlen? Will man im Jahre 2050 die Hälfte der Weltenergie mit Kernenergie abdecken, müßten mindestens 8 000 neue Atomkraftwerke in einer Größenordnung von jeweils 1 200 MW errichtet werden.
({6})
Halten Sie das wirklich für einen guten Weg in die Zukunft?
Deswegen müssen wir, bezogen auf die Stromerzeugung - davon rede ich jetzt -, einen anderen Weg gehen. Ich zitiere aus dem Schlußbericht:
Maximale technische Stromeffizienz und KraftWärme-Koppelungstechniken für Gas und Kohle
sind die kurz- und mittelfristig entscheidenden
Übergangstechnologien für eine langfristig weitergehende regenerative Stromerzeugung.
Die Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt nicht in der Kernenergie, sondern in Photovoltaik, Wind, Wasser, Biomasse.
({7})
Und noch ein Hinweis: Bei den Ländern, die aus der Kernenergie ausgestiegen sind - es gibt ja in Europa Länder, die vorangehen -, ist der Anteil der erneuerbaren Energien bedeutend höher, dort geschieht etwas. Die Kernenergie blockiert nämlich nur.
({8})
Zu einem weiteren Teilaspekt der erneuerbaren Energien: Die Windenergie hat den Durchbruch geschafft. Vor wenigen Jahren wäre das noch undenkbar gewesen, hätte man eine solche Vorstellung in das Land der Illusionen verwiesen. Betrachten wir die Photovoltaik. Für viele, die mit dem spitzen Stift einseitig - ich betone: einseitig - rechnen, wird mit der Photovoltaik ebenfalls das Land der Illusionen betreten. Auch beim Wind war das vor Jahren noch so.
In den 50er Jahren wurden die Weichen bei uns falsch gestellt, die Kernenergie erhielt grünes Licht. In die Kernenergie wurden Milliardenbeträge gesteckt.
({9})
Wären diese Milliardenbeträge in die verschiedenen Nutzungen der Sonnenenergie geflossen, wäre der Durchbruch bei diesen sanften Energien ermöglicht worden. Manches Problem wäre uns erspart geblieben.
Photovoltaikanlagen können zur Zeit nur in einem kleinen Sektor wirtschaftlich sein. Das gilt nicht nur für die Armbanduhr, das gilt auch bereits bei Insellösungen mit Anlagen bis zu 10 kW Leistung. Wir werden auf diesem Gebiet weitere Fortschritte erreichen, wenn wir wollen. Bisher galt bei der Photovoltaik ein theoretischer Wirkungsgrad von maximal 30 %. Inzwischen geht man von einer theoretischen Obergrenze von 43 % aus.
({10})
Im Labor haben wir einen Wirkungsgrad von 23,5 % erreicht - ein Weltrekord.
Wir haben das Thema „Photovoltaik" im Bericht sehr nüchtern abgehandelt, eigentlich bar jeder Vision. Deswegen möchte ich eine Vision nennen. Sie erscheint, so muß ich zugeben, auch mir utopisch. In Japan läuft das Projekt „Genesis" an. Damit soll erreicht werden, daß bis zum Jahre 2030 die Hälfte der Weltstromproduktion aus Photozellen erfolgt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Zukunft müssen wir die Energiefragen klimaverträglich lösen, und zwar weltweit. Die Industrienationen müssen aber vorangehen. Wenn wir den Anspruch eines High-Tech-Landes erheben, müssen wir uns in der
Spitzengruppe befinden. Deshalb brauchen wir eine Reform der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir brauchen vor allem ein Energiegesetz, das Energieeinsparung und Effizienzsteigerung zur ersten Priorität macht. Dies schafft eine Technik, die weltweit erforderlich ist. Wenn wir diese Schritte nicht gehen, gehen andere Industrienationen voran. Dann verlieren wir wichtige Exportmärkte, und das bedeutet die Vernichtung von Arbeitsplätzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß: Während der Beratungen der Klima-Enquete-Kommission haben wir uns durch viele tausend Seiten gekämpft. Gutachten für Millionenbeträge wurden vergeben. Diese Debatte darf kein Abschluß sein; das Ergebnis dürfen nicht zwei „Bonn-Stunden" sein. Es darf aber auch nicht sein, daß wir unseren Enkeln sagen müssen: Wir haben es gewußt, aber wir haben nicht gehandelt.
({11})
Wenn alle Erkenntnisse gebunden in Buchform vorliegen, werden das zwischen 50 und 100 cm sein, eine wahre Zierde für eine jede Buchschrankwand. Wer in die Seiten dieses Bücherwurmes greift, wird einen Schatz heben, voller Anregungen, voller Belege, voller Denkanstöße. Wir müssen diesen Schatz zum Wohle aller heben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluß dieser heutigen Debatte zum Energiebericht der Enquete-Kommission möchte ich mich auf den Hinweis beschränken, daß eine umweltverträgliche, ressourcenschonende Energieversorgung - wenn sie nicht nur in Szenarien stattfinden soll - immer auch im Kontext der anderen energiepolitischen Ziele wie Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit zu sehen ist,
({0})
wobei eine stärkere Ausrichtung der Energiepolitik auf klimapolitische Ziele allerdings, nicht zuletzt aus Vorsorgegründen, dringlich erforderlich ist.
Gestützt auf die mehrjährige, verdienstvolle Arbeit dieser Enquete-Kommission, der ich an dieser Stelle ausdrücklich meinen Respekt zollen möchte,
({1}): Na immerhin!)
haben die Vertreter der Koalition mit dem Energiebericht zum Ende der vergangenen Legislaturperiode einen Katalog von Handlungsempfehlungen für eine klimaökologisch verantwortbare Energiepolitik vorgelegt, der richtigerweise die Einheit von KlimaParl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
schutz, Energieversorgung und marktwirtschaftlichem Ordnungsrahmen betont.
({2})
Nach den Darlegungen der Umweltministerin brauche ich die Klimaschutzstrategie und die umweltschutzpolitischen Positionen der Bundesregierung nicht zu wiederholen. Ich will mich deswegen auf den Hinweis beschränken, daß der mit den Einzelmaßnahmen entstehende Anpassungs- und Umstrukturierungsprozeß, der völlig außerhalb jeden Zweifels steht, nicht zu Konsequenzen für die Wirtschaft führen darf, die auf der einen Seite die Durchsetzung dieser Überlegungen gefährden oder die, wenn dies gleichwohl erfolgte, auf der anderen Seite am Ende unter dem Gesichtspunkt der klimapolitischen Zielsetzungen kontraproduktiv ausfallen könnten.
Klimaschutzpolitik muß auch wirtschaftsverträglich organisiert sein,
({3})
und zwar nicht nur langfristig mit dem fundamentalen und natürlich hoffnungslos richtigen Hinweis, daß, ganz prinzipiell betrachtet, eine Klimaschutzpolitik immer auch im volkswirtschaftlichen Interesse und immer auch im unternehmerischen Interesse liegt. Man fördert die Umwelt ganz sicher nicht, wenn man ökonomische Voraussetzungen und Zusammenhänge nicht zur Kenntnis nimmt.
({4})
Die ökologische Schlußbilanz der DDR, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, war noch erhellender als die amüsanten Ausführungen des Kollegen Köhne über die kapitalistische Produktionsweise.
({5})
Eine rein national ausgerichtete Klimaschutzpolitik, die die Bedingungen des Wirtschaftsstandortes Bundesrepublik Deutschland nicht hinreichend berücksichtigt, kann weder unter ökonomischen noch unter ökologischen Gesichtspunkten die Ziele erreichen, die in dieser Debatte weitgehend unstreitig gewesen sind. Das heißt, wir brauchen unter jedem vernünftigen Gesichtspunkt nationale Anstrengungen - das ist wahr -, die wir mit einer internationalen Perspektive und dem hartnäckigen Bemühen um belastbare internationale Vereinbarungen verbinden müssen. Genau darum werden wir uns weiter bemühen.
Wir brauchen in der Energiepolitik in genau der gleichen Weise wie im Bereich der Klimaschutzvorsorge langfristige Weichenstellungen, gerade auch deswegen, weil das eine mit dem anderen offensichtlich eng zusammenhängt. Deshalb will die Bundesregierung im Interesse der Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und im Interesse von konkreten Fortschritten in den hier heute diskutierten Fragen die Ende 1993 abgebrochenen Gespräche über einen Konsens in energiepolitischen Fragen so schnell wie möglich wieder aufnehmen.
({6})
- Wenn, verehrter Herr Kollege Fischer, die GRÜNEN ihre regelmäßigen allgemeinen öffentlichen Erklärungen, wie dringlich eine Neuorientierung der Energiepolitik und der Klimapolitik sei, im Konkreten mit der Ankündigung verbinden, sie stünden für Gespräche über einen solchen Energiekonsens von vornherein nicht zur Verfügung, wenn das von Ihnen angestrebte Ziel des Kernenergieausstiegs nicht zur Voraussetzung dieser Gespräche gemacht wird, dann wissen Sie natürlich ganz genau, daß unter solchen Bedingungen, die alle Gesprächspartner für sich reklamieren könnten, ein solches Gespräch überhaupt nicht zustande kommt.
({7})
Damit begründen Sie Zweifel daran, ob Ihnen neben dem rhetorischen Wirbel wirklich an konkreten Fortschritten bei genau den Themen gelegen ist, die Sie heute und bei anderer Gelegenheit immer wieder gerne vortragen.
({8})
Wenn diese Debatte, verehrter Herr Kollege Fischer, bei allen unterschiedlichen Einschätzungen und Akzenten, die es naturgemäß auf der einen und der anderen Seite gibt und vermutlich auch noch für eine beträchtliche Weile geben wird, in irgendeinem Aspekt einen breiten Konsens zutage gefördert hat, dann doch den, daß wir eine neue und möglichst breite Verständigung darüber brauchen, welche Instrumente zur Verstärkung der rationalen Energienutzung in Zukunft zur Verfügung stehen müssen und können, eine neue Verständigung darüber, ob überhaupt, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen wir die heimischen Stein- und Braunkohlevorhaben für eine mittel- und langfristig orientierte Energiepolitik weiter einsetzen können und müssen, eine neue Verständigung über die Betriebs- wie auch die Planungssicherheit für die weitere Nutzung der Kernenergie, bei deren Produktion kein CO2, jedenfalls wesentlich weniger, freigesetzt wird. Uns mit der Ankündigung einer ausstiegsorientierten Energiepolitik konfrontieren ist ein Indiz dafür, daß man die Zusammenhänge weder ökonomisch noch ökologisch sorgfältig durchdacht hat.
Meine Damen und Herren, in diese Debatte ist hinreichend häufig der internationale Zusammenhang einbezogen worden. Dies muß ich zum Schluß nicht wiederholen; es bedarf auch keiner besonderen Unterstreichung.
Ich will aber auf eine Bemerkung zurückkommen, Frau Kollegin Hartenstein, die so etwas wie das Motto Ihres Beitrages zu diesem Thema in der heutigen Debatte war: Wir wissen fast alles, und wir tun fast nichts!
({9})
Frau Kollegin Hartenstein, ich denke, daß wir weder fast alles wissen noch fast nichts tun. Die Realität ist meist viel komplizierter als die besonders eingängigen Spruchweisheiten. Energiepolitik ist so etwas wie
der Balanceakt auf einer Kugel: Wenn man das Gleichgewicht nicht hält, dann stürzt man ab.
({10})
Die Bundesregierung wird weiterhin aktiv für eine Energiepolitik eintreten, die die Prinzipien des Klima- und des Umweltschutzes mit den zwingenden wirtschaftspolitischen Aspekten in einer überzeugenden Weise verbindet und nicht den hoffnungslosen Versuch unternimmt, das eine gegen das andere auszuspielen.
({11})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/8600 und 13/232 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse - ich glaube, es sind sieben - vorgeschlagen. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlägt zudem die Überweisung an den Ausschuß für Fremdenverkehr vor. Gibt es Bedenken?
({0}) - Keine Bedenken.
Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/242 und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/260 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Bericht der Enquete-Kommission. Sind Sie auch damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. Januar, 13 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.